Finalität, Widerstand, »Bescholtenheit«: Zur Revision der Schlüsselbegriffe des § 177 StGB [1 ed.] 9783428542628, 9783428142620

»Finality, Resistance, ›Bad Reputation‹«The paper deals with sexual assault/rape. The comprehensive analysis highlights

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German Pages 470 Year 2015

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Finalität, Widerstand, »Bescholtenheit«: Zur Revision der Schlüsselbegriffe des § 177 StGB [1 ed.]
 9783428542628, 9783428142620

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Schriften zum Strafrecht Band 274

Finalität, Widerstand, „Bescholtenheit“ Zur Revision der Schlüsselbegriffe des § 177 StGB

Von

Isabel Kratzer-Ceylan

Duncker & Humblot · Berlin

ISABEL KRATZER-CEYLAN

Finalität, Widerstand, „Bescholtenheit“

Schriften zum Strafrecht Band 274

Finalität, Widerstand, „Bescholtenheit“ Zur Revision der Schlüsselbegriffe des § 177 StGB

Von

Isabel Kratzer-Ceylan

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14262-0 (Print) ISBN 978-3-428-54262-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84262-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2013 von der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 16. September 2013 in Form einer Disputation statt. Besonderen Dank schulde ich meinem Doktorvater Professor Dr. Johannes Kaspar. Er hat sich auf die Themenstellung meiner Arbeit vollumfänglich eingelassen und mich stets motiviert und gefördert. Darüber hinaus hat er mir die nötige wissenschaftliche Freiheit gelassen und stand jederzeit für eine Problemdiskussion zur Verfügung. Professor Dr. Henning Rosenau danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Überdies danke ich ihm für seine immerwährende Unterstützung meiner Person in seiner Eigenschaft als Direktor des Instituts für die gesamten Strafrechtswissenschaften. Weiter danke ich Professor Dr. Arnd Koch für seine wertvolle Unterstützung während seiner Zeit als Lehrstuhlvertreter. Dem verstorbenen Professor Dr. Wilfried Bottke möchte ich ebenfalls posthum meinen Dank zukommen lassen. Er hat mir absolute Freiheit bei der Themenwahl gelassen, so dass sich die Arbeit in dieser Form entwickeln konnte. Meiner Kollegin Verena Dorn-Haag danke ich für überaus fruchtbare wissenschaftliche Diskussionen. Meinem Kollegen Stephan Christoph danke ich für seinen wunderbaren Humor. Des Weiteren bedanke ich mich bei unserem Lehrstuhlteam für die tolle Atmosphäre, bei Michaela Braun ganz besonders für ihre Unterstützung in schwierigen Zeiten. Besonderer Dank gebührt außerdem der Teilbibliothek Recht, insbesondere Sybille Meier und Jana Kieselstein, die für jedes Anliegen ein offenes Ohr hatten und mich tatkräftig unterstützten. Nicht zuletzt danke ich ganz besonders meiner Familie und meinem Mann Cano für die Unterstützung und den steten Glauben an mich. Augsburg, im März 2014

Isabel Kratzer-Ceylan

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung aus kriminologischer und psychologischer Sicht des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Statistische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergewaltigungsmythen und -stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Täter und Opfer – kriminologische und psychologische Befunde . . . . . . . . 1. Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gesellschaftliche und geistige Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Den Vergewaltigungstatbestand prägende außerrechtliche, sozio-kulturelle Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gerichtsmedizin, Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und ihr Einfluss auf das Delikt der Notzucht/Vergewaltigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Lehre von der faktischen Unmöglichkeit der Notzucht . . . . . . . . . . . 2. Schwangerschaft und sexuelle Stimulation im Kontext der Notzucht . . 3. Die Untauglichkeit des weiblichen Belastungszeugen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kriminologie und Viktimologie im 20. Jahrhundert und der Prozess der Entmythologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

19 19 23 37 37 44 52 52 57 57 62 66 69 70 79

Zweiter Teil Die Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung bis zum 33. StÄG vom 01.07.1997

81

A. Der Tatbestand der Notzucht von der Constitutio Criminalis Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Verbrechensbegriff der Notzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 81

8

Inhaltsverzeichnis II. Das Gemeine Peinliche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Constitutio Criminalis Carolina von 1532 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Auslegungsverständnis der Notzucht im Gemeinen Peinlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Nötigungsmittel der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mit Gewalt und wider ihren Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Notzucht widerstandsunfähiger Personen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Preußisches Strafgesetzbuch von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Auslegungsverständnis der Notzucht in den Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Nötigungsmittel der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Nötigungsmittel der Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mit Gewalt und wider ihren Willen – Unterschiede zum Gemeinen Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Tatbestandliche Erfassung des Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen zum Geschlechtsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Entwürfe zu einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geschützte Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Sittlichkeitsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Rechtsgut der weiblichen Geschlechtsehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsgut der „männlichen“ Geschlechtsehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die geschlechtliche bzw. sexuelle Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausblick – Das 4. StrRG von 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durch Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg in § 177 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Blankeneser Notzuchtsaffäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigenhändigkeit und Vorsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 82 84 85 85 88 91 93 93 94 96 97 97 98 99 102 103 105 107 108 109 116 117 118 119 119 119 123 130 135 136 137 138

Inhaltsverzeichnis C. Die Reformdiskussion von 1871 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Reformentwürfe bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 . . . . . . 3. Der Gegenentwurf von 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kommissionsentwürfe eines Strafgesetzbuchs von 1913 und 1919 . . 5. Die Amtlichen Entwürfe eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922, 1925 und 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts . . . . . 7. Der Entwurf Kahl von 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Impulse aus der deutschen Frauenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationalsozialistisches Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reformdiskussion hinsichtlich des Tatbestands der Notzucht und Nötigung zur Unzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Reformdiskussion und Gesetzgebung ab 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwürfe von 1959 und 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Entwurf von 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Alternativ-Entwurf von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1969 . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Neugestaltung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs . . . . . . . . . . 2. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz von 1997 – ein neues Kapitel im Rahmen des § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 140 140 140 143 146 147 151 153 157 160 162 165 165 167 173 175 175 176 177 178 181 182 182 182 186 189

Dritter Teil Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

195

A. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 I. Parallelstrang: Der Entnaturalisierungsprozess des Nötigungsmittels der Gewalt in den Tatbeständen der §§ 240, 249 StGB durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

10

Inhaltsverzeichnis

II.

III.

IV. V. VI.

1. Das Gleichgewicht verschiebt sich – von der körperlichen Kraftentfaltung hin zur körperlichen Zwangswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vergeistigungsprozess im Rahmen des § 240 StGB . . . . . . . . . . . b) Extensive Tendenzen in § 249 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenstand – physisch vermittelter Zwang ist unverzichtbar . . . . 2. Aller guten Dinge sind drei – Gewalt ohne Finalität ist keine Gewalt . . a) Die Finalstruktur des Gewaltbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Finalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel- und erfolg im Rahmen des § 249 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Zweckgerichtetheit der Nötigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der subjektive Finalzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 177 I StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Körperliche Kraftentfaltung und körperliche Zwangswirkung . . . . . . . . . a) Gewalt gegen eine Person? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verbale Einwirkungen und geringer Kraftaufwand des Täters . . . . . . c) Einsperren, Weg versperren, Verbringen des Opfers an einen anderen Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gewalt gegen Dritte – Dreiecksnötigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die sogenannte Gewalt gegen Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mit Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? . . Die Auslegung des Drohungsbegriffs in § 177 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhalt, Form und Adressat der Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Zusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg . . . . . . . . 3. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anforderungen der Rechtsprechung an konkludente Drohungserklärungen mit Ausnahme wiederholter Tatbegehungen und Serienstraftaten . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in der Reformdiskussion bis zum 4. StrRG von 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Weg zu § 177 I Nr. 3 StGB n. F. – abweichende Reformvorschläge . . . II. Die Auslegung von § 177 I Nr. 3 StGB n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzlose Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Furcht vor nicht unmittelbar körperlich wirkenden Nachteilen erfasst? .

196 197 202 205 207 207 212 213 217 224 225 225 229 229 231 236 242 247 249 256 256 261 262 265 268 268 270 277 278 279 283 284 290 293

Inhaltsverzeichnis

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4. Nötigung zu sexuellen Handlungen unter Ausnutzung der schutzlosen Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5. Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB n. F. – kritische Würdigung 306 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 C. Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Final- und Kausalzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortwirkende Gewalt in Abgrenzung zur konkludenten Drohung – der (zeitliche) Zusammenhang bei zweiaktigen Delikten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vis absoluta und Gewalt durch Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vis compulsiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wiederholte Tatbegehung und Serienstraftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klima der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkludente Drohung infolge von Gewalt in der Vergangenheit sowie auf Grund des Fortwirkens einer Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Frühere Gewalt und Drohungen zur Erzwingung sexueller Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Klima der Gewalt bzw. Angst als schlüssige Drohung . . . . . . . . cc) Anforderungen an die Kundgabe der konkludenten Drohung . . c) Schließung der Strafbarkeitslücken durch § 177 I Nr. 3 StGB? . . . . d) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einsperren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sadismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Überraschungsangriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ablehnung einer finalen Verknüpfung auf Grund realitätsferner Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Drohung zur Erzwingung des Beischlafs oder nur zur aktiven Beteiligung daran? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewaltanwendung zur gewaltlosen Erreichung des Höhepunkts . . . c) Fortwirkung massiver Gewalthandlungen gegen Dritte . . . . . . . . . . . 7. Gewalt durch Einsatz betäubender Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit: Abschied von der Lehre der Finalstruktur und des Finalzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Das Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand . . . . . . . . . . . I. Das Einverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Subjektiver Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Irrtum des Täters über ein Einverständnis des Opfers . . . . . . . . . . . a) Die Konstruktion der vis haud ingrata als eine Ursache der spezifischen Vorsatzprüfung im Rahmen des § 177 StGB . . . . . . . . . . . . .

313 313 314 318 318 319 322 323 324 325 327 331 333 334 335 337 338 339 342 342 344 346 347 350 356 356 358 358 361 362

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Inhaltsverzeichnis aa) Frühere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Neuere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Problematik der „geschlechtsspezifischen Situationsverkennung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Valide Maßstäbe im subjektiven Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit de lege lata oder ferenda zur Vermeidung ungerechtfertigter Freisprüche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. Die „Bescholtenheit“ des Opfers – Strafzumessung und minder schwerer Fall als Plattform antiquierter Schuldzuschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 177 II StGB a. F. – Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bis zum 33. StÄG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Triebstau und sexueller Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tatprovokation – Vorhergehende (intime) Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergewaltigung von Prostituierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der minder schwere Fall in der Reformdiskussion und der Gesetzgebung ab 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwürfe von 1959, 1960, 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Alternativentwurf von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der „minder schwere Fall einer Vergewaltigung“ in § 177 StGB n. F. nach dem 33. StÄG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitverschulden und „Bescholtenheit“ des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorhergehende intime Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vergewaltigung von Prostituierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Mitverantwortung“ des Opfers als Strafzumessungskategorie im Rahmen des § 177 StGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Relevanz der „Bescholtenheit“ und der Täter-Opfer-Beziehung . . . 3. „Zurückwandlung“ des Regelbeispiels des § 177 I, II Nr. 1 StGB und Abschaffung des minder schweren Falls als Konsequenz? . . . . . . . . . . . .

364 368 375 377 380 383 384 384 385 387 388 390 391 391 392 394 395 397 397 399 399 405 409 411 411 419 421

Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

Abkürzungsverzeichnis a. A. abl. a. E. a. F. ALR Anm. AT Bff BGBl. BGH BGHSt. BR-Drs. BT BT-Drs. BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. CCC d. h. djb DRiZ DuR FS GA h. A. h. M. i. S. d. i. S. v. JA JR Jura JuS JW JZ KG

andere Ansicht ablehnend am Ende alte Fassung Allgemeines Preußisches Landrecht Anmerkung Allgemeiner Teil Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Bundesgesetzblätter Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesratsdrucksache Besonderer Teil Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise Constitutio Criminalis Carolina das heißt Deutscher Juristinnenbund e.V. Deutsche Richterzeitung Demokratie und Recht Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht herrschende Ansicht herrschende Meinung im Sinne des im Sinne von Juristische Arbeitsblätter Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Berlin

14 KJ KritV LG LK MschrKrim MüKo m.w. N. n. F. NJW NK NK NStZ o. ä. PKS RG RGSt. Rspr. RStGB S. Sch/Sch siehe SK SSW st. StÄG StGB StrK StrRG StV u. a. u. ä. usw. Verf. vgl. z. B. ZfStrVo ZIS ZRP ZStW

Abkürzungsverzeichnis Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung Landgericht Leipziger Kommentar Monatsschrift für Kriminologie Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Neue Kriminalpolitik Neue Zeitschrift für Strafrecht oder ähnliches Polizeiliche Kriminalstatistik Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Seite Schönke/Schröder s. Systematischer Kommentar zum StGB Satzger/Schmidt/Widmaier ständige Strafrechtsänderungsgesetz Strafgesetzbuch Strafkammer Strafrechtsreformgesetz Strafverteidiger unter anderem und ähnliches und so weiter Verfasserin vergleiche zum Beispiel Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

„Die Trägheit der jahrhundertealten gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien ist eine furchteinflößende Macht“.1

Einleitung Sexuelle Gewalt in Gestalt der Notzucht/Vergewaltigung2 stellt eines der ältesten Verbrechen der Weltgeschichte dar.3 Der Verbrechensbegriff der „Notzucht“ taucht bereits im Jahr 1227 im Stadtrecht von Braunschweig auf.4 Seit jeher polarisiert das Vergewaltigungsdelikt die Gesellschaft, wie in jüngster Zeit der Kachelmann-Prozess,5 aber auch der sogenannte Gynäkologen-Prozess Mitte der 80er Jahre in Berlin6 eindrucksvoll bestätigen. Das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbuler Konvention) vom 11.05.2011, das am 01.08.2014 in Kraft trat, belegt die Aktualität sexueller Gewalt gegen Frauen. Die rechtsgeschichtliche Genese dieses Tatbestands ist deshalb so spannend, weil die jeweiligen Tatbestandsfassungen der Notzucht/Vergewaltigung wie auch deren Auslegung wie bei keinem anderen Delikt die gesellschaftlichen Anschauungen über Pflichten und Rechte in der geschlechtlichen Beziehung zwischen Mann und Frau sowie über geschlechtsspezifische Rollen- und Wesenszuschreibungen widerspiegeln. Vergewaltigung ist „das geschlechterspezifischste aller Verbrechen“.7 Die Relevanz des Geschlechts war und ist mitbestimmend für die Täter8- und Opfer1

Raine, 2001, S. 328. Bis zum 4. StrRG von 1973 war § 177 StGB mit Notzucht betitelt. 3 Vgl. 5. Moses 22, 23, wobei Hilfeschreie als Beweis für den erzwungenen Geschlechtsverkehr angesehen werden. Vgl. darüber hinaus http://www.ekd.de/EKDTexte/frauen_2000_gewalt3a.html zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen in der Bibel. 4 Wahl, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 1907, S. 10; His, 1967, S. 143 ff.; His, 1935, S. 151. 5 Die Suchergebnisse auf Google für „Fall Kachelmann“ belegen dies eindrucksvoll. Vgl. außerdem die Diskussion in der Sendung Anne Will vom 01.08.2010 mit dem Titel „Der Fall Kachelmann – Justiz-Alltag oder Promi-Pranger?“ Es diskutieren Gisela Friedrichsen, Alice Schwarzer, Hans-Hermann Tiedje, Christian Schertz und Hansjürgen Karge; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 37; Legal Tribune vom 08.09.2010, Die Staatsanwälte und der Fall Kachelmann: Ein Zerrbild wird verbreitet; SPIEGEL ONLINE vom 01.06.2011, KachelmannUrteil: Die Angst der Richter vor dem klaren Wort; ZEIT ONLINE vom 26.02.2011, Kachelmann-Prozess: Zwei blaue Flecke und ein Nullbefund. 6 Vgl. dazu Burgsmüller, Streit 1986, S. 40 ff.; Goy, KJ 1987, S. 313 ff.; Goy, Streit 1986, S. 35 ff.; Künzel, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 187 und Künzel, 2003, S. 147 ff. 7 Künzel, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 17. 8 „Sprache ist der Stoff, in dem wir denken und reden – und wenn das weibliche Prinzip darin nicht vorkommt, existiert frau nicht“. Vgl. http://www.emma.de/hefte/ ausgaben-2007/emma-das-heft-2007-1/chronik-der-erfolge/. Trotzdem habe ich mich 2

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Einleitung

eigenschaft.9 Die jahrhundertelang vorherrschende androzentrische Gesellschaftsstruktur trug maßgeblich dazu bei, dass das Geschehen einer Vergewaltigung verkannt wurde und die juristische Definition und Aburteilung auf der Basis patriarchaler Sichtweisen und Denkstrukturen erfolgte, die sich zu traditionellen Auslegungs- und Deutungsmustern fortentwickelten. Die Grenzen, innerhalb denen ein Sachverhalt als Vergewaltigung strafrechtliche Anerkennung erfuhr, waren äußerst eng gesteckt. Weibliche Opfererfahrungen im Rahmen sexueller Gewalt, die von diesem Regelbild abwichen, wurden lange Zeit nicht wahrgenommen. Die Existenz sexueller Gewalt gegenüber Männern wurde schlichtweg ausgeblendet. Erst im Rahmen des 33. StÄG von 1997 konnte diese Kontinuität zum Teil aufgebrochen werden, indem der Tatbestand des § 177 RStGB bzw. StGB eine durchgreifende Veränderung erfuhr. Der Mann wurde als Opfer in § 177 StGB miteinbezogen und die eheliche Vergewaltigung strafbar gestellt. Darüber hinaus wurde mit § 177 I Nr. 3 StGB ein neues Nötigungsmittel geschaffen. Die sich nun in Auflösung befindenden patriarchalischen (Denk-)Strukturen unserer Gesellschaft sind in der Rechtsprechung zu § 177 StGB dessen ungeachtet immer noch erkennbar,10 wie im Folgenden herausgearbeitet werden wird. Dies zeigt nicht zuletzt die weiterhin sichtbare Relevanz existierender Vergewaltigungsmythen und -stereotypen im Rahmen der Auslegung von § 177 StGB. Insbesondere der Mythos der sexuellen Triebtat ist tief verwurzelt. Seit jeher gilt folgendes Stereotyp einer „idealtypischen“ Vergewaltigung: Ein fremder, männlicher Täter zwingt sein weibliches Opfer unter Anwendung erheblicher (überfallartiger) Gewalt unter Überwindung eines ernstlich geleisteten Widerstands zum außerehelichen Geschlechtsverkehr. Die jeweiligen Gesetzesfassungen, angefangen bei Art. 119 der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bis zu § 177 StGB a. F. in der Fassung des 4. StrRG von 1973, und deren Auslegung sind – mal mehr oder weniger stark – Ausdruck dieses Stereotyps. Auch § 177 StGB n. F. kann sich diesem Einfluss nicht entziehen, wie sich zeigen wird. Physische Gewalt ist das zentrale Nötigungsmittel. Diese allein wird für vergewaltigungstauglich gehalten, sei es, dass sie gegenwärtig zugefügt oder deren Einsatz vom Opfer befürchtet wird, vgl. § 177 I Nrn. 1, 2 und 3 StGB. Darüber hinaus muss der Einsatz der Nötigungsmittel – ebenso wie beim Raub – nach der herrschenden Meinung final erfolgen. Finalität beinhaltet dabei zweierlei. Zum einen veraus Gründen der Lesbarkeit dazu entschieden, den einheitlichen Begriff „des Täters“ in meiner Arbeit zu verwenden. Unter diesen Begriff fallen aber selbstverständlich auch Täterinnen. 9 Personen, die in meiner Arbeit als Opfer bezeichnet werden, sind entweder selbstoder fremddeklarierte Opfer bzw. solche die ihre Opferrolle lediglich perzipieren, aber nicht deklarieren; der Begriff des Opfers ist im Folgenden stets im strafrechtlichen Sinne zu verstehen, als Synonym für „Verletzter“, als Inhaber des durch den jeweiligen Straftatbestand geschützten Individualrechtsguts. Zu einem ausdifferenzierten Opferbegriff vgl. Baurmann, 1996, S. 25 ff. 10 Ebenso Brüggemann, 2012, S. 290.

Einleitung

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birgt sich dahinter die Finalstruktur des Gewaltbegriffs, zum anderen die sog. finale Verknüpfung der Nötigungshandlung mit dem Nötigungserfolg. Das heißt konkret: Der Täter muss die Gewalt oder Drohung zur Überwindung von Widerstand zur Erzwingung der sexuellen Handlung einsetzen. Die finale Intention des Täters entscheidet dadurch, ob § 177 StGB eingreifen kann oder nicht, selbst wenn das Nötigungsmittel in objektiver Hinsicht kausal geworden ist. Körperlicher Widerstand des Opfers ist nicht nur ein Beweisanzeichen für ausgeübte Gewalt, sondern beweist auch den „ernstlichen“ Widerwillen des Opfers. Die überkommene Klassifizierung der Verletzten als „bescholten“ führt zu einem Opferstatus zweiter Klasse und macht die Tat zu einer minder schweren. Unter Bescholtenheit im engen Sinne wird vorliegend die sog. sittliche Beleumdetheit des Opfers verstanden,11 bescholten im weiten Sinne ist dagegen ein Opfer, dass bereits vor der Tat eine (intime) Beziehung zum Täter hatte oder sich „tatveranlassend“ verhalten hat. Sämtliche Vergewaltigungsmythen und -stereotypen kollidieren mit der Deliktsrealität. Die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung findet zum großen Teil im sozialen Nahbereich statt, die Vergewaltigung in der Ehe oder einer sonstigen Partnerschaft ist somit keine Ausnahmeerscheinung. Gerade, wenn sich Opfer und Täter kennen, leistet das Opfer oftmals keinen körperlichen Widerstand bis zum Äußersten. Hat der Täter ein Klima der Gewalt geschaffen, muss er zur Erzwingung sexueller Handlungen nicht mehr final Gewalt einsetzen oder drohen. In der Praxis stellt der Nachweis einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz regelmäßig vor Probleme, wenn und weil in der Regel keine Tatzeugen außer dem Opfer selbst existieren, so dass Aussage gegen Aussage steht. Die Ermittlungsorgane und die Judikative sind bei der Aufarbeitung der angezeigten Tat deshalb eine der entscheidenden Instanzen, und zwar nicht in rechtlicher Hinsicht – das wäre nichts Außergewöhnliches – sondern in der Bewertung des tatsächlichen Geschehens. Durch die Vernehmung bzw. Anfertigung des Protokolls und die Aufarbeitung des Sachverhalts in der Erst- und Revisionsinstanz kann das tatsächliche Geschehen eine Verzerrung und Anreicherung mit außerrechtlichen Bewertungen erfahren, die Vergewaltigungsstereotypen entspringen.12 Gerade wenn objektive Beweise fehlen, besteht die Gefahr, dass das tatsächliche Geschehen subjektiviert wird. Denn dann werden den Beteiligten „Interpretationen und Wertungen von Verhaltensweisen“ abverlangt.13 Innerhalb dieses Prozesses wird das Verhalten des Opfers an „soziokul-

11 Prostituierte und Frauen mit einem promiskuitiven Lebenswandel sind in diesem Sinne beleumdet. 12 Vgl. in dieser Hinsicht BGH StV 1986, S. 149 mit abl. Anm. Hillenkamp; BGH StV 1987, S. 516 mit abl. Anm. Engel in StV 1988, S. 506 f.; BGH StV 2008, S. 81. 13 Steinhilper, 1986, S. 25.

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Einleitung

turell vorgegebene(n) Rollenerwartungen“ 14 gemessen. Insbesondere wenn die Tat vom klassischen Muster abweicht15 werden Opfer dann oftmals mit einem Stigma versehen, dem Stigma, dass sie doch irgendwie die Tat mit verschuldet haben könnten.16 Die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung ist daher ein Gewaltverbrechen, das nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer mit einem Makel versieht.17 Komplementär dazu finden sich bei Opfern in hohem Maße Selbstbeschuldigungen.18 Der Umgang mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung verlangt nach alledem besondere Kompetenzen, weil das psychologische Laienverständnis in die Irre führt und juristische Kompetenz alleine nicht genügt. Trotzdessen ist das moderne und entmythologisierte Erfahrungswissen der Kriminologie und Psychologie für die Justiz noch keine Selbstverständlichkeit. Die Opferperspektive findet im Rahmen der Auslegung des § 177 I, II Nr. 1 StGB keine angemessene Berücksichtigung.19 Die Notwendigkeit, die juristische Kompetenz im Bereich der sexuellen Gewalt mit interdisziplinären Erkenntnissen zu verknüpfen, wird nur von wenigen Vertretern der Justiz anerkannt. So merkte der Vorsitzende Richter am Bonner Landgericht und Berater des NRW-Innenministeriums in Sachen Opferschutz, Klaus Haller, in diesem Zusammenhang an: „Wir sind eine Laienspielschar“.20 Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt darin, aufzuzeigen, dass sich der Umgang mit dem Tatbestand der Notzucht/Vergewaltigung durch eine hohe Kontinuität in Gestalt eines restriktiven Auslegungsverständnisses auszeichnet, die der Deliktsrealität zu einem Großteil nicht gerecht wird. Dadurch entstehenden Strafbarkeitslücken könnte, wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wird, bereits de lege lata entgegengetreten werden. 14

Steinhilper, 1986, S. 240. Vgl. Carrasco/Corbin, 1997, S. 9; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 378. 16 Herman, 2. Aufl. (2006), S. 98, 191 ff., 294 ff.; Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 624; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 379 spricht treffend von dem Stigma „beschädigtes Gut“. 17 Vgl. dazu den Erfahrungsbericht des Opfers einer Vergewaltigung in Raine, (2001), S. 104 und http://www.polizei-beratung.de/opferinformationen/sexuelle-noeti gungvergewaltigung.html. 18 H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 395 f. 19 Der Opfersicht Raum zu geben, bedeutet dabei nicht, Beschuldigtenrechte zu beschneiden, auch wenn es für einige nur ein „entweder oder“ zu geben scheint. Die Gerichtsreporterin vom Spiegel, Gisela Friedrichsen ist hierfür ein Beispiel, indem sie seit Jahren unzutreffend darauf hinweist, dass die Unschuldsvermutung schon „längst zu Grabe getragen“ sei, und zwar zu Gunsten des Opfers; vgl. u. a. das Geleitwort zu Stang/Sachsse, 2007. 20 EMMA-Online vom 13.09.2010: http://www.emma.de/news-artikel-seiten/zeitreporterin-rueckert-diskreditiert-traumaforschung/. 15

Erster Teil

Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung aus kriminologischer und psychologischer Sicht des 21. Jahrhunderts I. Statistische Daten Der Strafanteil der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung (47.078 Taten insgesamt) liegt bei 0,8% gegenüber allen Straftaten insgesamt.1 Für das Jahr 2011 weist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für die Bundesrepublik Deutschland im Hellfeld 13.336 Delikte der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung gem. § 177 StGB auf.2 Der Anteil männlicher Täter überwiegt im Hellfeld bei den Delikten der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung gem. § 177 StGB deutlich: Täter sind zu 99,0% männlich und zu 1,0% weiblich.3 Die Mehrheit der Opfer, nämlich 12.680 sind weiblich, 899 Opfer sind männlichen Geschlechts.4 Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses gem. §§ 174, 174a, 174b, 174c, 177, 178 StGB (insgesamt 14.012 Taten5) liegen konkrete Angaben zur Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung vor. Ein Verwandtschaftsverhältnis gem. § 11 I Nr. 1 StGB lag in 23,1%, Bekanntschaft in 32,8% der Fälle vor, in 0,4% der Fälle war der Täter ein Landsmann. Eine flüchtige Vorbeziehung war in 14,9%, keinerlei Vorbeziehung in 21,3% der Fälle gegeben und ungeklärt blieben 7,5%. Jede zweite erfasste Tat wurde damit von Verwandten oder näheren Bekannten verübt.6 Bei den Delikten des Raubes, der räuberischen Erpressung und des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer gestaltet sich die Täter-Opfer-Beziehung hingegen völlig anders. Hier überwiegen die Konstellationen, in denen keine Vorbeziehung vorliegt, mit 62,9%. Verwandtschaft war in 2,3%, Bekanntschaft in 7,8% der Fälle und eine flüchtige Vorbeziehung in 7,7% der Fälle gegeben.7 Der 1 2 3 4 5 6 7

Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche Bundeskriminalamt, Polizeiliche

Kriminalstatistik Kriminalstatistik Kriminalstatistik Kriminalstatistik Kriminalstatistik Kriminalstatistik Kriminalstatistik

2011, Kurzbericht, S. 15, 45. 2011, Kurzbericht, S. 4. 2011, Jahrbuch, S. 246. 2011, Jahrbuch, Tabelle 91, S. 3. 2011, Kurzbericht, S. 45. 2011, Kurzbericht, S. 27. 2011, Kurzbericht, S. 27.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Anteil ohne oder nicht bekannter Vorbeziehungen ist beim Raub im Jahr 2011 mit 81,8% wie in den Jahren zuvor am höchsten (2010: 81,4%).8 Bei den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses weist die „Opfer – Tatverdächtigen – Beziehung – formal“ 9 folgendes Bild im Hellfeld auf: Die Taten finden zu insgesamt 17,4% in Partnerschaften statt. Davon zu 6,8% zwischen Ehepartnern, zu 4,6% zwischen Partnern in nicht ehelicher Lebensgemeinschaft, zu 6,0% zwischen ehemaligen Partnern und in eingetragenen Lebenspartnerschaften zu 0,0%.10 In Dunkelfeldstudien stellen der gegenwärtige bzw. Ex-Partner sowie lose Bekannte die größte Tätergruppe dar.11 Bei Raub, räuberischer Erpressung und räuberischem Angriff auf Kraftfahrer liegt die Zahl der partnerschaftlichen Täter bei 1,4%.12 Auf Grund der speziellen Täter-Opfer-Beziehung haben das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung gem. §§ 177 sowie 178 StGB ebenso wie die Tötungsdelikte (96,1%) eine hohe Aufklärungsquote von 82,5%.13 Des Weiteren resultiert aus der speziellen Vorbeziehung, dass die überfallartig begangenen Taten durch Einzeltäter bzw. Gruppen mit 1.736 bzw. 15514 eher die Seltenheit darstellen, während sonstige Straftaten gemäß § 177 I, II Nr. 1, III und IV StGB bei 5.294 und sonstige sexuelle Nötigungen gem. § 177 I und V StGB bei 5.797 liegen.15 Die Verurteilungen wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung sind seit 2007 rückläufig. So stehen 948 bzw. 1.159 Verurteilungen im Jahr 2007 zu 738 bzw. 859 im Jahr 2010. Der Anteil der weiblichen Verurteilten ist verschwindend gering.16 Abgeurteilte17 und Verurteilte18 im Jahr 2010 wegen sexueller Nötigung/ 8

Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 27. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 28. 10 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 28. Vgl. hierzu auch die Studie des Bundesministeriums für Familie zur Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehung, 2010. 11 Ruch, 2011, S. 57. Dazu passt das Ergebnis der Studie von Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 465 f., wonach die Befragten Opfern sexueller Gewalt im sozialen Nahraum eher von einer Mitteilung abrieten. Vgl. auch Bundesministerium für Familie 2010. 12 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 28. 13 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 29. 14 Gem. § 177 I, II Nr. 2 StGB ohne Überfall gab es 354 Taten. 15 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, Kurzbericht, S. 45. 16 Statistisches Bundesamt (Destatis), Lange Reihen zur Strafverfolgungsstatistik: Verurteilte nach ausgewählten Straftaten, Geschlecht und Altersgruppen, 2011, S. 3. 17 „Abgeurteilte sind in der Terminologie der Strafverfolgungsstatistik diejenigen Personen, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die andere Entscheidungen (u. a. Freispruch, Einstellung des Strafverfahrens) getroffen wurden. Bei der Aburteilung von Straftaten, die in Tateinheit oder in Tatmehrheit begangen wurden, ist nur die Straftat statistisch erfasst, die nach dem Gesetz mit 9

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

21

Vergewaltigung gem. §§ 177, 178 StGB lagen bei 2.26319 bzw. 1.597.20 Nach allgemeinem Strafrecht erfolgten 2010 wegen §§ 177, 178 StGB 1.741 Verurteilungen,21 nach JGG 522 Verurteilungen.22 Gemäß §§ 177, 178 StGB erfolgte in 501 Fällen die Verhängung einer Freiheitsstrafe von 1–2 Jahren, davon wurde in 456 Fällen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. In 163 Fällen wurde eine Freiheitsstrafe von 2–3 Jahren verhängt, in 176 Fällen 3–5 Jahre, in 117 Fällen 5–10 Jahre und in 8 Fällen 10–15 Jahre, in den restlichen Fällen wurde eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu einem Jahr verhängt, die nahezu in allen Fällen (181) zur Bewährung ausgesetzt wurde.23 In über 40% der Fälle wurde demnach eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als 2 Jahren verhängt. Das Strafmaß bewegt sich damit in nahezu der Hälfte der Verurteilungen deutlich im unteren Bereich. Nach allgemeinem Strafrecht erfolgten 364 Freisprüche, davon 1 Freispruch mit Maßregel sowie 140 Einstellungen. Nach JGG erfolgten 150 Verfahrenseinstellungen und 51 Freisprüche.24 Im Verhältnis zur Zahl der Abgeurteilten insgesamt liegt die Freispruchrate damit bei nahezu 16%, die Einstellungsrate bei knapp 12%. Die hohe Freispruchquote ist typisch für das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung.25 Neben dem Hellfeld stellt sich die Frage nach der Größe des Dunkelfeldes, also nach der Kriminalität, die den Strafverfolgungsbehörden nicht zur Kenntnis gelangte.26 Im Bereich der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung wird von einem überdurchschnittlich großen Dunkelfeld ausgegangen, welches insbesondere auf das Anzeigeverhalten der Opfer bzw. Zeugen zurückzuführen ist.27

der schwersten Strafe bedroht ist.“ Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), Glossar – Abgeurteilte. 18 „Verurteilte sind Straffällige, gegen die nach allgemeinem Strafrecht eine Freiheitsstrafe, Strafarrest und/oder Geldstrafe verhängt worden ist oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe und/oder Maßnahmen geahndet wurde.“ Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), Glossar – Verurteilte. 19 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 24. 20 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 25. 21 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 56. 22 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 57. 23 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 155. 24 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Strafverfolgung 2010, 2011, S. 57. 25 Dazu schon Sick, MschrKrim 1995, S. 282. 26 Zu den methodischen Herausforderungen bei Dunkelfelduntersuchungen vgl. Fontaine, 2009; Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 624 ff.; Ruch, 2011, S. 7 ff.; vgl. zum Dunkelfeld bei Gewalt gegen Frauen und Männer, unter Einschluss psychischer Gewalt, Schirrmacher/Schweikert, FPR 2005. 27 Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 623. Vgl. ausgewählte Opferbefragungen im Überblick bei Fontaine, 2009, S. 101 ff.; Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 626 ff.; Ruch, 2011, S. 9 ff. Vgl. außerdem die Studie des Bundesministeriums für Familie zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, 2004.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Schneider setzt das Hellfeld „äußerst niedrig“ an.28 Schätzungen der HellfeldDunkelfeld-Relation belaufen sich für das Delikt der Vergewaltigung auf 1:100.29 Opferbefragungen bestätigen diese hohe Zahl, so ergab die Studie von Ruch, dass weniger als 10% der Sexualdelikte (§§ 177, 179 StGB) angezeigt werden.30 Gründe sind unter anderem das Gefühl, an der Tat mitschuldig zu sein und die Furcht vor einer „Viktimisierung in einem nach wie vor tabuisierten Bereich in der Öffentlichkeit“.31 Gerade dann, wenn der Täter aus dem Freundes-, Verwandten- oder Bekanntenkreis stammt, die Tat also vom klassischen Bild einer Vergewaltigung abweicht, bringt die Tat das Opfer in besondere Konflikte und eine Anzeige unterbleibt häufig.32 Neben dem Einfluss der Opfer auf die Erfassung sexueller Nötigungen/Vergewaltigungen, kommt darüber hinaus der Polizei und der Staatsanwaltschaft als „Selektionsinstanz“ 33 eine große Bedeutung zu. In den 70er und 80er Jahren kamen Studien jeweils auf eine Einstellungsquote der Staatsanwaltschaft von über 50%,34 darüber hinaus waren überdurchschnittlich viele Freisprüche zu verzeichnen.35 Auch in der Arbeit von Jäger, der Verfahren aus den Jahren 1986 und 1989 untersuchte, lag die Einstellungsrate bei bekannten Tatverdächtigen bei 54% bzw. 52,7% und bei unbekannten Tatverdächtigen bei 47,3% bzw. 46%.36 Als Gründe wurden unter anderem genannt: Unglaubwürdigkeit des Opfers; widersprüchliche Aussagen des Opfers; Fehlen von Indizien für Gewalt oder Drohungen; Fehlen von Anhaltspunkten, dass das Opfer die sexuellen Handlungen eindeutig und für den Täter erkennbar abgelehnt hat; die Beteiligten standen bei der Tat unter Rauschmitteln; Aussagen von Täter und Opfer widersprechen sich.37 Derartig hohe Einstellungsquoten werden auch in neuen Untersuchungen belegt. In einer Untersuchung auf Initiative der europäischen Kommission von 100 Vergewaltigungsfällen in Stuttgart wurde gegen weniger als die Hälfte der durch die Staatsanwaltschaft vernommenen Beschuldigten Anklage erhoben.38 Elsner und Steffen kamen zu dem Ergebnis, dass bei Verfahrenserledigungen die Einstellung 28

H. J. Schneider, Kriminologie, 2001, S. 152. Ruch, 2011, S. 22. 30 Ruch, 2011, S. 22, 54. Vgl. auch Baurmann, 1996, S. 56; Elsner/Steffen, S. 264 f. 31 Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, S. 623. Zum Anzeigeverhalten ausführlich Ruch, 2011, S. 22 ff. 32 Kury/Obergfell-Fuchs, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, S. 623; Ruch, 2011, S. 22 ff. 33 Steinhilper, 1986, S. 44. 34 Steinhilper, 1986, S. 44 m.w. N., 155 ff. 35 Steinhilper, 1986, S. 258 m.w. N., 334. 36 M. Jäger, 2000, S. 167. Vgl. die hierfür genannten Gründe bei M. Jäger, S. 173. 37 M. Jäger, 2000, S. 173. 38 Seith/Lovett/Kelly, 2009, S. 7. 29

2005, 2007, 2007,

2000,

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

23

durch die Staatsanwaltschaft gem. § 170 II StPO überwog und „nur in jedem vierten Fall der wegen Vergewaltigung an die Staatsanwaltschaft abgegebenen Verfahren und sogar nur in jedem fünften der sexuellen Nötigungen“ es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gem. § 177 StGB kam.39 In der Untersuchung von Goedelt kam es nur in 57 Fällen (24,4%) von insgesamt 234 zu einer Anklage. Die meisten Fälle (68,8%) wurden durch die Staatsanwaltschaft gem. § 170 II StPO eingestellt.40 Der kritische Bereich für die strafrechtliche Aufarbeitung einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ist demnach zum einen das Ermittlungsverfahren,41 zum anderen aber auch das Hauptverfahren, indem Verurteilungen und Verurteilungsquoten zurückgehen.42

II. Vergewaltigungsmythen und -stereotypen Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ist wie kein anderes Delikt von außerrechtlichen und fest verankerten Fehlvorstellungen43 beeinflusst. Diese bestehen aus Vergewaltigungsmythen und -stereotypen, die gesellschaftlich in allen Schichten,44 und zwar bei Männern und Frauen,45 anzutreffen sind.46 Nach 39

Elsner/Steffen, 2005, S. 281. Goedelt, 2010, S. 117. Sie sieht diese Divergenz ausschließlich objektiven Beweisschwierigkeiten geschuldet; vgl. dies., S. 172. 41 Kavemann, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 17. 42 Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 149, 152 ff. „Seltene Verurteilungen“ sind nach Steffen „kennzeichend für die justizielle Erledigung“; ders., S. 153. 43 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 9. 44 In der Studie von Brosi zur Untersuchung der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, 2004, S. 29 f. ergab sich keinerlei Unterschied in der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen zwischen Personen mit höherer bzw. niedrigerer Bildung oder verschiedenem beruflichen Status. Brosi, 2004, S. 30 folgert zutreffend, „dass nicht höhere Bildung im Allgemeinen, sondern Bildung, die spezifisch das Thema Vergewaltigung einschließt, einen negativen Effekt auf VMA besitzt“. 45 Durch den Glauben an bestimmte Vergewaltigungsstereotypen erlangen Frauen eine scheinbare Kontrolle über das Risiko, selbst vergewaltigt zu werden; vgl. Bohner/ Danner/Siebler u. a., Experimental Psychology 2002, S. 257 f.; Finkelhor, 1986, S. 35. In zahlreichen Studien, u. a. in denen von Brosi, 2004, S. 24 f., 29 m.w. N. und Krahé/ Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 468, fiel die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen bei den männlichen Teilnehmern höher aus. 46 Dazu Baurmann, 1996, S. 51 ff., 473 ff.; Harten, 1995, S. 18 f.; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 160 f.; Weis, 1982, S. 135 ff. Vgl. zu diesbezüglichen Vorurteilen innerhalb der Polizei Fehrmann, 1986, S. 23 ff. H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 856, spricht von starken gesellschaftlichen Minderheiten; den Einfluss von Mythen und Stereotypen belegen in einem Umkehrschluss auch die Ausführungen auf den Notrufseiten für Opfer sexueller Gewalt: http:// www.frauennotruf-trier.de/index.php?id=80; http://www.frauennotruf-hamburg.de/sexu 40

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Bohner sind Vergewaltigungsmythen „deskriptive oder präskriptive Überzeugungen über Vergewaltigung (d.h. über Ursachen, Kontext, Folgen, Täter, Opfer und deren Interaktion), die dazu dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen“.47 Sie beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis männlicher Täter/weibliches Opfer und sind sowohl täterentlastenden als auch opferbelastenden Inhalts.48 Stereotypen hingegen sind „fehlerhafte Verallgemeinerungen“.49 Aus diesen Mythen und Stereotypen ergibt sich das (globale)50 Stereotyp einer „echten bzw. klassischen Vergewaltigung“, das die juristische Behandlung dieses Delikts bis in die Gegenwart prägt: Ein fremder, männlicher Täter zwingt sein weibliches Opfer unter Anwendung erheblicher (überfallartiger) Gewalt unter Überwindung eines ernstlich geleisteten Widerstands zum außerehelichen Geschlechtsverkehr.51 Diese Konstellation wird als der „idealtypische Fall“ einer Vergewaltigung angesehen.52 Genausowenig wie dieser Idealfall einer Vergewaltigung jedoch der typischen Deliktsrealität entspricht, stimmt das dabei produzierte Bild vom „idealen Opfer“ 53 mit der Wirklichkeit überein. Im Rahmen einer ehrlichen Reflektion wird sich nahezu jeder eingestehen, dem einen oder anderen Mythos oder Stereotyp erlegen zu sein. Neben den regelmäßig bestehenden objektiven Beweisschwierigkeiten bzw. in Kombination damit, kennzeichnet die unbewusste Prägung durch diese Mythen und Stereotypen und deren unreflektierte Einflussnahme den Umgang mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung. Folgen sind Pauschalierungen, selektive Wahrnehmung und die Anwendung überkommener Normen und Moral-

alisierte_gewalt/was_heisst_das.html; http://www.frauennotruf-bremen.de/was_sie_wis sen_sollten.php?lang=de. 47 Bohner, 1998, S. 12; zum Begriff der Vergewaltigungsmythen vgl. auch Brosi, 2004, S. 10; Finkelhor, in: Vergewaltigung, 1986, S. 28. Nach Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 17, sind Mythen Ausdruck von Wunschdenken und kreieren eine bestimmte Weltsicht. Vgl. auch Lonsway/Fitzgerald, Psychology of Women Quarterly, 1994, S. 134: „Rape myths are attitudes and beliefs that are generally false but are widely and persistently held, and that serve to deny and justify male sexual aggression against women“. 48 Eyssel, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 18. 49 Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 160. Vgl. auch die Definition in Kraif, Duden, 2005: „Vereinfachendes, verallgemeinerndes, stereotypes Urteil, [ungerechtfertigtes] Vorurteil über sich oder andere oder eine Sache“ (Sozialpsychologie, Psychologie); „festes, klischeehaftes Bild (Psychiatrie, Medizin).“ 50 Im englischsprachigen Raum ist dieses Stereotyp als „classic rape scenario“ bzw. „real rape“ ebenso existent; vgl. Du Mont/Miller/Myhr, Violence Against Women 2003, S. 469. 51 Vgl. BGH StV 2008, S. 81; Fehrmann, 1986, S. 30; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 160; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 36. 52 M. Jäger, 2000, S. 82. 53 Barton, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 116.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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vorstellungen. Dieser Umstand wirkt sich auf das Ermittlungsverfahren,54 die Urteilsfindung, reformerische Aktivitäten und Initiativen sowie die strafrechtliche Erfassung insgesamt aus, worauf im Laufe der Arbeit eingegangen wird. Existieren Stereotypen oder Mythen, wird die Tat im Rahmen dieser Prozesse durch den Filter dieser Gedankenmuster betrachtet, wobei – rein selektiv – nur Umstände, die zu diesen Mustern passen, wahrgenommen werden, so dass wiederum eine Bekräftigung dieser Muster stattfindet. Diese Erfahrung findet darüber hinaus ihre Verbreitung, indem ausschließlich über diese Fälle berichtet wird.55 Die Datenverarbeitungsprozesse im Rahmen der strafrechtlichen Aufarbeitung einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung werden hierdurch infiltriert.56 Gerade weil der Einfluss existierender Vergewaltigungsmythen und -stereotypen57 auf den Beurteilungsprozess einer angezeigten sowie angeklagten sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nicht zu unterschätzen ist,58 werden diese hier vorangestellt und kurz erläutert, bevor im Anschluss deren Validität widerlegt und unter B. versucht wird, deren gedankliche Grundlagen herzuleiten. 1. Eine Vergewaltigung ist das Produkt spontaner sexueller Erregung. Der Mann wird zum Täter, weil er seinem unkontrollierbaren Sexualtrieb59 ausgeliefert ist. Die Frau trägt deshalb oftmals eine Mitschuld am Geschehen.60 Die auch heute noch weit verbreitete Auffassung, dass sexuelle Nötigungen/ Vergewaltigungen reine Triebdelikte seien, die einem sexuellen Bedürfnis entspringen, steht an erster Stelle, weil diese Ausgangspunkt der anderen Mythen ist. Sie durchzieht die Rechtsprechung und prägt das Vorstellungsbild einer klassischen Vergewaltigung. Der „Geschlechtstrieb“ wurde als „das konstituierende Element“ 61 der Tatbestände des 13. Abschnitts verstanden. Nicht umsonst gab es bis Mitte der 80er Jahre den Strafmilderungsgrund des sexuellen Notstands, und in der Regel stellt es einen minder schweren Fall dar, wenn Täter und Opfer im 54 Zum Einfluss auf das polizeiliche Verfahren im englischsprachigen Raum und Toronto vgl. Du Mont/Miller/Myhr, Violence Against Women 2003, S. 470 ff. 55 Baurmann, 1996, S. 48 f. 56 Bohner/Eyssel, Journal of Interpersonal Violence 2010, S. 2; Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 461 ff., 462; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 159. 57 Vgl. Baurmann, in: Vergewaltigungen, 1985, S. 53 ff.; Brosi, 2004, S. 36 ff.; Greuel, 1993, S. 62 ff.; Pöhn, 2010, S. 49 ff.; H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 856 ff.; Weis, 1982, S. 135 ff. 58 Vgl. dazu Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 462 m.w. N. 59 Dazu Baurmann, 1996, S. 475 und Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 346 f. Dieser Mythos erfährt weiterhin Verbreitung; vgl. Carrasco/Corbin, 1997, S. 7 ff., der als Ursache sexueller Gewalt die „Befriedigung nicht beherrschbarer Begierden“ anführt. 60 Dazu Harten, 1995, S. 16 f. 61 BVerfGE 6, 389, (422).

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Vorfeld eine intime Beziehung hatten.62 Dazu im Widerspruch stehen Forschungsergebnisse, die aufzeigen, dass eine Mehrzahl der Vergewaltigungen geplant ist.63 Dadurch, dass die Ursache dieser Taten monokausal auf eine bestimmte organische Disposition wie einen übermächtigen Geschlechtstrieb reduziert wird, kann dem weiblichen Opfer eine Mitschuld zugewiesen werden, indem die sexuelle Erregung des Täters auf ein bestimmtes Verhalten oder Aussehen des Opfers zurückgeführt wird.64 Darüber hinaus ist dann die Kastration die denklogische Maßnahme gegen Rückfall.65 Die verbreitete Fehlvorstellung, dass Pornos, Peep-Shows, Prostitution und ähnliches „Entertainment“ eine Ventilfunktion in dem Sinne erfüllten, dass Straftaten wie Vergewaltigungen gegenüber Frauen verhindert würden, liegt ebenfalls in diesem Stereotyp begründet.66 Derartige Delinquenz kann durch diese Angebote jedoch vielmehr eine Förderung erfahren, gerade weil in ihnen frauenfeindliche Vorstellungen und Gewaltphantasien wie unter anderem, dass Frauen den Männern im Bereich der Sexualität zur Verfügung stehen müssten,67 geschürt werden.68 2. Nur unbescholtene69 Frauen, d. h. Frauen mit einem guten Ruf hinsichtlich ihres sexuellen Lebenswandels können überhaupt im Sinne des § 177 I, II Nr. 1 StGB vergewaltigt werden.70

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s. dazu Dritter Teil: E. H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 121 nennt 70%; Weis, 1982, S. 20 belegt, dass die Mehrzahl der Vergewaltigungen im Voraus entweder vollständig oder teilweise geplant werden; ebenso Butzmühlen, 1978, S. 89 f.; Teufert, 1980, S. 133. Unzutreffend die Ansicht der Rechtsprechung, die generell von Spontantaten ausgeht; vgl. u. a. BGH NStZ-RR 2003, S. 111. Nach Dern, 2011, S. 36 sind die Taten vor allem bei Fremdtätern (26, 4%) und Serientätern (54%) geplant. 64 s. dazu Dritter Teil: E. Vgl. die unbedachte Äußerung des kanadischen Polizeibeamten Michael Sanguinetti vom 24.01.2011, dass „Frauen vermeiden sollten, sich wie Schlampen anzuziehen, um nicht zum Opfer zu werden“ („women should avoid dressing like sluts in order not to be victimized“), die die sog. Slutwalks auslöste, die am 03.04.2011 zum ersten Mal in Toronto stattfanden; vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Slutwalk. Vgl. außerdem Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 88. 65 s. Simson/Geerds, 1969, S. 386 ff.; Schulz, 1958, S. 135. 66 Selg/Bauer, 1986, S. 93 ff.; Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 34 ff. 67 Vgl. hinsichtlich pornographischer Darstellungen Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 34 ff. 68 H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 387 f.; eindrücklich dazu die Schilderung eines Vergewaltigungstäters in Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 133 ff. 69 Vgl. zu diesem Begriff Sch/Sch, 14. Aufl. (1969), § 182 Rn. 2: „Bescholten ist regelmäßig ein Mädchen, das vorher freiwillig und bewusst den Beischlaf gestattet hat; darüber hinaus begründet aber auch sonstiges in der sittenlosen Gesinnung des Mädchens wurzelndes unzüchtiges Treiben die Annahme geschlechtlicher Bescholtenheit.“ 70 Dazu Harten, 1995, S. 17. 63

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

27

Prostituierten und Frauen mit einem promiskuitiven Lebenswandel wird – über die Ablehnung des Regelbeispiels und über die Annahme eines minder schweren Falls – immer noch teilweise nur eine verminderte Opferfähigkeit zugesprochen.71 Je mehr eine Frau den traditionellen Rollenverteilungen mit ihrem Verhalten widerspricht, desto eher wird ihre Opfertauglichkeit im Rahmen einer Vergewaltigung angezweifelt. Der Vorwurf lautet, die Tat provoziert zu haben72 bzw. sexuelle Gewalt gar nicht als eine solche empfinden zu können. Diese opferfeindlichen Vorstellungen existieren auch in Köpfen von Frauen, hierdurch wird über das Ereignis „Vergewaltigung“ eine vermeintliche Kontrolle erlangt.73 Solange es einen Grund gibt, warum einer Frau so etwas Schreckliches passiert ist, und zwar einen Grund, der durch die Frau selbst steuerbar ist, wie zum Beispiel das Tragen aufreizender Kleidung oder das Fahren als Anhalterin, wird dieses Ereignis erträglich.74 Diese Vorstellungen erfüllen demnach eine wichtige soziale Funktion. In der Psychologie nennt man diesen Vorgang den Glauben an eine gerechte Welt. Diese Theorie besagt, „dass Menschen das Bedürfnis haben, anzunehmen, sie lebten in einer Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient und verdient, was er bekommt.75 3. Die Vergewaltigung einer gesunden, erwachsenen Frau ist faktisch gar nicht möglich, da sie sich durch ernstlichen Widerstand dem sexuellen Ansinnen des Täters entziehen kann.76 4. Ein wirkliches Opfer schreit während der Tat laut um Hilfe, verlässt nach der Tat fluchtartig den Tatort und würde den Heimweg niemals gemeinsam mit dem Täter antreten.77

71 Die Rechtsprechung des Vierten und Fünften Strafsenats zur Vergewaltigung von Prostituierten ist Ausdruck dieses Stereotyps, ebenso wie die Annahme eines minder schweren Falls bei angeblicher sexueller Tatprovokation. S. dazu Dritter Teil: E. 72 Ebenso Steffen, 1987, S. 18 f. 73 Dazu Harten, 1995, S. 17. 74 Steffen, 1987, S. 20 ff. 75 „Da es aber für Menschen praktisch unmöglich ist, an eine Welt zu glauben, in der der Zufall regiert, wird der Glaube an eine gerechte Welt nicht nur auf die eigene Person bezogen, sondern objektiviert und damit seine Gültigkeit auf alle Menschen ausgedehnt. Dadurch wird die gesamte Umwelt als stabil und geordnet wahrgenommen, wodurch zielgerichtete Tätigkeiten sowie Vertrauen in die Umwelt und andere Menschen ermöglicht werden. Jedes ,Nicht-Vorhandensein‘ des Glaubens an eine gerechte Welt wird dagegen als unangenehm und bedrohlich wahrgenommen, so dass die Motivation entsteht, den Gerechte-Welt-Glauben wiederherzustellen – sei es real oder psychisch – oder ihn als Fiktion aufrechtzuerhalten.“ Vgl. Mattulik-Abuhelou, Der Glaube an eine gerechte Welt unter http://homepage.univie.ac.at/Andreas.Olbrich/montadalerner.htm sowie Brosi, 2004, S. 14. 76 Diese Auffassung liegt im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts begründet. Dazu gleich näher. 77 Dazu Forster, 1986, S. 530; Michaelis-Arntzen, 1981, S. 14 f., 21 f.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

5. Aus einem geringen Abwehrverhalten oder lediglich verbalen Ablehnungsäußerungen kann auf das Einverständnis des weiblichen Gegenübers geschlossen werden. Vergewaltigung ist mit körperlichem Widerstand von Seiten des Opfers eng verknüpft. „Bei keinem anderen Delikt werden die Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers so betont.“ 78 Das idealtypische Opfer leistet gegen einen sexuellen Übergriff „ernstlichen Widerstand“.79 Dessen Ausbleiben oder lediglich verbaler Widerstand stellen eine Abweichung vom klassischen Vergewaltigungsbild dar.80 Aussagen wie, „wenn eine Frau nicht will, dann gibt’s das nicht“,81 passen in dieses Bild. Heftiger Widerstand wird in der Regel als ein Indiz für die Tat behandelt.82 Hinter dem Stereotyp des ernstlichen Widerstands steht die Vorstellung, dass Frauen im sexuellen Interaktionsgeschehen gewaltsam erobert werden wollen, weil sie sich im Rahmen der Sexualität passiv83 bzw. ein wenig zierend verhalten und ihrem Wesen eine masochistische Veranlagung zugrunde liegt.84 Ist der sexuelle Kontakt unerwünscht, verhält sich eine Frau also nur dann rollenkonform, wenn sie aktiv Widerstand bis zum Äußersten leistet, da Passivität bzw. ein wenig Zieren im einverständlichen Kontakt normal ist. In den 50er und 60er Jahren ging man sogar davon aus, dass das passive Verhalten auf eine sexuelle Verwahrlosung des Opfers hindeute.85 Absolute Frauenfeindlichkeit zeigt sich in der noch weitergehenden stereotypen Einstellung, dass Frauen ja eigentlich vergewaltigt werden wollen.86 Empirische Untersuchungen belegen die Relevanz körperlichen Widerstands – dazu zählt auch die Nichtwahrnehmung von Fluchtmöglichkeiten und unterlassene Hilferufe – für Einstellungen der Staatsanwaltschaft gem. § 170 II StPO und Freisprüche.87 In der heutigen Rechtsprechung wird der ernsthafte, konkret der körperliche Widerstand insbesondere beim Tat78

Sick, MschrKrim 1995, S. 283. Dazu ausführlich Dritter Teil: A.II.3. und D. sowie BGH, Beschluss vom 11.08. 1989 – 2 StR 361/89 = BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB; BGH, Urteil vom 01.12.1992 – 1 StR 682/92 = BGH NStE Nr. 30 zu § 177 StGB; BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH NStZ 2002, S. 495; BGH, Urteil vom 02.09.2004 – 5 StR 242/04; Lackner/KühlKühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 8; Sch/ Sch-Lenckner/Perron/Eisele, 27. Aufl. (2006), § 177 Rn. 13; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 80 Zur damit zusammenhängenden Verhaltenskonstruktion der sog. vis haud ingrata s. Zweiter Teil: B.II.1.b) und Dritter Teil: A.II.3. und D. 81 Weis, 1982, S. 53. 82 M. Jäger, 2000, S. 281. 83 s. dazu gleich sowie die Ausführungen in BVerfG NJW 1957, S. 866 ff. 84 s. dazu Harten, 1995, S. 18 sowie gleich unter B.II.2. und III. 85 Baurmann, 1996, S. 319 f., S. 117 ff. 86 In zynischer Weise wird dies verharmlost, wenn man von „vergewohltätigt“ spricht; vgl. hierzu Baurmann, in: Vergewaltigungen, 1985, S. 53 und männliche Aussagen gegenüber Vergewaltigungsopfern während der Tat in Weis, 1982, S. 70 ff. 87 Elsner/Steffen, 2005, S. 150; Steinhilper, 1986, S. 240 ff. 79

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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bestandsirrtum relevant.88 Psychologisch ist jedoch mittlerweile hinreichend erforscht, dass es vielfältige Gründe dafür gibt, warum sich ein Opfer nicht (körperlich) wehrt bzw. wehren kann.89 Eine zentrale Rolle spielt die Erkenntnis aus der Traumaforschung, dass Opfer in Bedrohungssituationen oftmals in Erstarrung verfallen.90 Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass jede Frau mit der Angst vor Vergewaltigungen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten aufgewachsen und davon geprägt ist.91 Der Umstand, dass viele Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung bereits in der Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt waren,92 und auf Grund dieser Viktimisierung ein schwaches Selbstwertgefühl entwickelt haben, ist ebenfalls bedeutsam. Ein selbstbewusstes Abwehragieren wurde von diesen Personen niemals erlernt und kann in deliktischen Situationen von ihnen nicht erwartet werden. Bei Frauen führt diese Art der Viktimisierung vielmehr zu einer „wachsenden Verwundbarkeit“.93 Dieses psychologische Erfahrungswissen wird in der Rechtsprechung bei der Auslegung der Nötigungsmittel gem. § 177 I Nrn. 1–3 StGB zu wenig berücksichtigt.94 Abgesehen davon ist sich die kriminologische Forschung nicht darüber einig, ob Widerstand sinnvoll oder gerade eskalierend wirkt.95 Es finden sich immer wieder Ratschläge, dass man sich als Frau gerade nicht wehren soll,96 weil Widerstand eskalierend wirken kann.97 Derartige Ratschläge gipfeln in Aussagen wie „Lieber fünf Minuten vergewaltigt, als lebenslänglich tot“.98 Des Weiteren gibt es nicht den Vergewaltigungstäter,99 so dass es sich als äußerst schwierig und auch riskant darstellt, allgemeingültig erfolgversprechende Verhaltensregeln für Opfer vorzugeben. Hinzu kommt, dass das Opfer unter dem Eindruck der aktuellen Tatsituation nicht analysieren kann, welche Art von Täter ihm gegenüber steht.100 Unabhängig von diesem Problem der unsicheren Präventionsstrategien gilt aber: Es gibt kein Ab88

s. dazu Dritter Teil: D.II.2. Elsner/Steffen, 2005, S. 109. 90 Herman, 2. Aufl. (2006), S. 65 ff. Vgl. hierzu Huber, 5. Aufl. (2012), S. 37 ff. und das Erklärungsmodell der „traumatischen Zange“ auf S. 39 ff. 91 Baurmann, 1996, S. 476 ff. 92 Zu diesem „Kreislauf von Viktimisierung und Folgeviktimisierung“ vgl. Harten, 1995, S. 105 ff. m.w. N. Oftmals werden diese wiederholt Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung; vgl. H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 866 f. 93 Harten, 1995, S. 107 f. m.w. N. 94 Dazu Dritter Teil: A.II. bis VI. 95 Baurmann, 1996, S. 495 ff.; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 397 ff. Nach der Untersuchung von Abel war Widerstand nicht erfolgreich; vgl. Abel, 1986, S. 353 ff. Zur Problematik präventiv-polizeilicher Ratschläge vgl. Steffen, 1987, S. 95 ff. 96 Baurmann, 1996, S. 474; Hiekel, Kriminalistik 1997, S. 630. 97 Abel, 1986, S. 353 ff. 98 Schäfer, Kriminalistik 1982, S. 364. 99 Dazu gleich unter A.III.1. 100 Baurmann, 1996, S. 495. 89

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

wehrverhalten, das in einem Vergewaltigungsgeschehen musterhaft abläuft.101 Jedes Opfer hat ein Recht, in seinen individuellen Abwehrreaktionen ernst genommen zu werden, ohne damit auf Misstrauen zu stoßen. Ein Widerstand bis zum Äußersten kann nicht verlangt werden.102 6. Zahlreiche Vergewaltigungsanzeigen sind Falschanzeigen, um einverständliche Sexualerlebnisse zu verschleiern. Dieses Vorurteil103 hat eine lange Tradition und ist von jeher eng mit dem Delikt der Notzucht/Vergewaltigung verbunden.104 Anzeigen wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung im Hinblick auf eine sexuelle Nötigung/Vergewaltigung werden von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft nur sehr selten erstattet.105 Laut der Untersuchung von Elsner/Steffen wurden im Jahr 2000 aus 1.894 Vorgängen 7,4% Anzeigen wegen Vortäuschens einer Straftat oder falscher Verdächtigung106 von der Polizei in der PKS registriert.107 In der Untersuchung von Goedelt wurde gegen 4,8% der potentiellen Opfer wegen falscher Verdächtigung ermittelt, in der Studie von Seith/Lovett/Kelly lag die Quote der Falschanschuldigungen bei 3%.108 Gezielte Falschanzeigen von Frauen ohne psychische oder soziale Auffälligkeiten109 mit dem Ziel der Rache oder der Vorteilsverschaffung stellen die absolute Ausnahme dar.110 Seltene Einzelfälle sind auch Anzeigen wegen falscher Verdächtigung gegen Angehörige höherer sozialer Schichten.111 Unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Dunkelfeldforschung, die vermuten lassen, dass die Relation angezeigte/nicht angezeigte Delikte im Bereich der sexuellen Gewalt zwischen 1:3 und 1:10 liegt, kommen auf eine Anzeige wegen Vortäuschung oder falscher Verdächtigung etwa 38 bis 125 tatsächlich vorgefallene sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen.112 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2011. Wegen Vortäuschens einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also nicht 101 Vgl. zum Widerstandsverhalten des Opfers die Untersuchung von Abel, 1986, S. 349 ff. sowie Michaelis-Arntzen, in: Vergewaltigungen, 1985, S. 79 ff. sowie die Opferinterviews in Weis, 1982, S. 54 ff. 102 Dazu Baurmann, 1996, S. 471 f. 103 Dazu Baurmann, 1996, S. 487. 104 Dazu gleich unter B.II.3. 105 Elsner/Steffen, 2005, S. 264, 283. 106 Zu den Gründen einer Falschanzeige vgl. Elsner/Steffen, 2005, S. 186 ff. 107 Elsner/Steffen, 2005, S. 176, 181 f. 108 Goedelt, 2010, S. 73; Seith/Lovett/Kelly, 2009, S. 9. Vgl. auch Abel, 1986, S. 377 ff. m.w. N. 109 Psychische und familiäre Vorbelastungen sind bei diesen Tatverdächtigen die Regel; der Großteil dieser weiblichen Tatverdächtigen ist unter 21 Jahre alt; vgl. dazu Elsner/Steffen, 2005, S. 145 f. 110 Elsner/Steffen, 2005, S. 265. 111 Elsner/Steffen, 2005, S. 265. 112 Elsner/Steffen, 2005, S. 265.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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nur wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung, gem. § 145d StGB, wurden 718 Taten registriert (insgesamt wurden in die PKS 47.078 Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung aufgenommen113), wegen Vortäuschens eines Raubes114 (die Gesamtzahl der Raubtaten in der PKS von 2011 liegt bei 19.148115) dagegen 1.284 Taten.116 Der Prozentsatz der vorgetäuschten Raubtaten (6,7% zu 1,52% bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) im Hellfeld ist also weitaus höher,117 nichtsdestotrotz werden vornehmlich Anzeigenerstatter sexueller Nötigungen/Vergewaltigungen stets mit dem Misstrauensvorschuss einer potentiellen Falschanzeige bedacht.118 Hinsichtlich § 164 StGB, der falschen Verdächtigung, können leider keine Angaben gemacht werden, weil die erfassten Fälle nur insgesamt unspezifisch wiedergegeben werden.119 Letztendlich können jedoch keine unumstößlichen Zahlen im Zusammenhang mit Falschanzeigen genannt werden. Zum einen gibt es weder Dunkelfeldzahlen zum Kontext von Falschanzeigen, zum anderen bilden die Anzeigen wegen Vortäuschens einer Straftat oder falscher Verdächtigung das Hellfeld nur unzutreffend ab, weil es oftmals Aussage gegen Aussage steht und keine Beweise für eine Falschanzeige existieren. Selbst bei starken Zweifeln an der Richtigkeit des Vorwurfs wird also in der Regel keine Anzeige wegen § 145d StGB oder § 164 StGB erstattet. Trotz dieses Umstands kann jedoch zumindest die Behauptung aufgestellt werden, dass die Zahl der Falschanschuldigungen im Vergleich zu anderen Delikten nicht deutlich erhöht ist. Gegenteilige Auffassungen basieren auf dem seit Jahrhunderten tradierten Vorurteil, dass gerade im Sexualstrafrecht zahlreiche Anzeigen erfunden seien. In Abschnitt B.II. wird dieser Umstand näher erläutert. Hervorzuheben gilt: Jede Falschanzeige wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung ist eine zu viel und kann das Leben des zu Unrecht Beschuldigten ruinieren, insbesondere wenn es zu einer Verurteilung kommt.120 113

Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, S. 45. Dazu LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), Vor § 249 Rn. 2: „Die Statistik spiegelt die Realität nur in beschränktem Maß wieder. Einerseits sind vorgetäuschte oder übertriebene Anzeigen wegen Raubdelikten offenbar keine Seltenheit, und die Polizei neigt bei der Registrierung von Raubdelikten zu tatbestandlicher Überhöhung und Zuviel-Erfassung (. . .). Andererseits ist von einem nicht unerheblichen Dunkelfeld insbesondere bei Raubdelikten unter Jugendlichen und Heranwachsenden auszugehen.“ 115 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, S. 46 f. 116 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, S. 54. 117 So schon Abel, 1986, S. 379. 118 Ebenso schon Schäfer, in: FS Dünnebier, 1982, S. 473. 119 Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2011, S. 55: 18.656. 120 Vgl. die erschütternden Berichte in Süddeutsche.de, Unschuldig hinter Gittern – Wie die deutsche Justiz ihre Opfer im Stich lässt. Zu den psychischen Folgen, die bei einem zu Unrecht Beschuldigten entstehen vgl. Elsner/Steffen, 2005, S. 179 f. 114

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Unfundierte Schätzungen hinsichtlich der Quote von vorgetäuschten Anzeigen von „mindestens 10%“,121 wie sie in gegenwärtiger forensischer Literatur und den Medien zu finden ist, nähren jedoch die „Kultur der Skepsis“.122 Sie bestärken das Misstrauen gegenüber einem potentiellen Opfer, je mehr die angezeigte Tat vom klassischen Vergewaltigungsbild abweicht.123 Dieses Gefahrpotential besteht bei Raubdelikten nicht, weil es dort keine opfermissgünstigen Stereotypen und Mythen gibt. 7. Der klassische Täter einer Vergewaltigung ist dem Opfer fremd. Er ist Angehöriger der unteren Sozialschicht. Er ist ein geistesgestörter Psychopath oder/ und geistig debil.124 Die oben dargestellte Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2011 ermittelte für die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses, dass jede zweite Tat von Verwandten oder näheren Bekannten verübt wird.125 Empirische Untersuchungen belegen regelmäßig, dass sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen in bis zu zwei Drittel aller Fälle ein Beziehungsdelikt sind. Der Täter stammt aus dem sozialen Nahraum, so dass zum Zeitpunkt der Tat eine lose oder enge Beziehung vorliegt.126 Eine sexuelle Nötigung/Vergewaltigung findet des Weiteren in über zwei Drittel aller Fälle im privaten Raum statt.127 Die Täter entstammen allen Gesellschaftsschichten128 und werden selten als psychisch krank im Sinne des 121

Brinkmann/Madea, 2004, S. 1134. Seith/Lovett/Kelly, 2009, S. 10. Vgl. Rückert in http://www.zeit.de/2011/09/ WOS-Kachelmann/seite-3: „inzwischen aber gebe es Institute, die jede zweite Vergewaltigungsgeschichte als Erfindung einschätzten.“ 123 Hierbei gilt zu betonen, dass späte Vergewaltigungsanzeigen kein generelles Indiz für eine Unglaubwürdigkeit bilden. Vgl. hierzu Abel, 1986, S. 372 ff.; Penning, 2. Aufl. (2006), S. 140. 124 Vgl. die dieses Vorurteil bestätigende Urteilsanalyse von Abel, 1986, S. 279 ff.; 329; 357 f. Bei Elster/Lingemann, 1936, S. 229 heißt es: „nur sittlich minderwertige Menschen oder pathologisch Kranke“ könnten diese Tat verüben; ebenso Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 392 und Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 207 ff., 453 f. Zu weiteren Tätermythen und deren Vergleich mit der Realität vgl. Dern, 2011, S. 34 ff. 125 s. A.I. 126 Baurmann, 1996, S. 343; Elsner/Steffen, 2005, S. 276; Greger, MschrKrim 1987, S. 274; Goedelt, 2010, S. 54 ff.; Hiekel, Kriminalistik 1997, S. 630; M. Jäger, 2000, S. 87 geht von 52,2% Beziehungstaten aus; Ruch, 2011, S. 64 von 80,5%. 127 Elsner/Steffen, 2005, S. 36. 128 H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 394. Im Bereich der im statistischen Hellfeld erfassten aggressiven Sexualdelikte finden sich viele Angehörige der sozialen Unterschicht; vgl. dazu Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 346 f. Dies bedeutet aber nicht, dass nur diese solche Taten begehen. Vielmehr steigt, je höher die soziale Stufe des Täters ist, die Dunkelfeldziffer von begangenen Vergewaltigungen, weil das Opfer eine weitaus größere Hemmschwelle zu überwinden hat, bevor es die Tat anzeigt und die Chance, dass es gehört wird, geringer wird, gerade weil der Täter sozial anerkannt ist; vgl. dazu Künzel, 2003, S. 147 ff. und Goy, KJ 1987, S. 313 ff. 122

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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§ 20 StGB eingestuft.129 Frauen (und wahrscheinlich auch Männer) sind demnach gerade im sozialen Nahbereich gefährdet. Dies ist und war schon stets das „Kennzeichnende und Problematische“ 130 an der Gewalt gegenüber Frauen (und Männern) und stellt auch den Grund dafür dar, warum diese so lange tabuisiert wurde. Der Fremde wurde zum Täter stilisiert, weil die These von dem Vater oder der Mutter als Täter bzw. Täterin unerhört und erschütternd war.131 Die „garantierte Sicherheitszone“ 132 innerhalb von Familie und Freunden wird somit oftmals zur Gefahrenzone und erschwert die Aufklärung von Taten in diesem privaten Raum. Mit dem Bekanntschaftsgrad von Täter und Opfer erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt wird, wie empirische Studien belegen.133 Auch in der Bevölkerung steigt mit dem Bekanntschaftsgrad zwischen Täter und Opfer die Tendenz, die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung nicht als gravierenden Rechtsbruch zu beurteilen. Je mehr sich das Tatgeschehen vom klassischen Bild der Vergewaltigungstat entfernt, desto eher muss das potentielle Opfer also mit Misstrauen134 bzw. Schuldzuweisungen135 rechnen. So ergab eine internetbasierte Studie aus dem Jahr 2008, dass die „höchsten Belastungen“, auch auf Grund „höchster Aggression“ von Seiten des Täters, den Opfern eines Raubüberfalls zugesprochen wurden,136 die „niedrigsten Belastungen“ dagegen den Opfern eines sexuellen Übergriffs „im sozialen Nahraum“.137 Die höchste „Zuschreibung von Unschuld an das Opfer“ erfolgte beim sexuellen Übergriff durch einen Fremden,138 deutlich mehr Schuld wird Opfern sexueller Gewalt im Nahraum zuerkannt, die niedrigste Unschuldsquote wurde bei Opfern häuslicher Gewalt verortet.139 Eine Teilverantwortung für die Kontrolle der sexuellen Aggression liegt demnach bei der Frau.140 Bei der Einschätzung des Opfers und der Situation eines Raubüberfalls war bei den Befragten am wenigsten „Ambivalenz“ und „Unsicherheit“ vorhanden.141 Delikte im 129 Vgl. Abel, 1986, S. 360 ff., 368; Forster, 1986, S. 530; Kröhn, Sexualmedizin 1984, S. 132. 130 Steffen, 1987, S. 7. 131 Dazu gleich und Steffen, 1987, S. 27 f. 132 Steffen, 1987, S. 7. 133 M. Jäger, 2000, S. 87; Schäfer, in: FS Dünnebier, 1982, S. 478 f.; Steinhilper, 1986, S. 44 f.; 112. Dazu auch Sick, MschrKrim 1995, S. 281. Des Weiteren werden derartige Taten durch die Rechtsprechung oftmals als minder schwer eingestuft; s. dazu Dritter Teil: D. 134 Steffen, 1987, S. 9. 135 Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 166. 136 Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 461, 467. 137 Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 461, 467. 138 Fast gleichauf mit dem Raubüberfall. 139 Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 464 f., 467. 140 Bohner, 1998; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 384. 141 Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 467.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

sozialen Nahraum wurden tendenziell weniger als „kriminelle Gewalttaten“ „im Sinne eines schwerwiegenden, unverschuldeten Widerfahrnisses“ eingeschätzt als Delikte durch Fremdtäter.142 8. Nur Frauen werden Opfer sexueller Gewalt – Täter sind überwiegend Männer. Dieses Opferstereotyp143 wird zwar durch die statistischen Daten des Hellfelds gestützt, es muss aber hervorgehoben werden, dass auch Männer sexueller Gewalt ausgesetzt sind, und zwar durch Männer144 und Frauen.145 Hierbei muss von einem Dunkelfeld großen Ausmaßes ausgegangen werden, wobei die Forschung hinsichtlich der „sexuellen Aggression gegen Männer“ erst am Anfang steht. Eine Ursache dafür liegt in dem Umstand, dass Gewalterfahrungen, zudem wenn es sich um sexuelle Aggression von Frauen handelt, von der Gesellschaft insgesamt und von den meisten Männern tabuisiert werden.146 Opfern männlicher Täter wird darüber hinaus eine höhere Belastung zugeschrieben als Opfern weiblicher Täter.147 Studien wie die von Anderson deuten darauf hin, dass im Falle einer weiblichen Täterin sexueller Gewalt oftmals nicht die Nötigungsmittel des § 177 I StGB angewandt werden, sondern vielmehr rein psychisch wirkender Zwang zum Einsatz kommt.148 Würde dieser als vergewaltigungstaugliches Nötigungsmittel anerkannt, würde sexuelle Gewalt durch Täterinnen wahrscheinlich vorstellbarer. Solange jedoch am klassischen Vergewaltigungsmuster festgehalten wird, wird sexuelle Gewalt stets einseitig auf einen männlichen Ursprung zurück142

Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 467. Dazu Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 458 f. 144 Vgl. BGH NStZ-RR 2006, S. 363 Nr. 12 und Nr. 15. Zur Vergewaltigung i. S. v. § 177 StGB von Männern durch Männer in der Institution Gefängnis vgl. Smaus, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 229 ff. 145 Vgl. dazu Harten, 1995, S. 66 ff. und die Erlebnisberichte in Jungnitz, 2007, S. 219 ff. Dabei wird die weit verbreitete Ansicht, dass ein Mann gegen seinen Willen nicht zum Vaginalverkehr etc. gezwungen werden kann, widerlegt. Vgl. auch Köster, 2009, S. 41 ff. 146 Vgl. dazu Gemünden, 1996; Jungnitz, 2007; Kessler/Seck/Loretan, 2008; Treibel/ Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 468: die männlichen Befragten leugneten das männliche Opfersein „auffallend stark“. 147 Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 461 f. 148 Dazu Anderson/Struckman-Johnson, 1998, S. 121 ff. Ein weiteres Forschungsfeld, das erst am Anfang steht, ist die häusliche Gewalt von Frauen gegen Männer, wobei auch physische Gewalt ausgeübt wird. Wie oft Männer der körperlichen Misshandlung durch ihre Partnerinnen ausgesetzt sind, ist sehr umstritten. Vgl. die Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend http://bmfsfj.de/bmfsfj/gene rator/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationsliste,did=20526.html. Psychisch wirkender Zwang unterhalb der Schwelle der Drohung mit einer Gefahr für Leib oder Leben wird von Frauen unstrittig sehr häufig ausgeübt, dieser wird vom deutschen StGB aber nur spärlich erfasst; vgl. u. a. § 240 StGB, § 241 StGB, § 238 StGB. Vgl. zum sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen durch Frauen Gerber, 2004 und Kavemann, in: Täterinnen, 2009, S. 135 sowie den Artikel in Spiegel Online vom 28.09.2011 unter http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,788332,00.html. 143

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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geführt werden, weil Gewalt als etwas Physisches und als mit dem weiblichen Wesen nicht kompatibel angesehen wird. Dies führt auch dazu, dass ein weiteres Themenfeld – sexuelle Gewalt unter Mädchen und jungen Frauen – bisher weitgehend unbeachtet blieb.149 Der Fokus ist nach wie vor auf die Konstellation männlicher Täter/weibliches Opfer gerichtet. Empirische Untersuchungen belegen regelmäßig die nach wie vor bestehende Wirkmacht von Vergewaltigungsmythen und -stereotypen.150 Diese werden zu Recht als eine der Ursachen für die hohen Schwundquoten151 bei der Aburteilung sexueller Gewalt betrachtet, indem sie die Verarbeitung von Informationen zu Ungunsten des Opfers beeinflussen.152 Je mehr die Tat von dem Stereotyp der „echten Vergewaltigung“ abweicht, umso mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Tat nicht als „eindeutige Vergewaltigung“ angesehen wird153 und nicht zur Aburteilung gelangt, auch weil die Anzeigebereitschaft der Opfer damit negativ korreliert.154 Die Untersuchung von Greuel hinsichtlich der Beeinflussung durch Vergewaltigungsmythen von Polizeibeamten ergab, dass insbesondere der Mythos von der sexuellen Triebtat und der Mitschuld in Abhängigkeit von der Enge der Vorbeziehung stark ausgeprägt war, sowie überhaupt die Vorstellung, dass die Mehrheit der Vergewaltigungen „opferprovozierte“ Taten seien.155 Insbesondere Befragungen von Juristen zur Beurteilung von Vergewaltigungsszenarien sind hierbei aufschlussreich.156 Bei einer Befragung von 451 Studierenden der Rechtswissenschaften157, 129 Gerichtsreferendaren158 sowie 122 erfahrenen 149 Vgl. dazu das Projekt von Zartbitter e. V. unter http://www.pfadfinderinnen.de/in dex.php?id=9&tx_ttnews[tt_news]=157&tx_ttnews[backPid]=8&cHash=f7140c8c21. 150 Bieneck/Krahé, Journal of Interpersonal Violence 2011; Bohner/Eyssel, Journal of Interpersonal Violence 2010; Bohner/Danner/Siebler u. a., Experimental Psychology 2002; Bohner, 1998; Brosi, 2004; Du Mont/Miller/Myhr, Violence Against Women 2003; Eyssel, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 18; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 159 ff.; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 36; Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008. Vgl. außerdem die Untersuchung aus den 80er Jahren von Weis, 1982. 151 s. oben A.I. und Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 162. 152 Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 159; Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 461 f. 153 Weis, 1982, S. 46 ff. 154 Kavemann, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 15; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 160 f. 155 Greuel, 1993, S. 134 f., 171. 156 Krahé/Temkin/Bieneck, Applied Cognitive Psychology 2007, S. 601 ff., 603 ff.; Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 39 f. 157 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 464 ff. 158 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 470 ff.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Rechtsanwälten159 fiel die Verantwortungszuschreibung an den Täter umso geringer aus, je enger die Vorbeziehung war.160 Gleichzeitig stieg die Zuschreibung von Mitschuld an das Opfer.161 Darüber hinaus konnte ein Zusammenhang mit der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen festgestellt werden. Umso stärker diese ausgeprägt war, desto mehr wurde der Täter von seiner Verantwortung entlastet und das Opfer als mitschuldig belastet.162 Die Schuldzuweisungen fielen umso geringer aus, je mehr Gewalt der Täter anwandte.163 Der starke Einfluss von Mythen und Stereotypen kann durchaus als ein Spezifikum des Delikts der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung gesehen werden.164 Empirische vergleichende Studien belegen, dass die Einschätzung von Raubszenarien unabhängig von der Täter-Opfer-Beziehung und dem Grad der Gewalt erfolgt, so dass die Zuschreibung von Täterverantwortung und Opfermitschuld nicht wie beim Vergewaltigungsdelikt damit korreliert.165 Als relevante Information hinsichtlich der Gestaltung des Ermittlungsverfahrens muss das Ergebnis aus empirischen Studien eingeordnet werden, dass Vergewaltigungsmythen besonders dann zur Wirkung gelangen, wenn viel „irrelevante Information“ über einen Fall zur Verfügung steht.166 Der strafrechtliche Aufarbeitungsprozess kann die Anforderung, sich allein datengesteuert zu vollziehen, nicht erfüllen, solange vorgefertigte Schemata mit der Folge von Sachverhaltsverzerrungen eine Rolle spielen.167 Die soeben dargestellten Mythen und Stereotypen werden in den folgenden Ausführungen, soweit nicht schon teilweise geschehen, widerlegt. Unter B. wird auf die gesellschaftlichen und geistigen Grundlagen dieser Vorstellungen eingegangen.

159 Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 39 f. 160 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 469, 473, 476; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 40. 161 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 474; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 160 m.w. N., 166; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 40. 162 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 463, 470, 474 f.; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 40. 163 Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 468 f., 474. Dieses Ergebnis divergiert interessanterweise bei der Einschätzung von Vergewaltigungen durch ehemalige Partner; vgl. dies. S. 469 f. 164 Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 167 f. 165 Bieneck/Krahé, Journal of Interpersonal Violence 2011, S. 1 ff., 9 ff.; s. die bereits oben dargestellte Studie von Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 458 ff. 166 Eyssel, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 19. 167 Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 37.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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III. Täter und Opfer – kriminologische und psychologische Befunde 1. Täter § 177 StGB befindet sich unter den Straftaten, die das sexuelle Selbstbestimmungsrecht168 schützen.169 In der Reformdebatte des 33. StÄG vom 01.07.1997170 wurde gefordert, „Vokabeln wie Sexualstrafrecht, Sexualpraktiken“ zu reformieren, weil hierbei „der Bezug zur falschen Kategorie hergestellt“ werde und der „Triebtätermythos“ bedient werde.171 Problematisch ist die Einordnung als Sexualdelikt aus zweierlei Gründen. Zum einen werden die „gängigen Normen männlichen und weiblichen Sexualverhaltens Bezugspunkte bei der Rekonstruktion des Tatablaufs“ 172 und verstärken die androzentrische Sicht. Zum anderen wird die verfestigte Einordnung dieses Verbrechens als ein Vorgang der rein sexuellen Triebabfuhr173 gestützt, wodurch ein Teil der Verantwortung für das Geschehen auf das Opfer abgeschoben werden kann.174 Nachdem die sexuelle Betätigung als ein zwingendes Grundbedürfnis des Mannes angesehen wird, läuft man Gefahr, die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung als ein der essentiellen Bedürfnisbefriedigung dienendes Geschehen zu werten. Es wird fehlerhaft als Ausübung von Sexualität gegen den Willen einer Person unter Einsatz von Nötigungsmitteln verstanden. „Ziel und Objekt des Verhaltens“ werden als normal dargestellt, lediglich die „gesellschaftlich festgelegten Grenzen der Zielverfol-

168 Im Zusammenhang mit dem 13. Abschnitt wird in der Regel pauschal von Sexualdelinquenz gesprochen, was problematisch ist, weil damit suggeriert wird, dass die jeweiligen Handlungen einen gemeinsamen Nenner hinsichtlich Tatmotiv, Gewaltanteil und Schadensfolgen aufweisen; vgl. Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 337. 169 Vgl. zur Tätersicht Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 108 ff. sowie zur Opfersicht den eindrucksvollen Erfahrungsbericht von Raine, 2001. 170 BGBl. I S. 1607. 171 Gerstendörfer, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 5. 172 Steffen, 1987, S. 24. 173 Vgl. OLG Hamburg JR 1950, S. 408; OLG Köln NJW 1982, S. 2613: „Triebverbrechen“. 174 Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 88; Schorsch, in: Sexualwissenschaft und Strafrecht, 1987, S. 125 legt dar, dass im strafrechtlichen Denken menschliches Handeln allein auf ein rationales Motiv zurückgeführt und die nicht-rationale Motivationsebene völlig ausgeklammert wird; dies führt dazu, den Vorgang einer Vergewaltigung rein auf eine Triebspannung zurückzuführen, obwohl es in der menschlichen Sexualität u. a. um Angstabwehr und Wunscherfüllung geht, und zwar in einem komplexen Geschehen, in dem sich die individuelle Lebensgeschichte verdichtet. Auch der Terminus des sexuellen Missbrauchs birgt die Gefahr, dass dieses Geschehen verkannt wird, weil der Aspekt der „Gewalt“, der in diesen Situationen im Vordergrund steht, vernachlässigt wird. Vgl. dazu Gerber, 2004, S. 21.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

gung“ werden als übertreten bewertet.175 Im Fremdwörterbuch176 wird der Begriff des „Sexualdeliktes“ als „Delikt auf sexuellem Gebiet“ definiert. Wenn ein erzwungener Geschlechtsverkehr aber als Sexualakt bezeichnet wird, führt dies zu der Fehlannahme, dass bei einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung eine Art sexuelle Beziehung zwischen dem Täter und dem Opfer vorliegt. Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung ist jedoch eine Verhaltensweise, die gerade primär nichtsexuelle Bedürfnisse befriedigt.177 Pfäfflin spricht von der „Sexualisierung von Konflikten“ als das Charakteristische bei der Begehung einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung.178 Genauso wenig, wie ein Alkoholiker/eine Alkoholikerin trinkt, weil er/sie durstig ist, wird die Vergewaltigung aber aus einem sexuellen Verlangen heraus begangen.179 Genauso wenig wie bei Raubdelinquenten ein abnormer Eigentums- und Besitztrieb die Ursache der Delinquenz darstellt, ist der Sexualtrieb der Schlüssel zur Erklärung der Vergewaltigungstat.180 Der Sexualtriebtäter, der zum Idealtypus dieses Delikts erklärt wurde, entsprach niemals der Realität.181 Dies belegen auch die Ergebnisse der Untersuchung von Elsner/Steffen,182 die keinen Zusammenhang zwischen der Zunahme von sexueller Nötigung/Vergewaltigung und den Sommermonaten, in denen sich Mädchen und Frauen freizügig kleiden und baden gehen, feststellte. Menschliches Sexualverhalten wird nicht alleine durch das Sexualzentrum gesteuert, sondern ist neurophysiologisch gesehen das Ergebnis eines höchst komplexen Vorganges der wechselseitig einander fördernden bzw. hemmenden Prozesse im Gehirn unter Beteiligung der verschiedensten Instanzen desselben.183 Der Begriff des Sexualtriebdelikts suggeriert, dass alle Täter einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung einen übermäßigen und/oder unkontrollierbaren Sexualtrieb und damit eine organische Fehldisposition aufweisen, der sie zur Begehung einer solchen Tat be175

So zutreffend Wieczorek, ZfStrVo 1997, S. 161. Kraif, 8. Aufl. (2005). 177 Elsner/Steffen, 2005, S. 268; Füllgrabe, Kriminalistik 2006, S. 80; Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 88; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 9; H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 847 ff.; Wiederholt, in: Zur Therapie von sexuell Devianten, 1990, S. 57; Wößner, 2006, S. 167 ff. 178 Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 333, 336, 339, 342. Entgegen Lederer, 2011, S. 22 entspricht es heute nicht mehr der gängigen Vorstellung, dass bei sexuellen Nötigungen/Vergewaltigungen ein „hoher ,Triebdruck‘ im Vordergrund stehe und das Delikt der rücksichtslosen Triebbefriedigung diene“. 179 Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 88. 180 Kaiser, 1981, S. 96 f. 181 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 9; H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 847 ff.; Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 332 f., 341 f.; Wieczorek, ZfStrVo 1997, S. 161. Belegt wird dies u. a. auch dadurch, dass Täter während der Tat oftmals unter sexuellen Störungen, insbesondere unter Erektionsproblemen, leiden; vgl. dazu Füllgrabe, Kriminalistik 2006, S. 82 m.w. N. und Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 346 f. 182 Elsner/Steffen, 2005, S. 81. 183 Kaiser, 1981, S. 10. 176

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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stimmt, wenn keine ausreichende sexuelle Triebbefriedigung stattfindet.184 Des Weiteren blendet dieser Terminus den Umstand aus, dass auch Frauen sexuelle Gewalt ausüben. Die Ursachen von sexuellen Nötigungen/Vergewaltigungen liegen aber nicht – wie noch von der klassischen Psychiatrie vertreten – in einer anlagebedingten Besonderheit, wie beispielsweise eines hohen männlichen Testosteronspiegels.185 Dies ist heute unstrittig. Die Genese sexueller Devianz ist der psychodynamischen Betrachtungsweise folgend vielmehr unter Berücksichtigung der individuellen Lebensgeschichte und der Verarbeitung intrapsychischer und interaktioneller Konflikte zu beurteilen.186 Sexualdelinquenz wird als das Symptom einer zugrundeliegenden psychischen Konfliktlage oder Persönlichkeitspathologie verstanden.187 Die Gegenposition (u. a. Schneider188) vertritt den lerntheoretischen Ansatz, der Sexualdelinquenz als im Verlaufe eines Entwicklungsund Sozialisationsprozesses erworben ansieht.189 Unabhängig von der Frage nach der Genese sexueller Devianz herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich bei dem Delikt des § 177 StGB um ein sexualisiertes Aggressionsdelikt190 handelt, weil für den Täter in der Regel das Gefühl der Macht und Kontrolle sowie das Ausleben von Feindseligkeit und Wut gegenüber dem Opfer tatbestimmend sind.191 Der Täter intendiert die Unterwerfung und Demütigung des Opfers.192 184 Diese Fehlvorstellung äußert sich auch in der Fehlannahme, dass bereits alleine eine chirurgische Kastration oder eine antihormonelle Medikation die Rückfälligkeit von Sexualstraftätern verhindern könnte. Hierbei wird fälschlicherweise suggeriert, dass sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen auf eine einfache, monokausal-biologisch konzeptualisierte Entstehungs- und Lösungstheorie zurückgeführt werden können. Vgl. Eher/Gnoth/Birklbauer u. a., Recht der Psychiatrie 2007, S. 103. In diesem Sinne versuchte schon der BGH die chirurgische Kastration zu legitimieren; vgl. BGHSt 19, 201, (203). Dieses Denkmuster findet sich auch in der Begründung des Kastrationsgesetzes vom 15.08.1969, BGBl. I S. 164; vgl. dazu Kaiser, 1981, S. 74. 185 Abel, 1986, S. 362 ff.; Volk/Hilgarth/Lange-Joest, in: FS Leithoff, 1985, S. 476 ff.; Wiederholt, in: Zur Therapie von sexuell Devianten, 1990, S. 57. 186 Vgl. hinsichtlich der biologischen Erklärungsansätze für männliche Gewalt Köster, 2009, S. 32 ff. 187 Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 339 f.; Wieczorek, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 117 f. Die daraus folgenden unterschiedlichen Therapieverständnisse werden jedoch nicht mehr strikt voneinander getrennt, sondern miteinander kombiniert; vgl. Wieczorek, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 117; Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 355. Ausführlich zu den verschiedenen Theorien hinsichtlich der Genese sexueller Devianz Hagemeier, 2008, S. 78 ff. und Wößner, 2006, S. 23 ff. 188 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 847 ff. 189 Wieczorek, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 118 ff. 190 Hagemeier, 2008, S. 85. 191 Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 88. Frauenfeindliche Einstellungen und der Glaube an Vergewaltigungsstereotypen finden sich besonders häufig bei Vergewaltigungstätern; vgl. dazu Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 217; Hiekel, Kriminalistik 1997, S. 628. 192 Vgl. Abel, 1986, S. 362 ff.; Füllgrabe, Kriminalistik 2006, S. 84; Lederer, 2011, S. 31 f. m.w. N.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 9; H. J. Schneider,

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Der (beabsichtigte) Vollzug einer sexuellen Handlung im Sinne des § 177 StGB ist demnach lediglich das Mittel, ein Gewaltverhältnis zu erschaffen, in dem das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist, dieses quasi aus Tätersicht bezwungen wurde, wobei Unzulänglichkeitsgefühle des Täters kompensiert werden sollen.193 Die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung gestaltet sich deshalb oftmals als ein desexualisierter, mechanischer, rücksichtsloser Koitus zur Unterwerfung, zur aggressiven Abreaktion bzw. zur machistischen Selbstbestätigung.194 Im Rahmen dieses Geschehens findet ein „Entpersonalisationsprozeß“ statt, so dass der Täter jedes Gefühl für das Opfer verliert und es nur noch als Objekt betrachtet.195 Sexualität wird zum Instrument, Machtbedürfnisse zu befriedigen.196 Deswegen ist eine Vergewaltigung auch nicht Ausdruck einer sexuellen Deviation,197 d.h. einer besonderen sexuellen Spezialisierung, worum es sich zum Beispiel beim Exhibitionismus handelt.198 Eine sexuelle Nötigung/Vergewaltigung ist vielmehr das

in: FS Lenckner, 1998, S. 847 ff.; Volk/Hilgarth/Lange-Joest, in: FS Leithoff, 1985, S. 469 ff. 193 Vgl. dazu die eindrücklichen Interviews mit Vergewaltigungstätern in Tügel/ Heilemann/Gers, 1987, S. 50 ff.,108 ff.,131 sowie Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 84 und Weis, 1982, S. 74 ff. 194 Baurmann, 1996, S. 146; die Vergewaltigung stellt für den Täter oftmals kein sexuell befriedigendes Erlebnis dar; vgl. Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 97 und Volk/Hilgarth/Lange-Joest, in: FS Leithoff, 1985, S. 473. 195 Ben-David, in: Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege, 1982, S. 245. Dazu auch Lederer, 2011, S. 25 ff. Diese misinterpretiert die Untersuchung von Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 28 f. jedoch: Die Täter, die angaben, dass sie nachhaltiger Widerstand von der Tat abgehalten hätte, sahen ihre Tat nämlich gar nicht als Vergewaltigung an, so dass daraus keine Rückschlüsse gezogen werden können, dass beim Täter eine Hemmschwelle aktiviert wird, wenn das Opfer körperlich Widerstand leistet oder schreit. Des Weiteren ordnet sie das Urteil des BGH vom 14.10.1981 – 3 StR 215/81 kritiklos als Umschreibung der Rechtsprechung für die mögliche Durchbrechung des Entpersonalisationsprozesses ein: „(. . .) der Umstand, dass der Angeklagte seine frühere Freundin bei der ersten Tat körperlich mißhandelt, sie gegen erkennbaren Widerstand ausgezogen, angeherrscht und bedroht hat, schließt nicht aus, daß er ,in weitaus stärkerem Umfang mit eigenen moralischen Hemmungen konfrontiert worden‘ wäre, ,wenn U mehr körperlichen Widerstand gezeigt und geschrien hätte‘. Dies gilt auch dann, wenn dem sensiblen und zarten und eingeschüchterten Mädchen ein stärkerer körperlicher Widerstand oder wenigstens laute Hilferufe nicht möglich gewesen wären“, (in BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 findet sich derselbe Wortlaut und dieselbe Wertung wieder); dazu Dritter Teil: D. 196 Gerber, 2004, S. 21. 197 Sexuelle Deviation stellt eine „habituelle Spezialisierung auf ungewöhnliche sexuelle Gewohnheiten“ dar. In Deutschland fällt darunter etwa der Exhibitionismus, Voyeurismus, Sadismus und Masochismus. Der Sadist wird dabei selten deliktisch auffällig, weil das Ausleben von Aggressionen im Rahmen von fiktiven Rollenspielen stattfindet, die ein totales Beherrschungsverhältnis garantieren, weil es feststehende Regeln gibt. Ob ein bestimmtes Verhalten als sexuell deviant bezeichnet wird, hängt von den Moralvorstellungen und Sexualpraktiken einer Gesellschaft ab. Vgl. näher Schorsch, 1976, S. 50 ff. 198 Schorsch, 1976, S. 260.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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einzige Gewaltverbrechen, das sich als Sex tarnt,199 sie stellt eine „pseudosexuelle Handlung“ 200 dar. Es geht also – kurz gesagt – um den sexuellen201 Ausdruck von Aggression und gerade nicht um den aggressiven Ausdruck von Sexualität. Die Einordnung dieses Delikts als kapitales Aggressionsdelikt202 beschreibt daher den Charakter einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung treffend.203 Man bedenke hierbei auch den Einsatz der Vergewaltigung als Kriegswaffe.204 Die Gefahr, dass dadurch der Unrechtskern des § 177 StGB fehl gedeutet wird, besteht nur dann, wenn verkannt wird, dass allein schon die Vornahme sexueller Handlungen gegen den Willen einer Person, den Unrechtskern dieses Tatbestands bildet205 und dies bereits sexuelle Aggression bedeutet. Der Einsatz der Nötigungsmittel verstärkt lediglich das Unrecht. Der Umstand, dass Täter einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung häufig auch wegen anderer Gewaltdelikte wie unter anderem Raub und Körperverletzung vorbestraft sind, belegt die Richtigkeit dieser Einordnung.206 Die Bezeichnung als Aggressionsdelikt ist derjenigen des Gewaltdeliktes vorzuziehen, weil dem Terminus der Gewalt die Gefahr anhaftet, vergewaltigungstauglichen Zwang auf die Ausübung von physischer Gewalt bzw. die Angst davor zu reduzieren. Es gilt zu betonen, dass es weder den Sexualstraftäter207 noch den Vergewaltigungstäter gibt.208 Es gibt zahlreiche Untersuchungen, in denen Typologien von Vergewaltigungstätern entwickelt wurden.209 Gemeinsam ist diesen, dass sich in 199

Raine, 2001, S. 329. Greuel, 1993, S. 43. 201 Sexuell, weil Sexualorgane involviert sind. 202 Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 87; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 9. 203 Die Einordnung als Aggressionsdelikt wirft die Frage auf, ob an dem Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebes“ festgehalten werden kann. Schorsch sieht diesen Begriff als „ein die psychische Realität verzerrendes Konstrukt“ an. Vgl. seine anschauliche Darstellung zu den hochkomplexen Motiven „sexuell“ motivierter Tötungen in Schorsch, in: Sexualwissenschaft und Strafrecht, 1987, S. 125; ebenso Pfäfflin, in: Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 336, 348 ff. 204 Dazu Greve, 2008, S. 27 ff.; Burkhardt, 2000. 205 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 51. 206 Vgl. Baurmann, 1996, S. 303 ff.; Elsner/Steffen, 2005, S. 140 ff. (Rohheitsdelikte/Delikte gegen die persönliche Freiheit wurden bei den Tatverdächtigen zu 53,7% erfasst); Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 214; Tausendteufel/Bindel-Kögel/Kühnel, 2006. 207 Dieser Begriff suggeriert fälschlicherweise, dass es sich um eine homogene Gruppe von Tätern handelt. 208 Vgl. zur wichtigen Frage der Differenzierung innerhalb der Täter des 13. Abschnitts, weil je nach Einordnung mit einer anderen Art von Behandlung reagiert werden muss Hoyer, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 13 ff.; Kury, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 77 ff. sowie Wößner, 2006, S. 46 f., 181 ff. 209 Dern, 2011, S. 39, Fn. 12 m.w. N.; Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 90 ff.; Musolff/Hoffmann, 2. Aufl. (2007), S. 76 ff.; Volk/Hilgarth/Lange-Joest, in: 200

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

der Vorgeschichte der Tätergruppen oftmals „Sozialisationsstörungen“ 210 finden. Dern hebt den Aspekt der „Antisozialität“ hervor,211 was jedoch nicht bedeutet, dass keine „vordergründige soziale Anpassung“ vorliegen kann.212 Gerade weil dissoziale Persönlichkeitsstörungen213 in jeder Gesellschaftsschicht anzutreffen sind, finden sich die Täter nicht nur in unteren Sozialschichten.214 Typologien verkürzen zwar zwangsläufig die Wirklichkeit, sind aber für das Profiling215 und darüber hinaus für eine erfolgreiche Behandlung von großer Bedeutung.216 Es macht einen großen Unterschied, ob es sich bei dem Täter um einen sadistisch veranlagten Täter handelt, bei dem aggressive und sexuelle Bedürfnisse untrennbar miteinander verknüpft sind, um einen von Rachegefühlen gegenüber Frauen getriebenen Täter, um einen von durchdringender Wut angetriebenen Täter, der eine unspezifische allgemeine Aggression aufweist, oder um einen Täter aus Gelegenheit, der eine geringe Impulskontrolle besitzt und generell antisoziales Verhalten und keinerlei Empathie aufweist.217 Häufig befinden sich die Täter zum Tatzeitpunkt in einer „schwierigen sozialen und emotionalen Situation“.218 Ihre Kindheit und Jugend verlief oftmals disharmonisch und problematisch, sie haben „traumatisierende Erfahrungen“ 219 durchgemacht, die oftmals in sexueller Gewalt oder schwerer Misshandlung besteht.220 Gerade weil nicht der übermächtige Sexualtrieb die Ursache von Vergewaltigungen darstellt und Täter eben nicht

FS Leithoff, 1985, S. 469; Wieczorek, ZfStrVo 1997, S. 162 ff. Vgl. außerdem den Überblick bei Hagemeier, 2008, S. 51 ff., die ausführliche Darstellung bei Harten, 1995, S. 127 ff. und die Kritik von Pfäfflin an der Entwicklung von Typologien in Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 347 f. 210 Jost, 2008, S. 179 f.; vgl. auch das Fallbeispiel auf den S. 192 ff. 211 Dern, 2011, S. 144. 212 Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 214, 216. 213 Dazu gehören u. a. Kontakt- und Bindungsstörungen; latente Depressivität; Fehlentwicklung der aggressiven und sexuellen Triebe; narzisstische Grund-Störung; vgl. Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 214, 216. 214 Vgl. die Untersuchung von Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 211 ff. an Bundeswehrrekruten in der Schweiz. 215 Musolff/Hoffmann, 2. Aufl. (2007), S. 80. 216 Wieczorek, ZfStrVo 1997, S. 163 f. 217 Vgl. Dern, 2011, S. 80; Musolff/Hoffmann, 2. Aufl. (2007), S. 77 f. zu dieser Typologie der amerikanischen Wissenschaftler Knight und Prentky, die auf jahrzehntelangen Forschungen basiert und „ermutigende Ergebnisse hinsichtlich ihrer Gültigkeit und Praktikabilität“ erzielte. Vgl. Schumacher, in: Zur Therapie von sexuell Devianten, 1990, S. 4 ff. und Wieczorek, ZfStrVo 1997, S. 162 ff. mit einer ähnlichen Einteilung von Tätergruppen und die Fallbeispiele auf S. 164 ff. 218 Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 84. 219 Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 215. 220 Groth/Hobson, in: Vergewaltigung, 1986, S. 96; Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 215; Harten, 1995, S. 91 ff., 99 ff.; Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 85 f. Vgl. Huber, Der Feind im Innern, 2013 zur Psychotherapie von Opfern von Gewalt, die sog. Täterintrojekte in sich tragen.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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ganz normale Männer221 sind, wird nachvollziehbar, warum die Verabreichung von Antiandrogenen und Durchführung von Kastrationen als alleinige Maßnahmen an der grundlegenden Problematik regelmäßig nichts zu ändern vermögen,222 ja sogar gegenläufig wirken können, weil den Tätern „auch noch ihre Männlichkeit genommen“ wird.223 Damit wird auch offenbar, dass ein Strafvollzug ohne Behandlungsprogramm die Rückfallgefahr fördert, weil auf das Verhaltens- und Denkmuster224 der Delinquenten eingewirkt werden muss, damit diese – im besten Fall – Verantwortung für ihre Taten übernehmen können.225 Eine „Rehabilitation muss an der ganzen Persönlichkeit ansetzen“,226 wobei eine Therapie erstmals die Chance für den Täter eröffnen kann, sich der gegen ihn gerichteten sexuellen Gewalt in seiner Kindheit und/oder Jugend bewusst zu werden. Eine erfolgreiche Behandlung kann dabei oftmals nicht mit einer vollkommenen Heilung des Delinquenten gleichgesetzt werden, sie liegt vielmehr bereits vor, wenn der Täter seine Verhaltensmuster und Gewaltphantasien kontrollieren kann, demgemäß nicht mehr auslebt.227 Gleichwohl werden Täter einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung im Strafvollzug nicht durchgehend als zwingend therapiebedürftig228 angesehen, eine anfängliche Demotivation als unausweichlicher 221

Ebenso Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 216 f. Ebenso Schumacher, in: Zur Therapie von sexuell Devianten, 1990, S. 4. Allerdings kann die Gabe von Antiandrogenen bei Tätern mit extremen Gewaltphantasien sinnvoll sein, um ihre Therapiefähigkeit herzustellen, indem sie dadurch von ihrer „Dranghaftigkeit“ entlastet werden können; vgl. dazu Horn, in: Zur Therapie von sexuell Devianten, 1990, S. 43. 223 Jost, 2008, S. 181; Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 353 ff. Zum bisher fehlenden Nachweis, dass antihormonelle Medikation die Rückfälligkeit von Sexualstraftätern reduziert; vgl. Eher/Gnoth/Birklbauer u. a., Recht der Psychiatrie 2007, S. 103 ff. Kritisch zur „freiwilligen“ Kastration auf der Grundlage des Gesetzes über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15.08.1969 Kaiser, 1981, S. 47 ff. und Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 353 ff. Vgl. zu diesem Themenkomplex ausführlich Lederer, 2011, S. 217 ff. 224 Vgl. dazu Wieczorek, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 128 ff. Dies gilt im Übrigen für die meisten Straftäter. 225 Zum Stellenwert der Psychotherapie im Regelvollzug vgl. Fegert/Häßler/Schläfke, 2005, S. 309 ff. 226 Haas/Killias, Bewährungshilfe 2001, S. 217. 227 Jost, 2008, S. 181. 228 Nur im psychiatrischen Maßregelvollzug, § 63 StGB, gehört eine Therapie zwingend zur Behandlung; vgl. dazu und zum Problem, dass es mangels einheitlicher Bewertungsstandards vom Gutachter abhängt, ob der Täter als „psychisch krank“ in den Maßregelvollzug oder als „psychisch gesund“ in den Strafvollzug eingeliefert wird, so dass die Gruppe der persönlichkeitsgestörten Täter (Tatfaktor „Antisozialität“) sich in beiden Kategorien wiederfindet Eucker/Müller-Isberner, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 97. Zu den Möglichkeiten und Problemstellungen im Zusammenhang mit einer Therapie bzw. Behandlung von Sexualstraftätern in der Institution Gefängnis und dem Erfordernis, stets den neuesten Stand der Behandlungsforschung miteinzubeziehen vgl. Jost, 2008, S. 181 ff.; Kury, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 69. 222

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Misserfolgsindikator bewertet229 und darüber hinaus nicht jedem Therapiewilligen ein Platz in einer sozialtherapeutischen Einrichtung gewährt.230 Als positiv zu bewerten ist dennoch, dass die durch die Studie von Martinson231 aus dem Jahre 1974 ausgelöste Krise hinsichtlich der Behandlung von Straftätern überwunden wurde und dem Behandlungsgedanken nun wieder weitaus mehr Raum gegeben wird.232 Die Erfolge, die hierbei auftreten, rechtfertigen diese Herangehensweise.233 Das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Resozialisierung234 aus Art. 2 I i.V. m. Art. 1 GG gebietet, nicht nur die Belange der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, sondern dem Täter eine wirkliche Chance zu geben, zukünftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. „Erst wenn wir hinter die Fassade eines Täters blicken, wird aus dem medialen ,Monster‘ ein Mensch mit allen Stärken, Schwächen, Ungereimtheiten und mit oft sehr belastenden Erfahrungen, die seine (Fehl-)Entwicklung und sein Leben geprägt haben.“ 235 2. Opfer Das Opfer236 einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung erfährt während der Tat237 und durch die Tat einen brutalen Eingriff in seine ureigenste Intim229

Jost, 2008, S. 183. Kury, in: Psychische Störungen bei Sexualdelinquenten, 2001, S. 88 f.; SchülerSpringorum, GA 2003, S. 578; Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 338, 353. 231 Martinson, The Public Interest 1974, S. 22 ff.; dieser brachte das Schlagwort „nothing works“ auf. 232 Zur Geschichte des Behandlungsgedankens vgl. Hagemeier, 2008, S. 17 ff. Zur „Sexualstraftäter-Sozialtherapie“ vgl. Schüler-Springorum, GA 2003, S. 575 ff. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 wurde § 9 StVollzG geschaffen, der vorschreibt, dass ein Gefangener in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen ist, wenn er wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 StGB zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und die Behandlung in einer sozialtherapeutischen Anstalt nach den §§ 6 II 2 oder § 7 IV StVollzG angezeigt ist. In § 2 S. 1 StVollzG und Art. 2 S. 1 BayStVollzG werden als Vollzugsziele die Resozialisierung des Täters und der Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten festgesetzt. Zur Sicherungsverwahrung vgl. Höffler/ Kaspar, ZStW 124 (2012), S. 124; Schöch, GA 2012, S. 14 ff. m.w. N. 233 Venzlaff/Foerster/Dreßing u. a., 5. Aufl. (2009), S. 355 f. Das Projekt „Geschlechtsrollenseminar“ mit Tätern in Hameln zeigt, dass durch Therapie eine Verhaltensänderung der Täter herbeigeführt werden kann; vgl. Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 140 ff. 234 BVerfGE 35, 235 ff.; BVerfGE 45, 239 ff. 235 Jost, 2008, S. 184. 236 Personen, die in meiner Arbeit als Opfer bezeichnet werden, sind entweder selbstoder fremddeklarierte Opfer bzw. solche, die ihre Opferrolle lediglich perzipieren, aber nicht deklarieren; der Begriff des Opfers ist im Folgenden stets im strafrechtlichen Sinne zu verstehen, als Synonym für „Verletzter“, als Inhaber des durch den jeweiligen Straftatbestand geschützten Individualrechtsguts. Zu einem ausdifferenzierten Opferbegriff vgl. Baurmann, 1996, S. 25 ff. 230

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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sphäre.238 Sie wird als Entwürdigung und als tiefe Verletzung bzw. Zerstörung der sexuellen Emotionalität erlebt. Opfer berichten regelmäßig von einem Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins, der Erstarrung und einer als ganz nah empfundenen Todesangst239, was in der Regel eine Schockwirkung240 beim Opfer erzeugt.241 Die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung stellt sich damit als ein traumatischer Angriff auf die Person in ihrer Gesamtheit dar,242 der als lebensbedrohend empfunden wird. Der Täter bemächtigt sich des Opfers, bringt es unter seine Kontrolle, stuft es zu einem bloßen Objekt herab. Akute Folgen sind in der Regel psychische (seelische) mit oder ohne physische(n) Verletzungen.243 Gefühle wie Scham und des Beschmutztseins, des Ekels vor dem eigenen Körper und der Wunsch, Erlebtes ungeschehen zu machen, sind der Regelfall.244 Diese Folgen werden in der viktimologischen Forschung als Primärschäden bezeichnet.245 Das traumatische Ereignis einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung kann sich darüber hinaus in nachhaltigen psychischen Beeinträchtigungen in Form von sog. posttraumatischen Belastungsstörungen äußern.246 237 Vgl. dazu den eindrucksvollen Bericht von Raine, 2001, S. 22 ff. und die Ausführungen von Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 22. 238 In BT-Drs. 13/323, S. 5 heißt es folglich, dass es sich bei der Vergewaltigung um eine „brutale Erniedrigung“ handelt. Vgl. zu den Auswirkungen Weis, 1982, S. 96 ff. 239 Rose, American Journal of Psychiatry, 1986, S. 818. 240 Darunter wird ein physiopsychischer Zustand nach plötzlich auftretenden, unerwarteten und katastrophenartigen Ereignissen verstanden, der mit Orientierungsverlust, Fassungslosigkeit, starker Erregung und Erstarrung einhergeht und regelmäßig nur kurze Zeit andauert, jedoch auch Ausgangspunkt für eine traumatische Neuroseentwicklung sein kann. Körperlich treten Symptome wie u. a. fahle Haut, Blässe, Schweißausbruch und Kreislaufstörungen auf; vgl. Fehrmann/Jakobs/Junker/Warnke, 1986, S. 41 sowie Herman, 2. Aufl. (2006), S. 65 ff.: „Der Bewusstseinszustand des Opfers erfährt bei der Erstarrung (bzw. Konstriktion) eine Veränderung; ein Vergewaltigungsopfer beschreibt dieses Gefühl der Distanziertheit folgendermaßen: „Da verließ ich meinen Körper. Ich stand drüben, neben dem Bett, und schaute dem Geschehen zu (. . .) Ich löste mich von der Ohnmacht. Ich stand neben mir, und auf dem Bett lag nur die Hülle (. . .) Da war nur noch Leere.“ 241 Baurmann, 1996, S. 146; Fehrmann/Jakobs/Junker/Warnke, 1986, S. 4; Granö, in: Vergewaltigung, 1986, S. 39. Vgl. dazu die Zeugenaussagen bei Brownmiller, 1978, S. 259 ff. 242 Greuel, 1993, S. 43 f.; hierzu auch Huber, 5. Aufl. (2012), S. 37 ff. 243 Baurmann, 1996, S. 196 ff., 458 ff. Vgl. die möglichen Phasen der akuten Traumafolgestörungen in Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 25 f. 244 Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 22. 245 Baurmann, 1996, S. 201; vgl. auch Folkers, 2004, S. 23 ff. 246 Hierbei spricht man von tertiärer Viktimisierung. Diese beinhalten emotionale Gefühllosigkeit, Schlaflosigkeit, Depressionen, Schuldgefühle, Albträume, Konzentrationsschwäche, Übererregung, wiederholtes Erleben der Tat (Intrusion); Konstriktion; vgl. dazu die Arbeit von Herman, 2. Aufl. (2006) und insbesondere daraus S. 53 ff., 79 ff., 84 ff.; Pöhn, 2010; Raine, 2001, S. 94 ff., 280. Nach Schellong, in: Streitsache

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

Entschließt sich das Opfer zu einer Anzeige, besteht die Gefahr einer sekundären Viktimisierung,247 die durch Fehlreaktionen der Strafverfolgungsorgane, der Medien, des sozialen Umfelds248 und der Öffentlichkeit auf die Tat hervorgerufen werden und zu sogenannten Sekundärschäden führen kann.249 Die Ermittlungsbehörden werden bei der Aufklärung einer angezeigten sexuellen Nötigung/ Vergewaltigung in der Regel vor Herausforderungen und Schwierigkeiten gestellt, weil oftmals Aussage gegen Aussage steht und eindeutige Beweise fehlen.250 Die Glaubwürdigkeit des Opfers bildet dann das zentrale Kernstück des Verfahrens.251 Es liegt in der Natur der Sache, dass bereits allein auf Grund dieses Umstands das Ermittlungsverfahren mit besonderen Belastungen für das Opfer verbunden ist, weil sich die Ermittlungshandlungen auf das Opfer und dessen Aussage konzentrieren. Schließlich ist der Opferzeuge gleichzeitig der Verletzte und „als Beweismittel regelmäßig unverzichtbar“, so dass ihm der „Prüfstand einer konfrontativen Befragung“ nicht erspart werden kann.252 Darüber hinaus stellt es ein Spezifikum dieses Delikts dar, dass dem mutmaßlichen Opfer von Beginn des Verfahrens oftmals mit besonderem Misstrauen begegnet wird253 und

Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 22 treten diese Störungen in 55% der Fälle auf. Vgl. den Forschungsüberblick bei Greuel, 1993, S. 59 ff. zu Langzeitreaktionen. Hervorzuheben ist, dass dieselben traumatischen Störungen bei Kriegsveteranen, Opfern häuslicher Gewalt, politischen Gefangenen, Opfern von Konzentrationslagern, also bei allen Opfern von „Gewalt“ zu finden sind. Vgl. auch BGH NJW 2007, S. 2341 f. 247 Vgl. zum Viktimisierungsprozess ausführlich Baurmann, 1996, S. 39 ff., 201, 350 ff., 462 ff., 476, 502 ff.; Elsner/Steffen, 2005, S. 178; Fehrmann/Jakobs/Junker/ Warnke, 1986, S. 17 ff.: laut dieser Untersuchung variiert das Verhalten der Strafverfolgungsorgane je nach Schichtzugehörigkeit des Opfers; vgl. Fehrmann/Jakobs/Junker/ Warnke, S. 41 ff.; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 397; Folkers, 2004, S. 26; Greuel, 1993, S. 60 ff., 171 ff. 248 Vgl. Weis, 1982, S. 123 ff. 249 Schäfer spricht von einem „modernen Spießrutenlauf“ für das Opfer, Schäfer, in: FS Dünnebier, 1982, S. 472. 250 Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 149. 251 Zur Eruierung der Glaubwürdigkeit im Strafverfahren vgl. Wolff/Müller, 1997 und die Untersuchung von Greuel, 1993. Nach Meyer-Mews Hans, NJW 2000, S. 917, zählen „zu den vor Gericht privilegierten Zeugen“ „neben den Polizeizeugen auch die (mutmaßlichen) Geschädigten von Sexualstraftaten“, wobei er genau ein Beispiel dafür anführt. Unlogisch sind seine Ausführungen in Fn. 17: „Aus kriminologischer Sicht ist die zeitlich stark verzögerte Strafanzeigenerstattung allerdings durchaus deliktstypisch für Sexualstraftaten. Das ändert indessen nichts daran, dass ein solches Verhalten auch für Fälle falscher Beschuldigung als typisch zu unterstellen ist und nach dem Grundsatz in dubio pro reo mithin eher gegen die Glaubwürdigkeit des betreffenden Zeugen spricht.“ 252 Jeweils Barton, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 135. 253 Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 154. Vgl. auch Fehrmann, 1986, und die obigen Ausführungen zum Mythos der überdurchschnittlich vielen Falschanzeigen.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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die Frage einer „eventuellen Mitschuld des Opfers“ im Raum steht.254 Bei Vorliegen von sichtbaren Verletzungen auf Seiten des Opfers und aggressionsreichen Taten finden in der Regel dann auch intensivere Ermittlungshandlungen der Strafverfolgungsbehörden statt255 und die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung steigt.256 Erfolgt die Anzeige 24 Stunden nach der Tat, was selten der Fall ist,257 so wird weitaus mehr ermittelt, als wenn die Tat erst danach angezeigt wird.258 Einerseits können bei einer verspäteten Anzeige wertvolle Tatspuren verloren gehen, andererseits gilt aus Sicht der Ermittlungsbehörden die sofortige Information der Polizei oder einer anderen Person immer noch als ein Indiz für den Wahrheitsgehalt der Aussage.259 Körperliche Verletzungen können jedoch auch gänzlich fehlen, weil der Täter das Opfer unter Einsatz einer Drohung oder Ausnutzung einer schutzlosen Lage gem. § 177 I Nrn. 2, 3 StGB zu sexuellen Handlungen genötigt hat. Die Spuren, die eine sexuelle Nötigung/Vergewaltigung hinterlässt, sind also oftmals unsichtbar, weil rein psychischer Natur. Darüber hinaus erweist es sich als besonders problematisch, dass viele Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung während dieses traumatischen Ereignisses das Gefühl der Dissoziation260 und Konstriktion261 erleben, wobei eine Bewusstseinsveränderung derart eintritt, dass das Opfer aus seinem Körper austritt und das Geschehen quasi von außen beobachtet. Diese Bewusstseinsveränderung, die wie eine Lähmung oder Erstarrung des ganzen Körpers empfunden wird, bewirkt eine innerliche Flucht vor dem Geschehen, weil eine Flucht des physischen Körpers nicht durchführbar ist.262 Das Ausblenden einer lebensbedrohenden Erfahrung wie einer Vergewaltigung in der Erinnerung ist deshalb „möglich und keineswegs unüblich“.263 Diese Umstände und die regelmäßig auftretende „extreme psychische Ausnahmesituation“ 264 während und nach der Tat bedeuten, dass eine exakte, detailreiche und widerspruchsfreie Schilderung des Geschehens, wie sie

254 255 256 257 258 259 260 261 262

M. Jäger, 2000, S. 81. Goedelt, 2010, S. 109, 114, 140 f.; ebenso Steinhilper, 1986, S. 44 f., 112. Seith/Lovett/Kelly, 2009, S. 9. Dazu Elsner/Steffen, 2005, S. 281, 286 f. Steinhilper, 1986, S. 113 f. M. Jäger, 2000, S. 281. Abspaltung des Bewusstseins. Innere Lähmung. Herman, 2. Aufl. (2006), S. 65 ff.; hierzu auch Huber, 5. Aufl. (2012), S. 43 ff.,

53 ff. 263 Dietmar Heubrock vom Institut für Rechtspsychologie an der Universität Bremen in EMMA digital, Sexualpolitik. Vergewaltigung. Sondereinheiten in Deutschland, 2011 unter http://www.emma.de/ressorts/artikel/vergewaltigung/sondereinheiten-in-deutsch land/. 264 Elsner/Steffen, 2005, S. 280. Dieser äußert sich in verschiedenen Gemütszuständen, die von Weinen bis völlige Ausdruckslosigkeit reichen können; vgl. Kröhn, Sexualmedizin 1984, S. 135.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

von Polizei,265 Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung erwartet wird, oftmals nur erschwert möglich ist.266 Gerade von Seiten der Verteidigung wird immer wieder versucht, die Glaubwürdigkeit des Opfers zu untergraben, indem entweder ein Mitverschulden konstruiert wird, das sich an den gängigen Vergewaltigungsmythen orientiert,267 oder das Leben der Zeugin durch exzessive Befragungen auseinandergenommen wird.268 Auf Grund dieser vielfältigen An- und Herausforderungen ist eine Stabilisierung der Opferzeugen vor und während des Ermittlungs- und Hauptverfahrens durch einen erfahrenen Traumaberater oder -therapeuten unabdingbar. Nachdem die Erinnerung der Opferzeugin jedoch von „Verfremdungen und Verarbeitungsprozessen“ unbeeinflusst bleiben soll und Gericht und Verteidigung deshalb einer Therapie oftmals skeptisch gegenüber stehen, muss sich die „psychotherapeutische Krisenintervention“ im Ermittlungsund Hauptverfahren auf rein „stabilisierende“ und „ressourcenstärkende Maßnahmen“ beschränken.269 Der Unschuldsvermutung und den Opferinteressen kann nach alledem nur Genüge getan werden, wenn die Ermittlungsbehörden und das Gericht über ausreichend psychologisches Fachwissen verfügen. Bei der Eruierung der Glaubwürdigkeit des Opfers ist psychologische Fachkompetenz unabdingbar.270 Ansonsten hängt die Einschätzung des Geschehens von laienhaften Alltagstheorien und Stereotypen ab, mit der Gefahr eines Fehlurteils. Sondereinheiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft für den Bereich von Sexualstraftaten

265 Nach der Untersuchung von Greuel, 1993, S. 139 f. bildet die „logische Inkonsistenz bzw. fehlende Plausibilität der Aussage“ den Indikator für die Glaubwürdigkeit der Zeugin. 266 Vgl. Brinkmann/Madea, 2004, S. 1135 sowie Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 26 f. und das Interview mit Dr. Julia Schellong, Oberärztin für Psychotraumatologie an der Uniklinik Dresden und Mitglied beim „Traumanetz Sachsen“ in Emma online 09/2010 unter „Richter müssen sich fortbilden!“. 267 Dinges/Schäfer, 1992, S. 172; Kröhn, Sexualmedizin 1984, S. 132; ein Beispiel hierfür ist der sog. Berliner Gynäkologenprozess von 1984–1986; vgl. Künzel, 2003, S. 147–191; 1985, S. 91 ff.; vgl. auch die Beispiele für die Äußerungen von Seiten der Verteidigung in Forster, 1986, S. 528: „Bei einem Mädchen, das sich durch fleißiges Einnehmen der Pille auf dieses Ereignis planmäßig vorbereitet hat, kann man kaum von einem Opfer sprechen“; „Eine Frau mit hochgeschobenem Rock kann allemal schneller laufen als ein Mann mit heruntergelassener Hose“. 268 Vgl. BGH NJW 2005, S. 1519 ff. als eindrückliches Beispiel dafür, dass gerade bei § 177 StGB oftmals die Opferzeugin mit der „Ausforschung und Bewertung ihres Lebens“ konfrontiert wird, obwohl dies für die konkrete Tat irrelevant ist. Vgl. BGH NStZ-RR 2007, S. 21 als Beispiel für ein vom BGH gerügtes „exzessives Verteidigungsverhalten“; nach Ansicht des BGH seien „Opfer vor einer rechtsstaatswidrigen Verteidigung des Angekl. zu schützen“. 269 Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 26; zur psychosozialen Prozessbegleitung im Strafverfahren gem. § 406 h Satz 1 Nr. 5 StPO – Umsetzung in Niedersachsen vgl. Freudenberg, NK 2013, S. 99 ff. 270 Vgl. die Untersuchung von Greuel, 1993, S. 138 ff. zur „Glaubwürdigkeitsattribution im Kontext der Vernehmung vergewaltigter Frauen“ durch Polizeibeamte.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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sind deshalb unverzichtbar. Hierbei hat sich seit den 80er Jahren viel getan, indem unter anderem das Personal der Polizei regelmäßig geschult wird und die Einrichtung von Sonderdezernaten für „Gewalt gegen Frauen“, „häusliche Gewalt“ oder ähnliches erfolgte.271 Ungeachtet dessen hat sich das Problem des unsachgemäßen Umgangs mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nicht erledigt. In der Untersuchung von Elsner und Steffen272 wird ausgeführt, dass die polizeilichen Sachbearbeiter in fast zwei Drittel (63,6%) der von ihnen selbst bearbeiteten Fälle der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung und von der Staatsanwaltschaft nach § 170 II StPO eingestellten Verfahren davon ausgingen, dass es sich „eher“ oder „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ um Falschanzeigen handele.273 Die tatsächlich erfolgte Anzeigenerstattung wegen Falschverdächtigung, § 164 StGB, bzw. wegen Vortäuschens einer Straftat, § 145d StGB, lag bei 7,4%.274 Diese Ergebnisse legen nahe, dass die hohe Einstellungsquote durch die Staatsanwaltschaft bei sexuellen Nötigungen/Vergewaltigungen275 auch auf die Skepsis der Bearbeiter zurückgeht. Elsner und Steffen gehen auf einen derartigen Zusammenhang nicht ein, sondern sehen die Ursachen vielmehr allein im Charakter der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung als Beziehungsdelikt und in den damit verbundenen Beweisschwierigkeiten begründet.276 Eine umfassende Beurteilung dieses Umstandes muss jedoch zum Ergebnis kommen, dass die Zweifel der Sachbearbeiter das Vernehmungsgeschehen und -protokoll, das von diesen maßgeblich gesteuert wird, nicht unbeeinflusst lassen kann, ja dass es vielmehr 271 Ab 1984 (bei der Staatsanwaltschaft Bremen wurde das „Sonderdezernat für sexuelle Gewaltdelikte“ eingerichtet) wurden die ersten Sonderdezernate eingerichtet; vgl. M. Jäger, 2000, S. 32 ff., 297 ff. Vgl. außerdem den Bericht über das Sonderdezernat „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“: Missbrauch, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung in Mecklenburg-Vorpommern in EMMA digital, Sexualpolitik. Vergewaltigung. Sondereinheiten in Deutschland. 2011. Vgl. Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 141 zu den Maßnahmen der „Opferzuwendung“ auf Ebene der Polizei. Vgl. auch http://www.polizei.bayern.de/schuetzenvorbeugen/be ratung/frauenundkinder/index.html. 272 Die Untersuchung basiert auf dem Zeitraum zwischen 1983 und 2003 sowie einer Aktenanalyse zu den sexuellen Nötigungen und Vergewaltigungen in Bayern im Jahr 2000. 273 Elsner/Steffen, 2005, S. 157, 282: „Die am häufigsten genannten Gründe für diese Zweifel waren: Das Vortat- oder Nachtatverhalten des Opfers, widersprüchliche oder wenig detaillierte Aussagen, der Widerruf der Anzeige, mangelndes Interesse an der Strafverfolgung, der Einfluss psychotroper Substanzen zur Tatzeit, aber auch schlüssige, nicht widerlegbare Aussagen des Tatverdächtigen.“ Bei der Untersuchung von Baurmann, 1996, S. 295 gaben die befragten Sachbearbeiter an, dass sie in 25% der angezeigten Vergewaltigungen von Falschanzeigen ausgingen, wobei die Schätzungen zwischen 5 und 90% (!) lagen. 274 Elsner/Steffen, 2005, S. 283. 275 Die Einstellungsquote der StA gem. § 170 II StPO lag bei über 50%; vgl. Elsner/ Steffen, 2005, S. 70, 147 ff., 154 ff. 276 Elsner/Steffen, 2005, S. 281, 286 f.; Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 149.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

gerade hierdurch zu fehlerhaften Schlussfolgerungen kommt.277 Psychologisch gesehen wirken sich derartige Zweifel zwingend auf die Art der Fragestellung, auf den Wortlaut der Niederschrift des Protokolls und auf die innere Einstellung gegenüber der geschilderten Tat bzw. der anzeigenden Person aus, weil die bestehenden Vorurteile unterschwellig auf die Adressaten einwirken.278 Folge ist eine selektive Wahrnehmung.279 Es muss somit davon ausgegangen werden, dass im Rahmen eines Ausfilterungsprozesses „zweifelhafte Fälle“ regelmäßig nicht zur Anklage gelangen und die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen hierbei eine Rolle spielt.280 Der Umstand, dass Anzeigen sozial benachteiligter Gruppen von der Polizei oftmals nur zögerlich aufgenommen werden, bestätigt dieses Bild.281 Je mehr die angezeigte Tat von dem idealtypischen klassischen Fall der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung abweicht, desto mehr Misstrauen wird dem Opfer entgegengebracht.282 Nicht nur Beweisschwierigkeiten sind ein Kennzeichen von Verfahren im Bereich der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung, auch überkommene Fehlvorstellungen können die Glaubwürdigkeit eines Zeugen von Anfang an untergraben und damit die Vernehmung auf eine Misstrauensebene verlagern. Bei Polizei und Justiz trifft man häufig auf die Ansicht, dass eine fehlende oder als gering eingestufte Gegenwehr eher gegen die Beurteilung des Geschehens als Vergewaltigung spreche.283 Dies spiegelt sich auch in den Akten wieder, wenn ein derartiger Sachverhalt als ein gegen die Glaubwürdigkeit des Opfer sprechendes Indiz behandelt wird284 und als Einstellungsgrund der Staatsanwaltschaft gem. § 170 II StPO.285 Aus der objektiven, ex post – Schreibtischsicht der Staatsanwaltschaft mag sich die Frage stellen, warum das Opfer in bestimmten Konstellationen nicht geflohen ist. Ausschlaggebend müssen jedoch die Opfersicht und dessen konkrete psychische Verfassung sein. Es zeugt von einer oberflächlichen Betrachtungsweise, zu glauben, der Täter könne sich des Opfers nicht völlig bemächtigt haben, nur weil beispielsweise die Tür des Autos oder der Wohnung nicht abgeschlossen war. Deshalb spricht es auch nicht per se gegen

277 Ebenso Baurmann, 1996, S. 297, 475; vgl. dazu auch die Untersuchung von Fehrmann/Jakobs/Junker/Warnke, 1986. 278 Man spricht hier von einem sog. Pygmalion-Effekt, vgl. hierzu Baurmann, 1996, S. 295 Fn. 732, S. 482 ff. 279 Ebenso Baurmann, 1996, S. 484. 280 Ebenso Schapira, KJ 1977, S. 229. Vgl. dazu auch Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008, S. 461 ff., 462; Krahé, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 159. 281 Ruch, 2011, S. 6. 282 Dazu Abel, 1986, S. 333 ff. und Kavemann, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 10. 283 Schwind, 20. Aufl. (2010), S. 398. 284 Baurmann, 1996, S. 148; Elsner/Steffen, 2005, S. 109, 279. Dies trifft auf langjährige gewaltgeprägte Beziehungen nicht zu. 285 Elsner/Steffen, 2005, S. 150.

A. Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

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das Vorliegen einer Vergewaltigung, wenn das Opfer nach der Tat nicht sofort geflohen ist oder sogar den Heimweg mit dem Täter angetreten hat.286 Die Erwartung, dass das Opfer den Tatort fluchtartig verlässt, ist inzwischen vielmehr „wissenschaftlich überholt“.287 Die sekundäre Viktimisierung ist ein nicht gelöstes Problem der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung.288 Die Schulung von Polizeibeamten, die Sonderdezernate, die Verbesserung der prozessrechtlichen Position unter anderem durch das Recht der Nebenklage für Opfer sexueller Gewalt sowie der Beistand durch Beratungsstellen haben die Stellung der Opfer eindeutig verbessert.289 Es hat eine „Opferzuwendung“ stattgefunden.290 Gerade in den letzten Jahren hat die Gefahr einer sekundären Viktimisierung nach Mitteilungen der Mitgliedsorganisationen des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe bundesweit jedoch wieder zugenommen, indem Opfer „wieder verstärkt mit Vorbehalten konfrontiert“ werden.291 Insbesondere in der Richterschaft und Staatsanwaltschaft bestehen noch Defizite „im Wissen um Stressreaktionen und mögliche Folgeschäden“.292 Wünschenswert wäre deshalb eine systematische Ausbildung und gesetzliche Fortbildungspflicht.293 Der Umstand, dass Sexualdelikte und die davon nicht zu trennenden Erkenntnisse der Traumaforschung weder Inhalt des Studiums noch des Referendariats sind, stellt ein gravierendes Manko und Risikopotential dar. „Die öffentliche Äußerung eines ehemaligen Generalstaatsanwalts, er würde seiner Tochter, würde sie Opfer einer Sexualstraftat, davon abraten, Strafanzeige zu erstatten“ 294 deutet darauf hin, dass trotz aller zu verzeichnenden positiven Veränderungen die strafrechtliche Aufarbeitung von sexuellen Nötigungen/Vergewaltigungen weiterhin problembehaftet ist.295 Im folgenden Kapitel wird auf Ursprünge, gesellschaftliche und geistige Grundlagen sowie die Rezeption von Vergewaltigungsmythen und -stereotypen eingegangen, wobei die Darstellung nicht abschließend ist, weil eine Betrachtung 286

Abel, 1986, S. 372 ff. Elsner/Steffen, 2005, S. 249. 288 Ebenso Lembke, 2008, S. 25. 289 Vgl. Schädler, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 51 zur Entwicklung des Opferschutzes in Deutschland. 290 Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 144 ff. 291 Grieger, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 10. 292 Schellong, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 27. 293 Dr. Klaus Haller (vorsitzender Richter am Landgericht Bonn), in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 44. 294 Roggenwallner/Herrmann/Jansen, 2011, S. 1 m.w. N. Diese Aussage wurde in der Sendung Anne Will vom früheren Berliner Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge getätigt. 295 Steffen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 155. 287

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

aller in Frage kommender interdisziplinärer Zusammenhänge in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.

B. Gesellschaftliche und geistige Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen I. Den Vergewaltigungstatbestand prägende außerrechtliche, sozio-kulturelle Vorstellungen Zahlreiche Wurzeln der den § 177 StGB prägenden Auffassungen liegen in androzentrischen296 (Denk-)strukturen, die unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten prägen und dadurch in den Gesetzen eine Verankerung erfuhren. Erst ab Ende der 1960er Jahre zeichnete sich ein Veränderungsprozess hinsichtlich der sexuellen Moral und der Geschlechterrollen ab. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass der Gleichberechtigungsgrundsatz aus Art. 3 II GG297 erst 1977298 vollständig im Familienrecht umgesetzt und damit zumindest formal die gesetzgeberische Gleichstellung des Mannes und der Frau im Rahmen der ehelichen Lebensgemeinschaft bewirkt wurde.299 Insbesondere in einer patriarchalen Gesellschaft werden Männer und Frauen mit Eigenschaften300 belegt, die sich eindeutig aus biologischen Unterschieden301, aus (christlichen) Naturrechtslehren und aus jahrhundertealten Traditionen ergeben sollen.302 Diese Zuschreibungen legen die einzunehmende Rolle in der Gesellschaft fest. Interessanterweise haben sich bei den Stereotypen der „typischen Frau“ bzw. des „typischen Mannes“ bis heute so gut wie keine Veränderungen ergeben, darüber hinaus variieren diese 296 Vgl. zur Theorie des Sexual Contract, wobei dieser dem Patriarchat als legitime Ordnung symbolischer Gewalt zugrunde liegt Dimoulis, S. 11 ff.; zur Geschichte des Patriarchats vgl. Borneman, 2. Aufl. (1976). 297 Elisabeth Selbert bewirkte dessen Existenz; dazu Böttger, 1990. 298 1. EheRG vom 14.06.1976 (BGBl. I S. 1421); vgl. Palandt-Diederichsen, 39. Aufl. (1980), Einf. Vor § 1353 Anm. 6. 299 Vgl. hinsichtlich Forderungen für eine Gleichstellung der Frau in der Ehe bereits den Aufsatz von Augspurg, Die Frauenbewegung 1896. 300 Zur Dominanz, Rezeption und Verbreitung derartiger Stereotype in Gesellschaft, Medien und Rechtsprechung vgl. u. a. Abele, 2001, S. 9 ff.; Helwig/Nickel (Hrsg.), 1993; Reich-Hilweg, 1979, S. 87 ff.; Weber, 1989, S. 299 ff. 301 Dazu Hirschfeld, 1926, S. 181 ff.; Möbius, 8. Aufl. (1905); Weininger, 21. Aufl. (1920); Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 23 ff. 302 Die Lehre der Geschlechtscharaktere gewann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität, indem diese als eine Kombination von Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlagert wurde. Davor erschöpfte sich die Beschreibung von Mann und Frau in Standes- und nicht in Charakterdefinitionen. Dazu Greif/Schobesberger, 2. Aufl. (2007), S. 5 ff.; Hausen, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 365 ff., 375 ff.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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auch interkulturell kaum.303 „Geschlechterstereotype“ bestehen bei Frauen und Männern und sind „ein globales Phänomen“.304 Das Gutachten des Ersten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs305 von 1954 zur Struktur der Familie sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts306 zur Strafbarkeit der Homosexualität von 1957 bieten für die Wesenszuschreibungen anschauliche Beispiele. Die Natur der Frau ist demnach unter anderem von Schwäche, Hingebung und Schamhaftigkeit307 gekennzeichnet. Dem Mann zugeschrieben werden demgegenüber unter anderem die Attribute des Durchsetzungsvermögens und der Selbständigkeit. Weibliches Handeln wird von Emotionen determiniert, das des Mannes von der ratio. Mannsein bedeutet, aktiv – auch unter Einsatz von physischer Gewalt – vorzugehen, Frausein, die passive Rolle einzunehmen.308 Frauen sind Männern geistig und physiologisch309 unterlegen.310 Gleichzeitig steht das Mädchen311 /die Frau als Sinnbild für die ständige sexuelle Versuchung des Mannes.312 Diese werden als Meisterinnen der Verführung313 betrachtet, denen ein Mann „zum Opfer fallen“ muss. Weibliche Sexualität wird als bedrohlich empfunden.314 Eine 303

Vgl. Abele, in: Das Generationenverhältnis, 1997, S. 131 ff. Treibel/Funke/Hermann, MschrKrim 2008, S. 458. 305 BGHZ 11, Anhang, I. Zivilsenat, S. 65 ff. 306 BVerfG NJW 1957, S. 865 ff.; vgl. die Analyse dieses Urteils durch Reich-Hilweg, 1979, S. 109 ff. 307 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 14 bezeichnet die Schamhaftigkeit als den „schönsten Schmuck des Weibes“. Krafft-Ebing lebte von 1840–1902 und war u. a. Professor für Psychiatrie an der Universität in Graz. Er wurde durch zahlreiche Schriften, darunter „Psychopathia sexualis“, das als Klassiker auf dem Gebiet der sexuellen Psychopathologie gilt und 1924 bereits in der 17. Aufl. erschienen war sowie in sieben Sprachen übersetzt wurde, in der ganzen Welt berühmt. Neben Freud, Möbius, Ellis und Hirschfeld prägte er die Sexualforschung in erheblichem Maße. Näher dazu KrafftEbing, 14. Aufl. (1984), Kruntorad S. 7 ff. und Bataille S. 23 f. 308 Greif/Schobesberger, 2. Aufl. (2007), S. 11 f.; Meyer-Knees, 1992, S. 48 ff.; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 31 ff. Vgl. aus sexualwissenschaftlicher Sicht dazu Keupp, 1971, S. 99. 309 Dazu Meyer-Knees, 1992, S. 48 ff. 310 Dazu ausführlich Möbius, 8. Aufl. (1977), dessen Buch bereits 1905 in der achten Auflage erschienen war. Dessen Thesen stießen auf viel Zustimmung; vgl. dazu insbesondere S. 128 ff. Paul Julius Möbius (1853–1907) war Neurologe und von 1883 bis 1893 Dozent für Neurologie in Leipzig. Er war ein wissenschaftlich hoch angesehener Nervenarzt und verfasste zahlreiche Schriften, die das Gebiet der Psychiatrie und Sexualforschung nachhaltig beeinflussten. 311 Man denke hier nur an die Symbolfigur der „Lolita“. 312 Dazu Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 13 ff. 313 Dieses Konzept ist uralt und drückt sich u. a. in der Erbsünde Evas am Sündenfall aus; vgl. dazu Carrasco/Corbin, 1997, S. 9; Lüpsen, in: Der neue Charme der sexuellen Unterwerfung, 1987, S. 9. 314 Carrasco/Corbin, 1997, S. 9; Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 13 f. mahnt, dass auf Grund der sexuellen Abhängigkeit des Mannes von der Frau die Gesellschaft der Gefahr ausgesetzt werde, dass der Staat durch Mätressen und ihren Anhang regiert werde; vgl. dazu auch Dern, 2011, S. 25 f. 304

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„anständige“ Frau kann ihre sittliche Vollkommenheit infolgedessen auch nur durch die Eingehung der Ehe erlangen und muss sich – im Gegensatz zum Mann315 – bis dahin ihre Jungfräulichkeit bewahren.316 Der Achtungsanspruch einer Frau wird ausschließlich über ihre Geschlechtsehre bestimmt.317 Die Wertschätzung gegenüber einer Frau hängt damit von ihrer „geschlechtlichen Reinheit“ 318 ab. Frauen dürfen ausschließlich in der Ehe sexuelle Handlungen vornehmen, weil außereheliche sexuelle Aktivität mit einem gesellschaftlichen Unwerturteil versehen wird.319 Diese Verhaltensanforderung wurde mit der Bedeutung der weiblichen geschlechtlichen Reinheit für die Ehe und deren Bedeutung für die Gesellschaft begründet.320 Neben diesem scheinbar honorigen, das Kollektiv betreffenden Argument wurde aber auch ganz offen das individuelle Interesse an einer derartigen Verhaltenssteuerung ausgesprochen, nämlich „die Lust des Mannes am Alleinbesitz des Weibes, die Unlust, wenn ein anderer dieselbe Frucht mitgenießt oder schon genossen hat“ 321 bzw. das Recht des Ehemannes „auf ausschließliche Beiwohnung behufs Zeugung ehelicher Nachkommen“.322 Frauen werden somit ausschließlich als Geschlechtswesen, die zur Mutterschaft berufen sind,323 Männer als die zur Kulturarbeit Bestimmten angesehen.324 Die rechtliche Privilegierung der Männer kann durch dieses starre System der Geschlechtscharaktere gesichert werden.325 Männer werden legitimiert, die „Definitionsmacht“ über das angemessene Verhalten von Frauen auszuüben, und das traditionelle Rollenverständnis begünstigt bei der Reaktion auf sexuelle Gewalt opferfeindliche Vorstellungen.326 Mit der Eheschließung verpflichten sich Frau und Mann zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr (§ 1353 I 315 Ebenso Hundertmark, Streit 1986, S. 56; vgl. Levy, 1932, S. 12, der es als Selbstverständlichkeit bezeichnet, dass sich ein Mann vor der Ehe geschlechtlich betätigt; vgl. auch Sonderegger, 1924, S. 22 ff. 316 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 14, der ausführt, dass „vom ledigen Manne Sittsamkeit, vom Weibe zugleich Keuschheit“ verlangt werde sowie dass der Ehebruch einer Frau weitaus schwerer wiege als der des Mannes, da die Frau sich nicht nur selbst, sondern auch ihren Mann und ihre Familie entehre. Zur Sittlichkeit der Ehe vgl. auch H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 180 ff. 317 Hommen, 1999, S. 50 ff.; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 362. 318 Engelhard, 1921, S. 22. 319 Engelhard, 1921, S. 22. 320 Engelhard, 1921, S. 22. 321 Engelhard, 1921, S. 22. 322 RGSt 19, 250 (252). 323 Marcuse, 2. Aufl. (2001), S. 246. 324 Raschke, Die Frauenbewegung 1897; Hausen, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 375 ff.; Weber, 1989, S. 300 ff. 325 Dazu Hausen, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 375 ff.; vgl. die Kritik von Mittermaier an der „veralteten, rein männlichen Einstellung zu Ehe“, dass sich „der Mann alles erlauben darf, aber die Frau trotzdem Gehorsam zu leisten hat“ in JW 1930, S. 919. 326 Steffen, 1987, S. 16 ff.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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BGB327), dessen Vornahme eine der tragenden Säulen der Ehe darstellt.328 Dieser wird als natürliche und vollständige Triebbefriedigung verstanden.329 Das unbescholtene Mädchen330, die liebende und hingebungsvolle Ehefrau und Mutter sowie der tat- und wirkkräftige Mann erscheinen damit als gesellschaftliches Idealbild.331 Das Wesen der Frau und des Mannes und folglich auch deren Lebensgestaltung sind determiniert. Abweichungen erfuhren lange Zeit auch strafrechtliche Sanktionen, so dass die einschlägigen Normen aus sich heraus ein Abbild geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen darstellten.332 Mit deren Abschaffung ging dieses Spiegelbild traditioneller Auffassungen verloren und es trat insofern zumindest eine strafrechtliche Liberalisierung ein. Ein durchgreifender Wandel der Auffassungen über Sexualität und das Geschlechterverhältnis war damit jedoch nicht verbunden.333 Dies zeigt insbesondere § 177 StGB, der durch 327 Vgl. dazu die zeitgenössische Kommentarliteratur: Nach Erman-K. Kroll-Ludwigs, BGB, 13. Aufl. (2011), § 1353 Rn. 8 beinhaltet die Ehe die ,Verpflichtung‘ der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft. Auch Palandt-Brudermüller, 71. Aufl. (2012), § 1353 Rn. 7 weist auf diese Verpflichtung im Rahmen eines traditionellen Eheverständnisses hin. 328 Dazu BGH NJW 1967, S. 1079: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt. Wenn es ihr (. . .) versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen“. 329 Levy, 1932, S. 14. Der Ehemann ist dazu berechtigt, den Geschlechtsverkehr einzufordern und die sexuelle Interaktion zu steuern und zu kontrollieren. Dies zeigt sich auch daran, dass noch Anfang des 20. Jahrhunderts von ärztlicher Seite festgelegt wurde, ab wann der Ehemann nach einer Geburt den Geschlechtsverkehr wieder einfordern konnte, nämlich nach vier bis sechs Wochen; vgl. Forel, 5. Aufl. (1906), S. 464 f. Vgl. die Kritik von Augspurg an der dadurch zum Ausdruck kommenden „sexuellen Autokratie des Mannes“ in Augspurg, Die Frauenbewegung 1905, S. 186. 330 H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 57 ff.: „Die Jungfräulichkeit ist und bleibt das schönste Zeichen eines jungen Mädchens“. Auch § 182 StGB a. F. spiegelt dies wider, indem dieser die Verführung von (bis 1973 nur unbescholtenen) Mädchen sanktionierte; der Tatbestand wurde erst 1997 im Rahmen des 33. StÄG abgeschafft. 331 Dazu auch H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 192. Das Weiblichkeitsideal von Reinheit und Keuschheit wird christlich-theologisch durch die Jungfrau Maria ausgedrückt. Folge ist, dass Frauen, die ihre Sexualität offensiv bzw. offen ausleben, zum Feindbild, sozusagen zum Antipoden werden; vgl. dazu Lüpsen, in: Der neue Charme der sexuellen Unterwerfung, 1987, S. 14. 332 Bis zum 1. StrRG vom 1.9.1969 war die einfache Homosexualität § 175 a. F., der Ehebruch § 172 a. F. und die Sodomie § 175b a. F. im Strafgesetzbuch strafbar gestellt; die Strafbarkeit der einverständlichen Homosexualität wurde erst endgültig 1997 abgeschafft (§ 175 StGB a. F. sanktionierte vor 1969 jede Art von homosexuellem Verhalten, nach 1969 die homosexuellen Handlungen eines über 18jährigen an einem unter 18jährigen, ohne dass eine Schutzbefohleneneigenschaft vorliegen musste); der Tatbestand der Kuppelei §§ 180, 181 a. F. StGB wurde 1973 zur „Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger“ in § 180 StGB umgestaltet und mit dem sog. Erzieherprivileg ausgestattet (Abs. 1 S. 2). 333 So auch Baurmann, 1996, S. 49; vgl. auch Adorno, in: Sexualität und Verbrechen, 1963, S. 299 zur Macht der Sexualtabus.

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das 4. StrRG von 23.11.1973334 nur marginale Änderungen erfahren hatte, so dass bis zum 33. StÄG vom 01.07.1997335 nur der erzwungene Beischlaf als Vergewaltigung galt, der Mann vom Opferkreis ausgeschlossen und die eheliche Vergewaltigung vom Tatbestand ausgenommen war.336 Die Verweigerung des Geschlechtsverkehrs durch die Ehefrau wurde sogar als Angriff durch Unterlassen auf das Rechtsgut der ehelichen Lebensgemeinschaft angesehen, so dass beispielsweise Horn diesbezüglich ein Notwehrrecht diskutierte.337 Die Einstufung der ehelichen Vergewaltigung als eine Art „Selbsthilfe“ 338 bzw. auf Grund des in der Ehe bestehenden „Grundkonsenses“ zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr als „weniger intensiv“ 339 war und ist keine Seltenheit.340 Grundlage dieser Ansichten sind atavistische Vorstellungen über die Institution Ehe als eine feudalistische Struktur, in der ein Machtgefälle zwischen Frau und Mann legitimiert ist.341 Die 1995 vor dem 33. StÄG von 1997 gemachte Aussage, dass das damals geltende Strafrecht „das Weltbild der patriarchalen Gesellschaft widerspiegelt“,342 ist zutreffend. Die „Geschlechtsrollen-Stereotype“ wurden durch die gesetzliche Fassung bis zum 33. StÄG festgeschrieben.343 Darüber hinaus wirken sich diese Stereotype auch gegenwärtig noch in der Rechtsprechung aus. Hervorzuheben ist: Sämtliche Rollenzuschreibungen stellen sich auch als männerfeindlich dar, indem sie die männliche Identität einseitig determinieren.344 In der Aburteilung von Taten nach § 177 StGB führt diese Diskriminierung jedoch, wie zu zeigen sein wird, in gewissen Konstellationen zu einer Privilegierung.345 334

BGBl. I S. 1725. Ausführlich dazu Zweiter Teil: D.II. BGBl. I S. 1607. Ausführlich dazu Zweiter Teil: D.III. 336 Davor kam lediglich eine Bestrafung wegen § 240 StGB und § 223 StGB in Betracht; vertiefend Hanisch, Vergewaltigung in der Ehe, 1988; kritisch H. Jäger, 1957, S. 45. 337 Horn, ZRP 1985, S. 265 ff. zeigt durch seine Ausführungen ausgeprägtes Verständnis dafür, dass der den Verkehr verweigernden Ehefrau ein Angriff durch Unterlassen vorgeworfen wird, dessen sich der Ehemann durch Gewalt erwehren darf. 338 Schroeder, JZ 1999, S. 828. 339 Jeweils Schünemann, GA 1996, S. 316. 340 Schon H. Jäger, 1957, S. 45 hält die „Zurückhaltung des Strafrechts gegenüber Gewaltakten in der Ehe“ für unverständlich: „Als Erklärung für diese Rechtssituation können nur die bürgerlichen Wertungen des vorigen Jahrhunderts gelten mit der für sie typischen Privilegierung des Mannes“. 341 Schorsch, in: Sexualwissenschaft und Strafrecht, 1987, S. 115. Vgl. die Studie von Pohl, 2004 zum Einfluss von Sexualität, Aggression und Macht auf die Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität sowie die Herausbildung eines ambivalenten bis hin zu einem feindseligen Verhältnis gegenüber dem weiblichen Geschlecht. 342 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 5. 343 Frommel, MschrKrim 1985, S. 352. 344 Zu den Gefährdungen, die für Männer aus Rollenstereotypen resultieren, vgl. Harten, 1995, S. 257 ff. 345 Zugespitzte, aber treffende Ausführungen bezüglich dieser Privilegierungen auf Grund antiquierter Rollenzuschreibungen bei Tügel/Heilemann/Gers, 1987, S. 38 f. sowie eindrückliche Fallbeschreibungen dazu auf S. 40 ff. 335

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II. Gerichtsmedizin, Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und ihr Einfluss auf das Delikt der Notzucht/Vergewaltigung Die Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere die (Gerichts-)Medizin346, Psychologie und Sexualwissenschaft, hatten großen Einfluss auf die rechtliche Regelung347 und die Auslegung des Tatbestands der Notzucht/Vergewaltigung wie auch auf die Wahrnehmung dieses Delikts in der Gesellschaft. Die Strafverfolgung und Entscheidungsfindung im Prozess betreffend das Delikt der Notzucht basierte bereits ab dem 18. Jahrhundert zu einem großen Teil auf den sachverständigen Gutachten und den für Praktiker verfassten Handbüchern und Kommentaren der Gerichtsmediziner. Gerichtliche Medizin wurde definiert als die Lehre von der „Anwendung von Grundsätzen der Naturwissenschaft und Medizin zur Aufklärung und Entscheidung zweifelhafter Rechtsfragen“.348 Zahlreiche Axiome, die in gerichtsmedizinischer Literatur aufgestellt wurden, wirken dabei bis heute fort. 1. Die Lehre von der faktischen Unmöglichkeit der Notzucht Auf Grund der Intention, exakte Entscheidungskriterien zu verwenden, war es im 18. Jahrhundert Usus, Mediziner in die Strafrechtspraxis miteinzubeziehen, so dass diesen großer Einfluss auf die strafrechtliche Verfolgung der Notzucht zukam.349 Der nach der Tat herbeigerufene Arzt entschied infolge einer Untersuchung des Opfers, ob ein Prozess stattfand oder nicht. Darüber hinaus wirkte er als Sachverständiger im Prozess.350 Die gerichtsmedizinische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich der Frage widmete, woran eine Notzucht physiologisch erkennbar sei, wies regelmäßig den gleichen Aufbau auf. Vorangestellt waren zunächst Ausführungen, welche Kennzeichen für die vorhandene Virginität einer Frau existierten. Der „jungfräulichen Unschuld“ wurde in den gerichtsme346 Der Ordinarius Michael Alberti prägte mit seinem einflussreichen Kommentar zur Carolina die nachfolgenden Generationen von Gerichtsmedizinern; vgl. Alberti, 1739. Ab dem 18. Jahrhundert bildete sich die Gerichtsmedizin als eigenständiges Spezialgebiet zwischen der Medizin und der Justiz heraus; vgl. Meyer-Knees, 1992, S. 23 f.; 127. 347 Dazu Mende, 1819, S. 140. 348 Henke, 9. Aufl. (1838), S. 1 f. 349 Vgl. zur Sozialgeschichte der Gerichtsmedizin Fischer-Homberger, 1988. 350 Lorenz, in: Neue Geschichten der Sexualität, 2000, S. 148; Meyer-Knees, 1992, S. 23 f., 144 ff., 165 ff. Vgl. die Gutachten bei Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 43 ff. Dabei war es üblich, dass Verteidiger Anfragen an medizinische Fakultäten stellten: Vgl. den in gerichtsmedizinischer Literatur vieldiskutierten Fall der Notzucht an einer 17jährigen, wobei der Verteidiger die Anfrage an die medizinische Fakultät Leipzig stellte, „ob ein einzige Mannes Person ohne Zuthuung und Hülffe eines anderen eine Weibes Person wider ihren Willen Nothzögen könne?“ Dies wurde von der Fakultät verneint, solange es sich bei dem Opfer nicht um ein zartes Mädchen oder um eine gegen ihren Willen alkoholisierte Frau handelte; vgl. Ammann, 1670, Casus C., S. 487 ff.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

dizinischen Werken eine große Bedeutung zuerkannt,351 weil bei deren Verlust eine Einbuße an bürgerlicher Achtung und moralischer Achtung angenommen wurde.352 Auf Grund der hohen Wertigkeit dieses Guts sollte das vermeintliche Opfer somit zunächst auf eine Entjungferung hin untersucht werden.353 Die „Derbheit und Festigkeit der Brüste“, die „enge Beschaffenheit der Geschlechtstheile“ sowie das intakte Jungfernhäutchen sollten hierfür Indikator sein.354 Lagen diese Eigenschaften nicht vor, folgte daraus, dass die Frau schon regen geschlechtlichen Verkehr ausgeübt hatte. War die Frau nicht verheiratet, zog dieser Umstand eine Herabwertung ihrer Person und einen Mangel an Glaubwürdigkeit nach sich.355 Bei der Entscheidung, ob eine Notzucht stattgefunden hatte, wurde demnach bei Kindern und unverheirateten Mädchen bzw. Frauen zunächst dieser Umstand zu klären versucht. Die Entscheidung darüber, ob wirklich eine Notzucht vorlag, also ein gewaltsam erzwungener Geschlechtsverkehr, wurde davon abhängig gemacht, ob der männliche Teil gegenüber dem Opfer eine Übermacht ausgeübt und inne gehabt hatte, die jegliches Widerstreben des Weibes vollkommen vereitelt hatte.356 Dabei gab es drei Konstellationen, in denen dieser Sachverhalt für realistisch gehalten wurde. Nämlich dann, wenn das Opfer betäubt bzw. gefesselt worden war, wenn mehrere sich des Opfers bemächtigt hatten oder wenn das Opfer ein kleines, schwächliches, unreifes Mädchen war.357 Für unmöglich aber wurde die Vergewaltigung einer erwachsenen, gesunden und mäßig starken Frau gegen ihren Willen durch einen starken Mann erklärt, auch wenn der Mann über eine stärkere Muskelkraft verfügte.358 Schließlich bliebe der Frau als Abwehrmittel stets die Möglichkeit, zu schreien und ihr Gesäß zu bewegen.359 Diese Meinung entsprach einer allgemeinen und althergebrachten Auffassung unter Gerichtsmedizinern.360 Auch fand sich unter Rechtslehrern des 19. Jahrhun351 Dazu Lorenz, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 73; H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 57 f. 352 Metzger, 1793, § 437; Müller, 1796, § 71. Metzger wertete es als Zeichen für ein hohes Maß an Moralität innerhalb eines Staates, solange dieser die „weibliche Unschuld“ hoch halte. 353 Müller, 1796, §§ 73 ff. erörtert, dass es äußerst schwierig sei, festzustellen, ob ein Mädchen bzw. eine Frau noch Jungfrau sei. 354 Henke, 9. Aufl. (1838), S. 128 ff.; Metzger, 1793, § 438; Orfila, 1829, S. 83. Vgl. auch Meyer-Knees, 1992, S. 44 ff., 131 ff. 355 Alberti, 1739, S. 247 ff.; Metzger, 1793, § 439. 356 Alberti, 1739, S. 247 ff.; Metzger, 1793, § 445. 357 Mende, 1819, S. 136 f.; Metzger, 1793, § 446. 358 Alberti, 1739, S. 247 ff.; Beck, 1743, S. 5; Casper, Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 1852, S. 22, 43; Metzger, 1793, § 447; Müller, 1796, §§ 86, 89; Orfila, 1829, S. 96 f., 100, wobei er auf Voltaires Gleichnis vom Degen und der Scheide verweist; Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 8 f.; Wald, 1858, § 432. 359 Müller, 1796, § 89. 360 Alberti, 1739, S. 247 ff.; Henke, 9. Aufl. (1838), S. 135 f.; Mende, 1819, S. 136 f. m.w. N., der auch ausführt, dass die Meinungen der neueren Gerichtsmedizinern mit denen der älteren übereinstimmen; Metzger, 1793, § 447 m.w. N. und ders., 5. Aufl.

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derts immer wieder die Auffassung, dass eine „erwachsene, gesunde und nur mäßig starke Person, so lange sie ihr Bewusstsein habe, von einem einzelnen Manne durch Anwendung bloß körperlicher Gewalt“ und solange er sich „keiner anderen gefährlichen Werkzeuge als seiner Hände“ bediente, nicht genotzüchtigt werden konnte.361 Somit betrafen die meisten Fälle von Notzucht nach allgemeiner Ansicht „Jungfern“.362 Die Aussage des vermeintlichen Opfers hatte wenig Gewicht, die Anforderungen an das Abwehrverhalten der Frau waren hoch, rein theoretisch und missachteten die psychische Situation des Opfers vollkommen.363 Die mitgeteilten Gutachten betrafen meistens Fälle, in denen die Möglichkeit einer stattgefundenen Notzucht abgelehnt wurde.364 Auch unter berühmten Philosophen der Aufklärungszeit wie Voltaire365, Diderot366 und Rousseau367 war diese Überzeugung verbreitet und wurde in deren Werken verarbeitet.368 Als Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht wurden die Gleichnisse „vom Degen und der Scheide“ 369 sowie „dem Nähfaden und dem Nadelöhr“ angeführt.370 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die obigen Geschlechtsstereotypen, insbesondere die typisch weiblichen Eigenschaften der Passivität und Schwäche. Dieser augenfällige Widerspruch scheint jedoch nicht zum Überdenken dieses Dogmas angereizt zu haben. Auffällig ist des Weiteren, dass die Aus(1820), §§ 443 ff.; Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 19, 36, 44; Wald, 1858, § 432. Lediglich Nicolai widerspricht dieser Auffassung und führt aus, dass lang anhaltender Widerstand gegenüber einem kräftigen und sexuell erregten Mann zum Erlahmen der Kräfte führen könne; vgl. Nicolai, 1841, IX. 361 Vgl. v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 267; Henke, 1826, S. 202; Hommen, 1999, S. 35 ff. m.w. N. und Morstadt, 1855, S. 451. 362 Orfila, 1829, S. 83. 363 Dies verdeutlicht u. a. ein Gutachten aus einer Sammlung von Grundsatzentscheidungen des Königlich Preußischen Obermedizinalrates Pyl. Hierbei ging es um die Anzeige einer 17jährigen, von einem Schaffner vergewaltigt worden zu sein: „Denn wenn man auch zugeben wollte, dass eine sehr starke Mannsperson ein schwaches Frauenzimmer wohl so sehr zu überwältigen vermag, dass er ihre Hände und Füsse so hält, dass sie sich selbiger nicht wider ihn bedienen kann, so bleibt ihr doch noch immer eine Art der Bewegung mit dem Kreuz und Hintern übrig, welche hinreichend ist, das Eindringen des penis in vulvam – besonders angustam virginis – wenigstens eine geraume Zeit zu verhindern; wobey sie denn doch auch noch immer Gelegenheit genug behält, zu schreyen, und, wenn’s ihr anders rechter Ernst ist, Hülfe zu rufen, die an bewohnten Oertern und an hellem Tage so unmöglich sich kaum bedenken läßt.“ Vgl. Pyl, Neues Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei 1787, S. 131 ff. 364 Vgl. Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 43 ff. 365 Vgl. dazu sein Gleichnis vom Degen und der Scheide in Voltaire, 1877, S. 567. 366 „One never surrenders except by capitulation and if a place is defended at all, it cannot be taken by force“ in Diderot, 1969, S. 98. 367 „Erstere (Anm. die Natur) hat den schwächeren Teil mit so viel Kraft ausgestattet, als er gebraucht, um Widerstand zu leisten, wenn es ihm gefällt“ in Rousseau, Emil oder Ueber die Erziehung, Zweiter Band, Fünftes Buch. 368 Vgl. dazu insbesondere Vigarello, 2001, S. 42 ff. 369 Voltaire, 1877, S. 567 und Orfila, 1829, S. 96 f., 100. 370 Dazu Henke, 1826, S. 202 ff.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

führungen stets mit aller Ausführlichkeit auf die Physis und die moralische Integrität des vermeintlichen Opfers eingehen, um hieran das Vorliegen einer Notzucht erkennen zu können. Der Täter hingegen spielte eine untergeordnete Rolle.371 Anklagen wegen Notzucht waren selten, was nach den obigen Ausführungen nicht verwundert.372 Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhr die Auffassung von der „Unmöglichkeit der Notzucht einer erwachsenen Frau durch einen Mann“ teilweise eine Aufweichung, wenn auch nur in geringem Maße. Der berühmte Arzt und Sexualwissenschaftler Hirschfeld beharrte auf der These der Unmöglichkeit und bezeichnete diese als allgemein bekannt.373 Immerhin gab es auch zaghafte Zugeständnisse, nämlich dass „die Möglichkeit unter Umständen zugegeben werden“ 374 müsse, dass sexuelle Angriffe auf Frauen zwar vorkommen, aber „doch zu den größten Seltenheiten gehören“ 375, wobei stets in Betracht gezogen werden sollte, dass es sich auch um Erpressungsversuche und falsche Beschuldigungen handeln könnte.376 Die „natürliche Schwäche im Weib“ wurde als Grund für den „Hang zur List und Lüge“ gesehen.377 War das angebliche Opfer schwanger, wurde vielfach vermutet, dass die Anzeige nur der eigenen „Ehrenrettung“ wegen erfolgte, der Geschlechtsverkehr aber eigentlich freiwillig erfolgt war.378 Des Weiteren wurde stets betont, dass eine Frau von „normaler Kraft“ „hinlängliche Mittel“ habe, um durch Bewegungen des Beckens, eine „immissio penis“ zu verhindern.379 Dem Kräfteverhältnis, wie dem Umstand, dass Widerstand nach einiger Zeit erlahmen könne, auch wegen psychischer Affekte wie Schrecken und Angst, vor allem bei einem plötzlichem Überfall, wird in den folgenden Ausführungen ebenfalls Relevanz zugesprochen. Jedoch werden diese Aussagen postwendend

371 Dazu auch Lorenz, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 84 f.; bei Müller, 1796, § 90 finden sich ausnahmsweise Ausführungen dazu, auf welche körperliche Zeichen beim potentiellen Täter geachtet werden sollen, nämlich z. B. auf die Größe des Penis, die physische Konstitution usw. 372 Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 5. 373 Hirschfeld, 1930, S. 253, wobei er das Gleichnis vom Degen und der Scheide rezipiert. Magnus Hirschfeld (1868–1935) war Arzt und Sexualforscher und arbeitete als gerichtlicher Sachverständiger bei sexualstrafrechtlichen Prozessen. Er begründete die Zeitschrift für Sexualforschung sowie die Magnus-Hirschfeld-Stiftung, das erste Institut für Sexualwissenschaft. 374 Harnack, 1914, S. 56. 375 H. Rohleder, Vorlesungen über das gesamte Geschlechtsleben des Menschen, 4. Aufl. (1920), S. 36 ff. m.w. N. 376 Harnack, 1914, S. 56; Hirschfeld, 1930, S. 250 ff.; H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 36 ff.; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 449. 377 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 34. 378 Hirschfeld, 1930, S. 250 ff., 263 ff. 379 Harnack, 1914, S. 56; Hirschfeld, 1930, S. 253 Brock, 1927, S. 740 ff. berichtet über glaubhafte Notzuchtsgeschehnisse, wobei diese in der Mehrzahl mehrere Täter aufweisen.

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wieder relativiert, indem stets hinterfragt werden soll, ob sich die „angeblich Überfallene“ nicht durch Hilferufe hätte wehren können sowie genau eruiert werden soll, inwieweit Anzeichen von Gewalt (beim potentiellen Opfer) und von Widerstand (beim potentiellen Täter) vorliegen.380 Um Falschanschuldigungen zu verhindern und um eindeutig klären zu können, dass der Täter „den ernsten, aufs letzte gehenden Widerstand“ 381 der Frau gewaltsam überwunden hatte, forderte Hirschfeld – in Anlehnung an mittelalterliches Städterecht382 –, die Notzucht wieder zu einem Antragsdelikt auszugestalten und Strafanzeigen in einer 48-Stunden Ausschlussfrist vorzubringen.383 Letzten Endes hing alles von der Glaubwürdigkeit des Opfers ab,384 von der Glaubwürdigkeit des Täters ist selten die Rede.385 Die Relevanz der Bescholtenheit für ein positives Urteil im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung wurde dabei nicht hinterfragt, sondern vielmehr bestärkt,386 wobei irrelevante Aspekte – wie der allgemeine Lebenswandel des Opfers, ihr Ruf, ihr Vorleben – auf das genaueste untersucht werden sollten.387 Prostituierte wurden als „Freiwild“ als „res communis omnium“ betrachtet.388 Geschickt wurden die Ausführungen mit Fallkonstellationen versehen, die die These von der Unmöglichkeit der Notzucht indirekt untermauerten389 sowie die Häufigkeit falscher Beschuldigungen im Bereich der Notzucht aufzeigen sollten.390 Die Darstellungen des Delikts der Notzucht in der gerichtsmedizinischen Literatur auch der nachfolgenden Jahre blieben weiter von diesen Stereotypen durchsetzt, daneben deutet sich jedoch ein veränderter Umgang an. Oftmals wird zunächst auf den Erfahrungssatz hingewiesen, dass es für einen Mann außerordentlich schwer sei, den Geschlechtsverkehr mit Gewalt zu erzwingen, weil die Ober380

Harnack, 1914, S. 57. Hirschfeld, 1930, S. 254. 382 Eine alte Rechtssitte, die in den Quellen der nachfränkischen Zeit weitergeführt wurde, verlangte, dass „die Verletzte sobald sie vermag, das Gerüfte erhebe, dass sie mit zerbrochenem Leibe, flatterndem Haare und zerrissenen Bändern die Untat verkünde.“ Vgl. Brunner, 2. Aufl. (1928), § 144. 383 Hirschfeld, 1930, S. 250 ff., 263 ff. 384 Waren vermeintliche Opfer Mädchen in der Pubertät und darüber hinaus noch in Erziehungsanstalten untergebracht, also an einem Ort, „in der sich ein kindliches und jugendliches Material zusammendrängte, das fast ausnahmslos in ethischer und moralischer Beziehung einen gewissen Tiefstand aufwies“, wurden deren Aussagen mit größter Skepsis behandelt; vgl. Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 155 ff. 385 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 449 ff. Noch 1973 weist Eisen darauf hin, dass die wichtige spurenkundliche Untersuchung des Verdächtigen zu oft unterbleibe; vgl. Eisen, 1973, S. 254. 386 Hirschfeld, 1930, S. 252. 387 Vgl. Sauer, 1936, S. 14 ff., 17 f.; 22 f. 388 Hirschfeld, 1930, S. 252, der ausführt, dass Frauen, die sich den Männern wahllos preisgeben, zu Freiwild werden, so dass es jedem einzelnen überlassen bleiben solle, „ob er sie zarter oder weniger zart umarme“. 389 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 450. 390 Hirschfeld, 1930, S. 250 ff.; H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 37 ff. 381

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

schenkelmuskulatur der Frau so kräftig sei, dass der Widerstand dieser Muskelgruppe nur mit erheblicher Gewalt überwunden werden könne. Im Anschluss findet sich dann aber immerhin der Hinweis, dass man nicht „unberücksichtigt lassen“ dürfe, dass nicht nur die physischen, sondern auch die psychischen Widerstandskräfte des weiblichen Opfers bei andauernden Angriffen nachlassen, so dass es sich dem Täter mehr oder weniger widerstandslos fügt.391 Nur grobe Gewalt und/oder Überfälle aus dem Hinterhalt konnten das Opfer von körperlichen Widerstandshandlungen entbinden.392 Die Grenze zwischen einem Notzuchtsakt und einem erwünschten Geschlechtsverkehr mit anfänglichem Widerstand wurde insgesamt als äußerst schwierig zu ziehen angesehen.393 Denn die durch die Sexualwissenschaft bestärkte Vorstellung, dass zu jeder sexuellen Interaktion das Sich-Sträuben des weiblichen Teils gehöre und ihr Vergewaltigungselemente anhafteten, wurde noch Ende der 70er Jahre bekräftigt, indem „die Grenze zwischen Abwehr beim Liebesspiel und ernstlichem Widerstand“ als „fließend“ bezeichnet wurde.394 Breiten Raum nimmt regelmäßig die Warnung davor ein, dass zahlreiche Anzeigen vorgetäuscht seien, so dass der Arzt nur bei eindeutigen Befunden auf einen tatsächlich gewaltsam verübten sexuellen Angriff schließen dürfe.395 Immerhin wird jedoch auch davor gewarnt, „aus dem Fehlen von Verletzungen übereilte Schlussfolgerungen zu ziehen“.396 2. Schwangerschaft und sexuelle Stimulation im Kontext der Notzucht Ein weiteres Indiz, das oftmals gegen eine vollendete Notzucht gewertet wurde, war der Eintritt einer Schwangerschaft beim Opfer.397 Denn eine Schwän391 Dettling, 1951, S. 356 f.; Mueller/Walcher, 3. Aufl. (1944), S. 136 f.; Mueller, 2. Aufl. (1975), S. 1100; Ponsold, 3. Aufl. (1967), S. 150. 392 Prokop, 2. Aufl. (1966), S. 296. 393 Ponsold, 3. Aufl. (1967), S. 150. 394 Naeve, 1978, S. 241 f.; Wille, in: Forster, 1986, S. 530 kritisiert den von der Forensik vorgenommen Missbrauch der Prämisse von der sog. vis haud ingrata. Zur vis haud ingrata s. ausführlich Zweiter Teil: B.II.1.b) und Dritter Teil: A.II.3. und D.II.2. 395 Forster/Ropohl, 1983, S. 166; Forster/Ropohl, 2. Aufl. (1979), S. 142; Patscheider/Hartmann, 2. Aufl. (1986), S. 105 f.; Penning, 2. Aufl. (2006), S. 139. 396 Eisen, 1973, S. 252. 397 Vgl. dazu v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 267 m.w. N.; v. Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 245 f.; Lorenz, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 64; Meyer-Knees, 1992, S. 161 ff.; Müller, 1796, § 91. Ablehnend v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 754, § 488. H. Rohleder wies noch 1920 ausdrücklich darauf hin, dass ein Arzt bei einer Schwangerschaft des Opfers an dem Vorliegen einer Notzucht zweifeln solle; vgl. H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 56. Aktuell wurde diese Vorstellung von dem republikanischen Politiker Todd Akins aufgegriffen, der ausführte, „dass Schwangerschaften nach Vergewaltigungen ,eher selten‘ seien. Wenn es sich um eine wirkliche Vergewaltigung handelt, hat der weibliche Körper Möglichkeiten, mit denen er versucht, das Ganze zu verhindern“; vgl. http://www.berlinerzeitung.de/us-wahl/todd-akin- -vergewaltigung-macht-selten-schwanger--romney-und-ry an-gehen-auf-abstand-zu-akin,11781106,16934016.html.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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gerung konnte schon nach antiker Ansicht nur dann eintreten, wenn ein Orgasmus stattgefunden hatte.398 Eine Schwängerung wurde somit oftmals als Einwilligung mit dem Geschlechtsverkehr gedeutet.399 Denn selbst bei anfänglichem Widerwillen gegen den gewaltsam erzwungenen Geschlechtsverkehr war stets zu beachten, dass der „anfängliche Schmerz oder Widerwille“ während einer Notzucht durchaus in „Liebeshitze“ 400 übergehen könne.401 Weiter wurde in Erwägung gezogen, dass bei Vorliegen eines „feurigen Temperamentes“ des Täters sich der Akt der Notzucht für die Frau sogar in „wahre Wollust“ 402 verwandeln könne.403 Bei Anzeigen wegen Notzucht wurde auch aus diesem Grunde generell zur Vorsicht geraten und vor Falschanzeigen gewarnt,404 insbesondere aber dann, wenn die Anzeigende eine erwachsene Frau war und behauptete, von einem Mann vergewaltigt worden zu sein.405 Die Annahme, dass eine Frau durch die Vornahme von Gewalt sexuell stimuliert werde, ist auf Vorstellungen über die weibliche und männliche Sexualität bzw. die Rolle des Mannes und der Frau in der sexuellen Interaktion, die in der Medizin bzw. der im 19. Jahrhundert entstehenden Sexualwissenschaft vorherrschten, zurückzuführen. Dabei wurde stets der Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlechtstrieb betont sowie die Tatsache, dass zur Sexualität naturgemäß Gewalt gehöre und diese vom männlichen Part gegenüber dem weiblichen ausgeübt werde.406 Dem Akt des Beischlafes wurden „latente Ansätze zur Notzucht“ zugeschrieben, im Normalfall habe er etwas „Gewaltsames“ an sich.407 Der englische Sexualwissenschaftler Ellis, dessen Schriften sich um die Jahrhundertwende in Deutschland großer Beliebtheit erfreuten,408 be398

Lorenz, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 74 ff. Metzger, 1793, § 451; dabei vergleicht er die Notzucht mit einer Eroberung bzw. Verführung durch den Mann; Orfila, 1829, S. 98; Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 19. 400 Jeweils Müller, 1796, § 91. 401 Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 10 ff. v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 62 f., Art. 186. wies daraufhin, dass eine Strafbarkeit wegen Notzucht bestehen bleibe, wenn die Frau während der Tat auf Grund des „physischen Reizes der Sinnlichkeit“ doch noch in den Geschlechtsverkehr einwilligt. 402 Jeweils Müller, 1796, § 91. Die Notzucht wird damit zu etwas für die Frau wünschenswertem stilisiert und als Akt leidenschaftlicher Gefühle dargestellt. 403 Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 10, 54 ff. 404 Casper, Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin 1852, S. 30 ff., 53; Orfila, 1829, S. 98. 405 Henke, 9. Aufl. (1838), S. 136; Lochte, 1930, S. 249; Metzger, 1793, § 447; Schneider, 1850, Ueber Nothzucht, S. 8. 406 Hommen, 1999, S. 36 ff. 407 Prokop, 2. Aufl. (1966), S. 291; Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 441 ff. 408 Havelock Ellis war Psychiater, sein Interesse galt auch der Kriminologie, wobei er den Ansichten Lombrosos nahestand. Er publizierte zahlreiche Aufsätze in der Neuen Generation, der Zeitschrift des deutschen Bundes für Mutterschutz und prägte die Sexualforschung nachhaltig. 399

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

schreibt diese Art männlichen Sadismus folgendermaßen: „Wir müssen zugeben, dass eine gewisse Freude des Mannes an der Unterwerfung der Frau und den ihr zugefügten Schmerzen als ein Überbleibsel aus dem primitiven Liebesleben und als beinahe oder ganz normale Begleiterscheinung des männlichen Geschlechtstriebes zu betrachten ist“.409 Dieses „Gewaltsame im Beischlafsakt, mag es nun latent oder offenbar sein, bedeutet jedenfalls für das ganze Menschengeschlecht ein mächtiges Stimulans zur Lustbetätigung und Fortpflanzung“, wobei der Übergang zu sadistischen Handlungen leicht vonstatten gehe.410 Eigene Ausübung von Gewalt gegen den Widerstand einer Frau wie auch bereits der Anblick von gewaltsamen Handlungen gegenüber dieser wurden demnach als Ursache sexueller Erregung angesehen, wobei die Überzeugung herrschte, dass ab einem gewissen Grad der sexuellen Erregung das Handeln des Mannes seiner Steuerung entzogen sei und der Geschlechtstrieb die Kontrolle übernehme.411 Der Geschlechtstrieb wurde als „der mächtigste der menschlich-tierischen Triebe“ dem „Ernährungstriebe“ 412 gleichgestellt. 413 Ihm wurde die Fähigkeit zugesprochen, eine freie Willensbestimmung unmöglich zu machen,414 er wurde als „Teil des Selbsterhaltungstriebes“ 415 verstanden. Daraus entwickelte sich die sog. Dampfkesseltheorie,416 die besagte, dass der männliche Trieb ab einer bestimmten Schwelle der sexuellen Reizung bzw. Erregung quasi explodiere, der Trieb sich demnach eigenständig Geltung verschaffe, ohne dass eine Kontrollmöglichkeit bestünde. Dabei wurde dem Mann im Vergleich zur Frau ein weitaus stärkeres sexuelles Bedürfnis zugeschrieben, das zugleich als Schwäche des Mannes gegenüber der Frau betrachtet wurde.417 Auferzwungene sexuelle Enthaltsamkeit wurde demzufolge als Grund für Notzuchtsakte angesehen.418 Ansätze zu Sadismus waren in jedem Mann zu finden, wobei Soldaten, Matrosen, Fleischern, Eisenarbeitern bzw. all denjenigen Männern, die berufsmäßig motorisch stark in Anspruch genommen wurden, eine grundsätzliche Neigung zur Notzucht unterstellt wurde.419 Dem Mann war demnach von Natur aus bestimmt, den aggressiven bzw. aktiven Part in der sexuellen Interaktion zu übernehmen, während der Frau die passive und defensive Rolle zukam. Der Part der Frau bestand darin, Widerstand in Form von Zieren gegenüber dem sexuellen Verlangen zu zeigen, 409

Ellis, 1903, S. 100 f. Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 442. 411 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 442. 412 Jeweils Harnack, 1914, S. 36. 413 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 12 ff.; Sigusch, 2008, S. 549. 414 Hirschfeld, 1926, S. 326 ff.; dazu auch Meyer-Knees, 1992, S. 30 ff.; 52 ff. 415 Krempler, 1939, S. 56 f. 416 Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 164 m.w. N. 417 Forel, 5. Aufl. (1906), S. 91 f.; Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 13 ff. 418 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 443. 419 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 443. Notzuchtshandlungen im Krieg führte dieser auf das Blutvergießen zurück, das für die „geschlechtliche Sphäre“ ein Reiz sei. 410

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was als unabdingbarer sexueller Reiz für den Mann angesehen wurde, so dass dieser sein weibliches Gegenüber „erobern“ und „besiegen“ konnte, weswegen ihn die Natur mit einem aggressiven Charakter ausgestattet hatte.420 Die Gewaltvornahme des Mannes wurde dadurch als etwas Natürliches verstanden und als sog. vis haud ingrata, als eine nicht unwillkommene Gewalt qualifiziert.421 Diese Art von Gewalt nahm infolgedessen der Notzucht die strafrechtliche Relevanz. Das dadurch eindrücklich vorgezeichnete Verhaltensbild der sexuellen Interaktion zwischen Mann und Frau beeinflusste das Delikt der sexuellen Nötigung/ Vergewaltigung nachhaltig. Es verkürzte den Schutz des weiblichen Opfers, weil nur die männliche Tätersicht bestimmte, ob der geleistete Widerstand ausreichend war und die Gewalt damit als tatbestandsmäßige gelten konnte.422 Die Determinierung des Mannes wurde zugleich als Gefahr gesehen, die Grenzen von „Sitte und Gesetz“ zu überschreiten,423 so dass sexuell männliches aggressives Verhalten stets partiell entschuldigt bzw. bagatellisiert werden konnte.424 Dies geschah insbesondere dann, wenn die Frau beschuldigt wurde, „mit ihren Reizen gespielt“ zu haben, was zu einer „Mitschuldsquote“ der Frau an der Notzucht führte, weil sie den Geschlechtsverkehr ja durch ihr Verhalten quasi „versprechend provoziert“ hatte.425 Diese Rollenverteilung wurde komplettiert, indem man jeder Frau einen natürlichen Masochismus zuschrieb, wodurch sich der Akt der Notzucht in eine Verführungssituation verwandelte bzw. bagatellisiert wurde. Auf Grund der Sexualentwicklung426 und der Menstruations- und Gebärschmerzen wurde auf eine natürliche Passivität und einen weiblichen Masochismus geschlossen, der sich auch in der sexuellen Interaktion äußere.427 Darüber hinaus wurde der Frau eine „instinktive Neigung zur Unterordnung unter den Mann“ 428 zugeschrieben.429 Eine pathologische Steigerung dieses Instinktes, die sehr oft auftrete, sei der Masochismus.430 420 Hirschfeld, 1930, S. 250; Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 72; H. Rohleder, Die neue Generation 1911, S. 270; dazu auch Meyer-Knees, 1992, S. 47 ff. 421 Zu den kulturellen Wurzeln der vis haud ingrata vgl. Lembke, 2008. 422 Dazu ausführlich im Zweiten und Dritten Teil. 423 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 14, 73. Als Bestätigung dieser Rollenverteilung wird auf die Tierwelt abgestellt. 424 Hirschfeld, 1930, S. 253 ff. 425 Jeweils Hirschfeld, 1930, S. 254: „Denn aus dem Spiel mit dem Feuer können Flammen werden. Bei dem nachfolgenden Ringen ist es dann schwer, die Grenze zu halten.“ 426 Freud erklärte die Frau gegenüber dem Mann für minderwertig, weil diese keinen Penis habe, quasi kastriert sei; vgl. Freud, 3. Aufl. (1971), S. 173 ff. 427 Dazu Beauvoir, 9. Aufl. (2008), S. 486 ff.; Deutsch, 4. Aufl. (2000), S. 218 ff.; Freud, 1971; Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984); zum Masochismus aus psychoanalytischer Sicht vgl. Wurmser, 1993. 428 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 151 ff. 429 Forel, 5. Aufl. (1906), S. 253. 430 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 152 mit zahlreichen Beispielen.

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3. Die Untauglichkeit des weiblichen Belastungszeugen Noch in den 50er Jahren trifft man auf die Aussage, dass man sich im Rahmen der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen stets bewusst sein solle, dass Frauen als Belastungszeugen weniger vertrauenswürdig seien, weil sie in sexueller Beziehung „relativ suggestibel“ sein können.431 Erst ab Mitte der 70er Jahre schien sich die Auffassung durchzusetzen, dass bei weiblichen Zeugen „keine grundsätzlich andersartige geistig-seelische Verfassung als bei Männern vorliege“, so dass diese infolge „mangelnder Objektivität, hoher Suggestibilität, Affektgebundenheit und biologischer Insuffizienz“ für Tatsachenbekundungen ungeeignet seien.432 Der Umstand, dass Mädchen und Frauen als Belastungszeugen eine geringe Tauglichkeit zugesprochen wurde, entspricht einer langen Tradition433 und war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Themenschwerpunkt der Gerichtsmedizin im Zusammenhang mit dem Delikt der Notzucht.434 Schon damals findet sich in nahezu jedem gerichtsmedizinischem Handbuch die eingehende Warnung vor Falschanzeigen.435 Warum gerade beim weiblichen Geschlecht mit Falschanzeigen gerechnet werden musste, erfuhr eine ausführliche medizinische Begründung. Als Ausgangspunkt dienten die Feststellungen, dass „Umwälzungen und Störungen auf dem Geschlechtsgebiete“ sowie „ihre starke Sexualfunktion, innerhalb derer, zwischen Menstruation, Schwangerschaften, Geburtsakten, Säugeperioden und Klimakterium ihr Dasein dahingeht“, die Physis und die Psyche der Frau bestimmten und die alleinige Ursache ihrer „Kriminalpsychologie“ sei.436 All diese Vorgänge wurden zum einen als Ursprung lebhafter Phantasien437 und Lügen gesehen und zum anderen mit der Begehung verschiedenster Delikte wie Meineid, insbesondere bei gegen sie verübten Sexualangriffen, Warenhausdiebstahl oder Brandstiftung in Verbindung gebracht.438 Die angebliche Verbindung des Sexualapparates mit dem Zentralnervensystem setzte jede weibliche Aktivität in Beziehung zur Erotik und Sexualität und erklärte die Gewinnung objektiver Einsichten für Frauen unmöglich. Deswegen wurde ihr im Vergleich zum Mann als Verbrecherin auch weitaus mehr Grausamkeit und

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Mueller, 1953, S. 886. Mueller, 2. Aufl. (1975), S. 1119. 433 Vgl. Ponsold, 3. Aufl. (1967), S. 109, 114; Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 251, 449 ff. 434 Birnbaum, Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1915, S. 1 ff., 35 ff. Vgl. Hommen, 1999, S. 87 ff. m.w. N. 435 Hommen, 1999, S. 87. 436 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 244 ff. 437 Dazu Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 134 ff. 438 Dazu Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 134 ff.; Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 245 ff. 432

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Unsittlichkeit zugesprochen.439 Die Erforschung der Krankheit der Hysterie440 (neudeutsch: psychisches Trauma; neurotische Störung) steht mit dieser Auffassung in einem engen Zusammenhang. Die Hysterie bildete das Erklärungsmodell dafür, dass viele Sexualdelikte schlichtweg erfunden waren.441 Sigmund Freud, der ursprünglich auf Grund seiner Forschungen zur Hysterie442 die für die damalige Zeit bahnbrechende Erkenntnis publik gemacht hatte, dass zahlreiche Mädchen und Jungen bereits in ihrer Kindheit – gerade auch im familiären Umfeld – sexueller Gewalt ausgesetzt seien und dass diese Erlebnisse die Erscheinungen der Hysterie auslösten, stieß damit bei seinen Kollegen auf gänzliche Ablehnung, die zu seiner beruflichen Isolation führte.443 Die Erkenntnis, dass sexuelle Gewalt innerhalb bürgerlicher Familien stattfand und keine Seltenheit war, hätte das Ideal und Selbstbild der bürgerlichen Familie in seinen Grundfesten erschüttert, so dass diese Wahrheit – psychologisch betrachtet – geleugnet werden musste.444 Um seinen beruflichen Werdegang nicht zu zerstören, widerrief Freud 1905 seine Aussagen nicht nur öffentlich, sondern vertrat in seinen Schriften von diesem Zeitpunkt an darüber hinaus, dass die Missbrauchserfahrungen ein „Produkt des kindlichen Phantasielebens“ 445 bzw. der „Phantasien hysterischer Frauen“ seien und diese „sich und ihn angelogen“ 446 hätten.447 Zahlreiche Ärzte schlossen sich 439

Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 361 ff.; Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 361 ff. Der Begriff der „Hysterie“ leitet sich aus dem griechischen Wort für Gebärmutter ab. Deswegen wurde Hysterie zunächst als rein weibliche Krankheit eingestuft; vgl. Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 221. Die Medizin und Psychologie vermutete beim weiblichen Geschlecht eine uterus-dominierte physische und psychische Labilität, die sich in der Begehung bestimmter Delikte wie Kindsmord usw. sowie in großer Einbildungskraft äußerte; vgl. Lorenz, in: Neue Geschichten der Sexualität, 2000, S. 161. 441 Dazu und zur Geschichte der Hysterie- bzw. Traumaforschung Hommen, 1999, S. 88 ff.; Herman, 2. Aufl. (2006), S. 21 ff. 442 Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot gilt als „Ahnherr“ der Erforschung der Hysterie; vgl. Herman, 2. Aufl. (2006), S. 21 ff. Freud reiste u. a. wegen Charcots Vorlesungen 1885 nach Abschluss seines Medizinstudiums nach Paris; vgl. ausführlich Masson, 1984, S. 30 ff. 443 Masson, 1984, S. 182 ff. 1896 hielt Freud vor dem Verein für Psychiatrie und Neurologie einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er die These präsentierte, dass jedem hysterischem Fall „ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung“ zugrunde liegen; vgl. den Originalvortrag abgedruckt in Masson, 1984, S. 284 ff., 297. Freud kam zu dieser Erkenntnis, weil seine weiblichen Patientinnen allesamt über sexuelle Traumen aus ihrer Kindheit berichteten. Vgl. zum Gang der Forschungen Freuds Masson, 1984, S. 19 ff. Der prominente Psychiater Krafft-Ebing kommentierte diese Behauptung mit: „Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen.“ Vgl. Herman, 2. Aufl. (2006), S. 23 ff.; Masson, 1984, S. 25. 444 Ebenso Hommen, 1999, S. 89. 445 Masson, 1984, S. 145. 446 Masson, 1984, S. 27 f. 447 Masson, 1984, S. 27 f., 129 ff., 145. „Ich mußte dann doch erkennen [. . .] diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet.“ Seine vorwiegend weiblichen Patienten – so schrieb Freud nun, litten unter einer ihr Leben beherrschenden, weit verbreiteten „Phantasievorstellung“: „Da die Kin440

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

seiner Interpretation an, die fortan den psychoanalytischen Umgang mit sexuellen Traumen in diesem Sinne prägte448 und zur herrschenden Ansicht unter Psychoanalytikern avancierte.449 Der Umstand, dass sexuelle Gewalt im sozialen Nahraum keine Seltenheit ist, wurde vollkommen geleugnet.450 Die Ursache sexueller Traumen wurde vielmehr als Lüge abgetan.451 Hysterie und Weiblichkeit gehörten fortan zusammen, die Krankheit Hysterie wurde zum Stigma. So schrieb Birnbaum: „Wenn man von sexuellen Falschbeschuldigungen hört, von ihnen spricht, denkt man eigentlich stets an Hysterie“.452 Die Bezeichnung als hysterisch wurde zum „Synonym verschiedener negativer weiblicher Eigenschaften und eng mit weiblicher Sexualität verknüpft“.453 Als Delikte hysterischer Natur wurden „falsche Anschuldigungen wegen Sittlichkeitsdelikten, insbesondere wegen Notzucht, und Unzucht“ 454 sowie „Meineid über sexuelle oder erotische, auch über sonstige Vorgänge, Kindsmord, Mord und Totschlag“ usw. betrachtet.455 Die Ursache für Hysterie wurde in einer krankhaften Veranlagung des gesamten Nervensystems gesehen, wobei die Quelle dieser Veranlagung wiederum in den Genitalorganen und damit im Geschlechtsleben der Frau verortet wurde.456 Gerade weil Hysterie vorwiegend als weibliche Krankheit eingestuft

deronanie eine so allgemeine Tatsache ist und so schlecht erinnert wird, so muß es dafür ein Äquivalent im psychischen Leben geben. Dieses findet sich tatsächlich in der bei den meisten Patientinnen anzutreffenden Phantasie, der Vater habe sie in der Kindheit verführt. Das ist die spätere Umarbeitung, welche die Erinnerung an die infantile Sexualität verdecken soll und eine Entschuldigung und Beschönigung derselben darstellt. Der Kern von Wahrheit, den sie enthält, ist darin gelegen, daß der Vater tatsächlich durch seine harmlosen Zärtlichkeiten in der allerersten Kinderzeit die Sexualität des kleinen Mädchens geweckt hat (für den Knaben und seine Mutter gilt das gleiche). Dieselben zärtlichen Väter sind es dann auch, welche sich bemühen, dem Kinde die Masturbation, deren unschuldige Ursache sie geworden waren, abzugewöhnen. Und so mischen sich die Motive in der glücklichsten Weise zur Bildung dieser Phantasie, die oft das ganze Leben des Weibes beherrscht (Verführungsphantasie): ein Stück Wahrheit, ein Stück Liebesbefriedigung und ein Stück Rache.“ Vgl. Masson,1984, S. 28. Vgl. auch Elster/Lingemann, 1936, S. 230 und Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 220 ff. 448 Masson,1984, S. 28 f.; 133. 449 Masson, 1984, S. 28 f.; 133 ff.; 218 ff. Vgl. nur Birnbaum, Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1915, S. 1 ff. 450 Die „Kehrtwende“ von Freud wurde niemals näher hinterfragt. Erst Masson, 1984 untersuchte diesen Umstand, zunächst mit Unterstützung und dann gegen den erklärten Willen Anna Freuds. Vgl. Masson, 1984, S. 9 ff. 451 Masson, 1984, S. 28 f., 134. 452 Birnbaum, Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1915, S. 1. 453 Hommen, 1999, S. 89. 454 Vgl. dazu Masson, 1984, S. 161. 455 Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 130 ff.; Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 224. Vgl. auch Kühn, Archiv für Kriminologie 1943, S. 113 f. 456 Krafft-Ebing, 14. Aufl. (1984), S. 368; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 222. Freud war derjenige, der den engsten Zusammenhang der Hysterie mit dem Sexualleben vertrat; vgl. Breuer/Freud, 1995, S. 222 ff.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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wurde,457 standen Frauen stets unter dem Verdacht, die Unwahrheit zu bekunden. Hysterie war weit bis in die Nachkriegszeit anerkannt und diente als Erklärungsmodell für eingebildete Vergewaltigungen.458 Darüber hinaus wurde insbesondere hysterischen Frauen eine starke „Triebhaftigkeit“ zugesprochen, so dass eine sexuelle Erregung durch den Notzuchtstäter in Rechnung gestellt werden musste.459 Es verwundert nicht, dass Frauen unter diesen Voraussetzungen generell als gegenüber dem Mann und potentiellen Täter unterlegene Zeuginnen eingestuft wurden.460 Schließlich war es stets möglich, dass das vermeintliche Opfer auf Grund einer starken „geschlechtlichen Reizbarkeit“ 461 harmlose Handlungen in strafbare sexuelle Handlungen umgedeutet hatte oder sich im Anschluss freiwilliger sexueller Interaktionen deretwegen schämte bzw. diese vor sich selbst nicht eingestehen wollte.462 4. Fazit Die spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts verbreiteten Erkenntnisse der Gerichtsmedizin sowie die Forschungen auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft und Psychologie, insbesondere Hysterie, hinsichtlich des Delikts der Notzucht/ Vergewaltigung waren von großer Einmütigkeit gekennzeichnet und gereichten den Opfern sexueller Gewalt allesamt zum Nachteil. Die Erkenntnisse beflügelten diejenigen, die daran glaubten, dass sich jede Frau die Anwendung von Gewalt in der Sexualität geradezu wünschte und somit eine Vergewaltigung äußerst selten sei. Die Auffassung, dass es der „Wunschtraum“ von vielen Mädchen sei, von einem Mann „genommen“ zu werden, sowie, dass diese Realität und Phantasie nicht unterscheiden könnten,463 untergrub jede Glaubwürdigkeit und ergab ein ausreichendes Angriffspotential für die Verteidigung. Die dargestellten Ansichten wurden repetiert und rezipiert, so dass sie sich zu Stereotypen verfestigten464 und als außerrechtliches Wissensfundament für die strafrechtliche Beurteilung des Delikts der Vergewaltigung dienen konnten.

457 Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 135; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 221. 458 Vgl. Dost, 1963, S. 77 Fall 275. 459 Dost, 1963, S. 173. 460 Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 135. 461 Mönkemöller, Archiv für Kriminologie 1925, S. 135. 462 Hierbei wurde die ungeahnte Kraft des Triebes der Frau betont, die von Frauen, insbesondere bei den ersten sexuellen Erfahrungen, als übermannend empfunden werde; vgl. Brock, 1927, S. 740; Mönkemöller, 1925, S. 135; dabei betont dieser, wie absurd Anschuldigungen im Zusammenhang mit ärztlichen Untersuchungen seien. 463 Vgl. Levy, 1932, S. 28 ff. 464 Ebenso Lorenz, in: Neue Geschichten der Sexualität, 2000, S. 151.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

III. Kriminologie und Viktimologie im 20. Jahrhundert und der Prozess der Entmythologisierung Die kriminologischen und viktimologischen Darstellungen465 über das Delikt der Notzucht/Vergewaltigung der Nachkriegszeit geben, von Ausnahmen abgesehen, bis in die 80er Jahre und auch teilweise darüber hinaus kein rühmliches Bild ab. Sie sind vielmehr Ausdruck der Vergewaltigungsmythen und -stereotype, insbesondere des Mythos von der Vergewaltigung als Triebdelikt466 und dem Stereotyp der echten Vergewaltigung.467 Des Weiteren wurde die Notzucht als Sexualakt bagatellisiert und als potentieller Lustgewinn für die Frau dargestellt sowie die stetige Gefahr von Falschanzeigen hervorgehoben. Dies wirkte sich insbesondere fehlerhaft auf die Einschätzung der Ursachen einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung aus. Der überwiegende Teil der Täter wurde als geistig minder bemittelt dargestellt468 und als „primitive und gefühlsstumpfe Männer“ beschrieben, die nicht fähig seien, um Frauen „in natürlicher Weise“ „zu werben“.469 In der Mehrzahl wurden sie in der Arbeiterschicht470 verortet, wobei die körperliche Tätigkeit in Zusammenhang mit dem Gewaltverbrechen der Notzucht gebracht wurde.471 In der gehobenen Schicht vermutete man derartige Verbrecher selten. Anzeigen gegen Ärzte und Zahnärzte wurden deshalb nahezu ausnahmslos pauschal als unwahr beurteilt, interessanterweise waren jedoch Heilkundige, also Personen ohne ärztliche Approbation, von dieser Skepsis ausgenommen.472 Daneben galt Sadismus als Grundlage der Tat.473 Als Erklärung für Taten von Personen, die als 465 Zu Ursprung und Entwicklung der Viktimologie vgl. H. J. Schneider, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 396 ff. Zum Stand der internationalen viktimologischen Forschung Görgen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 89. Die Viktimologie ist eine junge Wissenschaft und strebt, ungeachtet aller Differenzen, eine stärkere Einbeziehung des Verbrechensopfers in die kriminologische Forschung an. Die traditionelle Kriminologie stellte den Täter in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen, die Rolle des Opfers wurde ignoriert. Als Beginn der Viktimologie wird der Aufsatz von Hans von Hentig aus dem Jahr 1941 über die Interaktion zwischen Täter und Opfer und sein Buch „The Criminal and his victim“ aus dem Jahr 1948 gesehen. Das erste Internationale Symposium über Viktimologie fand vom 02. bis 06. September 1973 in Jerusalem statt. 466 s. Teufert, 1980, S. 92; 108 f.; Simson/Geerds, 1969, S. 365; Schulz, 1958, S. 14, 135 ff., 152 ff. 467 Berg, 2. Aufl. (1963), S. 87 ff.; Dost, 1963, S. 77 ff.; Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 122 f.; Simson/Geerds, 1969, S. 371; Schulz, 1958, S. 92. 468 Schulz, 1958, S. 113 ff. 469 Simson/Geerds, 1969, S. 371; Schulz, 1958, S. 138. Ebenso Teufert, 1980, S. 98 f. m.w. N., die eine verminderte Intelligenz in der Mehrzahl der Fälle feststellt. 470 Vgl. die Fälle bei Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 122 f. 471 Teufert, 1980, S. 102 m.w. N. 472 Teufert, 1980, S. 168. 473 Simson/Geerds, 1969, S. 371.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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„völlig gesunde Menschen“ beurteilt wurden, ohne „pathologische Befunde“ zu zeitigen, diente die Nichtbeherrschung „eines überstarken Triebes“.474 Die Notzucht wurde beschrieben als ein Vorgang, bei der der „Sexualtrieb oft auf eine dem normal eingestellten Menschen ganz unverständliche Weise seine Entladung findet“, wobei „den Notzüchtiger einfach der Drang des unbeherrschten Triebs zur Tat treibt“.475 Die einsetzende Überwindung von „Sexualtabus“ und sexuelle Befreiung, auch in den Medien, sowie unter anderem die „weibliche Mode“ wurden als Stimulierungsfaktoren des „menschliche(n) Sexualinstinkt(s)“ angesehen.476 Die „Sexualisierung des Alltags“ stellte nach dieser Auffassung einen Hinderungsfaktor dar, „den anomalen Trieb durch Einschaltung ihrer Hemmungen zu bezwingen“.477 Taten aus „Sexualnot“ heraus begangen wurden als überwiegend eingestuft, weil die Befriedigung des sexuellen Triebs für den Mann als absolut notwendig und natürlich galt.478 Deshalb wurde die Vergewaltigung auch als reine Spontantat betrachtet.479 Eine harmonische Ehe mit regelmäßigem Geschlechtsverkehr beurteilte man dementsprechend als tathemmend.480 Konstellationen, in denen es zu Intimitäten gekommen war, das Opfer aber im weiteren Verlauf keinen Geschlechtsverkehr durchführen wollte, wurden in Konsequenz täterprivilegierend behandelt. Schließlich sei es „für den Partner schwierig (ist), noch Abstand von seinem Vorhaben zu nehmen, ja überhaupt den plötzlich entfalteten Widerstand der Partnerin als ernsthaft zu erkennen.“ 481 Männern wurde hierdurch der Geschlechtsverkehr ab einem gewissen Level sexueller Interaktion zugestanden, das Opfer hatte in derartigen Fällen die „Tatsituation wesentlich herbeigeführt.“ 482 Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht war demnach in gewissen Situationen beschnitten. Überhaupt wurden nur Taten, die dem Stereotyp der echten Vergewaltigung entsprachen, zu den „eigentlichen Notzuchtsdelikten“ gezählt, weil das Opfer den Täter hierbei weder „angeregt oder beeinflusst“ hatte.483 Zahlreiche Arbeiten führten deshalb Praxisfälle an, die nahezu allesamt das Muster Überfall/fremder Täter/erhebliche Gewalt oder qualifizierte Drohung belegen.484 Hierdurch wurde das Bild von der klassischen Vergewaltigung untermauert, derer sich das Opfer 474

Berg, 2. Aufl. (1963), S. 86; Schulz, 1958, S. 129 ff., 135 ff. Schulz, 1958, S. 135 m.w. N. 476 Simson/Geerds, 1969, S. 365. 477 Simson/Geerds, 1969, S. 365. 478 Teufert, 1980, S. 108 f. 479 Dost, 1963, S. 171. 480 Teufert, 1980, S. 103. 481 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 9. 482 Schulz, 1958, S. 91 f. 483 Jeweils Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 122. 484 Berg, 2. Aufl. (1963), S. 87 ff.; Dost, 1963, S. 3 ff., 199 f. Seine Arbeit beginnt mit 500 Fällen von Notzucht. Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 122 f. 475

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

mangels „Kooperation“ nicht schämen muss.485 Konstellationen bewusster sexueller Reizung galten dagegen als „uneigentliche Notzuchtsdelikte“ 486 und einer erheblichen Strafmilderung würdig,487 selbst wenn der Täter entgegengebrachten Widerstand mit Gewalt gebrochen hatte.488 Eine Tatprovokation in Form bewusster sexueller Aufreizung vermutete man bereits dann, wenn sich Täter und Opfer kannten.489 Bereits bei einem einzigen in der Vergangenheit liegenden „freiwilligen Geschlechtsverkehr“ wurde der Nachweis einer Vergewaltigung wegen der dabei „zu vermutenden Vorbahnung“ generell als schwierig eingestuft490 bzw. darin eine Tatprovokation erblickt.491 „Verdorbenheit“ 492, ein „schlechtes Ansehen“ 493 und „amoralisches Verhalten“ 494 des Opfers galten als notzuchtverursachendes Opfercharakteristikum. Zur Tatprovokation zählten bereits gemeinsames Tanzen und Trinken auf öffentlichen Veranstaltungen sowie Spaziergänge mit dem Täter und weibliche Reize betonende Kleidung. Der Täter durfte sich durch derartiges und überhaupt „entgegenkommendes Verhalten“ in der Annahme bestärkt fühlen, mit der Frau später „geschlechtlich verkehren zu können“.495 Dies galt auch für das Fahren per Anhalter.496 Als Vorbeugung gegen Notzucht wurde deshalb Frauen empfohlen, jede Art von „Provokation“, jede „einladende Handlung“ zu vermeiden.497 Auf diese Weise wurde beim Delikt der Notzucht die „Opferpräzipitation“ 498, ein viktimologisches Konzept, das ursprünglich zur Erforschung der Tötungsdelikte generiert worden war,499 stark in den Vordergrund gerückt und als Opfermitverursachung im Sinne von Schuld missverstanden.500 Formulierungen, dass zahlreiche Notzuchtsfälle „vorwiegend vom Opfer herbei485 Vgl. Dost, 1963, S. 77 ff.; Simson/Geerds, 1969, S. 371; Schulz, 1958, S. 92. Ausnahme sind die Notzuchtsfälle in Hypnose; vgl. Dost, 1963, S. 77 ff. 486 Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 122; Schulz, 1958, S. 112, 160 ff. 487 Schulz, 1958, S. 162. 488 Simson/Geerds, 1969, S. 381. 489 Simson/Geerds, 1969, S. 381. 490 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 13. 491 Simson/Geerds, 1969, S. 381. 492 Schulz, 1958, S. 160 ff. 493 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 122. 494 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 92 ff., 123; Schulz, 1958, S. 155 ff. 495 Schulz, 1958, S. 161, 163; s. auch Berg, 2. Aufl. (1963), S. 86; Teufert, 1980, S. 119. 496 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 92 ff., 123; Schulz, 1958, S. 155 ff. 497 Dost, 1963, S. 372; Teufert, 1980, S. 240. 498 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 120; H. J. Schneider, Kriminologie, 2001, S. 67. Dieses Modell beschreibt „die Fehlinterpretation des Opferverhaltens durch den Täter“. 499 H. J. Schneider, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 399. 500 H. J. Schneider, Kriminologie, 2001, S. 67; H. J. Schneider, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 399. Vgl. die Kritik von Weis, 1982, S. 18 ff. an dieser Art von Viktimologie.

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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geführt“ 501 werden und oftmals „das leichtfertige Verhalten des Opfers“ den „Reiz“ für das „Notzuchtsdelikt“ 502 bildet,503 begründen derartige Schuldzuweisungen in hohem Maße. Dass hiermit keinerlei Bewertung des Opferverhaltens verbunden sei, wie Schneider hervorhebt,504 steht im Widerspruch zur Wortwahl. Die Betonung, dass bei den Notzuchtsdelikten stets mit Falschanzeigen zu rechnen sei, wurde traditionsgemäß stark gepflegt.505 Der Einfluss der Psychoanalyse und deren Einstellung zur sogenannten Hysterie wird hierbei immer wieder deutlich, indem ein Großteil der Anzeigen auf „Wunschhalluzinationen“ und „hysterische Zwangsvorstellungen“ zurückgeführt506 und insbesondere bei Kindern vor deren „Phantasie“ und „Geltungsdrang“ gewarnt wurde.507 Vor dem Hintergrund des klassischen Vergewaltigungsbildes erklärt sich das Anraten zur Vorsicht bei Anzeigen verheirateter Frauen und bei Vorliegen vorhergehender engerer (auch nicht sexueller) Beziehungen.508 Insbesondere auch ein längerer Zeitablauf zwischen Anzeige und Tat rief Skepsis hervor.509 Im Zusammenhang mit dem Komplex der Falschanzeigen zeigt sich die fatale Wirkung der Ansichten der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse für das Opfer sexueller Gewalt. Die der Frau zugeschriebene besondere Rolle in der sexuellen Interaktion, deren im Vergleich zum Mann grundsätzlich verschiedenes Wesen sowie die Ansicht, dass „eine gewisse Gewalt im coitus schöpfungsbedingt“ 510 sei, dienten als Grundlage verzerrter und realitätsferner Argumentationsmuster im Zusammenhang mit dem Delikt der Vergewaltigung. Die Grenze zwischen der natürlichen, „dem Weibe biologisch eignenden Abwehrhaltung im Liebesspiel und der ernstgemeinten Abwehr gegenüber einem Manne“ 511 bzw. die „Polarität im Empfinden der Frau zwischen Wunsch und Abwehr“ 512 wurden als „Hauptmoment der Unsicherheit“ 513 bei der Notzucht angesehen, so dass nahezu jeder Fall als „zweifel501

H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 121. H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 123. 503 Berg, 2. Aufl. (1963), S. 96; Teufert, 1980, S. 240; Schulz, 1958, S. 152 ff. 504 H. J. Schneider, in: Internationales Handbuch der Kriminologie, 2007, S. 399. 505 Dost, 1963, S. 170, 213 ff., 407; Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 121; Meixner, 4. Aufl. (1965), S. 86; Schulz, 1958, S. 99 ff.; Teufert, 1980, S. 165 m.w. N., 172 f. Vgl. außerdem die Nachweise bei Steffen, 1987, S. 83 ff. und die damit korrespondierenden Opferberichte auf S. 92 ff. 506 Jeweils Simson/Geerds, 1969, S. 370. Ebenso Berg, 2. Aufl. (1963), S. 85; 21; Teufert, 1980, S. 168; Schulz, 1958, S. 101. Dost, 1963, S. 11 bewertet die Anzeige des Ehemanns durch die Ehefrau als „hysterische Anwandlung“. 507 Schulz, 1958, S. 108. 508 Schulz, 1958, S. 99. 509 Schulz, 1958, S. 103. 510 Dost, 1963, S. 202. 511 Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 121. 512 Dost, 1963, S. 170. 513 Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 121. 502

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

haft“ anzusehen sei.514 Opferberichte, selbst von „zuverlässigen Frauen“, seien deshalb „mit Vorsicht“ zu genießen, so die psychologische Würdigung von Dost.515 In der sexuellen Interaktion zwischen Mann und Frau wurde die Grenze zwischen dem „Kampf um Besiegung der natürlichen Hemmungen der Frau“ und der „rohe(n) Gewalt, die einen ernstlichen Widerstand“ bricht, demnach als fließend und deshalb schwer bestimmbar angesehen. Die Kombination der Vorstellung, dass viele Frauen es sich geradezu wünschten, einmal mit Gewalt durch einen starken Mann „genommen“ 516 bzw. genotzüchtigt zu werden,517 mit der Ansicht, dass die Erweckung von Lustgefühlen durch Notzucht keine Seltenheit seien,518 gerade auch weil der Frau ein natürlicher Masochismus zueigen sei,519 gestaltete den Gewaltakt der Vergewaltigung zu einem Sexualakt mit geradezu willkommener Gewalt um. Es wird in diesem Kontext gar von „Notzucht auf Bitten“ der Frau gesprochen, der jedoch nicht strafbar sein könne, denn schließlich: der Geschlechtsverkehr „wird freudig gewährt, umso freudiger, je stimulierender die ,Gewalt‘ angewendet wird“.520 Berichten von Opfern, auf Grund des sexuellen Angriffs widerstandsunfähig gewesen zu sein, konnte auf Grund dieser Ansichten mit Zweifeln und Hohn begegnet werden, indem deren Passivität auf die angebliche sexuelle Stimulation zurückgeführt wurde.521 Der Verhaltenskonstruktion der sog. vis haud ingrata, „der nicht unerwünschten Gewalt“,522 kam hierdurch eine tragende Rolle im Kontext der Vergewaltigung zu.523 Die Abgrenzung der vis haud ingrata von der im Sinne des § 177 StGB tatbestandsmäßigen Gewalt wurde zur praktischen Herausforderung stilisiert, weil auch die Vergewaltigung als ein Sexualakt mit den Spielregeln einer freiwilligen sexuellen Interaktion angesehen wurde. Geerds betont, dass die Fälle der vis haud ingrata als 514

Dost, 1963, S. 170. In diesem Sinne Simson/Geerds, 1969, S. 370. Dost, 1963, S. 170. s. seinen Verweis auf ein Gedicht von Frank Wedekind als Ausdruck der Situation der Notzucht und jedes freiwilligen Geschlechtsverkehrs auf S. 177. 516 Dost, 1963, S. 202. 517 Dost, 1963, S. 169, 202, 220; H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 126; Schulz, 1958, S. 13. 518 Dost, 1963, S. 175 f.; Schulz, 1958, S. 93. 519 Dost, 1963, S. 203. 520 Dost, 1963, S. 206. 521 Dost, 1963, S. 175 f. Ebenso Berg, 2. Aufl. (1963), S. 85. 522 Geerds, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 140. Vgl. zur vis haud ingrata die Ausführungen im Zweiten Teil: B.II.1.b) und Dritten Teil: A.II.3. sowie D.II.2. Vis haud ingrata liegt vor, wenn sich die Frau nur aus Scham gegen den Geschlechtsverkehr ziert. Das Sträuben wird nicht als ernstlicher Widerstand bewertet, so dass der Mann auf gegenteilige Willensäußerungen keine Rücksicht mehr nehmen muss und hiergegen gerichtete Gewalt als notwendiger Bestandteil der sexuellen Interaktion, aber nicht als tatbestandsmäßig angesehen wird. Wurde deren Vorliegen bejaht, führte dies zum Ausschluss des objektiven Tatbestands. Bis zum 33. StÄG von 1997 war dies herrschende Meinung zu § 177 StGB a. F.; vgl. Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3. 523 Simson/Geerds, 1969, S. 370, 377. 515

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Einverständnis zu werten seien und ein solches regelmäßig vorliege, wenn die „Initiative“ für die Tat beim Opfer gelegen habe.524 Als Grund für die starke „Diskrepanz zwischen der Zahl der angezeigten und abgeurteilten Fälle“ wurden, neben den zahlreichen Falschanschuldigungen, „Mängel in der Tatbestandlichkeit oder im Tatvorsatz (,vis haud ingrata‘)“ genannt.525 Denn „verdeckte Bereitwilligkeit des Opfers schließt den objektiven, Nicht-Ernstnehmen des Widerstandes von Seiten des Täters den subjektiven Tatbestand aus“.526 Dem Täter wurde dadurch zugestanden, ein „Nein“ als „Vorstadium“ des sexuellen Akts zu deuten und deshalb auch nicht ernst nehmen zu müssen.527 Die Kontrolle der Sexualität lag somit bei der Frau, sie musste damit rechnen, dass ein „sexuell erregter Mann“ einen „ernstlich gemeinten Widerstand nicht mehr anerkennen“ kann.528 Michaelis-Arnzten beschreibt einen Fall eingebildeter Vergewaltigung, wobei das Opfer die „temperamentvoll-energischen Griffe“ des Täters missverstanden habe.529 Ein bisschen Gewalt gehört demnach dazu. Wann der Widerstand der Frau aber ernst genommen werden musste, ist in dieser Konstruktion der sexuellen Interaktion bzw. Vergewaltigungsinteraktion schwer auszumachen. Folge dieser Anschauungen ist die Erwartung an das Opfer, heftigen körperlichen Widerstand zu leisten530 und um Hilfe zu rufen531, selbst wenn das Opfer mehreren Tätern ausgeliefert ist.532 Ungenutzte Möglichkeiten zur Flucht stoßen auf Unverständnis.533 Die geschilderten Fälle von Notzucht beinhalten deshalb regelmäßig Berichte über nachhaltige körperliche Gegenwehr des Opfers.534 Es klingen jedoch auch neue Töne an, wenn Widerstand „bis zum Letzten“ 535 als Risikofaktor für die Eskalation von Gewalt erkannt536 und partiell erwogen wird, dass Frauen auf Grund ihrer Erziehung oftmals psychisch nicht in der Lage sind, männlichen Tätern wehrhaft entgegenzutreten.537 Darüber hinaus verliert

524

Geerds, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 140. Jeweils Berg, 2. Aufl. (1963), S. 84. Ebenso hinsichtlich des Tatbestandvorsatzes Simson/Geerds, 1969, S. 377. 526 Berg, 2. Aufl. (1963), S. 84. 527 Teufert, 1980, S. 120. 528 Schulz, 1958, S. 161. 529 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 12. 530 Dost, 1963, S. 180 ff., 184; Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 121 f. Vgl. den Fall bei Schulz, 1958, S. 87 Fn. 45. 531 Dost, 1963, S. 188 ff. 532 Vgl. die Fälle bei Berg, 2. Aufl. (1963), S. 21 f.; 96. 533 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 124. 534 Dost, 1963, S. 180 ff. 535 Schulz, 1958, S. 88. 536 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 25; H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 119; Teufert, 1980, S. 219. 537 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 119. 525

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

die These von der Unmöglichkeit der „Einzelnotzucht“ 538 an Offensivität,539 auch wenn diese nach Geerds „sicherlich Richtiges“ aufwies540 und „noch viel erörtert(e)“ wurde.541 Wiederholten und lang andauernden Vergewaltigungen wird allerdings weiterhin mit großer Skepsis begegnet,542 für die psychische Situation des Opfers während der Tat fehlt oftmals das psychologische Verständnis.543 So führt Michaelis-Arntzen noch 1994 aus: „dass ein längeres Zusammenleben wesentlich durch Zwangsanwendung ermöglicht und geprägt gewesen sein soll, ist aussagepsychologisch kaum nachweisbar, obwohl es hin und wieder angegeben wird.“ 544 Fortschrittliche Gedanken, wie die von Weis545, dass unter anderem die Notzucht nicht der „sexuellen Befriedigung“ diene, sondern der „Erniedrigung“ des Opfers, stießen auf Kritik. So wurden diese von Schneider als Gedankengut „der nordamerikanischen Frauenbewegung der sogenannten ,Frauenbefreiung‘“ abgetan und abgelehnt.546 In diesem Zusammenhang wandelt sich die von Schneider geforderte „unvoreingenommene(n)“ Haltung des Viktimologen ins Gegenteil. Der Autor hat sichtlich Probleme mit der Frauenbewegung.547 Es wird in wohlbekannter Manier betont, dass Frauen von Männern „erobert“ werden wollen548: „Sie möchten bewusst oder unbewußt zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden, um einen scheinheiligen ,moralischen‘ Anspruch zu wahren“.549 „Die Frauen und Mädchen reizen die Männer sexuell beständig“.550 „Der Mann, der sich auf dieses für ihn gefährliche kokette Spiel einlässt, trägt das Risiko, daß die Frau oder das Mädchen die Situation nachträglich als Notzucht definiert“.551 Das 538

H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 119. Ablehnend H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 119. 540 Internetredaktion, EKD: Evangelische Kirche in Deutschland – III. Biblische Erinnerung, S. 369. 541 Eigenbrodt, in: Sittlichkeitsdelikte, 1959, S. 120. 542 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 16; Schulz, 1958, S. 96, 108. 543 Vgl. die Beispiele und Wortwahl bei Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 11 f., 13 f., 32 f. So seien Vergewaltigungen durch eine Gruppe von jungen Männern unter Ausnutzung einer hilflosen Lage schwer zu beweisen, wenn das Opfer mit einem Mann aus der Gruppe vorher freiwillig Geschlechtsverkehr hatte, insbesondere weil man an „gängige Gruppensex-Vorstellungen“ denken müsse; vgl. dies. S. 12 f. 544 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 16. 545 Weis, 1982. 546 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 125 f. 547 Dass Frauen „sich unterdrückt fühlen, macht nur deutlich, daß sie nicht fähig sind, die ihnen eingeräumten gleichen Rechte und Möglichkeiten wahrzunehmen und auszufüllen“; vgl. H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 127. 548 Schulz, 1958, S. 161. 549 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 126. 550 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 126. 551 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 126. Dost bringt hierfür das übertriebene und absurde Beispiel einer feurigen Spanierin; vgl. Dost, 1963, S. 209. Vgl. die Kritik 539

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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Schwinden weiblicher Tugenden wie „Güte, Milde, Bewahrung moralischer Maßstäbe“ wird beklagt.552 Darüber hinaus fühlt man sich stark an die Ansichten der Hysterieforscher erinnert, wenn Schneider betont: „Weibliche Aggressivität kann allerdings verletzender als männliche sein“.553 Die kritische Würdigung Blaus derartiger Ansichten als „geradezu erstaunliche’ antiemanzipatorische“ 554, trifft den Kern.555 Insbesondere der nordamerikanischen und überhaupt der Frauenbewegung ist jedoch der Umbruch im Umgang mit sexueller Gewalt zu verdanken.556 Diesen „unbestreitbare(n) Verdienst der Frauenbewegung“ hebt auch Schneider wenige Jahre später hervor.557 Er reagierte damit auf die Kritik an seinen Ausführungen unter anderen durch den Spiegel.558 Die „feministische Bewegung“ 559 bewirkte durch ihr Engagement und eine – aus heutiger Perspektive – manchmal drastisch erscheinende Vorgehensweise eine „Enttabuierung, Skandalisierung und Dramatisierung“ dieses Themenkomplexes.560 Ziel war die Verminderung „patriarchalischer Herrschaftsstrukturen“.561 Ab den 70er und vor allem 80er Jahren nehmen als Folge dieses Prozesses die (empirischen) Untersuchungen gerade im Bereich sexueller Gewalt unter Einbeziehung des Opfers stark zu,562 nachdem das Opfer sexueller Gewalt in der kriminologischen Forschung bis dahin nicht563 bzw.

an H. J. Schneider in SPIEGEL ONLINE, 03.08.1981 – Vergewaltigung: Mord an der Seele. 552 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 126. 553 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 127. 554 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 341. 555 Vgl. auch die Kritik von Weis, 1982, S. 2 f., 21 ff. Nichtsdestotrotz wird auf diese Arbeit von H. J. Schneider, dessen Ansichten sich inzwischen aber gewandelt haben, immer noch verwiesen; vgl. Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 5. 556 Vgl. dazu Weis, 1982, S. 1 ff. und das wichtige und einflussreiche Buch von Brownmiller, 1978, im Original erschienen 1975 in New York unter dem Titel „Against our will: Men, Women, Rape“. 557 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 341. 558 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 341 f. Auch Dosts Ausführungen wurden hierbei kritisiert. 559 Am 01.11.1976 wurde in Deutschland das erste Frauenhaus in Berlin eröffnet. 560 Steffen, 1987, S. 2, 12 ff., 31 ff. Vgl. die aus heutiger Sicht drastisch wirkenden Beispiele feministischer Aktionen in SPIEGEL ONLINE, 03.08.1981 – Vergewaltigung: Mord an der Seele sowie in: Schäfer, Kriminalistik 1982, S. 365 ff. 561 Steffen, 1987, S. 14. 562 Vgl. nur Abel, 1986; Baurmann, 1996; Butzmühlen, 1978; Greuel, 1993; M. Jäger, 2000; Schliermann/Endres/Dörsch, 1989; Schliermann, 1993; Steffen, 1987; Steinhilper, 1986; Teubner, 1983; Teufert, 1980; Weis, 1982. Vgl. zur Geschichte der Erforschung der Gewalt im Geschlechterverhältnis Hagemann-White, in: Gewalt-Verhältnisse, 2002, S. 29. 563 Steffen, 1987, S. 38 f. Vgl. zur Diskussion um die Position des Opfers im Strafverfahren Schädler, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 713 m.w. N.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

hauptsächlich als Mitverursachungsfaktor dieser Taten von großem Interesse war. Die Arbeit von Weis aus dem Jahr 1982 untersuchte zum ersten Mal umfassend den Umgang mit der Vergewaltigung in der Bundesrepublik Deutschland.564 Er erfragte die Einstellung der Bevölkerung zu verschiedenen Vergewaltigungsszenarien, führte anonyme Interviews mit Betroffenen und analysierte Justizakten. Die gedankliche Verhaftung in Vergewaltigungsmythen wurde hierbei festgestellt und problematisiert.565 Es wurde besonders deutlich, dass sich Opfer auf Grund des Einflusses des Stereotyps der klassischen Vergewaltigung oftmals nicht zugestanden, eine Vergewaltigung erlitten zu haben, und sich eine Mitschuld am Geschehenen gaben.566 Als Folge hatten sie oftmals bis zu dem Interview mit niemandem über die Tat gesprochen, geschweige denn eine Anzeige erstattet.567 Die Einstellung zur Mitschuld spiegelte sich auch in der Befragung der Bevölkerung wider.568 Die Viktimologie führte schließlich zu einem erheblich veränderten Verständnis der Sexualverbrechen.569 Nicht zuletzt Untersuchungen wie die von Weis, in denen Opfer ihre Erfahrungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht mitteilen konnten,570 trugen zu der Erkenntnis bei, dass sich etwas ändern müsse. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und die damit zusammenhängenden Probleme wie das Risiko der sekundären Viktimisierung571 durch das Strafverfahren wurden erstmals thematisiert und schließlich zu einem „Dauerbrenner“. Der Boden für eine Entmythologisierung wurde bereitet, und zwar auf Täter- und Opferseite. So wurde „geringere Intelligenz“ als Charakteristikum des Vergewaltigungstäters ebenso widerlegt, wie das der anlagebedingten „unkontrollierbare(n) Übersexualität“.572 Der Umstand, dass viele Täter in ihrer Kindheit sexuelle Traumen erlebten, wurde herausgearbeitet.573 Darüber hinaus wurde die „provozierte Vergewaltigung“ als „der klassische Typus der „falschen Vergewaltigung“ „doch eher einem Vergewaltigungsmythos“ zugeschrieben.574 „Oral-genitale Handlungen“, die früher wegen der dabei notwendigen Beteiligung des Opfers als zwingend einverständlich behandelt wurden, wurden ab den 90ern nicht mehr als „vikti564

Weis, 1982. Weis, 1982, S. 46 ff., 84 ff. 566 Vgl. die eindrücklichen Opferinterviews in Weis, 1982, S. 52 f., 81 ff. 567 Weis, 1982, S. 119 ff. 568 Weis, 1982, S. 80 ff. 569 H. J. Schneider, 2007, S. 396. Sie trug auch zur Implementierung neuer Schutzgesetze wie dem GewSchutzG bei; vgl. Görgen, in: Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, 2012, S. 100. 570 Weis, 1982, S. 162 ff. 571 Dazu Steffen, 1987, S. 75 ff., 122 ff. Vgl. die im negativen Sinn eindrucksvollen Opferberichte auf S. 92 ff. 572 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 347. 573 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 349. 574 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 5. 565

B. Grundlagen der Vergewaltigungsmythen und -stereotypen

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mountypisch“ angesehen.575 Die „Lustempfindung“ auf Grund von Gewaltanwendung wird ebenso bestritten, wie die angeblichen Vergewaltigungsphantasien von Frauen, indem richtigerweise betont wird, dass Lust nur dann entstehen kann, wenn sich „das Opfer als Sexualpartner empfindet“ 576 und nicht als Opfer einer „körperlich und seelisch verletzende(n) Straftat“.577 Das Bild der weiblichen sexuellen Interaktion „aus Verführung und Abwehr zur Erhöhung des Reizes“ als unbewusste oder bewusste Herausforderung zu ihrer Überwindung und dessen Einordnung als Quasi-Mitschuld578 blieb jedoch erhalten.579

IV. Ergebnis Die bisherige Darstellung zeigt, dass im Rahmen des ab den 70er Jahren eintretenden Veränderungsprozesses der Gesellschaft auch die sexuelle Nötigung/ Vergewaltigung auf eine neue kriminologische Grundlage gestellt wurde. Erst die neuere Forschung in Psychologie, Medizin und Kriminologie widerlegte die Mythen und Fehlvorstellungen im Zusammenhang mit der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung.580 Im Rahmen dieses Erneuerungsprozesses wurden grundlegende Verbesserungen im Strafverfahren eingeführt581 und es fand eine Sensibilisierung auf diesem Themengebiet statt.582 Immerhin finden sich partiell Ausführungen zu Männern als Opfer in rechtsmedizinischer Literatur, auch wenn diese 575 Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 30. Allerdings wird fälschlicherweise behauptet, dass diese Sexualpraktik früher äußerst selten gewesen sei. Der Grund hierfür liegt darin, dass nur der Geschlechtsverkehr als die natürliche Triebbefriedigung verstanden wurde, der Oral- und Analverkehr dagegen nicht. 576 Nass, 1982, S. 10. 577 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 346. 578 H. J. Schneider, in: FS Blau, 1985, S. 351. 579 Das freiwillige Aufsuchen eines abgelegenen Ortes mit dem Täter wird jedoch ebenso wie die Übernachtung im selben Raum nicht mehr als Quasi-Einverständnis mit der späteren Vergewaltigung gewertet; wo früher stets ein „fluchtartiges Verlassen des Tatortes und des Täters“ gefordert wurde, wird nun die Heimkehr mit dem Täter nach der Tat, beispielsweise in seinem PKW, nicht mehr generell als gegen die Tat sprechendes Indiz behandelt. Vgl. Michaelis-Arntzen, 2. Aufl. (1994), S. 28 f., 34, 31 ff. 580 s. Erster Teil: A. Vgl. außerdem Brinkmann/Madea, 2004, S. 1131 ff.; Madea, 2. Aufl. (2007), S. 259 ff. 581 Eingeleitet wurde die „Hinwendung zum Opfer“ im Strafverfahren mit dem 1. Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 (BGBl. I, S. 2496), in dem u. a. die Regelungen zur Nebenklage und zum Verletztenbeistand neugestaltet wurden. Zuletzt fanden im Rahmen des sog. StORMG vom 26.06.2013 (BGBl. I S. 1805) zahlreiche Änderungen in der StPO u. a. die Nebenklage und die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung betreffend statt. Weitere Änderungen werden auf Grund der Richtlinie 2012/29/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI folgen. Zur Historie der Nebenklage vgl. Barton/Flotho, 2010, S. 14 ff. 582 Darauf deutet auch die Untersuchung von Goedelt, 2010 hin.

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1. Teil: Die Vergewaltigung im interdisziplinären Diskurs

spärlich ausfallen.583 Nichtsdestotrotz ist der Einfluss von Vergewaltigungsmythen und -stereotypen bis heute in Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesellschaft sichtbar. Das wird auch die weitere Darstellung der Gesetzgebungsgeschichte und der Entwicklung der Rechtsprechung zeigen.584 Wünschenswert wäre es demnach, wenn die modernen Erkenntnisse von der Justiz ernst genommen und umgesetzt würden. Denn bisher besteht immer noch ein „Gegensatz zwischen Verbrechensempirie und Rechtswirklichkeit“.585

583

Vgl. Brinkmann/Madea, 2004, S. 1146 f. Ebenso Krahé/Temkin/Bieneck u. a., Psychology, Crime & Law 2008; Krahé, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 36. 585 Sick, MschrKrim 1995, S. 281. 584

Zweiter Teil

Die Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/ Vergewaltigung bis zum 33. StÄG vom 01.07.1997 A. Der Tatbestand der Notzucht von der Constitutio Criminalis Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 I. Der Verbrechensbegriff der Notzucht Bis zum 4. StrRG von 1973 war der Tatbestand des § 177 StGB mit „Notzucht“ betitelt. Der Verbrechensbegriff der „Notzucht“ taucht bereits im Jahre 1227 im Stadtrecht von Braunschweig auf.1 Im Gegensatz zum römischen Recht, in dem jede gewaltsame Unzucht,2 also nicht nur der erzwungene außereheliche Beischlaf und damit auch ohne Unterschied, ob sich diese gegen Männer oder Dirnen richtete, als „crimen vis“ behandelt wurde,3 war es stets germanische Rechtstradition, das Unrecht des Verbrechens der Notzucht besonders hervorzuheben, und zwar in einem eigenständigen Verbrechenstatbestand. Dabei bestand ein enger Zusammenhang mit dem Delikt des „Frauenraubes“.4 Neben dem Begriff der Notzucht existierten unter anderem Begriffe, wie nothaft; notnunft; notzerre; notzwang.5 Im bedeutendsten Gesetzgebungswerk6 des Heiligen Römischen Reiches, der Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V. von 1532 (kurz CCC), wird in Art. 119 die „Straff der Nottzucht“ als eigenständiges Ver1

Wahl, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 1907, S. 10. Bezeichnung im römischen Recht: Stuprum violentum. 3 Binding, 2. Aufl. (1902), § 52 Anm. I. Dazu auch Teufert, 1980, S. 21 m.w. N. Das crimen vis geht auf das römische Recht zurück. Ob die zugrundeliegende lex Julia de vi von Cäsar oder Augustus stammt, ist umstritten. Eine Weiterentwicklung dieses Tatbestandes findet sich jedenfalls in der Kodifikation Justinians (insbesondere in den Digestentiteln D 48, 6 Ad legem Juliam de vi publica und D 48, 7 Ad legem Juliam de vi privata sowie in Cod Just. 9, 12). Dieser fand Eingang in das Gemeine Peinliche Recht. Vgl. hierzu Schaffstein, in: FS Lange, 1976, S. 985 ff. 4 Brunner, 2. Aufl. (1928), § 144; His, 1967, S. 143 ff.; zu der Höhe einzelner Notzuchtsbußen in der sog. fränkischen Zeit (5.–9. Jhd.) in der Lex Salica (ca. 507–511 n. Chr.) und der Lex Alamannorum (ca. 620 n. Chr.) vgl. Brunner, 2. Aufl. (1928), § 144; vgl. auch den geschichtlichen Überblick zur Strafzumessung bei Middendorff, in: FS Leferenz, 1983, S. 593 ff. 5 Wahl, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 1907, S. 7; His, 1967, S. 143 ff. 6 Vgl. Buschmann, 1998, S. 103. 2

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2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

brechen normiert.7 Alle nachfolgenden Partikulargesetze8 übernahmen diesen Begriff. „Not“ bedeutet Not, Zwang, Gewalt. Der Begriff der „Notzucht“ wird als das „Nehmen mit Gewalt“ verstanden.9 Das – vom Wortlaut schon vorgegebene – zentrale Tatmittel der (physischen) Gewalt ist das prägende Merkmal sowie das Kernelement dieses Deliktes. Im Folgenden wird die Genese des Tatbestands der Notzucht ab der CCC von 1532 anhand der – für die Entwicklung des neueren Strafrechts – maßgebenden Gesetzgebungswerke10 nachgezeichnet.11 Der Fokus liegt dabei auf den Nötigungsmitteln und dem Einfluss des Urteils der Bescholtenheit gegenüber dem Opfer als zentrale Elemente des Tatbestands.

II. Das Gemeine Peinliche Recht 1. Constitutio Criminalis Carolina von 153212 „Straff der nottzucht“ 119. „Item so jemandt eyner vnuerleumbten13 ehefrawen, witwenn oder jungkfrawen, mit gewalt vnd wider jren willen, jr jungkfrewlich oder frewlich ehr neme, der selbig 7

Vgl. Buschmann, 1998, S. 142. Vgl. die nachfolgende Darstellung. 9 Vgl. His, 1935, S. 151; Kluge/Seebold, 23. Aufl. (1999), S. 592; mit der CCC wurde die Notzucht als selbständiger Verbrechenstatbestand angesehen und klar von der Entführung in Art. 118 CCC getrennt. 10 Buschmann, 1998, Vorwort. 11 Vgl. zur österreichischen Rechtsentwicklung Reiter, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 21. 12 Zur Entstehungsgeschichte der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. (so ihre deutsche Bezeichnung) vgl. HRG, 2. Aufl. (2008), Stichwort: Constitutio Criminalis Carolina: Die CCC „ist das Ergebnis der gegen Ende des 15. Jh. einsetzenden Reformationsbestrebungen des Reiches auf dem Gebiet des Strafverfahrens und des Strafrechts. Mit ihr trat die Reichsgesetzgebung der zunehmenden Rechtszersplitterung und der Verwilderung der Strafrechtspflege erfolgreich entgegen und bestimmte bis zum Ende des Reiches (1806) und in Teilen darüber hinaus die Strafrechtsentwicklung in Deutschland.“ Die CCC war dabei stark vom antiken römischen Recht beeinflusst, das ab 1060 durch vornehmlich italienische Rechtswissenschaftler rezipiert wurde. Über die italienische Strafrechtswissenschaft kam es in modifizierter Form im Wege der allgemeinen Rezeption nach Deutschland und wurde dort bei der Abfassung der CCC durch Johann von Schwarzenberg (1465–1528) verarbeitet; auf der Grundlage der CCC bildete sich in der Folge eine gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft aus; vgl. Bock, ZIS 2006, S. 10 ff., 13 ff. „In manchen Teilen Deutschlands blieb die Carolina noch bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Kraft. Diese darf freilich nicht mit einer vollständigen, abschließenden Kodifikation im modernen Sinne verwechselt werden.“ Auf Grund der „salvatorischen Klausel“ der Vorrede waren territoriale Strafgesetzgebungen weiterhin zugelassen und die CCC galt nur subsidiär gegenüber den Lokalstatuten der einzelnen Länder. Vgl. Koch, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, 2014. Trotzdessen fand die CCC in den meisten deutschen Territorien Anerkennung, insbesondere die Aktenversendung an Kanzleien und Juristische Fakultäten durch Gerichte führte zur Ausbreitung des gelehr8

A. Tatbestand der Notzucht bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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übelthetter hat das leben verwürckt, vnd soll auff beklagung der benöttigten inn außfürung der mißthat, eynem räuber gleich mit dem schwert vom leben zum todt gericht werden (. . .)“.14

Das Delikt der „nottzucht“ befindet sich in der CCC umrahmt von Delikten gegen die Sittlichkeit, wie der „widernatürlichen Unzucht“, der „Blutschande“, der „Entführung“ 15, des „Ehebruches“ 16, der „Bigamie“, der „Zuhälterei“ und „Kuppelei“. Es war damit als ein Delikt gegen die Gesamtordnung eingeordnet.17 Untaugliche Opfer waren verleumdete Personen wie Prostituierte oder Frauen, die gemäß der öffentlichen Meinung „durch leichtfertigen fleischlichen Umgang“ 18 ihre weibliche Ehre verspielt und diese nicht „durch Besserung und musterhafte Aufführung wieder erlangt“ 19 hatten.20 Der „Geschlechtsehre offenkundig verlustig“ 21 war deshalb eine Frau, die außerehelich schwanger war.22 ten Rechts; vgl. Rüping/Jerouschek, 6. Aufl. (2011), Rn. 87, 108, 111. Die CCC weist nach Ansicht Schroeders zum ersten Mal eine „durchdachte Legalordnung“ auf; vgl. Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 863. 13 Übersetzt: unverleumdeten. 14 Als Strafmilderungsgrund galt das Erbitten der Geschwächten zur Ehe; vgl. Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244; v. Feuerbach bestritt das Bestehen besonderer Milderungsgründe; vgl. Morstadt, 1855, S. 456. 15 Die Entführung, Art. 118, war nur dann strafbar, wenn dies gegen den Willen des Ehemannes oder des Vaters des Opfers geschah. Dies macht deutlich, dass die Ehefrau bzw. die Tochter unter der „potestas“ bzw. „Gewalt“ des Ehemannes bzw. des Vaters stand. 16 Die kanonische Auffassung, dass jede außereheliche Geschlechtsverbindung auf Grund des Sakramentscharakters der Ehe pönalisiert werden müsse, hatte sich – nicht ohne Widerstand – im mittelalterlichen deutschen Recht durchgesetzt; vgl. dazu und zur Geschichte des Sexualstrafrechts im Allgemeinen Schroeder, 1975, S. 15 ff. und Teufert, 1980, S. 22 m.w. N. 17 Dazu Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 866. Vgl. Roper, 1997, S. 53 ff. zur strafrechtlichen Kontrolle der Sexualität in Augsburg zur Zeit der Reformation. 18 Vgl. Heffter, 1833, S. 314. 19 Vgl. Heffter, 1833, S. 314. 20 Als unverleumdet galt eine Frau gemäß v. Feuerbach, 1801, S. 235, § 302 solange, als sie „noch nicht durch Handlungen erklärt hat, dass sie ihren Körper als Werkzeug der Wollust eines jeden betrachte. An einer Hure kann daher keine Nothzucht begangen werden. Denn bey ihr fällt der eigentliche Grund der gesetzlichen Auszeichnung dieses Verbrechens hinweg. Ihre Persönlichkeit wird dadurch nicht verletzt, daßs man sie in Ansehung der Geschlechtsbefriedigung als Sache behandelt, da sie sich selbst zur Sache hingegeben hat. Die Nothzucht kann also nur begangen werden, entweder an einer Person, die noch nie gesetzwidrig den Geschlechtstrieb befriedigt hat, oder an einer bloßs Geschwächten, oder an einer Person, die ehemals als Hure gelebt, aber nachher völlig und notorisch ihre Lebensart geändert hat“; nach Ansicht von Morstadt, 1855, S. 449 verlor ein Mädchen „durch den bekannt gewordenen ersten außerehelichen Beischlaf“ die Eigenschaft, „unverleumdet“ zu sein; nach Wächter, 1835, S. 27 f. konnte ein einstmals bescholtenes Mädchen nicht einmal mehr durch spätere sittliche Lebensführung seine Unbescholtenheit wieder erlangen, weil der Makel ihr auf ewig anhaftete. 21 Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 289; Hannover (Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 123.

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2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Vergewaltigungen derartiger Personen, ebenso wie die gewaltsame Vornahme anderer sexueller Handlungen, waren in der CCC nicht eigenständig sanktioniert, so dass hierbei nur das rezipierte römische Recht eingreifen und eine allgemeine Behandlung als crimen vis erfolgen konnte.23 Die (gewaltsame) Vornahme sexueller Handlungen, wie Anal- oder Oralverkehr, wurde dabei als „widernatürlicher Gebrauch der Geschlechtstheile des Anderen“ 24 angesehen und damit gerade nicht als ein normaler geschlechtlicher Akt. Die eigenständige Normierung der Nötigung zur Duldung gewaltsamer Unzucht erfolgte erst Mitte des 19. Jahrhunderts,25 die Sanktionierung der Nötigung zur Vornahme sexueller Handlungen erfolgte erst durch das 4. StrRG von 1973. 2. Codex Juris Bavarici Criminalis von 175126 § 7 Wer eine ehrlich unverleumte27 Person28 mit Gewalt29 wider ihren Willen30, zur Unzucht nöthiget, ist mit dem Schwerdt zu straffen, doch leydet die Straff eine Mil22 Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 289. A. A. Großherzogtum Hessen, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1855, S. 392. 23 Vgl. Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 289. Zum crimen vis s. Fn. 3. Dieses wurde im Gemeinen Peinlichen Recht rezipiert, wobei es gängiger Rechtstradition entsprach, einen Rückgriff auf das Justinianische Recht vorzunehmen, wenn die Regelung eines rechtlichen erheblichen Sachverhalts in der CCC fehlte. Das crimen vis hatte somit den Charakter eines subsidiären „Auffangtatbestandes“, der eingriff, wenn kein benanntes Delikt vorlag; vgl. dazu Schaffstein, in: FS Lange, 1976, S. 985 ff., 995 f. Vgl. Sinn, 2000, S. 43 ff. zur nunmehr bestrittenen Ansicht, dass das crimen vis der Vorläufer des uns heute bekannten Nötigungstatbestandes sei. Das ALR regelte in Art. 1077 erstmals eigenständig das Delikt der Nötigung. Die eigenständige Erfassung von Angriffen auf die persönliche Freiheit wurde auch von der Wissenschaft aufgegriffen; vgl. dazu v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 99 Anm. II. v. Grolman stellte nach Ansicht Schaffsteins die Weichen für die Überführung des crimen vis in einen allgemeinen Nötigungstatbestand, so wie wir ihn heute kennen; vgl. seine allgemeine Definition von „Gewaltthätigkeiten“, in: v. Grolman, 1805, § 230 und Schaffstein, in: FS Lange, 1976, S. 998 f. 24 Tittmann, 2. Aufl. (1822), § 207. 25 Vgl. § 144 PreußStGB von 1851. 26 Der CJBC stellt lediglich eine „Zusammenfassung des damaligen geltenden Rechts“ dar und gilt als „rückwärtsgewandt“; er wird daher nicht zu den Naturrechtskodifikationen der Aufklärung gezählt. Vgl. Rüping/Jerouschek, 6. Aufl. (2011), Rn. 203. 27 Die Notzüchtigung einer „verschreyten Person und offentlichen Hur“ wurde als „crimen vis publicae“ (Rechtsgebiet der allgemeinen Staatssittlichkeit) und nicht als Notzucht angesehen und deshalb auch „extraordinarie“ bestraft; vgl. v. Kreittmayr, 1752, S. 56 f., § 7; hierzu auch Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 235, Anm. 295. 28 „Ohne Unterschied, ob es eine Ledige oder verehelichte Person ist. Ja es kann sogar an Mannsbildern der Nothzwang verübt werden . . .“. Vgl. v. Kreittmayr, 1752, S. 56 f., § 7. Die gleichzeitige Mitverwirklichung des Verbrechens der Sodomie wurde strafschärfend beurteilt. 29 „Und zwar einer größeren, welcher wegen Ungleichheit der Kräften oder anderer Umständen ohne Leibs- oder Lebensgefahr nicht widerstanden mag, mit Leib- oder Lebensgefährlichen Bedrohungen hat es eben diese Bewandniß. (. . .) Geringere Gewalt

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derung, wann die genöthigte Person eben zur Zeit beschehener That31 in üblem Ruf gestanden, daß sie vorhin schon der Leichtfertigkeit und Unzucht ergeben gewesen, oder da sie zur Ersetzung ihrer Ehre den Nothzwänger zu Ehelichen begehrt, oder bereits mit ihm versprochen, und seine gewidmete Braut gewesen, oder wo die That nicht gänzlich vollbracht worden.

Im Codex Juris Bavarici Criminalis (kurz CJBC) von 1751 ist die „Nothzucht“ 32 im „Sechsten Capitul“ des „Ersten Theils“ 33 in demselben Normenkontext wie dem der CCC zu finden. Der Tatbestand der Notzucht ist angelehnt an den der CCC, der Opferkreis ist jedoch weiter gefasst, weil unter Person hier nach Kreittmayr auch explizit der Mann gefasst wurde.34 Der Terminus der Nötigung zur Unzucht bedeutete nicht, dass von dieser Vorschrift jede gewaltsame Unzucht erfasst wurde, vielmehr ging es hier nur um die Notzucht, wie sich aus der Kapitelüberschrift und dem beigefügten Titel des § 7 ergibt.35 Auch die Anmerkungen von Kreittmayr belegen dies, indem er in den einzelnen Begriffserläuterungen stets von der Notzucht spricht und hinsichtlich der Nötigung zu anderen gewaltsamen unzüchtigen Handlungen auf die gemeinrechtliche Bestrafungstradition nach dem crimen vis publicae verweist.36 Wie in der CCC sind bescholtene Frauen aus dem Opferkreis ausgeschlossen und eine schlechte Reputation des Opfers hinsichtlich ihrer sittlich-moralischen Integrität konnte eine Strafmilderung bewirken. 3. Das Auslegungsverständnis der Notzucht im Gemeinen Peinlichen Recht a) Das Nötigungsmittel der Gewalt Die Nötigung kraft Gewalt ist in allen deutschgeschichtlichen Rechtsordnungen prägend für das Delikt der Notzucht. Schon im Gemeinen Recht wurde zwioder Bedrohung ist nicht hinreichend, (. . .).“ Vgl. v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. c. Im Tatbestand des Raubes im Zweiten Kapitel des Ersten Teils ist im Gegensatz zu § 7 CJB ein weiteres Nötigungsmittel, nämlich das der „bedrohlichen Abschröckung“ normiert. Aus dieser musste metus gravis & praesens“ (also gegenwärtiger großer Schrecken) folgen. Vgl. Buschmann, 1998, S. 192 und v. Kreittmayr, 1752, S. 32, § 19. 30 „Daher wird auch der Beyschlaf mit einer unzeitig-aberwitzig-betruncken-oder schlaffender Weibsperson“ für Notzucht („pro stupro violento“) gehalten; vgl. v. Kreittmayr, 1752, S. 56 f., § 7; ebenso Wächter, 1835, S. 283 ff.: „wider ihren Willen kann die Person missbraucht seyn, wenn ihr auch keine Zeit oder Gelegenheit gelassen wurde, ihren Dissens durch Worte oder Handlungen zu erklären“. A. A. v. Feuerbach, 1801, S. 234 f. wegen des Wortlautes „mit Gewalt und wider ihren Willen“. 31 „Ein anders ist, wenn sie ihr liederliches Leben damal schon lang verlassen, und der Nothzwänger solches gewußt hat.“ Vgl. v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. g. 32 Im Tatbestand wird zwar nur von dem Oberbegriff „Unzucht“ gesprochen, der Begriff der Notzucht findet sich aber in der Kapitelüberschrift wieder. 33 Buschmann, 1998, S. 203 f. 34 Vgl. v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. b. 35 Vgl. v. Kreittmayr, 1771, S. 37, 39 f., § 7. 36 Vgl. v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7.

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schen der Zwangswirkung durch den Einsatz körperlicher Gewalt und durch die Vornahme gegenwärtiger erheblicher Drohungen unterschieden, auch wenn der Begriff der Drohung im Normtext nicht wörtlich aufgeführt war.37 Dabei sollte kein Unterschied in der Strafe gemacht werden, je nachdem ob Gewalt oder Drohung angwandt worden waren.38 Physische Gewalt bedeutete Einsatz von Körperkraft zur Überwindung der Körperkräfte des Opfers,39 wobei Gewalt im Sinne von Gewalttätigkeit40 verstanden wurde, demnach erheblich sein musste.41 Diese Art der Gewalt wurde als „vis absoluta“ 42 bezeichnet, als „absolute physische Überwältigung“ 43, wobei sich diese Begrifflichkeit mit der heutigen Terminologie nicht deckte. Physische Gewalt im Rahmen der Notzucht im Gemeinen Peinlichen Recht umfasste nämlich auch die (erhebliche) vis compulsiva – verstanden im heutigen Sinne –, die noch Raum für eine Willensbetätigung lässt. Erfasst war demnach jede „aktuelle Anwendung einer jeden Widerstand beseitigenden Gewalt gegen den ernstlichen Willen des Frauenzimmers“.44 Bei der Frage nach der für die Notzucht notwendigen Gewalt waren die genauen Tatumstände, wie Zeit, Ort, Tatmittel, sowie das Kräfteverhältnis von Täter und Opfer relevant.45 Der Einsatz geringer Gewalt wurde als tatuntauglich angesehen, da der Widerstand des Opfers dann die Tat verhindern konnte.46 Gewalt und körperlicher Widerstand oder Hilferufe von Seiten des Opfers gehörten zusammen, es sei denn, das Opfer wurde betäubt.47 Der Widerstand konnte über das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals entscheiden. So heißt es in Urteilsbegründungen, dass der Angeklagte „keineswegs einen solchen Grad der Gewaltthätigkeit ausgeübt habe, dass die Anna T (. . .) nicht im Stande gewesen wäre, ihm Widerstand zu leisten, daß somit das Object des Ver-

37 Vgl. Carpzov, 1635, p. 2. q. 75. n. 14; Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 243; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232 f., Anm. 293. Vgl. auch Blanke, 2007, S. 86 ff. 38 Carpzov, 1635, p. 2. q. 68. n. 28. 39 v. Feuerbach, 1801, § 304; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233. 40 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753, § 488. 41 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 243 beschreibt die notwendige Gewalt bei der Nothzucht als „unwidertreiblich“ (unwiderstehlich; etwas, dem man sich nicht widersetzen kann); vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 24, Sp. 2210. 42 v. Feuerbach, 1801, § 304. 43 Heffter,1833, S. 315; ebenso Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 429 f., § 208. 44 Heffter,1833, S. 314. 45 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432, § 209. 46 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794 (1996)), S. 753. Vgl. die Urteilsbegründung in Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 293. 47 Hannover (Nothzucht und Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 123.

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brechens der Nothzucht hier nicht vorliege“.48 Der CJBC verlangte denn auch ein Maß an Gewalt, dem ohne Leibes- oder Lebensgefahr nicht widerstanden werden konnte.49 Die „psychologische Gewalt“ 50 in Form des Nötigungsmittels der Drohung war nur unter engen Voraussetzungen anerkannt, weil sich die Gewalt hier im psychischen Druck erschöpfte. Die Drohung musste demnach gegenwärtig sein, wobei ihr die Gefahr sofortiger Realisierung anhaften musste,51 weil die Androhung künftiger Übel als untaugliches Nötigungsmittel im Rahmen einer Notzucht gewertet wurde.52 Sie musste eine Leib- oder Lebensgefahr beinhalten und das Opfer davon überzeugen, dass Widerstand zwecklos sei, so dass bei der Leibesgefahr eine schwere körperliche Verletzung verlangt wurde.53 Die Anforderung einer qualifizierten Drohung wurde auf die hohe Wertigkeit der durch den Notzuchttatbestand geschützten jungfräulichen Ehre gestützt, so dass das angekündigte Übel wertgleich oder diese überwiegend ausgestaltet sein musste.54 Dabei reichte es aus, wenn die Ankündigung der Übel nur subjektiv, das heißt in der Vorstellung der Genötigten mit der Gefahr augenblicklicher Vollziehung verbunden war.55 Die Anforderung der unverzüglichen Realisierung an die Drohung wurde (ebenso wie beim Raub) damit begründet, dass es unvorstellbar sei, dass ein erst in der Zukunft liegendes Übel eine Person zur Unterwerfung zwingen könne. Der psychische Druck sei zu gering, dass eine Frau, der es mit ihrer Keuschheit ernst sei, diesem nicht standhalten würde.56 Einem angedrohten Übel, dem auf der Werteskala ein geringerer Wert als der jungfräulichen Ehre zukam, wurde auf Grund psychologischer Gesetze ebenfalls die Wirkmacht abgesprochen, eine Notzucht erzwingen zu können. In derartigen Konstellationen galt die unwiderlegliche Vermutung, dass sich die Frau freiwillig hingegeben hatte.57 Die Frage, ob es tatbestandsmäßig sei, wenn sich die Drohung gegen einen nächs48 Schwurgericht Prag, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1851, S. 268. 49 Vgl. v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. c. 50 v. Feuerbach, 1801, § 304. 51 v. Feuerbach, 1801, § 304. 52 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753, § 488. 53 v. Feuerbach, 1801, § 304; Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 243: „forchtsame Trohworte“; v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. c; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753, § 488; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 54 v. Feuerbach, 1801, § 304; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233, Anm. 293; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 55 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 267; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 431, § 208. 56 Vgl. v. Feuerbach, 1801, S. 236 f., § 304: „Entfernte Uebel machen an sich einen geringen Eindruck. Auch hat hier die Person, wenn es ihr mit ihrer Keuschheit Ernst ist, Zeit genug, den Staat in das Mittel zu rufen und dadurch sowohl dem einen als auch dem anderen Uebel zu entgehen.“ 57 v. Feuerbach, 1801, § 304; v. Kreittmayr, 1774, S. 39, § 7 lit. c; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753, § 488.

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2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

ten Angehörigen richtete, wurde nicht einheitlich beantwortet, jedoch von Kommentatoren vielfach bejaht.58 b) Mit Gewalt und wider ihren Willen „Mit Gewalt und wider ihren Willen“ des Opfers war die Tat begangen, wenn diese auf der Gewalt des Täters und nicht auf der „Nachgiebigkeit der Geschwächten“ 59 beruhte, wobei dazu auf Seiten des Täters aktuell ausgeübte Gewalt und auf Seiten des Opfers „beharrliches Widerstreben“ 60 notwendig waren.61 Der Widerstand musste die Qualität eines „ernstlichen“ und nicht „affectierten“ erfüllen.62 Diese Aussage trifft den Kern des klassischen Verständnisses von einer Vergewaltigungstat. Sie weist auf die stets miteinzukalkulierende Möglichkeit hin, dass die angewandte Gewalt nur eine „vis grata“ 63, eine in der sexuellen Interaktion für die Frau hinzunehmende, willkommene Gewalt gewesen sei.64 Die Gewalt musste demnach als „alleinige Ursache der Zulassung des Beischlafes“ 65 feststehen, „denn nur unter dieser Bedingung kann die letzte gerechtfertigt und in dieser Hinsicht als wider Willen geschehen angenommen werden.“ 66 Nicht jede „auf Erlangung des Beischlafes hinzielende Anwendung der Körperkraft“ war also tatbestandsmäßig, nachdem auch ein „durch Geschlechtslust bestimmter Wille Ursache der Hingebung“ gewesen sein konnte.67 Deshalb musste die „Art der angewendeten Gewalt und die vom Täter gehegte Absicht“ berücksichtigt werden.68 Zwischen der Gewalt und der Erzwingung des Ge58 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 267; Morstadt, 1855, S. 453; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 431, § 208; Wächter, 1835, S. 280 ff.: dieser führt als Beispiel für eine Dreiecksnötigung die Bedrohung des Säuglings der Genötigten mit Misshandlungen an. 59 v. Feuerbach, 1801, § 303 II: „Es mußs der Gebrauch der Geschlechtstheile dieser Person blos in der Gewalt des Nothzüchtigers gegründet seyn, so daßs diese Gewalt allein, nicht ihr eigener durch Geschlechtslust bestimmter Wille, Ursache ihrer Hingebung war. Man erkennt dieses aus der Art und Dauer des Widerstandes, der dem Stuprator geleistet worden ist“. 60 Heffter, 1833, S. 315; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233. 61 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 752 f., § 488; vgl. die Urteilsbegründung in Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 292. 62 Jeweils Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 293. 63 Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233. 64 Zur vis haud ingrata s. näher im Zweiten Teil: B.II.1.b). Vgl. zu den kulturellen Wurzeln der vis haud ingrata Lembke, 2008. 65 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208; ebenso Hannover (Nothzucht und Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 123. 66 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 67 Hannover (Nothzucht und Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 123. 68 Hannover (Nothzucht und Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 123.

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schlechtsverkehrs war somit ein kausaler Zusammenhang im Sinne von Erforderlichkeit vorausgesetzt.69 Des Weiteren musste der Täter diesen Kausalzusammenhang in seinen Vorsatz (Absicht) aufgenommen haben. Gewalt war als Stimulationsmittel anerkannt. Auf Grund des engen Verständnisses der Kausalität musste das vermeintliche Opfer vor Gericht beweisen, dass es alle Widerstandsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte.70 Der Schluss, dass „keine vis grata“ gegeben war, wurde nämlich „aus der Art und dem Maß des geleisteten Widerstands“ geschlossen, wovon der „Körper des Thäters selbst die Spuren tragen kann“.71 Dem Opfer war damit die Beweislast auferlegt, dass die physische Gewalt während des Notzuchtsaktes bis zu dessen Beendigung fortgedauert hatte.72 Unabdingbar war hierbei das Vorzeigen erlittener Verletzungen,73 wobei dies allein noch nicht ausreichte.74 Die Drohung mit einem „Mordgewehr“ 75 und der dadurch entstehende psychologische Zwang mussten den Willen beugen, war diese Willensbeugung jedoch eingetreten, so galt der Zwang als fortbestehend, auch nachdem der Täter das Drohmittel beiseite gelegt hatte.76 Große Bedeutung kam dem Verhalten während und nach der Tat zu, so dass unterlassene Hilfeschreie, wo Hilfe möglich war,77 das Vorbringen, mehrmals zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten genotzüchtigt worden zu sein, sowie ein verspätetes Anzeigeverhalten ohne anerkennenswerte Entschuldigung,78 als gegen die Tat sprechende Umstände gewertet wurden.79 Daneben galt der Eintritt einer Schwangerschaft zwar nicht als „sicherer Beweis“, aber als ein Indiz für eine Einwilligung in den Geschlechtsverkehr, weil die zur Befruchtung angeblich notwendige „Liebeshitze“ durch den Akt der Notzucht verursacht worden sein konnte.80 Bei der Ermittlung des Sachverhalts bestimmten darüber hinaus klischeehafte Vorstellungen über Frauen aus der Stadt bzw. vom Land die Beweisführung. Einer „Städterin“, die sich allein auf „freiem Feld“ befunden hatte, unterstellte man beispielsweise, die 69 v. Feuerbach, 1801, § 303; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 752 f., § 488. 70 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432, § 209. 71 Jeweils Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233. 72 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 73 Cella, 1787, S. 184; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 433, § 209. 74 Müller, 1796, § 83; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753 f., § 488. 75 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 431, § 208. 76 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430 f., § 208. 77 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 245; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233; Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 45; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432, § 209. 78 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 245; Tittmann wies immerhin darauf hin, dass „Schaam oder Furcht“ die Ursache einer verspäteten Anzeige sein können; vgl. Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432, § 209. 79 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753 f., § 488; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432 Fn. K, 433, § 209. 80 Jeweils Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 433, § 209. s. bereits Erster Teil: A.B.II.2.

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2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Notzucht quasi absichtlich oder zumindest grob fahrlässig provoziert zu haben.81 Bei Frauen vom Land dagegen, die schon berufsmäßig oftmals auf dem freien Feld alleine unterwegs waren, wurde stets eine „robuste Konstitution“ vermutet, so dass diese mit Hilfe ihrer „Arme und Nägel“, wenn sie diese nur „ernstlich gebrauchen“ wollten, die Tat verhindern könnten.82 Bei der Ermittlung der Frage, ob es sich nur um einen „halb ernsthaften und nur des guten Scheins wegen versuchten Widerstands“ 83 gehandelt hatte, waren demnach die „Standesverhältnisse“ 84 der Beteiligten von großer Bedeutung. Aus der Wendung „mit Gewalt und wider ihren Willen“ wurde gefolgert, dass nur dann, wenn „die Gewalt ernsthaft angewendet wird, um einen ernsthaften fortdauernden Widerstand zu überwältigen“,85 Notzucht vorliegen könne. Wann die Gewaltvornahme jedoch „widerrechtlich“ wurde, weil „ernsthaft“ 86 angewandt, darüber bestimmten den Täter privilegierende Ansichten. Die von der Strafrechtswissenschaft rezipierte Annahme der Gerichtsmedizin,87 dass die Notzucht einer erwachsenen Frau durch einen Mann „in der Regel“ 88 nicht möglich sei, konnte demgemäß nur dann entkräftet werden, wenn die Frau „unverhältnißmäßig schwächer“, wenn die „Herbeirufung fremder Hilfe“ ausgeschlossen war und wenn der Angreifer sein Endziel auf Grund „– einer Ohnmacht ähnlichen – Erschöpfung der Kräfte“ erreicht hatte.89 „Wahrer Zwang“ 90 wurde in Konstellationen des Hinwerfens und des Festhaltens der Arme verneint.91 Der Einsatz der Gewalt musste vielmehr qualifiziert erfolgen, also beispielsweise unter Beteiligung eines Gehilfen, auf Grund von Fesselung oder unter bedrohlichem Vorhalten einer tödlichen Waffe.92 Dann konnte von „wahrer Nothzucht“ 93 gesprochen werden. Lagen all

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Cella, 1787, S. 182. Jeweils Cella, 1787, S. 182. War die Tat auf Grund „stähter mannhaffter Abwehrung“ im Versuchsstadium stecken geblieben, konnte eine Strafmilderung eintreten; vgl. Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244 (Strafe war dann die zeitliche oder ewige Verweisung und das „Ruthen-Außhauen“). 83 Leue, 1847, S. 85. 84 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 266. 85 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 266. 86 Jeweils Leue, 1847, S. 85. 87 s. Erster Teil: B.II. 88 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 89 Jeweils Cella, 1787, S. 174 f., 181 f.; ebenso Henke, 1826, S. 202 und Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. Cella „löst“ die mit dem Verbrechen der Notzucht verbundenen Beweisschwierigkeiten, indem auch er betont, dass die Notzucht durch einen Mann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich sei. Vgl. dazu auch Vigarello, 2001, S. 42 f. 90 Cella, 1787, S. 174; Henke, 1826, S. 203. 91 Cella, 1787, S. 174; Henke, 1826, S. 203. 92 Cella, 1787, S. 174; Henke, 1826, S. 203; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 430, § 208. 93 Cella, 1787, S. 174. 82

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diese Faktoren nicht vor, war die Wahrscheinlichkeit der Verfahrensbeendigung äußerst hoch, weil von vornherein die sichere Beweisführungsgrundlage abgelehnt wurde.94 Vereinzelt wurde diese beengte Sichtweise kritisch gesehen. So wurde darauf hingewiesen, dass das Ausbleiben von Hilferufen, „aus welcher sich sonst auf Einwilligung schließen lässt“, auf außergewöhnlichen Umständen wie einem „heftigen Schrecke“ beruhen könnte,95 sowie darauf, dass Konstellationen, in denen das Opfer durch Drohungen oder lang anhaltenden Widerstand in einen Zustand der Willenlosigkeit oder Sinnesverwirrung gebracht werde, ignoriert würden.96 Die Möglichkeit einer psychischen Lähmung des Opfers durch den Angriff97 wurde demnach ansatzweise gesehen. Die Anforderungen an den Eintritt eines solchen Zustands waren allerdings hoch angesetzt. Schließlich wurden derartige Konstellationen als von der Regel abweichende Geschehensabläufe eingestuft. Zur Annahme einer Notzucht waren nach alledem erhebliche Gewalttätigkeiten bzw. Drohungen im Rahmen eines Überfalls sowie körperlicher Widerstand von Seiten des unbescholtenen Opfers vonnöten. Als klassischer Tatort galt der Außenbereich wie ein Feldweg oder Wald, die Täter-Opferbeziehung war von Fremdheit geprägt.98 c) Notzucht widerstandsunfähiger Personen? Die Frage, ob die unfreiwillige Schwächung im engeren Sinne99 auch als Notzucht zu bestrafen war, war umstritten. Es ging dabei um die bedeutsame Frage, ob auch schlafende, ohnmächtige, betrunkene oder geisteskranke Frauen, also Personen, die entweder nicht bei Bewusstsein waren oder die Bedeutung der Täterhandlung nicht erfassen konnten, genotzüchtigt werden konnten.100 Wurde die 94

Cella, 1787, S. 181 ff. Jeweils Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 432, § 209. 96 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 267; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233. 97 In diesem Sinne Morstadt, 1855, S. 451. 98 Vgl. die Urteilsschilderungen in Bopp, Hitzig’s Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1851, S. 87 ff.; Bothmer, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1830, S. 269 ff.; Großherzogtum Hessen, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1855, S. 388 ff. 99 Die unfreiwillige Schwächung (stuprum non voluntarium) war im Gemeinen Recht der Oberbegriff für den Beischlaf ohne freie Einwilligung des anderen Teils und beinhaltete zum einen die eigentliche Notzucht (stuprum violentum), den durch rechtswidrige Gewalt erzwungenen Beischlaf, und zum anderen die unfreiwillige Schwächung im engeren Sinne (stuprum nec voluntarium nec violentum), den Beischlaf mit einer Person, ohne ihre freie Einwilligung, jedoch ohne Gewalt; vgl. Morstadt, 1855, § 263. 100 Dies bejahend v. Kreittmayr, 1752, S. 56 f., § 7: „Daher wird auch der Beyschlaf mit einer unzeitig-aberwitzig-betruncken-oder schlaffender Weibsperson“ für Notzucht („pro stupro violento“) gehalten; Morstadt, 1855, §§ 263 f. m.w. N.; Wächter, 1835, S. 284: „wider ihren Willen kann die Person missbraucht seyn, wenn ihr auch keine 95

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Anwendbarkeit des Tatbestandes der Notzucht für diese Konstellationen verneint, konnte lediglich willkürliche Bestrafung eintreten.101 Feuerbach verneinte schon auf Grund des Gesetzeswortlautes des Art. 119 CCC „mit Gewalt und wider ihren Willen“ die Möglichkeit, derartige Konstellationen unter Notzucht zu subsumieren.102 Mittermaier stimmte ihm darin zu, wobei er aber noch zusätzlich mit der entgegenstehenden Ratio des Art. 119 CCC argumentierte.103 Indem dieser den mit schwersten Folgen für Lebensglück, Persönlichkeit und oftmals auch Gesundheit verbundenen Angriff auf die weibliche Ehre enthalte, könne die unfreiwillige Schwächung im engeren Sinne davon nicht erfasst werden.104 Teilweise wurde die Aburteilung als Notzucht davon abhängig gemacht, ob die Versetzung in den bewusstlosen Zustand durch den Täter schon mit der Absicht, den Zustand nachfolgend zum Geschlechtsverkehr auszunutzen, erfolgt war.105 Dieser Gedankengang wurde mit § 177 Hs. 2 RStGB, der Regelung zur uneigentlichen Notzucht, im Reichsstrafgesetzbuch übernommen.106 Morstadt setzte die Betäubung einer Person der vis absoluta gleich, weil der Frau dadurch „alle Fähigkeit zum Willensentschlusse des Nichtduldens: d.h. des Abwehrens“ genommen werde und sie dadurch zu einem „belebten Stücke Fleisch“ werde.107 Dagegen wurde angeführt, dass ein listiges Vorgehen bei einer Betäubung gerade keine Gewalt sei und der in Art. 119 CCC vorausgesetzte beharrliche Widerstandswille in diesen Konstellationen fehle und auch nicht vorweggenommen werden könne.108 Morstadt widerlegte diese Argumentation stichhaltig. Zum einen stellte er darauf ab, dass allein schon die Anwendung von Gewalt (die Ausschaltung des Bewusstseins) darauf hindeute, dass ein dem Tätervorhaben entgegenstehender Wille beim Opfer vorhanden sei und zum anderen ergebe sich dieser Widerwille aus der bisherigen Ehrbarkeit der Frau, von der der Gesetzgeber erwarte, dass ihre Angst vor einer „fleischlichen Schändung“ die vor dem Tod überwiege.109 Der entgegenstehende Wille wurde hiernach vermutet und musste nicht erst durch Widerstandshandlungen bewiesen werden. Die fortschrittliche Auffassung Morstadts, dass Zeit oder Gelegenheit gelassen wurde, ihren Dissens durch Worte oder Handlungen zu erklären“. Dies verneinend v. Feuerbach, 1801, S. 234 f. und v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 264 Anm. 4. Die Frage, ob Notzucht an einem noch nicht mannbaren Mädchen begangen werden kann, wird hier nicht näher erörtert. 101 v. Feuerbach, 1801, § 301. Diese musste jedoch das Maß der Strafe für freiwillige Schwächung überschreiten. 102 v. Feuerbach, 1801, § 301. 103 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 264 Anm. 4. 104 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 263 Anm. 1. 105 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), § 490: „wenn der Täter hinterlistig durch gewisse Mittel“ den Zustand herbeigeführt hat; Morstadt, 1855, § 264 m.w. N. 106 s. B. 107 Morstadt, 1855, § 264; ebenso v. Grolman, 1805, § 239 Anm. II. und Wächter, 1835, S. 284. 108 Heffter, 6. Aufl. (1857), § 293 Anm. 4. 109 Morstadt, 1855, § 264 a. E.

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eine Betäubung vis absoluta darstelle, war Inhalt der Reformentwürfe der Weimarer Zeit, wurde jedoch erst 1951 in der Rechtsprechung durch den Bundesgerichtshof anerkannt.110

III. Die Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts 1. Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794 § 1051 Wer durch gefährliche Bedrohungen des Lebens, oder der Gesundheit, unter Umständen, wo deren Erfüllung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, eine Frauensperson zu seinem Willen nöthigt, gegen den soll Festungsstrafe auf drey bis fünf Jahre statt finden.111 § 1052 Wer mit unwiderstehlicher Gewalt eine Person112, die über zwölf Jahre alt ist, nothzüchtigt, soll sechs- bis achtjährige Festungsstrafe leiden.113 § 1058 Doch findet verhältnißmäßige Milderung der Strafe statt, wenn die genothzüchtigte Person schon vorher in dem Rufe einer schlechten liederlichen Lebensart gestanden hat.

Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 (kurz ALR), einem Gesetzgebungswerk der Aufklärung, befindet sich der Tatbestand der „Nothzucht“ im Zwölften Abschnitt „Von fleischlichen Verbrechen“ 114 eingebettet in den Normenkontext der CCC. Allerdings steht der zwölfte Abschnitt nun eindeutig im Zusammenhang mit den Delikten gegen den Einzelnen.115 Die §§ 1048 bis 1060 ALR, welche mit „Nothzucht“ betitelt sind, regeln – in Abkehr vom Gemeinen Recht – in differenzierter Weise die Ausübung von sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Frauensperson. Die eigentliche Notzucht ist in § 1052 gere110

BGHSt 1, 145; s. Dritter Teil: A.I.1. Im Rahmen des Tatbestandes des Raubes § 1188 ist die „Androhung gefährlicher Behandlung“ normiert; vgl. Buschmann, 1998, S. 402. 112 Aus dem Zusammenhang mit den anderen Tatbeständen geht hervor, dass hier nur weibliche Personen erfasst sind; vgl. u. a. § 1059 „der Beleidigten“. 113 Im Rahmen des Tatbestandes des Raubes § 1187 ist „Gewalt an Menschen“ gefordert, eine nähere Beschreibung der Gewalt fehlt; vgl. Buschmann, 1998, S. 402. 114 Buschmann, 1998, S. 382, 388. Der preußische Gesetzgeber führte nach seiner Machtübernahme im Herzogtum Vorpommern und Fürstentum Rügen das ALR nur partiell ein, so dass das Delikt der Notzucht weiterhin nach den Regelungen der CCC behandelt wurde, die Strafen aber weitaus milder ausfielen; vgl. Ott, 2009, S. 175 ff., 253 ff. 115 Der vorhergehende Abschnitt ist „Von körperlichen Verletzungen“ betitelt, der nachfolgende handelt „Von Beleydigungen der Freyheit“. Dies ist eine Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der Aufklärungszeit nahm; vgl. Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 866. 111

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gelt.116 In § 1051 ist das Tatbestandsmerkmal der Drohung ausdrücklich normiert. Die Konstellation des widerstandsunfähigen Opfers auf Grund arglistiger Betäubung wurde von § 1048117 eigenständig erfasst.118 Auf den ersten Blick verwunderlich erscheint die Anordnung von Festungsstrafe für Notzucht in den §§ 1051, 1052 im Gegensatz zur Zuchthausstrafe für den sexuellen Missbrauch Bewusstloser in § 1050. Allerdings bedeutete Festungsstrafe in diesem Zusammenhang Festungsbaustrafe und keinesfalls Festungsarrest im Sinne einer Strafe ohne Arbeitspflicht und Ehrenminderung.119 Die Festungsbaustrafe stellte im Gegenteil eine äußerst schwere Strafe für Männer bei Verbrechen gegen die öffentliche Ruhe und Sicherheit dar. Sie beinhaltete die Pflicht, an Festungswerken und Wällen mitzuarbeiten und schwere Ketten oder Beineisen zu tragen.120 2. Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 Art. 186 Wer eine Person weiblichen Geschlechts wider ihren Willen, durch körperliche Gewalt oder durch Drohungen, welche mit dringender gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden sind, zur Unzucht nöthiget, imgleichen derjenige, welcher um widernatürlicher Wollust willen, solche Gewaltthat an einer Mannsperson verübt: ist der Nothzucht schuldig.121

116 Die Notzüchtigung von Mädchen unter zwölf Jahren wirkte strafschärfend; vgl. § 1053 ALR. 117 § 1048 Wer eine unschuldige Frauensperson durch Getränke oder andere Mittel ihrer Sinne beraubt, um sie zur Wollust zu missbrauchen, soll, wenn er auch seinen Zweck nicht erreicht, mit drey- bis sechsmonathlicher, wenn aber die Schandtat wirklich verübt worden, mit vier- bis sechsjähriger Zuchthausstrafe belegt werden. 118 Des Weiteren war das listige Vorgehen ausdrücklich in § 1050 sanktioniert: Wer dergleichen Person durch Arglist und betrügliche Kunstgriffe zur Wollust verführt, soll, außer der ihr schuldigen Privatgenugthuung, sechsmonathliche bis einjährige Festungs- oder Zuchthausstrafe leiden. 119 Vgl. ausführlich zu den verschiedenen Strafarten Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 120 ff. Zuchthausstrafe beinhaltete körperliche Züchtigung und Pflicht zur Arbeit; vgl. Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 121. 120 Erler/Kaufmann, S. 1116: „Festungsbau“; Quanter, 1905, S. 157. Festungsbaustrafe zählte zu den peinlichen Strafen. Unter den Freiheitsstrafen stellt die Festungsbausstrafe gegenüber der Zuchthausstrafe die härtere Strafart dar; vgl. Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 145 f. 121 Die Mindeststrafe des ersten und niedrigsten Grades betrug vier bis acht Jahre Arbeitshaus „mit jährlicher körperlicher Züchtigung und einsamer Einsperrung in dem Zuchtgefängnisse“, vgl. Art. 187. Der dritte Grad der Bestrafung war die Todesstrafe, die dann verhängt wurde, wenn das Opfer durch die Tat zu Tode gekommen war, vgl. Art. 188. Der Raubtatbestand des Art. 233 war folgendermaßen gefasst: Wer, um eine Entwendung zu vollbringen, einer Person Gewalt anthut, entweder durch thätliche Mißhandlungen oder durch Drohung auf Leib oder Leben, der ist des Raubes schuldig, er habe seine habsüchtige Absicht erreicht oder nicht. Vgl. Buschmann, 1998, S. 494.

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Im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813122 ist die Notzucht im Zweiten Kapitel „Von Beschädigungen und anderen Mißhandlungen an der Person“ im Anschluss an die Tatbestände der Körperverletzung geregelt.123 Hierbei findet eine völlige Abkehr vom bisherigen Deliktssystem statt, indem der Fokus eindeutig auf die Verletzung von Individualgütern der einzelnen Person gelegt wird. Die Notzucht wurde dabei als „zweifacher Angriff“, nämlich zum einen auf die „physische Person“ und zum anderen auf die „moralische Integrität“, verstanden.124 Relikte, wie die Begrifflichkeit der „Fleischesverbrechen“, die noch im ALR von 1794 zu finden sind und die Notzucht im Kontext des Kollektivrechtsguts der Religion sehen,125 sind verschwunden. Die Ausführungen in den Anmerkungen zu diesem Gesetzbuch muten für die damalige Zeit deshalb äußerst fortschrittlich an, indem der Einsatz von Strafrecht gegenüber Handlungen, die lediglich „die Gebote der Moral überschreiten“,126 ohne dass geschützte Güter anderer Personen tangiert werden, abgelehnt wird. Die „Selbstbefleckung“,127 homosexuelle Handlungen zwischen Männern, Geschlechtsverkehr mit Tieren und der außereheliche freiwillige Geschlechtsverkehr wurden deshalb nicht als Gegenstand des Strafrechts verstanden, solange nicht Rechte Dritter nachteilig betroffen waren.128 Der Abschnitt weist ebenso wie das ALR in den Art. 186 bis 191 differenzierte Regelungen bezüglich der Tatmittel und -folgen auf. Der allgemeine Ausdruck der Nötigung zur Unzucht darf – wie schon im CJBC – nicht dahin verstanden werden, dass jede Art gewaltsamer Unzucht strafbar war. Vielmehr musste zur Vollendung des Delikts der „natürlichen Unzucht“ eine „körperliche Vereinigung der Geschlechtstheile“ stattfinden, bloße Berührungen der Geschlechtsorgane stellten Versuchshandlungen dar.129 Die Bescholtenheit des weiblichen Tatobjekts spielte keine Rolle, weil auch verleumdeten Personen ein Verfügungsrecht über ihren Körper zugestanden wurde.130 Der Mann wurde der Frau tatbestandlich gleichgestellt, so dass dieser – wie schon im CJBC – als taugliches Opfer einer gewaltsamen widernatürlichen Unzucht durch einen männlichen Täter galt.131 In 122 Der Entwurf stammt von Paul Johann Anselm Ritter von v. Feuerbach (1775– 1833). 123 Buschmann, 1998, S. 485 f. 124 Jeweils v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 59 Art. 186. 125 Dazu auch Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 866. 126 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 59 Art. 186. 127 Unter Selbstbefleckung wurde die Onanie bzw. Masturbation verstanden, die als eine „Ausartung des Geschlechtstriebes“ eingeordnet und als äußerst schädlich für Gesundheit und die gesamte Persönlichkeit des Praktizierenden eingestuft wurde; vgl. Pierer’s Universal-Lexikon, 2005, Stichwort „Selbstbefleckung“. 128 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 59 f. Art. 186. 129 Jeweils v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 61 Art. 186. 130 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 63 Art. 186. 131 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 60 f. Art. 186.

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Art. 190 ist die Konstellation des widerstandsunfähigen weiblichen und männlichen Opfers auf Grund von absichtlicher Betäubung, ebenso wie im ALR, eigenständig geregelt.132 3. Preußisches Strafgesetzbuch von 1851 § 144 Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren wird bestraft: (1) Wer an einer Person des einen oder des anderen Geschlechtes mit Gewalt eine auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtete unzüchtige Handlung133 verübt, oder sie durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung einer solchen unzüchtigen Handlung zwingt.134 (2) Wer eine in einem wissenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche Person zu einer auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichteten unzüchtigen Handlung missbraucht; (3) Wer mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. Ist der Tod der Person, gegen welche das Verbrechen verübt wird, dadurch verursacht worden, so tritt lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.

Im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851, das die Grundlage für das Strafgesetzbuch von 1871, unserem heutigen StGB bildete,135 war die Notzucht im Zwölften Titel unter den „Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit“ lokalisiert.136 Damit wurde dieses wieder zu einem Delikt gegen die Gesamtordnung, auch wenn es sich am Ende dieser Deliktsgruppe befand und im Anschluss daran die Delikte gegen den Einzelnen begannen.137 Die Notzucht wurde dabei nicht mehr speziell geregelt, sondern ging allgemein in einem Einheitstatbestand der „Unzucht mit Gewalt“ auf,138 worunter auch andere sexuelle Handlungen als der 132

Art. 190 Wer eine Person durch arglistige Betäubung ihrer Sinne ausser Stand sezt, seine Lüste abzuwehren, und dieselbe in diesem Zustande zur Befriedigung seiner Wollust missbraucht, hat ein- bis vierjähriges Arbeitshaus verwirkt. 133 Die Unzucht umfasste auch die Notzucht; vgl. His, 1967, S. 303, § 4. 134 Der Tatbestand des Raubes in § 230 enthielt dieselben Nötigungsmittel wie § 144, allerdings wurde „Gewalt gegen eine Person“ gefordert. 135 Buschmann, 1998, S. 539; Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1870, S. 27 f. 136 Buschmann, 1998, vgl. S. 567 ff. 137 Bis zum Entwurf von 1845 war allerdings eine Einordnung unter die Delikte gegen den Einzelnen geplant, um den dabei stattfindenden Angriff gegen die persönliche Freiheit ausreichend zu würdigen; vgl. Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuchs von 1843, 1845, S. 159, 169. 138 Von dem Einheitstatbestand erfasst waren auch die Konstellationen des widerstandsunfähigen Opfers und der sexuelle Missbrauch von Personen unter vierzehn Jahren. In § 145 war die Verleitung zum Beischlaf sanktioniert und damit das Tatmittel der Täuschung unter bestimmten Umständen:

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Geschlechtsverkehr fielen. Hervorzuheben ist, dass Tatobjekt auch ein Mann sein konnte.139 Unter gewaltsamer Unzucht an Männern begriff man sowohl Angriffe von weiblicher Seite als auch von männlicher Seite, verstanden als „Sodomie im weiteren Sinne“.140 Der Umstand, dass der Begriff der Außerehelichkeit im Zusammenhang mit der unzüchtigen Handlung fehlte, bedeutete keine Abkehr von dem ständigen Grundsatz, dass eine eheliche Vergewaltigung strafrechtlich nicht als Notzucht anzusehen war.141 Nur vor dem Zwang zu widernatürlichen Handlungen war der Ehepartner geschützt.142 Die Bescholtenheit des weiblichen Opfers spielte auf Tatbestandsebene keine Rolle,143 fand jedoch auf Strafzumessungsebene Berücksichtigung.144 Dieser Umstand belegt, dass die Aussage, § 144 PreußStGB bezwecke nicht mehr den Schutz des Rechtsguts der weiblichen Ehre,145 fehl geht. 4. Das Auslegungsverständnis der Notzucht in den Territorialgesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts Die territorialen Strafrechtskodifikationen zeichnen sich weiterhin durch eine restriktive Auffassung hinsichtlich der Nötigungsmittel Gewalt und Drohung im Tatbestand der Notzucht aus; dies spiegelt sich in den kodifizierten Anforderungen derselben wider. Die Unbescholtenheit des Opfers ist jedoch keine Tatbestandsvoraussetzung mehr, sondern nur noch ein Kriterium der Strafzumessung. Darüber hinaus wird der Mann vermehrt als Tatobjekt (widernatürlicher) Unzucht anerkannt. a) Das Nötigungsmittel der Gewalt Das Nötigungsmittel der Gewalt erfuhr in den einzelnen Gesetzestexten regelmäßig eine Betonung hinsichtlich seines körperlichen-dynamischen Moments, Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs dadurch verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt oder einen anderen Irrthum erregt, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen halten musste, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. 139 Vgl. die Kritik an dem Einheitstatbestand von Mittermaier, Archiv für Preußisches Strafrecht 1860, S. 299. 140 Goltdammer, 1852, S. 297; erfasst waren die Onanie, wobei man hierbei schon bezweifelte, ob diese überhaupt durch Gewalt erzwingbar sei und die sodomia impropria (uneigentliche Sodomie), wobei keine Vereinigung der Geschlechtsteile stattfindet. Vgl. auch BVerfGE 6, 389. 141 Goltdammer, 1852, S. 298; Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 103 f. 142 Goltdammer, 1852, S. 298. 143 Diese Abkehr von der CCC wurde kritisch bewertet; vgl. Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuchs von 1843, 1845, S. 169. 144 Beseler, 1851, S. 315; Goltdammer, 1852, S. 297 f. Als Strafmindestmaß waren hierfür zwei Jahre vorgesehen. 145 Beseler, 1851, S. 315 f.

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indem dieses regelmäßig mit bestimmten Anforderungen wie „gewalttätige Bindung“, „unwiderstehlich“ oder „körperlich“ versehen wurde.146 Das Delikt der Notzucht war weiterhin eng mit der Vorstellung von körperlichem Widerstand verbunden, so dass dem Kriterium sichtbarer Verletzungen am Körper der Frau als Zeichen einer wirklich vollendeten Notzucht größte Bedeutung zugemessen wurde.147 Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 entschied sich letztendlich gegen eine nähere Bestimmung des Tatmittels der Gewalt, weil es nicht möglich sei, „eine solche Präzisierung in erschöpfender Weise anzugeben“.148 Maßgebend sollten vielmehr die individuellen Tatumstände und das „einsichtsvolle richterliche Ermessen sein“.149 Nach dem Wortsinn müsse aber die Gewalt von einer Art sein, dass überhaupt ein vergewaltigungstauglicher Zwang begründet werde, wozu die „Überwindung eines thätlichen Widerstandes gehöre.“ 150 Der Befürchtung, dass durch die neue unbestimmte Gesetzesfassung auch leichte Schläge als ausreichend erklärt würden, wurde damit entgegengetreten.151 b) Das Nötigungsmittel der Drohung Die Drohung erfuhr erstmals im Josephinischen Strafgesetzbuch von 1787 eine ausdrückliche Nennung als tatbestandliches Nötigungsmittel.152 Ihr kam als notzuchttaugliches Nötigungsmittel in den einzelnen Kodifikationen eine nur beschränkte Anerkennung zu, indem das „Vorzeigen mörderischer Waffen“, „gefährliche Bedrohungen des Lebens und der Gesundheit“,153 „Drohungen, welche mit dringender gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden sind“ 154 sowie eine „Bedrohung mit schweren, (. . .) unverzüglich auszuübenden Mißhandlungen“ verlangt wurde.155 Die Drohung musste sich gegen Leib oder Leben 146 Das Josephinische Gesetzbuch forderte „gewalttätige Bindung“; das ALR forderte in § 1052 „unwiderstehliche Gewalt“, wobei im Gegensatz dazu in § 1187, dem Tatbestand des Raubes lediglich „Gewalt an Menschen“ verlangt wurde; das BayStGB von 1813 spricht in Art. 186 von „körperlicher Gewalt“ im Sinne von „körperlicher Übergewalt“; vgl. v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 62 Art. 186; das Sächsische Revidierte StGB von 1868 verlangte in Art. 180 die Überwindung des ernstlichen Widerstandes durch Gewalt. 147 Vgl. v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 63 Art. 186. 148 Beseler, 1851, S. 314. 149 Beseler, 1851, S. 314; ebenso Müller, 1851, S. 144. 150 Beseler, 1851, S. 314; Goltdammer, 1852, S. 298; 1845, S. 170. 151 Beseler, 1851, S. 314. 152 § 131 (Notzucht mit gefährlicher Drohung): Auch ist dieses Verbrechens (Anm.: der Notzucht) schuldig, wer durch vorgezeigte mörderische Waffen und Drohungen, sich derselben zu gebrauchen eine Weibsperson zur Duldung der schändlichen Missbrauchung nöthiget. 153 § 1051 ALR. 154 Art. 186 BayStGB; vgl. dazu v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 61 f. unter Verweis auf die Ausführungen beim Tatbestand des Raubes S. 154 Art. 234. 155 Art. 180 Sächsisches Revidiertes StGB von 1868.

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richten, demnach eine (schwere) körperliche Misshandlung oder Verlust des Lebens androhen. Des Weiteren wurden stets Gegenwärtigkeit und eine gewisse Dringlichkeit der Drohung verlangt, also eine Vergleichbarkeit der Zwangslage mit dem gegenwärtigen physischen Zwang durch das Tatmittel der Gewalt.156 Im Hinblick auf die Drohung ist das Revidierte Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1868 hervorzuheben, weil es in seinem Notzuchttatbestand, Art. 180157, die Dreiecksnötigung ausdrücklich aufführte.158 In dem nachfolgenden Art. 181159 war ergänzend sogar die Strafbarkeit für Konstellationen, bei denen der Täter „durch Drohungen anderer als der in Art. 180 angegebenen Art“ die Frau zur Duldung des außerehelichen Beischlafes nötigte, sanktioniert.160 Diese Vorgehensweise ist einmalig und fand weder im Preußischen Strafgesetzbuch noch im Reichsstrafgesetzbuch einen Niederschlag. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 entschied sich vielmehr gegen eine Einbeziehung der Dreiecksnötigung, obwohl diese im Entwurf von 1847 noch vorgesehen war.161 Hauptargument bildete die entgegenstehende Rechtstradition des Gemeinen Peinlichen Rechts und des ALR.162 Des Weiteren wollte man einen Gleichlauf mit dem „analogen“ 163 Verbrechen des Raubes erreichen und jeglicher Bestrebung, die auf Leib und Leben beschränkte Drohung auszuweiten, entgegentreten.164 c) Mit Gewalt und wider ihren Willen – Unterschiede zum Gemeinen Recht? Das ALR zeigt in seinem Umgang mit dem Tatmittel der Drohung exemplarisch, dass zwischen den Begehungsformen der Gewalt und Drohung deutlich unterschieden wurde. Sie sind tatbestandlich strikt getrennt, die Tatvariante der 156

v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 62 Art. 186. Art. 180 (Nothzucht): Wer eine Frauensperson zu außerehelichem Beischlafe dadurch nöthigt, dass er ihren ernstlichen Widerstand entweder durch Gewalt überwindet, oder durch wörtliche oder thatsächliche Bedrohung mit schweren, gegen sie selbst oder ihre Angehörigen unverzüglich auszuübenden Mißhandlungen beseitigt, macht sich der Nothzucht schuldig. 158 Im Königlich Sächsischen Gesetz vom 8.02.1834 hatte man sich noch gegen deren Einbeziehung entschieden: Wächter, 1835, S. 281 ff. 159 Art. 181 (Ergänzende Bestimmung): Wenn eine Frauensperson durch Drohungen anderer als der im Art. 180 angegebenen Art zur Duldung außerehelichen Beischlafes vermocht, ingleichen wenn Gewalt oder Drohungen irgend einer Art gegen Frauensoder Mannesperson zu anderen unzüchtigen Zwecken ausgeübt worden sind, so tritt Gefängnisstrafe von einem bis zu sechs Monaten oder Arbeitshaus bis zu vier Jahren ein. 160 Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 233 verneinte die Bedrohung mit finanziellen Verlusten als vergewaltigungstaugliches Nötigungsmittel. 161 Beseler, 1851, S. 315. 162 Beseler, 1851, S. 315. 163 Goltdammer, 1852, S. 299. 164 Goltdammer, 1852, S. 299. 157

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Drohung ist mit einem milderen Strafrahmen versehen165 und der Gesetzestext spricht nur im Zusammenhang mit dem Nötigungsmittel der Gewalt von „nothzüchtigen“. Des Weiteren ist auffallend, dass in den oben genannten Kodifikationen die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung jeweils mit Adjektiven versehen werden, die eine restriktive Handhabung des Delikts betonen. Auf Grund dieser einschränkenden Anerkennung des Tatmittels der Drohung bzw. der (explizit normierten) hohen Anforderungen an die Qualität der Tatmittel wird die Tradition des gemeinrechtlichen Auslegungsverständnisses der Notzucht fortgeführt. Das restriktive Verständnis wird durch die schriftliche Fixierung sogar im Normtext festgeschrieben. Das Gedankengut der Aufklärung166 bewirkte somit, abgesehen von den erheblich milderen Strafen167 und der Einbeziehung auch der bescholtenen Frau als Tatobjekt, kein abweichendes materiell-rechtliches Verständnis vom Tatbestand der Notzucht. Dieses spiegelt vielmehr die Ansicht der Gerichtsmedizin wie auch bedeutender Philosophen und Dichter der Aufklärungszeit168 wie unter anderem Voltaire169, Diderot170 und Rousseau171 wider, dass eine Notzucht trotz „ernstlichen Widerstreben des Weibes“ kaum verübt werden könne.172 Ein Auszug aus Rousseaus „Emil oder Ueber die Erziehung“ soll dies verdeutlichen: „Man redet kaum noch von Notzucht, seitdem sie so wenig nötig ist und die Männer nicht mehr daran glauben,173 während sie in den ältesten Zeiten bei Griechen und Juden zu den gewöhnlichsten Verbrechen gerechnet wurde. Damals herrschte noch in den Ansichten eine natürliche Einfachheit, die uns durch unser zügelloses Leben verloren gegangen ist. Wenn in unseren Tagen wenige Fälle der Notzucht vorkommen, so hat dies seinen Grund nicht 165 Die Strafandrohung betrug bei Gewalt sechs bis acht Jahre Festungsstrafe, bei Drohung drei bis fünf Jahre. 166 Vgl. zur Strafrechtslehre der Aufklärung Vormbaum, 2. Aufl. (2011), S. 25 ff. 167 Statt der Todesstrafe der CCC in Art. 119 war beispielsweise im ALR sechs bis acht Jahre Festungsstrafe für Notzucht durch Gewalt angedroht. Lediglich im Fall des Todes des Opfers war noch die Todesstrafe im Bayerischen StGB von 1813 vorgesehen; vgl. v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 6 Art. 186. 168 s. dazu Henke, 1826, S. 202 ff.; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 544, § 105; Morstadt, 1855, S. 451 und insbesondere Vigarello, 2001, S. 42 ff. 169 Vgl. dazu sein Gleichnis vom Degen und der Scheide in Oeuvres complètes, 1877–85, S. 567; diesem Gleichnis beipflichtend Cella, 1787, S. 174 f. 170 „One never surrenders except by capitulation and if a place is defended at all, it cannot be taken by force“, in: Diderot, 1969, S. 98. 171 „Nature (. . .) has given the weaker part strength enough to resist if she chooses“, in: Rousseau, 1951. 172 s. Erster Teil: B.II.1. Vgl. auch Töngi, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 106 ff. 173 „Es kann freilich unter Umständen eine solche Ungleichheit des Alters und der Kraft stattfinden, daß eine wirkliche Notzucht vorkommt. Da ich aber hier von dem in der Ordnung der Natur begründeten Zustande beider Geschlechter rede, so betrachte ich sie beide in dem gewöhnlichen Verhältnis, welches diesem Zustande zugrunde liegt.“ Vgl. Rousseau, Emil oder Ueber die Erziehung.

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etwa darin, daß die Männer enthaltsamer geworden sind, sondern es erklärt sich dieser Umstand dadurch, daß die Menschen heutzutage weniger leichtgläubig sind, so daß eine derartige Klage, die ehemals bei den einfachen Völkern Glauben gefunden hätte, nur spöttisches Gelächter erregen würde – es ist vorteilhafter, zu schweigen. Im 5. Buche Mosis (Kap. 22, V. 23–27) steht ein Gesetz, nach welchem ein geschändetes Mädchen mit dem Verführer bestraft werden sollte, sobald das Verbrechen innerhalb der Stadt geschehen wäre. Für den Fall aber, daß es auf freiem Felde oder an abgelegenen Orten begangen wäre, sollte der Mann allein bestraft werden ,denn‘, sagt das Gesetz, ,er fand sie auf dem Felde, und die vertraute Dirne schrie, und war niemand, der ihr half‘. Diese nachsichtige Deutung lehrte die Mädchen, sich nicht an besuchten Orten überraschen zu lassen. Diese Verschiedenheit der Ansichten ist nicht ohne Einfluß auf die Sitten geblieben. Eine Folge derselben ist die heutige Galanterie. Da sich nämlich die Männer überzeugten, daß ihre Freuden doch mehr, als sie wähnten, von dem freien Willen des schönen Geschlechts abhingen, so haben sie dieselben durch gefälliges Entgegenkommen sich geneigt zu machen gesucht und sind reichlich dafür entschädigt worden.“ 174 Sexuelle Gewalt fiel somit größtenteils dem Schweigen anheim. Gewalt wurde als Bestandteil der sexuellen Initiative des Mannes und damit als eine der Frau nicht unwillkommene Gewalt (vis haud ingrata) angesehen.175 Das Verständnis von einer Vergewaltigungstat hatte sich im Rahmen der Aufklärung nicht gewandelt, Widerstand und Notzucht gehörten weiterhin eng zusammen.176 Die Wahrscheinlichkeit, mit dem Vorbringen, vergewaltigt worden zu sein, durchzudringen, blieb damit erschwert.177 Die Äußerung Mittermaiers178, dass in den neueren Kodifikationen das angedrohte Mindeststrafmaß häufig zu hoch angesetzt sei, vor allem in den Fällen, „wo der Thäter nach allen Umständen den Widerstand der Frauensperson nicht für ernstlich zu halten berechtigt war“, fügt sich in diesen Kontext nahtlos ein. Die obigen inhaltlichen Ausführungen179 im Hinblick auf die Erfolgsaussichten einer Beweisführung des Opfers, dass die Tat „mit Gewalt und wider ihren Willen“ vonstatten gegangen war, beanspruchen somit auch für das Auslegungsverständnis des Kodifikationszeitalters Gültigkeit.

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Rousseau, Emil oder Ueber die Erziehung. Dazu ausführlich im Zweiten Teil: B.II.1.b). Vgl. außerdem Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232 f. 176 Vgl. nur Bayerischer OGH, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft in Bayern 1868, S. 326: „trotz ihrer mit aller Gewalt geleisteten Gegenwehr“. 177 Auch in der Habsburger Monarchie kam es im 18. Jahrhundert äußerst selten zu einer Anzeige, geschweige denn einer Verurteilung wegen Notzucht; vgl. Reiter, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 46 ff. 178 v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 269. 179 s. Zweiter Teil: A.II.3.b). 175

102 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

d) Tatbestandliche Erfassung des Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen zum Geschlechtsverkehr Als deutlicher Fortschritt im Sinne des Opferschutzes ist die partiell erfolgende180 eigenständige tatbestandliche Sanktionierung der umstrittenen Fälle der Herbeiführung von Bewusstlosigkeit und ähnlichen Zuständen, um diese zum anschließenden Geschlechtsverkehr zu missbrauchen, zu bewerten.181 Das ALR siedelte einen derartigen Tatbestand sogar an erster Stelle im Abschnitt der Notzucht an.182 Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 erfasste derartige Geschehen zwar ebenfalls in einem eigenständigen Tatbestand, bewertet diese aber als geringeres Unrecht.183 Im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 wurde insgesamt die Konstellation des Missbrauchs zu sexuellen Handlungen in einem „bewusstlosen“ Zustand unter § 144 Nr. 2 als schwere Unzucht gefasst.184 Der Vorschlag, den tatbestandlichen Schutz entweder ganz oder teilweise zurückzunehmen, wenn mit „liederlichen“ betrunkenen Personen der Beischlaf vollzogen

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Das Josephinische Gesetzbuch sah hierfür keinen Tatbestand vor. Dazu auch Wächter, 1835, S. 285 ff. Diese Konstellationen erfassende Regelungen finden sich im ALR, dem BayStGB von 1813, dem Preußischen StGB von 1851 und dem Sächsischen Revidierten StGB von 1868 (Art. 182). 182 Vgl. § 1048 Wer eine unschuldige Frauensperson durch Getränke oder andere Mittel ihrer Sinne beraubt, um sie zur Wollust zu missbrauchen, soll, wenn er auch seinen Zweck nicht erreicht, mit drey- bis sechsmonathlicher, wenn aber die Schandtat wirklich verübt worden, mit vier- bis sechsjähriger Zuchthausstrafe belegt werden. 183 Art. 190 Wer eine Person durch arglistige Betäubung ihrer Sinne ausser Stand sezt, seine Lüste abzuwehren, und dieselbe in diesem Zustande zur Befriedigung seiner Wollust missbraucht, hat ein- bis vierjähriges Arbeitshaus verwirkt. Die Strafandrohung der Notzucht belief sich dagegen auf vier bis acht Jahre Arbeitshaus, verbunden mit jährlicher körperlicher Züchtigung und einsamer Einsperrung in dem Zuchtgefängnisse. In Art. 377 im Abschnitt über die Privatvergehen findet sich die Sanktionierung der bloßen Ausnutzung eines bewusstlosen Zustandes zu sexuellen Handlungen. Die bloße Ausnutzung eines solchen Zustandes wurde als Verwirklichung eines weitaus geringeren kriminellen Unrechts angesehen, weil der Täter die Widerstandsunfähigkeit nicht aktiv herbeigeführt hatte. Vgl. die Anmerkungen in v. Feuerbach/Gönner, 1814, S. 227. Art. 377 Wer eine wahnsinnige, blödsinnige, schlafende oder höchst Betrunkene Person zur Befriedigung der Wollust missbraucht, soll mit dreimonatlichem bis zweijährigem Gefängnisse bestraft werden. 184 § 144 Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren wird bestraft: (1) (. . .) (2) Wer eine in einem wissenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche Person zu einer auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichteten unzüchtigen Handlung missbraucht; (3) (. . .) Ähnlich das Sächsische Revidierte StGB von 1868 (Art. 182). 181

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werde, zeigt jedoch, dass der Opferstatus dieser Missbrauchsalternative nur unverleumdeten Personen vorbehalten war.185 e) Entwürfe zu einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für Deutschland Der gegenüber der Notzucht restriktive aufklärerische Zeitgeist kennzeichnet auch die Entwurfsschriften eine gemeinsame Strafgesetzgebung für Deutschland betreffend.186 Dementsprechend finden sich keine grundlegenden neuen Vorschläge im Zusammenhang mit diesem Delikt. Deshalb werden nur zwei Entwürfe herausgegriffen. Die Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung, eine von der ökonomischen Gesellschaft in Bern gekrönte Preisschrift von Globig/Huster aus dem Jahr 1783 steht ganz in der Tradition des Gemeinen Peinlichen Rechts. Das Verbrechen der „Nothzucht“ findet sich unter den fleischlichen Verbrechen im Anschluss an den „Ehebruch“ und die „Vielweiberey“. Als Nötigungsmittel werden die „Gewaltsamkeit“, die Widerstand verunmöglicht, und die „Androhung eines gegenwärtigen unvermeidlichen Schadens“ genannt.187 Die Drohung muss mittels einer Waffe vorgenommen werden, damit sie die für die Notzucht notwendige „Beträchtlichkeit“ erlangt.188 Das von einigen verlangte Erfordernis, dass das Opfer der Notzucht während der Tat „beständig geschrieen habe“, mildert der Entwurf dahingehend ab, dass dies nur bei Tatorten verlangt werde, an denen Hilfe leicht zugänglich sei.189 Als Strafe schlägt er „zehnjährige Knechtschaft mit Stockoder Rutenschlägen verbunden“ vor.190 Damit sah er jedoch nur die Beleidigung des Körpers und der Freiheit, die sich nur auf „einige Augenblicke“ erstrecke, als abgegolten an. Auf Grund des Umstands, dass die Ehre der Frau für „immer verlohren“ sei, fordert er eine Strafe, die auch „nach Ablauf der Knechtschaft unauslöschlich“ sei. Als Beispiel nennt er das Tragen eines „beständigen Zeichens“ durch den Täter als Ausdruck seiner Tat.191 Daneben soll dem Opfer „Privat-Genugthuung“ aus dem Vermögen des Täters zustehen.192 185 Beseler, 1851, S. 316: Man hielt derartige Konstellationen für unproblematisch und deshalb auch nicht für hervorhebenswert, weil man davon ausging, dass in solchen Fällen zum einen schon keine Anzeige erstattet und zum anderen keine gerichtliche Untersuchung eingeleitet werde. 186 Die Schriften von Gmelin, Christian Gottlieb, Grundsäze der Gesezgebung über Verbrechen und Strafen, eine der ökonomischen Gesellschaft in Bern zugeschikte, und von ihr des Drucks würdig erkannte Abhandlung, Linz 1786 und Dalberg, Karl Theodor von, Entwurf eines Gesetzbuchs in Criminalsachen, Frankfurt a. M.1792 bringen hinsichtlich des Verbrechens der Notzucht in den § 129 bzw. § V keinen neuen Erkenntniswert. 187 Jeweils Globig/Huster, 1969, S. 235. 188 Globig/Huster, 1969, S. 235. 189 Globig/Huster, 1969, S. 236. 190 Globig/Huster, 1969, S. 236. 191 Globig/Huster, 1969, S. 236.

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Der Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten von Kleinschrod aus dem Jahr 1802 regelt die Nothzucht äußerst kleinteilig und detailliert in den §§ 1509 ff. Er versteht darunter denjenigen „Beischlaf, zu welchem eine Weibsperson gegen ihren Willen durch unwiderstehliche List oder Gewalt gezwungen ward.“ 193 Aus § 1511 i.V. m. § 1248 ergibt sich, dass die List und die Gewalt „unwiderstehlich“ sein mussten.194 Gem. § 1249 des Entwurfs sollten der Gewalt Drohungen gleichstehen, die nach der „besonderen Lage“ des Opfers „die Freyheit ihres Willens entziehen“.195 Ausdrücklich wird in § 1512 gefordert, dass die Frau sich dem Beischlaf „beständig“ widersetzen müsse,196 nämlich bis zum Ende der Tat. Die Notzucht an einem ehrbaren Mädchen bzw. einer ehrbaren Witwe sollte mit sechs bis acht Jahre Zuchthaus bei schwerer Arbeit belegt werden (§ 1514). Im Anschluss finden sich detaillierte Vorschriften über Strafschärfungen, je nachdem, ob das Opfer die Braut eines Anderen (§ 1515), eine Klosterfrau (§ 1516) oder eine fremde Ehefrau (§ 1517) ist. Weiterhin war eine Strafmilderung vorgesehen, wenn es sich bei dem Opfer um eine Frau handelte, die schon auf Grund einer vorhergehenden Notzucht entehrt war (§ 1518), wenn das Opfer eine „liederliche Weibsperson“ war (§ 1519) oder wenn der Täter das Opfer aus „guten Gründen“ für eine solche Person halten durfte (§ 1520).197 Auffällig ist, dass auch die Notzucht eines Mannes durch eine Frau bestraft werden sollte, jedoch mit vier bis sechs Monate Arbeitshaus bei schwerer Arbeit erheblich milder als die Notzucht einer Frau (§ 1521).198 Hinsichtlich der Nötigungsmittel Gewalt und Drohung und des Widerstands von Opferseite sind in den Entwürfen keine Unterschiede zu den Partikularkodifikationen erkennbar. Die restriktive Haltung findet vielmehr deutlichen Niederschlag. In beiden Entwürfen wird offenbar, dass der Schwerpunkt des Unrechts weiterhin in dem Angriff auf die Geschlechtsehre gesehen wurde, die durch die Tat als unwiederbringlich verloren galt. Die Nähe zur CCC, die von dem Raub der Geschlechtsehre spricht, ist unverkennbar. Globig/Huster verlangen aus diesem Grund, dass auch der Täter sein Leben lang die Schande seiner Tat nach außen in die Öffentlichkeit tragen müsse. Des Weiteren führt diese Auffassung dazu, dass bei Kleinschrod ein Notzuchtstäter mit einer milderen Strafe privilegiert wird, wenn er sich ein Opfer aussucht, dass seine Ehre bereits durch eine Notzucht verloren hat. Der Kleinschrod’sche Entwurf muss insofern als innovativ 192 Globig/Huster, 1969, S. 236 f. Der Entwurf zur neuen Bambergischen peinlichen Gesetzgebung von Pflaum aus dem Jahr 1792 fügt sich hier mit den §§ 133 ff. nahtlos ein. 193 Kleinschrod, 1988, S. 202. 194 Kleinschrod, 1988, S. 202. 195 Kleinschrod, 1988, S. 202. 196 Kleinschrod, 1988, S. 241. 197 Kleinschrod, 1988, S. 241 f. 198 Kleinschrod, 1988, S. 242.

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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bezeichnet werden, dass er den männlichen Opferstatus berücksichtigt, wenn auch mit einer weitaus milderen Strafe. Im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 fand dies seine Fortführung, indem der Mann als Opfer einer Notzucht der Frau gleichgestellt wurde. Des Weiteren sticht das Nötigungsmittel der List hervor, indem es bis dato noch niemals als tatbestandsmäßig normiert worden war.

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 § 176 RStGB Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer (1) mit Gewalt unzüchtige Handlungen199 an einer Frauensperson vornimmt, oder dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nötigt; (2) eine in einem willenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche oder eine geisteskranke Frauensperson zum außerehelichen Beischlafe missbraucht,200 oder (3) mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. § 177 RStGB Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafes nöthigt,201 oder wer eine Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen willenlosen oder bewusstlosen Zustand versetzt hat.202 199 Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 174 Anm. 2: Der Begriff der unzüchtigen Handlung bestand aus einem objektiven und subjektiven Element. In objektiver Hinsicht musste die Handlung das „allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung“ nachteilig betreffen, in subjektiver Hinsicht wurde eine zugrunde liegende „wollüstige Absicht“ verlangt. Das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl sollte sich dabei nach dem „Volksbewußtsein“ und nicht nach dem Empfinden des Einzelnen richten, wobei die Auswirkung auf „das sittliche Gefühl der Allgemeinheit“ ausschlaggebend war. Die wollüstige Absicht war gegeben, wenn der Täter „seine eigene geschlechtliche Sinneslust“, den Geschlechtstrieb der notwendig beteiligten Person oder eines Dritten erregen wollte. Vgl. RGSt 28, 77, (78 f.) Als unzüchtig wurden demgemäß das Betasten der Geschlechtsteile, der Brust oder anderer Teile des Körpers aus Geschlechtslust sowie der Zungenkuss unter Männern betrachtet. Die Unzüchtigkeit eines Kusses wurde gegenüber erwachsenen Frauen verneint, gegenüber Kindern hing die Bewertung von den äußeren Umständen und der Intention des Handelnden ab. Vgl. Schönke, 2. Aufl. (1944), § 174 Anm. 1. 200 Diese Konstellation wird als Schändung bezeichnet. 201 Der erste Halbsatz beschreibt die „eigentliche“ Notzucht, einen erschwerten Fall der gewaltsamen Verübung unzüchtiger Handlungen (§ 176 RStGB). 202 Der zweite Halbsatz beschreibt die sog. uneigentliche Notzucht bzw. die (im Vergleich zu § 176 Nr. 2) qualifizierte Schändung.

106 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre ein. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.203

Der Einheitstatbestand des preußischen Strafgesetzbuchs in der Tradition des „code pénal“ wurde in Praxis und Literatur stark kritisiert204 und im Reichsstrafgesetzbuch nicht übernommen,205 so dass insoweit die Vorbildfunktion nicht griff. Dem Preußischen StGB wurde vorgeworfen, dass dessen Begriffsbestimmungen im Abschnitt der „Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit“ zu unbestimmt seien und Anforderungen enthalte, die ein „Moralist an die Sitte, nicht aber der Gesetzgeber an das Leben stellen dürfe.“ 206 Am Tatbestand des § 144 PreußStGB wurde kritisiert, dass dieser „von dem seit Jahrhunderten aufgestellten Begriff von Nothzucht“ abwich und „Fälle höchst verschiedenartiger Verschuldung“ zusammenwarf.207 Der deutsche Gesetzgeber entschied sich deshalb im Sinne der gemeinrechtlichen Rechtstradition dafür, § 177 RStGB als eigenständigen Tatbestand zu regeln und diesen auf die Erzwingung des außerehelichen Beischlafes zu beschränken. Des Weiteren wurde der Mann vom Opferkreis explizit ausgeschlossen, weil nur eine Frauensperson als potentielles Opfer in Frage kam.208 Der minder schwere Fall war darüber hinaus wieder eigenständig geregelt.209 Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871210 erfuhr die Notzucht demgemäß im 13. Abschnitt der Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit eine eigenständige Regelung.211 Die gewaltsame Vornahme anderer unzüchtiger Handlungen als der außereheliche Beischlaf wurde von § 176 RStGB erfasst.212 203 Auf Grund der nachfolgenden Novelle vom 26. Februar 1876 wurde das Antragserfordernis gestrichen, der Tatbestand ansonsten aber nicht geändert; vgl. Meves, 1876, S. 166. 204 Vgl. Dalcke, Archiv für Preußisches Strafrecht 1869, S. 90 ff.; His, 1967, S. 302 f., § 4; Hälschner, 1884, S. 229; Mittermaier, Archiv für Preußisches Strafrecht 1860, S. 299 f. 205 Reichstag des Norddeutschen Bundes, S. 67: dort noch unter § 175. 206 Reichstag des Norddeutschen Bundes, S. 66. 207 Jeweils Mittermaier, Archiv für Preußisches Strafrecht 1860, S. 299. Ebenso Dalcke, Archiv für Preußisches Strafrecht 1869, S. 90. 208 Meyer, 2. Aufl. (1871), S. 139. 209 Mittermaier, Archiv für Preußisches Strafrecht 1860, S. 300 sah dies als notwendig an, wenn das Opfer nicht in die „Kategorie“ der „ehrbare(n) (unverleumdete(n)“ Frau fiel. 210 RGBl. 1871, S. 127 ff. Dieses beruhte auf dem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, RGBl. 1870, S. 197 ff.; vgl. zur Entstehungsgeschichte Schubert/Vormbaum, 2002 und Schubert/Vormbaum, 2004. 211 Berner betont die Gleichheit dieses Tatbestandes im ersten Teil, bis auf das Erfordernis der „Unbescholtenheit“, mit dem der CCC; vgl. Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465. 212 Die Verleitung zum Beischlaf war weiterhin eigenständig in § 179 sanktioniert: § 179 Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs dadurch verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt oder einen anderen Irrtum in ihr erregt oder benutzt, in welchem

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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Hervorhebenswert ist der Umstand, dass von § 176 Nr. 1 RStGB auf Grund des Wortlauts „an einer Frauensperson“ und „Duldung“ das Abnötigen der aktiven Vornahme einer sexuellen Handlung an der Person des Täters nicht erfasst wurde. Die Rolle der Frau im Rahmen des Tatbestandes der Nötigung zu Unzucht wurde als eine rein passive angesehen. Die Nötigung zur Vornahme einer sexuellen Handlung, wie die orale bzw. manuelle Stimulation des männlichen Penis fiel damit unter § 240 RStGB.213 Der Tatbestand war insoweit „ungereimt“,214 blieb jedoch bis zum 4. StrRG von 1973 in dieser Fassung erhalten.

I. Geschützte Rechtsgüter Ab dem 19. Jahrhundert wurde in der Strafrechtswissenschaft rege darüber diskutiert, was den „materiellen Gehalt“ eines Verbrechens ausmache und was konkret durch ein Verbrechen verletzt oder gefährdet werde.215 Birnbaum beeinflusste diese Diskussion nachhaltig und gilt als Begründer der Rechtsgutstheorie.216 Er verwendete 1834 zum ersten Mal den Begriff der Rechtsgutsverletzung. Gemäß seiner Auffassung musste das „Merkmal der Verletzung“, verstanden als Teil des „Verbrechensbegriffs“, zwingend in „Beziehung“ zu einem „durch die Gesetze zu schützenden Gut gebracht werden“.217 Darauf beruhend nahm er auch eine „Classification der Verbrechen“ in „Verbrechen gegen das Gemeinwesen und Verbrechen gegen Individuen“ vor.218 Einige Jahrzehnte nach den Ausführungen Birnbaums wurde der Begriff des Schutzguts durch den des Rechtsguts ersetzt,219 so dass spätestens ab dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 mit sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. 213 Vgl. RGSt 26, 278, (279): Duldung sei in allen Varianten des § 176 RStGB eng zu verstehen, und zwar im Sinne eines „Erduldens“, eines „Übersichergehenlassens“; ebenso RG, Urteil vom 06.10.1927 – 2 D 622/27. RG HRR 1940 Nr. 186: Die Nötigung zur Vornahme der Onanie werde nur von § 240 RStGB erfasst. Vgl. außerdem Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 176 Anm. 2, 3; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 176 Anm. I.1; v. Olshausen, 1883, § 176 Anm. 5; Schönke, 1942, § 176 Anm. 3; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2d und e; Schwarz, 9. Aufl. (1940), § 176 Anm. C; LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.2: Duldung bedeutet „Unterlassung des Widerstandes“, also ein „Nichthandeln der betroffenen Person“. Dulden schließt „aktives Mitwirken und Mitwollen“ aus. 214 LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 178 Vor Rn.1. 215 Vormbaum, 2011, S. 81. 216 Vormbaum, 2011, S. 70 f. 217 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, 1834, S. 149 ff., 175 f. 218 Birnbaum, Archiv des Criminalrechts, 1834, S. 178 ff. 219 Vormbaum, 2011, S. 70 f. Zum materiellen Verbrechensbegriff und dem Begriff des Rechtsguts vgl. ausführlich Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 2 m.w. N.

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der Begrifflichkeit des Rechtsguts gearbeitet werden darf und gefragt werden muss, welche Rechtsgüter konkret durch § 177 RStGB geschützt werden sollten. In den folgenden Ausführungen wird hierbei auch auf die Schutzgüter des Gemeinen Peinlichen Rechts und der dargestellten Partikulargesetzgebungswerke Bezug genommen. Die eigenständige Regelung der Notzucht in § 177 RStGB von 1871 stand ganz im Sinne der gemein- bzw. deutschrechtlichen Rechtstradition,220 so dass sich der Tatbestand im 13. Abschnitt unter den „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ 221 wiederfand und als „fleischliches Verbrechen“ 222 verstanden wurde. Die Lokalisierung unmittelbar vor den Delikten gegen den Einzelnen deutet jedoch an, dass es sich bei den durch den Tatbestand der Notzucht geschützten Rechtsgütern nicht nur um Kollektivrechtsgüter handelte. In seiner systematischen Stellung spiegelt sich vielmehr eine individuelle und kollektive Schutzrichtung wider. Diese Ambivalenz ist charakteristisch für die Geschichte dieses Tatbestandes und seine Auslegung.223 1. Die Sittlichkeitsordnung Wie auch in der Mehrzahl der vorangehenden Partikulargesetzgebungswerke224 wurde das Delikt der Notzucht im Reichsstrafgesetzbuch als ein Delikt zum Schutz der Sittlichkeitsordnung225 angesehen. v. Liszt führte dazu aus: „Die geschlechtliche Sittlichkeit, d. h. die Einhaltung der durch Rechtsordnung und Sitte dem geschlechtlichen Verkehr gezogenen Schranken, ist kein um seiner selbst willen geschütztes Rechtsgut der Gesamtheit. Der heutige Staat hat in dem Rechtsinstitut der Ehe dem Geschlechtsleben seine Bahnen gewiesen und damit den mächtigsten aller Naturtriebe in den Dienst der gesellschaftlichen Zwecke gestellt“.226 Niethammer beschrieb Grund und Zweck dieser Vorschriften folgendermaßen: Der gottgegebene Fortpflanzungstrieb „führt zur engsten und vornehmsten Gemeinschaft innerhalb des Volkes, zur Familie. Durchbricht er aber 220 Vgl. Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1870, S. CII– CVI, wobei alle bis zum Reichsstrafgesetzbuch geltenden wichtigen Partikulargesetze und deren Regelung der Notzucht dargestellt sind; His, 1967, S. 302, § 4; 309, § 6. 221 Die Gliederung des Preußischen StGB wurde damit beibehalten. 222 His, 1967, S. 302. 223 Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 865 ff. 224 Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 nimmt hier eine absolute Ausnahmestellung ein; s. oben. 225 Zum Rechtsgutscharakter der Sittlichkeit und der Kritik, dass der Begriff der Sittlichkeit auf den sexuellen Aspekt reduziert wurde; vgl. H. Jäger, 1957, S. 29 ff. Binding, 2. Aufl. (1902), S. 194, § 49 lehnte ein Rechtsgut der Sittlichkeit ab; Hälschner, 1884, S. 220 f. ordnete die Notzucht den Delikten gegen die Person zu. 226 v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 536, § 103; Schwartz, 1914, 13. Abschnitt Vor § 171.

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die Schranken der Zucht, so entartet das Volk. Um dieser Entartung vorzubeugen, schützt das Gesetz die Einzelnen vor Angriffen auf die sittliche Reinheit“.227 Um die Sittenordnung des Volkes rein zu erhalten, musste demnach eine Strafbewehrung bestimmter Verhaltensweisen in den §§ 173 ff. RStGB erfolgen.228 Notzucht wurde als geschlechtlicher Verkehr verstanden, der den sittlichen Anschauungen nicht nur deshalb widersprach, weil er unter Einsatz von Nötigungsmitteln erzwungen wurde, sondern insbesondere auch auf Grund des Umstands der Außerehelichkeit. Der 13. Abschnitt sollte der „Bewahrung derjenigen Grundsätze, die nach der positiven Entwicklung innerhalb des Deutschen Volkes bezüglich der geschlechtlichen Verhältnisse gelten“,229 dienen. Des Weiteren wurde der strafrechtliche Schutz der geschlechtlichen Sittlichkeit für notwendig erachtet, um die Erhaltung des „staatlichen Ganzen“ und der „bürgerlichen Ordnung“ sicherzustellen.230 Der Tatbestand der Notzucht fand sich deshalb neben den Delikten, die nichttolerierte außereheliche sexuelle, also unzüchtige231 Verhaltensweisen sanktionierten, wie zum Beispiel die Blutschande, Entführung und widernatürliche Unzucht. Das Reichsgericht sah in der Notzucht die „schwerste Form des Verbrechens gegen die Sittlichkeit“, so dass dieses von der individuellen Beziehung zur Genotzüchtigten losgelöst zu betrachten sei.232 An der Betitelung des 13. Abschnitts mit „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ änderte sich auch im Dritten Reich nichts. Allerdings beeinflusste nationalsozialistisches Gedankengut die Auslegung dieses Abschnitts, so dass die kollektive Schutzrichtung eine Hervorhebung erfuhr. Als wichtigstes Rechtsgut wurde demnach die „völkische Sittenordnung“ 233 in den Vordergrund gerückt. Die „richtige sittliche Haltung des Volkes“ 234 sollte durch die Normen des 13. Abschnitts gefördert und gewährleistet werden. 2. Das Rechtsgut der weiblichen Geschlechtsehre In Art. 119 CCC wird die Tathandlung noch konkret als Raub der jungfräulichen bzw. fraulichen Ehre benannt. Unter anderem v. Liszt betonte, dass das Delikt der Notzucht in seiner Ausgestaltung durch die CCC damit die deutschrechtliche Tradition, dass dieses als ein selbständiges, gegen die weibliche Gechlechtsehre gerichtetes Verbrechen behandelt werde, fortführe.235 Das Hauptelement 227

Niethammer, 1950, S. 165. Vgl. auch RGSt 71, 109. 229 v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), S. 759 Anm. 1; Schönke, 4. Aufl. (1949), Vor § 173 Anm. I. 230 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 448. 231 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465. 232 RGSt 4, 23 (24). 233 Schönke, 1942, Vor § 171 Anm. I; Schönke, 2. Aufl. (1944), Vor § 173. 234 Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 195. 235 v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 544; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 231. 228

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der Strafbarkeit lag damit in der Kränkung, die durch dieses schwere Verbrechen der weiblichen Ehre und Würde zugefügt wurde, nachrangig in der Form des gewaltsamen Vorgehens.236 Aus dem Umstand, dass das Tatmittel der vis compulsiva auf die Androhung schwerer körperlicher Verletzungen oder des Verlustes des Lebens beschränkt war, geht hervor, dass dem Rechtsgut der weiblichen Ehre die gleiche Wertigkeit beigemessen wurde wie dem des Lebens und der Unversehrtheit des Körpers.237 Von einer ehrbaren Frau wurde erwartet, dass sie eine größere „Furcht vor fleischlicher Schändung“ hege als vor dem Tod.238 Vor diesem Hintergrund ist auch die im mittelalterlichen Recht239 verankerte Forderung an das Opfer einer Notzucht zu sehen, unmittelbar nach der Tat „mit fliegenden Haaren, zerrissenem Leib und wehe Geschrey vor das Gericht“ 240 zu laufen, um ihr Glaubwürdigkeit dahingehend zu unterstreichen, dass die Tat mit Gewalt geschehen sei. Hatte das vermeintliche Opfer zunächst Stillschweigen bewahrt, wurde dies als Indiz für eine Einwilligung in den Beischlaf gewertet241 bzw. als Indiz dafür, dass die Betroffene „keinen ernstlichen Widerstand geleistet haben werde“.242 Die immense Bedeutung der unbefleckten weiblichen Geschlechtsehre – diese wurde als „höchstes Gut“ 243 bzw. als „Hauptjuwel ihres Ehrenschatzes“ 244 angesehen – führte zunächst zum Ausschluss der Strafbarkeit wegen Notzucht an bestimmten Frauen. So war die Unbescholtenheit von der CCC bis zum Österreichischen StGB von 1768 noch zwingendes Tatbestandsmerkmal.245 Grol236 Hälschner, 1884, S. 221; Heffter, 6.Aufl. (1857), S. 231. Eine Vergewaltigung, obwohl gegen den Willen gewaltsam erfolgt, behaftete auch das Opfer stets mit einem Makel. Im Gemeinen Recht war deshalb auch der Umstand einer erlittenen Notzucht als Aufhebungsgrund für ein Verlöbnis von einigen Rechtsgelehrten anerkannt; vgl. Blätter für Rechtsanwendung, 1855, S. 360 Fn. 1. 237 Vgl. v. Feuerbach, 1801, S. 236 f., §§ 303, 304 und oben A.II. 238 Morstadt, 1855, S. 446. 239 Eine alte Rechtssitte, die in den Quellen der nachfränkischen Zeit weitergeführt wurde, verlangte, dass „die Verletzte sobald sie vermag, das Gerüfte erhebe, dass sie mit zerbrochenem Leibe, flatterndem Haare und zerrissenen Bändern die Untat verkünde.“ Vgl. Brunner, 2. Aufl. (1928), § 144. 240 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 245: Stand Aussage gegen Aussage, konnte der vermeintliche Täter nur dann der Tortur unterworfen werden, wenn diese Verhaltensweise des vermeintlichen Opfers vorlag. 241 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 245 bedient sich dabei des Jagdjargons und bezeichnet derartige Frauen als „Wildbreth“, die nur darauf warten, dass ein „Jäger“ sie „erhascht“. 242 Hannover (Nothzucht; Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 124. 243 U.a. His, 1967, S. 310, § 6; Wächter, 1835, S. 21. 244 Morstadt, 1855, S. 450. 245 Ebenso Preußisches StGB von 1721, CJBC von 1751, Österreichisches StGB von 1768. Die Auffassung des Sachsenspiegels in Lib. III. Art. 47, der diese Einschränkung ablehnte, ist vereinzelt geblieben; vgl. dazu Wächter, 1835, S. 32 f. Binding, 2. Aufl. (1902), S. 200, § 52 spricht von einer Veredelung des Tatbestandes, indem die „Unbescholtenheit“ in der CCC als Tatbestandsmerkmal normiert war. Nach Wächter, 1835,

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man verneinte das Vorliegen von Unbescholtenheit, wenn das vermeintliche Opfer einen derartigen Ruf aufwies, dass der Täter darin eine begründete Ursache finden konnte, dass ihr Widerstand nicht ernstlich aufzufassen gewesen sei.246 Hierunter fielen Frauen, die als Prostituierte arbeiteten,247 sowie Frauen, die gegen die Sittennorm, keinen außerehelichen Geschlechtsverkehr auszuüben, verstoßen hatten. Diese potentiellen Opfer waren im Rahmen eines Notzuchtsgeschehens gegenüber dem Täter benachteiligt, weil dieser sich auf die hierbei stets aufgestellte Vermutung, dass eine Zustimmung des Opfers vorgelegen habe, berufen konnte.248 Eine Prostituierte bzw. eine aus anderem Grund bescholtene Frau konnte im strafrechtlichen Sinne nicht genotzüchtigt werden, weil ihr zum einen schon abgesprochen wurde, überhaupt noch über eine zu raubende weibliche Geschlechtsehre zu verfügen,249 und ihr zum anderen darüber hinaus jegliche schützenswerte geschlechtliche Integrität versagt wurde. Das Rechtsgut der weiblichen Ehre ist auch der Grund dafür, dass die gesetzliche Strafe der Notzucht in einigen Fällen eine Milderung erfahren konnte. Die Strafe der Notzucht im Gemeinen Recht war beispielsweise eine „extraordinari“, wenn der Täter glaubhaft vortragen konnte, dass er von den geänderten Lebensverhältnissen der ursprünglich beleumdeten Person nichts gewusst habe.250 Des Weiteren erfolgte eine Milderung, wenn das Opfer durch „ihre unzüchtige Aufführung“ 251 oder „durch ihr Benehmen selbst Gelegenheit und Anreiz“ 252 zur Tat gegeben hatte, sowie, wenn das Opfer die Heirat mit dem Notzüchtiger verlangt hatte.253 Eine Heirat wurde als individuelle Teilkompensation für die erlittene Schmach des Opfers gewertet; weil jedoch der Täter sich durch seine Tat gegen das Kollektiv, die Sittenordnung der Gemeinschaft aufgelehnt hatte, konnte lediglich eine Straf-

S. 27 f. verlor eine Frauensperson bereits dann ihr Unverleumdetheit, wenn sie mit einem Mann außerehelich Geschlechtsverkehr hatte; darüber hinaus konnte sie nach dessen Ansicht ihre Unverleumdetheit entgegen Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244 auch nicht mehr durch eine auf Dauer angelegte und nicht nur zum Schein musterhafte Lebensführung wiedererlangen. 246 v. Grolman, 1805, § 240. Dieser ordnete die Notzucht in seinem Buch unter die Delikte „Von den Verbrechen, welche die Freiheit des Menschen in Ansehung seines Körpers und Entschlusses vorübergehend beschränken“ ein; vgl. v. Grolman, 1805, S. XXIII. 247 v. Feuerbach, 1801, S. 235, § 302. Die Notzucht an Prostituierten wurde als crimen vis behandelt; vgl. Cella, 1787, S. 179. 248 Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 426. 249 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 243. 250 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244. 251 v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 762. 252 Hannover (Nothzucht; Gemeines Recht), Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege 1857, S. 125. 253 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 762 f.; Tittmann, 2. Aufl. (1822), S. 438, § 213. Im CJBC von 1751 waren diese beiden Umstände als Strafmilderungsgründe explizit aufgeführt.

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milderung eintreten.254 War die Tat im Versuchsstadium stecken geblieben, weil beispielsweise das Opfer die Tat durch ihre „mannhafte Abwehrung“ verhindert hatte, konnte ebenfalls eine Strafmilderung eintreten.255 In einzelnen Kodifikationen ab Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich die Bewertung des Delikts der Notzucht, indem nicht mehr ausschließlich der Raub der weiblichen Geschlechtsehre als Kernunrecht der Notzucht angesehen wird,256 sondern auch die Verletzung der persönlichen bzw. geschlechtlichen Freiheit. Dies hatte zur Folge, dass auch bescholtene Frauen genotzüchtigt werden konnten, wobei allerdings regelmäßig eine Strafmilderung eintrat.257 Diese Vorgehensweise wurde auch auf die Auslegung des Gemeinen Peinlichen Rechts übertragen.258 Diese Rechtstradition wurde vom Reichsstrafgesetzbuch fortgeführt,259 indem es weiterhin den Schutz vor dem Verlust der weiblichen Geschlechtsehre intendierte, wenn auch nicht mehr als wesentliches Element.260 Nach Binding bestand das Rechtsgut der Geschlechtsehre in einem Dreifachen: „in der Regelung des eigenen Geschlechtslebens innerhalb der Schranken von Recht und Sitte; darin auch nicht als Objekt oder Werkzeug fremder Wollust gedient zu haben, endlich darin, nicht behufs Erregung, Steigerung oder Befriedigung des Geschlechtstriebes fremde Gechlechtsehre verletzt zu haben.“ 261 Das Reichsgericht betonte zwar in RGSt 24, 201,262 dass durch die §§ 176 ff. StGB „vornehmlich“ der geschlechtlichen Freiheit und Integrität Schutz zuteil werde. Die Geschlechtsehre sollte dagegen primär in den Anwendungsbereich der §§ 185 ff. RStGB fallen.263 In zahlreichen Entscheidungen des Reichsgerichts (und auch des Bundesgerichtshofs) wurde die Geschlechtsehre jedoch weiterhin als Rechtsgut des § 177 StGB eingestuft und die Trennung von § 177 RStGB und § 185 RStGB nicht strikt voll-

254 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244 beschreibt als Strafe die Verweisung des Täters außer Landes, wobei ihm das Opfer nun als Ehefrau folgen musste. 255 Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 244. 256 Dazu Morstadt, 1855, S. 449 f. 257 Vgl. §§ 130, 131 des Josephinischen Strafgesetzbuches; Art. 1058 ALR; Art. 184 K. S. Revidiertes StGB; v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 265 m.w. N. 258 Tittmann, 2. Aufl. (1822), § 211. 259 Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1870, S. 67, §§ 174 u. 175; Hälschner, 1884, S. 230; Ort, 1933, S. 13; Binding, 2. Aufl. (1902), S. 194, § 49; Binding, 2. Aufl. (1902), S. 200, § 52 bedauerte, dass die Ehrbarkeit des weiblichen Opfers in den neueren Kodifikationen nicht mehr Tatbestandsmerkmal war; ebenso Wächter, 1835, S. 272 f. 260 RGSt 4, 23 (24); RGSt 65, 337. 261 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 194, § 49. 262 RGSt 24, 202. 263 A. A. Binding, der die Notzucht von jeher „an erster Stelle gegen Ehre und Geschlechtsehre der Frau“ gerichtet sah, so dass auch keine Tatmehrheit zwischen der Notzucht und der Beleidigung möglich sei; vgl. Binding, 2. Aufl. (1902), S. 201, § 52.

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zogen.264 Auf Grund dieses Umstands konnte der Begriff der Bescholtenheit265 seinen Einfluss auf § 177 RStGB und StGB behalten, so dass Umstände, die auf eine angebliche Bescholtenheit des Opfers hinwiesen, nach allgemeiner Ansicht zwingend auf der Ebene der Strafzumessung beim minder schweren Fall strafmildernd zu berücksichtigen waren.266 Neben dem Strafmilderungsgrund der Bescholtenheit wurde es als strafmildernd gewertet, wenn „die Frauensperson durch ihr Benehmen den Thäter gereizt267 oder durch ihr Benehmen nach der Tat gezeigt hat, daß sie dieselbe nicht als Schmach empfinde.“ 268 Diese Verhaltensweisen standen konträr zum Verständnis des weiblichen Ehrbegriffs269 und führten demnach zwingend zu einer Herabsetzung der Strafe. In Gerichtsakten fand sich demgemäß auch regelmäßig ein Zeugnis über den Leumund der Klägerin. Verteidigungsvorbringen, die die Sittlichkeit der Geschädigten in Frage stellten, waren keine Seltenheit und konnten auch einen Freispruch bewirken.270 Als Ausfluss der teilweisen Lösung vom Rechtsgut der weiblichen Geschlechtsehre war unbestritten, dass eine Vollendung dieses Deliktes bereits mit Vereinigung der Geschlechtsteile eintrat, wobei weder ein vollständiges Eindringen des Penis noch eine emissio seminis oder gar immissio seminis verlangt wurde.271 Eine eingetretene Schwangerschaft diente aber als Strafschärfungsgrund. Auch

264 Vgl. u. a. RGSt 45, 344; RGSt 65, 337; RG JW 1938, S. 2734; RGSt 77, 82; BGH GA 1956, S. 317; BGHSt 11, 102; BGH, Urteil vom 08.06.1960 – 2 StR 248/60; BGHSt 21, 188 (§ 236 a. F.); Elster/Lingemann, 1936, S. 229; auch Knodel argumentierte noch mit der weiblichen Gechlechtsehre; vgl. Knodel, 1962, S. 160 f. Zur diesbezüglichen Rechtsprechung des RG und des BGH vgl. ausführlich Schroeder, 1975, S. 18 und Sick, 1993, S. 310 ff. 265 Vgl. RGSt 37, 94, (95): „Der Begriff fordert gleichmäßig in allen Ständen und Gesellschaftsklassen – in allgemeiner Umschreibung – Reinheit der Geschlechtsehre.“ Es muss eine „geschlechtliche Verdorbenheit“ vorliegen. „Bescholten ist regelmäßig ein Mädchen, das vorher freiwillig und bewusst den Beischlaf gestattet hat; darüber hinaus begründet aber auch ein sonstiges in der sittenlosen Gesinnung des Mädchens wurzelndes unzüchtiges Treiben die Annahme geschlechtlicher Bescholtenheit“; vgl. Sch/Sch, 14. Aufl. (1969), § 182 Rn. 2 und RGSt 37, 94, (95). 266 Meyer, 2. Aufl. (1871), S. 139; Ort, 1933, S. 13; Weisbrod, 1891, S. 42. 267 Die Notzucht wurde als reines Triebdelikt verstanden; zum Strafmilderungsgrund der sexuellen Tatprovokation in der heutigen Rechtsprechung s. Dritter Teil: E. 268 Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1870, S. 67, §§ 174 u. 175: „und dass die Verletzte vorher den Thäter, welcher wegen ihres vorherigen Benehmens berechtigt war, einen Widerstand nicht zu erwarten, zur That angereizt hat oder auch, dass sie durch ihr späteres Benehmen zu erkennen gibt, dass sie die That selbst als eine ihr angethane empfindliche Schmach nicht ansieht.“ Vgl. auch His, 1967, S. 310, § 6. 269 Die weibliche Ehre kann am empfindlichsten verletzt werden und beruht darauf, ihr „Geschlechtsleben rein der sittlichen Bestimmung gemäß bewahrt zu haben“; vgl. Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 231. 270 Vgl. näher Hommen, 1999, S. 39, 129 ff., 133 ff. 271 Harnack, 1914, S. 42 f.

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Mädchen im Kindesalter waren taugliche Notzuchtsopfer, ein bestimmtes Alter oder gar Empfängnisfähigkeit wurden von der Rechtsprechung nicht verlangt.272 Unumstritten273 war im Gemeinen Recht die Rechtsauffassung, dass der Verlust bzw. die Kränkung der weiblichen Ehre nicht durch den Ehemann im Rahmen einer ehelichen Vergewaltigung bewirkt werden konnte, weil der Ehemann berechtigt war, den Beischlaf einzufordern.274 Festgemacht wurde dies an dem Tatbestandsmerkmal der Gewalt, die rechtswidrig bzw. ungerecht sein musste.275 Dem Ehemann kam ein „vollkommenes Recht“ auf den Beischlaf zu, so dass eine Strafbarkeit wegen erzwungenem ehelichen Geschlechtsverkehr nicht in Betracht kam, außer die sexuelle Handlung stellte einen Exzess dar.276 Diese Auffassung setzte sich im Reichsstrafgesetzbuch fort, wobei argumentiert wurde, dass die Vornahme des Beischlafs zwischen den Eheleuten grundsätzlich keine unzüchtige Handlung darstelle277 und ein entgegenstehender Wille der Ehefrau sowie Gewaltanwendung durch den Ehemann an dieser Qualität nichts zu ändern vermöge, weil dieses Verhalten „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung“ 278 nicht verletze.279 Es kam höchstens eine Strafbarkeit wegen „Unzucht mit Gewalt“ gem. § 176 Nr. 1 RStGB im Falle eines Exzesses in Betracht. Dies war der Fall, wenn anormale Handlungen außerhalb des geschlechtlichen Verkehrs bzw. „schamlose oder scheußliche Verirrungen“ 280 erzwungen wurden.281 Eine nicht mehr hinnehmbare „geschlechtliche Brutalität“ wurde zum Beispiel in der Vornahme sexueller Handlungen in Gegenwart Dritter, insbesondere der gemeinschaftlichen Kinder, sowie in der Vornahme des Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit gesehen.282 Allerdings nahm „die Ehe 272

RGSt 4, 24; Ort, 1933, S. 11 m.w. N. Tittmann, 2. Aufl. (1822), § 211 erkennt eine Notzucht unter Eheleuten, mit dem Argument, dass auch andere Misshandlungen gegenüber dem Ehegatten strafbar seien, an. Allerdings versieht er derartige Konstellationen mit einer deutlich milderen Strafe. 274 U.a. Cella, 1787, S. 177; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232. 275 Vgl. v. Feuerbach, 1801, S. 237, § 305: „Die angewendete Gewalt zur Unterwerfung unter die Begierde mußs rechtswidrig seyn.“ Ebenso v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 752. 276 v. Feuerbach, 1801, S. 237, § 305; Morstadt, 1855, S. 453; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 753. 277 RGSt 71, 109 (110). 278 Schwartz, 1914, § 174 Anm. 2. 279 RGSt 71, 109 f.; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2b. 280 RGSt 71, 109 (111). 281 v. Frank, 5.–7. Aufl. (1908), § 176 Anm. I.; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 3; Weisbrod, 1891, S. 46. Was unter anormalen geschlechtlichen Handlungen zu verstehen war, wurde nicht einhellig beurteilt, allerdings waren die Grenzen weit gesteckt; teilweise wurde der Anal- und Oralverkehr darunter gefasst; vgl. Göb, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879, S. 417 ff. und Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 438. 282 RGSt 71, 109 (110); Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2. 273

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einer Reihe von Handlungen zwischen den Gatten die Unzüchtigkeit“ 283 bzw. wurde ehelichen sexuellen Handlungen generell der Charakter der Unzüchtigkeit abgesprochen und die Anwendung von § 176 Nr. 1 RStGB demnach strikt verneint.284 Eine Strafbarkeit des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau war damit im 13. Abschnitt gar nicht bzw. nach § 176 RStGB nur in absoluten Ausnahmefällen vorgesehen. Die „normale“ Vornahme des Geschlechtsverkehrs durch den Ehemann mit den Nötigungsmitteln des § 177 RStGB war höchstens als Nötigung, § 240 RStGB,285 oder als Körperverletzung, § 223 I RStGB, strafbar.286 Der Vorgang wurde juristisch bagatellisiert, indem er lediglich als Nötigung, als bloße, wenn auch strafbare, Beeinflussung des Willens der Ehefrau287 bewertet wurde.288 Als – zynisch anmutendes – Argument hierfür wurde vorgebracht, dass das Institut der Ehe eine intimes sei und jeder staatliche Eingriff sich störend hinsichtlich der Harmonie auswirke, wobei Übergriffe in sexueller Hinsicht sich durch die „Innigkeit dieser Gemeinschaft“ wieder von selbst ausgleichen würden.289 Litt eine Frau unter dem „Ungestüme ihres Mannes“ 290 gab es demnach nur zwei Möglichkeiten: entweder sie fügte sich still oder führte die Scheidung herbei, was mit erheblichen gesellschaftlichen und finanziellen Nachteilen verbunden war. Eine bereits auf Grund entgegenstehender gesellschaftlicher Konventionen nur in engen Grenzen vorhandene weibliche sexuelle Selbstbestimmung endete damit mit Eingehung der Ehe.

283

Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2. Vgl. die Schilderungen eines Falls aus der Praxis von Göb, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879, S. 417 ff. Dabei wurde der wegen erheblicher körperlicher Misshandlungen, Bedrohung und gewaltsamer Unzucht (er hatte seine Ehefrau mehrmals zum Oralverkehr gezwungen) angeklagte Ehemann in zweiter Instanz hinsichtlich § 176 Nr. 1 RStGB freigesprochen, weil dem Verteidigungsvorbringen, dass die Ehefrau sich in der Ehe unsittliche Verhaltensweisen zu Schulden hatte kommen lassen und dass der Angeklagte den von seiner Ehefrau mehrmals initiierten Oralverkehr während der Ehe strikt abgelehnt hatte, Glauben geschenkt wurde. Die Strafe wurde auf vier Monate Gefängnisstrafe herabgesetzt. 285 Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 176 Anm. 2; v. Liszt, 20. Aufl. (1914), S. 375 f., § 105; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 536, § 105. Es wurde allerdings teilweise auch hier an der „Widerrechtlichkeit“ gezweifelt, weil der Ehemann einen Anspruch auf den ehelichen Geschlechtsverkehr habe. 286 Auch an der von Bett und Tisch geschiedenen Ehefrau konnte der Ehemann nach herrschender Meinung das Verbrechen nicht begehen; vgl. His, 1967, S. 310, § 6; a. A. Binding, 2. Aufl. (1902), S. 200, § 52; Stenglein, 1989, S. 201. 287 RGSt 71, 109 (110). 288 Levy, 1932, S. 38 f. 289 RGSt 71, 109 (110); Weisbrod, 1891, S. 46. Dieses Argument wurde auch im Rahmen der Reformdiskussionen hinsichtlich der Frage nach der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe immer wieder vorgebracht. 290 Weisbrod, 1891, S. 46. 284

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3. Rechtsgut der „männlichen“ Geschlechtsehre? Die Möglichkeit der Notzucht eines Mannes durch eine Frau wurde im Gemeinen Peinlichen Recht291 fast durchwegs verneint. Im Bayerischen StGB von 1813 war der Mann in den Opferkreis der Notzucht ausdrücklich als Opfer dieser „Gewaltthat“ miteinbezogen.292 Allerdings konnte auf Grund der „Verschiedenheit des Geschlechts“ diese Tat nur von Tätern männlichen Geschlechtes begangen werden.293 Diese Auffassung, die auch dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 zu Grunde lag, konnte sich jedoch im Reichsstrafgesetzbuch nicht durchsetzen. Ein erwachsener Mann war weder als Opfer gewaltsamer Unzucht, § 176 RStGB, noch als Opfer einer Notzucht, § 177 RStGB, anerkannt,294 und schon gar nicht in der Konstellation einer Frau als unmittelbarer Täterin. Zum einen wurde die Vorstellung, dass eine Frau einen Mann mit physischer Gewalt derartig nötigen könne, abgelehnt,295 zum anderen wirkte die Auffassung des Gemeinen Rechts, dass dem Mann keine „Junggesellenehre“ geraubt werden könne, fort.296 Indem die Notzucht die weibliche Ehre in ihrem Kern verletzte, wurde der Mann vom Opferkreis ausgeschlossen.297 Der Schutz durch § 240 RStGB in den als äußerst selten angenommenen Fällen wurde als ausreichend angesehen.298

291 Hierzu Berner, 18. Aufl. (1898), S. 464; Cella, 1787, S. 178; Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 235; v. Quistorp, 5. Aufl. (1794), S. 752, § 488. Unzucht mit Gewalt an Männern durch Frauen wurde „extraordinarie“ „nach Willkür“ abgestraft, demnach als crimen vis behandelt, weil kein Tatbestand dafür vorgesehen war; vgl. Frölich von Frölichsburg, 1709, Anderter Tractat, S. 248; v. Grolman, 1805, § 239; Tittmann, 2. Aufl. (1822), § 211 bejahte die Möglichkeit der Notzucht eines Mannes durch eine Frau, wobei er hierfür eine deutliche Strafmilderung vorsah. 292 s. A.III.2. 293 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 60, Art. 186. 294 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 200, § 52. 295 Vgl. Ort, 1933, S. 11; Schneider, Ueber Nothzucht, 1850, S. 12. 296 Mit diesem Argument wurde auch die Notzucht an einem Mann durch einen männlichen Täter verneint; vielmehr wurde diese Konstellation unter den Tatbestand der „Widernatürlichen Unzucht“, Art. 116 CCC (§ 175 RStGB) subsumiert; vgl. Morstadt, 1855, S. 447 f. und Wächter, 1835, S. 23. Der Begriff der „widernatürlichen Unzucht“ erklärt sich aus der Auffassung, dass die „naturwidrige Unzucht“ niemals Beischlaf genannt werden könne. Berner war der Ansicht, dass die Neigung zur naturwidrigen Unzucht unter Strafgefangenen entstehe, weil „der von seiner naturgemäßen Befriedigung abgedrängte mächtige Trieb sich immer gewaltiger naturwidrige Bahnen bricht“; vgl. Berner, 18. Aufl. (1898), S. 461. 297 Weisbrod, 1891, S. 38. 298 Vgl. Binding, 1902, S. 200, § 52, der sich kritisch hinsichtlich der geringen Strafandrohung in § 240 RStGB äußerte; v. Liszt, 20. Aufl. (1914), S. 375, § 105; Ort, 1933, S. 11, der die Konstellation des männlichen Täters überhaupt nicht diskutiert; Weisbrod, 1891, S. 38.

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4. Die geschlechtliche bzw. sexuelle Freiheit Das Bayerische StGB von 1813299 und das Revidierte StGB für das Königreich Sachsen von 1868 hatten innerhalb der anderen Kodifikationen eine Sonderstellung eingenommen. Im ersteren wurde die Notzucht im Kapitel über „Beschädigungen und andern Mißhandlungen an der Person“ direkt im Anschluss an die Körperverletzungstatbestände platziert, im zweiten war die Notzucht im Kapitel „Von Verbrechen gegen die persönliche Freiheit“ in den Art. 180, 181 im Anschluss an die Tatbestände des Raubes und der räuberischen Erpressung normiert.300 Der Schutz individueller Güter durch den Tatbestand der Notzucht wurde damit in den Vordergrund gerückt. Das Revidierte StGB für das Königreich Sachsen von 1868 sah von diesem Delikt neben der persönlichen Freiheit ebenfalls die weibliche Geschlechtsehre als betroffen an, indem es in Art. 184 bestimmte, dass die Strafe „bis auf Arbeitshaus von einem Jahr herabgesetzt werden“ kann, wenn es sich bei dem Opfer um eine Prostituierte handelt „oder wenn dieselbe durch ihr Benehmen nach der That zu erkennen gegeben hat, dass sie die ihr angethane Schmach nicht als solche empfinde“. Das Bayerische StGB von 1813 beschrieb die Notzucht (Art. 186) als „zweifachen Angriff auf die Persönlichkeit eines Menschen“, nämlich als einen Angriff sowohl auf die physische als auch die psychische Integrität, wobei als Folge ein „bedeutender Schaden“, oftmals auch die Zerstörung des „ganzen Lebensglückes“ eintreten könne.301 Diese Neuausrichtung des Schutzes an dem Persönlichkeitsrecht des Opfers wurde in keiner anderen Kodifikation des 19. Jahrhunderts so vollzogen. Der Tatbestand der Notzucht wurde dadurch von seiner bis dahin bestehenden Verknüpfung mit der weiblichen Geschlechtsehre losgelöst. Der Mann wurde ausdrücklich im Normtext als potentielles Opfer dieser „Gewaltthat“ 302 hervorgehoben. Diese Auffassung, die auch das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 vertrat, konnte sich jedoch im Reichsstrafgesetzbuch nicht durchsetzen, insofern blieb das Strafgesetzbuch von 1813 ohne Nachwirkung. Unbestrittenermaßen sollte

299 Das Bayerische StGB von 1861 verlagerte die Notzucht jedoch wieder in den Abschnitt über die „Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit“; vgl. Stenglein, 1989, S. 197. 300 Art. 180 (Nothzucht): Wer eine Frauensperson zu außerehelichem Beischlafe dadurch nöthigt, dass er ihren ernstlichen Widerstand entweder durch Gewalt überwindet, oder durch wörtliche oder thatsächliche Bedrohung mit schweren, gegen sie selbst oder ihre Angehörigen unverzüglich auszuübenden Mißhandlungen beseitigt, macht sich der Nothzucht schuldig. Art. 181 (Ergänzende Bestimmung): Wenn eine Frauensperson durch Drohungen anderer als der im Art. 180 angegebenen Art zur Duldung außerehelichen Beischlafes vermocht, ingleichen wenn Gewalt oder Drohungen irgend einer Art gegen Frauens- oder Mannesperson zu anderen unzüchtigen Zwecken ausgeübt worden sind, so tritt Gefängnisstrafe von einem bis zu sechs Monaten oder Arbeitshaus bis zu vier Jahren ein. 301 v. Feuerbach/Gönner, 1813, S. 59, Art 186. 302 s. o.

118 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

der Tatbestand der Notzucht im Reichsstrafgesetzbuch aber auch dem Schutz des Individualrechtsguts der geschlechtlichen bzw. sexuellen Freiheit dienen.303 Dieses wurde definiert als „die freie Selbstbestimmung über den geschlechtlichen Verkehr“ 304, verstanden als selbständiges, mit dem Rechtsgut der Freiheit verwandtes Interesse, „das aber wegen der sozialen Bedeutung des Geschlechtslebens auch mit der Ehre, wegen dessen physiologischer Wichtigkeit (insbesondere für das Weib) auch mit der körperlichen Unversehrtheit in Beziehung steht“.305 Die Notzucht wurde als „Musterfall der gewaltsamen Verletzung der geschlechtlichen Freiheit“ angesehen.306 Indem die geschlechtliche Freiheit als „Teilgebiet der allgemeinen geschlechtlichen Sittlichkeit“ 307 angesehen wurde, erfuhr die „freie Selbstbestimmung über das eigene Geschlechtsleben“ 308 eine Beschneidung durch sittliche bzw. moralische Erwägungen und eine Verankerung im kollektiven Rechtsgut der Sittlichkeit. 5. Ausblick – Das 4. StrRG von 1973 Die Lokalisierung der Notzucht im Kontext der Sittlichkeitsdelikte blieb bis 1973 erhalten. Erst durch das 4. StrRG von 1973309 erfuhr der Tatbestand des § 177 StGB eine neue Ausrichtung, indem der 13. Abschnitt mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung betitelt wurde und das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung und damit richtigerweise die individuelle Schutzrichtung in den Vordergrund trat.310 Über 100 Jahre nach Entstehung des Reichsstrafgesetzbuchs wurde das überkommene Rechtsgut der Sittlichkeit durch das Individualrechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung311 abgelöst.

303

Binding, 2. Aufl. (1902), S. 194, § 49; Mezger, 1949, S. 52, § 21. v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 176 Anm. I; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 536, § 103. 305 v. Liszt, 20. Aufl. (1914), S. 368, § 103. 306 v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 103. 307 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 102. 308 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 102. 309 BGBl. I S. 1725. Vgl. dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn 7 ff.; § 177 „Entstehungsgeschichte“; Müting, 2010, S. 143 ff.; Sturm, JZ 1974, S. 1 ff. 310 Vgl. dazu D.II. Zu den Kontroversen bezüglich dieses Begriffs vgl. Schroeder, in: FS Welzel, 1974, S. 859 ff., insbesondere 876 ff.; Sick, 1993, S. 79 ff. 311 Dieser abstrakte Begriff wird im Kontext der einzelnen Tatbestände konkretisiert. 304

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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II. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 RStGB 1. Gewalt a) Körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung Wie schon im Gemeinen Recht erfasste der Gewaltbegriff des Reichsstrafgesetzbuchs sowohl vis compulsiva als auch vis absoluta.312 Allerdings wurden diese Begrifflichkeiten nun anders verstanden. Unter vis absoluta fiel nach der herrschenden Meinung die absolute Gewalt, die jegliche Willensentschließung und -betätigung unmöglich macht. Unter vis compulsiva wurde nicht mehr der nur psychisch wirkende Zwang der Drohung verstanden, sondern willensbeugende Gewalt in Form einer gegenwärtig zugefügten physischen Zwangswirkung, die noch Raum für eine Willensentschließung und -betätigung lässt.313 Als Gewalt im Sinne des §§ 176 Nr. 1, 177 RStGB wurde nach ständiger Rechtsprechung die „unter Anwendung physischer Kraft erfolgende Einwirkung auf einen anderen zur Beseitigung eines tatsächlich geleisteten oder bestimmt erwarteten Widerstandes“ 314 definiert.315 Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 177 RStGB wurde als Gewalt gegen eine Person gelesen,316 obwohl ein derartiger Zusatz – im Gegensatz zum Tatbestand des Raubes – in § 177 RStGB fehlte.317 Dabei wurde argumentiert, dass man als Notzucht schon immer nur die „directe körperliche Vergewaltigung“ eingestuft habe, so dass der Zusatz gegen eine Person unnötig und überflüssig sei.318 Aus dem Umstand, dass sich „die Gewalt gegen die Person der Missbrauchten selbst richten“ 319 musste, folgerte die

312 RGSt 2, 287 ff.; RGSt 48, 346 ff. Insofern herrschte fast absolute Einigkeit in Schrifttum und Praxis; vgl. dazu auch Wanjeck, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879, S. 196. Abweichend Binding, der nur vis absoluta als Gewalt ansah; vgl. Binding, 2. Aufl. (1902), S. 82 f. 313 Vgl. zum damaligen Streitstand Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 240 Anm. 3 m.w. N. 314 RGSt 56, 87, (88); RGSt 64, 113, (115); RGSt 77, 81, (82); RG JW 1935, S. 2734; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 176 Anm. I.1; Hälschner, 1884, S. 223; v. Staudinger, 19. Aufl. (1934), § 176 Anm. 3; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 1.d. 315 Vgl. auch RGSt 63, 227 und Knodel, 1962, S. 33 f. m.w. N. 316 Dazu Dritter Teil: A.II.2. 317 RGSt 64, 113, (117); ebenso v. Frank, 5.–7. Aufl. (1908), § 176 Anm. I; Hälschner, 1884, S. 223; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 177 Anm. 2; Schwartz, 1914, § 177 Anm. 2. 318 Villnow, 1875, S. 20. Ebenso Ort, 1933, S. 26; Ort ging es auch zu weit, eine Nötigung mit Gewalt anzunehmen, wenn der Täter das Opfer durch „Aushungern“ zum Geschlechtsverkehr zwang. A. A. Wanjeck, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879, S. 199, der den Begriff im Gleichlauf zu § 240 RStGB auslegen will. 319 RGSt 64, 113 (117).

120 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Rechtsprechung, dass die Zwangswirkung eine körperliche sein müsse.320 Gerade für das Gebiet der Sittlichkeitsverbrechen wurde hervorgehoben, dass eine seelische Zwangswirkung zur Tatbestandsverwirklichung nicht ausreichen könne.321 Denn „zum Wesen des Verbrechens der Notzucht gehört die besondere Art der Zwangsmittel, die der Täter gebraucht.“ 322 Eine Erweiterung des Tatbestands „auf Zwangsmittel anderer Art“ würde deshalb dem „Grundgedanken des § 177 widersprechen“.323 Als klassischen Fall sah man die Aufwendung erheblicher physischer Kraft an.324 Allerdings wurde auch mittelbare Gewalt in Form der Kraftentfaltung „durch ein Mittel“ 325 als Gewalt qualifiziert.326 Das Einsperren327 konnte somit taugliche Gewalt darstellen, weil und solange die „Anwendung physischer Kraft wenigstens mittelbar als Gewalteinwirkung“ 328 das Opfer selbst traf. Gewalt gegen Dritte wurde deshalb im Schrifttum nur von einer Minderheit als tatbestandsmäßig im Sinne des § 177 RStGB anerkannt,329 die reine „Gewalt gegen Sachen“ 330 war von jeher nicht in den Tatbestand des § 177 RStGB miteinbezogen. Vollendet war der Tatbestand der Notzucht, sobald der Täter in die Vagina des Opfers einzudringen begann und dies „unter der Einwirkung von Gewalt“ 331 vonstatten ging.

320

RGSt 64, 113 (117). RGSt 64, 113 (117). 322 Glöckner/Schubert, 1995, § 177 Nr. 7 zu RG, Urteil vom 13.12.1937 – 3 D 911/37. 323 Glöckner/Schubert, 1995, § 177 Nr. 7 zu RG, Urteil vom 13.12.1937 – 3 D 911/37. 324 RGSt 63, 227 (228). 325 v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 52 Anm. I.1. 326 RGSt 64, 113 zu §§ 176, 177 RStGB; RGSt 13, 49 und RGSt 60, 157 zu § 240 RStGB; RGSt 27, 405 zu § 113 StGB; RGSt 69, 327, (330) zu § 249 RStGB; RGSt 73, 344, (345) zu § 252 RStGB; v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 176 Anm. I.1 i.V. m. § 52 Anm. I.1; Ebermayer, 1920, § 176 Anm. 1 i.V. m. 113 Anm. 7a. Villnow schloss die Konstellation des Einschließens als Nötigungsmittel der Gewalt in den §§ 176, 177 RStGB aus, weil von diesen Tatbeständen von jeher nur die direkte physische Gewalt erfasst gewesen sei Villnow, 1875, S. 20. 327 RGSt 13, 49, (50 f.); RGSt 27, 405, (406); RGSt 69, 327, (330); RGSt 73, 343, (344); v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 52 Anm. I m.w. N. Das Reichsgericht qualifizierte auch die Abgabe von Schreckschüssen als Gewalt i. S. d. § 240 RStGB; vgl. RGSt 60, 157, (158). Das Versperren des Weges durch eine Menschenmenge wurde sogar als Gewalttätigkeit i. S. d. § 125 RStGB angesehen; vgl. RGSt 45, 153, (156 f.). 328 RGSt 64, 113 (116). 329 Holtzendorff, 1874, S. 311; Wanjeck, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879. Im Rahmen des § 176 Nr. 1 RStGB lehnte man schon auf Grund der Wendung „mit Gewalt . . . an einer Frauensperson“ mittelbare Gewalt in Form von Gewalt gegen Dritte ab; vgl. Wanjeck, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1879, S. 196 f. 330 Dazu Dritter Teil: A.II.2.e). 331 RG JW 1934, S. 2335. 321

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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Umstritten war die Frage der Gewalt in Fällen der gewaltlosen Beibringung von Betäubungsmitteln332 bzw. Anwendung von Hypnose.333 Relevanz kam diesem Problem insbesondere im Rahmen des § 176 Nr. 1 RStGB, der gewaltsamen Vornahme unzüchtiger Handlungen zu. Denn zum einen sanktionierte § 177 I Hs. 2 RStGB ausdrücklich die sogenannte uneigentliche Notzucht, also die Betäubung und die Hypnose in der verbrecherischen Absicht, in diesem Zustand eine Frau zum außerehelichen Geschlechtsverkehr zu missbrauchen, und zum anderen erfasste § 176 Nr. 2 RStGB die Konstellation des bloßen Ausnutzens eines solchen Zustandes beim Opfer zum außerehelichen Geschlechtsverkehr. Dabei war es für die Anwendung dieser Tatbestände irrelevant, ob die Frau ihr Einverständnis z. B. mit der durch einen Arzt angeratenen Narkotisierung erklärt hatte, solange keine Einwilligung in den späteren Geschlechtsverkehr vorlag.334 § 176 Nr. 2 RStGB erfasste auch die Sachverhalte, in denen der spätere Täter das Opfer selbst in den maßgeblichen Zustand versetzt hatte und erst dann die Absicht fasste, die Frau zum Geschlechtsverkehr zum missbrauchen. Der Unterschied zu § 177 I Hs. 2 RStGB lag demnach allein in der Frage, mit welcher Intention der willenlose Zustand herbeigeführt worden war.335 Strafbarkeitslücken336 konnten 332 Vgl. H. Rohleder, Vorlesungen, 4. Aufl. (1920), S. 60 ff., der darauf hinweist, dass die Narkose bei Frauen sexuelle Phantasien erzeuge und diese deswegen nur im Beisein eines Kollegen vorgenommen werden solle. 333 Vgl. zur wissenschaftlichen Einordnung der Hypnose sowie zu den damit zusammenhängenden juristischen Fragen Anfang des 20. Jahrhunderts den ausführlichen Aufsatz von Lilienthal, ZStW 1887, S. 281 ff., 350 ff. Ob Willenlosigkeit auf Grund von Hypnose gegeben war, hing von den Umständen des Einzelfalls ab; vgl. Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 176 Anm. 6. 334 Schwartz, 1914, § 177 Anm. 3; Schönke/Schröder, 12. Aufl. (1965), § 177 Rn. 5. 335 Lilienthal, ZStW 1887, S. 361; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 10. Die Auslegung von § 176 Nr. 2 RStGB war im Übrigen umstritten, insbesondere die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Willenlosigkeit. Streit herrschte über die Frage, ob eine Frau auch dann als willenlos i. S. d. Vorschrift gelten konnte, wenn sie ihren Willen zwar äußern, aber auf Grund von z. B. Fesselung nicht durchsetzen konnte. Die herrschende Meinung lehnte hierbei die Annahme einer Willenlosigkeit ab; vgl. RGSt 27, 422, (424 ff.); Binding, 2. Aufl. (1902), § 53 Anm. 1; v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 176 Anm. 2 m.w. N.; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 10a; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 3b; Schwarz, 9. Aufl. (1940), § 176 Anm. 2. A A. Schönke, 2. Aufl. (1944), § 176 Anm. 2a. Das bedeutete, dass in Konstellationen, in denen eine Frau unter dem Vorwand, dass dies z. B. zur ärztlichen Behandlung notwendig sei, gefesselt worden war und anschließend zum Geschlechtsverkehr missbraucht wurde – unabhängig davon, ob die Missbrauchsabsicht schon bei der Fesselung vorgelegen hatte oder nicht – der Täter weder aus § 176 Nr. 2 RStGB noch aus § 177 I Hs. 2 RStGB bestraft werden konnte. Es konnte lediglich eine Strafbarkeit wegen §§ 185 oder 239, 13 RStGB eintreten; vgl. dazu u. a. Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 17; kritisch Lilienthal, ZStW 1887, S. 377. Die heute streitige Frage, ob Gewalt auch durch Unterlassen ausgeübt werden kann, wurde damals im Rahmen der §§ 176 Nr. 1, 177 RStGB nicht diskutiert. Das RG hatte allerdings in RGSt 13, 49 f. für den Tatbestand der Nötigung diese Frage bejaht und sah z. B. auch in der durch „Aufrechterhaltung eines ohne verbrecherischen Vorsatz herbeigeführten Zustandes der Freiheitsentziehung“ den Begriff der Gewalt („durch ein Unterlassen“) als erfüllt an. Nach 1945 griff Eser diese Frage bejahend für den Tatbe-

122 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

demnach auftreten, wenn an einer Frau in einem willenlosen Zustand andere sexuelle Handlungen als der Geschlechtsverkehr vorgenommen wurden. Vielfach wurde die Betäubung des Opfers unter vis absoluta subsumiert, indem der Fokus auf die dadurch entstehende körperliche Zwangswirkung gelegt wurde.337 Diejenigen jedoch, die beim Gewaltbegriff die Notwendigkeit der körperlichen Kraftentfaltung betonten, unterschieden danach, ob das Betäubungsmittel unter Aufwendung von Körperkraft beigebracht worden war oder aber gewaltlos.338 Das Reichsgericht lehnte es im Zusammenhang mit dem Raubtatbestand ab, den gewaltlosen Einsatz von Betäubungsmitteln als Gewalt anzusehen und argumentierte dabei mit der Vorschrift des § 177 RStGB, woraus hervorgehe, dass eine „heimliche“ Betäubung gerade nicht unter Gewalteinsatz, sondern vielmehr unter „List“ 339 falle, weil es ansonsten der eigenständigen Regelung dieses Sachverhaltes im zweiten Halbsatz nicht bedurft hätte.340 Im Rahmen einer Entscheidung zu § 176 Nr. 1 RStGB in der Konstellation einer hypnoseartigen Willensbeeinflussung stellte sich das Reichsgericht auf den Standpunkt, dass Gewalt schon deswegen verneint werden müsse, weil es zwar nicht an der körperlichen Kraftentfaltung, aber an der körperlichen Zwangswirkung fehle, diese vielmehr nur als seelische zu qualifizieren sei.341

stand des Raubes auf; vgl. Eser, NJW 1965, S. 379 f. Vgl. außerdem die Nachweise bei Küper, 8. Aufl. (2012), S. 180. In Fällen, in denen der Mann glaubhaft vortragen konnte, dass die Frau noch vor Eintritt der Bewusstlosigkeit z. B. in Form der Volltrunkenheit ihre Einwilligung zum späteren Geschlechtsverkehr abgegeben habe, konnte dieser gänzlich straffrei ausgehen. Die Einwilligung konnte dabei auch konkludent erteilt werden. Binding führt als Beispiel den Missbrauch einer betrunkenen Prostituierten an, wobei man hierbei stets von einer Einwilligung ausgehen könne, wenn diese „durch ihren Wandel erklärt hat, Jedermanns Dirne sein zu wollen“; vgl. Binding, 2. Aufl. (1902), § 53 Anm. 3. Letztendlich waren die Umstände des Einzelfalls maßgebend; vgl. Schwartz, 1914, § 176 Anm. 3c. 336 Wenn überhaupt, war eine Strafbarkeit wegen tätlicher Beleidigung gem. § 185 RStGB oder Freiheitsberaubung gem. § 239 RStGB gegeben. 337 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 201, § 52; v. Buri, Gerichtssaal. Beilagenheft, 1878, S. 18 f.; v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 52 Anm. I.1. m.w. N.; Lilienthal, ZStW 1887, S. 376; Ort, 1933, S. 28 f.; Schönke, 2. Aufl. (1944), § 249 III.1. Bejahend im Rahmen des § 240 RStGB v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 240 Anm. 2; verneinend im Rahmen des § 176 Nr.1 RStGB v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5. 338 RGSt 56, 87, (89); RGSt 58, 98 f.; Levy, 1932, S. 26 ff. m.w. N.; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 98. 339 Jeweils RGSt 56, 87, (89). 340 RGSt 56, 87, (89); ebenso RGSt 58, 98 f.; a. A. v. Buri, Gerichtssaal. Beilagenheft. 1878, S. 18 f. und Winkler, 1908, S. 44 ff. m.w. N. Die Entscheidung des RG in RGSt 72, 349, (351 f.), in der das Vorhalten eines mit Betäubungsmittel getränkten Wattebausches als Gewalt qualifiziert wurde, geht wiederum auf den durch das nationalsozialistische Strafrecht geschaffenen § 2 RStGB zurück, der nach Ansicht des RG in diesem Fall eine Bestrafung wegen Raubes gem. § 249 RStGB in analoger Anwendung gebot. 341 RGSt 64, 113 (115 ff.).

B. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

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b) Durch Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? Bei der Frage, ob der Beischlaf „mit Gewalt und gegen den Willen“ der Frau stattgefunden hatte, wird bereits in den Kommentierungen zum Gemeinen Peinlichen Recht stets betont, dass dieses Tatbestandsmerkmal nur gegeben sei, wenn die Tat ausschließlich auf dem Einsatz der Nötigungsmittel des Täters beruht und nicht auf der Nachgiebigkeit der Geschwächten.342 In der Aufklärungszeit wurde das Tatbestandsmerkmal der Gewalt als Ausdruck dieser Ansicht mit Adjektiven wie „unwiderstehlich“ oder ähnlichem versehen. Im Reichsstrafgesetzbuch war eine derartige Beschaffenheit der angewandten Gewalt nicht normiert, jedoch wurde immer wieder darauf verwiesen, dass eine solche zur Bejahung des Tatbestandes verlangt werden müsse,343 und zwar in der Art, dass die Angegriffene nach dem „Maße ihrer Kräfte“ 344 und den jeweiligen Umständen nicht widerstehen konnte oder in entschuldbarer Weise nicht Widerstand leisten zu können glaubte. Der Ansicht, dass der Tatbestand des § 177 RStGB ein bestimmtes Maß an Gewalt voraussetze, so dass jeglicher Widerstand durch deren Einsatz überwunden werden könne,345 trat das Reichsgericht jedoch entgegen.346 Der Gewalteinsatz musste aber konkret der Widerstandsüberwindung dienlich gewesen und vom Täter auch bewusst zu diesem Zweck eingesetzt worden sein,347 so dass die Widerstandsleistung des Opfers bei der Frage nach dem Einsatz von Gewalt nichtsdestotrotz das ausschlaggebende Moment bildete.348 Auf Opferseite war die Dokumentation des entgegenstehenden Willens durch „fortgesetzten ernstlichen Widerstand“ 349 verlangt.350 Dass Notzuchtshandlungen regelmäßig körper342 s. bereits A.II.3.b) sowie Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232 f.; v. Feuerbach/Mittermaier, 1847, § 266; Morstadt, 1855, S. 450 f., § 266. 343 Holtzendorff, 1874, S. 310; Schwartz, 11.–14. Aufl. (1914), § 176 Anm. 2.d.; a. A. Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 11. 344 Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2d. Für den Tatbestand des Raubes, § 249 RStGB, wurde dagegen die Notwendigkeit der Unwiderstehlichkeit abgelehnt; vgl. Schwartz, 11.–14. Aufl. (1914), § 249 Anm. 4.a. 345 Weisbrod, 1891, S. 42. 346 RG JW 1935, S. 2734; RG JW 1938, S. 789; RG JW 1938, S. 2734. Im Rahmen der Rechtsprechung zum Tatbestand des § 240 RStGB wurde ebenfalls keine „Unwiderstehlichkeit“ der Gewalt gefordert und es für unerheblich erklärt, ob das Opfer einer Nötigung bei „Aufwendung von Aufmerksamkeit“ einen Ausweg aus der Nötigungslage hätte finden können; vgl. RGSt 13, 49. 347 RG JW 1925, S. 2135; RG, Urteil vom 12.10.1928 – 1 D 588/28; RGSt 63, 227; RG HRR 1940, S. 1423. 348 Vgl. Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 11: „fehlt es an dem letzteren (Anm. der Verf.: der Widerstandsleistung), so bleibt der § ausgeschlossen“. 349 Großes Badisches Oberhofgericht, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft in Deutschland 1878, S. 74. 350 RGSt 3, 181; RG JW 1925, S. 2136; RGSt 77, 81, (82); Ebermayer, 4. Aufl. (1929), S. 23 ff.; Meves, 1876, § 176 Anm. 3d; Schaeffer, 1932, S. 40; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 449.

124 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

liche Abwehrhandlungen auslösten, war allgemeine Überzeugung.351 Nachdem Widerstand jedoch auch als Bestandteil freiwilliger sexueller Interaktionen betrachtet wurde,352 legte man darauf Wert, dass die Ernstlichkeit des Widerstandes durch das Verhalten der Frau genügend zum Ausdruck gekommen war.353 Den Gegenbeweis zu einer eventuellen Nachgiebigkeit konnte das Opfer somit nur antreten, wenn es sich ernsthaft gewehrt, sein „Widerstreben“ 354 also deutlich gezeigt hatte. Ansonsten lag der Verdacht nahe, dass nur vis haud ingrata bzw. vis grata355 zum Einsatz gekommen war. Diese genügte – worauf in sämtlichen Lehrbüchern und Kommentaren zum Reichsstrafgesetzbuch hingewiesen wird – zur Erfüllung des objektiven Tatbestands jedoch nicht. Vis haud ingrata bedeutet „nicht unwillkommene Gewalt“, vis grata „willkommene Gewalt“. Unter anderem das Axiom der (Gerichts)Medizin und Sexualwissenschaft, dass Gewalt von Seiten des Mannes und ein Sträuben und Zieren von Seiten der Frau Teil jeder sexuellen Interaktion zwischen Mann und Frau sei und Frauen durch die Vornahme von Gewalt sexuell stimuliert würden,356 führte zur Konstruktion der vis haud ingrata im Kontext der Notzucht. Eine vis haud ingrata sollte dann vorliegen, wenn sich die Frau nur aus Scham gegen den Geschlechtsverkehr zierte. Das Sträuben wurde nicht als ernstlicher Widerstand bewertet, so dass der Mann auf gegenteilige Willensäußerungen keine Rücksicht mehr nehmen musste und hiergegen gerichtete Gewalt nicht als tatbestandsmäßig angesehen wurde.357 Olshausen verneinte hier das Vorliegen eines „rechtlichen Gegenwillens“.358 Wann le351 RG JW 1935, S. 2734; Binding, 2. Aufl. (1902), § 52, S. 201; Levy, 1932, S. 24; Villnow, 1875, S. 20 betont, dass der Widerstand mit Körperkraft geleistet werden müsse. Für den Raub war dagegen anerkannt, dass bereits „ein dem Schutz der Habe dienender Hilferuf als Widerstandsleistung gegen deren Wegnahme angesehen werden kann“; vgl. RGSt 69, 331. 352 s. Erster Teil: B.II. 353 Vgl. die Urteilsfeststellungen des Schwurgerichtshofs von Konstanz, das ein absolut brutales Vorgehen des Täters beschreibt und den Widerstand des Mädchens als ein fortgesetztes Abwehrverhalten durch Schreien und Gegenwehr, in: Schwurgerichtshof Konstanz, Archiv für Gemeines Deutsches und Preußisches Strafrecht 1876, S. 377 sowie Ort, 1933, S. 23; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 449. Wulffen betont, dass selbst ein von einem objektivem Beobachter als ernstlich bewerteter Widerstand in bestimmten Konstellationen nicht den Beweis für eine Notzucht erbringen könne, weil es Mädchen gebe, die aus Eitelkeit oder aus Furcht vor einer Schwangerschaft die Manneskraft erproben bzw. erobert werden wollten. Dies beträfe vor allem den Geschlechtsverkehr unter Studenten, Soldaten usw. mit deren Mädchen. 354 Binding, 2. Aufl. (1902), § 52, S. 201. 355 U. a. Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465; Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 176 Anm. 2; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 176 Anm. I.1; Hälschner, 1884, S. 280; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105; Mezger, 1949, S. 58; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Schaeffer/Hinüber, 1932, S. 40; Schwarz, 9. Aufl. (1940), § 176 Anm. C. 356 s. dazu Erster Teil: B.II. 357 Holtzendorff, 1874, S. 311; Mezger, 1949, S. 58; Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 11. 358 v. Olshausen, 1883, § 176 Anm. 4.

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diglich ein Zieren gegeben war, wurde „hauptsächlich aus der Art und dem Maß des geleisteten Widerstands“ und unter anderem „aus der von dem Frauenzimmer selbst dargebotenen, aber nicht vermiedenen verführerischen Gelegenheit, aus dem unterlassenen oder schwachen Hilfsgeschrei, wo Hilfe möglich war“, erschlossen.359 Immerhin sollten auch „die Bestürzung und Angst der Angegriffenen in Erwägung“ 360 gezogen werden. Bei geringfügiger Gewalt wurden regelmäßig ein wirklicher Zwang und damit eine Nötigungsabsicht des Täters verneint.361 Hierbei floss das Kriterium der Unwiderstehlichkeit mit ein, indem eine Gewaltanwendung, wodurch „die angegriffene Frauensperson etwa zu Boden geworfen worden, jedoch noch nicht so fest danieder gehalten worden wäre, dass sie nicht die Möglichkeit behalten hätte, wieder aufzustehen oder sich ihres Gegners sonst auf eine Weise zu erwehren“,362 als geringfügig angesehen wurde. Darin sah man vielmehr einen jedem Geschlechtsverkehr innewohnenden Gewaltanteil in Form einer vis haud ingrata, eine „bloße(n) Dringlichkeit des Mannes“ 363, die nach herrschender Meinung schon den objektiven Tatbestand ausschloss.364 Der Sachverhalt wurde also stets daraufhin überprüft, ob die eingesetzte Gewalt noch Verteidigungsmöglichkeiten offen gelassen hatte.365 Ernsthafte Gewalt bewirkte den vollkommenen Verlust der „freien Verfügungsfähigkeit“ über den Körper des Opfers.366 Je mehr körperliche Verletzungen eine Frau aufweisen konnte, desto eher wurde ihr bescheinigt, dem Angriff auf ihre Ehre aufrichtig entgegengetreten zu sein.367 Die Gerichtspraxis war streng und verlangte, dass das Opfer mit allen Kräften versuchte, sich dem Ansinnen des Täters zu entziehen. Das Unterlassen von Hilferufen wurde regelmäßig als Indiz für nicht ausreichenden Widerstand gesehen,368 was von Schwarze kritisiert wurde, weil auf das jeweilige Maß der Einsicht und die individuellen Tatumstände abgestellt werden müsse.369 Dem Vorbringen des Opfers, es sei durch das Verhalten des Täters völlig eingeschüchtert gewesen, wurde mit Misstrauen begegnet. „Auch zerrissene Kleider und zerraufte Haare reichen in vielen Fällen nicht aus, wenn die Behauptungen des Beschuldigten hierfür eine andere Erklä359

Jeweils Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232 f. Heffter, 6. Aufl. (1857), S. 232 f. 361 Holtzendorff, 1874, S. 311. 362 Weisbrod, 1891, S. 42 f. 363 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465. 364 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465; Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 176 Anm. 2; Hälschner, 1884, S. 280; Holtzendorff, 1874, S. 311; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105; Mezger, 1949, S. 58; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Schaeffer/Hinüber, 1932, S. 40; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2d. 365 Weisbrod, 1891, S. 42 f. 366 Weisbrod, 1891, S. 42 f. 367 Brock, International Journal of Legal Medicine 1927, S. 741. 368 Vgl. RG HRR 1942, Nr. 743. 369 Holtzendorff, 1874, S. 311. 360

126 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

rung zulassen“.370 Eine Widerstandsleistung wurde nur dann nicht verlangt, wenn der Täter zwar Widerstand erwartete, das Maß der Gewalt jeden Widerstand aber von vornherein ausschloss.371 Entgegen unterinstanzlicher Auffassung forderte die „herrschende Rechtsprechung“ nicht, dass „der Widerstand nachweisbar bis zur Beendigung des Beischlafs angedauert habe“.372 Der Widerstand musste jedoch solange durchgehalten werden bis sich „die Überzeugung von der Hoffnungslosigkeit weiteren Widerstandes“ aufgedrängt hatte,373 durch das Übermaß von Gewalt und der daraus folgenden geringen Abwehrmöglichkeiten eine Lähmung des Willens auf Grund von Angst und Verzweiflung374 oder auf Grund des „nach Kräften geleisteten Widerstandes“ 375 Erschöpfung eingetreten war.376 Lagen diese Umstände aber vor, konnte auf Grund des anschließenden Duldens des Geschlechtsverkehrs kein Einverständnis damit angenommen werden.377 Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass die Notzucht eines einzelnen Mannes gegen den ernstlichen Widerstand einer Frau schwer vorstellbar sei,378 so dass ein großer Kräfteunterschied zwischen Täter und Opfer zur Glaubhaftigkeit einer Anzeige beitrug.379 Wurde in einem Sachverhalt objektiv tatbestandsmäßige Gewalt bejaht, so konnte die Figur der vis haud ingrata dennoch – über den subjektiven Tatbestand – eine Straflosigkeit des Täters herbeiführen. Der Vorsatz des Täters konnte ausgeschlossen werden, wenn seiner Aussage nach das Sträuben ihm als ein nicht ernstliches erschienen war.380 Denn dann lag keine Nötigung gegen den Willen 370 Elster/Lingemann, 1936, S. 232 mit Fallkonstellationen, die belegen, wie schwer es war, mit einer Anzeige wegen Notzucht Gehör zu finden; so war die Praxis der Auffassung, dass eine Notzucht über eine lange Zeitspanne wie z. B. fünf Stunden nicht stattfinden könne, weil man die Möglichkeit eines durchgehenden Nötigungszwangs verneinte. 371 Elster/Lingemann, 1936, S. 228; v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 52 Anm. I; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5. 372 Jeweils RG JW 1934, S. 2335. 373 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 201, § 52. 374 Ort, 1933, S. 23 f.; Weisbrod, 1891, S. 42 f. 375 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 466. 376 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 466; Schwartz, 1914, § 177 Anm. 2. 377 RG JW 1935, S. 2734; RG HRR 1940 Nr. 1211. Dass die Vergewaltigte sexuelle Lust während des Vorganges empfindet (!), sah Levy nicht als tatbestandsausschließend an, weil die Wirkung der Tat strafrechtlich irrelevant sei; vgl. Levy, 1932, S. 31. 378 Levy, 1932, S. 22, 31; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 177 Anm. 4; Ort, 1933, S. 23; Weisbrod, 1891, S. 43. 379 Vgl. das Urteil des RG in RG HRR 1942, Nr. 743 und Elster/Lingemann, 1936, S. 228. Immerhin weist dieser daraufhin, dass auch körperlich starke Frauen aus Angst vor schweren Folgen und unter dem Einfluss von Alkohol in ihrem Widerstand erlahmen können. 380 RG LZ 1926, S. 936 ff.; RG JW 1935, S. 2734; Elster/Lingemann, 1936, S. 228; Holtzendorff, 1874, S. 311; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 177 Anm. I; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105; Mezger, 1949, S. 58.

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der Frau vor, sondern nach der Auffassung des Täters ein (tatbestandsausschließendes) Einverständnis. Gemäß dem Reichsgericht waren an den Vorsatzausschluss – zumindest auf dem Papier – strenge Anforderungen zu stellen, nämlich dass sich der Täter „vorher über die Einwilligung der Angegriffenen Gewissheit verschafft“ hatte.381 Ging er davon aus, dass der ihm entgegengebrachte Widerstand „vielleicht ernstlich“ sei, die Frau den Geschlechtsverkehr also nur infolge der Gewaltanwendung dulde und er trotzdem auf diese Gefahr hin handelte, begründete diese innere Einstellung bedingten Vorsatz.382 Allerdings erkannte auch das Reichsgericht – ohne es explizit so zu benennen – das Verhaltensbild der vis haud ingrata an, indem es ausführte, dass eine wirkliche Einwilligung nach erfolgter Gewaltanwendung den Notzuchtversuch nicht straflos machen könne, aber für die Beweiswürdigung hinsichtlich des Vorsatzes insofern von Bedeutung sei, ob der Täter nicht von Anfang an „an eine Einwilligung geglaubt und die Gegenwehr für eine nur scheinbare gehalten hat“.383 Gerade weil von einer Frau gegenüber jeder sexuellen Initiative als erste Reaktion Widerstand erwartet wurde, wurde dem Mann zugestanden, dass er „ein wenig Sperren und Zieren“ 384 nicht als ernstlichen Widerstand ansah.385 Dabei sollte durch genaue Recherchen, Tatortbesichtigungen und eingehende Vernehmungen der Frage nachgegangen werden, ob das Verhalten der Frau nicht entgegenkommend gewesen sei, insbesondere weil viele Mädchen erobert werden wollten und den Mann durch ihr Benehmen reizten. Auf Grund eines nicht mehr beherrschbaren Sexualtriebes könne in diesen Fällen von einem Mann nicht verlangt werden, das Ansinnen der Vollziehung des Beischlafes zu unterdrücken.386 Entgegenkommendes Verhalten wurde bereits in dem Vorbringen, dass das spätere Opfer bei schlüpfrigen Gesprächen gelacht und auf zotige Fragen geantwortet habe sowie sich an Brüsten und Beinen habe anfassen lassen, gesehen. Selbst wenn der gesamte Sachverhalt gegen ein freiwilliges Verhalten sprach, weil sich das Opfer hilflos einer Übermacht gegenüber sah,387 „können Staatsanwalt und Richter nicht umhin, dem Täter eine solche Auffassung der Sachlage zu glauben.“ 388 Wie schon in den Kommentierungen zum Gemeinen Recht wurde bei der Frage bezüglich des erwarteten Widerstands und der Erkennbarkeit eines Verhaltens als solchen auf die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen bzw. beruflichen Schicht abge381

RG JW 1935, S. 2734. RG JW 1935, S. 2734; RG JW 1938, S. 789; RG JW 1938, S. 2734. 383 RG JW 1935, S. 2734. 384 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 449. 385 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448. 386 Elster/Lingemann, 1936, S. 228; Levy, 1932, S. 25. 387 Dieser Sachverhalt betraf ein 14jähriges Mädchen, das als Kleinmagd auf einem fremden Hof mit fünf anderen Knechten arbeitete und von diesen vergewaltigt worden war. Vgl. zu diesen damals regelmäßig auftretenden Konstellationen Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 447 f. 388 Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 447. 382

128 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

hoben.389 Auf Grund der Primitivität des Landlebens waren demnach Frauen auf dem Land „der Zudringlichkeit der Männer weniger abhold“, so dass der Täter davon ausgehen durfte, dass die Frau unter demselben „sexuellen Einfluss des ländlichen Milieus“ stehe wie er.390 Geriet er „an die Falsche“, lag der Schwerpunkt auf dem Nachweis, ob und weshalb er sie für die „Richtige“ halten durfte.391 Dabei reichte schon die Tatsache, dass sich die Mägde in Anwesenheit der Knechte zum Scherz die Röcke gegenseitig aufhoben.392 Darüber hinaus spielte insgesamt der Leumund des Opfers in der Gemeinde eine wichtige Rolle bei der Frage, ob das Opfer den Geschlechtsverkehr nicht freiwillig zugelassen hatte bzw. der Mann von einem diesbezüglichen Einverständnis ausgehen konnte.393 Je weniger regelkonform sich die Frau verhielt,394 desto höher waren die Chancen auf einen Freispruch. Richtete sich das sexuelle Ansinnen gegen „gewisse Kellnerinnen oder Prostituierte“, so wurde dem Täter ebenfalls auf der subjektiven Ebene zugestanden, dass er nicht an einen ernstlichen Widerstand, sondern an ein Einverständnis geglaubt habe.395 War die Tat im Versuchsstadium stecken geblieben, weil die Gewaltanwendung infolge (ernstlichen) Widerstands aufgegeben worden war, so stand stets die Frage im Raum, ob der Täter überhaupt die Absicht gehabt hatte, die Frau mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr zu zwingen.396 Paradoxerweise – man denke an den Mythos von der Unmöglichkeit einer Notzucht – ging man davon aus, dass der Mann – wenn er es nur wollte – die Frau niederringen konnte. Demnach hatte der Mann wohl nur geringfügige Gewalt im Sinne einer vis haud ingrata angewandt, wenn die Tat im Versuchsstadium steckengeblieben war.397 Hier wurde sodann dem „nicht unbedingt verwerflichen Einwande“ 398 Beachtung geschenkt, dass der Täter gehofft habe, die Frau leiste den Widerstand nur zum Schein,399 „um nicht als eine liederliche Dirne angesehen zu werden, welche sich dem an sie gestellten Verlangen sofort füge“.400 Schließlich durfte der Mann gerade von „anständigen Mädchen“ Widerstand erwarten.401 Auf Grund der Annahme, dass Gewalt Frauen sexuell stimuliere, galt es als glaubhaft, wenn der 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401

s. A.II.3.b). Jeweils Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448. Jeweils Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448. Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448. Hommen, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 132 f. Dazu Hommen, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 133. Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448. RG LZ 1926, S. 936 ff. Holtzendorff, 1874, S. 311. Holtzendorff, 1874, S. 312. RG JW 1934, S. 2335. Holtzendorff, 1874, S. 312. Wulffen, 11. Aufl. (1928), S. 448.

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Täter seiner Aussage nach die Frau durch die Gewalt freiwillig zum Geschlechtsverkehr mit ihm bringen wollte und gerade nicht mit ernstlichem Widerstand gerechnet hatte.402 Eine erfolgreiche Abwehr des Täterverlangens konnte damit dem Täter zum Vorteil gereichen und einen Freispruch wegen Verneinung des Vorsatzes hinsichtlich §§ 176 Nr. 1, 177 RStGB bewirken. Führte das Vorliegen einer vis haud ingrata weder zum Ausschluss des objektiven noch subjektiven Tatbestands, so konnte der fehlende Nachweis einer vis haud ingrata bzw. ein irrelevanter Irrtum des Täters über die Ernstlichkeit des Widerstands403 sich dennoch auf der Strafzumessungsebene strafmildernd auswirken. In den Motiven zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund zu den Tatbeständen der Gewaltsamen Unzucht und Notzucht heißt es: „Die Nachlassung mildernder Umstände wird durch die Erfahrung gerechtfertigt, dass die angewendete Gewalt oft einer sogenannten vis haud ingrata sich nähert“.404 Es ist davon auszugehen, dass es in zahlreichen Fällen, die als vis haud ingrata-nah eingestuft wurden, gar nicht zur Anklageerhebung kam.405 So heißt es bei Elster: „Auch in heutiger Zeit wird eine Notzucht an einer normalen Frau unter reiner Gewaltanwendung gerichtlich nur schwer anerkannt werden. Es muss daher der Nachweis geführt werden, dass tatsächlich der Widerstand der Frau gebrochen worden ist“.406 Ursächlich für dieses Misstrauen war auch der Umstand, dass man allgemein der Frau, der oft einzigen Zeugin, vielfältige Motive unterstellte, Falschanzeigen wegen Notzucht zu tätigen.407 Erschwerend kam die Überzeugung von der Möglichkeit der sexuellen Stimulation durch ein Notzuchtsgeschehen hinzu,408 so dass die Freiwilligkeit des Geschlechtsverkehrs auf Grund der vorhergehenden „Überwältigungsversuche“ und „Kampfhandlun402 RG LZ 1926, S. 937 ff.; RG JW 1934, S. 2335; RG JW 1935, S. 2734; Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 176 Anm. 2; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5. S. auch die Rechtsprechung des BGH zu diesem Komplex im Dritten Teil: D.II.2.a). 403 Dazu auch Levy, 1932, S. 25, der beklagt, dass es für einen Mann außerordentlich schwer zu erkennen sei, wann wirkliche Gewalt oder nur vis haud ingrata vorliege, wann eine Frau „genommen“ werden wolle oder sich wirklich wehre. 404 Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1870, S. 67, §§ 174 u. 175; Levy, 1932, S. 25. 405 Vgl. dazu die Aktenanalyse von Hommen zwischen 1870 und 1905 in Bayern 29 Notzuchtsfälle betreffend. Die Fälle, die vor Gericht landeten, entsprachen dem klassischen Vergewaltigungsmuster: Überfall durch einen fremden Täter an einem einsamen dunklen Ort; in den Protokollen liegt der Schwerpunkt auf der Frage, inwieweit körperlicher Widerstand geleistet und um Hilfe geschrien wurde. Davon hing auch die Verurteilung des Täters ab. Notzucht wurde selten vor Gericht verhandelt. Hommen, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 125 ff., 127 ff.; Hommen, 1999, S. 112 ff. 406 Elster/Lingemann, 1936, S. 228. 407 Oftmals wurde vermutet, dass sich die Frau das Geschehen eingebildet hatte; vgl. Brock, 1927, S. 740; Brock, 1928, S. 45 mit zahlreichen Fallbeispielen. Vgl. auch Levy, 1932, S. 28 ff. S. dazu bereits Erster Teil: B.II.3. 408 s. Erster Teil: B.II.2.; Levy, 1932, S. 31; Ort, 1933, S. 23 f.

130 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

gen“ 409 stets zu berücksichtigen war.410 Jeder aus Sicht des Gerichts abstrakt mögliche Widerstand, der unterlassen worden war, sprach deshalb eher gegen ein erzwungenes Geschehen.411 Je stärker der Vorfall einer klassischen Vergewaltigung entsprach, desto weniger stellte man die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Frage und desto größer waren die Erfolgschancen einer Anzeige, vermutete man hier doch weniger Belastungseifer oder Falschanzeigen.412 Erinnert sei an die obigen Ausführungen bezüglich der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen. Auf der einen Seite wurde die Frau zur Passivität erzogen, auf der anderen Seite wurde von ihr in Vergewaltigungssituationen regelrecht verlangt, sich bis zum Äußersten zu verteidigen.413 Des Weiteren oblag ihr die Kontrolle über die männliche Sexualität. Wehrte sie sich nicht ausdrücklich genug, wurde dies als ein Zieren gewertet, hiergegen gerichtete Gewalt wiederum als sexuelle Stimulanz angesehen. Es war somit äußerst schwer, eine Notzucht zu beweisen. Ein „Nein“ genügte in keinem Fall zur Dokumentation eines „ernstlichen Gegenwillens“ 414. So besagte schon ein damaliges Sprichwort aus dem deutschen Sprichwörter-Lexikon von Wander: „Wenn die Mädchen mit nein sich zieren, muss man es als Ja buchstabieren“.415 c) Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg in § 177 RStGB Der (tatsächliche oder erwartete) Widerstand des Opfers musste gerade durch die eingesetzte Gewalt gebrochen worden sein, nur dann wurde die Gewalt als Mittel zur Erzwingung des Geschlechtsverkehrs im Sinne des Tatbestandes angesehen.416 Der Gewalteinsatz musste konkret der Widerstandsüberwindung dienlich gewesen und vom Täter auch bewusst zu diesem Zweck eingesetzt worden sein,417 so dass sich der Zusammenhang zwischen Gewalt und sexueller 409 Levy, 1932, S. 30 f. Levy sah die Besonderheit der Sittlichkeitsdelikte darin, „dass sie nicht, wie bei Verletzung anderer Rechtsgüter immer als unangenehm in ihrer Auswirkung empfunden werden. Es ist möglich, dass das Opfer durch die erzwungene geschlechtliche Handlung selbst einen Lustgewinn erfährt“. 410 Weisbrod, 1891, S. 43. 411 Vgl. auch Levy, 1932, S. 28 ff. 412 Levy, 1932, S. 28 ff., 36. Allerdings hielt man solchen Konstellationen für selten. 413 Dies stellt auch heute noch ein Problem dar, vgl. Baurmann, 1996, S. 471 f. 414 v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5. 415 Wander, 2001, S. 318. 416 Großes Badisches Oberhofgericht, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft in Deutschland 1878, S. 72 f.; RGSt 63, 227, (228); RGSt 77, 82; Binding, 2. Aufl. (1902), S. 201, § 52; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 11. 417 Großes Badisches Oberhofgericht, Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft in Deutschland 1878, S. 72 f.; RG JW 1925, S. 2135; RGSt 63, 227; RG HRR 1940, S. 1423.

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Handlung als ein Kausalzusammenhang in objektiver und subjektiver Hinsicht darstellte.418 Der Täter musste bereits beim Gewalteinsatz sexuelle Handlungen beabsichtigen, hinsichtlich der Wirkung dieses Gewalteinsatzes, also hinsichtlich des Kausalzusammenhangs, reichte bedingter Vorsatz aus.419 Im Gegensatz zum Tatbestand des Raubes, in dessen Rahmen schon Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert wurde, ob es sich bei der Verknüpfung von Nötigungsmittel und Wegnahme um eine objektiv und subjektiv kausale handeln müsse420 oder ob lediglich eine subjektiv kausale Verknüpfung ausreiche,421 wurde im Rahmen des § 177 RStGB die konkrete Verknüpfung von Nötigungsmittel und -erfolg stets als eine (subjektiv und objektiv) kausale angesehen.422 Der Wortlaut „durch Gewalt“ im Tatbestand des § 177 RStGB423 machte das Erfordernis eines objektiven Kausalzusammenhangs deutlich. Eine Subjektivierung der Verknüpfung von Nötigungsmittel und -erfolg bei § 249 RStGB,424 die sich später herausbildete, um vor allem Beweisschwierigkeiten entgegenzutreten,425 wurde im Tatbestand der Notzucht aber auch aus anderen Gründen nicht zur Not-

418 RGSt 77, 81 ff.; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 105 Anm. II.1; Meves, 1876, § 177 Anm. 5; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Schönke, 1942, § 176 Anm. II. 419 RG JW 1935, S. 2734: „Der Angreifer nötigt i. S. des § 177 StGB auch dann durch Gewalt, wenn er mit bedingtem Vorsatz handelt, d. h. wenn er damit rechnet, der ihm entgegengesetzte Widerstand sei vielleicht ernstlich, die Angegriffene dulde den Geschlechtsverkehr vielleicht nur infolge der angewendeten Gewalt, und trotzdem auf diese Gefahr hin handelt“. 420 Dies bejahend RG JW 1932, S. 2433 und die herrschende Meinung; vgl. Binding, 2. Aufl. (1902), § 77 Anm. II.2; v. Buri, Gerichtssaal. Beilagenheft. 1878, S. 6 f.; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 249 Anm. IV; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 130 Anm. II.1; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 249 Anm. 5; Oppenhoff, § 249 Anm. 6 ff. und Schönke, § 249 Anm. 3. In der Literatur wurde dabei des Weiteren zwischen Gewalt als Bedingung bzw. Ursache der Wegnahme differenziert, wobei vertreten wurde, dass in § 249 RStGB die (physische oder psychische) Gewalt auf Grund der Wendung „mit Gewalt“ lediglich Bedingung der Wegnahme sein müsse und nicht die Ursache; vgl. v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 249 Anm. 5 m.w. N. 421 Busse, 1937, S. 57; Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 249 Anm. 3; Liebling, 1897, § 17; Rhonheimer, 1912, S. 53 ff.; Schwartz, 1914, § 249 Anm. 4. A. A. Villnow, 1875, S. 23, der nur im Rahmen des Tatbestands der Erpressung das Vorliegen eines subjektiven Kausalzusammenhangs genügen ließ. Der Terminus des „finalen Zusammenhanges“ wurde damals noch nicht verwendet; Rhonheimer spricht von einem „subjektiven Kausalzusammenhang“; vgl. Rhonheimer, 1912, S. 53. 422 Villnow führte aus, dass Gewalt und Drohung in § 177 Hs. 1 RStGB die Duldung des Beischlafs „verursachen“ und nicht lediglich „ermöglichen“; vgl. Villnow, Der Gerichtssaal 1878, S. 141. 423 Im Rahmen des 4. StrRG von 1973 wurde der Wortlaut parallel zur Fassung des Raubtatbestands in „mit Gewalt“ geändert. 424 Hinsichtlich der Entwicklung des Dogmas vom Finalzusammenhang in der Rechtsprechung des BGH vgl. Dritter Teil: A.I.2. 425 Vgl. dazu SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 35 und Dritter Teil: A.I.2.

132 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

wendigkeit.426 Die Konstellationen des bewusstlosen Opfers waren zum einen im 13. Abschnitt eigenständig geregelt. § 176 Nr. 2 RStGB erfasste Fälle, in denen der Täter unter anderem ein schlafendes oder ohnmächtiges Opfer vorfand und diesen Zustand zum Geschlechtsverkehr ausnutzte;427 § 177 I Hs. 2 RStGB war einschlägig, wenn der Täter das spätere Opfer in Missbrauchsabsicht in einen willenlosen Zustand versetzt hatte.428 Zum anderen war es im Rahmen der Notzucht fest verankert, danach zu fragen, ob konkret der Einsatz des Nötigungsmittels dazu geführt hatte, dass die Frau den Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen dulden musste. Gerade die Willensbeugung in Form der Widerstandsunterdrückung durch den Einsatz von Gewalt wurde als Unrechtskern des Notzuchttatbestands angesehen. Die im Rahmen des Raubtatbestands vertretene Ansicht, dass es zur Tatbestandserfüllung unerheblich sei, ob „der Angegriffene ohne die Vergewaltigung429 keinen Widerstand geleistet haben würde, die Vergewaltigung also unnötig sei“,430 es also lediglich auf die Vorstellung des Täters ankomme,431 wurde im Rahmen des § 177 RStGB nicht vertreten, ja nicht einmal angedacht. Hier musste die physische Kraftentfaltung des Täters sowohl objektiv als auch seiner Vorstellung nach konkret geeignet bzw. erforderlich gewesen sein, den „ernstlichen thätlichen Widerstand“ 432 des Opfers zu überwinden. Die Rechtsprechung folgerte aus dieser Verknüpfung, dass die Gewaltanwendung der sexuellen Handlung zwingend vorausgegangen sein müsse.433 Die Notzucht wurde als zweiaktiges Geschehen angesehen,434 indem zunächst der Wille der Genötigten gebrochen bzw. gebeugt werden musste, um dann den Beischlaf gegen deren Willen zu vollziehen. Olshausen zog aus dem Umstand, dass § 177 RStGB die Erzwingung des Beischlafes „durch Gewalt“ erforderte, sogar den Schluss, dass nur vis compulsiva, die physisch wirkenden Zwang entfalte, als 426 Auch im Rahmen des §§ 253, 255 RStGB wurde unstrittig an dem Erfordernis eines objektiven Kausalzusammenhangs zwischen Nötigungshandlung und Nötigungserfolg festgehalten; vgl. Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 253 Anm. 5; LK-Nagler, 6. Aufl. (1951), § 253 Anm. II.2; Schwartz, 1914, § 253 Anm. 4 m.w. N. 427 Vgl. Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 176 Anm. 6. 428 Vgl. v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 8 ff., § 177 Anm. 5. 429 Vergewaltigung bedeutet hier, einem Angriff durch Gewalt oder Drohung ausgesetzt zu sein. 430 Schwartz, 1914, § 249 Anm. 4. 431 Die reichsgerichtliche Rechtsprechung äußerte sich hierzu nicht. In der Literatur (vgl. u. a. Müller-Dietz, JuS 1971, S. 417 Fn. 62) und auch vom BGH (vgl. BGHSt 4, 210) wird zwar gerne zum Beleg dafür, dass schon das RG der subjektivierten Betrachtungsweise anhing, auf die Urteile in RGSt 67, 183, (186 f.) und RGSt 69, 327, (330) hingewiesen. Beiden Entscheidungen liegt jedoch der Versuch eines Raubes zugrunde, so dass naturgemäß auf die Vorstellung des Täters von der Tat zurückgegriffen wurde. 432 Meyer, 2. Aufl. (1871), S. 140. 433 RG JW 1925, S. 2135; RGSt 63, 227, (228); JW 1939, S. 400 Nr. 3; Schönke, 1942, § 176 Anm. II; a. A. Ort, 1933, S. 26 f. 434 Levy, 1932, S. 22.

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Tatmittel in Betracht komme, indem sich die Frau gerade auf Grund der Zwangshandlung bewusst ergebe müsse.435 Als Argument für diese Auslegung führte er an, dass eine Frau niemals gegen ihren Willen zum Beischlaf gezwungen werden könne. Diese Auslegung wurde von der herrschenden Meinung zu Recht bestritten und vis absoluta mit einbezogen, weil auch diese als Mittel zur Überwindung des (erwarteten) Widerstandes dienen konnte.436 Die allgemeine Ansicht, dass eine Frau durch die Vornahme von Gewalt so erregt werden könne, dass sie schließlich in den Geschlechtsverkehr einwillige, konnte den Kausalzusammenhang zwischen Gewalt und Geschlechtsverkehr in subjektiver und/oder objektiver Hinsicht erschüttern, weil die Frau durch die Gewaltanwendung dann lediglich „geneigt gemacht“ 437 worden war, freiwillig den Geschlechtsverkehr zu dulden, so dass die Gewalt nicht mehr auf die Erzwingung des Geschlechtsverkehrs gerichtet war.438 In Konsequenz der reichsgerichtlichen Rechtsprechung und der Ansicht der Literatur hinsichtlich des speziellen Zusammenhanges zwischen dem Nötigungsmittel und der sexuellen Handlung bzw. deren zeitlicher Abfolge waren sadistische Handlungen, wobei „die Gewalttätigkeit selbst die unzüchtige Handlung bildet“ 439, diese also zusammenfallen bzw. die Gewaltanwendung zum Zwecke der Bestrafung und ähnlichem erfolgt, unstrittig nicht vom Tatbestand erfasst.440 Als Argument wurde angeführt, dass ein Sadist zwar Gewalttätigkeiten ausübe, gleichzeitig jedoch dadurch seine sadistischen Neigungen befriedige, so dass es an dem Merkmal „Ausübung von Gewalt zur Überwindung eines erwarteten oder geleisteten Widerstandes“ fehle.441 Deshalb wurden auch überraschende unzüchtige Handlungen vom Reichsgericht nicht unter den Gewaltbegriff subsumiert.442

435

v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 177 Anm. 4. Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 177 Anm. 2; Levy, 1932, S. 22; Winkler, 1908, S. 20 f. Dem Umstand, dass bei § 176 Nr. 1 RStGB die Vornahme unzüchtiger Handlungen „mit Gewalt“ und bei § 177 RStGB die Duldung des außerehelichen Beischlafes „durch Gewalt“ verlangt wurde, wurde außer von v. Olshausen keinerlei Relevanz zugemessen. 437 v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5. 438 Levy, 1932, S. 31; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Ort, 1933, S. 23; Wächter, 1835, S. 277 f.; Weisbrod, 1891, S. 43. 439 RGSt 63, 227, (228); RGSt 77, 81. So schon v. Olshausen, 1883, § 176 Anm. 4 m.w. N. 440 RG JW 1925, S. 2135; RG JW 1929, S. 1015; RG JW 1930, S. 917; RG JW 1939, S. 400; RGSt 63, 227, (228); RGSt 77, 81 f. 441 RG JW 1925, S. 2136; RGSt 77, 81, (82). Diese Rechtsprechung hat sich fortgesetzt, vgl. OLG Köln NStZ-RR 2004, S. 168. Anders LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.3.a. 442 RGSt 73, 271 (273); RGSt 77, 81 ff.; ebenso RG HRR 1940 Nr. 1423, wobei die Gewalttätigkeit auch überraschend stattfinden könne, solange der Täter nicht „nur durch Überraschung zum Ziel gelangen“ wolle. Vgl. auch RGSt 46, 403 („Handtaschenraub“). 436

134 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Zum einen wurden bereits eine Willensbeugung und zum anderen die Notwendigkeit der Überwindung eines Widerstandes verneint, indem der Täter ja gerade durch sein überraschendes Verhalten jeden Widerstand von Anfang an umgehen wolle.443 Dies stieß in Teilen der Literatur auf Kritik.444 Als Argument wurde angeführt, dass das plötzliche Handeln ebenso wie die vis absoluta jeden Widerstand von vornherein unmöglich mache.445 Solange feststehe, dass das Opfer „gewaltsamen Widerstand“ geleistet hätte, sei Gewalt aber zu bejahen.446 Die Rechtsprechung bewirkte, dass sadistisch motivierte und überraschende sexuelle Übergriffe nicht als gewaltsame Unzucht/Notzucht bestraft wurden. Ein Sadist profitierte davon, dass sein Gewalteinsatz im Kern auf Bestrafung und ähnliche Motive gerichtet war und nicht auf die Überwindung von Widerstand. Seine Bestrafung konnte lediglich aus den §§ 185, 223 ff., 239 RStGB erfolgen, selbst wenn es sich eindeutig um sexuell motivierte Angriffe handelte. Täter sogenannter Überraschungsangriffe wurden ebenfalls privilegiert, weil schon die Beugung eines aktuell ausgebildeten entgegenstehenden Opferwillens verneint447 und die Annahme eines generellen Abwehrwillens gegenüber sexuellen Übergriffen abgelehnt wurde. Obwohl der Täter in derartigen Konstellationen auf Grund des Überraschungsmoments die Wehrlosigkeit des Opfers für seine sexuellen Absichten bewusst missbrauchte, kam oftmals höchstens eine Strafbarkeit wegen Beleidigung in Betracht.448

443 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 83 lehnte die Annahme von Gewalt in diesen Konstellationen ab, weil der Wille des Opfers lediglich überlistet und gerade nicht vergewaltigt werde. 444 Hälschner, 1884, S. 223; Lilienthal, ZStW 1887, S. 375 f.; LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.3.a; Oppenhoff, 1901, § 176 Anm. 11; Rhonheimer, 1912, S. 24 f.; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2 m.w. N. 445 Hälschner, 1884, S. 223; diese Argumentation wird gegenwärtig unter anderem von Renzikowski fortgeführt; vgl. MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 31. v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 130 Anm. II.1 bejahte i.R. d. § 249 RStGB Gewalt bei Überraschungsangriffen, weil hierbei jegliche Widerstandsleistung durch die „Plötzlichkeit des Angriffs“ verunmöglicht werde. 446 LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.3.a. 447 RGSt 77, 81. 448 RGSt 77, 81. Die Entscheidung in RGSt 73, 271 (273) ist den Besonderheiten des nationalsozialistischen Strafrechts geschuldet. Dort hatte ein Gynäkologe die Behandlungssituation zum überraschenden Geschlechtsverkehr ausgenutzt. Das Reichsgericht sprach sich für die entsprechende Anwendung des § 176 Nr. 2 RStGB i.V. m. § 2 RStGB auf diese Konstellation aus, weil die Situation der Frauen auf Grund der Wehrlosigkeit infolge der Überrumpelung einem willenlosen Zustand gleichkomme, so dass gem. § 2 RStGB der Grundgedanke der Vorschrift und das Volksempfinden eine Bestrafung aus § 176 Nr. 2 RStGB, einem Sittlichkeitsdelikt, gebieten würden. Der seit 1935 existierende § 2 RStGB ließ die analoge Anwendung von Strafvorschriften zu und wurde am 30.01.1946 durch Art. I des Gesetzes Nr. 11 des Kontrollrats aufgehoben; vgl. Schönke, 3. Aufl. (1947), § 2.

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2. Die „Blankeneser Notzuchtsaffäre“ Die „Blankeneser Notzuchtsaffäre“ 449 zeigt, dass Täter einer Vergewaltigung auf Grund der vorherrschenden Vergewaltigungsstereotype mit einem Freispruch rechnen konnten, insbesondere auch, wenn sie einer bestimmten Schicht entstammten. Im zugrunde liegenden Sachverhalt hatten vier junge Männer von 18, 19, 20 und 24 Jahren in Blankenese ein 15jähriges Dienstmädchen nacheinander brutal vergewaltigt, nachdem zwei von ihnen – darunter der „Freund“ des Opfers – es zu einer Fahrt auf einer Segelyacht überredet hatten.450 Das Altonaer Schwurgericht sprach die vier Angeklagten am 13.1.1905 frei, obwohl es keinen Zweifel daran gab, dass der Geschlechtsverkehr gegen den Willen des Mädchens gewaltsam erzwungen worden war. Der Freispruch gründete auf der Erwägung, dass das Mädchen sich nicht gewehrt habe und außerdem nicht unbescholten gewesen sei.451 Trotz des festgestellten Umstands, dass das Mädchen von den anderen drei Männern festgehalten wurde, während der vierte es vergewaltigte und dieser den anderen – gerade weil sich das Mädchen stark wehrte – zurief, sie sollten sie noch fester halten, warf ihr das Gericht vor, es habe sich nicht (genügend) gesträubt.452 Die Bescholtenheit leitete das Gericht aus dem Umstand ab, dass sich das Opfer einen Tag vor der Tat der sexuellen Annäherung eines der Täter erfolgreich erwehrt hatte, indem es darauf hinwies, dass es gerade seine Menstruation habe. Auf Grund dessen wurde sie vom Gericht als „schamloses Mädchen“ 453 eingeschätzt, weil über diesen Zustand nicht offen gesprochen werden dürfe.454 449 s. dazu Das Altonaer Schwurgerichtsurteil, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung (Beilage der Frauenbewegung) 1905, S. 7 f. (Nr. 4); 9 f. (Nr. 5) und Wieder ein Schlag ins Antlitz der Frau, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung (Beilage der Frauenbewegung) 1905, Nr. 3. 450 Die späteren Vergewaltigungen waren von Anfang geplant. Die anderen zwei Männer hatten sich auf der Yacht versteckt. 451 Zum Sachverhalt und zu den Urteilsausführungen vgl. die Fundstellen in Fn. 449. Das Originalurteil war leider nicht mehr zu beschaffen. Die Standesverhältnisse spielten bei diesem Freispruch scheinbar eine große Rolle. Die Täter waren drei Kaufmannsgehilfen und ein Arbeiter. Das Opfer arbeitete als Dienstmädchen. Ein Redakteur des „Hamburger Echo“ hatte einen Artikel verfasst, in dem die Namen der Geschworenen und deren Stand abgedruckt waren. Er hatte am Ende die Frage gestellt: „Ob diese ,Volksrichter‘ wohl auch das ,Nichtschuldig‘ ausgesprochen haben würden, wenn vier Arbeiter in so bestialischer Weise eine Kaufmanns- oder Fabrikantentochter vergewaltigt hätten?“ Für diesen Artikel wurde er zu einer Geldstrafe von 600 RM verurteilt. Vgl. Ruben, Die Frauenbewegung 1905, S. 100 f. Vgl. zu dem Urteil auch Gerhard, 1996, S. 262 ff. 452 Das Altonaer Schwurgerichtsurteil, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung (Beilage der Frauenbewegung) 1905, S. 7 f. (Nr. 4); 9 f. (Nr. 5). 453 Das Altonaer Schwurgerichtsurteil, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung (Beilage der Frauenbewegung) 1905, S. 7 f. (Nr. 4). 454 Das Altonaer Schwurgerichtsurteil, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung (Beilage der Frauenbewegung) 1905, S. 7 f. (Nr. 4).

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In der Frauenbewegung stieß dieses Urteil auf große Kritik.455 Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass „die Frage der Bescholtenheit oder Unbescholtenheit der Frau“ im deutschen Strafrecht und damit auch in der Rechtsprechung eine tragende Rolle spiele, so dass die Frau nicht als „Mensch“ vor dem Gesetz beurteilt werde, sondern nur nach ihrer „besonderen Frauengeschlechtsehre“.456 Demgemäß folgerte Mohr: „Der Begriff Unbescholtenheit, der wie eine Götze im Strafrecht steht, muss zertrümmert werden.“ 457 3. Drohung Die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben wurde als psychologische Gewalt verstanden.458 Dabei musste ein schwerer Verlust, der augenblicklich nicht zu beseitigen war und von der Wertigkeit der weiblichen Ehre gleichkam, angedroht werden.459 Nur dann wurde der Frau „aus der Aufgabe des Widerstandes gegen die Vergewaltigung billigerweise kein Vorwurf“ gemacht, weil sich die Gefahr dann „entsprechend der Gewalt in unwiderstehlicher Weise“ aufdrängte.460 Unter Gefahr für Leib wurde demnach von der herrschenden Meinung eine erhebliche Körperverletzung verstanden.461 Die Drohung musste die Ankündigung einer in zeitlicher und räumlicher Hinsicht unmittelbar bevorstehenden Gefahr enthalten, die nicht anders abwendbar sein durfte, um der Anforderung der Gegenwärtigkeit Genüge zu tun.462 Bei Vorliegen von Fluchtmöglichkeiten war die Gegenwärtigkeit zu verneinen.463 „Dabei darf nicht jede Schwäche und Feigheit zur Entschuldigung dienen, andererseits aber auch kein Heldentum von der bedrohten Frau gefordert werden“.464 Nach Ort war demnach Gefahr für Leib oder Leben am Besten mit Gefahr des „Lebensverlustes bzw. Lebensentwertung“ 465 zu beschreiben. Ernstlichkeit der Drohung wurde unstrittig nicht gefordert, sondern wie heute auch, dass diese vom Opfer subjektiv als 455 Regina Ruben berief kurz darauf eine Versammlung ein, die am 6.2.1905 in Hamburg stattfand. Als Referentinnen sprachen Anita Augspurg und die Sozialdemokratin Steinbach. Sie kritisierten das Urteil als Ausdruck von „Rechtsbeugung“ und „Klassenjustiz“ und forderten eine Reform der Schwurgerichte und die Zulassung von Geschworinnen. Vgl. Himmelsbach, 1996, S. 54 f. 456 Jeweils Mohr, Die Frauenbewegung 1907, S. 192. 457 Mohr, Die Frauenbewegung 1907, S. 192. 458 Berner, 18. Aufl. (1898), S. 465. 459 Holtzendorff, 1874, S. 310 f.; Ort, 1933, S. 33 f. 460 Ort, 1933, S. 34 f. 461 v. Frank, 11.–14. Aufl. (1914), § 52 Anm. I; Meyer, 2. Aufl. (1871), S. 140; Ort, 1933, S. 32 f. 462 Ort, 1933, S. 32. 463 Binding, 1885, S. 776. 464 Ort, 1933, S. 34. 465 Ort, 1933, S. 34.

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eine solche empfunden wurde und der Täter mit diesem Umstand rechnete.466 Eine Dreiecksnötigung, im Preußischen Entwurf von 1847 im Gesetzestext noch enthalten, wurde mehrheitlich wegen des Wortlautes des § 177 RStGB und auf Grund eines Vergleiches mit § 52 RStGB für nicht ausreichend erachtet.467 Schwarze sah auf Grund des Wortlautes keine derartige Beschränkung und erblickte unter anderem in der Konstellation, dass das Kind der Genötigten vom Täter mit Misshandlungen bedroht wird, einen ausreichenden Zwang für das Opfer.468 Ebenso wie beim Tatbestandsmerkmal der Gewalt wurde ein objektiver Kausalzusammenhang zwischen dem Nötigungsmittel der Drohung und dem Nötigungserfolg gefordert.469 Die beschränkte Anerkennung der Drohung im Notzuchtstatbestand durch die Einengung auf „Gefahr für Leib oder Leben“ stand ganz im Sinne der gemeinrechtlichen Rechtstradition.470 Diese wurde regelmäßig damit begründet, dass sich aus dem „Werthe der Leistung“, der durch die Tat erzwungen werden soll, nichts anderes ergeben könne. Schließlich werde durch die Tat der Notzucht das „höchste Gut“ einer Frau angetastet, so dass Drohungen anderer Art keinen notzuchttauglichen Zwang bewirken könnten, wenn der Widerstand ernstlich gemeint sei.471 Dieser Zustand wurde jedoch auch kritisiert, wobei angeführt wurde, dass das Vermögen gegen Erpressungen besser geschützt sei als die Geschlechtsehre und der Schutz durch den Tatbestand der Nötigung nicht ausreichend sei.472 4. Eigenhändigkeit und Vorsatz Die Frage, ob es sich bei § 177 RStGB um ein eigenhändiges Delikt handelte, wurde nicht einheitlich beurteilt. Eine Mindermeinung in der Literatur war der Ansicht, dass Nötigung und sexuelle Handlung von demselben Täter ausgehen 466 v. Frank, 5.–7. Aufl. (1908), § 176 Anm. I; Schönke, 1942, § 176 Anm. II; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2. 467 Ebermayer, 1920, § 177 Anm. 2; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 176 Anm. I; Hälschner, 1884, S. 230 f.; Meyer, 2. Aufl. (1871), S. 140; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 177 Anm. 2; Schönke, 1942, § 176 Anm. II; Schwartz, 1914, § 177 Anm. 2; Weisbrod, 1891, S. 43. In RGSt 17, 82 (83) erklärte das RG im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Nötigung in § 240 RStGB mittelbare Gewalt für tatbestandsmäßig und bejahte für die Drohungsalternative unter Verweis auf RGSt 3, 317 (nicht existent) ebenfalls die Möglichkeit einer Dreiecksnötigung, soweit sich die Drohung gegen Angehörige richtete. 468 Holtzendorff, 1874, S. 311. 469 v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105; v. Olshausen, 1883, § 176 Anm. 7; Schwartz, 1914, § 176 Anm. 2. 470 s. A.II. und III. 471 Holtzendorff, 1874, S. 310; Weisbrod, 1891, S. 44. 472 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 107.

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müsse.473 Die Mehrheit in der Literatur und auch die Rechtsprechung waren gegenteiliger Ansicht und verneinten die Notwendigkeit der Identität von nötigender Person und demjenigen, der den Beischlaf vollzog.474 In Konsequenz konnten damit auch Frauen Täterinnen dieses Delikts sein.475 Allerdings reichte es nicht aus, wenn der Täter den ohne sein Zutun geschaffenen wehrlosen Zustand einer Frau zur Vollziehung des Beischlafs lediglich ausnutzte, ohne am Nötigungsakt selbst beteiligt gewesen zu sein.476 Der Vorsatz des Täters musste darauf gerichtet sein, den ihm gegenüber erwarteten oder geleisteten Widerstand durch Einsatz der Nötigungsmittel Gewalt bzw. Drohung brechen zu wollen, um den Geschlechtsverkehr zu erzwingen.477 Dabei reichte nach allgemeiner Ansicht auch bedingter Vorsatz insofern aus, dass der Täter damit rechnete, dass der ihm entgegengebrachte Widerstand vielleicht ernstlich sei, die Angegriffene den Geschlechtsverkehr vielleicht nur infolge der Gewaltanwendung dulde und er trotzdem auf diese Gefahr hin handelte.478 5. Kritische Würdigung Die zentralen Punkte bei der Frage nach dem Einsatz von Gewalt oder Drohung im Rahmen des § 177 RStGB waren stets die Körperlichkeit der Gewalt bzw. Drohung479 und die Intensität des geleisteten Widerstands durch das vermeintliche Opfer. Hierbei zeigt sich deutlich, dass das Delikt der Notzucht von einem schablonenartigen Tatbild geprägt ist, so dass sowohl Wissenschaft als auch Rechtsprechung stets zu einer restriktiven Auslegung tendierten, weil zum einen tradierte Vorstellungen unhinterfragt blieben und zum anderen Forschungen auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft, der Gerichtsmedizin und der (Aussage-)Psychologie diese Auslegungsmuster stützten. Das Geschehen der Notzucht – partiell als natürliche Form der Sexualität zwischen Mann und Frau eingestuft – konnte dadurch verharmlost und ihre faktische Realisierung auf wenige Konstellationen beschränkt werden, insbesondere auch, weil es auf die Ebene der Imagination und Übertreibung verlagert wurde. Opferwerden und Opfersein wurden

473

Binding, 2. Aufl. (1902), S. 201, § 52; Weisbrod, 1891, S. 39 argumentierte mit einem Umkehrschluss aus dem zweiten Satz des § 177 RStGB. 474 RGSt 3, 181; Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 177 Anm. 2 m.w. N.; v. Frank, 5.– 7. Aufl. (1908), § 177 Anm. I; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105; Schwartz, 1914, § 177 Anm. 2. 475 v. Olshausen, 6. Aufl. (1900), § 177 Anm. 2; Ort, 1933, S. 15 m.w. N.; Wulffen, 8. Aufl. (1921), S. 439. 476 RGSt 27, 422 ff. 477 v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 176 Anm. I.1; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), S. 545, § 105. 478 RG JW 1935, S. 2734; RG JW 1938, S. 789; RG JW 1938, S. 2734. 479 Körperlich in ihrer Gestalt und Auswirkung.

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dadurch in großen Teilen geleugnet, die Realisierung von Opferbedürfnissen deutlich erschwert und mit einem Misstrauensvorschuss bedacht. Das Reichsgericht sprach sich zwar ausdrücklich gegen einen bestimmten Maßstab der anzuwendenden Gewalt in § 177 RStGB aus,480 trotzdem wurden an den konkreten Nötigungszwang und die Widerstandsleistung im Rahmen des § 177 RStGB weitaus höhere Anforderungen gestellt als im Rahmen des Raubes, der räuberischen Erpressung oder der Nötigung.481 Ein bloßes „Nein“ als verbaler Widerstand konnte als Abwehrhandlung nicht genügen. Die aktive Widerstandsleistung wurde dadurch zum notwendigen Element des Tatbestandsmerkmals der Gewalt und nicht nur als bloßes Indiz hierfür behandelt. Vermutete man in jedem Raubsachverhalt einen entgegenstehenden Willen des Opfers,482 wurde das vermeintliche Opfer einer Notzucht regelmäßig mit Alternativsachverhalten, die ebenfalls als Erklärung für das Geschehen dienen konnten, konfrontiert. Dem Opfer oblag damit die Pflicht, eindeutige Abwehraktivität nachzuweisen. Dem Vorbringen, vergewaltigt worden zu sein, wurde zunächst mit Misstrauen begegnet, die Freiwilligkeit des Geschehens stets in Betracht gezogen. Gerade die hohe Wertigkeit, mit der man die weibliche Ehre versah, bzw. die Erziehung der Frau zu Schamhaftigkeit und Passivität hinsichtlich Sexualität sowie das dem Mann zugeschriebene aggressive Vorgehen in der sexuellen Interaktion hätten aber eigentlich eine konträre Vorgehensweise bewirken müssen. Das mit höchstem Rang ausgestattete Rechtsgut der weiblichen Ehre konterkarierte letzten Endes eine Ausdehnung des Schutzes der sexuellen Integrität, weil es nicht „die Vermutung des entgegenstehenden Willens“ begründete, sondern vielmehr das weibliche Opfer in die Verhaltensschablone des „ernsthaften Widerstandes“ drängte. Paradoxerweise führte dieses Vorgehen dazu, dass vielen Frauen ihre weibliche Ehre und damit gesellschaftliche Achtung aberkannt wurde, wenn ihr Opfersein nicht dem klassischen Notzuchtsbild entsprach. In den folgenden Ausführungen wird der Frage nachgegangen, ob die angesprochenen Problemfelder zumindest in der Reformdiskussion, die bereits kurz nach in Kraft Treten des Reichsstrafgesetzbuchs einsetzte, als solche erkannt und zum Thema gemacht wurden.

480

RG JW 1935, S. 2734; RG JW 1938, S. 789, 2734. Vgl. die Ausführungen bei Busse, 1937, S. 57; Knodel, 1962, S. 160 ff. und Rhonheimer, 1912, S. 21 ff. Auch die Kommentierungen (v. Olshausen, Schönke, Schwartz) dieser Zeit belegen dies, indem Ausführungen hinsichtlich eines bestimmten Maßes an Widerstandsleistung von Opferseite im Rahmen des Raubes bzw. der räuberischen Erpressung fehlen. 482 Auch aus diesem Grunde wurde die Möglichkeit der Beraubung eines Schlafenden bejaht; vgl. RGSt 67, 183. 481

140 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

C. Die Reformdiskussion von 1871 bis 1945 Im Folgenden soll die Reformdiskussion ab 1871 untersucht werden, und zwar insbesondere die Änderungsvorschläge, die §§ 176, 177 RStGB betreffen.483 Die Nötigungsmittel, die Relevanz der Bescholtenheit des Opfers und die Einbeziehung des Mannes als Tatobjekt in die §§ 176, 177 RStGB stehen dabei im Blickpunkt.484

I. Die Reformentwürfe bis 1933 1. Die vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts Schon kurz nach Entstehung des RStGB von 1871 entstanden Reformbestrebungen, die sich hinsichtlich der Sittlichkeitsdelikte kritisch mit dem zu schützenden Rechtsgut und der systematischen Einordnung im RStGB auseinandersetzten. Im Rahmen der Vorarbeiten zu einer deutschen Strafrechtsreform nimmt hierbei die „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“,485 die auf Anregung des Reichsjustizamtes ihre Arbeit aufnahm, eine bedeutende Rolle ein. Als Leitmotiv galt die Intention, nur objektiv feststellbare Verletzungen zu sanktionieren, wobei der Begriff der Sittlichkeit im Gegensatz zu dem der Schamhaftigkeit als hierfür tauglich, weil bestimmbar, angesehen wurde.486 Mittermaier verstand als Rechtsgut der §§ 176, 177 RStGB die „freie Selbstbestimmung über das eigene Geschlechtsleben“, wobei er aber die geschlechtliche Freiheit als Teilgebiet der allgemeinen geschlechtlichen Sittlichkeit ansah und damit eine Einordnung innerhalb der allgemeinen Freiheitsdelikten ablehnte.487 Der Preußische Einheitstatbestand der gewaltsamen Unzucht in § 144 RStGB wurde äußerst kritisch beurteilt, weil dort Frauen und Männer im selben Tatbestand ohne Unterschied als Opfer genannt waren. Um der sozialen Verschiedenheit der Taten, insbesondere der Erzwingung des Beischlafs, gerecht zu werden, sprach er sich dafür aus, diese Konstellationen strikt zu trennen. Schließlich geboten dies das Gewicht der sittlichen Freiheit der Frau und der Umstand, dass es

483 Zur Entwicklung der Sexualdelikte im Kaiserreich insgesamt vgl. Brüggemann, 2012, S. 36 ff. 484 Vgl. hinsichtlich der einzelnen Reformschritte die Einleitung zur Begründung des Entwurfes eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, 1954, S. 2 ff. 485 Der IV. Band beschäftigte sich mit den Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit; Birkmeyer, 1906. 486 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 3. 487 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 102.

C. Die Reformdiskussion von 1871 bis 1945

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in der Natur des Aktes liege, dass der Mann gegen die Frau Gewalt einsetze.488 Insofern sah er die Regelungen des RStGB als nicht änderungsbedürftig an. Folgerichtig befürwortete er in diesem Zusammenhang auch die eigenständige Regelung der Notzucht, also die strikte Trennung von erzwungenem Beischlaf und sonstigen erzwungenen sexuellen Handlungen, wie sie in §§ 176, 177 RStGB vorgenommen wurde. Mittermaier begründete diese Regelungstradition im Schwerpunkt nicht mit der außerordentlichen Schwere des kriminellen Unrechts der Notzucht im Vergleich zu anderen sexuellen Handlungen,489 vielmehr stellte er darauf ab, dass die Notzucht „die typische Hauptart der Unzucht wider Willen, die den natürlichen Verhältnissen am meisten entspricht“, sei.490 Hierbei kommt deutlich zum Ausdruck, dass der Tatbestand der Notzucht, auch auf Grund seiner gemeinrechtlichen Historie,491 stets als „Königsverbrechen“ behandelt wurde und eine Ausnahmestellung aufwies, insbesondere weil hierbei die Gefahr der Befleckung bis hin zum Verlust der weiblichen Ehre als weitaus größer angesehen wurde als bei der Duldung anderer sexueller Handlungen. Nicht zuletzt wurde nur der Vaginalbeischlaf, wenn auch gewaltsam erzwungen, als natürliche Triebbefriedigung verstanden. Andere sexuelle Handlungen wie Anal- oder Oralverkehr wurden schon generell als unzüchtig eingestuft, so dass der Tatbestand der Notzucht auch inhaltlich als völlig divergierend eingeordnet wurde.492 Mittermaier betonte jedoch, dass es ein Fehler sei, den Mann als Opfer einer gewaltsamen unzüchtigen Handlung tatbestandlich überhaupt nicht zu erfassen, insbesondere weil die Erzwingung widernatürlicher Handlungen des Öfteren vorkomme, das Erzwingen aktiv geschlechtlichen Verhaltens jedoch nur schwer vor488 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 104. 489 Allerdings betonte er, dass es viele Formen geringfügiger unzüchtiger Handlungen gebe und lehnte es ab, diese mit dem erzwungenen Beischlaf in einem Tatbestand zu regeln und damit auf eine Ebene zu stellen. 490 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 104. Er betont zwar, dass es äußerst „ekelhafte“ unzüchtige Handlungen gebe, die erzwungen würden, aber letztendlich könnten die zahlreichen „geringfügigen“ Varianten der unzüchtigen Handlungen nicht neben die Notzucht gestellt werden. 491 Der Strafgrund und die schwere Strafandrohung der Notzucht in der CCC folgten aus der Gefahr des Verlustes der Reinheit der weiblichen Geschlechtsehre; vgl. v. Grolman, 1805, § 239 Anm. II. 492 Auch Wulffen befürwortete die tatbestandliche Trennung bzw. lehnte die tatbestandliche Gleichstellung von Beischlaf und sonstigen sexuellen Handlungen ab, wobei er argumentierte, dass das Erdulden des Einführens des männlichen Penis in den Mund der Frau, der Analverkehr sowie die Erduldung des Cunnilingus (eine Form des Oralverkehrs, bei dem die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane mit der Zunge berührt werden) der „Schmach“ des Geschlechtsverkehrs „nahe oder fast nahe“ kämen, die Konstellationen aber äußerst selten seien; vgl. Aschrott, 1910, S. 132.

142 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

stellbar sei.493 In Anlehnung an das französische, englische österreichische und schweizerische Recht hielt er einen Tatbestand, der gewaltsame unzüchtige Handlungen an Personen beiden Geschlechts sanktionierte, für angebracht.494 Deutlich sprach sich Mittermaier gegen einen Ausschluss strafrechtlichen Schutzes gegenüber bescholtenen Frauen oder Prostituierten aus.495 Hervorhebenswert sind dabei seine Befürchtungen im Zusammenhang mit Strafmilderungen, weil seines Erachtens dem Beschuldigten dadurch die Möglichkeit eröffnet werde, „gemeinste Einreden“ zu erheben und „schikanöseste Untersuchungen“ einzuleiten.496 Des Weiteren betonte er den Achtungsanspruch auch gegenüber der Prostituierten als freie Frau, wobei auch hierbei die Gefährlichkeit des Täters nicht unbeachtet bleiben dürfe.497 Letztendlich sprach er sich für die Schaffung eines weiten Strafrahmens aus, um alle Umstände des Einzelfalls auf der Strafzumessungsebene genügend würdigen zu können.498 Hinsichtlich der Tatmittel Gewalt und Drohung in §§ 176, 177 RStGB geht Mittermaier nur auf die Drohung näher ein, weil er das Tatmittel der körperlichen Gewalt für unproblematisch hält. Hervorhebenswert ist allerdings die Ansicht, dass die Fälle des Überraschungsangriffs unter Gewalt zu subsumieren seien.499 Darüber hinaus sprach er sich unter Verweis auf ausländische Rechtsordnungen500 dafür aus, das Nötigungsmittel der Drohung ohne Einschränkungen für tatbestandsmäßig zu erachten. Allerdings beschränkte er diese „Unbeschränktheit“ wieder, indem er Zusätze wie „gefährlich“ oder „schwer“ für zulässig hielt.501 Hintergrund einer Ausweitung der tatbestandlichen Nötigungsmittel 493 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 105. Er betont diesen Unterschied deswegen, weil das Erzwingen widernatürlicher Handlungen mit männlicher Täterschaft verbunden wurde und man insbesondere überhaupt nur Männer für tauglich hielt, einen anderen Mann physisch bezwingen zu können. Unter geschlechtlichen Handlungen wurden im Gegensatz dazu sexuelle Handlungen zwischen Mann und Frau verstanden. 494 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 105. Wie schwer die Vorstellung von tatsächlicher sexueller Gewalt gegen Männer fiel, zeigt der Hinweis Mittermaiers, dass der Richter stets auch erwägen müsse, ob der „überwältigte Mann nicht Masochist sei“. 495 Wie u. a. noch in Art. 1058 ALR ausdrücklich vorgesehen. 496 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 105. 497 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 105. 498 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 105. 499 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 107. 500 Alle romanischen Rechtsordnungen, außer Belgien, sowie die holländische, russische und australische. 501 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 107.

C. Die Reformdiskussion von 1871 bis 1945

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war der Einwand, dass das Vermögen gegen Erpressungen in § 253 RStGB strafrechtlich mehr Schutz erfahre als die Geschlechtsehre.502 Bedenkt man die hohe Wertigkeit, die der weiblichen Geschlechtsehre zugesprochen wurde und die Vergleichbarkeit beider Interaktionsdelikte, erscheint diese Kritik nur folgerichtig. Der hohe Rang dieses Rechtsguts führte jedoch gleichzeitig dazu, dass eine „schrankenlose“ Drohung im Rahmen der Notzucht nicht durchsetzbar war, weil das Erlahmen weiblicher Schutzbereitschaft für ihr wertvolles Rechtsgut nur bei erheblichen Drohungen akzeptiert wurde. Neben diesen Vorschlägen ist erwähnenswert, dass die Einführung eines Tatbestands, der den Missbrauch wirtschaftlicher Abhängigkeit zur Unzucht erfasste, für notwendig erachtet wurde.503 2. Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch (DVE) von 1909 brachte hinsichtlich der Tatbestände der §§ 176, 177 RStGB keine grundlegenden Änderungsvorschläge.504 Als Neuerung sollte die uneigentliche Notzucht im Tatbestand der Notzucht nicht mehr wie bisher eigens im zweiten Halbsatz, aufgeführt werden, weil § 12 Nr. 4 des DVE klarstellte, dass unter Gewalt „auch die Versetzung in einen Zustand der Bewusstlosigkeit oder Widerstandsunfähigkeit durch hypnotische oder narkotische oder ähnliche Mittel“ zu verstehen sei.505 Damit sollte die Kontroverse506 des geltenden Rechts, ob Gewalt auch in der gewaltlosen Anwendung von Hypnose oder betäubender Mittel liegen könne, beendet werden.507 Der Tatbestand der Notzucht sollte in § 243508 den Abschnitt der Verbrechen und Ver-

502 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 107. 503 Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 128, 134 ff. 504 Vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 1 ff., 46 ff. und Müting, 2010, S. 58 ff. 505 Dazu Reichsjustizamt, 1909, Allgemeiner Teil, S. 22. 506 s. B.II.1.a). 507 Die Begründung zum Vorentwurf verwies dabei ausdrücklich auf die Ausführungen von Binding in seinem Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts in Binding, 2. Aufl. (1902), S. 83; vgl. Reichsjustizamt, 1909, Allgemeiner Teil, S. 22. Auch Mittermaier hatte die Fälle der physischen Wehrlosmachung als Gewalt eingestuft; vgl. Mittermaier, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, 1906, S. 107. 508 § 243 Notzucht Wer durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger persönlicher Gefahr eine Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nötigt, wird mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft. § 244 Nötigung zur Unzucht, Schändung, Unzucht mit Kindern Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten wird bestraft, wer

144 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

gehen wider die Sittlichkeit einleiten.509 Inhaltlich waren jedoch keinerlei Modifikationen vorgesehen,510 obwohl es dazu verschiedene Vorschläge aus der Wissenschaft, inspiriert auch durch ausländische Rechtsordnungen, gab.511 Die Drohung mit einer gegenwärtigen persönlichen Gefahr für die Angegriffene in § 243 DVE orientierte sich am bisherigen Drohungsbegriff des § 177 RStGB. Es wurde als ausreichend angesehen, dass jeder darunter liegende Zwang von § 240 RStGB erfasst wurde, der in § 240 DVE mit einem erhöhten Strafmaß versehen war. Das Festhalten an dieser Tatbestandsfassung wurde mit „der deutschrechtlichen Auffassung von dem Wesen der Notzucht“ 512 begründet. Hiergegen wurde vorgebracht, dass es diesem Argument an Durchschlagskraft fehle, denn „wohin sollten wir kommen, wenn ein Rechtsbegriff nicht entwicklungsfähig wäre“.513 Um der Bestimmtheit des Tatbestands willen wurde daneben aber auch der Beibehaltung der bisherigen Notzuchtsfassung beigetreten und vorgeschlagen, für den Einsatz minder gewichtiger Drohungen einen speziellen Schärfungsgrund im allgemeinen Nötigungstatbestand zu schaffen.514 Auch Wulffen forderte den Gesetzgeber dazu auf, „den Wert der geschützten weiblichen Geschlechtsehre etwas höher“ 515 anzusetzen und einen nicht unter die Notzucht fallenden Zwang aus dem allgemeinen Tatbestand der Nötigung herausheben wie dies der OVE in § 260516 (Nötigung zum Beischlaf) tue. Dies entspreche einem Praxisbedürfnis, weil der Täter, der die unmittelbare Gewalt meidet, auf die Bedrohung ausweiche.517 Der Drohungsbegriff wurde auch insofern kritisch gese-

1. durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger persönlicher Gefahr eine Frauensperson zur Duldung unzüchtiger Handlungen nötigt; 2. eine bewusstlose oder sonst zum Widerstand unfähige oder eine geisteskranke Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf missbraucht; 3. mit einem Kinde unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder es zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. 509 Vgl. dazu auch Dorn, 1907, S. 20. 510 Der neue Wortlaut „gegenwärtige persönliche Gefahr“ intendierte ebenso wie die Ersetzung der Präposition „mit“ durch „durch“ bzgl. der „Gewalt“ keine sachliche Änderung; vgl. Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 679 f. Diesen unterschiedlichen Präpositionen wurde schon bis dahin kein eigener divergierender Bedeutungsgehalt zugemessen. 511 Aschrott, 1910, S. 130. 512 Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 678 f. 513 Aschrott, 1910, S. 130. 514 Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 384 f. Ähnlich wie heute in § 240 I, IV Nr. 2 StGB. 515 Aschrott, 1910, S. 130 f. 516 Hierbei reichten Drohungen „mit einem rechtswidrigen Nachteil an der Freiheit, einem Angriff auf die Ehre, einer strafgerichtlichen Anzeige oder mit der Offenbarung eines Geheimnisses, dessen Bekanntwerden geeignet ist, die bürgerliche Stellung der Bedrohten zu untergraben“ aus. 517 Aschrott, 1910, S. 131.

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hen, weil die Drohung mit einer gegenwärtigen persönlichen Gefahr für Angehörige des Opfers nicht miteinbezogen war. Der Tatbestand der gewaltsamen Unzucht in § 244 DVE wurde in seinem Wortlaut an den des Tatbestands der Notzucht angepasst, um zu betonen, dass gerade die Beugung des entgegenstehenden Willens der Frau, um sie zur Duldung sexueller Handlungen zu bringen, den Strafgrund des § 244 DVE bildete.518 Durch die Aufnahme des Begriffs der Widerstandsunfähigkeit in § 244 Nr. 2 DVE sollte der Streit über die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Willenlosigkeit in § 176 Nr. 2 RStGB519 zu Gunsten eines erweiterten Strafrechtsschutzes beendet werden. Dagegen war weiterhin nur die Duldung unzüchtiger Handlungen tatbestandlich erfasst und nicht der Zwang zur Vornahme sexueller Handlungen am Täter. Das Erzwingen von Oralverkehr520 oder Onanie sollte auch zukünftig nur als Nötigung bestraft werden können. Für diese restriktive Auffassung verwies man auf die angebliche Seltenheit solcher Konstellationen und verneinte damit deren praktische Relevanz.521 Verhaftet in stereotypen Vorstellungen über die sexuelle Interaktion zwischen Mann und Frau, wurde argumentiert, dass in der Regel der männliche Täter der „angreifende“ Teil sein wird und die Frau der „duldende“.522 Der Nötigungstatbestand wurde als ausreichend angesehen, Konstellationen, die keine Duldung mitbeinhalteten, zu erfassen.523 Der Entwurf zeigte auch insofern keinen Willen zu grundlegenden Änderungen als die Einbeziehung des Mannes in den Opferkreis der gewaltsamen Unzucht abgelehnt wurde. Bemüht wurde hier zum einen wiederum das Argument des fehlenden praktischen Erfordernisses und zum anderen wurde auf die entgegenstehende „deutsche Rechtsentwicklung und die deutsche Auffassung über die Stellung der beiden Geschlechter“ 524 abgestellt. Die Notwendigkeit, den Fokus auf den Schutz der weiblichen Geschlechtsehre zu legen, beruhe zum einen darauf, dass die Frau „schwächer und widerstandsunfähiger“ 525 sei als der Mann, zum anderen aber auch in großem Maße darauf, dass eine Verletzung des weiblichen Rechtsguts Geschlechtsehre für diese „in ethischer und wirtschaftlicher Hinsicht“ erheblich schwerer wiege als für den Mann, weil sie Existenz vernichtend wirken könne.526 Zum Schutz des erwachsenen Mannes wurden deshalb die

518 519 520 521 522 523 524 525 526

Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 679. s. B.II.1.a). Lateinisch: fellatio penis. Aschrott, 1910, S. 132; Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680. Jeweils Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680. Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680. Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680. Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680. Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680.

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Strafvorschriften der Nötigung und der widernatürlichen Unzucht als ausreichend angesehen. Ebenso abgelehnt wurde eine Ausweitung des § 176 Nr. 2 RStGB auf den Missbrauch zu anderen sexuellen Handlungen als den Beischlaf 527 wie auch der Schutz wirtschaftlich abhängiger Personen vor der Abnötigung sexueller Handlungen durch einen neu zu schaffenden Tatbestand. 3. Der Gegenentwurf von 1911 Der Gegenentwurf 528 entstand als Reaktion auf den DVE und wurde von bedeutenden Strafrechtslehrern wie Franz von Liszt verfasst. In völliger Abkehr von der gemeinrechtlichen Rechtstradition und angelehnt an das Preußische StGB von 1851 sollte in § 236529 ein Einheitstatbestand für gewaltsame Unzucht geschaffen werden und dieser den Abschnitt mit dem Titel „Verletzung der Sittlichkeit“ einleiten. Die Erzwingung des Beischlafs war ein lediglich qualifizierendes Moment. Unter Gewalt fielen wiederum die Konstellationen der Herbeiführung eines Zustandes der Widerstandsunfähigkeit und ähnlichem, vgl. § 12 Nr. 6. Völlig neu war die tatbestandliche Erfassung der Dreiecksnötigung, wobei nicht nur die Drohung gegenüber einem Angehörigen, sondern auch einer sonst nahestehenden Person erfasst war.530 Hierbei wollte man der „Gefahr einer schablonenhaften Abgrenzung“ 531 entgehen, gerade auch, weil die Beziehungen zu sonst nahe stehenden Personen oft sehr viel enger seien als zu Verwandten. Auffallend 527 Reichsjustizamt, 1909, Besonderer Teil, S. 680 f. Dazu auch Dorn, Die Frauenbewegung 1906, S. 18; Dorn, 1907, S. 23. Als positiv zu bewerten ist die Einfügung des Tatbestandsmerkmals der sonstigen Widerstandsunfähigkeit in § 244 Nr. 2, weil dadurch die streitige Frage, ob die Zustände der Fesselung, Lähmung und Hypnose unter „willenlos“ in § 176 Nr. 2 RStGB fielen, bejaht werden sollte. 528 Vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 63 ff., 106 ff. und Müting, 2010, S. 63 ff. 529 § 236 Nötigung zur Unzucht. Notzucht Wer eine weibliche Person durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger persönlicher Gefahr für sie oder einen Angehörigen oder eine ihm sonst nahestehende Person zur Duldung einer unzüchtigen Handlung nötigt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Ist die unzüchtige Handlung der außereheliche Beischlaf, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren. § 237 Schändung Wer mit einer weiblichen Person, die wegen Bewußtseinsstörung oder aus anderen Gründen zum Widerstand unfähig ist oder wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche die Bedeutung des Vorganges nicht zu verstehen vermag, eine unzüchtige Handlung vornimmt, wird mit Gefängnis bestraft. Ist die unzüchtige Handlung der außereheliche Beischlaf, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren. 530 Nur das Königlich Sächsische Revidierte StGB von 1868 hatte diese erfasst; s. A.III.4.b). 531 Kahl/v. Liszt, 1911, § 236.

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ist die erhebliche Reduzierung der Strafrahmen im Vergleich zum RStGB und DVE, wobei bei gewaltsamer Unzucht Zuchthaus bis zu fünf Jahren und bei erzwungenem Beischlaf Zuchthaus bis zu zehn Jahren vorgesehen war. Die Herabsetzung der Strafe bei mildernden Umständen wurde nicht mehr im jeweiligen Tatbestand, sondern im Allgemeinen Teil in § 87 geregelt,532 so dass der minder schwere Fall der Notzucht gem. § 87 Nr. 3 i.V. m. § 41 mit Zuchthausstrafe nicht unter zwei Jahren geahndet werden sollte. Als Novum galt auch die Sanktionierung der einfachen Schändung in § 237, so dass bereits die Vornahme unzüchtiger Handlungen an Widerstandunfähigen bestraft werden sollte, wenn auch nur mit Gefängnis. Reaktionär muss der Gegenentwurf insofern bezeichnet werden, als der Mann weiterhin weder als taugliches Opfer einer gewaltsamen Unzucht noch einer Schändung galt. Positiv ist dagegen die tatbestandliche Erfassung des Missbrauchs von wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen, wenn auch nur zum außerehelichen Beischlaf, in § 241533 zu bewerten. Allerdings mutet die Tatbestandsfassung antiquiert an, indem der Schutz nur unbescholtenen weiblichen Personen zuteil werden und in entsprechender Anwendung von § 235 III keine Strafe verhängt werden sollte, wenn zwischen dem Täter und der verletzten Person die Ehe eingegangen wurde. Die Gefahr von Erpressungen schätzte man hierbei nicht erheblicher als bei anderen Sittlichkeitsdelikten ein. Die Entscheidung für einen bestimmt gehaltenen Tatbestand hinsichtlich des Opferkreises begründete man mit der ansonsten bestehenden Gefahr ungleichmäßiger Rechtsprechung. Die geringe Strafandrohung gründete auf der Fremdheit dieser Strafbestimmung gegenüber dem bisherigen Recht.534 4. Die Kommissionsentwürfe eines Strafgesetzbuchs von 1913 und 1919 Der Kommissionsentwurf eines Strafgesetzbuchs von 1913 in der ersten Lesung535 brachte im Vergleich zum DVE von 1909 keine inhaltlichen Änderungen, auch wenn die Nötigung zur Unzucht und die Schändung tatbestandlich voneinander getrennt wurden.536 Eine Ausdehnung des Tatmittels der Drohung im 532

Vgl. dazu Kahl/v. Liszt, 1911, S. 116 ff. § 241 Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses Wer eine unbescholtene weibliche Person unter Ausbeutung ihrer durch Amts- oder Dienstverhältnis oder in ähnlicher Weise begründeten Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf bestimmt, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. § 235 Abs. 3 findet Anwendung. 534 Kahl/v. Liszt, 1911, § 241. 535 Vgl. Müting, 2010, S. 67 ff. und Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 127 ff., 176 ff. 536 § 289 Notzucht Wer eine weibliche Person durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, den außerehelichen Beischlaf zu dulden, wird mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft. 533

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Rahmen einer neu zu schaffenden Strafvorschrift sowie die Sanktionierung des Missbrauchs wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse wurden abgelehnt.537 Gegen die Notwendigkeit eines neu zu schaffenden Tatbestands zum Schutz wirtschaftlich Abhängiger wurde vorgebracht, dass die vorhandenen Strafbestimmungen der Beleidigung, Körperverletzung und Nötigung ausreichten, ein derartiger Tatbestand dem Streben nach scharf umgrenzten Vorschriften im Rahmen der Sittlichkeitsdelikte widerspräche und die dadurch entstehende Erpressungsgefahr nicht unterschätzt werden dürfe.538 Ebenso ablehnend zeigte sich die Mehrheit der Kommissionsmitglieder gegenüber dem Vorschlag, einen neuen § 290a539 zu schaffen, der Strafbarkeitslücken in den Konstellationen schließen sollte, in denen unter anderem eine Frau mit einer berechtigten Strafanzeige zur Duldung einer unzüchtigen Handlung genötigt wurde, wobei der allgemeine Nötigungstatbestand540 hierbei nicht eingriff.541 Die Befürworter stellten darauf ab, dass es „befremdlich“ wirke, dass in diesen Konstellationen sehr wohl eine Strafbarkeit wegen Erpressung eintreten könne, wenn ein Vermögensvorteil erstrebt werde, dass aber der Nötigungserfolg der Unzucht nicht einmal als Nötigung für strafbar erachtet werde.542 Mit der im Rahmen der Sittlichkeitsdelikte wieder§ 290 Nötigung zur Unzucht Wer eine weibliche Person durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, eine unzüchtige Handlung zu dulden, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. § 291 Schändung Wer eine weibliche Person, die bewußtlos oder geisteskrank oder die wegen Geistesschwäche oder aus anderen Gründen zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf missbraucht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. 537 Schubert, 1990, Band 3, S. 152 ff. 538 Schubert, 1990, Band 3, S. 153 f. 539 § 290a sollte lauten: Wer eine weibliche Person zur Duldung des außerehelichen Beischlafs oder einer sonstigen unzüchtigen Handlung dadurch nötigt, dass er sie mit einer Strafanzeige bei einer Behörde, mit einer Ehrverletzung oder mit einer Offenbarung eines Geheimnisses, das eine ehrenrührige Tatsache zum Gegenstand hat, bedroht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis bestraft. 540 § 310 Nötigung (Fassung Entwurf 1913 III); vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 326: Wer einen anderen durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt oder mit einem anderen rechtswidrigen Verhalten zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, zu der dieser nicht rechtlich verpflichtet ist, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 240 RStGB Nötigung lautete: Wer einen anderen widerrechtlich mit Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre oder mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark bestraft. Der Versuch ist strafbar. 541 Schubert, 1990, Band 4, S. 497 f. 542 Schubert, 1990, Band 4, S. 497.

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holt vorgebrachten Argumentation, nur in absolut zwingenden Fällen eine neue Strafvorschrift schaffen zu dürfen, unter anderem auch wegen der Erpressungsgefahr, verneinte die Mehrheit die Notwendigkeit einer Sonderbestimmung. Eine Strafbarkeit wegen Beleidigung erfasse das Unrecht genügend.543 Hierbei zeigte sich ein deutlicher Widerwille, den herkömmlichen Inhalt des Abschnitts über die Sittlichkeitsdelikte einer Änderung oder gar Neubewertung zu unterziehen.544 Der Entwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1919545 regelte die Notzucht und die Nötigung zur Unzucht im 22. Abschnitt über Sittlichkeitsverbrechen in den §§ 314 bzw. 320.546 Die §§ 314 bis 318547 wurden dabei als die Delikte verstanden, die den „schwersten Eingriff in die Geschlechtsehre der Frau“ 548 mit sich brachten, weil hierbei der (außereheliche) Beischlaf vom Täter vollzogen wurde. Dieser Taterfolg, gleich ob abgenötigt, auf Grund eines Zustandes der Widerstandsunfähigkeit ermöglicht oder auf Grund einer Täuschung bzw. Verführung oder einer Machtposition abgerungen, bestimmte die Schwere der Eingriffe. Den Tatmitteln kam nur sekundär Einfluss auf die Schwere des kriminellen Unrechts zu. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die geänderte Abfolge der Vorschriften, so dass die Nötigung zur Unzucht in untypischer Weise erst nach der Blutschande, § 319, und nicht wie sonst üblich nach der Notzucht lokalisiert wurde. Die Nötigung zur Unzucht in § 320 wies zwar im Gegensatz zu § 176 Nr. 1 RStGB einen geänderten Wortlaut auf, die Abwandlungen bezweckten jedoch inhaltlich keinerlei Modifikationen,549 sondern dienten lediglich der Vereinfachung des Gesetzestextes und dem Gleichlauf der tatbestandlichen Struktur mit dem der Notzucht. Die Einbeziehung des Mannes in den Opferkreis

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Schubert, 1990, Band 4, S. 498. Die Dritte Lesung führte lediglich zu einer neuen Nummerierung und Reihenfolge der Tatbestände, so dass die Notzucht unter § 313 und die Nötigung zur Unzucht hinter den Tatbestand der Blutschande, unter § 318, aufgeführt waren. Die Strafe für den minder schweren Fall des § 318 wurde auf drei Monate herabgesetzt. Vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 273 ff., 327 ff. 545 Vgl. Müting, 2010, S. 74 ff. und Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 347 ff., 314 ff. 546 § 314 Notzucht Wer eine Frau durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, den außerehelichen Beischlaf zu dulden, wird mit Zuchthaus bestraft. § 320 Nötigung zur Unzucht Wer eine Frau durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, eine unzüchtige Handlung zu dulden, wird mit Zuchthaus bestraft. 547 § 314: Notzucht; § 315: Schändung; § 316: Erschleichung des Beischlafs; § 317: Verführung; § 318: Nötigung wirtschaftlich Abhängiger zum Beischlaf. 548 Reichsjustizministerium, 1920, S. 260. Unter Frau wurde gem. § 9 Nr. 3 des Entwurfs eine Person weiblichen Geschlechts verstanden, auch eine unverheiratete. 549 Reichsjustizministerium, 1920, S. 264. 544

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wurde auf Grund des Fokus auf die weibliche Geschlechtsehre nicht vorgenommen. Der Tatbestand der Schändung550 folgte dem Tatbestand der Notzucht, dessen Strafandrohung wurde an die der Notzucht angeglichen. Mit dem Tatbestand der Nötigung wirtschaftlich Abhängiger zum Beischlaf 551 wurden dahingehende Forderungen aus der Öffentlichkeit und Wissenschaft teilweise erfüllt, auch wenn der Tatbestand nur die Abnötigung des Beischlafs erfasste. Frauen sollten dadurch vor den „sittlichen Gefahren“, die mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit auf Grund von eigener Berufstätigkeit eintraten, geschützt werden. Der Ruf nach dem Strafrecht war verstärkt aufgetreten, weil Frauen immer mehr am wirtschaftlichen Leben teilnahmen.552 Um der Gefahr des Missbrauchs dieser Vorschrift zu „Racheakten und Erpressungen“ vorzubeugen, wurde empfohlen, eine sorgfältige Prüfung vorzunehmen, ob die Frau auf Grund ihrer wirtschaftlicher Abhängigkeit wirklich genötigt oder nur verführt worden sei.553 Die Möglichkeit von Strafmilderungen im Rahmen der Annahme von minder schweren Fälle blieb bestehen, wobei die Voraussetzungen hierfür allgemein in den §§ 113–116 geregelt und bei jedem Delikt des Besonderen Teils einzeln geprüft werden sollten. Hervorzuheben ist die Intention, den Nötigungstatbestand zu erweitern und die Fälle einer sogenannten Ehrennötigung ebenfalls strafbar zu stellen.554 Damit war immerhin eine Ausweitung des Strafrechtsschutzes vor sexuellen Nötigungen angedacht, allerdings nicht im Rahmen der Sittlichkeitsdelikte, wie im Rahmen der Diskussionen um die Entwürfe von 1913 von einer Minderheit gefordert.

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§ 315 Schändung Wer eine Frau, die bewußtlos oder geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus anderen Gründen zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit Zuchthaus bestraft. 551 § 318 Nötigung wirtschaftlich Abhängiger zum Beischlaf Wer eine Frau durch Mißbrauch ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. Heiratet der Täter die Frau, so wird die Tat straflos. Dies gilt nicht, wenn die Ehe für nichtig erklärt wird. 552 Reichsjustizministerium, 1920, S. 263. 553 Reichsjustizministerium, 1920, S. 263. 554 Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 400, § 312: So war im Rahmen des allgemeinen Nötigungstatbestand des § 312 ein neuer zweiter Abschnitt vorgesehen: Wer durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt oder mit einem Verbrechen oder Vergehen einen anderen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer einen anderen durch Drohung mit einer Strafanzeige oder anderen Nachteilen für Ehre oder guten Ruf nötigt, sich einer gegen die guten Sitten verstoßenden Zumutung zu fügen. Der Versuch ist strafbar.

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5. Die Amtlichen Entwürfe eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922, 1925 und 1927 Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922,555 der auch als Entwurf Radbruch bezeichnet wird, weil er in großen Teilen auf die Arbeit des damaligen Reichsministers für Justiz, Gustav Radbruch, zurückgeht, war vor allem für die Bestimmungen des Allgemeinen Teils maßgebend.556 Die Sexualstraftaten wurden keinen bedeutsamen Änderungen unterzogen. Die Nötigung zur Unzucht und die Notzucht waren in den §§ 248, 249 im 20. Abschnitt mit dem Titel „Unzucht“ zu finden.557 Der Tatbestand der Nötigung zur Unzucht leitete, in Abkehr zu vorhergehenden Entwürfen, den Abschnitt ein. Inhaltlich waren im Vergleich zum RStGB nahezu keine Modifikationen vorgesehen. Die Definition der Gewalt unterschied sich jedoch von den vorhergehenden Entwürfen, indem diese gem. § 11 Nr. 6 vorliegen sollte, wenn die Anwendung von Hypnose und betäubenden Mitteln, zu dem Zweck, jemanden gegen seinen Willen bewusstlos oder widerstandsunfähig zu machen, angewendet wurde.558 Bisher unter § 177 Hs. 2 RStGB fallende Konstellationen, in denen sich beispielsweise 555 Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 2, S. 1 ff., 41 ff. Der Entwurf entstand in enger Zusammenarbeit mit der österreichischen Justizverwaltung und wurde von österreichischen Reformvorstellungen beeinflusst; vgl. näher die Begründung zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, 1954, S. 3. 556 Näher Müting, 2010, S. 80 ff. 557 § 248 Nötigung zur Unzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, wird mit strengem Gefängnis bis zu zehn Jahren bestraft. § 249 Notzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen, wird mit strengem Gefängnis bestraft. § 250 Schändung Wer eine Frau, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zur Unzucht mißbraucht, wird mit Gefängnis bestraft. Der Versuch ist strafbar. § 251 Schwere Schändung Wer eine Frau, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit strengem Gefängnis bestraft. § 255 Nötigung Abhängiger zum Beischlaf Wer eine Frau durch Mißbrauch ihrer durch ein Dienst- oder Abhängigkeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Die Tat wird nur mit Zustimmung der Verletzten verfolgt. Hat der Täter die Frau geheiratet, so wird die Tat nur verfolgt, wenn die Ehe für nichtig erklärt worden ist. 558 Reichsjustizministerium, 1925, Erster Teil, S. 11 f. Diese Fassung wurde in allen nachfolgenden Entwürfen beibehalten.

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eine Frau auf Grund ärztlicher Anordnung mit einer Narkotisierung einverstanden erklärt hatte,559 sollten somit von einem Tatbestand der Schweren Schändung erfasst werden. Letztendlich war damit keine neue rechtliche Bewertung eines derartigen Vorgangs verbunden, weil diese Konstellationen schon stets als uneigentliche Notzucht bzw. Schwere Schändung bezeichnet worden waren und sich das Strafmaß glich. Neu war allerdings die Intention, einen Tatbestand der einfachen Schändung in § 250 zu schaffen und damit auch den Missbrauch zur Unzucht in dem Zustand der Widerstandsunfähigkeit zu sanktionieren. Die bisher stets angedrohte Zuchthausstrafe für schwere Delikte sollte insgesamt abgeschafft werden, so dass diese Strafart in den Delikten des Besonderen Teils und damit auch in den §§ 248 ff. durch strenges Gefängnis gem. §§ 30, 31 ersetzt wurde. Mildernde Umstände erfuhren in den §§ 73 i.V. m. 72 eine allgemeine Regelung, so dass sich die Strafandrohung bei einem minder schweren Fall der Notzucht auf Gefängnis nicht unter drei Monaten belief. Der Amtliche Entwurf von 1925560 lehnte sich stark an den Radbruchschen Entwurf an und regelte die Notzucht und Nötigung zur Unzucht561 im 21. Abschnitt mit dem Titel „Unzucht“.562 Statt der Freiheitsstrafe des strengen Gefängnisses war wiederum Zuchthausstrafe vorgesehen. Ansonsten erfuhren die Delikte der Notzucht und Nötigung zur Unzucht keinerlei inhaltliche Änderungen.563 Hervorhebenswert ist das Festhalten an der Intention, die Schändung nach dem Vorbild des Österreichischen Gegenentwurfs564 auch auf den Missbrauch zur Un559 Wobei der Täter von Anfang an mit verbrecherischer Intention vorangegangen sein musste. 560 Die Beratungen über den Entwurf Radbruch hatten sich auf Grund wirtschaftlicher und politischer Probleme, die 1923 im Zusammenbruch der deutschen Währung, dem Ruhreinbruch durch belgisch-französische Truppen sowie dem Hitlerputsch in München gipfelten, verzögert. 561 § 255 Nötigung zur Unzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. § 256 Notzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bestraft. Diese Reihenfolge wurde kritisiert, weil die Notzucht das „Kerndelikt“ oder das „Hauptdelikt“ dieses Abschnitts sei; vgl. Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 382, 384. 562 Dieser Abschnittstitel erfuhr Kritik, wobei stattdessen „Verletzung der Sittlichkeit“ oder „Verletzung oder Gefährdung der Sittlichkeit“ vorgeschlagen wurde; vgl. Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 379. 563 Der vom Radbruchschen Entwurf übernommene Wortlaut „mit Gewalt“ in §§ 255 und 256 bezweckte ebenso wenig eine neue Auslegung dieses Tatmittels, wie die neue Wendung „sich zur Unzucht missbrauchen zu lassen“ in § 255. Diese sollte die bisherige Formulierung des § 176 Nr. 1 RStGB lediglich zusammenfassen. Vgl. Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 131 f. 564 Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 132.

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zucht erstrecken zu lassen565 und die Nötigung wirtschaftlich Abhängiger zum Beischlaf zu sanktionieren.566 Das hierfür bestehende Strafbedürfnis wurde ebenso wie schon in der Begründung zum Entwurf von 1919 auf die besonderen „sittlichen Gefahren“ 567 gestützt, denen eine berufstätige Frau verstärkt ausgesetzt sei. Der Umstand, dass nur die Frau als Tatobjekt der Nötigung zur Unzucht wie auch der Schändung anerkannt war, stieß auf Kritik.568 Ebenso kritisch wurde das Festhalten an der Einengung des Nötigungserfolgs in diesen Tatbeständen gesehen, der sich auf den passiven Missbrauch zur Unzucht beschränken und die Nötigung zur Vornahme sexueller Handlungen, wie das Erzwingen von Berührungen oder auch des Oralverkehrs und ähnliches nicht erfassen sollte.569 Der Entwurf von 1927570 ist nahezu identisch mit dem Entwurf von 1925.571 Die maßgeblichen Vorschriften finden sich im 21. Abschnitt der Unzucht in den §§ 282 ff.572 6. Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts Der Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts573 entstand aus Beratungen über den Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1925 und befasste sich kritisch mit den Vorschriften, die das Sexualleben betrafen. Dabei stand laut dem Vorwort die Intention im Vordergrund, „eine einheitliche, humane und gerechte, die Gesellschaft und das Individuum zugleich schützende Behandlung der Sexualität durch das Strafrecht“ 574 zu gewährleisten. Der Amtliche Entwurf wurde äußerst kritisch gesehen, weil der Abschnitt über die Sexualdelikte immer noch stark „von der alten kirchlichen Tradition“ 575 geprägt sei. Dabei fand sich die fortschrittliche Auffassung, Sexualdelikte in einer einzigen Strafbestimmung zusammenfassen zu können, in565 Dies wurde auch in Kreisen der Frauenbewegung als äußerst positiv gewertet; vgl. Lüders, Die Frau 1925, S. 133. 566 Diese Vorschrift wurde wegen der Erpressungsgefahr auch kritisch beurteilt; vgl. Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 397. 567 Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 133. 568 Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 381, 385. 569 Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 381 f., 385. 570 Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 2, S. 125 ff., 176 ff. 571 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, 1954, S. 143. 572 Lediglich einzelne Strafandrohungen erfuhren Modifizierungen, so dass im Tatbestand der einfachen Schändung, § 284, eine Mindeststrafe von Gefängnis nicht unter sechs Monaten und im Tatbestand der Nötigung Abhängiger zum Beischlaf, § 289, gem. § 35 des Entwurfs Gefängnisstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren festgesetzt wurden. 573 Das Kartell war ein Zusammenschluss aus sexualreformatorischen und humanitären Vereinen. 574 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 5. 575 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 7.

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dem nur dann Strafe eintreten sollte, „wenn die Tat unter Anwendung von Drohungen oder Gewalt, wenn sie an Geschlechtsunreifen oder Willenlosen oder wenn sie in einer Weise, die öffentliches Ärgernis erregt“,576 durchgeführt werde. Letztendlich verabschiedete man sich von derartig weitreichenden, geradezu revolutionär anmutenden Vorschlägen wieder und hielt sich an den Aufbau des Entwurfs. Begründet wurde dies mit den Belangen der „Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit“, die „bei der Mentalität vieler Richter, auf dem Gebiete des Geschlechtlichen vielleicht gefährdeter sind als irgendwo anders“.577 Der Gegenentwurf sah sich dem Rechtsgutsprinzip verpflichtet578 und forderte die Beschränkung der Sexualdelikte auf Verletzungen der freien menschlichen Selbstbestimmung, der menschlichen Gesundheit und der Interessen der „Geschlechtsunreifen“.579 Begriffe wie „sittliches Empfinden“ und „sittliche Grundanschauungen“ 580 wurden äußerst kritisch beurteilt, da sie die Quintessenz des Strafbedürfnisses bestimmter sexueller Verhaltensweisen verwässerten.581 Auf die Verwendung des Begriffs der „Sittlichkeit“, verstanden als „Negation des Geschlechtslebens“ 582 sollte der Gesetzgeber nach Ansicht des Kartells ganz verzichten.583 Der Abschnittstitel „Unzucht“ wurde demnach für untragbar erklärt, weil sexuelle Vorgänge, auch außerhalb der Ehe, an sich natürlich und nicht verwerflich seien und nur in bestimmten Konstellationen unter bestimmten Bedingungen „unzüchtig“ würden.584 Der Gegenentwurf schlug aus diesem Grund als Titel des 21. Abschnitts „Verbotene geschlechtliche Handlungen“ vor und ersetzte in allen Vorschriften dieses Komplexes den Begriff der „Unzucht“ durch „geschlechtlich“ bzw. „geschlechtliche Handlung“.585 Der Abschnitt sollte wie 576 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 7. Vgl. auch Hirschfeld, 1929, S. 656. 577 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 7. 578 Strafe setzte danach eine Verletzung oder Gefährdung „rechtsschutzwürdiger Interessen (Rechtsgüter)“ voraus; Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8. Zur Entstehung der Rechtsgutslehre vgl. bereits B.I. 579 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8. 580 Jeweils Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8. 581 Dazu auch Hirschfeld, 1929, S. 611 ff. Vgl. die ausführliche Darstellung der Gegenposition durch Schetter in der 80. Sitzung des Reichstagsausschusses, in: Schubert, 1997, S. 6 f. 582 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8. 583 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8. 584 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8, 33. 585 § 255 Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen Wer eine Person mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zu geschlechtlichen Handlungen mißbrauchen zu lassen, wird mit Gefängnis bestraft. § 256 Notzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bestraft.

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der Amtliche Entwurf mit dem Tatbestand der Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen, § 255, beginnen. Dem Kartell war es dabei ein großes Anliegen, das oftmals als zu hoch empfundene Strafmaß für zahlreiche Sexualdelikte herabzusetzen und an die Tatbestände der Körperverletzung anzugleichen. Daraus erklärt sich die drastische Minderung der Strafandrohung in § 255 auf Gefängnisstrafe586 an Stelle von Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Das Kartell hob hervor, dass es in keinem Verhältnis stehe, die grausame Kindesmisshandlung in § 240 des Amtlichen Entwurfs mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, zu bestrafen, die Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen aber generell mit Zuchthaus, gerade auch weil Misshandlungen oftmals mit Absicht getätigt würden und nicht im Affekt.587 Der Umstand, dass die Delikte der Notzucht und Schweren Schändung laut des Amtlichen Entwurfs dreimal so schwer geahndet werden sollten wie die „absichtlich quälende Körperverletzung und Mißhandlung an Kindern, Kranken und anderen Wehrlosen“ veranlasste das Kartell zu der Forderung, die Strafrahmen der §§ 255–259 an den des § 240 anzupassen.588 Der Entwurf des Kartells sah nichtsdestotrotz weiterhin Zuchthausstrafe für das Delikt der Notzucht vor.589 Neben der Herabsetzung der Strafandrohung war es dem Kartell ein Bedürfnis,

Ebenso wird bestraft, wer mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine männliche Person nötigt, sich zu beischlafartigen Handlungen mißbrauchen zu lassen. § 257 Schändung Wer eine Person, die durch Bewußtlosigkeit oder Geisteskrankheit zum Widerstande unfähig ist, geschlechtlich missbraucht, wird mit Gefängnis bestraft. Der Versuch ist strafbar. § 258 Schwere Schändung Wer eine Frau, die durch Bewußtlosigkeit oder Geisteskrankheit zum Widerstande unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit Zuchthaus bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine männliche Person, die durch Bewußtlosigkeit oder Geisteskrankheit zum Widerstande unfähig ist, zu beischlafartigen Handlungen mißbraucht. § 262 Nötigung Abhängiger zu geschlechtlichen Handlungen Wer eine Person, die auf Grund eines Dienst- oder Abhängigkeitsverhältnisses von ihm abhängig ist, durch Drohung mit einer Verschlechterung dieses Verhältnisses oder mit Kündigung nötigt, sich zu außerehelichen geschlechtlichen Handlungen mißbrauchen zu lassen, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Die Tat wird nur auf Antrag der verletzten Person verfolgt. Hat der Täter die missbrauchte Person geheiratet, so wird die Tat nur verfolgt, wenn die Ehe für nichtig erklärt worden ist. 586 Gem. § 31 des Amtlichen Entwurfs von 1925 belief sich der Strafrahmen der Gefängnisstrafe zwischen einer Woche und höchstens fünf Jahre. 587 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8, 33. 588 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 8, 33 f. 589 Das Kartell hatte sich dafür entschieden, die Zuchthausstrafe beizubehalten, obwohl es die Ehrenstrafe an sich kritisch bewertete. Die Lösung dieser Sachfrage war jedoch im Gegenentwurf auf Grund des Fokus auf bestimmte Fragen nicht vorgesehen. Vgl. Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 9 f.

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die Gleichstellung von Mann und Frau im Rahmen der Sexualdelikte voranzutreiben. Der Schutz der sexuellen Freiheit sollte beiden Geschlechtern gleichberechtigt zuteil werden, so dass in allen Delikten der §§ 255 ff. der Mann als Schutzobjekt installiert wurde.590 In Tatbeständen, die als Nötigungserfolg den Missbrauch zum (außerehelichen) Beischlaf beinhalteten,591 wurde für die gegen das männliche Opfer gerichtete sexuelle Handlung der Terminus der „Beischlafartigkeit“ eingeführt. Durch diese Bezeichnung wollte sich das Kartell ausdrücklich von dem im Amtlichen Entwurf in § 267592 (Unzucht zwischen Männern) verwendeten Begriff der Beischlafsähnlichkeit abgrenzen und klarstellen, dass unter „beischlafartig“ nur der Analverkehr593 zu verstehen zu sei.594 Als dringend notwendig erachtete man diesen der tatbestandlichen Bestimmtheit dienenden Terminus auf Grund der Rechtsprechung des Reichgerichts zu § 175 RStGB, weil dieses auch sexuelle Handlungen ohne Penetration des männlichen Gegenübers als beischlafsähnlich wertete.595 Diese extensive Auslegung wurde vom Kartell äußerst kritisch bewertet.596 Der Schutz von sozial abhängigen Personen, wie er vom Kartell im Tatbestand des § 262 vorgesehen war, sollte erstmalig auch männliche Personen erfassen und nicht nur den Missbrauch zum (außerehelichen) Beischlaf, sondern auch zu jeder anderen sexuellen Handlung.597 Das Kartell betonte dabei, dass der Schutz dieses Personenkreises gar „nicht weit genug gehen“ 598 könne. Dazu im Widerspruch stand die tatbestandlich vorgesehene Restriktion des § 262, indem der Nötigungszwang explizit auf eine „Drohung mit einer Verschlechterung dieses Verhältnisses oder mit Kündigung“ zurückgehen musste. Die Fassung des Amtlichen Entwurfs in § 262599 wurde als zu unbestimmt eingestuft.600

590 591 592

Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 34. §§ 256, 258, 261, 263, 264 des Entwurfs des Kartells. Dieser sollte den Tatbestand der widernatürlichen Unzucht, § 175 RStGB erset-

zen. 593

Lateinisch: Pedicatio. Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 34 f. 595 Vgl. Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 175 Anm. 2. 596 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 34 f. Das Kartell spricht dabei von einer „tragikomischen Kasuistik strafbarer Handlungen“, die das Reichsgericht mit dieser Rechtsprechung entwickelt habe. 597 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 36. 598 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 36. 599 § 262 Nötigung Abhängiger zum Beischlaf Wer eine Frau durch Mißbrauch ihrer durch ein Dienst- oder Abhängigkeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Die Tat wird nur mit Zustimmung der Verletzten verfolgt. Hat der Täter die Frau geheiratet, so wird die Tat nur verfolgt, wenn die Ehe für nichtig erklärt worden ist. 600 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 36. 594

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Der Fokus des Entwurfs des Kartells lag – insgesamt gesehen – auf der Abkehr von einem repressiven Moralstrafrecht hin zu einem liberalen Strafrecht, das sich strikt am Rechtsgutsprinzip orientierte. Die Schaffung bestimmt gefasster Tatbestände, die Herabsetzung von Strafandrohungen sowie das Abrücken von Begriffen wie Sittlichkeit und Unzüchtigkeit sind hiefür kennzeichnend. Die progressive Einstellung hinsichtlich der Sexualdelikte in Form der Abkehr von herkömmlichen Tatbestandsbildern zeigt sich zum einen überaus deutlich an der tatbestandlichen Gleichstellung von Mann und Frau innerhalb der §§ 255 ff. sowie zum anderen an dem ausführlichen Plädoyer für eine Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen in § 175 RStGB.601 Die Grundeinstellung des Kartells, das Strafrecht im Rahmen der Sexualdelikte zurückhaltend einzusetzen und gerade nicht auszubauen,602 wirkte sich für den Opferschutz jedoch auch hemmend aus. Der Anwendungsbereich von § 262 sollte eingeschränkt werden. Eine Ausweitung der Tatmittel der Notzucht bzw. Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen, die in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts andiskutiert worden war,603 wurde nicht angedacht. Das Problem der Notzucht und Nötigung zur Unzucht im Reichsstrafgesetzbuch wurde nicht in der Beschränktheit der Nötigungsmittel gesehen, so dass diesbezüglich keine Ausweitung des inhaltlichen Schutzes der sexuellen Integrität für notwendig erachtet wurde. 7. Der Entwurf Kahl von 1930 Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1930, auch Entwurf Kahl genannt,604 brachte vor allem hinsichtlich der Tatobjekte der Nötigung zur Unzucht in § 282, der (einfachen) Schändung in § 284 und der Nötigung Abhängiger zur Unzucht in § 289 im 21. Abschnitt mit dem Titel „Unzucht“ Fortschritte.605 Wie im Entwurf des Kartells für Reform des Sexualstraf601

Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, 1927, S. 38 ff. Diese beiden gegensätzlichen Positionen prägten die Reformdiskussion; vgl. dazu Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 131; sowie Schetter in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 6 f. 603 s. C.I.1. 604 Wilhelm Kahl war Vorsitzender der Strafrechtsausschüsse des Reichstags; vgl. zu seiner Person Schubert, 1995. 605 § 282 Nötigung zur Unzucht Wer eine Person mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Der Versuch ist strafbar. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren. § 283 Notzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bestraft. 602

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rechts gefordert, wurde hierbei erstmalig in einem Amtlichen Entwurf der Mann für opfertauglich erklärt606 sowie der Strafrahmen im Rahmen der Nötigung zur Unzucht auf Gefängnis nicht unter drei Monaten herabgesetzt. Ansonsten blieb es bei den herkömmlichen Begriffen der Unzucht und der Nichteinbeziehung des Mannes in die Tatbestände der Notzucht und Schweren Schändung. Die Anträge in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08. Oktober 1929, den 21. Abschnitt mit „Verbotene geschlechtliche Handlungen“ zu betiteln sowie den Begriff der Unzucht im Tatbestand des § 282 sowohl im Titel als auch im Tatbestand selbst mit geschlechtlich zu ersetzen,607 konnten sich nicht durchsetzen.608 Dem progressiven kommunistischen Antrag,609 in § 283 das Wort „außerehelich“ zu streichen, wurde mit Ablehnung begegnet. Der Vorschlag wurde von sozialdemokratischer Seite als „abstrus“ bezeichnet, weil „der Richter in das eheliche Schlafzimmer eindringen müsse“, um dem Notzuchtsvorwurf nachzugehen.610 Alexander von der Kommunistischen Partei KP erhob die Frage, warum dem Ehemann das Recht zustehe, seine „Frau zu vergewaltigen“ und verdeutlichte, dass das in diesem Zusammenhang stets vorgebrachte Argument der Heiligkeit der Ehe keine tragfähige Begründung lieferte und dem berechtigten Schutzinteresse der Ehefrau zuwider lief.611 Diese Klarheit war äußerst selten, eine Erwiderung blieb aus. Vielmehr wies Moses im Anschluss darauf hin, dass es physisch außerordentlich schwer, ja fast unmöglich sei, eine Frau mit Gewalt zum vollendeten Beischlaf zu bringen, solange ihre physische Widerstandskraft nicht gebrochen sei. In den Kliniken werde oft gezeigt, welche ungeheure Muskelkraft die Frau in

§ 284 Schändung Wer eine Person, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zur Unzucht mißbraucht, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Der Versuch ist strafbar. § 285 Schwere Schändung Wer eine Frau, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. § 289 Nötigung Abhängiger zur Unzucht Wer eine Person unter Mißbrauch ihrer durch ein Dienst- oder Abhängigkeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit Gefängnis bestraft. (. . .). 606 Die Mehrheit des 21. Ausschusses des Reichstags hatte sich für eine diesbezügliche Gleichbehandlung von Mann und Frau ausgesprochen; vgl. Strathmann in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 6. 607 Alexander, Maslowski, Ewert, in: Schubert, 1997, S. 2 f. 608 Vgl. die Begründung von Ebermayer, in: Schubert, 1997, S. 14. 609 Alexander, Maslowski, Ewert, in: Schubert, 1997, S. 3. 610 Jeweils Marum in der 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 18. 611 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 18.

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den Schenkeln habe.612 Er bat deshalb, zu berücksichtigen, dass in der Mehrzahl der Fälle, die als gewaltsamer Beischlaf qualifiziert würden, eher Misstrauen angebracht sei,613 wobei nachfolgend kein Widerspruch erhoben wurde, sondern vielmehr Schäfer die Richtigkeit dieser Auffassung betonte.614 Unter Hinweis auf die Verurteilungsstatistik wurde für die Notzucht eine deutliche Herabsetzung der Gefängnisstrafe, nicht unter sechs Monaten als Regelstrafe, plädiert.615 Die Gegenposition wandte sich strikt gegen diesen Vorschlag, weil dies in krassem Widerspruch zur ausnahmslosen Einordnung des Raubes als Verbrechen stünde616 und es der Ansicht des Volkes widerspreche, wenn alle Notzuchtsfälle zukünftig in die Zuständigkeit der Schöffengerichte fielen.617 In Ausprägung der allgemeinen Anschauung, dass es im Rahmen von Notzuchtsgeschehen eine vis haud ingrata gebe, wurde ebenfalls gefordert, in den Tatbeständen der §§ 282 und 283 jeweils nach dem Wort „sich“ die Worte „gegen ihren ernsten Willen“ einzufügen.618 Dieser Vorschlag wurde jedoch als überflüssig abgelehnt, weil Gewalt schließlich nur die „wirkliche Gewaltanwendung und Brechung eines ernstlichen entgegenstehenden Willens“ umfasse.619 Der Tatbestand der Notzucht blieb letzten Endes unangetastet. Des Weiteren konnte man sich nicht dazu entschließen, den Anwendungsbereich der Nötigung zur Unzucht in § 282 zu erweitern und auch die Nötigung einer Frau zur aktiven Vornahme sexueller Handlungen strafbar zu stellen. Strathmann schlug zwar für § 282 den Wortlaut „zur Duldung oder Vornahme unzüchtiger Handlungen“ vor, um alle Unsicherheiten über den Begriff des Missbrauchs zur Unzucht auszuräumen.620 Die Ausführungen Ebermayers, dass bereits damals beide Verhaltensformen unter diesen Ausdruck subsumiert würden, gehen jedoch fehl.621 Denn in der Begründung zum Entwurf von 1927 heißt es, dass mit der 612 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 18 f.; ebenso Ort, 1932, S. 23; auch v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 177 Anm. 4 geht auf diese Vorstellung ein. 613 Schubert, 1997, S. 18 f. 614 Schubert, 1997, S. 19 unter Hinweis auf die Verurteilungsstatistik des Jahres 1926, wobei von 880 Fällen in 421 auf Gefängnis von drei Monaten bis unter einem Jahr erkannt worden sei, was auf eine lediglich versuchte Deliktsbegehung hindeute. 615 Rosenfeld, in der 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 17. 616 Strathmann, in der 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 17. 617 Schäfer, in der 81. Sitzung des Reichstags vom 09.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 17. 618 Alexander, Maslowski, Ewert, in: Schubert, 1997, S. 3. 619 Marum, in 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 14. 620 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 4 f. Ebenso Ebermayer, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 14. 621 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 14.

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neuen Wendung des Missbrauchs zur Unzucht keinerlei sachliche Änderung des geltenden Rechts, namentlich des § 176 Nr. 1 RStGB, bezweckt sei.622 8. Impulse aus der deutschen Frauenbewegung Die deutsche Frauenbewegung623 Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich intensiv mit der Reform des Strafrechts und forderte eine Zuziehung von Frauen bei der anstehenden Strafrechtsreform.624 Dabei richteten Frauenvereine Petitionen mit konkreten Reformvorschlägen an das Reichsjustizamt.625 Mit Recht wurde konstatiert, dass es nicht angehe, über Bestimmungen zu entscheiden, die zum größten Teil Frauen beträfen, ohne diesen vorher Gehör zu schenken.626 Die Vorschläge müssen jedoch jeweils vor dem Hintergrund „taktischer Selbstbeschränkung“ und dem damals vorherrschenden „konservativen Eheverständnis“ gesehen werden.627 Daraus erhellt sich, dass zunächst nur an § 176 Nr. 2 RStGB der Ausschluss ehelichen Missbrauchs beanstandet und die Kritik nicht auf § 177 RStGB erweitert wurde.628 Die Ausdehnung des Tatbe622 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, 1954, S. 143. Allerdings sollte zumindest der eklatante Widerspruch hinsichtlich der Rechtsfolgen, der noch im Entwurf von 1927 bestanden hatte, indem im Rahmen des § 282 die Nötigung, sexuelle Handlungen zu dulden, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, die Abnötigung der aktiven Vornahme von sexuellen Handlungen gem. § 279 (Nötigung) aber lediglich mit Gefängnis bedroht wurde, entschärft werden: Nötigung, § 279: Gefängnisstrafe gem. § 35 (Strafrahmen von einer Woche bis fünf Jahre); Nötigung zur Unzucht, § 282: Gefängnis nicht unter drei Monaten und in besonders schweren Fällen Zuchthaus bis zu fünf Jahren. Um Strafbarkeitslücken in Fällen der sog. Ehrennötigung entgegenzutreten (seit dem Entwurf von 1919 waren derartige Konstellationen erfasst; vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 1, S. 400, § 312), sollte ferner in § 280 ein eigenständiger Tatbestand als Erweiterung des allgemeinen Nötigungstatbestands geschaffen werden; vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 2, S. 243. So war im Anschluss an den allgemeinen Nötigungstatbestand des § 279 ein neuer § 280 mit dem Titel Ehrennötigung vorgesehen: Wer jemand durch Drohung mit einer Strafanzeige oder mit der Offenbarung einer Tatsache, die geeignet ist, den Ruf zu gefährden, nötigt, sich einer gegen die guten Sitten verstoßenden Zumutung zu fügen, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft, gleichviel, ob das angedrohte Übel den Bedrohten selbst oder einen anderen treffen soll. Der Versuch ist strafbar. 623 Vgl. zu den Anfängen und der Entwicklung der deutschen Frauenbewegung Gilde, 1999, S. 21 ff., 54 ff.; Twellmann, Die Deutsche Frauenbewegung. Ihre Anfänge und erste Entwicklung, 1972 und Twellmann, Die Deutsche Frauenbewegung im Spiegel repräsentativer Frauenzeitschriften, 1972. 624 Vgl. Gilde, 1999, S. 112 ff. 625 Vgl. Augspurg, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung 1904. 626 Vgl. Augspurg, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung 1904. 627 Gilde, 1999, S. 116 f. Der 1905 durch Helene Stöcker gegründete Bund für Mutterschutz hob sich von der Mehrheit ab, indem er die freie Entfaltung auf dem Gebiet der Sexualität propagierte, also für voreheliche und nichteheliche Beziehungen eintrat; vgl. Gilde, 1999, S. 57 f. 628 Gilde, 1999, S. 116 ff.

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stands durch § 236 des Gegenentwurfs, in dem die Dreiecksnötigung explizit aufgenommen werden sollte, wurde ausdrücklich begrüßt.629 Konkrete inhaltliche Vorschläge zur Ausgestaltung der Notzucht und Nötigung zur Unzucht, insbesondere zu den Nötigungsmitteln der Gewalt und Drohung sowie hinsichtlich der Beschränkung auf außereheliche sexuelle Handlungen, fehlen jedoch. Vor dem Hintergrund, dass bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19.01.1919 Frauen mit einem Prozentsatz von 9,6% Abgeordnetenstatus erreichten, erscheint dies auf den ersten Blick verwunderlich. Dies ist jedoch darauf zurückzuführen, dass diese Abgeordneten der SPD angehörten und als „gemäßigte“ Frauenrechtlerinnen bereit waren, sich dem Parteizwang zu unterwerfen. „Radikale“ Feministinnen aus der „bürgerlichen“ Frauenbewegung wie beispielsweise Anita Augspurg fehlten in der Nationalversammlung.630 Die Reaktion auf die „Blankeneser Notzuchtsaffäre“ 631 zeigt jedoch, dass die Stereotypen des ernstlichen Widerstands und der Bescholtenheit starker Kritik ausgesetzt waren und die Rechtsprechung zur Notzucht unter Beobachtung stand. So wurde denn auch gefordert, dass die Frau „nach dem objektiven Tatbestande des Sittlichkeitsdeliktes und nicht nach ihrer Bescholtenheit oder Unbescholtenheit“ 632 bestraft oder geschützt werde solle. In diesem Zusammenhang standen auch der Schutz arbeitender Frauen vor sexuellen Übergriffen im Zentrum633 wie auch allgemein der Schutz von Frauen, die sich alleine auf der Straße bewegten und dabei mehrfach ausschließlich wegen dieses Umstands – ohne irgendwelche Anhaltspunkte – der Prostitution634 verdächtigt wurden. Oftmals wurden Frauen hierbei von der Polizei – entweder auf Grund der Denunziation eines Mannes oder auf Grund polizeilicher Initiative – festgenommen und erst wieder frei gelassen, wenn die Richtigkeit der Angaben bestätigt war.635 Daneben stand schwerpunktmäßig die 629

Gilde, 1999, S. 120 ff. Gilde, 1999, S. 171 ff. 631 s. B.II.2. 632 Mohr, Die Frauenbewegung, 1907. 633 Vgl. Herrmann, Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung 1900; Gilde, 1999, S. 102 ff., 149 ff., 213 ff. 634 Gewerbsmäßige Unzucht gem. § 361 Nr. 6 RStGB. 635 Vgl. Raschke, Die Frauenbewegung, 1897; Raschke, Die Frauenbewegung, 1902. Im „Fall Köppen“ wurde Ende des Jahres 1897 in Berlin eine Minderjährige irrtümlich festgenommen und sofort einer Gesundheitskontrolle unterzogen. Als sich die Unschuld der jungen Frau herausstellte, griff die Frauenbewegung diesen Fall auf. Er bildete 1898 den Anlass für eine erste große Protestversammlung, die unter dem Titel „Die Schutzlosigkeit der Frau im öffentlichen Leben“ stattfand und diese Übergriffe stark kritisierte. Initiiert wurde sie von Minna Cauer, der Vorsitzenden des Vereins „Frauenwohl“. Der Vorwurf lautete, daß zwischen „unbescholtenen“ und „bescholtenen“ Frauen nicht differenziert werde und „unbescholtene“ Frauen auf öffentlichen Straßen und Plätzen vor Belästigungen, die paradoxerweise von der Polizei ausgingen, nicht sicher seien. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass die hierdurch eintretende starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Frauen vor allem nachts oder ohne männliche Begleitung letztendlich toleriert und gefördert werde; vgl. Himmelsbach, 1996, S. 30 f. 630

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sogenannte Sittlichkeitsfrage im Vordergrund. Diese betraf den Umgang mit der Prostitution, namentlich die Abschaffung der Reglementierung der Prostitution,636 die Problematik des Mädchenhandels und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.637 Einen weiteren großen Schwerpunkt der Arbeit bildete die gleichberechtigte Teilhabe an Studium und Beruf sowie das Frauenstimmrecht.638 9. Kritische Würdigung Die Reformdiskussionen waren von der Frage geprägt, inwieweit das Strafrecht notwendiges und auch taugliches Mittel sei, sexuelle Verhaltensweisen zu steuern. Die Abkehr von herkömmlichen, in der Tradition der christlichen Kirche verankerten konservativen Einstellungen,639 von Rosefeld als „verkalkt“ 640 bezeichnet, war Gegenstand intensiven Streits.641 Dabei stand das in zahlreichen Tatbeständen verankerte Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs642 auf dem Prüfstand sowie insbesondere der Tatbestand der widernatürlichen Unzucht, § 175 RStGB.643 Es finden sich Anstöße, einem bloßen Moralstrafrecht entgegenzutreten.644 Dem Gesetzgeber fiel es jedoch sichtlich schwer, sich von traditionellen Anschauungen zu lösen; er betonte regelmäßig, dass es gerade auf dem Gebiet der Sittlichkeitsdelikte äußerst wichtig sei, mit „dem Empfinden und den sittlichen Grundanschauungen des Volkes Fühlung zu halten“.645 Deutlich zu Tage tritt die Kontroverse über die den sogenannten Sittlichkeitsdelikten stets immanente Frage, ob das Sexualstrafrecht vorrangig dem Schutz des Kollektivs 636 Hierbei übte die Bewegung des Abolitionismus großen Einfluss, die 1875, initiiert durch Josephine Butler, in England ihren Ursprung hatte. Zu den Anfängen und Inhalten dieser Bewegung vgl. Gerhard, 1996, S. 248 ff.; Gilde, 1999, S. 63 ff. 637 Vgl. u. a. die Übersicht über die Beiträge der Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ und deren Beilage „Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung“ von 1895– 1919 in Dölle, 1988, S. 167 ff.; 182 ff.; 278 ff.; 283 ff. sowie die Beiträge in der Zeitschrift „Die Frau“ von 1893–1944. Vgl. dazu auch ausführlich Gilde, 1999, S. 63 ff. 638 Vgl. dazu Bäumer/Lange, 1980 (1902); Gilde, 1999, S. 163 ff. 639 Dazu Mittermaier, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, 1926, S. 5. 640 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 9. 641 Die häufige Berufung des Gesetzgebers auf das gesunde Empfinden des Volkes und die deutsche Auffassung zur Legitimation von Gesetzesvorhaben stand ebenfalls unter Kritik; vgl. Maslowski, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 11. 642 Vgl. Mittermaier, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, 1926, S. 7 f.; Rosenfeld, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 10. 643 Vgl. Mittermaier, in: Zur Reform des Sexualstrafrechts, 1926, S. 7, 10 ff.; Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 131; sowie u. a. Maslowski und Ebermayer in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 12 f., 13 f. 644 Vgl. Hirschfeld, 1929, S. 654 f. Er schlug vor, nur wirkliche „Sexualeingriffe“, also „geschlechtsverletzende Handlungen“ zu bestrafen. 645 Reichsjustizministerium, 1925, Zweiter Teil, S. 131.

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diene und deswegen fähig sei, dem „Rückgang sittlicher Volkskraft“ und einem „weiteren Verfall des Kulturlebens durch Entartung“ Einhalt gebieten zu können,646 oder ob nicht der Schutz der Freiheit der Selbstbestimmung des Einzelnen im Vordergrund stehe, begrenzt durch die Schutzbelange der Gesellschaft.647 Weitestgehend Einigkeit bestand über den Umstand, auf die veränderten Lebensverhältnisse in wirtschaftlicher Hinsicht und die damit einhergehenden Schutzbedürftigkeiten reagieren zu müssen. Dabei stand insbesondere der Jugendschutz im Vordergrund.648 Allerdings wurde stets die Gefahr von Erpressungen auf Grundlage sexueller Delikte betont und dieses als ablehnendes Argument gegenüber einem Ausbau des Sexualstrafrechts starkes Gewicht beigemessen.649 Hinsichtlich des Tatbestands der Unzucht mit Gewalt bzw. Notzucht hielt sich der Reformeifer eher in Grenzen, die Gesetzesfassungen im Reichsstrafgesetzbuch wurden weitestgehend akzeptiert. Die Ungleichbehandlung der Geschlechter im 13. Abschnitt des Reichsstrafgesetzbuchs, deutlich im Entwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts kritisiert, wurde erst im Entwurf von 1930 teilweise aufgehoben.650 Die eingeschränkten Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung wurden kaum diskutiert, mit Ausnahme der partiellen Forderung, die Drohung auszuweiten. Den Begriff der Gewalt sah man nicht als problembehaftet an, weil Notzucht immer noch als direkte körperliche Vergewaltigung verstanden wurde und den Konstellationen der Schockwirkung kein Raum zukam. Die Verhaftung im klassischen Vergewaltigungsmuster war sehr stark ausgeprägt. Dies zeigt sich auch sehr deutlich an dem Umstand, dass man nahezu strikt an der eigenständigen Regelung und Hervorhebung des Deliktes der Notzucht festhielt bzw. dessen Lokalisierung am Anfang des Abschnitts forderte. Die Konstellationen des Ausnutzens eines Zustands beim Opfer, in dem es zum Widerstand unfähig ist, wurden unzutreffend als weniger strafwürdig empfunden, weil man hierbei auf Grund des Fehlens einer aktiven täterschaftlich verursachten Minderung der Schutzmöglichkeiten weniger kriminelles Unrecht verwirklicht sah. Die Sanktionierung der Nötigung zur Vornahme unzüchtiger Handlungen wird von keinem Gesetzentwurf vorgeschlagen, vielmehr wurde die Erfassung derartiger Konstellationen durch § 240 für genügend erachtet. Argumentiert wurde hierbei

646 Jeweils Schetter, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 7. Dass die Verhängung von Strafen dem „Schutz der Reinheit, der Kraft und der Gesundheit des Volkes“ dienen könne, wurde von Rosefeld als „völlig abwegiger Gedanke“ bezeichnet, vgl. Schubert, 1997, S. 10. 647 Rosenfeld, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 9. 648 Schetter und Rosenfeld, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 7 und 9. 649 Schetter, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 8. 650 Vgl. dazu auch Schetter, in der 80. Sitzung des Reichstags vom 08.10.1929, in: Schubert, 1997, S. 8.

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mit der fehlenden praktischen Relevanz.651 Hierin zeigt sich die Auffassung, dass nur durch Beischlaf eine natürliche Triebbefriedigung stattfinden könne. Oralverkehr und Onanie wurden als unnatürliche und auch unsittliche652 Triebbefriedigung angesehen. Des Weiteren war es schwer vorstellbar, dass eine Frau zu einer derartig aktiven Handlung gezwungen werden konnte. Alles in allem zeigt sich im Zusammenhang mit den Delikten der Notzucht und Nötigung zur Unzucht eine auf Konservierung bedachte Haltung der an der Reformdiskussion Beteiligten. Die alles bestimmende Frage war die nach der Zulässigkeit des Strafrechts als Hüter der Moral. Die Verbesserung des Schutzes der sexuellen Freiheit stand nur partiell auf der Agenda und scheiterte oftmals an Traditionserwägungen und der vorgeschobenen Erpressungsgefahr. So lassen einen die Vorschläge des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts auf Grund ihrer Progressivität einerseits erstaunen, andererseits bewegen sich die Vorstellungen über sexuelle Gewalt gegenüber Frauen in reaktionären Bahnen wie Hirschfeld, Mitautor des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts, im Rahmen der Entwurfsdiskussionen aufzeigt. Äußerst progressiv setzte er sich vehement für eine Beschränkung des Sexualstrafrechts auf gewaltsame Verletzungen der geschlechtlichen Freiheit ein und lehnte die Sanktionierung nicht darunter fallender einverständlicher sexueller Handlungen strikt ab.653 Seine Ausführungen im Rahmen der Notzucht und Nötigung zur Unzucht machen jedoch stellvertretend für die Anschauungen der damaligen Zeit deutlich, warum sich die Reformbeteiligten mit einer Erweiterung des Strafrechtsschutzes so schwer taten bzw. diese nicht für notwendig erachteten. Auf Grund des Missverhältnisses zwischen Anklagen und Verurteilungen unter anderem im Jahr 1926 sah er sich darin bestätigt, dass jede Anzeige wegen Vergewaltigung mit äußerster Vorsicht behandelt werden müsse. Er begründete seine Ausführungen mit den Erkenntnissen der Sexualwissenschaft,654 wobei gemäß der natürlichen Rollenverteilung der Mann bei der sexuellen Interaktion der gewaltsam Erobernde sei und die Frau die sich Sträubende. Die Frau empfinde also die sexuelle Annäherung des Mannes stets als eine vis haud ingrata, wobei dieser „innere Zwiespalt“ mit dem Ausruf des sich sträubenden Mädchens: „Nicht – doch!“ „vortrefflich“ 655 erläutert werde. Auch die Geschichte der Frauen, die sich nach der Niederlage des Kriegs beim Durchmarsch der Feinde auf Grund der Warnung vor Vergewaltigungen versteckten, dann aber, als nichts geschah, auf die Straße liefen und riefen: „Wo bleibt die Vergewaltigung?“, habe

651 Köhler, Der Gerichtssaal 1926, S. 382 kritisierte die Straflosigkeit derartig schwerer Eingriffe in die sexuelle Freiheit. 652 Den sexuellen Moralvorstellungen der Gesellschaft widersprechend. Hierbei spielt auch die Sexualmoral der katholischen Kirche eine Rolle, die derartige Handlungen verbot. 653 Hirschfeld, 1929, S. 655 f. 654 s. Erster Teil: B.II.2. 655 Jeweils Hirschfeld, 1929, S. 658 f.

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„einen tief tragischen Sinn“.656 Des Weiteren wies er darauf hin, dass die Beischlafserzwingung gegenüber einem Mädchen „rein technisch“ 657 schon außerordentlich schwer sei, er bemühte also hierbei die wohl bekannte und verbreitete These von der Unmöglichkeit der Notzucht.658 Das Delikt der Vergewaltigung war demnach derartig mit stereotypen und partiell frauenfeindlichen Vorstellungen verknüpft, dass es schon aus diesem Grund keinen maßgeblichen Änderungen unterzogen werden konnte. Die Delikte der Notzucht und gewaltsamen Unzucht gehörten nicht zu dem Komplex, der als dringend reformbedürftig eingestuften Normen, hier vermutete man keinen Änderungsbedarf. Die Lektüre juristischer Zeitschriften Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts belegen diese Aussage. Die Delikte der Notzucht und gewaltsamen Unzucht gehörten weder zum Alltag der obersten Gerichte noch beschäftigten sie die Literatur in nennenswertem Umfang.659

II. Die Zeit des Nationalsozialismus Der 13. Abschnitt des Reichsstrafgesetzbuchs war Gegenstand reformerischer Bestrebungen im Dritten Reich.660 Die Änderungen des sogenannten kommenden Strafrechts661 konnten jedoch nicht mehr umgesetzt werden,662 so dass der 13. Abschnitt letztendlich weitgehend unangetastet blieb. Die Auslegung des Tatbestands, insbesondere die der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung, erfuhr keine Veränderung.663 1. Nationalsozialistisches Strafrecht Als typische Ausprägung des nationalsozialistischen Strafrechts,664 das „autoritär“ und „expansiv“ 665 gehandhabt wurde, erfuhren die Sanktionen der Notzucht sowie der Nötigung zur Unzucht eine Verschärfung von großer Tragweite.666 656

Jeweils Hirschfeld, 1929, S. 659. Hirschfeld, 1929, S. 659. 658 Auch in seinem Buch „Geschlecht und Verbrechen“ beharrte er auf der These von der Unmöglichkeit unter Hinweis auf das Gleichnis vom Degen und der Scheide; vgl. Hirschfeld, 1930, S. 253. 659 s. u. a. die Zeitschriften „Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen“; „Archiv für Strafrecht“ und „Archiv für gemeines und preußisches Strafrecht“. 660 Vgl. dazu Brüggemann, 2012, S. 57 ff. 661 Vgl. Gürtner, 2. Aufl. (1936) und ausführlich, insbesondere hinsichtlich der Tatbestände der §§ 176, 177 RStGB, Müting, 2010, S. 98 ff. 662 Vgl. Müting, 2010, S. 113; Regge/Schubert, 1988, S. XV ff. 663 Schönke, 2. Aufl. (1944), § 177. 664 Vgl. zum NS-Strafrecht Vormbaum, 2. Aufl. (2011), S. 184 ff. 665 Vormbaum, 2. Aufl. (2011), S. 189. 666 Vgl. insgesamt zur Behandlung der Sexualdelikte im Dritten Reich S. Schneider, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 165. 657

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Auf Grund des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher über Maßregeln der Besserung und Sicherung vom 24.11.1933667 wurde das Gericht ermächtigt, gegenüber einem Täter einer Notzucht oder Nötigung zur Unzucht auch gegen seinen Willen gem. § 42k RStGB die Kastration anzuordnen, „um dem gemeingefährlichen Treiben der gewohnheitsmäßigen Sittlichkeitsverbrecher“ 668 ein Ende zu bereiten.669 § 42e RStGB eröffnete in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, gegen einen als gefährlichen Gewohnheitsverbrecher erkannten Täter nach § 20a RStGB die Maßregel der Sicherungsverwahrung zu verhängen.670 Ab dem Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Juli 1935)671 war eine spezielle Regelung der Verhängung von Sicherungsverwahrung im Abschnitt der Angriffe auf die Sittlichkeit vorgesehen,672 die bei einer Verurteilung wegen Notzucht oder Nötigung zur Unzucht die Möglichkeit der Verhängung dieser Maßnahme erweiterte. Als Voraussetzungen genügten schon das Vorliegen einer einzigen Anlasstat, eine der Tat zugrundeliegende Entartung des Täters sowie die Gefahr von Wiederholungsangriffen.673 Neben diesem einschneidenden Maßnahmenkatalog auf dem Gebiet der Maßregeln und Sicherung erfuhr auch die Strafandrohung der Notzucht eine erhebliche Verschärfung. Dies geschah zum einen durch die Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 05.12.1939674 sowie auf Grund des § 1 des Gesetzes vom 04.09.1941.675 War im ersten Fall die Verhängung der Todesstrafe bei Notzucht noch an die Verwendung bestimmter gefährlicher Tatmittel geknüpft, konnte nachfolgend schon allein deswegen auf Todesstrafe erkannt werden, weil „der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne“ es erforderten.676 In diesen Maßnahmen drückte sich die Intention des sogenannten kommenden Strafrechts aus, die „völkische Sittenordnung“ 677, die kollektive Gesellschaft vor kriminellen Angriffen zu schützen. Individuelle sowie die Menschenwürde des Einzelnen betreffende Täterbelange hatten dabei kein Gewicht.678 Im Widerspruch zur nationalsozialistischen Intention, hohe Strafen zu 667

RGBl. 1933 I, S. 995 ff. Regge/Schubert, 1990, S. 142. 669 Vgl. dazu das Urteil des RG in RG HRR 1940 Nr. 1211. 670 Zur Geschichte der Sicherungsverwahrung vgl. Schewe, 1999. 671 Regge/Schubert, 1988, S. 157 ff., 199. 672 § 230 Sicherungsverwahrung Neben einer Verurteilung wegen einer in den §§ 201 bis 204, 209 Abs. 1, § 217 mit Strafe bedrohten Handlung, kann das Gericht Sicherungsverwahrung anordnen, wenn die Tat auf einer Entartung des Täters beruht und nach seiner Persönlichkeit eine Wiederholung gleichartiger Angriffe auf die geschlechtliche Sittlichkeit zu befürchten ist. 673 Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 210; Regge/Schubert, 1988, S. 199. 674 RGBl. 1939 I, S. 2378. 675 RGBl. 1941 I, S. 549. 676 Schönke, 2. Aufl. (1944), § 177 Anm. IV. 677 Schönke, 1942, Vor § 171 Anm. I; Schönke, 2. Aufl. (1944), Vor. §§ 173 ff. 668

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verhängen, steht jedoch die Urteilspraxis der ordentlichen Gerichte. Die ab 1942 versandten Richterbriefe679 machen dies deutlich, wobei der Reichsminister der Justiz, Georg Thierack, bei zahlreichen Urteilen zu Sittlichkeitsdelikten680 „die auffallende Milde in der Bestrafung“ 681 kritisierte. Rein nationalsozialistisches Gedankengut in Form der Rassengesetze682 fand erstmals im Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Februar 1936)683 direkt im Tatbestand der Notzucht, § 202684, seinen Niederschlag, indem es einen benannten besonders schweren Fall begründen sollte, wenn sich die Tat gleichzeitig als Rasseverrat gem. § 135685 darstellte.686 2. Die Reformdiskussion hinsichtlich des Tatbestands der Notzucht und Nötigung zur Unzucht Im Folgenden werden nicht wie im vorhergehenden Abschnitt alle einschlägigen Bestimmungen der jeweiligen Entwürfe wörtlich wiedergegeben, weil sich diese jeweils nur marginal voneinander unterscheiden. Der sogenannte Referentenentwurf des Reichsjustizministeriums (RJM) von 1933,687 konkret der 21. Abschnitt über Unzucht, diente als Diskussionsgrundlage für alle Entwürfe688 die 678 Vgl. dazu Brüggemann, 2012, S. 59; Schönke, 2. Aufl. (1944), § 42k Anm. I. Vgl. die Kritik an dieser „Unterbewertung der Einzelperson“ in Mayer, Die Frau 1934, S. 468. 679 Vgl. zur Entstehung der Richterbriefe und zur Lenkung der Justiz im Dritten Reich Boberach, 1975, S. XI ff. 680 Boberach, 1975, S. 11 ff.; 21 ff. 681 Boberach, 1975, S. 12. 682 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.09. 1935 (RGBl. I, S. 1146). 683 Regge/Schubert, 1988, S. 213 ff., 234 ff. 684 Regge/Schubert, 1988, S. 242; § 202 verweist fälschlicherweise auf § 134 anstatt § 135. 685 § 135 Rasseverrat Wer eine nach den Vorschriften zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre nichtige Ehe schließt, wird mit Zuchthaus bestraft. Der Mann, der einen nach den gleichen Vorschriften verbotenen außerehelichen Geschlechtsverkehr ausübt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft. 686 Die rassistischen und antisemitischen Stereotype sexueller Gewalt spiegelten dies wider, indem die deutsche Frau und das deutsche Mädchen als die typischen Opfer von Notzuchtsdelikten dargestellt wurden und als Täter regelmäßig Schwarze, Juden und Ausländer; vgl. S. Schneider, in: Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung, 2003, S. 169 ff. 687 Vgl. Regge/Schubert, 1988, S. 1 ff.; 52 ff. 688 Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches (1. Lesung, 1933/34): Notzucht § 70; Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Juli 1935): Notzucht § 201; Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Februar 1936) sowie Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Mai 1936): Notzucht § 202; Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Juli

168 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Tatbestände der Notzucht und Nötigung zur Unzucht betreffend.689 Die qualifizierte Schändung in Halbsatz 2 des § 177 RStGB wurde dabei – wie schon in allen vorhergehenden Entwürfen – gestrichen, weil Gewalt bereits in der Herbeiführung von Bewusstlosigkeit bzw. Widerstandsunfähigkeit durch Betäubung und ähnlichem gegen den Willen des Opfers gesehen wurde.690 Der Tatbestand der Nötigung zur Unzucht in § 282 wie auch der der einfachen Schändung in § 284 erfuhr eine neue Schutzrichtung, indem der Opferkreis explizit auf Männer ausgedehnt wurde.691 Im Tatbestand der Notzucht war jedoch weiterhin nur die Frau 1936): Notzucht § 207; Kabinettsvorlage 1936, 1937 sowie 1938: Notzucht § 199; Entwurf 1939: Notzucht § 210. Vgl. die genauen Gesetzesbestimmungen bei Regge/Schubert, 1988. 689 Eingeleitet wurde der 21. Abschnitt mit dem Tatbestand der Nötigung zur Unzucht, § 282 Wer eine Person mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zur Unzucht missbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. Die Notzucht folgte in § 283 Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf missbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bestraft. § 284 Schändung Wer eine Person, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zur Unzucht missbraucht, wird mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. Der Versuch ist strafbar. Handelte es sich beim Taterfolg um den Beischlaf, führte dies zu einer Qualifizierung der Schändung: § 285 Schwere Schändung Wer eine Person, die bewusstlos, geisteskrank oder wegen Geistesschwäche oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf missbraucht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. 690 § 88 Nr. 2 im 1. Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches vom Dezember 1936 in Regge/Schubert, 1988, S. 421 sowie im Entwurf vom Dezember 1939 in Regge/Schubert, 1990, S. 529 lautete: Im Sinne dieses Gesetzes ist: 1. (. . .) 2. Gewalt: auch die Anwendung der Hypnose oder eines betäubenden oder berauschenden Mittels, um einen anderen gegen seinen Willen bewußtlos oder widerstandsunfähig zu machen; 3. (. . .) Vgl. auch Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 198. 691 Der Tatbestand der einfachen Schändung sanktionierte also auch den Missbrauch zur „bloßen“ Unzucht. Der Schutz des Mannes vor Schändung und Nötigungen zur Unzucht blieb in allen darauffolgenden Entwürfen erhalten. Allerdings wurde im letzten Entwurf von 1939 entgegen der bis dahin erfolgten Vorschläge der Tatbestand der Nötigung zur Unzucht wieder auf die Frau beschränkt, die Nötigung zur Unzucht eines Mannes jedoch im Tatbestand der Schweren Unzucht zwischen Männern als Nr. 1 eingefügt. Die Frau als Täterin einer Nötigung zur Unzucht gegenüber einem Mann in den Tatbestand miteinzubeziehen, war damit entgegen der Begründung zum Entwurf von 1936 nicht mehr vorgesehen. Vgl. Regge/Schubert, 1990, S. 143.

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als taugliches Opfer anerkannt. Auf Grund des Umstands, dass die Gleichstellung des Mannes und der Frau bei der eigentlichen Notzucht strikt abgelehnt wurde, folgerte Gleispach entgegen dem Wortlaut des § 282, der Nötigung zur Unzucht, dass in Fällen der Nötigung eines Mannes zum Beischlaf durch eine Frau alleine die Anwendung des allgemeinen Nötigungstatbestand gesetzgeberisch intendiert sei.692 Diese Auffassung erklärt die letztendliche Ausschließung des Mannes aus dem Tatbestand der Nötigung zur Unzucht im Entwurf von 1939.693 Der Entwurf von 1933/34 nach der 1. Lesung694 bedeutete eine Abkehr von der gewachsenen Tradition der Regelung des materiellen Strafrechts, indem eine völlige Umgestaltung der Ordnung des RStGB vorgenommen wurde, so dass im Ersten Buch die einzelnen Straftaten erörtert wurden, um erst im Anschluss die allgemeinen Bestimmungen aufzuführen. Der Tatbestand der Notzucht fand sich unter § 70 wieder und sollte den Fünften Titel „Unzucht“ einleiten, die Nötigung zur Unzucht folgte in § 71. Prägend für alle weiteren Entwürfe und als Ausdruck des diesem Delikt beigemessenen Schweregrades,695 gestaltete sich die Verortung des Tatbestandes der Notzucht an der Spitze des Abschnitts696 wie auch die regelmäßige Androhung der schwersten Freiheitsstrafe, der Zuchthausstrafe.697 Gleispachs Vorschlag in der 44. Sitzung der amtlichen Strafrechtskommission vom 17.09.1934, eine neue Abschnittsüberschrift mit dem Titel „Angriffe auf die Sittlichkeit“ zu bilden,698 stieß allgemein auf Zustimmung699 und wurde in den folgenden Entwürfen700 beibehalten. Ebenfalls auf Initiative von Gleispach wur§ 226 Schwere Unzucht zwischen Männern Mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten wird bestraft: 1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeitsoder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; (. . .). 692 v. Gleispach in der 44. Sitzung der amtlichen Strafrechtskommission vom 17.09. 1934, in: Regge/Schubert, 1989, S. 478. 693 s. Fn. 691. 694 Regge/Schubert, 1988, S. 103 ff., 111 ff. 695 Regge/Schubert, 1990, S. 142. 696 Regge/Schubert, 1989, S. 477 ff.; Freisler betonte, dass der Terminus der Notzucht auf Grund seiner „Volkstümlichkeit“ beibehalten werden müsse; vgl. 44. Sitzung der amtlichen Strafrechtskommission vom 17.09.1934, in: Regge/Schubert, 1989, S. 479. 697 Für besonders schwere Fälle und den Eintritt schwerer Folgen war eine erhöhte Strafandrohung vorgesehen. 698 Regge/Schubert, 1989, S. 477; vgl. auch Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 195. 699 Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 208; Regge/Schubert, 1989, S. 477 ff. Namentlich bei Senatspräsident Prof. Dr. Klee, Professor Dr. Dahm, Staatsekretär Dr. Freisler; Prof. Dr. Mezger; Reichsjustizminister Dr. Gürtner und Prof. Dr. Nagler. 700 Ab dem Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Juli 1935); vgl. Regge/Schubert, 1988, S. 173 ff.

170 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

den die Sittlichkeitsdelikte in Gruppen eingeteilt, wobei die Notzucht und die Nötigung zur Unzucht unter die Angriffe gegen die geschlechtliche Freiheit fielen, so dass die individuelle Schutzrichtung dieser Delikte eine Hervorhebung erfuhr.701 Gleispach betonte jedoch, dass trotz der individuellen Ausprägung „die Gefährdung der richtigen sittlichen Haltung des Volkes“ 702 sowie der Schutz der „geschlechtlichen Sittlichkeit und der Gesundung des geschlechtlichen Verkehrs“ 703 ausschlaggebende Momente für die Existenz dieser Tatbestände sei. Der preußischen Rechtstradition folgend,704 wurde ferner die tatbestandliche Vereinigung der Notzucht und der Nötigung zu Unzucht diskutiert,705 wobei sich jedoch die Ansicht durchsetzte, dass es der tradierten „Volksanschauung“ 706 hinsichtlich des Delikts der Notzucht widerspreche, dessen Eigenständigkeit aufzugeben, so dass dieser Vorschlag in den Entwürfen letztendlich auch keinen Niederschlag fand. Die Kritik Gleispachs an der traditionellen Einengung des Nötigungsmittels der Drohung in § 177 RStGB auf gegenwärtige Gefahren für Leib oder Leben stieß bei der Mehrheit der anderen Kommissionsmitglieder ebenfalls auf Widerstand,707 so dass sich der Antrag auf Ausdehnung des Tatbestandes auf „jede gefährliche Drohung“ nicht manifestieren konnte.708 Argumentationsgrundlage für eine Ausweitung bildete die unterschiedliche Schutzintensität gegenüber der geschlechtlichen Freiheit in § 177 RStGB im Vergleich zum Vermögen im Erpressungstatbestand des § 253 RStGB. Unter Verweis auf andere ausländische Rechtsordnungen wie Norwegen, Italien und Polen erklärte Gleispach diese unterschiedliche Vorgehensweise für untragbar.709 Als Ausdruck der Verhaftung in herkömmlichen Auslegungsmustern hinsichtlich des Delikts der Notzucht wurde als Grund für die ablehnende Haltung gegenüber dieser Neuerung von Klee und Dahm ausgeführt, dass „das Volk“ auf Grund der historischen Entwicklung dieses Delikts einen erzwungenen außerehelichen Beischlaf traditionsgemäß nur dann als Notzucht bewerte, „wenn er mit Gewalt oder einer Drohung für Leib oder Leben verbunden ist“.710 Dieses gewichtige „Traditionsargument“ führte dazu, dass Gleispach schon in der ersten Auflage des sogenannten kommenden

701 Regge/Schubert, 1988, S. 477. Vgl. auch Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 196, der hierbei nicht den Terminus „notzüchtigen“, sondern „vergewaltigen“ verwendet. 702 Gürtner, 1935, S. 116. 703 Regge/Schubert, 1989, S. 477. 704 s. A.III.3. 705 v. Gleispach, Gürtner, Klee, in: Regge/Schubert, 1989, S. 478. Ablehnend Freisler, Mezger, in: Regge/Schubert, 1989, S. 479. 706 Gürtner, in: Regge/Schubert, 1989, S. 478. 707 Klee, Dahm, Freisler, Mezger. Lediglich Gürtner und Nagler stimmten dem Vorschlag zu; vgl. Regge/Schubert, 1989, S. 478–480. 708 Regge/Schubert, 1989, S. 478. 709 Regge/Schubert, 1989, S. 478. 710 Regge/Schubert, 1989, S. 479.

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deutschen Strafrechts, dem Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission aus dem Jahr 1935,711 zwar die Selbstverständlichkeit der Strafbarkeit der Nötigung zum Beischlaf durch minder schwere Drohungen weiterhin betonte, aber eine diesbezügliche Ausweitung des Notzuchtstatbestandes nun ablehnte, um den „überlieferten und feststehenden Umfang des Verbrechens“ 712 nicht zu tangieren. In der Begründung zum Entwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs von 1936 heißt es denn auch, dass eine „Gefahr für Leib“ in der Drohungsalternative „nach dem Sprachgebrauch des gemeinen Lebens“ nur dann vorliege, „wenn die leibliche Unversehrtheit oder die Gesundheit in erheblichem Maße bedroht ist“.713 In deutlicher Abkehr zum bisher geltenden Recht war im Tatbestand der Notzucht die Möglichkeit der Verhängung von Gefängnisstrafe für leichtere Fälle nicht mehr vorgesehen. Für die als selten eingestuften Fälle, dass die mildeste ordentliche Strafe noch zu hart sei, existierte jedoch weiterhin die Möglichkeit einer außergewöhnlichen Strafmilderung auf Gefängnis nicht unter sechs Monaten über § 51 i.V. m. § 50.714 Freisler betonte die Angemessenheit der Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus, weil Notzucht schließlich nur dann vorliege, wenn die Gewalt „in vollem Ernst unerwünscht war“.715 Die Abschaffung des minder schweren Falls im Rahmen des Deliktes der Notzucht stieß dabei nicht nur auf Zustimmung. Unter Hinweis auf die althergebrachte Problematik der vis haud ingrata, dass „die Grenzen zwischen dem ernstlich gemeinten Widerstand und dem üblichen, wenn auch nur scheinbaren Sträuben außerordentlich flüssig sind, und der Täter in der weitaus meisten Zahl der Fälle gar nicht den Vorsatz gehabt hat, einen ernstlichen Widerstand zu brechen“,716 wurde die Strafandrohung von mindestens einem Jahr Zuchthaus kritisiert und deren Herabsetzung verlangt. Schließlich seien mindestens 90% aller Anzeigen wegen Notzucht gerade aus diesem Grunde Falschbeschuldigungen und die Strafandrohung demnach viel zu hoch.717 Daneben äußerte Gürtner Bedenken gegen das Mindestmaß von einem Jahr für einen Versuch der Notzucht.718 Unter Verweis auf die Tatsache, dass die Justiz „keine verweichlichte“ mehr sei, wies Schäfer Bedenken hinsichtlich niedriger Strafminima zurück.719 Nachdem Schäfer statistische Zahlen 711

Gürtner, 1935, S. 118. Gürtner, 1935, S. 118. 713 Regge/Schubert, 1990, S. 143. 714 Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 197; Regge/Schubert, 1990, S. 143. 715 44. Sitzung der amtlichen Strafrechtskommission vom 17.09.1934, in: Regge/ Schubert, 1989, S. 481. 716 Reimer, in: Regge/Schubert, 1989, S. 481. 717 Reimer, in: Regge/Schubert, 1989, S. 481. Freisler sah dagegen keine Veranlassung zur Herabsetzung der Strafandrohung. 718 Regge/Schubert, 1989, S. 481. 719 Regge/Schubert, 1989, S. 481. 712

172 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

der Notzucht eingeführt hatte, aus denen hervorging, dass im Jahr 1930 bzw. 1931 in 591 bzw. 478 Fällen Gefängnis und nur in 90 bzw. 63 Fällen Zuchthaus verhängt worden war, sprach sich Gürtner für eine Beibehaltung der angedachten Strafandrohung aus.720 Als absolutes Novum muss die Abkehr vom herkömmlichen Bild des Tatbestands der Nötigung zur Unzucht eingestuft werden, indem zukünftig schon jede Drohung mit Gewalt oder einem empfindlichen Übel tatbestandsmäßig sein sollte.721 Der Begriff der Drohung war in § 88722 näher bestimmt. Beinhaltete die Drohung nicht die Anwendung von Gewalt, so musste sie ein Übel darstellen, das „eine erhebliche Einbuße an Werten – nicht nur eine bloße Unannehmlichkeit“ mit sich brachte. Als Beispiel wurde in der Begründung zum Entwurf von 1936 die Drohung mit einer berechtigten Strafanzeige gegen den Vater, falls die Tochter sich dem sexuellen Ansinnen des Drohenden nicht füge, genannt.723 Des Weiteren ist hervorhebenswert, dass bereits im Referentenentwurf die Strafbarkeit der Nötigung (wirtschaftlich) Abhängiger zur Unzucht in § 289 vorgesehen war.724 Allerdings war als Nötigungserfolg zunächst nur der außereheliche Beischlaf erfasst, was unter Kritik stand,725 so dass der Tatbestand ab dem Entwurf der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung, Stand Juli 1935; § 207)726 auf „beischlafsähnliche Handlungen“ ausgeweitet wurde. Als Strafe war Gefängnisstrafe vorgesehen. Problematisiert wurde ebenfalls, dass der angedachte Tatbestand erhebliche Lücken aufweise, weil Nötigungen zu sexuellen Handlungen in hohem Maße schon vor Eingehung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses stattfänden.727 Dahm schlug deshalb vor, generell jede Ausnutzung 720

Regge/Schubert, 1989, S. 481. Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 197. Als regelmäßige Strafandrohung dieses Tatbestandes war nach allen Entwürfen wahlweise Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten vorgesehen; vgl. Müting, 2010, S. 231 ff. 722 § 88 Nr. 1 im 1. Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches vom Dezember 1936, in: Regge/Schubert, 1988, S. 421 sowie im Entwurf vom Dezember 1939, in: Regge/Schubert, 1990, S. 529 lautete: Im Sinne dieses Gesetzes ist: 1. Drohung: Drohung mit Gewalt oder mit einem empfindlichen Übel, wenn es gegen die guten Sitten verstößt, zu dem verfolgten Zwecke die Gewalt oder das Übel anzudrohen; (. . .). 723 Regge/Schubert, 1990, S. 80. Freisler benannte beispielhaft die Drohung mit einer Kündigung; vgl. Regge/Schubert, 1988, S. 479. 724 Regge/Schubert, 1988, S. 53, 196; v. Gleispach, Lorenz, Dahm, Grau, in: Regge/ Schubert, 1989, S. 482–484. v. Gleispach betonte unter Verweis auf die ausländischen Rechtsordnungen Polens und Italiens, dass für das praktische Bedürfnis dieses Tatbestandes keine weitere Begründung erforderlich sei. Grau betonte, dass durch § 289 auch die „nationale Arbeitskraft“ geschützt werde. Vgl. auch Gürtner, 2. Aufl. (1936), S. 209. 725 Vgl. v. Gleispach, Freisler, Kohlrausch, in: Regge/Schubert, 1989, S. 482–484. 726 Regge/Schubert, 1988, S. 157 ff., 196. 721

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einer wirtschaftlichen Monopolstellung oder Machtstellung zu sanktionieren.728 Eine derart umfängliche tatbestandliche Ausdehnung fand letztendlich jedoch keinen Eingang in die Entwürfe, da die Bedenken gegen eine derartig allgemeine Tatbestandsfassung überwogen.729 Reimer bestritt das Vorkommen von Missbrauchskonstellationen innerhalb eines Abhängigkeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber und damit insgesamt die Notwendigkeit des § 289, wobei er das Argument der Erpressungsgefahr bemühte.730 Trotz der Zweifel wurde an der Schaffung eines derartigen Tatbestandes fest gehalten, wobei auch der für Nötigungen anfällige Zeitraum vor Abschluss eines Dienst- oder Arbeitsvertrages mit einbezogen wurde.731, 732 3. Fazit Die Reformbestrebungen waren von der Intention geprägt, dem Rechtsgut der „Geschlechtsehre und der sittlichen Unbeflecktheit“ 733 einen umfassenderen Schutz zu gewähren als dies bis dahin im 13. Abschnitt im Rahmen der Tatbestände der §§ 176, 177 RStGB vollzogen wurde.734 Die Einbeziehung des Man727 v. Gleispach, Dahm, Lorenz, Gürtner, in der 44. Sitzung der amtlichen Strafrechtskommission vom 17.09.1934, in: Regge/Schubert, 1989, S. 482–485. 728 Dahm, in: Regge/Schubert, 1989, S. 483. Hinsichtlich der Strafrahmen sah er ein unerträgliches Missverhältnis zwischen § 289 und §§ 282, 283. 729 v. Gleispach, in: Regge/Schubert, 1989, S. 777. 730 Reimer betonte, dass in 99 Prozent der Fälle die Hingabe der Angestellten zu sexuellen Handlungen sowieso eine freiwillige sei; vgl. Regge/Schubert, 1989, S. 483. 731 Im Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches vom Dezember 1939 wies der Tatbestand der Nötigung eines wirtschaftlich Abhängigen zur Unzucht, § 216, folgenden Gesetzestext auf; vgl. Regge/Schubert, 1990, S. 544: Mit Gefängnis wird bestraft: 1. wer einen Menschen unter Mißbrauch seiner durch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis begründeten Abhängigkeit zum außerehelichen Beischlaf oder zu beischlafsähnlichen Handlungen bestimmt; 2. (. . .) 3. wer die Gewährung oder Vermittlung einer Arbeitsstelle davon abhängig macht, dass ein Bewerber sich zum außerehelichen Beischlaf oder zu beischlafsähnlichen Handlungen oder ein Bewerber unter achtzehn Jahren sich zur Unzucht missbrauchen lässt. Strafbar ist nur die vollendet Tat. Hat der Täter die verletzte Person geheiratet, so wird die Tat nur verfolgt, wenn die Ehe für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist. 732 Auch das Tatmittel der Täuschung sollte weiterhin in den engen Grenzen des Tatbestands der Erschleichung des außerehelichen Beischlafes in § 217 nahezu unverändert erfasst werden; vgl. Regge/Schubert, 1990, S. 544; Schönke, 2. Aufl. (1944), § 179. Die Strafandrohung sollte auf Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten angehoben werden. 733 Regge/Schubert, 1990, S. 142. 734 Nach dem letzten nationalsozialistischen Entwurf vom Dezember 1939 sollten die Tatbestände der Notzucht, Nötigung zur Unzucht und Schändung folgende Fassungen erhalten; vgl. Regge/Schubert, 1990, S. 517 ff., 543 ff.:

174 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

nes in den Opferkreis einer gewaltsamen Unzucht, die Ausweitung des Tatmittels der Drohung im Tatbestand der Nötigung zur Unzucht sowie die eigenständige tatbestandliche Erfassung von Nötigungen (wirtschaftlich) Abhängiger, einerlei ob männlich oder weiblich, zur Unzucht sind Ausdruck dieser Bestrebung. Als positiv im Sinne des Opferschutzes hervorzuheben ist auch die Erweiterung des Tatbestands der Nötigung zur Unzucht um den Nötigungserfolg der Vornahme sexueller Handlungen. Die nationalsozialistischen Entwürfe zeigen im Gegensatz zu den vorhergehenden Entwürfen weit weniger Scheu, neue Tatbestände zu schaffen bzw. den tatbestandlichen Schutz im Rahmen der Sittlichkeitsdelikte auszuweiten. Begründet wurde diese Vorgehensweise mit dem Umstand, dass „die Kraft und die Zukunft des deutschen Volkes“ in einem engen Zusammenhang mit der Gesundheit des „Denkens, Fühlens und Handelns auf dem Gebiete der geschlechtlichen Sittlichkeit“ 735 stehe. Die Ausweitung des Strafrechts sollte damit letztendlich dem Kollektiv des deutschen Volkes dienen, diese Intention überlagerte das Individualinteresse des einzelnen Opfers. Man war davon überzeugt, mit einem repressiven Strafrecht und harten Strafandrohungen und -aussprüchen diesen Zustand erreichen zu können.736 Gleichzeitig wurde jedoch auch an tradierten Tatbestandsbildern festgehalten. Unter anderem die Diskussionen um eine Erweiterung des Nötigungsmittels der Drohung wie auch um die Gleich§ 210 Notzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch unmittelbare Bedrohung von Leib oder Leben nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf missbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus bestraft. In besonders schweren Fällen, vor allem, wenn die Tat gleichzeitig eine Rassenschändung (§ 137) darstellt, ist auf Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus zu erkennen. § 211 Nötigung zur Unzucht Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung nötigt, Unzucht zu treiben oder sich zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. § 212 Schändung Wer einen Menschen, der geisteskrank, bewußtlos oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zur Unzucht mißbraucht, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus. § 213 Schwere Schändung Wer eine Frau, die geisteskrank, bewußtlos oder aus einem anderen Grunde zum Widerstand unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. In besonders schweren Fällen, vor allem, wenn die Tat gleichzeitig eine Rassenschändung (§ 137) darstellt, ist auf Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus zu erkennen. § 226 Schwere Unzucht zwischen Männern Mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten wird bestraft: 1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; (. . .). 735 Regge/Schubert, 1990, S. 142. 736 Vgl. hierzu auch die Richterbriefe die Sittlichkeitsdelikte betreffend: Boberach, 1975, S. 11 ff., 21 ff.

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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stellung von Mann und Frau im Rahmen des Tatbestands der Notzucht offenbaren dies deutlich. Hierbei zeigt sich die gegenläufig wirkende Intention der nationalsozialistischen Entwürfe, das Volkstümliche im Recht zu bewahren. Das Bestreben, der volkstümlichen Auffassung vom Tatbestand der Notzucht zu entsprechen, ist jedoch nicht als typisch nationalsozialsozialistisch einzustufen, sondern durchzieht alle vorhergehenden Reformentwürfe und -diskussionen und macht die Verhaftung im Tatbestandsbild der klassischen Vergewaltigung ein ums andere Mal deutlich.

D. Die Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 I. Die Reformdiskussion und Gesetzgebung ab 1945 Im Folgenden wird ein Überblick über die Reformdiskussion und Gesetzgebung ab 1945 das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung betreffend gegeben.737 Vorschläge, die die Nötigungsmittel der Drohung und Gewalt sowie den minder schweren Fall betreffen, werden im Rahmen der dortigen Ausführungen erörtert.738 Die Reformdiskussion der Nachkriegszeit739 beinhaltete zunächst keine umfassenden Veränderungen im Tatbestand der Schweren Unzucht/Notzucht. Im Vordergrund stand die schon vor 1945 geführte Debatte, ob das Strafrecht dazu bestimmt sei, den Bürger zu einer „sittlich einwandfreien Lebensführung“ 740 zu motivieren. Die Fragen der Strafbarkeit der Homosexualität, des Ehebruchs, des Beischlafs zwischen Verschwägerten und der Kuppelei waren somit das bestimmende Thema. Bis zum E 1962 wurde an dem Rechtsgut der geschlechtlichen Sittlichkeit festgehalten. Die „Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens“ war bestimmender Zweck, wobei die „sittlichen Grundanschauungen des Volkes“ Berücksichtigung finden sollten.741 Die von jeher vorgenommene Trennung von Notzucht und Schwerer Unzucht742 wurde grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen, ebenso wenig der tatbestandliche Ausschluss ehelicher Vergewaltigungen wie auch des Mannes als Opfer einer Vergewaltigung.

737 Vgl. dazu auch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 4 ff. Vgl. die Sexualdelikte insgesamt betreffend Brüggemann, 2012, S. 67 ff. 738 s. Dritter Teil: A.IV.; B.I.; E.III. 739 Vgl. dazu Müting, 2010, S. 116 ff. 740 Vgl. den Entwurf eines Strafgesetzbuches, E 1962 mit Begründung, 1962, S. 359. 741 Jeweils Entwurf eines Strafgesetzbuches, E 1962 mit Begründung, 1962, S. 359. 742 § 177 und § 176 RStGB.

176 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

1. Die Entwürfe von 1959 und 1960 Die Entwürfe von 1959, 1960743 unterscheiden sich kaum744 und knüpfen inhaltlich an den Entwurf Kahl aus dem Jahr 1930 sowie an den letzten nationalsozialistischen Entwurf vom Dezember 1939 an. Die Bestimmungen die Unzucht betreffend sind jeweils im dritten Titel der Straftaten gegen die Sittlichkeit lokalisiert, die Notzucht – in Abkehr zum Entwurf Kahl von 1930 – wieder jeweils an erster Stelle. Hierdurch sollte ihre „hervorragende Bedeutung“ 745 innerhalb der Straftaten gegen die Sittlichkeit hervorgehoben werden. Auffällig im Vergleich zur damaligen Fassung der Vorschriften ist zunächst, dass eine Minderung

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s. hierzu Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 3, S. 1 ff., 50 ff., 109 ff., 169 ff. § 211 Notzucht (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf nötigt oder zwingt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Gefängnis von einem Jahr bis zu fünf Jahren. Ein minder schwerer Fall ist ausgeschlossen, wenn die Tat mittels eines hinterlistigen Überfalls oder von mehreren gemeinschaftlich begangen wird. (3) Bringt der Täter das Opfer in die Gefahr des Todes oder schädigt er es vorsätzlich oder leichtfertig am Körper oder Gesundheit schwer (§ 153 Abs. 2), so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren. Verursacht er leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter zehn Jahren. Anmerkung: Im E 1960 ging der Abs. 3 in einem § 205 (Schwere Notzucht) auf. In Abs. 1 war ein unbenannter schwerer Fall vorgesehen, die schweren Folgen bis auf die Todesfolge wurden in ein Regelbeispiel gefasst. § 212 Nötigung zur Unzucht (1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben dazu nötigt oder zwingt, eine unzüchtige Handlung zu dulden oder vorzunehmen, wird mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. (2) Wird die Tat mittels eines hinterlistigen Überfalls oder von mehreren gemeinschaftlich begangen, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter einem Jahr. (3) Der Versuch ist strafbar. (4) Bringt der Täter das Opfer in die Gefahr des Todes oder schädigt er es vorsätzlich oder leichtfertig am Körper oder Gesundheit schwer (§ 153 Abs. 2), so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren. Verursacht er leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren. § 213 Schwere Schändung (1) Wer eine Frau, die geisteskrank, hochgradig schwachsinnig, willenlos, bewusstlos oder zum Widerstand körperlich unfähig ist, zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Gefängnis von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (3) § 211 Abs. 3 gilt entsprechend. § 214 Schändung (1) Wer einen anderen, der geisteskrank, hochgradig schwachsinnig, willenlos, bewusstlos oder zum Widerstand körperlich unfähig ist, zur Unzucht mißbraucht, wird mit Gefängnis von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) § 212 Abs. 4 gilt entsprechend. 745 Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 80, 173. 744

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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des Strafmaßes für Regelfälle erfolgen sollte. Die zunächst angedachte Herabsetzung der Strafe im Tatbestand der Schweren Schändung auf Gefängnis nicht unter sechs Monaten wurde auf Grund der Vergleichbarkeit des kriminellen Unrechts mit der Notzucht jedoch zutreffend kritisiert, weil das Ausnutzen der Bewusstlosigkeit zum Geschlechtsverkehr als ebenso strafwürdig bzw. „ethisch“ noch verwerflicher betrachtet wurde.746 Schließlich wurde als Strafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren festgesetzt. Das Höchststrafmaß der Notzucht sollte ebenfalls um fünf Jahre herabgesetzt und die Zuchthausstrafe der Unzucht in der Nötigung zur Unzucht durch eine Gefängnisstrafe ersetzt werden. Allerdings war die Herbeiführung schwerer Folgen mit einem erhöhten Strafmaß verbunden. Nachdem die Notzucht als Eingriff „in den intimsten Bereich der Frau“ verstanden und als „regelmäßig schwerwiegender als die gewaltsame Wegnahme einer Sache“ 747 beurteilt wurde, sollte als Regelstrafe Zuchthausstrafe beibehalten werden und für minder schwere Fälle im Gegensatz zum Tatbestand des Raubes Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahr. Sowohl bei der Nötigung zur Unzucht als auch bei der einfachen Schändung sollte zukünftig auch der Mann als Tatobjekt erfasst sein. Der Nötigungserfolg des Beischlafs war jedoch weiterhin nur als außerehelicher tatbestandsmäßig. Die sowohl in § 211 als auch § 212 des Entwurfs auftauchenden Termini „nötigt oder zwingt“ waren der Entwurfsfassung der Nötigung in § 176 geschuldet. Hierbei sollte lediglich sprachlich klar gestellt werden, dass sowohl vis compulsiva als auch vis absoluta von dem Gewaltbegriff umfasst war.748 Nachdem diese Fassung jedoch als „sprachlich recht unerfreulich“ 749 aufgefasst wurde, wurde sie bereits im E 1960 wieder aufgegeben. 2. Der Entwurf von 1962 Der Entwurf von 1962 (E 1962)750, der den Katalog der Straftaten gegen die Sittlichkeit beträchtlich erweiterte,751 brachte im Vergleich zu den vorhergehenden Entwürfen hinsichtlich der Nötigung zur Unzucht in § 206 eine maßgebliche Änderung, indem Drohungen mit einem empfindlichen Übel erfasst werden sollten.752 In § 206a sollte die Schwere Nötigung zur Unzucht erfasst werden, für 746

Vgl. die 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 178 f. Jeweils Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 169. 748 Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 168. 749 Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 168. 750 Vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 3, S. 247 ff., 298 ff. 751 Vgl. näher Müting, 2010, S. 124 ff. 752 § 206 Nötigung zur Unzucht (1) Wer einen anderen durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, eine Handlung zu dulden oder vorzunehmen, die das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung erheblich verletzt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. 747

178 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

besonders schwere Fälle wurde ein Regelbeispiel geschaffen.753 Als Strafe war in beiden Fällen Gefängnisstrafe vorgesehen. Im Gegensatz zur traditionellen Behandlung wurde die Schwere Unzucht damit im Regelfall nicht mehr als zuchthauswürdig angesehen. Sie wurde nicht mehr zur „Hochkriminalität“ gezählt, weil die Fälle von der „Schwere des Unrechts“ her oftmals als „weit hinter der Notzucht“ angesiedelt gesehen wurden.754 Der erzwungene Beischlaf wurde nach wie vor als weitaus gravierender als erzwungene sexuelle Handlungen wie Anal- und Oralverkehr eingestuft. Die Wendung „eine Handlung, die das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung erheblich verletzt“ – im Gegensatz zur Begrifflichkeit der Unzucht oder unzüchtigen Handlung – war insofern ein Fortschritt, weil hierbei auf das oftmals nicht gegebene oder schwer nachweisbare subjektive Element der wollüstigen Absicht verzichtet wurde und damit eine Strafbarkeitserweiterung eintrat. Ansonsten war damit keine Auslegungsänderung bezweckt.755 3. Der Alternativ-Entwurf von 1968 Der E 1962 stieß in der Wissenschaft verbreitet auf „vernichtende Kritik“ 756, weil er noch ganz dem Moralstrafrecht verhaftet war und die Straftaten gegen die Sittlichkeit nicht vermindern, sondern im Gegenteil auf 31 Paragraphen erweitern wollte.757 Positiv wurde der Versuch der Konkretisierung strafwürdigen Verhaltens mittels Differenzierung gesehen.758 Die Kritik überwog jedoch und war hinsichtlich der zahlreichen noch in überkommenen Moralvorstellungen verhafteten Tatbestände wie Ehebruch oder Homosexualität auch absolut berechtigt. Die Kri753 § 206a Schwere Nötigung zur Unzucht (1) Wer die Nötigung zur Unzucht mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begeht, wird mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. mehrere die Tat gemeinschaftlich begehen, 2. die Tat mittels eines hinterlistigen Überfalls begangen wird oder 3. der Täter das Opfer bei der Tat roh mißhandelt. (4) Bringt der Täter das Opfer in die Gefahr des Todes oder schädigt er es vorsätzlich oder leichtfertig am Körper oder Gesundheit schwer (§ 147 Abs. 2), so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren. Verursacht er leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren. 754 Jeweils Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung, 1962, S. 363. 755 Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung, 1962, S. 360, 363. 756 Hanack, 1969, S. 11. 757 Vgl. Eser, in: Juristische Analysen 2, 1970, S. 218; Hanack, 1969; Hanack, ZStW 77 (1965); Leferenz, ZStW 77 (1965); Müting, 2010, S. 130 ff.; Weber, JZ 1965, S. 503 ff. 758 Hanack, ZStW 77 (1965), S. 399.

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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tik mündete in dem Alternativ-Entwurf (AE) BT von 1968 die Sexualdelikte betreffend,759 der maßgeblich vom Gutachten des Strafrechtsprofessors Ernst-Walter Hanack für den 47. Deutschen Juristentag aus dem Jahr 1968 beeinflusst war.760 Das Bestreben des AE, das Strafrecht auf die „Pönalisierung gravierenden sozialschädlichen Verhaltens“ 761 zu beschränken, war ein längst überfälliger und notwendiger Schritt und ist daher äußerst positiv zu bewerten. Hinsichtlich der Delikte der Notzucht und Schweren Unzucht762 bewegten sich die Vorschläge jedoch in traditionellen und teilweise frauenfeindlichen Bahnen.763 Hanack kritisierte zwar das antiquierte Frauenbild im E 1962, benutzte jedoch die angeblich eingetretene Emanzipation der Frau als Argument zur Rücknahme des Strafrechtsschutzes. So lehnte er den Tatbestand der „Unzucht unter Ausnutzung einer Dienststellung“ ab, weil die Frau des „schroffen“ Schutzes dieses Tatbestands nicht bedürfe.764 Fortschrittlich war die angestrebte Ablösung von antiquierten Begriffen wie Notzucht und Unzucht765 durch die Termini sexuelle Nötigung/Vergewaltigung sowie die neue Schutzrichtung der „sexuellen Freiheit“.766 Die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung blieben jedoch tatbestandlich ge759 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968. Zum Inhalt ausführlich Müting, 2010, S. 137 ff. 760 Der Originaltitel hieß „Empfiehlt es sich die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen?“, München 1968. Eine Neuauflage findet sich in Hanack, 1969. Vgl. dazu Kohlhaas, DRiZ 1968. 761 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 9. 762 Vergewaltigung (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit . . . bestraft. (2) Hat die Verletzte durch ihr Verhalten Anlaß zur Tat gegeben oder liegen wegen ihrer Beziehung zum Täter erheblich mildernde Umstände vor, ist die Strafe . . . Sexuelle Nötigung (1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, außereheliche sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit an sich zu dulden oder an sich oder anderen vorzunehmen, wird mit . . . bestraft. (2) Hat das Opfer durch sein Verhalten Anlaß zur Tat gegeben oder liegen wegen seiner Beziehung zum Täter erheblich mildernde Umstände vor, kann von Strafe abgesehen werden. (3) Im Falle des Absatzes 1 ist der Versuch strafbar. Sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger (1) Wer an einem Bewußtlosen oder sonst Widerstandsunfähigen außereheliche sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit vornimmt, wird mit . . . bestraft. (2) Vollzieht ein Mann mit dem Opfer den außerehelichen Beischlaf, ist die Strafe . . . (3) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. (4) Hat das Opfer durch sein Verhalten vor Eintritt der Widerstandsunfähigkeit Anlaß zur Tat gegeben oder liegen wegen seiner Beziehung zum Täter erheblich mildernde Umstände vor, kann von Strafe abgesehen werden. Der Versuch bleibt straflos. 763 Vgl. die Kritik von Frommel, MschrKrim 1985, S. 352 an den Ausführungen Hanacks. 764 Hanack, 1969, Rz. 11. 765 Vgl. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11, 15. 766 Vgl. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 9, 11, 13.

180 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

trennt, man ging weiterhin von einem unterschiedlichen Unrechtsgehalt der Taten aus. Hanack kritisierte ausführlich, dass der „Dirne“ der Schutz des Notzuchttatbestands zukam, der Ehefrau jedoch kein „vergleichbarer Schutz“.767 Die Erzwingung des ehelichen Beischlafs oder anderer sexueller Handlungen wurde aber letztendlich nicht für strafwürdig erachtet, obwohl man „Angriffe auf Erwachsene, soweit dabei Gewalt oder gravierende Formen von Nötigung angewendet werden oder ein Mißbrauch Wehrloser vorliegt“ 768, als sanktionierungsbedürftig, weil sozialschädlich einstufte. „Wegen der Besonderheiten im ehelichen Umgang“ 769 wurde eine strafrechtliche Sanktionierung wenig überzeugend abgelehnt, weil sie – „wenig effektiv“ – die damit verbundenen „vielen Schwierigkeiten und Störungen“ im „Intimbereich der Ehe“ nicht rechtfertigte.770 Der Tatbestand der Nötigung wurde wie seither als ausreichend erachtet.771 Immerhin sollte die Einbeziehung des Mannes in den Opferkreis der sexuellen Nötigung erhalten bleiben.772 Positiv ist der Tatbestand der sexuellen Nötigung insoweit zu bewerten, als der Nötigungserfolg nicht nur von Duldung sexueller Handlungen spricht, sondern – entgegen dem damals geltenden § 176 StGB – explizit die erzwungene Vornahme sexueller Handlungen an einem anderen und auch an sich selbst773 sanktionierte. Damit war klar gestellt, dass auch der erzwungene Oralverkehr darunter fiel. Es musste sich allerdings um eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit handeln, wodurch „flüchtige Berührungen und bloße Geschmacklosigkeiten“ ausgeschlossen werden sollten.774 Kennzeichnend für den AE ist die Hervorhebung der Strafmilderungsmöglichkeit bzw. die Möglichkeit

767

Hanack, 1969, Rz. 11, 59 ff. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 9. 769 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 9. 770 Jeweils Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11, 15. 771 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 9, 11. Hanack kritisierte dieses Vorgehen als „juristischen Schleichweg“ und lehnte es ab; insbesondere sah er „aufgrund der traditionellen Auffassung über die eheliche Geschlechtsbeziehung“ die Verwerflichkeitsprüfung als problematisch an; des Weiteren hielt er es „kriminalpolitisch“ für nicht sinnvoll, im Gegensatz zur Notzucht hierbei schon die Drohung mit einem empfindlichen Übel genügen zu lassen; vgl. Hanack, 1969, Rz. 62. Im Ergebnis hielt er eine Sanktionierung der ehelichen Notzucht nur durch einen eigenen Tatbestand für denkbar; die Strafe sollte milder ausfallen als für eine außereheliche Notzucht und die Strafverfolgung von einem Strafantrag und einer vorherigen Scheidung abhängen. Seiner Auffassung nach bliebe eine diesbezügliche „Verurteilungsziffer“ aber „akademisch“ und der Tatbestand hätte somit nur „beschränkt generalpräventive Wirkung“; vgl. Hanack, 1969, Rz. 66. 772 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 15. 773 Die abgenötigte Vornahme sexueller Handlungen an sich selbst ist heute nur von § 240 I, IV Nr.1 StGB erfasst; vgl. dazu BGH StV 2011, S. 160. 774 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 15. Die sexuelle Handlung wurde rein objektiv verstanden; man verzichtete also wie im E 1962 auf das Merkmal der „wollüstigen Absicht“. 768

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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des Absehens von Strafe im Tatbestand der Vergewaltigung bzw. sexuellen Nötigung bei einem tatfördernden Verhalten des Opfers und einer bestimmten Beziehung der Beteiligten.775 In Absatz I der Vergewaltigung war „eine relativ harte Strafdrohung“ vorgesehen, Absatz II sollte die vielen im „milderen Licht“ erscheinenden Fälle auffangen.776 4. Das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1969 Der 13. Abschnitt der Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit erfuhr durch das 1. StrRG vom 25.06.1969777 erste durchgreifende Veränderungen. Unter anderem wurde die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität, § 175 a. F., des Ehebruchs, § 172 a. F., und der Sodomie, § 175b a. F., abgeschafft,778 so dass man sich in einem ersten Schritt von den im Reichsstrafgesetzbuch festgeschriebenen überkommenen sittlichen Vorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts löste. § 177 StGB blieb unangetastet. Lediglich für den Tatbestand der Schweren Unzucht, § 176 StGB, hatte sich – wie schon im E 1962 und AE 1968 vorgeschlagen – die Überzeugung durchgesetzt, dass dieser geschlechtsneutral ausgestaltet werden müsse. § 176 Abs. 1 Nr. 1 lautete nun: Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einem anderen vornimmt oder einen anderen durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nötigt.

Einen Monat später äußerte sich die fortschrittliche Auffassung, dass es Aufgabe des Strafrechts sei, die Gesellschaft vor gravierenden sozialschädlichen Verhaltensweisen zu schützen, auch in der Rechtsprechung im Rahmen des sogenannten Fanny-Hill-Urteils vom 22.07.1969. Dort führte der Bundesgerichtshof aus: „Denn das Strafgesetz hat nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern es hat die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen.“ 779

775

s. dazu Dritter Teil: E.III.2. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11, 15. 777 BGBl. I S. 645. Vgl. dazu Eser, in: Juristische Analysen 2, 1970, S. 218; Müting, 2010, S. 141 ff. 778 Vgl. die Diskussionsbeiträge in Bauer/Bürger-Prinz/Giese u. a. (Hrsg.), 1963. Die Strafbarkeit der einverständlichen Homosexualität wurde erst 1997 endgültig abgeschafft (§ 175 sanktionierte vor 1969 jede Art von homosexuellem Verhalten, nach 1969 die homosexuellen Handlungen eines über 18jährigen an einem unter 18jährigen, ohne dass eine Schutzbefohleneneigenschaft vorliegen musste). 779 BGH NJW 1969, S. 1819. 776

182 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

5. Fazit Die Reformdiskussion bewegte sich hinsichtlich der Notzucht und Unzucht in alten Bahnen. Immerhin war das empfindliche Übel als Nötigungsmittel der Nötigung zur Unzucht im E 1962 vorgesehen und der AE löste sich von den antiquierten Begrifflichkeiten der Unzucht und Notzucht. Eine – dringend notwendige – Erweiterung des Schutzes für Opfer sexueller Gewalt war jedoch nicht intendiert. Der AE ist vielmehr auffällig in seinem Bemühen, den Strafmilderungsbedarf der Tatbestände der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger hervorzuheben und benannte Möglichkeiten zu schaffen, die Strafe zu mildern bzw. sogar ganz von ihr abzusehen.

II. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 1. Die Neugestaltung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs Vier Jahre später setzte sich der Trend der Entmoralisierung des Strafrechts im Rahmen des 4. StrRG vom 23.11.1973780 fort, wobei auch der Tatbestand der Notzucht Gegenstand reformerischer Aktivitäten wurde.781 Das Anliegen war, die weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammenden Normen an die geänderten „kriminalpolitischen Bedürfnisse“ anzupassen und „nur schutzwürdige Rechtsgüter des einzelnen oder der Allgemeinheit“ „mit den Mitteln des Strafrechts“ zu verteidigen.782 Als einschneidende Veränderung muss die ausdrückliche Neubestimmung des Rechtsguts in den §§ 174 ff. StGB hervorgehoben werden, indem der 13. Abschnitt mit „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ betitelt wurde. Darüber hinaus wurden insbesondere die antiquierten Termini der Notzucht, der gewaltsamen Unzucht und Schändung durch die Begriffe der Vergewaltigung,783 der sexuellen Nötigung und des sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger ersetzt. Der Begriff der unzüchtigen Handlung784 wurde abgelöst durch den Begriff der sexuellen Handlung und erfuhr in § 184 c StGB, dem heutigen § 184g StGB, eine konkrete Begriffsbestimmung. Ob eine sexuelle Handlung im Sinne der Vorschriften des 13. Abschnitts vorlag, bestimmte sich von nun an allein nach dem „äußeren Erscheinungsbild“ als „sexualbezogene Handlung“, darüber hinaus musste diese von einiger Erheblichkeit sein.785 § 177 StGB war 780 BGBl. I S. 1725. Vgl. dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn 7 ff.; § 177 „Entstehungsgeschichte“; Müting, 2010, S. 143 ff.; Sturm, JZ 1974. 781 Vgl. BT-Drs. VI/1552; BT-Drs. VI/3521 sowie BR-Drs. 489/70. 782 BT-Drs. VI/3521, Vorblatt. 783 Der Gewaltaspekt der Tat wurde dadurch in den Vordergrund gerückt. 784 Dieser verlangte in objektiver Hinsicht „eine das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl auf geschlechtlichem Gebiet gröblich verletzende Handlung von einiger Erheblichkeit.“ In subjektiver Hinsicht musste die Handlung auf einer geschlechtlichen (wollüstigen) Absicht beruhen. Vgl. LK-Laufhütte, 10. Aufl. (1988), § 184c Rn. 2 f. 785 LK-Laufhütte, 10. Aufl. (1988), § 184c Rn. 5, 10.

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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nicht mehr an den Anfang des Abschnitts gestellt; diese Rolle kam von nun an dem Tatbestand des § 174 StGB, dem Sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu. Nachdem jedoch die Vergewaltigung, abgesehen von den minder schweren Fällen, weiterhin als eines der „schwersten kriminellen Delikten“ 786 angesehen wurde, wurde die Freiheitsstrafe auf „nicht unter zwei Jahren“ angehoben. Die bis dahin in § 177 I Hs. 2 StGB geregelte uneigentliche Notzucht (schwere Schändung) und durch § 176 I Nr. 2 StGB erfasste einfache Schändung erfuhr durch § 179 StGB787, dem „Sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger“, eine eigenständige Regelung. Der dem § 177 StGB nachfolgende § 178 StGB regelte nunmehr die sexuelle Nötigung, wobei als Neuerung, ebenso wie in § 177 StGB, zukünftig nur außereheliche Handlungen erfasst waren, insofern also eine tatbestandliche Einschränkung im Vergleich zu § 176 I Nr. 1 StGB a. F. erfolgte.788 Immerhin wurde die geschlechtsneutrale Opfereigenschaft beibehalten. Die §§ 177 und 178 StGB lauteten nun folgendermaßen: § 177 Vergewaltigung (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. (3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. § 178 Sexuelle Nötigung (1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, außereheliche sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. 786

BT-Drs. VI/3521 S. 39. Die Vorschrift wurde erweitert, indem sie geschlechtsneutral gefasst wurde und alle sexuellen Handlungen – wenn auch nur die außerehelichen – und nicht nur den Beischlaf sanktionierte. Vgl. BT-Drs. VI/3521 S. 40 ff. § 179 (1) Wer einen anderen, der 1. wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zum Widerstand unfähig ist oder 2. körperlich widerstandsunfähig ist, dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit außereheliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von dem Opfer vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wird die Tat durch Mißbrauch einer Frau zum außerehelichen Beischlaf begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. 788 Allerdings waren Verurteilungen aus § 176 I Nr. 1 StGB a. F. äußerst selten. In diesem Sinne auch BT-Drs. VI/3521 S. 40. 787

184 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. (3) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren.

So heftig sich die Reformdiskussionen789 im Rahmen des 4. StrRG von 1973 auch gestalteten, sie betrafen hauptsächlich die Notwendigkeit und den Umfang der Pönalisierung von Kuppelei790 und Pornographie sowie den Minderjährigenschutz.791 Die Neuausrichtung des tatbestandlichen Schutzes des § 177 StGB hin zur „freien Selbstbestimmung über das Geschlechtsleben“ 792 wirkte sich nur marginal aus. Die traditionelle Prägung durch das Rechtsgut der weiblichen Geschlechtsehre erschwerte die vollumfängliche Durchsetzung der neuen Schutzrichtung und das Verständnis für dessen Inhalt.793 Die Sanktionierung der ehelichen Vergewaltigung durch § 177 StGB wurde zwar intensiv diskutiert, aber letztendlich mit knapper Mehrheit mit ähnlichen – rein „praktischen“ 794 – Erwägungen wie schon im AE 1968 abgelehnt.795 Die strikte Differenzierung zwischen § 177 StGB und § 178 StGB blieb ebenso erhalten wie der Ausschluss des Mannes aus dem Vergewaltigungstatbestand.796 Durch die Trennung von § 177 StGB und § 178 StGB, der sexuellen Nötigung, wurde weiterhin insistiert, dass die männliche außereheliche Penetration einer Frau im Vergleich zu sonstigen Penetrationen als schwereres Unrecht anzusehen sei,797 unter anderem798 auch wegen der damit verbundenen Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft.799 Der Gesetzgeber entschied sich sogar dafür, den strafrechtlichen Schutz der Ehepartner vor aufgezwungenen sexuellen Handlungen zu verkürzen, indem die sexuelle Nötigung, § 178 StGB, und die Entführung, § 237 StGB, auf außereheliche Handlungen beschränkt wurden. Die Begründung verwies – nicht überzeugend800 – auf Beweisschwierigkeiten und Missbrauchsmöglichkeiten.801 789

Dazu Schroeder, 1975, S. 15. Der Tatbestand der Kuppelei, §§ 180, 181 a. F., wurde 1973 zur „Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger“ in § 180 StGB umgestaltet und mit dem sog. Erzieherprivileg ausgestattet (Abs. 1 S. 2). 791 Zur Reformdiskussion vgl. Sturm, JZ 1974. 792 BT-Drs. VI/1552, S. 17. 793 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn 11. 794 Man war sich darüber einig, dass der Ausschluss aus § 177 StGB vom Rechtsgut her nicht gerechtfertigt war; BT-Drs. VI/3521, S. 39. 795 BT-Drs. VI/3521, S. 39. Vgl. ausführlich Wetzel, 1998, S. 41 ff. Zur Geschichte der Vergewaltigung in der Ehe vgl. Helmken, 1979; Paetow, 1987; Wetzel, 1998. 796 Dies kritisiert auch Schroeder, 1975, S. 24. 797 Vgl. BGH, Urteil vom 20.10.1970 – 1 StR 394/70. Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn 11. 798 Schönke/Schröder, 21. Aufl. (1982), § 177 Rn. 1. 799 Ebenso Schapira, KJ 1977, S. 230. 800 Ebenso Schroeder, 1975, S. 23. 790

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Der Verweis auf den in diesen Fällen einschlägigen Tatbestand der Nötigung, § 240 StGB, stellte keine befriedigende Lösung dar, weil dieser den Unrechtsgehalt einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung in nicht ausreichendem Maße erfasste802 und der allgemeine Nötigungstatbestand als Schutznorm der Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit dadurch eine zweckfremde Erweiterung erfuhr.803 Die Gründe dafür, dass die Reform den Tatbestand der Vergewaltigung stiefmütterlich behandelte, liegen wohl darin, dass der Brennpunkt der Reformdiskussion in der Weiterführung der Abkehr von einem Moralstrafrecht lag, das – zugespitzt formuliert – unter Sittlichkeit in geschlechtlicher Hinsicht die „Negation des Geschlechtlichen außerhalb der Ehe“ verstand.804 In dem sogenannten Kuppeleiurteil805 hatte der Bundesgerichtshof das diesbezügliche Sittengesetz so auch als eine „vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte“ beurteilt, die unabhängig von den Anschauungen einer Gesellschaft bestünde.806 Das 4. StrRG zeigte jedoch auf, dass das Legalurteil über die Ausübung von Sexualität sehr wohl dem Wandel unterlag. Für die „Sexualität“ war „eine Art Götterdämmerung angebrochen“ und der „menschliche Sexus“ wurde „entdämonisiert“ 807 und enttabuisiert. Die Normen des Sexualverhaltens, insbesondere die Rollenverteilung innerhalb der sexuellen Interaktion zwischen Mann und Frau, wurden von diesen Veränderungen jedoch nicht erfasst. Die drängenden Probleme im Umgang mit § 177 StGB wurden deshalb auch schlichtweg ignoriert bzw. verkannt, weil man sich von antiquierten und unzutreffenden Vorstellungen leiten ließ.808 Dessen ungeachtet ist die Ablösung des antiquierten Begriffes der Notzucht809 als äußerst positiv zu bewerten, weil damit irreführende Assoziationen wie unter anderem, dass sich die Frau dem Mann unterordnen müsse sowie, dass ein Mann eine Frau aus einer (sexuellen) Not heraus vergewaltige, verbunden waren.810 Das Wort „Vergewaltigung“ bedeutet „in seine Gewalt bringen“.811 Der Begriff umschreibt demnach das Geschehen einer Vergewaltigung exakt: Das Opfer wird gezwungen, das Eindringen des Täters in seinen un801 BT-Drs. VI/3521, S. 39; Schroeder plädierte deswegen für eine restriktive Auslegung des Merkmals „außerehelich“; vgl. Schroeder, 1975, S. 23. 802 Ebenso Mitsch, JA 1989, S. 488. 803 Ebenso Fezer, JZ 1974, S. 603 f. 804 H. Jäger, 1957, S. 31. 805 BGHSt 6, 46. 806 Kritisch dazu H. Jäger, 1957, S. 33 f. 807 Jeweils Eser, in: Juristische Analysen 2, 1970, S. 218. 808 Vgl. nur Hanack, 1969, Rz. 55. 809 Kritik an den durch das 4. StrRG neu geschaffenen Begrifflichkeiten übte Schroeder, 1975, S. 19: „die „sexuellen (Anm. des Verf.: und nicht mehr „unzüchtigen“) Handlungen“ werden „vorgenommen“, sie müssen „von einiger Erheblichkeit“ sein (§ 184c Nr. 1). „War die überkommene Terminologie moralisierend, so wirkt die neue nicht weniger komisch durch ihre an naturwissenschaftliche Labors erinnernde Sterilität“. 810 Ebenso Sick, 1993, S. 89. 811 Kluge/Seebold, 23. Aufl. (1999), S. 857.

186 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

antastbaren Intimbereich zuzulassen, sich zu einem bloßen Objekt von Machtund Erniedrigungsgelüsten herabstufen zu lassen. Der Täter bemächtigt sich der Person des Opfers in seiner Gesamtheit und „vergewaltigt“ dadurch dessen Körper und Seele.812 2. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung § 177 StGB schützt seit dem 4. StrRG das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.813 Als „Rechtsposition“ beinhaltet das sexuelle Selbstbestimmungsrecht eine „Nutzungs- und Ausschlussfunktion“.814 Jeder Mensch besitzt Sexualhoheit über seinen Körper. Ihm steht die freie Entscheidung zu, wer auf diese Sexualhoheit zugreifen darf, also ob, wann, wie und mit wem er sexuelle Handlungen einverständlich vollzieht.815 Dieses Recht ist unantastbar und absolut. „Die freie Entfaltung der eigenen Sexualität“ findet ihre Beschränkung jedoch dann, wenn auf andere Rechtspositionen zugegriffen wird.816 Geschützt wird demnach die negative Freiheit vor sexuellen Handlungen und nicht die positive Freiheit zu sexuellen Handlungen.817 Maßgeblich ist die „negative Selbstbestimmungsfreiheit“,818 die ein Abwehrrecht gegenüber „sexueller Fremdbestimmung“ 819 gewährleistet,820 den Rechtsgutsinhaber davor schützt, „zum Objekt fremdbestimmter sexueller Übergriffe herabgewürdigt zu werden.“ 821 Als Ausprägung der durch Art. 2 I GG garantierten persönlichen Freiheit ist die sexuelle Selbstbestimmung ein „Teilaspekt“ dieses allgemeinen Freiheitsrechts,822 muss aber auf Grund seiner spezifischen Schutzrichtung eigenständig erfasst werden.823 Darüber hinaus verletzen sexuelle Übergriffe ohne Einverständnis oftmals auch die Menschenwürde des Betroffenen, wenn der Eingriff in die Intimsphäre eine „bestimmte Eingriffsintensität“ überschreitet.824 Zu betonen gilt: Die Freiheit des Einzelnen vor der Duldung bzw. Vornahme sexueller Körperkontakte gegen den 812

Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn 51 f. Vgl. zu den geschützten Rechtsgütern des 13. Abschnitts ausführlich LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 27 und Renzikowski/Sick, in: FS Schroeder, 2006, S. 603 ff. 814 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 7. 815 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 7. 816 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 8. 817 Schroeder, 1975, S. 18. 818 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 28. 819 Bottke, in: FS Otto, 2007, S. 536. Für Bottke stellt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als Abwehrrecht ein Menschenrecht dar. 820 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 28. 821 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 8. 822 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 8. 823 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 29. 824 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 32 m.w. N.; Bottke begreift die sexuelle Selbstbestimmung ebenfalls als Teil der Menschenwürde; vgl. Bottke, in: FS Otto, 2007, S. 547 ff.; ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), Vor § 174 Rn. 8. 813

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eigenen Willen wird weder durch eine generelle Bereitschaft825 bzw. Vorliebe zu sexuellen Handlungen noch auf Grund eines Einverständnisses mit Sexualkontakten in der Vergangenheit beschnitten.826 Auch aus eherechtlichen Normen wie § 1353 I S. 2 Hs. 1 BGB827 resultiert kein Recht des Ehepartners, den Sexualkontakt überhaupt oder dessen Modalitäten zu bestimmen.828 Allerdings erfährt das Recht auf Freisein vor sexueller Fremdbestimmung durch das Strafrecht keinen lückenlosen Schutz, obwohl jeder sexuelle Übergriff die sexuelle Selbstbestimmung und Intimsphäre tangiert.829 § 184 g StGB bestimmt zunächst, dass sexuelle Handlungen im Sinne des 13. Abschnitts des StGB nur dann vorliegen, wenn diese von einiger Erheblichkeit sind.830 Des Weiteren ist es für eine Strafbarkeit nach § 177 StGB nicht ausreichend, wenn die Vornahme sexueller Handlungen gegen den ausdrücklichen Willen des Opfers erfolgt, vielmehr muss die Nötigung831 zu sexuellen Handlungen qualifiziert werden, und zwar durch den Einsatz von Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben.832 Die sexuelle Belästigung wozu das sogenannte Busengrapschen und ähnliches gezählt wird, kann damit, wenn überhaupt, nur von § 185 StGB erfasst werden.833 Darüber hinaus sind bestimmte erzwungene sexuelle Verhaltensweisen834 825 A. A. Schroeder, der einen von § 177 StGB vorausgesetzten „Eingriff in die Intimsphäre“ verneint, wenn eine Prostituierte von einem Freier gegen ihren Willen mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird. Dies stelle „lediglich eine Verweigerung der Bedingungen“ dar, die eventuell § 240 StGB unterfalle. Vgl. Maurach/Schroeder/ Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 6. 826 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 1. Diese Umstände werden allerdings vom BGH regelmäßig bei der Strafzumessung berücksichtigt. 827 Vgl. dazu die zeitgenössische Kommentarliteratur: Nach Erman-Kroll-Ludwigs, BGB, 13. Aufl. (2011), § 1353 Rn. 8 beinhaltet die Ehe die „Verpflichtung der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft“. Auch Palandt-Brudermüller, 71. Aufl. (2012), § 1353 Rn. 7 weist auf diese Verpflichtung im Rahmen eines traditionellen Eheverständnisses hin. Vgl. BGH NJW 1967, S. 1079: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt. Wenn es ihr (. . .) versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen“. 828 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 2. 829 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 1. 830 Vgl. zur Auslegung dieser Begriffsbestimmung LK-Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl. (2010), § 184g Rn. 1 ff. 831 Verstanden als Ausübung von Zwang, der den Willen des Opfers dem Ansinnen des Täters beugt und nicht i. S. d. § 240 StGB. 832 Vgl. hierzu die sog. Istanbuler Konvention vom 11.05.2011, die am 01.08.2014 in Kraft trat; gem. Art. 36 müssen die Unterzeichnerstaaten alle nicht einverständlichen sexuellen Handlungen strafbar stellen. 833 Vgl. dazu Adelmann, Jura 2009, S. 24 ff.; LK-Hilgendorf, 12. Aufl. (2010), § 185 Rn. 28 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 103 ff.; Schaefer/Wolf, ZRP 2001 sowie BGH NStZ 1986, S. 453. Nach der älteren Rechtsprechung war § 185 StGB bei Vorliegen einer Notzucht/Unzucht bzw. sexuellen Nötigung/Vergewaltigung regelmäßig miterfüllt, trat jedoch in der Regel auf Konkurrenzebene zurück. Darüber hinaus

188 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

nicht durch § 177 StGB geschützt, sondern lediglich durch § 240 I, IV StGB. Unterfällt eine erzwungene sexuelle Handlung nicht § 177 StGB, kann also höchstens § 240 StGB eingreifen, es sei denn, körperliche Beeinträchtigungen im Sinne des § 223 StGB liegen vor. Die Durchführung des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen einer Person sieht die Rechtsprechung nicht als körperliche Misshandlung im Sinne des § 223 StGB an.835 Das allgemeine Selbstbestimmungsrecht als Schutzgut des § 240 StGB ist ungeeignet, das Tatunrecht sexueller Instrumentalisierung einer Person zu erfassen. Zum einen ist das Strafmaß weitaus niedriger als bei den meisten Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zum anderen – und dies wiegt meines Erachtens am schwersten – wird dadurch die spezifische Qualität sexueller Aggression verkannt.836 Nicht umsonst zählt das Bundesverfassungsgericht die Ausübung von Sexualität zum „unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung“, denn es handelt sich hierbei um eine „höchstpersönliche“ Angelegenheit.837 Wird das Opfer als Sexualobjekt instrumentalisiert, ist die Einordnung dieses Vorgangs als ein Eingriff in das Allgemeine Selbstbestimmungsrecht bagatellisierend. Der „Erfolgsunwert der Tat“ wird hierbei „nur fragmentarisch angezeigt“.838 Die Verurteilung wegen Nötigung trotz Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts ist unbefriedikam § 185 StGB eine Auffangfunktion zu, so dass dieser als kleines Sexualdelikt fungierte, wenn §§ 176, 177 StGB a. F. nicht vorlagen. Die neuere Rechtsprechung wich von dieser Auffassung ab, insbesondere auch auf Grund des 4. StrRG. Nach BGH NStZ 1986, S. 453 kam von nun an „eine Bestrafung wegen Beleidigung in Betracht, wenn das Verhalten des Täters wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls über die mit der sexuellen Handlung regelmäßig verbundene Beeinträchtigung hinaus einen Angriff auf die Geschlechtsehre“ beinhaltete. Die neuere Rechtsprechung gibt jedoch trotz dieser Wende keine klaren Linien vor und macht weiterhin von § 185 StGB als Auffangtatbestand Gebrauch. Vgl. näher Sick, 1993, S. 310 ff. Grundsätzlich stellt § 185 StGB m. E. nicht den geeigneten Tatbestand dar, das Unrecht sexueller Belästigungen zu erfassen, weil hierbei die sexuelle Selbstbestimmung betroffen ist und nicht ein Angriff auf die Ehre durch Kundgabe von Missachtung, Nichtachtung oder Geringschätzung stattfindet. Die Ehre darf nicht „mit der Personenwürde und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ gleichgesetzt werden; vgl. LK-Hilgendorf, 12. Aufl. (2010), § 185 Rn. 28; anders LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 103 ff. Solange ein Tatbestand der (tätlichen) sexuellen Belästigung jedoch nicht existiert, muss auf § 185 StGB zurückgegriffen werden, weil das Ausbleiben jeglichen Strafrechtsschutzes in diesem Bereich intolerabel ist. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn ein derartiger Tatbestand geschaffen werden würde; vgl. dazu den Reformvorschlag von Sick, 1993, S. 346 und Art. 40 (Sexuelle Belästigung) der sog. Istanbuler Konvention vom 11.05.2011. 834 Dazu gehören erzwungene sexuelle Handlungen ohne körperliche Berührung bzw. Handlungen des Opfers an sich selbst, wie z. B. eine erzwungene Masturbation. Vgl. BGH NStZ 2008, S. 623 f. (Nötigung zum Entkleiden und Spreizen der Beine). Vgl. näher Sch/Sch-Eser/Eisele, 12. Aufl. (2010), § 240 Rn. 38. 835 s. dazu Dritter Teil: D.II.2.c). 836 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 29. 837 Vgl. u. a. BVerfGE 109, 279 (319) m.w. N.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 29. 838 So Mitsch, JA 1989, S. 488 hinsichtlich der Vergewaltigung in der Ehe und deren Strafbarkeit gem. § 240 StGB vor dem 33. StÄG.

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gend, weil der Angeklagte „nicht als Verletzer dieses Rechtsguts“ ausgewiesen wird und dies den positiv „generalpräventiven Effekt(s)“ verfälscht.839 Die Bevölkerung stuft die Täter einer Nötigung – Verkehrsrowdys und Demonstranten – nicht als Kriminelle im eigentlichen Sinn ein, weil eine Strafbarkeit wegen Nötigung als nicht so schwerwiegend empfunden wird.840

III. Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz von 1997 – ein neues Kapitel im Rahmen des § 177 StGB Nach den einschneidenden reformerischen Aktivitäten innerhalb des 13. Abschnitts durch das 1. und 4. StrRG dauerte es zehn Jahre, bis 1983 eine weitere Reformdebatte in Gang gesetzt wurde.841 Im Vordergrund standen hierbei nun endlich die §§ 177, 178 StGB, konkret die Erfassung der Vergewaltigung in der Ehe, die Erweiterung des Vergewaltigungsbegriffs um andere Penetrationsformen, die Einbeziehung des Mannes als Opfer in den Vergewaltigungstatbestand sowie die Erweiterung der Nötigungsmittel auf Grund der restriktiven Rechtsprechung zum Tatbestandsmerkmal der Gewalt und Drohung. Erst weitere 14 Jahre später – auch bedingt durch die politischen Veränderungen in Europa und die Inanspruchnahme der Politik durch die Wiedervereinigung – mündeten die Diskussionen842 in einem Reformgesetz,843 dem 33. StÄG vom 01.07.1997.844 Die839 Jeweils Mitsch, JA 1989, S. 488 hinsichtlich der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe vor dem 33. StÄG. 840 Mitsch, JA 1989, S. 488 hinsichtlich der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe vor dem 33. StÄG. 841 In Gang gesetzt durch den Antrag der Freien und Hansestadt Hamburg vom 13.09.1983 zur Pönalisierung sexueller Gewalt in der Ehe; vgl. Stenographische Berichte des Bundesrates, 529. Sitzung, S. 427 ff. Näher zur Reformdebatte und zum Reformgang Frommel, ZRP 1988, S. 233 ff.; Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 347 ff.; LKHörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 16, § 177 „Entstehungsgeschichte“; Müting, 2010, S. 151 ff. 842 BT-Drs. 13/199; 13/323; 13/536; 13/2463; 13/3026; 13/7324 (Gesetzentwürfe); BT-Drs. 13/4543; 13/7663 (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses); aus der umfangreichen Literatur vgl. außerdem Beck, ZRP 1995, S. 281 ff.; Frommel, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 113; Frommel, KJ 1996, S. 164 ff.; Helmken, ZRP 1995, S. 302 ff. sowie die Nachweise bei LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177. 843 § 177 Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (1) Wer eine andere Person mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen 1. des Täters oder 2. einer dritten Person an sich zu dulden oder an 3. dem Täter oder 4. einer dritten Person vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

190 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

sem folgte am 26.01.1998 das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts.845 Die tatbestandliche Struktur des § 177 StGB wurde durch das 33. StÄG einer durchgreifenden Änderung unterzogen, es erfolgte „eine völlige Um- und Neugestaltung“ der bis dahin geltenden §§ 177, 178 StGB.846 § 177 StGB und § 178 StGB wurden – getragen von der Intention flexibler Handhabung847 – in § 177 StGB n. F. in einem Einheitstatbestand848 zusammengefasst, wobei die sexuelle Nötigung den Grundtatbestand bildet und der bisherige Tatbestand der Vergewaltigung nun in § 177 II Nr. 1 StGB ein Regelbeispiel darstellt. Der Vergewaltigungsbegriff erfuhr eine Erweiterung, so dass unter Vergewaltigung im Sinne des § 177 II Nr. 1 StGB seitdem neben dem Beischlaf jede sexuelle Handlung verstanden wird, die das Opfer besonders erniedrigt, „insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden“ ist. Des Weiteren wurde ein neues Nötigungsmittel in § 177 I Nr. 3 StGB geschaffen, nämlich „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“. Die zahlreichen Opfer sexueller Gewalt, die „vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“,849 sollten dadurch als Vergewaltigungsopfer (3) 1 In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. 2 Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), 2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird oder 3. der Täter das Opfer bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder es durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt. (4) Verursacht der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. 844 BGBl. I S. 1607. Dieses basiert weitgehend auf einem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP; vgl. BT-Drs. 13/2463. Aus der umfangreichen Literatur vgl. Brüggemann, 2012, S. 264 ff.; Fischer, ZStW 112 (2000), S. 76 ff.; Folkers, NJW 2000, S. 3317 ff.; Lenckner, NJW 1997, S. 2801 ff.; Renzikowski, NStZ 1999, S. 377 ff., 440 ff.; Schroeder, JZ 1999, S. 827 ff. 845 BGBl. I S. 164. Hierbei erhielt § 177 StGB die heutige Fassung. In Absatz 2 S. 2 Nr. 1 wurde die Wendung „an sich von ihm vornehmen lässt“ eingefügt. Ansonsten betraf das 6. StrRG § 177 StGB hauptsächlich durch die dabei stattfindende Harmonisierung der Tatbestandsbeschreibungen und Strafrahmen mit denen der Raubdelikte (§§ 250, 251 StGB). Vgl. Brüggemann, 2012, S. 273 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 „Entstehungsgeschichte“; Müting, 2010, S. 189 ff.; Rosenau, StV 1999, S. 388 ff. Zum gleichzeitig in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 (BGBl. I S. 160), das u. a. die Anordnung der Sicherungsverwahrung erleichterte, vgl. Schöch, NJW 1998, S. 1257 ff. 846 Lenckner, NJW 1997, S. 2802. 847 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 13. In Schweden fanden diese Zusammenfassung, ebenso wie die Opfereinbeziehung des Mannes, schon im Jahre 1984 statt; vgl. dazu Granö/Hedlund, in: Vergewaltigung, 1986, S. 137. 848 Bereits im Preußischen StGB von 1851 findet sich in § 144 ein derartiger Einheitstatbestand; s. A.III.3. 849 BT-Drs. 13/7324, S. 6.

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anerkannt werden. Bereits diese Erweiterungen müssen als Meilenstein bewertet werden,850 wenn man die Zurückhaltung innerhalb der Reformdiskussionen ab 1871 hinsichtlich jeglicher Ausdehnung des Tatbestands bedenkt. Darüber hinaus ist die Sanktionierung der ehelichen Vergewaltigung nach heftigen Kontroversen851 durch die Streichung des Wortes „außerehelich“ im Tatbestand des § 177 StGB ein Sieg für den Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts. Die ablehnenden Stimmen852 erstaunen im Hinblick auf ihre Argumentation. Sie erinnern an die Auffassung, „daß ein Mann mit der Vergewaltigung seiner Frau sich lediglich nahm, was sein ,gutes Recht‘ war“,853 wenn diese als eine Art „Selbsthilfe“ 854 bzw. auf Grund des in der Ehe bestehenden „Grundkonsenses“ zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr als „weniger intensiv“ 855 bewertet wird. Als revolutionär muss auch die Erweiterung der Opferdefinition durch die Einbeziehung des Mannes in die Neufassung des § 177 StGB bezeichnet werden. Die Ausgestaltung der Vergewaltigung als Regelbeispiel in § 177 II Nr. 1 StGB vermag dagegen nicht zu überzeugen.856 Schon vor der CCC kam der Notzucht/Vergewaltigung eine hervorgehobene Stellung zu, sie wurde stets als eigenständiges Kapitalverbrechen gesehen. Die Umgestaltung zu einem Regelbeispiel stellt einen Bruch mit dieser Tradition dar, so dass die Beurteilung dieses Prozesses als Herabstufung857 nachvollziehbar ist. Schließlich wurde „ein jahrtausendalter Tatbestand“ abgeschafft und zu einem „bloßen“ Regelbeispiel gemacht, womit der Verlust als „eigenständiger Verbrechenstyp“ einherging.858 Eine gewachsene Rechtstradition allein kann indes nicht als ablehnendes Argument gegenüber Umwandlungen dienen. Recht muss schließlich „entwicklungsfähig“ 859 sein. Es bleibt jedoch die Frage offen, warum die Vergewaltigung nicht als Qualifikation erfasst wurde. Die Vermutung, dass die Umstufung zu einem Regelbeispiel das 850 Unabhängig von der Frage, ob die Auslegung durch die Rechtsprechung diesem Nötigungsmittel gerecht wird. S. dazu Dritter Teil: B.II. 851 Letztendlich wurde die eheliche Vergewaltigung weder als ein Antragsdelikt ausgestaltet, noch mit einer Versöhnungs-, Vollstreckungs- oder Widerspruchsklausel versehen; vgl. Wetzel, 1998, S. 66 ff. Zum langwierigen Prozess der Einführung der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe vgl. Frommel, KJ 1996, S. 164 ff., 168 ff.; Hanisch, 1988; Weßlau, DuR 1989, S. 36 ff.; Wetzel, 1998, S. 48 ff. 852 Vgl. Schroeder, JZ 1999, S. 828; Schünemann, GA 1996, S. 316. Kritisch auch Lenckner, NJW 1997, S. 2803. 853 Lenckner, NJW 1997, S. 2801. 854 Schroeder, JZ 1999, S. 828. 855 Jeweils Schünemann, GA 1996, S. 316. 856 s. die Kritik bei Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 187 ff.; Kieler, 2003, S. 197; Lenckner, NJW 1997, S. 2802; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 „Entstehungsgeschichte“; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 13; Pott, KritV 1999, S. 107; Renzikowski, NStZ 1999, S. 377; Schroeder, JZ 1999, S. 829. Zur Regelbeispielstechnik vgl. Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 183. 857 Renzikowski, NStZ 1999, S. 377. 858 Jeweils Schroeder, JZ 1999, S. 829. 859 Aschrott, 1910, S. 130.

192 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Ergebnis eines Kompromisses im Zuge der Einführung der ehelichen Vergewaltigung gewesen sei,860 drängt sich hierbei auf, insbesondere vor dem Hintergrund, dass § 176a II Nr. 1 StGB und § 179 V Nr. 1 StGB dasselbe Unrecht als Qualifikation erfassen. Diese Inkonsistenz besteht ohne sachlichen Grund.861 Die Ausgestaltung der Vergewaltigung als Regelbeispiel muss sich daher den Vorwurf des Systembruchs gefallen lassen, ohne dass dies durch eine einfachere Handhabung aufgewogen werden würde. Es stellen sich vielmehr vielfältige Probleme, die auch auf der durchgängigen historischen Einordnung der Vergewaltigung als eigenständiger Verbrechenstyp beruhen. So kommt § 177 StGB eine Sonderstellung zu, indem der Begriff der Vergewaltigung im Titel des Tatbestandes gesondert erwähnt wird, so dass er gem. § 260 IV 2 StPO im Urteilstenor aufzunehmen ist.862 Gerade die „systemfremde“ 863 Benennung einer Strafzumessungsvorschrift im Urteilstenor offenbart den Willen, die „in Alltags- und Rechtssprache fest verankerte Tatbezeichnung“ 864 beizubehalten. Diese Zugeständnisse des Gesetzgebers auf Grund des Verlustes der Verbrechensqualifikation865 können die Nachteile im Zusammenhang mit der Regelbeispielslösung jedoch nicht kompensieren. Es stellt sich beispielsweise die Problematik des Versuchs des Regelbeispiels. Dieser wird bejaht, wenn sowohl der Grundtatbestand als auch das Regelbeispiel im Versuchsstadium stecken geblieben sind. Bei vollendeter sexueller Nötigung nach § 177 I StGB und einem Versuch des § 177 II Nr. 1 StGB bleibt es nach der Rechtsprechung dagegen bei einer Verurteilung aus § 177 I StGB,866 so dass das kriminelle Unrecht des Versuchs einer Vergewaltigung auch im Tenor unerwähnt bleibt.867 Hervorzuheben ist, dass als Vergewaltigung in § 177 II Nr. 1 StGB nun nicht mehr nur der Beischlaf begriffen wird, sondern sämtliche vaginale, anale und orale Penetrationen erfasst werden, die entweder mit dem Penis, Körpergliedern wie Fingern oder Gegenständen868 durchgeführt wer860 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 13. In diesem Sinne auch Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 189. 861 Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 188 f.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 „Entstehungsgeschichte“. Darüber hinaus ist auch die Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Tatbegehung als Regelbeispiel gem. § 177 II Nr. 2 StGB im Vergleich zu § 179 V Nr. 2 StGB, § 176a II Nr. 2 StGB sowie § 224 I Nr. 4 StGB widersprüchlich; vgl. Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 189. 862 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 213 ff. 863 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 213. 864 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 213. 865 Ebenso Lenckner, NJW 1997, S. 2802; Schroeder, JZ 1999, S. 829. 866 BGH NJW 1998, S. 2987; BGH NStZ 2003, S. 602; BGH NStZ-RR 2006, S. 366 f. Nrn. 28 und 29; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 253 f. m.w. N. Ein Versuch des Grundtatbestands aus Abs. 1 und eine Vollendung der Vergewaltigung aus Abs. 2 Nr. 1 ist denkgesetzlich nicht möglich. 867 Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 217. 868 Gesetzgeberisches Motiv war es, auch das Eindringen mit Gegenständen zu erfassen, da dies eine „in gleicher Weise belastende und erniedrigende Verhaltensweise dar-

D. Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung im StGB nach 1945

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den.869 Diese notwendige Erweiterung wurde jedoch im Gegensatz zu den §§ 176a II Nr. 1, 179 V Nr. 1 StGB mit der zusätzlichen Anforderung einer besonderen Erniedrigung versehen, was zu Unsicherheiten in der Rechtsanwendung führt und streitig diskutiert wird.870 Eine besondere Erniedrigung ist gegeben, wenn „das Opfer in gravierender, über die Verwirklichung des Grundtatbestands hinausgehender Weise zum Objekt sexueller Willkür herabgewürdigt wird und dies gerade in der Art und Ausführung der sexuellen Handlung zum Ausdruck kommt“.871 Streitig ist, ob dem Merkmal der besonderen Erniedrigung bei sexuellen Handlungen, die mit einem Eindringen in natürliche Körperöffnungen verbunden sind, überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommt.872 Bei Vaginal-, Anal- und Oralpenetrationen soll die besondere Erniedrigung regelmäßig vorliegen,873 nach neuerer, ständiger Rechtsprechung mittlerweile auch bei einem Eindringen mit dem Finger.874 Das „insbesondere“ wird hierbei – nicht zwingend875 – im Sinne von „vor allem“ verstanden.876 Abgesehen von diesen Konstellationen ist nach der Rechtsprechung eine „Prüfung und Darlegung der Einzelumstände der Tat“ notwendig,877 wenn kein Eindringen vorliegt und sich die Frage nach einer anderen besonders erniedrigenden Handlung stellt.878 Hierunter fallen die sogenannte Fäkalerotik, sadistische Rollenspiele879 oder beispielsweise die Ejakulation in das Gesicht des Opfers.880 Das Merkmal der besonderen Erniedrigung ist darüber hinaus im vorurteilsbehafteten Tatbestand des § 177 StGB problematisch,881 weil es als Einfallstor für Erwägungen genutzt wird, die an das stelle“; vgl. BT-Drs. 13/2463, S. 7. Vgl. dazu BGHSt 46, 225 ff. sowie die Beispiele bei LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 208. 869 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 65 ff. Der Zungenkuss wird davon nicht erfasst; vgl. zuletzt BGH StV 2012, S. 533. 870 Vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 199 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 68 m.w. N. 871 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 67a; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 69. 872 Ablehnend MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 68 f. 873 Zuletzt BGH NStZ-RR 2009, S. 238. Kritisch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 68, weil es dadurch „zu einer Ausgrenzung bestimmter Eindringensformen“ komme und „das sexuelle Selbstbestimmungsrecht keinen Anlass für eine Privilegierung nicht-penaler Formen des Eindringens“ biete. 874 U.a. BGH NStZ 1999, S. 307; BGH NStZ 2001, S. 598; BGH NStZ 2004, S. 440; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 209 m.w. N. Kritisch Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 68 m.w. N. 875 So Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 67a. 876 BGH NStZ 2001, S. 598. 877 BGH NJW 2000, S. 672. 878 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 69. 879 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 221 mit weiteren Beispielen. 880 OLG Hamm NStZ-RR 2001, S. 270. 881 In diesem Sinne Mildenberger, 1998, S. 18 im Rahmen der Auseinandersetzung mit der neu eingeführten Regelbeispielstechnik.

194 2. Teil: Entwicklung des Tatbestands der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung

Merkmal der „Bescholtenheit“ erinnern, wenn etwa der 4. Strafsenat882 ausführt: „Grundsätzlich bedarf es aber jeweils der positiven Feststellung der Umstände des Einzelfalls, die in wertender Betrachtung die Annahme der ,besonderen Erniedrigung‘ des Tatopfers stützen. Daran fehlt es hier. Die Feststellungen lassen die Möglichkeit offen, dass die vom Angeklagten erzwungenen sexuellen Handlungen einschließlich des Oralverkehrs ihrer Art nach von der getroffenen Verabredung zum entgeltlichen Sexualverkehr umfasst waren. Deshalb ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats die grundsätzliche Bereitschaft des Tatopfers zu sexuellen Handlungen regelmäßig ein für die Beurteilung des Schuldgehalts der nach § 177 StGB qualifizierten Tat bestimmender Umstand.“ Die an sich gegebene Flexibilität der Regelbeispielstechnik ist demnach um den Preis der Ausgrenzung bestimmter Opfergruppen aus § 177 II Nr. 1 StGB erkauft. Durch die Reform wurde die Vergewaltigung in § 177 II Nr. 1 StGB darüber hinaus zu einem eigenhändigen Delikt insofern, dass eine mittäterschaftliche Begehung nur in Frage kommt, wenn der Beteiligte auch selbst die Penetration durchführt.883 Der Einschätzung, dass unter anderem auch durch die Erweiterung des § 177 StGB die „Liberalisierung des Sexualstrafrechts durch das 4. StrRG (. . .) durch eine Gegenbewegung abgelöst worden“ sei,884 geht fehl. Die Liberalisierung intendiert schließlich eine Abkehr vom Moralstrafrecht hin zu einer Sanktionierung sozial schädlichen Verhaltens. In der Erweiterung der Nötigungsmittel des § 177 StGB und der Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs zeigt sich, dass das gesellschaftliche Verständnis von einem strafwürdigen Verhalten dem Wandel unterliegt.885 Dieser Wandel beruht auch auf der veränderten „Macht-Position von Frauen“ und der Aufbrechung „patriarchalischer Strukturen“ hin zu einer „Verhandlungs-Kultur sexuell gleichberechtigter Personen“.886 882 BGH NStZ 2001, S. 369: „a) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hatte der Angekl. mit der Geschädigten, die als Prostituierte tätig war, für den Abend des Tattags einen ,Hausbesuch‘ in seiner Wohnung für die Dauer von zwei Stunden und einen vereinbarten Preis von 500 DM verabredet. Da er jedoch über kein Geld verfügte, um sie ,für ihre Dienste zu bezahlen‘, hatte er von vornherein den Entschluss gefasst, mit ihr ,auch gegen ihren Willen sexuelle Handlungen durchzuführen‘. Nachdem Frau H. erschienen war, verschloss er die Wohnungstür. Bald darauf zog er ein Messer und eine Wäscheleine bzw. einen Strick hervor und forderte Frau H. ,im Befehlston auf, sich auszuziehen, wobei er ihr das Messer entgegenhielt‘, was sie aus Angst tat. Nachdem er sich ebenfalls entkleidet hatte, musste sie sich auf den Bauch legen. Sodann legte er sich auf sie und führte ,geschlechtsverkehrsähnliche Bewegungen‘ aus, wobei er das Messer ,in Reichweite‘ ablegte. Anschließend musste die Geschädigte mit ihm den Oralverkehr ausüben. ,Dabei hielt er das Messer wieder in der Hand‘. Schließlich legte er sich wieder auf sie, steckte sein Glied zwischen ihre Brüste und gelangte so zum Samenerguss“. 883 Habenicht, 2009, S. 61 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 218 m.w. N.; zuletzt BGH NStZ-RR 2009, S. 278. 884 Schroeder, JZ 1999, S. 833. 885 Fischer, 55. Aufl. (2008), Vor § 174 Rn. 4a. 886 Fischer, 55. Aufl. (2008), Vor § 174 Rn. 4a; vgl. auch Fischer, ZStW 112 (2000), S. 88 ff.

Dritter Teil

Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB A. Die Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in § 177 StGB Die Auslegung des Gewaltbegriffs im Rahmen des Tatbestands der Notzucht/ Vergewaltigung gem. § 177 StGB zeichnet sich durch Kontinuität hinsichtlich der Betonung der Körperlichkeit aus und steht damit ganz in der Tradition der deutschrechtlichen Auffassung hinsichtlich dieses Delikts. Die körperlichkeitsbetonende Auslegung des Nötigungsmittels der Gewalt steht dabei in auffälligem Kontrast zum sogenannten Vergeistigungs- bzw. Entmaterialisierungsprozess des Gewaltbegriffs1 im Rahmen des Tatbestands der Nötigung, § 240 StGB, sowie zu extensiven Tendenzen im Rahmen des Raubtatbestands, § 249 StGB. Der Tatbestand des § 177 StGB blieb von dieser Entwicklung gänzlich unberührt.2 Erfährt der Gewaltbegriff im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB bereits eine enge Auslegung bei der Frage, ob eine körperliche Kraftentfaltung und eine körperliche Zwangswirkung gegeben sind, so bringt die sogenannte Finalstruktur des Gewaltbegriffs und der sogenannte Finalzusammenhang eine weitere Restriktion des Tatbestands mit sich. Im Folgenden werden zunächst die groben Entwicklungslinien bei der Auslegung des Gewaltbegriffs im Rahmen der §§ 240, 249 StGB dargestellt; hierbei werden insbesondere die Merkmale der körperlichen Kraftentfaltung und körperlichen Zwangswirkung im Fokus stehen.3 Anschließend wird anhand des § 249 StGB die Finalstruktur und damit das dritte Element des Gewaltbegriffs beleuchtet, bevor der damit eng verknüpfte sogenannte Finalzusammenhang erörtert wird. Hieran knüpft die Darstellung der Auslegung der Nötigungsmittel des § 177 I StGB an. 1 Vgl. hierzu die Darstellungen in BVerfGE 73, 206, (242 ff.); Küper, 8. Aufl. (2012), S. 171 ff.; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 9 ff.; Sinn, 2000, S. 150 ff. 2 Ebenso P.-A. Albrecht, 1992, S. 51. 3 Im Rahmen der §§ 253, 255 StGB werden dieselben Auslegungsmaßstäbe herangezogen. Nach der herrschenden Meinung in der Literatur, die eine Vermögensverfügung verlangt, genügt allerdings nur vis compulsiva; die Rechtsprechung sieht in §§ 253, 255 StGB das „allgemeinere Delikt“ im Vergleich zu § 249 StGB, so dass auch vis absoluta miteinbezogen ist; vgl. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 253 Rn. 5; Küper, 8. Aufl. (2012), S. 406.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

I. Parallelstrang: Der Entnaturalisierungsprozess des Nötigungsmittels der Gewalt in den Tatbeständen der §§ 240, 249 StGB durch die Rechtsprechung 1. Das Gleichgewicht verschiebt sich – von der körperlichen Kraftentfaltung hin zur körperlichen Zwangswirkung Dem Element der körperlichen Kraftentfaltung, dessen Vorliegen das Reichsgericht – jedoch auch nur seiner ständigen Gewaltdefinition nach – stets für unverzichtbar gehalten hatte,4 wurde vom Bundesgerichtshof vor allem im Rahmen der §§ 240, 249 StGB immer weniger Bedeutung beigemessen.5 Als Ausgleich für den Verzicht auf die körperliche Kraftentfaltung auf Seiten des Täters wurde der Blickpunkt auf die Zwangswirkung beim Opfer als ausschlaggebendes Moment gelegt.6 Dabei tendierte der Bundesgerichtshof dazu, auf das Element der körperlichen Kraftentfaltung nahezu zu verzichten und auch rein psychische Zwangswirkungen ausreichen zu lassen.7 Dies zeigt sich insbesondere an der Auslegung der Gewalt im Rahmen des § 240 StGB, aber auch des § 249 StGB. Ausgangspunkt hierfür ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Gewaltanwendung durch gewaltloses Beibringen von Betäubungsmitteln,8 wobei er ausführt, dass es „nach dem Zwecke der Strafdrohungen der §§ 249 ff. StGB“ darauf ankomme, „ob der Täter durch körperliche Handlung die Ursache dafür setzt, dass der wirkliche oder erwartete Widerstand des Angegriffenen durch ein unmittelbar auf dessen Körper einwirkendes Mittel gebrochen oder verhindert wird, gleichviel, ob der Täter dazu größere oder nur geringere Körperkraft braucht“. Diese Definition enthält zwei wichtige Aussagen. Zum einen ist auf die Begrifflichkeit der „körperlichen Handlung“ hinzuweisen, wobei Handlung ein deutliches Weniger impliziert als „Kraftentfaltung“ und demnach als Vorbote der Entscheidungen zu den Sitzstreiks und Sitzblockaden im Rahmen des § 240 StGB 4 Die Rechtsprechung zur Gewalt durch Einsperren (RGSt 13, 49; RGSt 27, 405; RGSt 73, 343) und durch die Abgabe von Schreckschüssen (RGSt 60, 157) zeigt, dass auch das RG oftmals den Schwerpunkt auf den (mittelbar) körperlich wirkenden Zwang beim Opfer legte und eine geringe körperliche Kraftentfaltung genügen ließ. In RGSt 13, 49, (50) wird bereits darauf hingewiesen, dass Gewalt auch durch Unterlassen, wie Entziehung der Nahrung oder Aufrechterhaltung einer ohne verbrecherischen Vorsatz geschaffenen Freiheitsberaubung ausgeübt werden könne. S. dazu auch Gössel/Dölling, 2. Aufl. (2004), § 17 Rn. 18 ff.; Keller, JuS 1984, S. 109 ff.; Küper, 8. Aufl. (2012), S. 171; Sch/Sch-Eser/Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor §§ 234 ff. Rn. 7. 5 Vgl. die Kritik von Heintschel-Heinegg an dem „Kraftentfaltungsmerkmal als für die Bestimmung des Gewaltbegriffs untauglich“, in: Heintschel-Heinegg, 1975, S. 53 ff. 6 Vgl. die Darstellung bei Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 9 Rn. 60 ff. 7 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 31. 8 BGHSt 1, 145 (147) in Abkehr zur Rechtsprechung des RG in RGSt 56, 87; RGSt 58, 98. S. dazu unter Zweiter Teil: B.II.1.a). Schon in den Entwürfen vor 1945 war die Einbeziehung dieser Konstellation unter den Gewaltbegriff ausdrücklich vorgesehen.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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verstanden werden kann.9 Zum anderen wird in diesem Sachverhalt das Weniger der Kraftentfaltung durch die erhebliche körperliche Zwangswirkung beim Opfer kompensiert, so dass der Gewaltbegriff mit seinem Körperlichkeitsbezug (noch) erhalten bleibt. a) Der Vergeistigungsprozess im Rahmen des § 240 StGB Unter Einbeziehung des Urteils des Reichsgerichts zur Qualifizierung von Schreckschüssen als Gewalt10 sowie unter Verweis auf BGHSt 1, 145 wurde die Entnaturalisierung des Gewaltbegriffs fortgeführt, indem das Bedrängen eines Autofahrers durch Hupen und Blinken sowie nahes Heranfahren über mehrere Kilometer als Gewalt im Sinne des § 240 StGB eingestuft wurde.11 Aufschlussreich ist insbesondere die Begründung zur erforderlichen Zwangswirkung. Dabei heißt es, dass der Schwerpunkt nicht auf der Entfaltung erheblicher Körperkraft liege, sondern vielmehr auf der Zwangswirkung beim Genötigten. „Zu dessen Körper gehört auch das Nervensystem, auf dessen Funktionieren die Willensausübung mit beruht. Zwischen den körperlichen und geistig-seelischen Funktionen besteht eine Wechselwirkung; bei den Reaktionen, auf denen auch das sichere Verhalten im Straßenverkehr beruht, lassen sich Eindrücke körperlicher und seelischer Art nicht voneinander trennen.“ 12 Damit wurde im Rahmen des § 240 StGB eine Mischung aus physisch-psychischer Zwangswirkung vom Bundesgerichtshof ausdrücklich für genügend erklärt. Das Gewaltmerkmal wurde auf Verhaltensweisen ausgedehnt, die eigentlich eher einer Drohung entsprachen, indem der Schwerpunkt auf die bei Drohungen regelmäßig auftretenden Begleiterscheinungen der „psychosomatischen Nebenwirkungen“ 13 gelegt wurde. Die Trennlinie zur Drohung war hierdurch im Auflösen begriffen. Unter Gewalt wurde schon jede gegenwärtige „intensive Nötigung“ 14 verstanden. In der weiteren Entwicklung des Gewaltbegriffs schlug sich diese Begründung einer relevanten Zwangswirkung über den Bereich des Straßenverkehrs hinaus nieder,15 wie die fünf Jahre später ergangene Entscheidung des Vierten Strafsenats hinsichtlich einer Straßenblockade zeigt. Hierbei zeichnete sich darüber hinaus eine endgültige Abkehr vom tradierten Gewaltverständnis ab, indem es nach der genannten Entscheidung eine Nötigung mit Gewalt nach § 240 I StGB darstellte, dass „nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand ein psychisch determinierter Prozeß in 9 BGHSt 23, 46, (54); BGHSt 35, 270, (274); BVerfGE 73, 206, 239 ff.; BVerfGE 76, 211, (216). 10 RGSt 60, 157. 11 BGHSt 19, 263, (265). 12 BGHSt 19, 263, (265). 13 Heintschel-Heinegg, 1975, S. 70. 14 Keller, JuS 1984, S. 111. 15 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 17.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Lauf“ gesetzt wurde, indem sich die Studenten zur Blockade des Straßenverkehrs auf die Gleise der Straßenbahn setzten oder stellten. Ausschlaggebendes Gewicht kam damit allein „der von ihnen ausgeübten psychischen Einwirkung“ zu.16 An dieser Entscheidung wird deutlich, welchen Auffassungswechsel der Bundesgerichtshof im Rahmen des Gewaltbegriffs vollzogen hatte. War im sogenannten Choräthylfall die fehlende Kraftentfaltung noch durch massiven körperlichen Zwang ausgeglichen worden, argumentierte der Bundesgerichtshof bereits einige Jahre später im Rahmen des Gewaltbegriffs ganz offen mit dem Begriff der psychischen Zwangswirkung und ließ diese im Rahmen des § 240 StGB ausdrücklich als tatbestandsmäßig genügen.17 Diese Rechtsprechung zu Sitzblockaden setzte sich fort, wobei lediglich rein verbal eine Änderung des Vokabulars vorgenommen wurde, indem „psychischen Barrieren“ durch Sitzblockaden „eine vergleichbare Wirkung wie physisch unüberwindbaren Hindernissen“ 18 zuerkannt wurde.19 Das Bundesverfassungsgericht20 sah in der Ausweitung des Gewaltbegriffs zunächst keinen Verstoß gegen das Analogieverbot aus Art. 103 II GG.21 Es betonte, dass „die Gewaltalternative als gegenwärtige Zufügung eines empfindlichen Übels auch in ihrer erweiterten Auslegung eine durchaus eigenständige Ergänzung zu der zweiten Begehungsform des § 240 StGB“ darstelle, „bei der es um die künftige Androhung eines solchen Übels geht“.22 Wie bekannt, nahm das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10.01.199523 von dieser Rechtsprechung Abstand und entschied, dass Gewalt im Sinne des § 240 I StGB

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Jeweils BGHSt 23, 46, (54). Dazu auch BVerfG NStZ 1995, S. 275. 18 Jeweils BGHSt 37, 350, (352 f.). 19 Vgl. dazu auch Küper, 8. Aufl. (2012), S. 172. 20 Vgl. BVerfGE 73, 206 und BVerfGE 76, 211. In beiden Entscheidungen musste die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen werden, weil das Votum eine Stimmengleichheit ergab; vgl. § 15 IV BVerfGG. In BVerfGE 73, 206, (221 f.) plädierte der Bundesminister der Justiz für eine „Gleichsetzung der psychischen mit der physischen Gewalt“ und begründete diese Notwendigkeit mit dem Telos des § 240 StGB, einen umfassenden Schutz der freien Willensbetätigung zu erreichen. Dies geschehe mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum und verstoße keinesfalls gegen das Grundgesetz. Den Fokus auf „die körperliche Zwangswirkung beim Opfer und nicht auf das Angriffsverhalten des Täters“ zu legen, sei eine zulässige Auslegung des Gewaltbegriffs, die von dem Bestreben geleitet werde, „alle gleich strafwürdigen Fälle zu erfassen“. Ein Verstoß gegen das Analogieverbot liege nicht vor, weil Gewalt gerade auf der durch eine Kraftentfaltung des Täters verursachte Zwangswirkung beim Opfer beruhe. 21 BVerfGE 73, 206, (243). 22 BVerfGE 73, 206, (243). 23 BVerfGE 92, 1 = BVerfG NStZ 1995, S. 275. Vgl. die Anm. von Amelung, NJW 1995, S. 2588 und die ausführliche Diskussion und Darstellung der Reaktionen der Literatur bei Sinn, 2000, S. 164 ff. 17

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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nicht gegeben ist, wenn „die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist“.24 „Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluß beruhen, erfüllen unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung.“ 25 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs mit Art. 103 II GG unvereinbar ist, entfaltet gem. § 31 BVerfGG für alle Fälle bloßer Anwesenheit und psychischer Zwangswirkung Bindungswirkung, und zwar über den Bereich der Sitzblockaden hinaus.26 Ihr Einfluss auf die Rechtsprechung zum Gewaltbegriff darf jedoch nicht „überschätzt“ werden.27 Der Ausweitung des Gewaltbegriffs im Sinne eines „Umbruchs“ 28 vermochte sie nur in geringem Maße entgegenzuwirken. Zum einen unterließ es das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung, den Gewaltbegriff näher zu konkretisieren und relativierte darüber hinaus später seinen Beschluss,29 zum anderen hielt der Bundesgerichtshof eine Kehrtwende nicht für „geboten“ 30.31 Dies zeigt die Begründung in einer kurz darauf ergangenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass eine Straßenblockade gleichwohl als Nötigung mit Gewalt aufgefasst werden könne, wenn diese ein „physisches Hindernis“ bilde und dadurch eine Weiterfahrt der Autofahrer unmöglich mache, wobei „deren Fahrzeuge bewußt dazu benutzt“ würden, „die Durchfahrt für weitere Kraftfahrer tatsächlich zu versperren“.32 Die in dieser Entscheidung begründete und bis heute angewendete sogenannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs33 wird vom

24 BVerfGE 92, 1. In der Begründung wurde hervorgehoben, dass „die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten“ sei, so dass die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung gerade dazu dienten, strafwürdige Konstellationen heraus zu kristallisieren. Gewalt müsse damit mehr sein als Zwang und erfordere im Unterschied zur Drohung eine körperliche Kraftentfaltung. Vgl. BVerfG NStZ 1995, S. 276. 25 BVerfG NStZ 1995, S. 276. 26 MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 44. 27 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 19. 28 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 33. 29 BVerfG NJW 2007, S. 1669 stellte fest, dass BVerfGE 92, 1 lediglich deutlich machen sollte, dass Gewalt im Sinne des § 240 StGB nur vorliege, wenn „durch körperliche Kraftentfaltung“ eine Zwangswirkung beim Opfer entstehe und dieser Zwang nicht lediglich psychisch, sondern „körperlich empfunden“ werde. „Weitergehende Anforderungen an den Gewaltbegriff hat das Gericht nicht gestellt“. 30 MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 44. 31 In diesem Sinne ebenso LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 33; MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 44; vgl. auch Zöller, GA 2004, S. 149 ff. 32 BGH NJW 1995, S. 2643. Vgl. hinsichtlich der Reaktionen in der unterinstanzlichen Rechtsprechung sowie in der Literatur die Nachweise bei Sch/Sch-Eser-Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor § 234 Rn. 10a und Sinn, 2000, S. 184 ff. 33 BGH NStZ 1995, S. 593; BGH NJW 1998, S. 2149.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Bundesverfassungsgericht gebilligt.34 Gewalt im Sinne des § 240 StGB liegt jedoch nur vor, solange eine dem Einsperren ähnliche, körperlich spürbare Zwangswirkung bewirkt wird.35 Fehlt es an einer derartigen Beeinträchtigung, muss Gewalt entfallen. Deshalb kann die Ankettung an Pfosten eines Einfahrtstors keine Gewalt darstellen,36 solange eine Ausweichmöglichkeit verbleibt. Nichtsdestotrotz wird es gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen von Blockadeaktionen regelmäßig bei einer Strafbarkeit wegen § 240 StGB bleiben.37 Auf Grund der soeben dargestellten Entwicklung verwundert es nicht, dass auch die Rechtsprechung zur Nötigung im Straßenverkehr auf Grund BVerfGE 92, 1 keine merkliche Änderung erfuhr.38 Vielmehr wurde in Fortführung von BGHSt 19, 263 in Konstellationen des dichten Auffahrens und Bedrängens eines Verkehrsteilnehmers von nicht unerheblicher „Dauer und Intensität“ 39 weiterhin Gewalt im Sinne des § 240 I StGB gesehen, weil hierbei eine „unmittelbare Einwirkung auf dessen Nervensystem“ stattfinde, die zumindest „auch physischer Natur“ 40 sei.41 Gewalt wird weiterhin für gegeben erachtet, selbst wenn nur eine „im wesentlichen psychisch vermittelte Zwangswirkung“ vorliegt, 34 BVerfGE 104, 92, (101 ff.): Gewalt durch Blockadeaktionen könne gegeben sein, wenn „über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere“ errichtet wird. Ebenso BVerfG NJW 2002, S. 2309. Jüngst im Beschluss des BVerfG vom 7.03.2011 – 1 BvR 388/05 bestätigt: „In der vorliegenden Situation ergibt sich die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Einwirkung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler auf die nachfolgenden Fahrzeugführer. Die vom Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen für die Annahme von Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB geforderte körperliche Zwangswirkung liegt vor“. 35 Wie Amelung zutreffend hervorhebt, ist eine Berührung des „Gewaltobjekt(s)“ nicht erforderlich; gerade der anerkannte „Gewaltcharakter von Einsperrungen“ zeigt dies deutlich; vgl. Amelung, NJW 1995, S. 2588. 36 Ebenso die abweichende Meinung 2 in BVerfGE 104, 92. Anders BVerfGE 104, 92, (101 ff.) mit nicht überzeugender Begründung: „Die Ankettung gab der Demonstration eine über den psychischen Zwang hinausgehende Eignung, Dritten den Willen der Demonstranten aufzuzwingen. Sie nahm den Demonstranten die Möglichkeit, beim Heranfahren von Kraftfahrzeugen auszuweichen und erschwerte die Räumung der Einfahrt“. 37 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 33. Kritisch MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 44: „Gewalt übt danach jeder, der kausal für ein physisches Hindernis ist“. 38 Ebenso LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 33 a. E. und Sinn, 2000, S. 193 f. 39 BVerfG NJW 2007, 1669, (1670). 40 Jeweils OLG Köln NZV 1995, S. 405 m.w. N. 41 OLG Stuttgart NJW 1995, S. 2647; OLG Köln NZV 1995, S. 405 m.w. N.; OLG Düsseldorf NJW 1996, S. 2245; OLG Köln NZV 2000, S. 99; OLG Düsseldorf NJW 1999, S. 2912 mit abl. Anm. von Erb, NStZ 2000, S. 199; OLG Düsseldorf NStZ-RR

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„sofern der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess in Gang setzt und dadurch einen unwiderstehlichen, den Bereich des rein Psychischen verlassenden und der körperlichen Einwirkung vergleichbaren Zwang auf das Opfer ausübt.“ 42 „Werden diese Auswirkungen körperlich empfunden, führen sie also zu physisch merkbaren Angstreaktionen, liegt Zwang vor, der – auch gemessen an verfassungsrechtlichen Maßstäben – Gewalt sein kann.“ 43 „Da es nach den Maßstäben des Verfassungsrechts für das Vorliegen nötigender Gewalt auf das Ausmaß der vom Täter entfalteten Kraft nicht ankommt, ist es nicht ausgeschlossen, im Betätigen des Gaspedals das unrechtsrelevante Verhalten zu sehen.“ 44 Dem verbalen Festhalten an einer körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung kommt in zahlreichen Nötigungskonstellationen des Straßenverkehrs damit nur noch eine Alibifunktion zu,45 so dass die Definitionselemente als nahezu „leere Hülsen“ 46 erscheinen, die unreflektiert tradiert werden. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass sich Gewalt weder in reiner körperlicher Anwesenheit noch in nur psychischer Zwangswirkung erschöpfen dürfe,47 von allen Gerichten nahezu gebetsmühlenartig wiederholt wird. Sie steht jedoch weder für einen „Neubeginn einer Gewaltinterpretation“ 48 noch für eine Lösung im Hinblick auf die Auslegung des Gewaltbegriffs, die „dogmatisch und praktisch“ 49 überzeugt. Die – in ihrer Begründung stark divergierenden – nachfolgenden Entscheidungen machen dies deutlich, indem letztlich weiterhin die Ausrichtung am Ergebnis im Vordergrund steht.50 Um körperlich wirkenden Zwang zu begründen, wird weiterhin „missbräuchlich“ mit dem Vokabular der Nervenerregung und ähnlichem argumentiert. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass sich die Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)51 zum Tatbestand des § 240 StGB nicht durchsetzten. Diese sahen – im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des 2000, S. 369; OLG Köln NZV 2006, S. 386; bestätigt durch BVerfG NJW 2007, S. 1669. 42 OLG Düsseldorf NJW 1996, S. 2245; OLG Köln NZV 2000, S. 99. 43 BVerfG NJW 2007, S. 1670. 44 BVerfG NJW 2007, S. 1670. 45 Schon Jakobs bezeichnete die Begründung des Vorliegens von Gewalt mit den Begriffen der Nervenerregung u. ä. als „geradezu groteske Amateurphysiologie“; vgl. Jakobs, in: FS Peters, S. 77. 46 Müller-Dietz, GA 1974, S. 50. 47 BVerfGE 92, 1. 48 MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 44. 49 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 20. 50 Diesen Aspekt hebt auch Zöller hervor; vgl. Zöller, GA 2004, S. 147. Vgl. dazu die Darstellung bei Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 20 ff. 51 Zu Genese und Inhalt vgl. Baumann, ZRP 1990, S. 103 ff.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Art. 103 II GG – vor, Gewalt in § 240 I StGB auf physische Gewalt zu beschränken und zur Schließung von Strafbarkeitslücken neben die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung noch den „vergleichbar schweren psychischen Zwang“ zu stellen.52 Im Tatbestand des § 240 StGB ist die Intention, dem Rechtsgut der Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit einen umfassenden Schutz zu gewähren, leitend. Der Opfersicht kommt dabei große Relevanz zu. In diesem Sinne werden Verhaltensweisen, die vom Standpunkt eines ursprünglich naturalistisch geprägten Gewaltverständnisses keinen Gewaltcharakter aufweisen, unter den Begriff der Gewalt im Sinne des § 240 I StGB subsumiert und dieser damit eher extensiv bzw. wie Heintschel-Heinegg es richtigerweise ausdrückt „normativ“ 53 gehandhabt. b) Extensive Tendenzen in § 249 StGB Der Verzicht auf das Kriterium der Kraftentfaltung mit der Verlagerung auf die (körperliche) Zwangswirkung fand auch in § 249 StGB seinen deutlichen Niederschlag. So entschied der Vierte Strafsenat 1953,54 dass Gewalt beim Wegtragen eines Bewusstlosen an einen einsamen Ort gegeben sei.55 Im Jahr 196156 stellte der Fünfte Strafsenat fest, dass bereits in dem Wegschieben der Hand des Opfers von dessen Gesäßtasche Gewalt gegen eine Person gesehen werden könne. Dabei erstaunt nicht nur die äußerst geringe Kraftaufwendung der Täterin, sondern auch die Bejahung der körperlichen Zwangswirkung wie auch der Finalität des Gewalteinsatzes zur Wegnahme. Das Opfer war nämlich auf Grund zweier tödlicher Beilhiebe benommen und lag bäuchlings am Boden. Erst zu diesem Zeitpunkt fasste die Angeklagte den Wegnahmevorsatz, so dass nur das Wegschieben der Hand als Anknüpfungspunkt für eine erneute Gewaltanwendung in Betracht kam. Durch diese Handlung entstand jedoch keine für § 249 StGB ausreichende kör52 Schwind, 1990, S. 216. Zustimmend Helmken, ZRP 1995, S. 304. Kritisch die Stellungnahme von Krey, 1991, S. 24 ff.; Zöller, GA 2004, S. 161 will erheblichen psychischen Zwang schon durch das Tatbestandsmerkmal der Gewalt erfasst wissen. 53 Heintschel-Heinegg, 1975, S. 195 f. Seines Erachtens hat die Diskussion, ob das Versperren von Wegen durch Demonstrationen als Gewalt anzusehen ist, deutlich gemacht, dass „strafrechtliche Entscheidungen stets einen gesellschaftlichen Akt mit politischem Inhalt bilden“. 54 BGHSt 4, 210, (212): „Eine Gewaltanwendung im Sinne des § 249 StGB lag aber auch schon darin, daß die Angeklagten den besinnungslosen G in Diebstahlsabsicht vom Bahnhof, wo er unter dem Schutze der Öffentlichkeit stand, weg an einen finsteren und einsamen Ort brachten (. . .). Ersichtlich kam es den Angeklagten hierbei insbesondere darauf an, eine Störung durch Dritte zu verhindern und etwaige Hilferufe G von vornherein aussichtslos zu machen“. 55 Es sei unerheblich, ob „das Opfer die Anwendung der unmittelbar gegen seine Person gerichteten Gewalt empfindet“; vgl. BGHSt 4, 210 (212); in Fortführung von RGSt 67, 183 (187). 56 BGHSt 16, 341 ff.

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perliche Zwangswirkung, und Widerstand erwartete die Angeklagte wohl auch nicht mehr von einem Opfer, das durch zwei Beilhiebe quasi widerstandsunfähig war. Auch eine Entscheidung des Vierten Strafsenats aus dem Jahr 196357 setzte die Anforderungen an die körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung niedrig an, indem es für die Verurteilung wegen Raubes genügte, dass der Täter dem Opfer mit einem „etwas stärkerem Schlag“ dessen Handtasche an sich gebracht hatte, wobei das Opfer diese „nur einfach mit der Hand gehalten“,58 sie also nicht etwa besonders festgehalten hatte. Diese geringen Ansprüche an den Gewaltbegriff verwundern umso mehr, als es sich bei § 249 StGB um ein Verbrechen handelt und um eine „Straftat gegen die Person und nicht bloß gegen die Willensfreiheit“.59 Auch in der Folgezeit fehlten begrenzende Bemühungen, so dass ebenso wie im Rahmen des § 240 StGB eindeutige Entmaterialisierungstendenzen sichtbar wurden. So entschied der Bundesgerichtshof im Anschluss an Entscheidungen des Reichsgerichts,60 dass die Bedrohung einer Person mit einer geladenen und entsicherten Schusswaffe aus kurzer Distanz einen „unmittelbaren körperlichen Zwang“ begründe, weil der Täter dadurch „auf die Sinne des Vergewaltigten“ einwirke und „ihn hierdurch in einen Zustand starker seelischer Erregung“ versetze, also „sein ganzes körperliches Befinden und damit auch die körperlichen Voraussetzungen der Freiheit seiner Willensentschließung oder seiner Willensbetätigung in hohem Maße“ 61 nachteilig beeinflusse. Gegenwärtig wirkende vis compulsiva wurde hierbei bejaht, weil – unter Rückgriff auf RGSt 60, 157 und BGHSt 19, 263 – der Schwerpunkt in der unmittelbaren gegenwärtigen Einwirkung auf die Sinne des Nötigungsopfers gesehen wurde.62 Eine Drohung wurde ausgeschlossen, „weil das Verhalten des Angeklagten, das eine gewisse körperliche Kraftentfaltung zum Inhalt hatte, von Frau B schon als gegenwärtiges Übel (sinnlich) empfunden wurde.“ 63 Hervorzuheben an dieser Entscheidung ist, dass sich die Begründung für das Vorliegen von Gewalt im Sinne des § 249 StGB ausdrücklich auf Erwägungen zum Gewaltbegriff des § 240 StGB stützt. Dem Umstand, dass in § 249 StGB Gewalt gegen eine Person normiert ist, wurde somit keine Relevanz beigemessen. Vielmehr wurde derselbe Gewaltbegriff zugrunde gelegt. Derselbe Strafsenat, nämlich der Vierte, entschied 1973, dass Gewalt im Sinne des § 249 StGB schon in einem „Griff an die Gesäßtasche“ eines Rentners zu sehen sei, weil es auf einen „besonderen körperlichen Kraftaufwand“ 64 nicht ankomme, insbesondere wenn das Opfer physisch unter57 58 59 60 61 62 63 64

BGHSt 18, 329 in Abkehr zu RGSt 46, 403. Jeweils BGHSt 18, 329. LK-Vogel, 12. Aufl. (2008), § 249 Rn. 3. RGSt 60, 157. Jeweils BGHSt 23, 126 (127 f.). Fortgeführt in BGHSt 39, 133 (136). LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 17. BGHSt 23, 127 f. Jeweils BGH GA 1974, S. 219.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

legen sei. Das Element der körperlichen Zwangswirkung blieb gänzlich unerwähnt, der Bundesgerichtshof schien die Zwangswirkung insgesamt aus der als bedrohlich empfundenen Situation des Opfers zu ziehen.65 In seiner Kommentierung zum StGB aus dem Jahr 1981 stellt Lackner zutreffend fest, dass das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 249 StGB wie im Rahmen des § 240 StGB „weit ausgelegt“ werde.66 Ab Mitte der 80er Jahre gewinnen partiell restriktive Tendenzen die Oberhand in der Rechtsprechung zum Raub. So betonte der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 1986 in Abkehr von BGHSt 18, 329, dass das Merkmal der „Gewalt gegen eine Person“ in § 249 StGB nur dann gegeben sei, „wenn die Kraft, die der Täter entfaltet, wesentlicher Bestandteil der Wegnahme ist. Sie muß daher so erheblich sein, daß sie geeignet ist, erwarteten Widerstand zu brechen; vom Opfer muß sie als körperlicher Zwang empfunden werden“.67 Die neuere Rechtsprechung ist bei dieser Auffassung geblieben68 und verneint in Fällen des sogenannten Handtaschenraubes unstreitig das Tatbestandsmerkmal der Gewalt gegen eine Person, weil der Täter hierbei „einen erwarteten Widerstand gerade nicht brechen, sondern ihn vermeiden und ihm zuvorkommen“ 69 will.70 Die verstärkte Hervorhebung der Elemente der körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung muss jedoch vor dem Hintergrund der sogenannten Handtaschenraub-Konstellationen bzw. überraschenden Angriffe gesehen werden.71 In anderen Konstellationen gilt der Grundsatz, dass es einer erheblichen Kraftentfaltung des Täters nicht bedarf und auch die körperliche Zwangswirkung nicht von großem Ausmaß sein muss, solange eine solche – sei es auch nur mittelbar – gegeben ist.72 So bejahte der Bundesgerichtshof Gewalt durch das Sprühen von Deodorant in die Augen des Opfers, wobei dieses nur für wenige Sekunden die Augen schließen musste,73 des Weiteren stellt das Einsperren ein taugliches Nötigungsmittel im Sinne des § 249 StGB dar.74 Der Feststellung, dass Gewalt im Rahmen des § 249 StGB, ebenso wie im Rahmen des § 240 StGB, weit ausgelegt 65 Der Täter hatte vom Rentner Geld verlangt und dann an dessen Gesäßtasche gegriffen, so dass der Rentner „auf Grund dieser Gewaltanwendung“ seinen Geldbeutel selbst hervorgezogen hatte; vgl. BGH GA 1974, S. 220. 66 Lackner, StGB, 14. Aufl. (1981), § 249 Anm. 2a. 67 Vgl. BGH NStZ 1986, S. 218 unter Hinweis auf BGH NJW 1955, S. 1404. 68 Vgl. LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 3 ff. 69 BGH StV 1990, S. 262. 70 Ebenso BGH StV 1990, S. 205. Vgl. BGH NStZ 2003, S. 89 zur Frage, wann eine Tat ausschließlich von „List und Schnelligkeit“ geprägt ist. 71 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 5. 72 Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 7. 73 BGH NStZ 2003, S. 89: „Der Zeitraum zwischen physischer Reaktion und Wegnahme ist unerheblich, ebenso die Geringfügigkeit der Reaktion.“ Von Vogel als Grenzfall bezeichnet; vgl. LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7. 74 BGHSt 20, 194.

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wird, ist daher auch heute noch zuzustimmen.75 Das ursprüngliche klassische Bild eines typischen Raubes bzw. Raubüberfalls auf öffentlicher Straße, das geprägt ist durch den Einsatz von roher Gewalt gegen einen Menschen, ist (schon längst) obsolet.76 c) Zwischenstand – physisch vermittelter Zwang ist unverzichtbar Unabhängig davon, dass die Auswirkungen von BVerfGE 92, 1 in der Literatur im Einzelnen umstritten sind,77 muss als Ergebnis festgehalten werden, dass ausschließlich psychische Zwangswirkungen das Tatbestandsmerkmal der Gewalt nicht erfüllen können.78 Auf Seiten des Täters muss eine „körperliche Kraftentfaltung“ vorliegen, die eine Zwangswirkung beim Opfer entstehen lässt, die dieses als „körperlich“ empfindet. „Weitergehende Anforderungen an den Gewaltbegriff hat das Gericht nicht gestellt.“ 79 Eine geringe Kraftaufwendung genügt demnach weiterhin, solange und weil das Opfer einer „unmittelbaren physischen Zwangswirkung“ 80 ausgesetzt ist. Die Entfaltung körperlicher Kraft bleibt ein Kennzeichen der ständigen Gewaltdefinition der Rechtsprechung,81 das prägende Element der Gewalt ist dessen ungeachtet die körperliche Auswirkung beim Nötigungsopfer.82 Des Weiteren werden nach herrschender Meinung als Gewaltformen vis absoluta und vis compulsiva anerkannt.83 Unter vis absoluta wird eine körperliche Einwirkung auf das Opfer verstanden, die die Willensbildung oder

75 Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 249 Rn. 2 in Fortführung von Lackner; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7. 76 Im Widerspruch dazu wird beim Raub weiterhin auf Grund des Tatbestandsmerkmals der Gewalt eine hohe kriminelle Energie des Täters vorausgesetzt, was sich in der hohen Strafandrohung widerspiegelt. 77 Vgl. MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 38. 78 Ebenso Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 17 ff.; MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 39. 79 Vgl. BVerfG NJW 2007, S. 1669; BVerfG, Beschluss vom 07.03.2011 – 1 BvR 388/05. Sämtliche Vorschläge aus der Literatur, die einer extensiven Auslegung des Gewaltbegriffs nahe stehen und auf das Element der Körperlichkeit verzichten wollen, müssen somit abgelehnt werden. Vgl. dazu Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 12 ff.; Gössel/Dölling, 2. Aufl. (2004), § 17 Rn. 32 ff.; MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 53 ff. 80 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 19. 81 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 35 ff. 82 Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 9 Rn. 71; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 8, 19; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 41 m.w. N.; NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 39; Sch/Sch-Eser-Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor § 234 Rn. 10 a. E. Innerhalb dieser Voraussetzungen ist die nähere Beschaffenheit und Qualität dieser Kriterien allerdings weiter umstritten; vgl. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 9 Rn. 71, 73; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 41 m.w. N.; NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 39. 83 s. schon RGSt 2, 287 f. und Zweiter Teil: B.II.1.a).

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die Betätigung eines vorhandenen Willens unmöglich macht.84 Vis compulsiva ist eine Gewaltform, die den Willen nicht ausschaltet oder aberkennt, sondern beugt, um das Verhalten des Opfers in die vom Täter gewünschte Richtung zwangsweise zu lenken.85 Aus dem Umstand, dass durch die Gewaltanwendung auf den Willen des Opfers eingewirkt wird, folgt, dass je nachdem welcher Nötigungserfolg dadurch abgerungen werden soll, eine Gewaltanwendung sich einmal als vis absoluta und einmal als vis compulsiva darstellen kann. Wird das Opfer eingesperrt, damit der Täter ungestört eine Sache aus der Wohnung des Opfers entwenden kann, so handelt es sich um absolute Gewalt, weil jegliche Willensbetätigung unmöglich wird.86 Sperrt der Täter dagegen das Opfer in seine Wohnung ein, um eine sexuelle Handlung zu erzwingen, so wird das Opfer kompulsiver Gewalt ausgesetzt. Durch die Freiheitsberaubung ist das Opfer dem Täter ausgeliefert, es soll mürbe gemacht werden, damit es die vom Täter gewünschte sexuelle Handlung duldet oder vornimmt. Die unter anderem von Binding vertretene Ansicht, dass es sich bei der vis compulsiva um eine Drohung handele und nur die vis absoluta als Gewalt anzusehen sei,87 blieb eine Mindermeinung.88 Unter Drohung ist das Inaussichtstellen eines Übels zu verstehen, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt.89 Gewalt und Drohung unterscheiden sich demnach schon grundlegend infolge des Merkmals der Gegenwärtigkeit voneinander.90 Die vis compulsiva enthält eine Drohungskomponente, indem der Täter „das Opfer mittels (physischen und psychischen) Drucks durch gegenwärtige Übelszufügung zu einem bestimmten Verhalten veranlasst“.91 Sie ist jedoch eindeutig der Gewalt zuzuordnen, weil sie dem Opfer bereits mit ihrer Vornahme ein aktuell körperlich spürbares Übel zufügt. Die Tatsache, dass während dieser Übelszufügung der Täter konkludent damit droht, dass diese fortgesetzt werde, wenn das Opfer sich nicht den Wünschen des Täters beugt,92 vermag nichts daran zu ändern, dass die aktuell fühlbare körperliche Beeinträchtigung die Motivation für das Opfer gebildet hat, sich dem Ansinnen des Täters zu beugen. Es wird primär Gewalt angewandt, auch wenn das Verhalten des Täters zusätzlich eine Drohung als Erklärungswert aufweist.93 84 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 7. Beispiele: bewusstlos schlagen; fesseln. 85 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 7; MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 29. 86 Dem Opfer bleibt nichts anderes übrig als die Wegnahme zu dulden. 87 Binding, 2. Aufl. (1902), S. 82 f. 88 Vgl. dazu näher Knodel, 1962, S. 29 ff. und LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 38 ff. 89 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 56. 90 Sch/Sch-Eser-Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor § 234 Rn. 6. 91 Sch/Sch-Eser-Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor § 234 Rn. 6. 92 Knodel, 1962, S. 30 f. 93 Knodel, 1962, S. 32 f.; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 40; Sch/Sch-Eser-Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor § 234 Rn. 16.

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2. Aller guten Dinge sind drei – Gewalt ohne Finalität ist keine Gewalt a) Die Finalstruktur des Gewaltbegriffs Der Gewaltbegriff in Nötigungstatbeständen wie den §§ 177, 240, 249, 253, 255 StGB zeichnet sich nach herrschender Meinung neben den Anforderungen der körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung durch die Notwendigkeit eines dritten Elements aus, und zwar durch die sogenannte Finalstruktur.94 Gewalt im Sinne dieser Tatbestände liegt erst dann vor, wenn sie zweckgerichtet, also absichtlich, zur Überwindung eines erwarteten oder geleisteten Widerstands eingesetzt wird, so schon die klassische Definition des Reichsgerichts und der herrschenden Meinung in der Literatur.95 Als Argument hierfür wird die spezifische Tatbestandsstruktur dieser Delikte vorgebracht. Gewalt weise hierbei einen nötigenden Charakter auf und nicht einen rein zerstörerischen wie in den Körperverletzungs- und Tötungstatbeständen. Gewalt diene hier dem Zwang.96 Am Beispiel des § 249 StGB demonstriert, wird die körperliche Kraftentfaltung durch zum Beispiel heftiges Einschlagen auf das Opfer und die dadurch entstehende Zwangswirkung in Form von Schmerzen und Verletzungen beim Opfer nach der herrschenden Meinung erst dann zur Gewalt gegen eine Person im Sinne des § 249 StGB, wenn diese nach der Intention des Täters zur Überwindung eines erwarteten oder geleisteten Widerstands vorgenommen wurde, um letztendlich das Nötigungsziel der Wegnahme zu erreichen. Hintergrund ist wohl die lebensnahe Überzeugung, dass ein Täter, der sich gegen den Willen einer Person fremdes Eigentum zueignen will, im Allgemeinen Widerstand auslöst und auch mit Widerstandshandlungen rechnet. Aus diesem Grund entfaltet er körperliche Kraft, um eine Zwangswirkung zu erzeugen, die ihm die Wegnahme ermöglichen soll. Es stellt allerdings eine die Realität verkürzende Annahme dar, aus diesem Umstand die Konsequenz zu ziehen, dass ohne die Intention des Täters, geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden, Gewalt im Sinne des § 249 StGB 94

Küper, 8. Aufl. (2012), S. 171. Zur Rechtsprechung des RG s. oben Zweiter Teil: B.II.1.b) und c) sowie RGSt 67, 183, (186); RGSt 69, 327, (330). Zur Rechtsprechung des BGH vgl. BGHSt 1, 45, (47); BGHSt 4, 210, (212); BGHSt 18, 329, (331); BGH GA 1974, S. 219; BGH NStZ 1986, S. 218, BGH NStZ 2003, S. 89. Aus dem Schrifttum vgl. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 249 Rn. 4a; Knodel, 1962, S. 83 f.; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9 m.w. N. sowie Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 12. Auch die Drohung muss zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands des Opfers eingesetzt werden; vgl. LKVogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 20. Nach Sch/Sch-Eser/Eisele, 28. Aufl. (2010), Vor §§ 234 Rn. 22, 25 ist diese Formel „missverständlich“: „Daher ist nicht nur die Überwindung eines speziell den Täterabsichten entgegengesetzten Widerstandes ausreichend, sondern bereits die eines generellen Abwehrwillens“. In subjektiver Hinsicht reicht es somit für Gewalt aus, dass der Täter intendiert, „einen aktuellen oder erwarteten Widerstand des Opfers auszuschalten oder dieses zu einem sonstigen Verhalten zu zwingen“. 96 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 34; ebenso Knodel, 1962, S. 83 ff. 95

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

abgelehnt werden muss.97 Die Ansicht, dass eine derartige Absicht des Täters als „konstituierendes subjektives Element des strafrechtlichen Gewaltbegriffes“ 98 anzusehen ist, ist abzulehnen. Zum einen bleibt die Opferperspektive vollkommen unberücksichtigt, zum anderen ist es nicht überzeugend, dass das Vorliegen der körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung von dem Vorhandensein einer subjektiven Intention abhängig gemacht wird. Denn ein Täter, der weiß, dass die Person, die er gerade verprügelt, wehrlos und hilflos ist, wendet trotzdem Gewalt im Sinne des § 249 StGB an, wenn er dieser Person währenddessen oder im Anschluss Eigentum entwendet.99 „Die Dogmatik der Gewaltfinalität beim Raub“ kann demnach nicht überzeugen.100 Die Widerstandsüberwindungsintention als zwingendes Element der Gewaltdefinition anzusehen, ist darüber hinaus ein Relikt des ursprünglichen Gewaltbegriffs des Reichsgerichts. Dieses war in vielen Entscheidungen geprägt von einem „Bild des offenen Kampfes“ 101 zwischen dem Räuber und dem Gewahrsamsinhaber.102 Unter einem klassischen Raub verstand man einen „Kampf um die Sache“ 103, so dass das Reichsgericht von diesem Standpunkt aus die gewaltlose Betäubung nicht als Raubgewalt einstufte. Dieser Gewaltbegriff ist jedoch überholt und damit auch das Kriterium „zur Überwindung von Widerstand“. Kernunrecht des § 249 StGB ist schließlich nach herrschender Meinung die Anwendung von Nötigungsmitteln, um eine Wegnahme zu vollziehen, also die Zweckgerichtetheit des Gewalteinsatzes104 und dabei ist es völlig unerheblich, ob der Täter mit Widerstand gerechnet hat, sofern er die Sache nur „mit Gewalt“ weggenommen hat.105 Die Gewaltvornahme auf Seiten des Täters hat schließlich eine Hinnahme der Gewalt auf Seiten des Opfers bewirkt, so dass gerade hierin der Zwangscharakter der Gewalt zum Ausdruck kommt.106 „Gegenüber dem ,Vergewaltigt-Sein‘ enthält das Wi97 Ebenso Blei, NJW 1954, S. 586; Haffke, ZStW 84 (1972), S. 49; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282 ff. und Wolter, NStZ 1985, S. 245, 248. 98 Knodel, 1962, S. 84 f. 99 Ebenso LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9 und den Tatbestand des § 177 StGB betreffend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 35. 100 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9. 101 Keller, JuS 1984, S. 110. 102 Vgl. RGSt 56, 87 (88 f.). 103 Vgl. RGSt 56, 87 (89). 104 Statt vieler Küper, JZ 1981, S. 571; SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 28. 105 Ebenso Haffke, ZStW 84 (1972), S. 49 und Heintschel-Heinegg, 1975, S. 284. Um Einwänden entgegenzutreten, sei hier gleich vorweggenommen, dass im Falle einer für notwendig erachteten Kausalitätsbeziehung zwischen Gewalt und Wegnahme diese im Beispielsfall vorliegen würde, weil das Schlagen nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass der konkrete Erfolg, die konkrete Art und Weise der Duldung der Wegnahme, entfiele. Vgl. dazu die klarstellenden Ausführungen bei LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 37. 106 Haffke, ZStW 84 (1972), S. 49; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282.

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derstandsleisten ein aktives Element“, das für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in subjektiver Hinsicht nicht notwendig ist.107 Der Zwangscharakter der Gewalt in den Tatbeständen der §§ 240, 249, 177, 253, 255 StGB entsteht doch vielmehr durch den geforderten Erfolg der Nötigung auf Grund der Gewaltvornahme. Erforderlich ist ein Nötigen „mit“ bzw. „durch“ Gewalt, erst aus dieser Verbindung ergibt sich der Zwangscharakter der Gewalt, der eine Einflussnahme auf die Willensbildung bzw. Willensbetätigung bewirkt.108 Die Gewalt in den Nötigungstatbeständen unterscheidet sich von der Gewalt in den Tatbeständen der §§ 223 ff., 211 ff. StGB demnach nur durch die zugrunde liegende Motivation. Beim Raub handelt der Täter auf Grund der Motivation „Entwendung einer Sache“, bei der Körperverletzung wird oftmals die Motivation der Aggressionsabfuhr, Demütigung sowie Rache im Vordergrund stehen. In der obigen Beispielskonstellation weist die Gewalt demnach einen nötigenden Charakter auf, indem sie die Duldung der Wegnahme erzwingt. Eine darüber hinausgehende „Widerstandsüberwindungstendenz“ 109 lässt sich aus der gesetzlichen Struktur der Nötigungstatbestände nicht ablesen, weil gemäß dieser Struktur Gewalt stets als ein Mittel verstanden wurde, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen. Das diesem Tatmittel innewohnende und kennzeichnende Element ist demnach das der „Willensüberwältigung“ 110. Weitere Anforderungen sind abzulehnen, insbesondere auch, weil bei konsequenter Anwendung besonders brutale Täter, die es gewohnt sind, mit Gewalt vorzugehen und sich keinerlei Gedanken über das Widerstandsverhalten des Opfers machen,111 privilegiert würden.112 Schließlich deutet auch der Wortlaut keinesfalls zwingend auf die angeblich unerlässliche Finalstruktur hin. Im Gegenteil – es fehlt jeder Hinweis auf eine derartige Absicht. Die partielle Anerkennung der Rechtsfigur „Gewalt durch Unterlassen“ 113 im Rahmen des § 249 StGB belegt zudem, dass die Widerstandsüberwindungsintention nicht als unabdingbar angesehen wird.114 Denn von einer finalen Gewaltanwendung gegen eine Person kann wohl nicht gesprochen werden, „wenn 107

Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282. Anders Knodel, 1962, S. 20 f. 109 Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282. 110 Blei, NJW 1954, S. 586. Blei argumentiert dabei u. a. mit dem Wortlaut des § 113 I StGB, wobei durch die Gewaltvornahme „ein Widerstand nicht gebrochen, sondern geleistet“ werde und „der Nötigung durch Gewalt die schlichte Tätlichkeit gegenübergestellt“ werde. 111 Gerade weil sie erfahrungsgemäß niemals auf nennenswerten Widerstand stoßen. 112 Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282; Wolter, NStZ 1985, S. 248. 113 Vgl. u. a. Eser, NJW 1965, S. 379 f.; Gössel, JR 2004, S. 254; Schünemann JA 1980, S. 352 f.; Streng, GA 2010, S. 679 ff. Ablehnend die inzwischen wohl h. M.; vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 180 m.w. N. 114 Ingelfinger führt aus, dass es beim Unterlassen im Gegensatz zum aktiven Tun nicht auf die Widerstandsüberwindungsintention ankomme, sondern auf die „pflichtwidrige Nichtvornahme einer Handlung“, „die Widerstand beim Opfer möglich machen würde“. Vgl. Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 204 f. 108

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der Täter die Zwangswirkung der vorher verübten Gewalt pflichtwidrig nicht beseitig(t)“ 115 und nun zu einer Wegnahme ausnutzt. In derartigen Konstellationen spielt die Vorstellung des Täters hinsichtlich einer Widerstandsleistung des Opfers keinerlei Rolle mehr.116 Der Bundesgerichtshof entschied dennoch, dass Raub vorliege, wenn der Täter eine ohne Wegnahmevorsatz herbeigeführte Fesselung später zur Wegnahme ausnutze, weil die Freiheitsberaubung noch nicht beendet sei und der Gewaltbegriff im Rahmen des Raubes keinesfalls nur die aktive Gewaltanwendung erfasse.117 Seiner Ansicht nach „schließen sich Unterlassen und Finalität nicht aus“. „Der Unterlassungstäter kann die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands wollen, um die Wehrlosigkeit des Opfers zur Wegnahme auszunutzen.“ 118 Diese Argumentation verzichtet aber auf das Erfordernis der Widerstandsüberwindungsintention. Denn mit Finalität meint der Bundesgerichtshof hier den Finalzusammenhang, in Gestalt der (rein gedanklichen) Ver115

Küper, 8. Aufl. (2012), S. 180. Auf Grund der Finalstruktur lehnt Küper denn auch Gewalt gegen eine Person durch Unterlassen in der Form, dass „es der Täter lediglich unterlasse, die Zwangswirkung – den Erfolg – seiner aktiv ausgeübten Gewaltanwendung zu beseitigen“, ab; vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 180. 117 BGHSt 48, 365, (368): „Das Abstellen allein auf die aktive Gewaltanwendung wird aber auch dem Charakter der Freiheitsberaubung als Dauerdelikt nicht gerecht. Wer einen anderen einschließt oder fesselt, übt gegen diesen Gewalt aus, und zwar vis absoluta. Durch das Aufrechterhalten des rechtswidrigen Zustands, den der Täter zurechenbar bewirkt hat, setzt sich – anders als etwa beim Niederschlagen des Opfers – die Gewalthandlung fort, sie ist erst beendet mit dem Aufschließen oder dem Lösen der Fesselung.“ Die Frage, ob es sich dabei um Gewalt durch Unterlassen handele, ließ er allerdings ausdrücklich offen, auch wenn er dieser Bewertung geneigt zu sein scheint: „Denn auch wenn der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Unterlassen gesehen wird, bestehen gegen die Annahme eines Raubes durch Ausnutzung einer durch Freiheitsberaubung (mit anderer Zielrichtung) geschaffenen Zwangslage keine Bedenken. Soweit in der Literatur teilweise vertreten wird, daß es jedenfalls an der Finalität des Nötigungsverhaltens fehle (. . .), stellt sich dies letztlich nur als Konsequenz des verkürzten Gewaltbegriffs dar, wonach Gewalt nur als aktives Handeln begriffen wird. Tatsächlich schließen sich Unterlassen und Finalität nicht aus (. . .). Der Unterlassungstäter kann die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands wollen, um die Wehrlosigkeit des Opfers zur Wegnahme auszunutzen. Aber auch der Einwand, daß der Unrechtsgehalt bei einem so begangenen Raub nicht dem der aktiven Tatbestandsverwirklichung entspreche, erscheint jedenfalls für Fallgestaltungen wie der hier vorliegenden nicht begründet. Gerade wenn – wie hier – die aus anderen Gründen erfolgte Gewaltanwendung durch positives Tun und ihre Ausnutzung zur Wegnahme durch den Täter, der das Opfer durch die Fesselung in seine Gewalt gebracht hatte, zeitlich und räumlich dicht beieinander liegen – hier hatte der Angeklagte unmittelbar nach der (möglicherweise) aus anderen Gründen erfolgten Fesselung den Geschädigten nach dem Zündschlüssel gefragt und sich zur Wegnahme entschlossen – kann von einem unterschiedlichen Unrechtsgehalt je nachdem, wann sich der Täter zur Wegnahme entschlossen hatte, nicht ausgegangen werden. Dies unterscheidet den Sachverhalt von der in BGHSt 32, 88 wiedergegebenen Fallgestaltung.“ Vgl. schon RGSt 13, 49, (50) zur Gewalt durch Unterlassen bei § 240 StGB, die in der „Aufrechterhaltung eines ohne verbrecherischen Vorsatz herbeigeführten Zustandes der Freiheitsentziehung“ liegen könne. 118 BGHSt 48, 365, (368). 116

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knüpfung der fortwirkenden Gewalt mit der Duldung der Wegnahme. Kritisch anzumerken ist des Weiteren, dass im Rahmen des § 240 StGB ein Eingehen auf das Widerstandselement des Gewaltbegriffs regelmäßig fehlt, obwohl die Finalstruktur auch hier „stets mitgedacht(e)“ 119 werden soll. In zahlreichen Nötigungskonstellationen wird nicht zur Überwindung von Widerstand gehandelt, so dass Gewalt konsequenterweise verneint werden müsste. Verhindert beispielsweise eine Person bei Blockadeaktionen mit ihrem PKW die Weiterfahrt auf einer Autobahn, so liegen – entsprechend den Grundsätzen der sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung 120 – eine körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung vor. Der Blockierende rechnet jedoch von Anfang an nicht mit Widerstand121 der „Nötigungsopfer“,122 weil er davon ausgeht, dass abgebremst und die Hinderung der Weiterfahrt hingenommen wird. Im Unterschied zu anderen Nötigungskonstellationen fallen hierbei der Gewalterfolg (die physische Zwangswirkung) und der Nötigungserfolg (Hinderung der Weiterfahrt durch das physische Hindernis) zusammen, so dass Widerstand nicht erwartet wird.123 Dieser Widerspruch im Umgang mit der Finalstruktur wird offenbar, wenn Rengier ausführt, dass die Widerstandsüberwindungsintention beim Gewaltbegriff des § 240 StGB lediglich „die Absicht zur Willensbeugung“ beinhalte,124 bei § 249 StGB aber der „Wille, Widerstand zu überwinden“ verlangt werde.125 Bei § 240 StGB wird aus der Widerstandsüberwindungsintention damit eine bloße „Nötigungsintention“ 126, die naturgemäß beim Nötigungsdelikt des § 240 StGB vorliegen muss. Das Merkmal der Widerstandsüberwindungsabsicht verliert dadurch jede eigenständige Relevanz. Diese widersprüchliche Behandlung zeigt eine weitere Schwäche des als konstitutiv betrachteten Kriteriums auf. Daneben ist bei § 240 StGB Gewalt durch Unterlassen unstreitig anerkannt,127 ohne dass eine Auseinandersetzung mit der Frage der Widerstandsüberwindungsintention erfolgt. Gerade am Beispiel des versehentlichen Einsperrens,128 wobei diese Zwangslage zu einer Nötigung ausgenutzt wird, müsste aber der Frage nach der Finalstruktur des Gewaltbegriffs nachgegangen werden. 119

Küper, 8. Aufl. (2012), S. 171. s. A.I.1.a). 121 Widerstand gegen den Nötigungserfolg wäre das Weiterfahren. 122 Ebenso Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282 f., der als Beispiel die Schaffung eines unüberwindbaren Hindernisses benennt. 123 In den Nötigungskonstellationen des Straßenverkehrs setzt der Täter dagegen Gewalt ein, um z. B. ein Wechseln der Spur o. ä. zu bewirken, so dass Kraftentfaltung, Zwangswirkung und Nötigungserfolg nicht zusammenfallen. Hier liegt demnach eine Widerstandsüberwindungsintention des Täters vor. 124 Rengier, Besonderer Teil II, 13. Aufl. (2012), § 23 Rn. 33. 125 Rengier, Besonderer Teil I, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 12. 126 Rengier, Besonderer Teil II, 13. Aufl. (2012), § 23 Rn. 33. 127 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 22 m.w. N. 128 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 22. 120

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Dadurch, dass die abzulehnende Finalstruktur von der Judikatur nicht streng gehandhabt wird129 und insbesondere beim Raub regelmäßig davon ausgegangen wird, dass der Täter Gewalt zumindest gegen erwarteten Widerstand eingesetzt hat, wird der Opferschutz weder im Tatbestand des § 240 StGB noch in § 249 StGB verkürzt.130 Im Rahmen des Tatbestands des § 177 StGB führt die Widerstandsüberwindungsintention dagegen, wie noch zu zeigen sein wird, zu Strafbarkeitslücken.131 b) Der Finalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel- und erfolg im Rahmen des § 249 StGB Eine weitere Schwäche der „spezifischen Finalität“ 132 des Gewalteinsatzes – auch im Rahmen des § 177 StGB – ist der Umstand, dass die „Widerstandsüberwindungsintention“ dem Endziel der Wegnahme dienen muss, so dass hier eine Vermischung mit dem Dogma vom sogenannten Finalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg stattfindet.133 Der Täter muss nach der herrschenden Meinung die Nötigungsmittel auf den erstrebten Nötigungserfolg hin zweckgerichtet eingesetzt haben.134 Der Finalzusammenhang beinhaltet demnach eine „Kausalvorstellung“.135 Im Rahmen dieses Finalzusammenhangs hat seit den 50er Jahren in Rechtsprechung und Literatur eine Subjektivierung statt gefunden, so dass es – fast unstreitig – bei dieser Verknüpfung von Nötigungsmittel und Nötigungserfolg ausreicht, wenn diese nur in der subjektiven Vorstellung des Täters gegeben ist.136 Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich zunächst mit dem Merkmal der Zweckgerichtetheit und anschließend mit der Qualität des Zusammenhangs zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg. 129

Vgl. nur BGHSt 16, 341. In Konstellationen von schlafenden und bewusstlosen Opfern reicht es aus, wenn dem Täter nachgewiesen werden kann, er habe gehandelt, um erwarteten Widerstand auszuschließen. Vgl. die Rechtsprechung bei LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 10 f. Sollte dieser Nachweis fehlschlagen, kann dem kriminellen Unrechtsgehalt derartiger Situationen auch durch §§ 242 I i.V. m. 243 I Nr. 6 StGB Rechnung getragen werden. 131 Dazu gleich und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 60 ff. 132 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9. 133 Ebenso LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9. 134 Wie Brandts, 1990, S. 20 zutreffend ausführt, handelt es sich beim Finalzusammenhang eigentlich um ein Moment der „subjektiven Tatseite“. 135 So zutreffend Brandts, 1990, S. 20. 136 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 249 Rn. 6; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 36 ff.; MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 26 ff.; Sch/Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7; SSW-Kudlich, 2009, § 249 Rn. 12. Ablehnend u. a. A. H. Albrecht, 2011, S. 75 ff.; Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 11; ansatzweise kritisch Rengier, in: Staat – Kirche – Verwaltung, 2001, S. 1196; Seelmann, JuS 1986, S. 204; SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36. Vgl. zum Schutzzweck des § 249 StGB und den daraus abgeleiteten Argumenten der h. M. für die Rechtfertigung eines lediglich subjektiven Finalzusammenhangs ausführlich Brandts, 1990, S. 45 ff. 130

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aa) Die Zweckgerichtetheit der Nötigung Wie der Begriff des Finalzusammenhangs bereits impliziert, muss nach der ganz herrschenden Meinung der Einsatz des Nötigungsmittels zweckbestimmt erfolgen,137 im Rahmen des § 249 StGB muss der Täter also im Zeitpunkt der Gewaltanwendung gerade durch dieses Verhalten eine Wegnahme erzwingen wollen.138 Auf Grund dieser Auslegung des § 249 StGB müssen höchstrichterlich oftmals Konstellationen entschieden werden,139 die einen Vorsatzwechsel des Täters zum Inhalt haben, der Täter also ursprünglich mit dem Gewalteinsatz einen anderen Nötigungserfolg anstrebte und sich erst im Laufe des Geschehens auf eine Wegnahme fokussierte. BGHSt 20, 32 betraf eine derartige Konstellation, in der der Täter zunächst mit Gewalt versucht hatte, ein Mädchen zu küssen, sich jedoch dann auf Grund des Abwehrverhaltens im fortdauernden Gerangel zur Entwendung ihrer Armbanduhr entschloss. Ein wegnahmeorientierter Gewalteinsatz des Täters konnte hierbei bejaht werden, weil es sich um eine Konstellationen der fortdauernden Gewaltanwendung handelte. Die sonstige Qualität der Verknüpfung zwischen Wegnahme und Nötigung war ebenfalls unproblematisch, weil insbesondere die Gewaltanwendung für die Wegnahme eindeutig kausal geworden war. Die Kernaussage des Urteils ist demnach in der Feststellung zu sehen, dass die Gewalt zum Zweck der Wegnahme final eingesetzt werden müsse, weil sie für den Täter nur dann „das Mittel zur Wegnahme“ 140 bilde. Diese Auslegung bzw. Anforderung an die subjektive Tätervorstellung ist jedoch – entgegen Hörnle – nicht neu,141 sondern war vielmehr schon ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts und herrschende Ansicht in der Literatur.142 Die vom Bundesgerichtshof – soweit ersichtlich – seit einem Urteil aus dem Jahr 1982 verwendete Bezeichnung für die Mittel-Zweck-Verknüpfung zwischen Nötigung und Wegnahme als eine „finale“ 143 unter Verweis auf Lackner144 stellt damit ledig-

137 Daraus ergeben sich weitere Anforderungen an die Verknüpfung von Nötigungsmittel und Wegnahme (Stichwort: enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang, Unmittelbarkeitszusammenhang, Motivwechsel). Vgl. A. H. Albrecht, 2011, S. 102 ff.; 125 ff.; BeckOK-Wittig, 2013, § 249 Rn. 8 ff.; MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 24 ff. 138 BGHSt 4, 210; BGHSt 20, 32, (33). Auch diejenigen Vertreter, die einen Kausalzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme verlangen, stellen den Finalzusammenhang nicht in Frage. 139 BGHSt 32, 88, (92); BGHSt 41, 123, (124); BGH NJW 1984, S. 1632; BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NStZ 2006, S. 508. 140 BGHSt 20, 32, (33). Vgl. aus der neueren Rechtsprechung BGH NStZ-RR 2003, S. 44. 141 Insoweit geht die Kritik von Hörnle fehl; vgl. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1147 f. 142 Vgl. RG GA 1900, S. 284; RGSt 67, 183, (186); RG JW 1932, S. 2433 Nr. 24; v. Olshausen, 1883, § 249 Anm. 7 sowie Schönke, 5. Aufl. (1951), § 249 Anm. IV.3. 143 BGH NStZ 1982, S. 381; BGHSt 30, 375, (377) verwendet diese Ausdrucksweise noch nicht.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

lich eine neue Begrifflichkeit dar, jedoch keinesfalls eine neue Auslegung innerhalb des § 249 StGB. Folge ist, dass in Konstellationen, in denen die zu anderen Zwecken eingesetzte Gewalt lediglich fortwirkt, jedoch bei der Wegnahme keine aktuelle Gewaltausübung mehr vorliegt, Raub verneint werden muss.145 Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Ein Täter, der ein Opfer aus Rachegelüsten brutal zusammengeschlagen hat und erst nachdem das Opfer widerstandsunfähig am Boden liegt den Wegnahmeentschluss fasst, kann nicht wegen vollendeten Raubes bestraft werden, weil die Gewaltanwendung nicht final zur Wegnahme erfolgte. Solche Konstellationen können durchaus Zweifel bewirken, wie sinnvoll und unabdingbar der Finalzusammenhang im Tatbestand des Raubes ist. Neuerdings wird der Finalzusammenhang als institutio essentialis des Raubtatbestandes so auch kritisch von Hörnle und Jakobs hinterfragt.146 So zeigt Hörnle auf, dass die von der herrschenden Meinung vorgebrachte ratio legis des § 249 StGB, dass aus der „funktionalen Verbindung“ von Nötigungsmittel und Wegnahme „auf eine besondere Gefährlichkeit“ des Täters geschlossen werden könne und gerade darin die „wesentliche Rechtfertigung für die Ausgestaltung des Raubtatbestandes als Verbrechen“ 147 liege,148 keinen zwingenden Grund für die Unabdingbarkeit des Finalzusammenhangs liefert. Denn gerade der Vergleich eines Täters aus der obigen Konstellation mit einem Täter, der sein Opfer einschließt, fesselt oder schlägt und dann die Wegnahme vollzieht, zeigt auf, dass das Gefährlichkeitsargument nicht durchgreift.149 Denn Finalität ist kein notwendiges bzw. ausschließliches Indiz für ein erhöhtes Eskalationspotential bzw. erhöhte Opferrisiken. Gerade Täter mit einer niedrigen Frustrationstoleranz neigen bei spontan auftretenden Bedürfnissen dazu, diese mit Gewalt durchzusetzen, und sind auf Grund ihrer Impulsivität oftmals gefährlicher als Täter, die gezielt Gewalt zur Wegnahme einsetzen.150 Die entscheidende Frage lautet demnach, wie der Kern-

144 Lackner, 14. Aufl. (1981), § 249 Anm. 2a. Nachfolgend BGHSt 41, 123, (124); BGH NStZ 1993, S. 79; BGH NStZ-RR 1997, S. 298; BGH NStZ-RR 2002, S. 304; BGHSt 48, 365, (368); BGH NStZ 2009, S. 325. 145 Vgl. BGH NStZ 1982, S. 380 f.; BGH NStZ 2009, S. 325. Allerdings sind derartige Sachverhalte stets auf eine konkludente Drohung hin zu untersuchen. 146 Vgl. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1148 ff. und Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 323 ff., 332: „Der Finalzusammenhang ist also ersatzlos zu verabschieden“. 147 Jeweils MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 24; ebenso Küper, JZ 1981, S. 571. 148 Aus Gründen der Generalprävention müsse dieser Täterkreis dann auch verschärft bestraft werden; vgl. Küper, JZ 1981, S. 571. Zustimmend Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 205 f. 149 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1152. Das Gefährlichkeitsargument des final handelnden Täters greift nur dann durch, wenn man diesen Täterkreis mit Diebstahlstätern vergleicht, die auf Aggression verzichten. Dieser Vergleich hinkt jedoch und belegt gerade nicht die Notwendigkeit des Finalzusammenhangs, weil er zwei unterschiedliche Tätergruppen gegenüber stellt; vgl. dies. aaO. 150 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1152 f. Ein weiterer Nachteil der Finalität ist, dass Täter oftmals mit Schutzbehauptungen versuchen, einer Verurteilung wegen Raubes zu

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unrechtsgehalt des Verbrechens des Raubes zu verstehen ist. Umfasst dieser ausschließlich die Verletzung des Verbots, zum Zweck der Wegnahme Nötigungsmittel einzusetzen oder ist der Unrechtsgehalt weiter zu verstehen, nämlich als Verbot, unter Ausnutzung einer vorsätzlich zu verantwortenden Zwangslage eine Wegnahme zu vollziehen?151 Jakobs sieht keinen überzeugenden Grund, die Konstellationen des finalen Gewalteinsatzes und bloßer Ausnutzung der Wehrlosigkeit in Folge von Gewaltfortwirkung mit einem unterschiedlichen Unrechtsgehalt zu versehen.152 Der Täter muss es allerdings schon bei der Gewaltanwendung in seinen zumindest bedingten Vorsatz aufgenommen haben, „dass es auch zu einer dadurch bedingten Wegnahme kommen“ kann.153 Die herrschende Meinung sieht das anders.154 Für sie ist gerade der „aggressive Eingriff in die Freiheitssphäre des Opfers zur Sacherlangung“ kennzeichnend für das Raubunrecht.155 Insbesondere aber diejenigen Vertreter, die eine Gewalt durch Unterlassen bejahen,156 müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sich das Dogma des Finalzusammenhangs hierbei nicht zwanglos einfügt. Es überzeugt nicht, den einen wegen Raubes zu bestrafen, weil ihm die Möglichkeit verbleibt, die Zwangslage aufzuheben,157 den anderen jedoch (nur) wegen Diebstahls, weil er das Opfer bewusstlos geschlagen oder gar getötet hat, die Zwangslage also nicht mehr beenden kann.158 Mit dem Wortlaut des § 249 I StGB wäre eine Auslegung, die sowohl die final zur Wegnahme eingesetzte Gewalt als auch die Ausnutzung der zu verantwortenden Wehrlosigkeit als Raub bestraft, zu vereinbaren. Dieser belegt – auch wenn gerne bemüht159 – keinesfalls die Notwendigkeit eines Finalzusammenhangs.160 Schließlich heißt es „mit Gewalt“ und „unter Anwendung von Drohungen“ in § 249 StGB, so dass es genügt, wenn das Nötigungsmittel eine Bedingung für die Zielerreichung war und dem Täter diese Eigenschaft auch bewusst war.161 Statt der final eingesetzten Gewalt käme es damit nur noch auf den

entgehen, indem sie vorbringen, dass die ursprüngliche Gewalt anderen Zielen gedient habe; vgl. dies. aaO. 151 Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 323. 152 Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 327. 153 „Der Finalzusammenhang ist also ersatzlos zu verabschieden; was bleibt, ist Vorsatz.“ Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332. 154 Vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 179 m.w. N. 155 Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 206. 156 Vgl. u. a. Eser, NJW 1965, S. 379 f.; Gössel, JR 2004, S. 254; Schünemann JA 1980, S. 352 f.; Streng, GA 2010, S. 679 ff. Ablehnend die inzwischen wohl h. M.; vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 180 m.w. N. 157 Beispielhaft sei hier die Fesselung des Opfers genannt. 158 Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 327. 159 Vgl. MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 24, wonach die Wendung „unter Anwendung von Drohungen“ auf die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung hinweise. 160 Ebenso LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 32. 161 Ebenso Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Vorsatz des Täters zum Zeitpunkt der Wegnahme an,162 wobei dieser es zumindest ernsthaft für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben muss, dass die von ihm vorsätzlich angewendete Gewalt die Duldung der Wegnahme beim Opfer bewirkt hat.163 Der Bezugspunkt des Unrechts ändert sich dadurch, weil es nicht mehr darauf ankommt, „in welchen Zusammenhang der Täter die Zwangswirkung stellt, wenn er sie herbeiführt; vielmehr kommt es darauf an, in welchem Zusammenhang sie bei der Wegnahme steht“.164 Ingelfinger versieht den Unrechtsgehalt beim Ausnutzen einer Zwangslage zur Wegnahme mit einer deutlich anderen Bewertung.165 Er gesteht zwar zu, dass ein derartiges Handeln „in hohem Maße verwerflich“ sei, was das Regelbeispiel des § 243 I 2 Nr. 6 StGB auch verdeutliche. Allerdings müsse seiner Ansicht nach in diesen Konstellationen stets das „Moment der Verführung“ berücksichtigt werden.166 Der Unrechtsgehalt erfahre eine Ambivalenz und infolgedessen eine Minderung, weil der Täter schließlich auf Grund der „günstigen Gelegenheit zur Missachtung der sachlichen Güterzuordnung verleitet“ werde und dieser Umstand im deutlichen Kontrast zur „kriminellen Energie und Aggression des Täters“ 167 stehe, der gezielt Gewalt zur Wegnahme anwende. Diese Ausführungen vermögen nur auf den ersten Blick durchzuschlagen. Nach dieser Ansicht soll der Täter davon profitieren, dass er sein Opfer zunächst – aus welchen Gründen auch immer – mit in der Regel wohl erheblicher Gewalt benommen bzw. wehrlos gemacht hat und dann den wehrlosen Zustand zur Wegnahme ausgenutzt hat. Es vermag nicht zu überzeugen, dass es dem Täter zugute kommen soll, wenn er eine von ihm selbst geschaffene wehrlose Lage des Opfers auch noch zur Wegnahme ausnutzt. Der „unfinal“ handelnde Täter hat seine Aggression im ersten Handlungsakt ausgelebt und erntet dann im zweiten Handlungsakt quasi die Früchte seines Tuns. Der final handelnde Täter handelte in Vorbereitung der Wegnahme aggressiv. Allein der Umstand, dass der Wille zur Wegnahme in der ersten Konstellation erst nach Ausleben der Aggression entsteht, vermag einen verminderten Unrechtsgehalt nicht zu rechtfertigen. Aus Täterperspektive profitiert der Täter in gleicher Weise von seinem aggressiven Vorgehen. Widerstand wird ihm in beiden Konstellationen entgegengetreten sein. Allein der Umstand, dass der Widerstand in der Ausnutzungsvariante nicht explizit gegen die Wegnahme erfolgte, kann keine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.168 Dies belegt auch die Opferper162 Jakobs dagegen will zwar ebenfalls auf die Absichtsbeziehung verzichten, hält es jedoch auf Grund der Raubqualifikationen für zwingend, dass ein Raubvorsatz bereits bei Gewaltanwendung vorliegt; vgl. Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332. 163 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1155. 164 Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 329. 165 Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 206. 166 Jeweils Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 206. 167 Jeweils Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 206. 168 Nach Küper liegt das Raubunrecht in dem Umstand, dass der Täter die sachliche Güterzuordnung missachtet, indem er „nicht einmal die elementare personale Freiheits-

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spektive. Für denjenigen, dem Eigentum entwendet wurde, macht es wohl vom Unrechtsgehalt keinen Unterschied, ob der Täter von Anfang an mit seiner Aggression einen Angriff auf dessen Eigentum bezweckte oder erst nach Herbeiführung eines wehrlosen Zustandes diesen zur Wegnahme ausnutzte. Freilich bleibt der pragmatische Einwand, dass mit den §§ 242 I i.V. m. 243 I Nr. 6 StGB,169 den §§ 223 ff. und §§ 211 ff. StGB der kriminelle Unrechtsgehalt derartiger Taten genügend erfasst werden könne.170 Er vermag jedoch nicht alle Bedenken auszuräumen. Die Frage nach dem raubspezifischen Unrechtsgehalt und dessen Beschränkung auf das final zur Wegnahme eingesetzte Nötigungsmittel bleibt dabei ungelöst und hinterlässt ein Gefühl der Unzufriedenheit. Eine abschließende Positionierung muss jedoch vorliegend im Tatbestand des Raubes nicht vorgenommen werden, auch wenn – zusammenfassend betrachtet – die vorgebrachten Argumente das Dogma des Finalzusammenhangs durchaus zu erschüttern vermögen.171 bb) Der subjektive Finalzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme Über den Umstand, dass bei den Delikten der §§ 177, 249, 253, 255 StGB gerade die Gewalt bzw. die Drohung das subjektiv und objektiv kausale Mittel des Nötigungserfolgs172 darstellen muss, bestand noch zu Zeiten des Reichsgerichts Einigkeit.173 Im Tatbestand des Raubes wurde jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Frage diskutiert, ob auch ein „subjektiver Kausalzusammenhang“ 174, also eine lediglich in der Vorstellung des Täters gegebene MittelZweck-Beziehung zur Bejahung des Raubtatbestandes ausreicht,175 oder ob es sphäre des Opfers respektiert, aus der ihm Widerstand droht“; vgl. Küper, JZ 1981, S. 571. 169 Der Strafrahmen des § 243 I Nr. 6 StGB beläuft sich auf drei Monate bis zu zehn Jahren. 170 So Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 206. 171 Die Einführung eines dritten Tatmittels wie das des § 177 I Nr. 3 StGB in § 249 StGB lehnt Ingelfinger ab, weil der Unrechtsgehalt durch eine derartige Tatvariante nicht adäquat erfasst werden könnte. Schließlich fehle „der Freiheitsangriff zur Sacherlangung“, so dass die Sanktionierung durch § 243 I 2 Nr. 6 StGB genüge; vgl. Ingelfinger, in: FS Küper, 2007, S. 207. 172 Beischlaf/Wegnahme/Handeln, Dulden oder Unterlassen. 173 s. Zweiter Teil: B.II.1.b) und c) und vgl. statt vieler RG GA 1900, S. 284; RG JW 1932, S. 2433 Nr. 24 sowie Schönke, 5. Aufl. (1951), § 177 Anm. III; § 249 Anm. III.3; 253 Anm. III.1. Gemäß Villnow müssen Gewalt und Drohung in § 177 Hs. 1 RStGB die Duldung des Beischlafs „verursachen“ und nicht lediglich „ermöglichen“; vgl. Villnow, Der Gerichtssaal 1878, S. 141. 174 Rhonheimer, 1912, S. 53. 175 Busse, 1937, S. 57; Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 249 Anm. 3; Liebling, 1897, § 17; Rhonheimer, 1912, S. 53 ff.; Schwartz, 1914, § 249 Anm. 4. A. A. Villnow, 1875, S. 23, der nur im Rahmen des Tatbestands der Erpressung das Vorliegen eines subjektiven Kausalzusammenhangs genügen ließ. Der Terminus des „finalen Zusammenhan-

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

sich bei der Verknüpfung stets um eine objektiv und subjektiv kausale handeln muss.176 1914 merkt Schwartz in seinem Kommentar zu § 249 RStGB an, dass es irrelevant sei, „ob der Angegriffene ohne die Vergewaltigung keinen Widerstand geleistet haben würde, die Vergewaltigung also unnötig ist“.177 Diese Auffassung wurde jedoch vom Reichsgericht nicht aufgegriffen. Die in Literatur und Rechtsprechung des Öfteren vorgenommene Verweisung auf RGSt 69, 330 zum Beleg dafür, dass bereits das Reichsgericht einen lediglich subjektiven finalen Konnex genügen ließ, geht fehl, weil dieser Entscheidung eine Versuchstat zugrunde lag. Nach 1945 findet sich im Leipziger Kommentar von 1951 im Rahmen des § 249 StGB die Aussage, dass es irrelevant sei, ob die Nötigung letztendlich „unnötig“ war, es komme nur darauf an, ob der Täter die Nötigung „als Mittel der Wegnahme für notwendig oder geeignet hielt“.178 Die Aussage scheint in Fortführung des Leipziger Kommentars getroffen worden zu sein,179 wobei weiterführende Nachweise fehlen. Hierbei wird bereits die heute herrschende Auffassung vom sogenannten subjektiven Finalzusammenhang beschrieben, dessen Siegeszug kurz darauf in der Rechtsprechung seinen Anfang nahm und der auch in der Literatur ohne große Widerstände seinen festen Platz im Tatbestand des Raubes einnehmen konnte. Den Ausgangspunkt bildet das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.05. 1953180 und darin das Vorbringen der Revision, dass eine Verurteilung der Angeklagten wegen § 249 StGB unter anderem deswegen ausscheide, weil kein Kauges“ wurde damals noch nicht verwendet. Die Begrifflichkeiten „Finalzusammenhang“ und „subjektive Kausalität“ unterscheiden sich inhaltlich jedoch nicht; so zutreffend auch Brandts, 1990, S. 21. 176 So RG JW 1932, S. 2433 und die h. M.; vgl. v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 249 Anm. 5; Binding, 2. Aufl. (1902), § 77 Anm. II.2; v. Buri, Der Gerichtssaal, 1878, S. 6 f.; v. Frank, 18. Aufl. (1931), § 249 Anm. IV; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 130 Anm. II.1 und Oppenhoff, § 249 Anm. 6 ff.; Schönke, § 249 Anm. 3. In der Literatur wurde dabei des Weiteren zwischen Gewalt als Bedingung bzw. Ursache der Wegnahme differenziert, wobei vertreten wurde, dass in § 249 RStGB die (physische oder psychische) Gewalt auf Grund der Wendung „mit Gewalt“ lediglich Bedingung der Wegnahme sein müsse und nicht die Ursache; vgl. v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 249 Anm. 5 m.w. N. 177 Schwartz, 1914, § 249 Anm. 4; ebenso Ebermayer, 2. Aufl. (1922), § 249 Anm. 3. 178 LK-Nagler, 6 und 7. Aufl. (1951), § 249 Anm. B.I.c. 179 Ebermayer, 4. Aufl. (1929), § 249 Anm. 3. 180 BGHSt 4, 210. Folgender Sachverhalt lag der Entscheidung zugrunde: Die beiden Angeklagten hatten in der Nacht den völlig betrunkenen, vor dem Bahnhof liegenden G, um ihn ungestört ausplündern zu können, aufgehoben und mit sich genommen. Unterwegs gab ihm einer der Angeklagten, der annahm, G wolle sich wehren, einen Schlag, worauf G zu Boden fiel. Die Angeklagten brachten ihr Opfer dann zu einer einsamen Straße. Hier wurde G, der sich an nichts erinnert, brutal zusammengeschlagen, so dass er zahlreiche Verletzungen erlitt. Im Anschluss wurde er bis auf die Unterhose ausgezogen; seine für sie verwendbaren Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände teilten die Angeklagten unter sich.

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salzusammenhang zwischen der Nötigung mit Gewalt und der Wegnahme bestehe.181 Der Bundesgerichtshof entkräftet diesen Einwand jedoch und führt aus, dass „eine tatsächliche Ursachenbeziehung zwischen der Gewaltanwendung und der Wegnahme“ im Rahmen des Tatbestands des Raubes nicht vorliegen müsse. Es genüge vielmehr, wenn der Täter die Gewaltanwendung deshalb vornimmt, „weil er sie für geeignet hält, die Wegnahme zu ermöglichen; ob sie dazu wirklich erforderlich war, ist ohne Belang. Maßgebend ist somit allein die Vorstellung und der Wille des Täters.“ 182 Diese Ausführungen legten den Grundstein für die heute fast unumstößlich geltende Lehre vom Ausreichen eines bloß subjektiven Finalzusammenhangs zwischen Nötigungsmittel und Wegnahme.183 Letztendlich muss jedoch bezweifelt werden, dass die Begründung einer neuen ständigen Auslegungstradition vom Bundesgerichtshof beabsichtigt war. Vielmehr war das Abstellen auf die subjektive Sichtweise des Täters wohl eher Beweisschwierigkeiten geschuldet, denen sich der Bundesgerichtshof im Hinblick auf den Kausalzusammenhang ausgesetzt sah. Im Folgenden soll deshalb kurz auf die im konkreten Fall vorzunehmende Kausalitätsprüfung eingegangen werden. Im Rahmen der von der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Äquivalenztheorie184 (Bedingungstheorie) wurde und wird zur Feststellung der Kausalität stets gefragt, ob der Erfolg in seiner konkreten Gestalt auf einer bestimmten Handlung beruht, wobei es unschädlich ist, wenn noch andere Bedingungen an einem Erfolg mitbeteiligt sind. Denn für Kausalität genügt jede „Erfolgsmodifizierung“,185 die „strafrechtlich relevant ist“.186 Aus der Anknüpfung an den Erfolg in seiner konkreten Gestalt folgt weiter, dass es unzulässig ist, hypothetische Reserveursachen bei der Frage nach dem Kausalzusammenhang miteinzubeziehen. 187 Beispielhaft erläutert: Der Einwand, das Opfer eines Raubes hätte sich gegen die Wegnahme aus Furcht vor dem Täter sowieso nicht gewehrt, führt nicht zur Verneinung eines Kausalzusammenhangs zwischen Ge181

BGHSt 4, 210, (211). BGHSt 4, 210, (211). 183 Das Urteil findet sich am Anfang jeder Zitierkette im Zusammenhang mit dem Finalzusammenhang. Vgl. anstatt vieler SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 35. 184 Im Rahmen der Feststellung eines kausalen Zusammenhangs verwies der BGH von Anfang an auf die Bedingungstheorie. BGHSt 2, 20, (24): „Nach der ständigen und gefestigten Rechtsprechung aller deutschen Gerichte ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Gleichgültig ist, ob neben ihr noch andere Bedingungen zur Erreichung des Erfolges mitgewirkt haben“. Ebenso BGHSt 1, 332, (333). 185 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 11 Rn. 21. 186 Hilgendorf, GA 1995, S. 534. Vgl. seine klarstellenden Ausführungen zum „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“ auf S. 515 ff. 187 Vgl. dazu und insgesamt zur Äquivalenztheorie ausführlich Hilgendorf, GA 1995, S. 515 ff.; Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 11 Rn. 6 ff., 23. 182

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

walt und Wegnahme, weil der Erfolg in seiner konkreten Gestalt, die Duldung der Wegnahme, durch die Gewaltanwendung herbeigeführt wurde.188 Vertreter der Literatur, die hier Ursächlichkeit verneinen, deuten Ursächlichkeit im Sinne von Erforderlichkeit und stellen damit die Kausalitätsfrage schon von Grund auf falsch.189 Die Folge wäre, dass die Nötigungsmittel stets unerlässlich für den Enderfolg der Wegnahme sein müssten, so dass diese „nicht anders als durch die konkret angewendeten Raubmittel hätte bewirkt werden können.“ 190 Erforderlichkeit wird jedoch im Rahmen der von der herrschenden Meinung vertretenen Äquivalenztheorie (Bedingungstheorie) gerade nicht vorausgesetzt.191 In Übertragung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war die ursächliche Beziehung zwischen der Gewaltanwendung (das Zusammenschlagen) gegenüber dem als völlig betrunkenen bzw. bewusstlos bezeichneten Opfer und der Wegnahme nicht nur äußerst fraglich. Vielmehr musste der Bundesgerichtshof auf Grund des Grundsatzes in dubio pro reo von einer Nichtursächlichkeit der Gewaltanwendung für die Wegnahme ausgehen.192 Denn unter der Annahme, dass das Opfer während der Schläge bewusstlos war und absolut keine Reaktionen zeigte, musste diese Art der Gewaltausübung auf das Opfer als eine Bedingung der Wegnahme verneint werden.193 Es bestand schließlich die Möglichkeit, dass die Duldung der Wegnahme nicht auf der Gewalt, sondern ausschließlich auf der bewusstlosen Konstitution des Opfers beruhte. Es lag einer der wenigen Ausnahmefälle vor, in denen das Festhalten am Erfordernis einer objektiven Kausalbeziehung tatsächlich zum Verneinen eines vollendeten Raubes geführt hätte. Eine Be188 Ansonsten würde man in unzulässiger Weise eine hypothetische Reserveursache, nämlich, dass die Entwendung der Sache durch den Täter auch im Rahmen eines Diebstahls hätte vorgenommen werden können, berücksichtigen. 189 Vgl. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 12 Fn. 40. In der Literatur wird insbesondere von den Befürwortern eines subjektiven Finalzusammenhangs bei der Frage nach der Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs oftmals Ursächlichkeit i. S. v. Erforderlichkeit gedeutet; vgl. u. a. Geilen, Jura 1979, S. 166; Müller-Dietz, JuS 1971, S. 417 f.; Schünemann, JA 1981, S. 352; ebenso wohl BGHSt 30, 375, (377). 190 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 37. 191 Damit ist auch der Einwand widerlegt, dass der besonders brutale und „unbedenklich Gewalt auch über das Maß des Unerlässlichen hinaus einsetzende Räuber“ bei Festhalten an einem Kausalzusammenhang bevorzugt werde, weil er straflos ausgehe, indem seine Art der Nötigung nicht erforderlich gewesen sei; vgl. LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 37. 192 Ebenso Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1142, 1146. Das Opfer konnte sich an nichts mehr erinnern, es ließ sich also nicht mehr rekonstruieren, ob es noch Reaktionen gezeigt hatte. 193 Diese völlige Bewusstlosigkeit stellt eine der wenigen Ausnahmefälle dar, in denen eine Gewaltanwendung nicht als conditio sine qua non für eine Wegnahme im unmittelbaren Zusammenhang begriffen werden kann. Daneben müsste auch in der Konstellation der Beraubung eines Schlafenden, der zu diesem Zweck eingeschlossen wurde, ohne dies zu bemerken, ein Kausalzusammenhang verneint werden; vgl. Arzt/ Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 12. Dasselbe gilt für die Konstellation der Bedrohung eines Schlafenden; vgl. SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36.

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strafung der Täter wegen (untauglichen) versuchten Raubes wäre aber möglich gewesen, wobei auf die Gefährlichkeit der Täter im Strafausspruch auch angemessen hätte reagiert werden können. Schließlich stellt § 23 II StGB eine lediglich fakultative Milderungsmöglichkeit dar. Unabhängig von der Beantwortung der dem Urteil zugrunde liegenden weiteren Kausalitätsfragen194 muss jedoch als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass der Bundesgerichtshof unter Berufung auf die – allerdings nicht weiterführende – Entscheidung des Reichsgerichts in RGSt 69, 330195 und möglicherweise auch auf Grund der Kommentierung im Leipziger Kommentar das Vorliegen eines bloß subjektiven Konnexes zwischen Gewalteinsatz und Wegnahme für ausreichend erklärte.196 Letztendlich handelt es sich dabei jedoch nur um eine „Verlegenheitslösung“ 197 und keinesfalls um eine aus der ratio des § 249 StGB folgende zwingende Auslegung. Nichtsdestotrotz hat sich diese einzelfallbezogene Auslegung in der Rechtsprechung und Literatur zur ständigen Auslegung entwickelt und muss als herrschende Meinung bezeichnet werden.198 Die Gegenansicht betont, dass zwischen dem Einsatz der Nötigungsmittel und der Wegnahme ein objektiver Kausalzusammenhang bestehen müsse.199 Darüber hinaus wird jedoch an dem zusätzlichen Erfordernis des Finalzusammenhangs festgehalten.200 Kausalität bedeutet, wie oben ausgeführt, nicht Erforderlich194 Zur Frage der Kausalität zwischen Nötigung und Wegnahme bei Anknüpfung an den ersten Handlungsabschnitt, das Wegtragen des Opfers an einen einsamen Ort (bereits in diesem Wegtragen sah der BGH ja schon das Merkmal der Gewalt gegen eine Person als erfüllt an), vgl. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1142, 1146 f. M. E. ist in diesem Handlungsabschnitt an der Kausalitätsbeziehung nicht zu zweifeln. 195 s. dazu oben. 196 Hinsichtlich der Drohung ist anzumerken, dass diese dem Opfer zwar nach h. A. zur Kenntnis gelangen muss, so dass die Bedrohung eines unerkannt Bewusstlosen zur Vollendung des Raubes nicht genügt. Ob ein tatsächliches Ernstnehmen der Drohung durch das Opfer (Opferperspektive) erforderlich ist oder es ausreicht, wenn dies nach der Täterperspektive der Fall ist, ist jedoch umstritten. Im Gegensatz zu §§ 240, 253, 255 StGB, die einen Kausalzusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg voraussetzen, wird dieser Streit im Rahmen der §§ 249 StGB, 252 StGB relevant. Denn von der h. M. wird auch hier das Vorliegen eines Finalzusammenhangs für die Vollendung als ausreichend angesehen, also wenn der Täter sich lediglich vorstellt, dass das Opfer durch die Drohung zur Duldung der Wegnahme bestimmt wurde; vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 106 f. m.w. N.; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 19 m.w. N.; vgl. den Beispielsfall 17 bei Seelmann, JuS 1986, S. 203. 197 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1147. 198 BGH GA 1974, S. 220; BGHSt 30, 375, (377); BGH NStZ 1982, S. 381; BGH NStZ 1993, S. 79. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 249 Rn. 6; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 36 ff.; MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 26 ff.; Müller-Dietz, JuS 1971, S. 417 f.; Sch/Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7; SSW-Kudlich, 2009, § 249 Rn. 12. 199 A. H. Albrecht, 2011, S. 84 ff.; Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 11; Seelmann, JuS 1986, S. 204; SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36; Wolter, NStZ 1985, S. 248. 200 Nur Wolter, NStZ 1985, S. 248 scheint auf diesen ganz verzichten zu wollen.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

keit,201 sondern das Verursachen der Wegnahme in ihrer konkreten Gestalt, so dass die objektive Erleichterung bzw. Förderung der Wegnahme darunter fällt.202 Für diese Auslegung wird angeführt, dass Beweisschwierigkeiten oder kriminalpolitische Erwägungen die Subjektivierung des Finalzusammenhangs keinesfalls rechtfertigten.203 Schließlich deute auch der Gesetzestext in § 249 StGB nicht darauf hin, dass es sich hinsichtlich der Verknüpfung von Nötigung und Wegnahme um ein Delikt mit überschießender Innentendenz handelt.204 Rengier – hieran anknüpfend – belegt mit seinen Ausführungen, wie inkonsequent sich die herrschende Meinung letztendlich darstellt.205 Er verweist auf das feststehende Wissen, dass der Raub die Deliktstatbestände der Nötigung und des Diebstahls enthalte, indem der Täter dem Opfer die Duldung der Wegnahme abnötigt.206 Wenn nun aber nach der These vom Genügen eines bloß subjektiven Finalzusammenhangs die Nötigung nicht mehr vollendet zu sein braucht, kommt man zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass schon eine versuchte Nötigung zur Vollendung des Raubdelikts ausreicht.207 Der Raubtatbestand wird damit zu einem 201 Vgl. die klarstellenden Ausführungen bei LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 37: „Wer behauptet, die Tötung des Gewahrsamsinhabers sei für die hiermit bezweckte und sich unmittelbar anschließende Wegnahme der Brieftasche des Toten nicht ursächlich, sofern das Opfer auch ohne Gewalt zur Duldung der Wegnahme hätte bewogen werden können (. . .)“, „sagt letztlich, Raub sei nicht als Raub strafbar, weil er auch als Diebstahl hätte begangen werden können. Merkwürdige Vorstellungen über (psychische) Kausalität liegen auch der Behauptung zugrunde, Raubvollendung könne bei ,fehlender Verteidigungsbereitschaft‘ daran scheitern, dass der niedergeschlagene Gewahrsamsinhaber ,die Wegnahme kampflos hätte geschehen lassen‘. Auch in derartigen Fällen besteht in der Regel kein Zweifel an der Kausalität der konkreten Raubmittelanwendung für die Duldung der Wegnahme, da in der Regel nicht anzunehmen ist, dass der ,Gewahrsamsinhaber‘ eine Wegnahme ohne (!) Raubmittelanwendung, d.h. einen Diebstahl, zu dulden bereit gewesen wäre; die konkrete Raubmittelanwendung ist also conditio sine qua non der Aktualisierung des Duldungsentschlusses, mag sich das Opfer auch zuvor abstrakt-generell festgelegt haben, im Falle eines Raubüberfalles (!) keinen Widerstand zu leisten“. 202 SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36. 203 SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36. Insofern beipflichtend MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 26. 204 Seelmann, JuS 1986, S. 204; SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36. Die Begrifflichkeit „unter Anwendung von Drohungen“, die des Öfteren als Argument für das Erfordernis eines bloß subjektiven Zusammenhangs gebraucht wird, weil nicht „durch Drohungen“ verwendet werde, ist nicht weiterführend. Zum einen lässt sie mehrere Deutungsmöglichkeiten zu und zum anderen findet sie sich auch in § 255 StGB, ohne dass sich dies dort dahingehend auswirken würde. Vgl. dazu auch Brandts, 1990, S. 24 f. 205 Rengier, in: Staat – Kirche – Verwaltung, 2001, S. 1195 ff. 206 s. nur Sch/Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 1. 207 Rengier, in: Staat – Kirche – Verwaltung, 2001, S. 1196 f. Deshalb lässt sich seines Erachtens „der Raub mit Nötigung nur retten, wenn man in der Duldung der Gewaltanwendung den Nötigungserfolg sieht.“ Dieser Schluss ist jedoch abzulehnen, weil das Nötigungsunrecht einen Nötigungserfolg voraussetzt, der über die bloße Duldung des Nötigungsmittels hinausgeht.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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Delikt mit überschießender Innentendenz, obwohl der Wortlaut dieser Auslegung eindeutig widerspricht. Schließlich ist das geschriebene Raubunrecht nicht Wegnahme mit bloßer Nötigungsabsicht.208 Diesen Aspekt greift auch Hörnle auf und legt bei der Frage nach dem Unrechtsgehalt des § 249 StGB den Fokus auf die Auswirkung der Handlung des Täters auf das Opfer in der Außenwelt. Die Absicht des Täters sei zweitrangig.209 Hörnle betont zutreffend, dass das spezifische Unrecht des Raubes sich nicht in der Verletzung des Eigentums erschöpfe, sondern auch die personale Selbstbestimmung betreffe. Daraus folgt, dass nur dann, wenn die Selbstbestimmungsfreiheit in Form der Willensbildung bzw. -betätigung durch die Nötigungshandlung verletzt wurde, der Tatbestand des Raubes vollendet sein kann.210 Der falsche Ansatzpunkt der herrschenden Ansicht, die bei dem Konnex von Gewalt und Wegnahme danach fragt, was der Täter bei Anwendung der Gewalt dachte, wird dadurch deutlich. Maßgeblich ist vielmehr der Zeitpunkt der Wegnahme, weil hierbei das Selbstbestimmungsrecht – in Form der erzwungenen Duldung der Wegnahme – tangiert wird.211 Die hinsichtlich der ratio legis des Verbrechenstatbestands des § 249 StGB vorgebrachte Argumentation der herrschenden Meinung, dass schon allein die nach der subjektiven Zwecksetzung des Täters bestehende funktionale Verbindung zwischen Nötigungsmittel und Wegnahme nach der gesetzgeberischen Einschätzung die besondere Gefährlichkeit des Raubtäters begründe,212 ist daher abzulehnen. Sie widerspricht der Deliktsstruktur. Der Vergleich mit dem Tatbestand der räuberischen Erpressung §§ 253, 255 StGB macht diesen Widerspruch deutlich, wenn man bedenkt, dass nach Ansicht der Rechtsprechung213 der Raub der „Spezialfall“ der räuberischen Erpressung und diese somit das „allgemeinere Delikt“ 214 sein soll. Als Nötigungserfolg verlangt die räuberische Erpressung eine Handlung, Duldung oder Unterlassung. Bei der Frage des Zusammenhangs zwischen Nötigungshandlung und Nötigungserfolg wird dabei völlig unstreitig das Vorliegen eines objektiven Kausalzusammenhangs verlangt. Aus dem Inhalt des Nötigungserfolgs soll sich

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Ebenso Streng, GA 2010, S. 674. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1150. 210 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1150. Sie umschreibt die Wegnahme i. S. d. § 249 I StGB folgendermaßen: „Wegnahme bei (durch die Gewaltanwendung des Täters) geminderten Abwehrchancen des Opfers.“ Vgl. auch Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 328: „Raub ist Wegnahme bei gegebener Garantenzuständigkeit für ein die Wegnahme ermöglichendes Defizit an höchstpersönlichem Abwehrpotential“. 211 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1151. Des Weiteren ist es ihrer Meinung nach ausreichend, wenn die Auswirkungen der Gewaltanwendung lediglich vom bedingten Vorsatz umfasst sind. 212 MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 24; Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 22; Sch/ Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7. Dazu näher Brandts, 1990, S. 45 ff. 213 BGHSt 14, 386 unter Verweis auf RGSt 4, 429, (432). Dazu auch Küper, 8. Aufl. (2012), S. 404 ff. 214 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 404, 406. 209

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

dieses Element zwangsläufig ergeben.215 Diese Aussage steht konträr zur subjektiven Auslegung des § 249 StGB. Schließlich wird in § 249 StGB als Nötigungserfolg ebenfalls eine Duldung beim Opfer vorausgesetzt, nämlich die Duldung der Wegnahme, auch wenn die Ausdrucksweise „wegnimmt“ dies verschleiert. Wird im Rahmen einer räuberischen Erpressung demnach eine Duldung beim Opfer bewirkt, die einen Vermögensnachteil nach sich zieht,216 so fragt man sich, warum hier das Nötigungsmittel objektiv kausal dafür geworden sein muss, während dies beim Raub nicht der Fall ist. In concreto würde der Täter im Beispielsfall der PKW-Anmaßung nicht wegen vollendeter räuberischer Erpressung bestraft werden,217 wenn der PKW-Besitzer unerkannt bewusstlos wäre, bei vorhandener Zueignungsabsicht jedoch wegen Raubes, wenn seiner subjektiven Vorstellung nach die Gewaltanwendung notwendiges Mittel zur Erlangung des PKW war. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Qualifizierend im Sinne des § 249 StGB wirkte sich nach Ansicht der Rechtsprechung nämlich dann lediglich das subjektive Merkmal der Zueignungsabsicht aus. Auf die Frage, warum dieses besondere subjektive Tatbestandsmerkmal eine Vorverlagerung der Vollendungstrafbarkeit bewirken soll, findet sich aber keine sinnvolle Antwort. Der Grund, dass im Rahmen der §§ 253, 255 StGB ein subjektiver Finalzusammenhang niemals zur Debatte stand, mag in dem Umstand liegen, dass es sich hierbei in der Regel um ein Interaktionsdelikt handelt, so dass weitere Konstellationen mit bewusstlosen oder schlafenden Opfern schwer vorstellbar sind. Die gerade dargestellte Ungereimtheit in der rechtlichen Behandlung belegt jedoch erneut, dass die vorgenommene Subjektivierung im Rahmen des Raubtatbestands ohne dogmatische Fundierung und vor allem ohne Not erfolgte.218 In den wenigen Konstellationen der Verneinung eines objektiven Kausalzusammenhangs219 würde in der Regel eine Versuchsstrafbarkeit eintreten, so dass dem Unrechtsgehalt der Tat durch die lediglich fakultative Milderungsmöglichkeit gem. § 23 II StGB ausreichend Rechnung getragen werden könnte. c) Ergebnis Der Begriff des „subjektiv-finalen Konnexes“ 220 beschreibt präzise, wie der Zusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur ausgestaltet sein muss, um dem Raubtat215

Vgl. Sch/Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 253 Rn. 7. Als Beispiel sei der in BGHSt 14, 386 entschiedene Fall einer gewaltsam erzwungenen Gebrauchsanmaßung eines PKW angeführt. 217 Es bliebe eine Versuchsstrafbarkeit aus §§ 253, 255, 22 StGB und eine Strafbarkeit aus §§ 240, 223 ff. StGB. 218 Ebenso kritisch Brandts, 1990, S. 69 f. 219 s. Fn. 193. Ebenso A. H. Albrecht, 2011, S. 101. Hörnle kritisiert die oberflächliche Kausalitätsprüfung in BGHSt 4, 210; vgl. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1145 f. 220 BGH StV 1990, S. 159 f. 216

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bestand zu unterfallen. Zum einen muss die Gewalt bzw. Drohung gerade zum Zweck der Wegnahme, also final eingesetzt werden, zum anderen reicht es aus, wenn die Nötigungsmittel lediglich in der Vorstellung des Täters ursächlich für den Nötigungserfolg – der Duldung der Wegnahme – geworden sind. Die Ansicht, dass lediglich der in der Vorstellung des Täters gegebene Ursachenzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme zur Vollendung des Raubtatbestands genügt, ist abzulehnen. Diese Auslegung ist allein Beweisschwierigkeiten, kriminalpolitischen Erwägungen und der weitgehenden Kritiklosigkeit der Literatur, aber gerade nicht der ratio legis des § 249 StGB geschuldet.221 Zurückkommend auf die Ausführungen Rengiers:222 Wenn der Angriff gegen die Freiheit das Mittel zur Realisierung des Eigentumsdelikts in § 249 StGB bildet,223 dann kann ein allein in der Vorstellungswelt des Täters existenter Zusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme für eine Strafbarkeit wegen vollendeten Raubes nicht genügen. Darüber hinaus weist der Begriff der Finalität auf die von der herrschenden Meinung vertretene Finalstruktur der Gewalt hin, so dass Gewalt erst dann zur Gewalt im Sinne des §§ 240, 249, 253, 255 StGB wird, wenn der Täter die Überwindung eines erwarteten oder geleisteten Widerstands intendiert.224 Wie oben ausgeführt, ist die – angeblich vorgegebene – Finalstruktur des Gewaltbegriffs äußerst kritisch zu sehen und abzulehnen. Dieses Merkmal führt zu Verwirrungen hinsichtlich seiner Relevanz, indem es sich nicht „in die übliche Trennung von objektivem und subjektivem Tatbestand“ einfügt und Probleme beinhaltet, die gleichermaßen den Finalzusammenhang zwischen Nötigung und Wegnahme berühren.225 Es darf deshalb nicht verwundern, wenn unter dem Punkt „Finalzusammenhang“ ausgeführt wird, dass „zwischen Raubmittelanwendung und Wegnahme ein Finalzusammenhang in dem Sinne bestehen (müsse), dass Raubmittel zu dem Zweck, die Wegnahme zu ermöglichen oder zu erleichtern und Widerstand hiergegen zu überwinden, angewendet werden.“ 226

II. Die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 177 I StGB 1. Einführung Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Gewaltbegriff des § 177 StGB227 – wie bereits vom Reichsgericht vertreten – die Gewalt221

Anders MüKo-Sander, 2003, § 249 Rn. 26. Rengier, in: Staat – Kirche – Verwaltung, 2001, S. 1195 ff. 223 Sch/Sch-Eser-Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 1. 224 Vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 171. Näher zur Drohung LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 19 f., 32 ff. 225 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9. 226 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 43. 227 Der Gewaltbegriff des § 177 StGB a. F. entsprach dem der sexuellen Nötigung des § 178 StGB a. F. 222

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

arten der vis absoluta und vis compulsiva.228 Der Bundesgerichtshof definiert Gewalt im Sinne des § 177 StGB als Gewalt gegen eine Person und setzt „eine nicht ganz unerhebliche, gegen den Körper des Opfers gerichtete Einwirkung“ voraus,229 bzw. eine „– nicht notwendig erhebliche – körperliche Kraftentfaltung“ und die Empfindung körperlichen und nicht nur seelischen Zwangs.230 Dem Körperlichkeitsmoment der Gewalt kommt in § 177 StGB eine große Bedeutung zu.231 Des Öfteren findet sich zwar die Ausführung, dass es genüge, dass „ein psychisch determinierter Prozeß mit nur geringem körperlichen Kraftaufwand in Lauf gesetzt wird“.232 Diese scheinbare Ausweitung des Gewaltbegriffs beschränkt sich jedoch rein auf die verbale Ebene und ist den Entmaterialisierungstendenzen im Rahmen des § 240 StGB und der hierbei verwendeten Definition des Tatbestandsmerkmals der Gewalt geschuldet. Im Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung lehnte und lehnt es die Rechtsprechung – im Gegensatz zu §§ 240, 249 StGB – nämlich stets ab, psychische Zwangswirkungen tatsächlich genügen zu lassen. Kraftentfaltungen von geringem Ausmaß werden oftmals für nicht nötigungstauglich erklärt, die Annahme von körperlich wirkendem Zwang unterliegt hohen Anforderungen.233 Insgesamt betrachtet wendet der Bundesgerichtshof in § 177 StGB oftmals „strengere Maßstäbe“ bei der Frage der Gewalt an.234 Unverzichtbare Elemente des Gewaltbegriffs sind nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung demnach eine „auf das Tatopfer wirkende körperliche Kraft zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands“.235 Berechtigterweise verlangt die herrschende Meinung im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB eine körperliche Zwangswirkung beim Nötigungsop228 BGH GA 1965, S. 57; BGH, Beschluss vom 10.05.2011 – 3 StR 78/11; LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 34. 229 BGH NStZ 1999, S. 506. 230 U.a. BGH NStZ 1981, S. 218; BGH NJW 1981, S. 2204; BGH NStZ 1985, S. 71; BGH NStZ 1990, S. 335; BGHR StGB § 177 I Gewalt 8; BGH NStZ 1999, S. 506. 231 Ebenso Laubenthal, 2000, Rn. 147; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24. 232 BGH NStZ 1981, S. 218; BGH NStZ 1985, S. 71; BGH NStZ 1990, S. 335; BGH NStE Nr. 9 zu § 177 StGB; BGH, Beschluss vom 26.11.2008 – 5 StR 506/08. 233 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24. Dazu gleich näher. 234 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 32 f. Vgl. dazu die nicht tragende Meinung von vier Richtern in BVerfG NJW 1987, S. 46: „Eine für die Vorhersehbarkeit durch den Staatsbürger wesentliche und für den polizeilichen Einsatz wünschenswerte gefestigte Rechtsauffassung konnte sich daher nicht bilden, und zwar um so weniger als auch der Bundesgerichtshof an den Gewaltbegriff im Falle von Vergewaltigungen erheblich strengere Anforderungen stellte und nicht einmal ein Einschließen in einem umschlossenen Raum als Gewaltanwendung genügen ließ (NJW 1981, 2204)“. S. auch BVerfG NStZ 1995, S. 276: „Die Ungewißheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff anhaftet, ist auch nicht durch ein im Lauf der Zeit gefestigtes Verständnis seiner Bedeutung entfallen, zumal der Bundesgerichtshof in anderen Bereichen wie dem der Vergewaltigung von einem erheblich engeren Gewaltbegriff ausgeht“. 235 BGH NStZ-RR 2002, S. 354; NStZ-RR 2009, S. 202; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5 f. m.w. N.

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fer selbst, worauf im Rahmen von Dreieckskonstellationen noch näher einzugehen ist.236 Diese Anforderung resultiert aus dem Wortlaut und bewirkt im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB den Ausschluss von reiner Gewalt gegen Sachen als Nötigungsmittel.237 Die Rechtsprechung hat mehrmals betont, dass § 177 I StGB kein bestimmtes Maß an Gewalt erfordert.238 Überdies muss auch im Rahmen des § 177 StGB die Gewaltanwendung weder unwiderstehlich239 noch gefährlich für Leib oder Leben sein.240 Die physische Einwirkung muss vielmehr so beschaffen sein, dass sie vom Opfer „als ernstzunehmendes Hindernis für seine Willensentschließung und -betätigung empfunden wird“.241 In der älteren Rechtsprechung finden sich absurde Entscheidungen, in denen Gewalt abgelehnt wurde, weil beispielsweise „der Täter die Frau durch die anfangs ausgeübte Gewalt lediglich in eine Lage versetzt oder versetzen will, in der er erwartet, sie werde ohne Nachwirkung der Gewalt nunmehr freiwillig in die unzüchtigen Handlungen einwilligen, ohne infolge der bisherigen Gewalt einen Widerstand als zwecklos anzusehen“.242 Genauso abwegig sind Entscheidungen, in denen eine Verurteilung wegen Notzucht abgelehnt wurde, weil der Täter mit der Gewaltanwendung eine geschlechtliche Erregung des Opfers und damit eine Einwilligung in den Geschlechtsverkehr bezweckte, aber nicht einen durch Gewalt erzwungenen Beischlaf.243 Von der neueren Rechtsprechung wird je nach den Umständen des Einzelfalls ein „Festhalten des Opfers ebenso wie die Überwindung von geringfügiger Gegenwehr als Gewalt“ eingestuft wie auch „das Packen an der Hand, das auf das Bett Stoßen und das sich auf das Opfer-Legen“.244 Auch ein Zur-Seite-Drücken der abwehrenden Hände des Opfers,245 ein Auseinanderdrücken der Beine bei gleichzeitiger Abwehr des Opfers,246 ein Gerangel mit an-

236 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 9, 12; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 28 f.; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5a. 237 Gössel, 2005, § 2 Rn. 21; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43. Anders Hörnle, die auch hierbei Gewalt i. S. d. § 177 I Nr. 1 StGB bejaht; vgl. LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53 i.V. m. 37. Dazu gleich näher. 238 BGH MDR 1953, S. 147; BGH GA 1965, S. 58; BGH NStZ 1985, S. 71. 239 Kritisch dazu Maurach/Schroeder/Maiwald, 7. Aufl. (1988), § 18 Rn. 11, der auch die Annahme von Gewalt in BGH NStZ 1985, S. 71 kritisierte (dem Opfer wurde u. a. zur Unterbindung des Widerstands ein Kissen auf das Gesicht gepresst). 240 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 4; RGSt 13, 49, (51) für § 240 StGB; BGHSt 18, 75, (76) für § 255 StGB. 241 BVerfG NStZ 1995, S. 277. 242 BGH GA 1968, S. 85. 243 Vgl. OGHSt 3, 96; BGH NJW 1965, S. 1285: „Er wollte nicht den Widerstand des Mädchens gegen den Geschlechtsverkehr mit Gewalt brechen, sondern es durch geschlechtliche Erregung nicht nur zur Aufgabe seines Widerstandes, sondern zur Einwilligung in den Geschlechtsverkehr veranlassen“. 244 BGH NStZ-RR 2003, S. 42; ebenso BGH NStZ 2011, S. 456 f. 245 BGH NJW 1988, S. 2054 zu § 178 StGB a. F. 246 BGH NStZ 1997, S. 120 Nr. 11.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

schließendem zu Boden stoßen des Opfers247 wie auch Ohrfeigen248 wurden als Gewalt angesehen.249 Das gewaltsame Herunterreißen von Kleidung fällt nicht unter das Tatbestandsmerkmal der Gewalt.250 Im Rahmen der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nimmt die Rechtsprechung regelmäßig eine Gesamtwürdigung der Tat vor und bezieht den Zeitraum vor und nach der Tat sowie die Beziehung der Beteiligten intensiv mit ein.251 Je nach den vorliegenden Tatfaktoren wird ein bestimmtes Verhalten als Gewalt eingestuft oder negiert.252 Dem Abwehrverhalten des Opfers kommt dabei eine hohe Bedeutung zu.253 Denn neben der körperlichen Kraftentfaltung von Seiten des Täters und dem körperlich wirkenden Zwang beim Opfer bildet die notwendige Intention des Täters, gerade durch den Gewalteinsatz tatsächlichen oder erwarteten Widerstand des Opfers zu überwinden, um das sexuelle Handlungsziel gegen den Willen des Opfers zu erzwingen, das prägende Element des § 177 I Nr. 1 StGB.254 Die Finalität des Gewalteinsatzes wird daher ebenso wie im Raubtatbestand relevant und ist darüber hinaus oftmals der zentrale Punkt einer Entscheidung. Die restriktive Auslegung des Gewalt- und auch Drohungsbegriffs255 führte 1997 im Rahmen des 33. StÄG zur Einführung des neuen Tatmittels in

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BGH NStZ 1995, S. 224 Nr. 25. BGH NStZ-RR 2006, S. 140. 249 Vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 43 m.w. N. 250 BGH NStZ 1993, S. 78; BGH NStZ-RR 2006, S. 363 Nr. 10. 251 Vgl. zu § 240 StGB BGHSt 23, 49: „Das Urteil darüber, ob ein tatsächlicher Vorgang als Gewalt im Sinne eines bestimmten strafrechtlichen Tatbestandes anzusehen ist, läßt sich nicht einfach dadurch gewinnen, daß dieser Vorgang an einer abstrakten Umschreibung des Gewaltbegriffs gemessen wird. Solch isolierte Betrachtung ist verfehlt; der Vorgang ist stets im Zusammenhang mit dem vom Tatbestand vorausgesetzten Ziel des Handelns und in seinem Verhältnis zu der Person oder den Personen zu beurteilen, die betroffen oder beeinflußt werden sollen“. 252 Vgl. exemplarisch den Urteilstenor in BGH NJW 1981, S. 2204. Vgl. die Kritik von Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 341, dass das „Vorliegen von Gewalt nahezu beliebig angenommen oder ausgeschlossen werden“ kann. 253 BGH GA 1956, S. 317; BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71; BGH GA 1977, S. 144; BGH NJW 1981, S. 2204; BGH NStZ 1985, S. 70; BGH, Urteil vom 18.09.1986 – 4 StR 432/86; BGH StV 1987, S. 516; BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87; BGH, Urteil vom 26.05.1988 – 1 StR 111/88; BGH NStZ 1990, S. 335; BGH NStZ 1992, S. 33; BGH NStZ 1995, S. 229; BGH NStZ 1997, S. 120 Nr. 11; BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH, Beschluss vom 13.09.2001 – 4 StR 309/01; BGH NStZ 2002, S. 494; BGH NStZ-RR 2003, S. 42; BGH NStZ 2005, S. 268; BGH, Beschluss vom 26.11.2008 – 5 StR 506/08. Vgl. auch Steinhilper, 1986, S. 24. 254 Dazu gleich ausführlich unter C. sowie BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NStE Nr. 2 zu § 177 StGB; BGH NStZ 1992, S. 587; BGH NStZ-RR 1996, S. 353; BGH NStZ 1997, S. 178 Nr. 13; BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH NStZ 1999, S. 506; BGH NStZ-RR 2003, S. 42; BGH NStZ 2005, S. 268 f. und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 57 m.w. N. 255 Ebenso Fischer, NStZ 2000, S. 143; Fischer, ZStW 112 (2000), S. 103. 248

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§ 177 I Nr. 3 StGB.256 Vor allem Konstellationen,257 in denen sich das Opfer auf Grund der Annahme, dass es sich in einer ausweglosen, hilflosen Lage befände, nicht mehr wehrte oder nicht erheblich genug, aber mit Worten oder konkludent seinen Nicht-Willen bekundete, waren problematisch. Trotz zahlreicher empirischer Untersuchungen, die aufzeigten, dass sich die typische Opferreaktion bei einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung oftmals gerade nicht als körperliche Widerstandshandlung darstellt,258 insistierte man, dass das typische Opferverhalten erheblicher (körperlicher) Widerstand sei. Im Folgenden wird die Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung anhand von Fallgruppen näher untersucht, wobei der Fokus auf den Elementen der körperlichen Kraftentfaltung und Zwangswirkung liegt. 2. Körperliche Kraftentfaltung und körperliche Zwangswirkung a) Gewalt gegen eine Person? Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur folgert aus der Gleichstellung der Gewalt mit der – im Vergleich zu § 240 StGB – qualifizierten Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, dass im Rahmen des § 177 StGB nur Gewalt gegen eine Person genügt.259 Gegen diese Auslegung spricht bereits der Wortlaut des § 177 I Nr. 1 StGB, der den Zusatz gegen eine Person im Gegensatz zu § 249 StGB gerade nicht beinhaltet.260 Darüber hinaus wurde – rechtshistorisch betrachtet – auch beim Raub nach ständiger Rechtsprechung Gewalt gegen eine Person verlangt, im Gegensatz zu § 177 I Nr. 1 StGB der Raubtatbestand jedoch explizit um diese Anforderung ergänzt.261 Ferner existiert zu § 177 StGB kein Grundtatbestand, wie im Verhältnis der §§ 253, 255 StGB, der eine Qualifizierung der Gewalt262 erforderte.263 Führt man sich 256 BT-Drs. 13/7324, S. 2; Sick, JR 1993, S. 164 ff., 166; Laubenthal, 2000, S. 40; vgl. auch die Gegenüberstellung von altem und neuem Recht bei Harbeck, 2001, S. 215 f. 257 U.a. BGH NStE Nr. 26 zu § 177 StGB; BGH MDR 1981, S. 857; BGH NStZ 1990, S. 335; BGH NStZ 1995, S. 230; BGH NStZ-RR 1998, S. 104; BGH NStZ 1998, S. 106; eingehend dazu Sick, 1993, S. 100 ff. 258 Baurmann, 1996, S. 319 ff.; Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 532. 259 Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 12; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 9; HK/GS-Laue, 2. Aufl. (2011), § 177 Rn. 4; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5 m.w. N. 260 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53. 261 Ebenso Gössel, 2005, § 2 Rn. 21. Im PreußStGB von 1851 hatte man diesen Zusatz miteingefügt; s. oben. 262 NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 75. 263 Die erst im Rahmen des 6. StrRG erfolgte Einführung des § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB spricht ebenfalls nicht gegen den Verzicht auf Gewalt gegen eine Person; vgl. BTDrs. 13/8587; so aber A. H. Albrecht, 2011, S. 21. Zuzugeben ist, dass § 240 I, IV S. 2

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die inhaltliche Bedeutung der Anforderung „Gewalt gegen eine Person“ vor Augen, wird allerdings deutlich, dass die unterschiedlichen Auffassungen in § 177 I Nr. 1 StGB keine divergierenden Ergebnisse herbeiführen, so dass es müßig ist, darüber zu streiten. Das Merkmal der Gewalt gegen eine Person führt nämlich keineswegs zu erhöhten Anforderungen an die Qualität der Kraftentfaltung und Zwangswirkung im Sinne einer „besonders schwere(n) Gewalt“.264 „Gewalt gegen eine Person“ beschreibt vielmehr die „Richtung der Gewaltwirkung“,265 das Nötigungsopfer. Nachdem aber bereits die Gewalt im Sinne des § 240 StGB auf Grund des Elements der körperlichen Zwangswirkung einen Personenbezug aufweisen muss,266 bleibt die Frage nach der Bedeutung gegen eine Person unbeantwortet. Als qualifizierendes Moment im Vergleich zur einfachen Gewalt wird vorgeschlagen, als Gewalt gegen eine Person nur die Gewalt anzusehen, „die eine Person als Nötigungsopfer unmittelbar physisch zu spüren bekommt.“ 267 Nachdem es jedoch unumstritten unerheblich ist für das Merkmal der Gewalt gegen eine Person, ob die Einwirkung auf den Körper des Opfers „eigenhändig oder durch ein Mittel oder Werkzeug“ 268 erfolgt,269 bleibt auch hierbei der Erkenntnisgewinn gering. Schlussendlich führt die Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Gewalt nicht weiter. Gewalt gegen eine Person kann mit Hilfe von „Gewalt gegen Sachen“ erzeugt werden, wenn hierdurch eine körperliche Zwangswirkung beim Opfer selbst bewirkt wird.270 Der Körper des Nötigungsopfers ist von der Gewalt spürbar betroffen, auch wenn diese mittelbar vermittelt Nr. 1 StGB und § 177 I Nr. 1 StGB teilweise deckungsgleich sind, weil auch § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB das Erzwingen sexueller Handlungen mit Gewalt erfasst. Dies hat der Gesetzgeber augenscheinlich übersehen. Im Vordergrund stand wohl das Bestreben, den Strafrechtsschutz zu erweitern. In derartigen Konstellationen geht § 177 I Nr. 1 StGB aber auf Grund von Spezialität unstrittig vor. Der eigenständige Wert von § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB gegenüber § 177 I Nr. 1 StGB liegt darin, dass das Regelbeispiel auch sexuelle Handlungen an der Person des Opfers durch das Opfer selbst und solche ohne Körperkontakt erfasst. Die Regelung ist aber „nicht gelungen“, da das Regelbeispiel nur die Vornahme und nicht die Duldung sexueller Handlungen erfasst. § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB hat vor allem dann eine besondere Bedeutung, wenn mit einem empfindlichen Übel gedroht wird (ohne Ausnutzung einer schutzlosen Lage). Vgl. zum Ganzen Fischer, 60. Aufl. (2013), § 240 Rn. 59 sowie ders., § 177 Rn. 5a. 264 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43; NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 76; BGHSt 18, 75. 265 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43. 266 NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 75. 267 Jeweils NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 75: Dieser „Unmittelbarkeit des Eingriffs“ hafte „eine gezielte und deshalb besonders intensive und gefährliche Vorgehensweise“ an. Ebenso LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43. 268 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43. 269 NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 75; Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 8. 270 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 9; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 29.

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wird,271 wie im Falle des Einsperrens oder der Zerstörung des Rollstuhls einer behinderten Person.272 Es kommt also nicht darauf an, dass bereits die Kraftentfaltung des Täters den Körper des Opfers unmittelbar betrifft, wie beispielsweise bei Schlägen. Nur dann, wenn eine Sache zerstört wird, ohne dass dies körperlich spürbaren Zwang beim Opfer hervorruft, ist das Gewaltmerkmal nicht erfüllt. Im Ergebnis bleibt es bei dem schon festgestellten Ausschluss von reiner Gewalt gegen Sachen.273 Diese Erörterungen belegen, dass das Merkmal der Gewalt gegen eine Person in § 177 StGB, unabhängig davon, dass es nicht in den Gesetzestext hineingelesen werden darf, keine zusätzlichen Anforderungen an das Gewaltmerkmal mit sich brächte.274 b) Verbale Einwirkungen und geringer Kraftaufwand des Täters In einer Entscheidung aus dem Jahr 1981 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass rein verbale Einwirkungen dem Gewaltbegriff des § 177 StGB a. F. nicht genügen könnten.275 Dogmatisch korrekt wird auf die Gefahr der Verwischung der Tatbestandsmerkmale Gewalt und Drohung abgestellt und – diesbezüglich jedoch nicht überzeugend – unter Verweis auf BGHSt 19, 263276 das Vorliegen einer körperlichen Kraftentfaltung für unverzichtbar erklärt. Der Bundesgerichtshof betont, dass die Tatbestände der §§ 177, 255 StGB „ihre besondere Kennzeichnung durch die Art der in ihnen aufgeführten Nötigungsmittel“ 277 erführen. Der 271

Fischer, 60. Aufl. (2013), § 249 Rn. 4a. NK-Toepel, 3. Aufl. (2010), § 240 Rn. 75 schlägt vor, unter Unmittelbarkeit nur „Wirkungen“ zu fassen, „die das Opfer im Moment der Einwirkung“ bereits „körperlich beeinträchtigen“, so dass Gewalt gegen eine Person im Falle des „Einschließens eines Schlafenden, um ungestört wegnehmen zu können“, verneint werden müsste, aber bejaht, „beim Schließen einer Tür vor der Nase einer schutzbereiten Person, damit diese die Wegnahme nicht hindern kann.“ Beim Raub wirkt sich diese Auffassung eklatant aus, weil in diesen Konstellationen – entgegen der gängigen Praxis – bereits das Merkmal der Gewalt mangels Spürbarkeit beim Opfer abgelehnt werden müsste, so dass die Subjektivierung des Finalzusammenhangs irrelevant wäre und es bei einer Versuchsstrafbarkeit bliebe. Im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB bleibt diese Ansicht ohne Auswirkungen, nachdem das Opfer zu sexuellen Handlungen nur gezwungen werden kann, wenn es durch Gewalt hierzu genötigt wird. Die Gewalt muss also naturgemäß spürbar sein beim Opfer. 273 Ebenso LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43; Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 8. 274 Dieses Ergebnis gilt auch für das Tatbestandsmerkmal der „Gewalt gegen eine Person“ in den §§ 249, 255 StGB. 275 BGH NStZ 1981, S. 218; vgl. den Sachverhalt in MDR 1981, S. 630: „Der Angeklagte hatte den weiblichen Opfern vorgetäuscht, zur Rettung eines nahen Angehörigen aus Lebensgefahr seien (zwecks Therapie) sexuelle Versuche an den Opfern notwendig“. 276 Diese Entscheidung betraf einen Fall der Nötigung im Straßenverkehr durch Hupen und dichtes Heranfahren, wobei die Nötigungswirkung im psychischen Bereich lag. 277 BGH MDR 1981, S. 630. 272

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Angeklagte hatte in dem Fall zwar eindeutig auf Grund seiner Diagnose seine Macht als Arzt missbraucht und dadurch ein faktisches „Gewaltverhältnis“ 278 erschaffen. Gewalt im Sinne des § 177 StGB a. F. lag jedoch nicht vor. Zu kritisieren bleibt, dass zum einen derartige Fälle sanktionslos blieben279 und zum anderen die Rechtsprechung bei der Auslegung des Gewaltbegriffs je nach Tatbestand offensichtlich unterschiedliche Maßstäbe anlegt.280 Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der ein Hochschullehrer durch lautes Gebrüll und Pfeifen zum Verlassen des Hörsaals gezwungen wurde und dies als Gewalt im Sinne des § 240 StGB angesehen wurde, legt diese Annahme nahe.281 Durch das Gebrüll, das sicherlich unangenehm war, wurde maximal Herzklopfen hervorgerufen, insbesondere aber wahrscheinlich Verärgerung über die Studierenden. Der Schwerpunkt lag demnach auf einer Beeinträchtigung der psychischen Befindlichkeit. Das Vorgehen der Studenten wirkt auf den ersten Blick zwar massiv, weil es mit Lärm verbunden war. Eine körperliche Kraftentfaltung und Zwangswirkung sind hier jedoch, wenn überhaupt, nur geringfügig vorhanden.282 Die Bejahung des Nötigungstatbestands schien hier aber als Disziplinierungsmaßnahme rechtspolitisch gewollt.283 Bei Vornahme einer vergleichenden Gesamtwürdigung beider Tatsituationen – unter Heranziehung des Gewaltmaßstabs wie in § 240 StGB vorgenommen – hätte somit auch im obigen Arztfall Gewalt bejaht werden können. Die ärztliche Diagnose, dass ein naher Angehöriger in Lebensgefahr schwebe und nur durch bestimmte Maßnahmen gerettet werden könne, erzeugt wohl weitaus mehr Druck als rebellierende Studenten. Schließlich kann der Dozent den Hörsaal ohne Probleme verlassen; die Frau jedoch, der diese Diagnose offenbart und gleichzeitig Verantwortung für die Lebensrettung auferlegt wird, kann sich dieser Situation nur schwerlich entziehen. Letztendlich ist der Entscheidung aber zuzustimmen. Es kann nicht Aufgabe der Rechtsprechung sein, Strafbarkeitslücken durch die extensive Auslegung eines Tatbestands zu schließen. Diese Richtlinie sollte jedoch für alle Tatbestände gleichermaßen gelten. In einem weiteren Fall wird die restriktive Auslegung der Rechtsprechung – diesmal im Vergleich zum Tatbestand des Raubes284 – deutlich. Der Angeklagte hatte gegen den Willen einer Frau, die bereits vorher mehrmals vergewaltigt worden war, den Geschlechtsverkehr durchgeführt, nachdem er dazu ihre Beine aus-

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Nicht im juristischen Sinne verstanden. Diese Kritik richtet sich an den Gesetzgeber: Die Ausnutzung dieser „Notlage“ unterfiel damals keinem Tatbestand. Heute könnte § 174c StGB einschlägig sein. 280 Vgl. die Kritik von Sick, 1993, S. 100 ff. 281 BGH NJW 1982, S. 189 f. 282 Spätestens die Verwerflichkeit wäre also abzulehnen gewesen; vgl. LK-Träger/ Altvater, 11. Aufl. (2005), § 240 Rn. 89. 283 Ebenso Goy/Lohstöter, StV 1982, S. 20. 284 Vgl. insbesondere die Entscheidung in BGHSt 16, 341 ff. s. A.I.1.b). 279

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einander gespreizt hatte. Der Bundesgerichtshof lehnte Gewalt ab, weil „es keines nennenswerten Kraftaufwandes“ bedurft hatte, indem „die Zeugin zur Gegenwehr nicht mehr in der Lage war.“ 285 Vergleicht man diesen Fall mit oben dargestellten Konstellationen des Raubes oder der Nötigung, so kann das ablehnende Argument wohl nicht in der geringen Kraftentfaltung liegen.286 In zahlreichen Entscheidungen zur Nötigung im Straßenverkehr wie auch durch Sitzdemonstrationen sowie zum Raub lag der Kraftaufwand auf demselben Level bzw. sogar darunter.287 Die Frau war auch einer körperlichen Zwangswirkung ausgesetzt, als der Angeklagte ihr die Beine auseinander drückte und dann den Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen vollzog. Das Opfer wurde dadurch festgehalten und dieses Festhalten wirkte in der konkreten Situation als „unwiderstehlicher Zwang“ ähnlich dem Eingesperrtsein.288 Der entscheidende Punkt liegt demnach in der Aussage, dass die Frau auf Grund ihrer Erschöpfung und Apathie keinen äußerlich sichtbaren Widerstand mehr leisten konnte und der Täter dies erkannte. Das Erfordernis der Finalität der Gewalteinwirkung (zum Zweck der Widerstandsüberwindung) führte demnach zum Tatbestandsausschluss.289 Im vorliegenden 285 BGH NStZ 1985, S. 70: „In dem Bewußtsein, daß er die auf den von ihm vermuteten Gewaltakten beruhende und noch anhaltende Hilflosigkeit und Angst der Zeugin ausnutzte, spreizte er nun ihre Beine. Dazu bedurfte es keines nennenswerten Kraftaufwandes, da die Zeugin zur Gegenwehr nicht mehr in der Lage war.“ Ebenso BGH GA 1977, S. 144. Vgl. die Kritik von Pott, KritV 1999, S. 104 f. 286 Kritisch ebenso Sick, 1993, S. 104 ff. 287 Die Beine müssen erst einmal hoch und auseinander geschoben werden, so dass eine gewisse Kraftentfaltung erforderlich war, vor allem, weil die Beine durch die Erschöpfung schwerer waren. 288 Wolter, NStZ 1985, S. 247. 289 Dazu gleich näher. In diesem Sinne wurde auch der sog. Hanauer Arzt Fall in BGHSt 36, 145 entschieden. Sowohl nach altem und neuen Recht konnte und kann der Unrechtsgehalt derartiger Konstellationen nur über § 179 StGB erfasst werden, wenn das Opfer als widerstandsunfähig i. S. d. Vorschrift eingestuft wird. Der Strafrahmen des § 179 StGB a. F. lag im Vergleich zu § 177 StGB a. F. jedoch niedriger, nämlich beim Missbrauch zum Beischlaf zwischen einem und zehn Jahren. In der neuen Fassung des § 179 I StGB werden sexuelle Handlungen ohne Eindringen immer noch im Vergleich zu § 177 I StGB milder bestraft. Problematisch ist das teilweise sehr enge Verständnis von Widerstandsunfähigkeit, und zwar im Sinne einer absoluten Unfähigkeit zum körperlichen Widerstand. Vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 28 ff. und BGH NStZ 2009, 324 f. sowie BGH NJW 1983, 636: Es wird darauf hingewiesen, dass „selbst gefesselte Frauen durch bestimmte Verhaltensweisen, z. B. Schreien oder Wälzen, Widerstand leisten können. Bricht der Täter diesen Widerstand, so begeht er eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung; unterläßt das Opfer solche ihm an sich möglichen Widerstandshandlungen, ohne daß der Täter mit Gewalt wenigstens droht, so liegt auch kein Mißbrauch eines Widerstandsunfähigen vor. M war nicht völlig gelähmt. Nach den Feststellungen kann sie aufgrund ihrer spastischen Lähmung zwar ihre Arme und Beine nur unvollkommen kontrollieren; sie kann sich aber auf Krücken gestützt fortbewegen, ist in der Lage, sich selbst zu versorgen, und lebt in ihrer Wohnung allein. Sie konnte auch die Hände des Angekl. S zur Seite schieben, als er nach ihren Brüsten griff, und ihre Bettdecke festhalten, als er sie ihr wegziehen wollte. Dies sind Widerstandshandlungen, die hier die Annahme einer Widerstandsunfähigkeit ausschließen“.

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Fall hätte die Frau also zumindest einmal versuchen müssen, einen Gegendruck gegenüber dem Auseinanderspreizen auszuüben.290 Auffällig ist des Weiteren, dass der Bundesgerichtshof teilweise Gewalt ablehnt, obwohl sich weder die körperliche Kraftentfaltung noch die körperliche Zwangswirkung im unteren Bereich bewegen.291 In einem Beschluss aus dem Jahr 1995292 ergab sich die Gewaltanwendung aus dem Sachverhalt eindeutig, trotzdessen bezweifelte der Bundesgerichtshof deren Vorliegen und argumentierte: „Auch unter Berücksichtigung der Überlegenheit eines erwachsenen Mannes gegenüber einem Kind ist es denkbar, daß das auf Nacktfotos eingestellte Mädchen vom Vorgehen des Angeklagten überrumpelt wurde und lediglich subjektiv Angst empfand, ohne daß der Angeklagte nach seiner Vorstellung Gewalt angewendet hat, um mit seinem Glied an ihre Scheide zu gelangen.“ Diese Ausführungen sind in keiner Weise nachzuvollziehen.293 Es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass der Bundesgerichtshof den Umstand, dass sich das zwölfjährige Mädchen von dem Angeklagten zu Nacktfotos hatte überreden lassen sachwidrig in die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt miteinbezog, quasi also ein tatbestandseinschränkendes relevantes Mitverschulden des Mädchens annahm.294 Auch ein Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1999295 bleibt unverständlich. Das Landgericht hatte es als erwiesen angesehen, dass sich das Mädchen gegen das sexuelle Ansinnen des Angeklagten gewehrt und versucht hatte, diesen „mit Armen und Beinen abzuwehren“.296 Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs ergab sich jedoch daraus, wie auch aus den Feststellungen, dass der Angeklagte „dem Mädchen den Mund zu(hielt) oder ihr das Kissen ins Gesicht drückte“, sie „auf die Couch oder auch auf den Fußboden niederdrückte und sie dann am Unterkörper entkleidete, worauf er sich zu ihr legte“ nicht, dass

290 Das durch das 33. StÄG eingefügte Nötigungsmittel des § 177 I Nr. 3 StGB kann in derartigen Konstellationen nur eingreifen, wenn das Opfer sich in einer schutzlosen Lage befindet und aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen Widerstand unterlässt (dazu also noch grundsätzlich in der Lage wäre); vgl. BGH NStZ 2000, S. 140 ff. mit Anm. Fischer und ausführlich unter B.II. 291 BGH NStZ 1995, S. 230: „Sodann klappte der Angeklagte die Rücklehne des Beifahrersitzes, auf dem sie saß, nach hinten und stürzte sich auf Katja, so daß er auf ihr zum Liegen kam. Sie weinte und empfand große Angst. In dieser Situation drückte er sein Geschlechtsteil an ihre Scheide, beließ es über mehrere Minuten dort und bewegte sich so auf ihr, daß sie Schmerzen im Scheidenbereich empfand. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, fotografierte er sie mit noch entblößtem Geschlechtsteil zweimal“. 292 BGH NStZ 1995, S. 230. 293 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 10 Fn. 43. 294 Auf der Grundlage, dass sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen Triebdelikte seien. 295 BGH NStZ 1999, S. 506. 296 BGH NStZ 1999, S. 506. Dies wird als „pauschale Feststellung“ gerügt.

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dieser seinerseits Gewalt gegen das Mädchen angewendet hatte.297 Selbst am Vorsatz des Angeklagten, dass er durch sein Verhalten die sexuellen Handlungen erzwinge, sei auf Grund dieser Darlegungen zu zweifeln.298 Diese Ausführungen sind auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht haltbar.299 Ebenso wenig nachzuvollziehen ist die Ablehnung von Gewalt in zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus den Jahren 2005300 und 2009301. Im ersten Fall sei „jedenfalls nicht dargetan, dass der Angekl. durch das Festhalten der Arme des Kindes bzw. dadurch, dass er sich auf dessen Körper legte, eine solche302 Zwangswirkung erzielen wollte.“ Im zweiten Fall bezweifelte er auf Grund des Umstands, „dass der Angekl. seiner Tochter die Bettdecke über den Kopf zog, bevor er mit ihr gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr ausübte“, „dass die Gesch. dies als körperlich wirksamen Zwang empfand und dass der Angekl. eine solche Zwangswirkung erzielen wollte.“ 303 Die Feststellung, dass der Täter „die im Bett liegende Frau gegen ihren Willen auf den Rücken gedreht und sich auf sie gelegt hatte“ 304 soll ebenfalls keine Gewaltvornahme belegen. Auch erstinstanzliche Feststellungen, dass der Angeklagte „nun mit der weinenden und sich vor Schmerzen windenden A. N. den Analverkehr bis zum Samenerguss (vollzog); dabei drückte er sie so an eine Wand, dass sie sich aus ihrer Position nicht befreien konnte“, nimmt der Bundesgerichtshof nicht zum Anlass, das Tatbestandsmerkmal der Gewalt anzuprüfen.305 Dies macht die hohen Hürden bzw. die restriktive Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Tatbestandsmerkmal der Gewalt deutlich.306 Begrüßenswert ist es deshalb, wenn der Bundesgerichtshof in einem Beschluss aus dem Jahr 2011307 entgegen der Erstinstanz das Hochheben der Beine des Opfers „auf dem engen Beifahrersitz des Fahrzeuges“ und das kräftige Fassen „an den Hüften, um es zu drehen“ als Gewalt qualifiziert.

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Jeweils BGH NStZ 1999, S. 506. BGH NStZ 1999, S. 506. 299 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 10 Fn. 43. 300 BGH NStZ-RR 2006, S. 363 Nr. 8. 301 BGH NStZ-RR 2009, S. 202. 302 Anm.: körperliche. 303 In der rechtlichen Wertung ebenfalls äußerst zweifelhaft BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87; BGH, Urteil vom 28.02.1991 – 4 StR 553/90; BGH NStZRR 1998, S. 103; BGH NStZ-RR 1999, S. 294; BGH NStZ-RR 1999, S. 324 Nr. 17 und BGHSt 50, 359 (der Täter hielt dem fünfjährigen Opfer, das während der analen Vergewaltigung laut weinte, den Mund zu; Gewalt wurde vom BGH nicht angesprochen). Vgl. auch NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 41. 304 BGH NStZ 2003, S. 356 Nr. 15. 305 BGH StV 2012, S. 534; s. zu diesem Beschluss die kritische Anm. von Renzikowski/Sick in NStZ 2013, S. 468 ff. 306 Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 41. 307 BGH, Beschluss vom 28.06.2011 – 1 StR 255/11. 298

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c) Einsperren, Weg versperren, Verbringen des Opfers an einen anderen Ort Mittelbare Gewalt wie Einsperren, Weg versperren, Verbringen des Opfers an einen anderen Ort werden nach gefestigter Rechtsprechung nur dann für vergewaltigungstauglich gehalten, wenn zusätzliche Faktoren wie Kindesalter308 bzw. jugendliches Alter,309 körperliche Behinderungen310 des Opfers oder ein Eingesperrtsein von längerer Dauer311 sowie weitere Nötigungsmittel das körperliche Ausgeliefert sein gegenüber dem Täter verstärken und evident machen.312 Unter Berufung auf das Reichsgericht313 fasste der Bundesgerichtshof zwar das Einsperren in einigen Entscheidungen unter den Gewaltbegriff des § 177 StGB und betonte, dass ein bestimmtes Maß an Gewalt dann nicht vorausgesetzt werde, wenn sich die Gewalt direkt gegen das Opfer richte.314 Des Weiteren wurde das Verbringen eines Mädchens gegen seinen Willen „auf dem abgelegenen Waldweg zum Tatort, der allein der Herbeiführung des Geschlechtsverkehrs dienen sollte“ 315 bzw. „die Verbringung der wehrlosen Zeugin an einen abgelegenen Ort 308 Vgl. BGH NStZ 1994, S. 429 (der Täter hatte ein zehnjähriges Mädchen gegen ihren Willen in seinem PKW zu einem einsamen Ort verbracht und dort sexuelle Handlungen erzwungen, die diese aus Angst über sich ergehen ließ, ohne sich zu wehren). Vgl. die Aussage des BGH in NStZ 1996, S. 276, dass angesichts des kindlichen Alters der Geschädigten Gewalt zu bejahen sei, indem der Täter das Opfer durch einen mehrere Stunden andauernden Waldlauf gefügig machte. 309 BGH, Beschluss vom 8.6.1995 – 4 StR 262/95=BGH NStZ 1996, S. 124 Nr. 35. Die Zwangslage des Opfers wurde verstärkt, indem der Täter den Aufzug zum Stehen gebracht hatte, um das Mädchen gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Anders jedoch BGH, Beschluss vom 19.02.2001 – 5 StR 15/01. 310 BGH NStZ 1993, S. 340; BGH NStZ 1996, S. 31 (der Täter hatte der körperbehinderten Frau den Weg zu ihrem Rollstuhl versperrt). 311 In BGH NStZ 1999, S. 83 hatte sich die Freiheitsberaubung auf zwei Tage erstreckt. Vgl. auch BGH NStZ-RR 2005, S. 363 Nr. 13. 312 Das Eingesperrtsein in einem Raum genügt nur dann, wenn weitere Gewalthandlungen hinzukommen, wie in BGH NStZ 2000, S. 419 oder das Opfer Widerstand leistet wie in BGH NStZ-RR 2003, S. 42 f. Vgl. auch BGH NStZ 1995, S. 229. 313 RGSt 13, 49 hinsichtlich § 240 StGB; RGSt 27, 405 hinsichtlich § 113 StGB; RGSt 73, 344, (345) hinsichtlich § 252 StGB. Fortgeführt von BGHSt 20, 194, (195) hinsichtlich § 249 StGB. 314 BGH GA 1965, S. 57 f. mit folgendem Sachverhalt: Der Angeklagte hatte das Zimmer, mit dem er sich mit dem späteren Opfer befand, abgeschlossen und erklärt, er werde es erst wieder aufschließen und sie herauslassen, wenn sie den Geschlechtsverkehr zulasse. BGH GA 1981, S. 169 (allerdings erfolgte nach dem Einsperren noch weitere unmittelbare Gewalt u. a. in Form von Schlägen). 315 BGH, Urteil vom 18.08.1977 – 4 StR 176/77: „Zutreffend hat das Landgericht bereits in dem gegen den Willen des Mädchens vorgenommenen Transport auf dem abgelegenen Waldweg zum Tatort, der allein der Herbeiführung des Geschlechtsverkehrs dienen sollte, eine Gewaltanwendung im Sinne des § 177 StGB gesehen (. . .). Auch die weiteren Handlungen des Angeklagten, der nach der Überzeugung des Landgerichts erkannt hatte, daß das Mädchen mit dem Geschlechtsverkehr nicht einverstanden war, insbesondere das Festhalten, „um einem Fluchtversuch schon im Anfangsstadium“ zuvorzukommen, und das Herabziehen der Kleidung, sind mit Recht als Gewaltanwen-

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als nachhaltiges Mittel der Gewaltanwendung“ 316 eingestuft.317 Gemeinsam ist diesen Entscheidungen jedoch, dass im Tatverlauf neben dem Mittel der Freiheitsberaubung auch unmittelbare Gewalt und Drohungen zur Erzwingung der sexuellen Handlungen angewandt wurden, so dass fraglich ist, ob die Freiheitsberaubung allein zur Bejahung des Gewaltmerkmals ausgereicht hätte. Die angeführten Entscheidungen deuten darauf hin, dass die Tatmodalitäten des Einsperrens, Weg Versperrens und Verbringens des Opfers an einen anderen Ort nur dann als Gewalt beurteilt werden, wenn der davon ausgehende physische Zwang als nachhaltig bzw. massiv genug eingestuft wird oder weitere Nötigungsmittel zum Einsatz kommen. In einer viel diskutierten Entscheidung aus dem Jahr 1981318 betonte der Bundesgerichtshof denn auch – unter Verweis auf die obigen Judikate319 – diesen Umstand und stellte fest, dass in dem bloßen „Fahren zu einer abgelegenen Stelle, an der die mitgeführte Frau Hilfe nicht erwarten kann“ bzw. „nicht in jeglichem Einschließen oder ähnlicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit einer Frau in der Absicht, mit ihr geschlechtlich zu verkehren“ bereits Gewalt angenommen werden könne.320 Das Urteil nimmt zu zwei Tatsituationen ablehnend Stellung, die den Versuch bzw. die Vollendung eines erzwungenen Beischlafs von einem Ausbilder gegenüber seiner Auszubildenden betraf. In dung gewertet worden. Daß Gerlinde G. danach, „weil sie glaubte, sie könnte auch durch Gegenwehr den Angeklagten nicht mehr abhalten“, den Beischlaf geduldet hat und sogar seiner Aufforderung, „an ihrem Geschlechtsteil herumzumachen“, nachgekommen ist, kann entgegen der Ansicht der Revision nicht als Einverständnis und freiwilliges Handeln angesehen werden“. 316 BGH, Urteil vom 22.02.1978 – 2 StR 460/77. Der Täter hatte zusätzlich unmittelbare körperliche Gewalt angewandt und dem Opfer gedroht. 317 Vgl. auch BGH, Urteil vom 19.05.1976 – 2 StR 59/76. Der Täter hatte zusätzlich gedroht. 318 BGH NJW 1981, S. 2204. 319 BGH NJW 1981, S. 2205: „Der Rechtsprechung des BGH ist, trotz gelegentlicher, die Entscheidung jeweils nicht tragender Äußerungen in dieser Richtung, nicht zu entnehmen, das bloße Fahren zu einer abgelegenen Stelle, an der die mitgeführte Frau Hilfe nicht erwarten kann, sei ohne weiteres Gewaltanwendung i. S. des § 177 StGB. In den Entscheidungen, auf die sich eine Gegenmeinung allenfalls berufen könnte, war der Täter jeweils gegen das Opfer gewalttätig geworden (. . .).“ „Der Rechtsprechung ist auch nicht zu entnehmen, daß in jeglichem Einschließen einer Frau in der Absicht, mit ihr geschlechtlich zu verkehren, bereits eine Anwendung von Gewalt i. S. des § 177 StGB zu sehen sei. Die Entscheidungen des RG (. . .), auf die in diesem Zusammenhang häufig hingewiesen wird, hatten Fälle des § 240 StGB, des § 113 StGB a. F. und des § 252 zum Gegenstand, in denen jeweils der Täter mit dem Einschließen des Opfers dessen eigenem Handeln Fesseln angelegt hatte, die es nur durch Einsatz eigener Körperkraft hätte sprengen können und die von ihm daher als Gewalt empfunden werden mußten. In den vom BGH unter dem Gesichtspunkt der Vergewaltigung geprüften Fällen wurde jeweils ein Handeln des Täters gewertet, das – über ein bloßes Einschließen hinaus – auf das körperliche Wohlbefinden der Frau nachhaltig einwirkte (. . .)“. 320 Abl. Anm. von Goy/Lohstöter, StV 1982, S. 20 ff.; abl. Anm. von Otto, JR 1982, S. 116 ff.; ablehnend auch Hillenkamp, 1983, S. 8; vgl. außerdem die kritische Analyse von Sick, 1993, S. 109 ff.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

beiden Fällen, insbesondere beim zweiten, hätte bei Subsumtion des Sachverhalts unter die gängige Gewaltdefinition bzw. unter Einbeziehung früherer Entscheidungen die Bejahung von Gewalt nahe gelegen. Im ersten Fall321 übte der körperlich überlegene Ausbilder durch das Versperren der Tür mit der Aufforderung, sich auszuziehen, zwar nur eine (geringe) Kraftentfaltung aus,322 abzustellen ist jedoch auf die körperliche Zwangswirkung bei dem Opfer,323 weil die geringe Ausprägung eines Elements durch die starke Ausprägung des anderen Elements aufgewogen werden kann.324 Das „allerdings nachhaltig bedrängte Mädchen“ 325 war durch das Versperren des Raumausgangs bereits gegenwärtigem körperlichem Zwang ausgesetzt,326 es wurde dadurch seiner Fortbewegungsfreiheit beraubt. Das Verlassen des Raumes war dem Opfer „spürbar körperlich unmöglich“ bzw. „unzumutbar geworden“.327 Die Gewalt muss nicht bis zum Ende der Tat andauern,328 wenn die Überwindung des Widerstands zur Erreichung des sexuellen Handlungsziels schon durch das Versperren der Tür eingetreten ist. Fraglich bleibt allein, ob die körperliche Zwangswirkung nachhaltig genug war, um eine im Sinne des § 177 StGB „motivierende Kraft“ 329 zu entfalten. Dies ist zu bejahen, weil der Angeklagte eine „effektive physische Barriere“ für die Zeugin bildete und diese ohne eine „Kraftprobe“ wohl nicht aus dem Raum gekommen wäre.330 Im zweiten Fall331 verneinte der Bundesgerichtshof das Vorliegen von 321 BGH NJW 1981, S. 2204: Nach den Feststellungen drängte der Angeklagte die Zeugin S. mit den Worten ,ich habe Lust, mach dich fertig‘ vom Bad in einen Nebenraum, in dem eine Liege stand, stellte sich so in die Tür, daß das Mädchen das Zimmer nicht verlassen konnte, und forderte es auf, sich auszuziehen. Auf ihre Bitte, sie nach Hause zu fahren, ging er nicht ein. Daraufhin zog das Mädchen Hose und Schlüpfer aus und duldete den Versuch des Angeklagten, mit ihm geschlechtlich zu verkehren, weil es ,weiteren Widerspruch oder Gegenwehr für sinnlos‘ hielt“. 322 Weitere Beispiele für einen im Rahmen des § 177 StGB ausreichend geringen Kraftaufwand bei LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 44. 323 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 25 f.; Otto, JR 1982, S. 117; Sch/ Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5. 324 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 37. 325 BGH NJW 1981, S. 2205. 326 Der Angeklagte ließ die Zeugin trotz ihrer Bitten nicht nach Hause gehen. Ebenso Sick, 1993, S. 115 ff. Auch nach LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 6 reicht es aus, wenn „der Täter mit seinem Körper den Ausgang versperrt“. 327 Wolter, NStZ 1985, S. 247. 328 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 44; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 5. 329 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 45. 330 Jeweils Erb, NStZ 2000, S. 200. 331 BGH NJW 1981, S. 2204: Im zweiten Fall hatte „der Angeklagte der Zeugin S. zunächst in der Werkstatt an die Brüste gefaßt, das zurückweichende Mädchen eine Zeitlang um den Werkstattisch herum verfolgt und auf deren mehrfach geäußerte Bitte, es in Frieden zu lassen, mit der Bemerkung, er werde später wiederkommen, verlassen. Kurz nachdem die Zeugin daraufhin, in Vorahnung dessen, daß der Angekl. wieder mit ihr verkehren wolle, ein Verhütungsmittel bei sich eingeführt hatte, stieg sie auf Veran-

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Gewalt, weil auf Grund des Verhaltens des Angeklagten bei dem Mädchen kein körperlich wirkender Zwang hervorgerufen worden sei.332 Das Einschließen sei nicht von längerer Dauer gewesen und das Mädchen habe nicht damit rechnen müssen, dass der körperlich überlegene Angeklagte ihren entgegenstehenden Willen mit körperlicher Gewalt brechen würde. Des Weiteren hätte sie um Hilfe rufen und eventuell über die Ladefläche das Fahrzeug verlassen können, so dass die Zeugin im Ergebnis dem sexuellen Ansinnen wohl eher auf Grund der bestehenden Abhängigkeit zu ihrem Ausbilder nachgegeben habe.333 Immerhin weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass dem Verhalten des Täters eventuell eine konkludente Drohung zu entnehmen sei.334 Darüber hinaus ist das Verhalten des Täters aber bereits als Gewalt zu qualifizieren. Der Umstand, dass das Mädchen eventuell über die Ladefläche hätte entkommen können,335 ändert nichts an der zu bejahenden gegenwärtigen körperlichen Zwangswirkung.336 Denn Gewalt im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB muss nicht unwiderstehlich sein,337 so dass es irrelevant ist, ob das Opfer durch Widerstand oder Flucht, also bei Anwendung größtmöglicher Aufmerksamkeit einen Ausweg aus der Nötigungslage gefunden hätte.338 In der konkreten beengten Situation des Kastenwagens fühlte sich das Opfer dem Angeklagten körperlich ausgeliefert. Es rechnete darüber hinaus auf Grund seiner drohenden Äußerung mit einer weitergehenden Gewaltanwendung, so dass der körperliche Zwang nachhaltig genug war.339 Der Verweis des Bundesgerichtshofs auf den Umstand, dass sich der Angeklagte in zwei vorhergehenden Fällen nicht nachweisbar gewaltsam verhalten hätte, unterstellt fälschlicherweise, dass sich das Mädchen nur auf Grund ihrer Abhängigkeit dem Willen des lassung des Angeklagten in dessen Lieferwagen, (. . .) der nur vorn für Fahrer und Beifahrer Sitze, hinten dagegen eine Ladefläche hatte, um mit ihm zu einer Baustelle zu fahren. Der Angeklagte führte das Fahrzeug (. . .) dann in einen von der Straße aus nicht einsehbaren Waldweg hinein und stellte es dort so ab, daß die Zeugin die Beifahrertür nicht öffnen konnte. Die anschließenden Versuche des Angeklagten, die Zeugin zu küssen und sie an den Brüsten anzufassen, konnte das Mädchen durch Wegdrehen des Oberkörpers und Bewegungen mit den Händen abwehren. Als der Angeklagte ihr sagte, es sei sinnlos, sich weiter zu wehren, er sei ohnehin stärker und aus dem Auto komme sie auch nicht heraus, entkleidete sie auf sein Verlangen ihren Unterkörper. Nachdem sie sich geweigert hatte, in einer bestimmten Stellung mit ihm zu verkehren, forderte er sie in barschem Ton auf, sich nach hinten auf die Ladefläche des Wagens zu begeben.“ Dort führte er den Geschlechtsverkehr aus. 332 BGH NJW 1981, S. 2205 f. 333 BGH NJW 1981, S. 2206. 334 Der Angeklagte sagte, „es sei sinnlos, sich weiter zu wehren, er sei ohnehin stärker und aus dem Auto komme sie auch nicht heraus“; vgl. BGH NJW 1981, S. 2205 f. 335 BGH NJW 1981, S. 2206. 336 Ebenso Wolter, NStZ 1985, S. 247. 337 BGH GA 1965, S. 58; BGH NStZ 1985, S. 71. 338 RGSt 13, 49, (51); BVerfG NStZ 1995, S. 277; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 45. 339 LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 6.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Angeklagten gebeugt hätte.340 Dies betrifft jedoch erst die – zu bejahende – Kausalität der Gewaltanwendung für den Geschlechtsverkehr.341 Der vom Angeklagten ausgehende Zwang wurde letztendlich als nicht massiv genug eingestuft, das Verhalten des Opfers war aus Sicht des Bundesgerichtshofs zu „kooperativ“. Es hatte keine weiteren – aus seiner Sicht sinnlosen – Widerstandshandlungen vorgenommen, auf die der Täter zur Durchsetzung seiner Ziele mit weiterer Gewalt reagieren musste.342 Der Opferperspektive,343 durch das Eingesperrtsein unter der körperlichen Kontrolle des Täters zu stehen, wurde keinerlei Beachtung geschenkt.344 Eine § 177 StGB bejahende Entscheidung aus dem Jahr 1988 verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Zwangswirkung.345 Hier wurde Gewalt bejaht, weil das Opfer bei Dunkelheit gegen ihren Willen an einen einsamen Ort verbracht wurde, sich zwei Männern gegenübersah und durch drohende Äußerungen unter Druck gesetzt wurde. Ausschlaggebend war jedoch wohl der Umstand, dass sich das Opfer gegen den Geschlechtsverkehr durch Wegdrücken des Täters zu wehren versucht und einen Fluchtversuch unternommen hatte. Erst aus der 340 BGH NJW 1981, S. 2206. Schroeder kritisiert ebenfalls die angeblichen vom BGH vorgetragenen „Besonderheiten“ des Falls und sieht das Tatbestandsmerkmal der Drohung als erfüllt an; vgl. Schroeder, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 490 f. 341 Ebenso Sick, 1993, S. 115. Der Kausalzusammenhang war hier gegeben, weil die Gewalt conditio sine qua non des versuchten bzw. vollendeten erzwungenen Geschlechtsverkehrs in seiner konkreten Gestalt war. Die Gewalt war eine Bedingung der erzwungenen sexuellen Handlungen. Ohne die Gewalthandlungen wäre es laut der Urteilsfeststellungen nicht zu den sexuellen Handlungen gekommen. 342 Ebenso Keller, JuS 1984, S. 114. 343 Hierbei ist nicht rein auf die subjektiven Empfindungen des konkreten Opfers abzustellen, sondern die Opferperspektive wird gewissermaßen objektiviert, indem gefragt wird, ob die konkrete Art der Gewalteinwirkung typischerweise dazu geeignet ist, es dem Opfer zu erschweren, dem Angriff auf das sexuelle Selbstbestimmungsrecht zu entkommen bzw. Widerstand zu leisten. Vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 39. 344 Auch in BGH NStZ 1991, S. 431 wurde das Versperren des Fluchtwegs nicht als Gewalt gewertet. S. die Kritik von Hörnle an BGH NStZ 1991, S. 431 und BGH NJW 1981, S. 2204 in LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 44. 345 Vgl. BGH, Urteil vom 26.05.1988 – 1 StR 111/88: „In diesem Sinn muß zwar das bloße Fahren an eine abgelegene Stelle, an der die Frau keine Hilfe erwarten kann, nicht ohne weiteres Gewaltanwendung im Sinne des § 177 StGB sein. Jedoch können die weiteren Umstände, insbesondere das vom Täter an den Tag gelegte Verhalten ergeben, daß die in § 177 StGB vorausgesetzte Zwangssituation bestand und von der Frau als solche empfunden wurde. Im vorliegenden Fall kann das Vorhandensein einer derartigen Zwangssituation nicht zweifelhaft sein. Nachdem der Angeklagte W. die Zeugin gegen ihren Willen an den Waldrand auf einen abgelegenen Feldweg gefahren hatte, wo sie dem Einfluß von zwei Männern ausgeliefert war, setzte er sie durch drohende und befehlsmäßige Äußerungen unter Druck. Bei der so geschaffenen Lage bedurfte es nur noch einer geringen körperlichen Kraftentfaltung, um die weinende Zeugin gefügig zu machen. Gleichwohl versuchte die Zeugin, den Angeklagten wegzudrücken, als er sie auf die Rückbank drückte und sich auf sie legte. Dem Angeklagten gelang es infolge seiner körperlichen Überlegenheit, den Widerstand der Zeugin zu brechen und dadurch den Geschlechtsverkehr zu erzwingen“.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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Zusammenschau dieser Faktoren ergab sich das Vorliegen einer Vergewaltigung. Verbaler Widerstand ohne Einsatz zusätzlicher Nötigungsmittel kann hingegen nicht genügen, wie eine Entscheidung aus dem Jahr 1991346 zeigt. Nach dem festgestellten Sachverhalt hatte der Angeklagte die sechzehnjährige Geschädigte nachts in seinem PKW als Anhalterin mitgenommen, um sie zu ihrem Freund zu bringen. Währenddessen fasste er den Entschluss, mit ihr sexuell zu verkehren. Auf seine Frage, was sie von Sex halte, erklärte das Mädchen, die nun Angst bekam: „Nicht viel.“ Trotzdem legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Sie schob diese weg. Dann fuhr er zu einem sehr einsam gelegenen Parkplatz und führte dort nun gegen den Willen der – wie er erkannt hatte – „total verängstigten“ Geschädigten sexuelle Handlungen und den Geschlechtsverkehr aus. Der Angeklagte wurde lediglich wegen Beleidigung, § 185 StGB, und Freiheitsberaubung, § 239 StGB, bestraft. Der Bundesgerichtshof nahm die Verurteilung wegen § 239 StGB nicht zum Anlass, über die Erfüllung des Nötigungsmittels der Gewalt im Sinne des § 177 StGB auch nur nachzudenken.347 Die Praxis, eine körperliche Zwangswirkung in dem Ausgeliefertsein durch Eingesperrt- oder Isoliertwerden nur dann anzunehmen, wenn zusätzlicher Nötigungsdruck vom Täter ausgeht, bestätigt sich hierdurch.348 Das Fehlen von tätlichem Widerstand wirkt sich auch in diesen Konstellationen nachteilig aus.349 Das „bloße Einschließen“ soll nicht ausreichen, „weitere Umstände“ müssen „das Einschließen zu einer Zwangssituation“ machen, die „als solche von dem Opfer empfunden wird“.350 Teilweise wird in der Literatur sogar vorgebracht, dass das Opfer unter Klaustrophobie leiden müsse, weil sonst kein besonderer Druck, der als vis compulsiva wirken könne, erzeugt werde,351 sowie dass eine Freiheitsberaubung ohne unmit-

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BGH NStZ 1992, S. 33. Vgl. auch BGHSt 22, 178, wobei § 177 StGB durch Gewalt überhaupt nicht erwogen wurde; außerdem BGH, Beschluss vom 19.02.2001 – 5 StR 15/01: Der Angeklagte hatte das junge Mädchen am Arm gepackt, sie in die Wohnung gezogen und die Wohnungstür abgeschlossen. Das sechzehnjährige Mädchen, das bereits zwei Jahre zuvor vom Angeklagten vergewaltigt worden war, wehrte sich aus Angst gegen den Geschlechtsverkehr nicht. Weder das Landgericht noch der BGH erwogen Gewalt durch die Freiheitsberaubung in Form des Einsperrens. Ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 05.07.1985 – 1 Ss 62/84; vgl. dazu die Analyse von Frommel, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 121 ff. 348 s. auch BGH, Urteil vom 26.05.1988 – 1 StR 111/88. 349 Vgl. auch BGH NStZ 1990, S. 335 und BGH NStZ 1995, S. 229. Erst seit dem 33. StÄG kann eventuell § 177 I Nr. 3 StGB eingreifen. 350 Folkers, NJW 2000, S. 3317. Dazu BGH, Beschluss vom 26.10.2010 – 4 StR 397/10: „Das Einschließen des Opfers in einem umschlossenen Raum in der Absicht, es am Verlassen des Raumes zu hindern, um auf diese Weise die Vornahme sexueller Handlungen zu ermöglichen, stellt sich indes als Gewaltanwendung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB dar.“ Zusätzlich erfolgten jedoch die Bedrohung mit einem Messer und Schläge. 351 Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 10. 347

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

telbare körperliche Einwirkung niemals Gewalt sein könne.352 Diese hohen Anforderungen beruhen auf der Skepsis, ob ein Opfer durch Täteraktivitäten, die noch keine körperlichen Schmerzen erzeugen, zu einem Eingriff in das mit hoher Wertigkeit versehene sexuelle Selbstbestimmungsrecht gezwungen werden kann. Als Ergebnis muss jedoch festgehalten werden, dass das Verbringen des Opfers an einen abgelegenen Ort, so dass das Opfer in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und dem Täter ausgeliefert ist,353 ebenso wie mittelbare Gewalt durch Einsperren bzw. Freiheitsberaubungen anderer Art in der Regel Gewalt im Sinne des § 177 StGB darstellen.354 In derartigen Konstellationen haben die vorgenommenen Einwirkungen auf den Körper des Opfers in der Regel eine „motivierende Kraft“ 355 im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB. Allerdings bleibt nach der herrschenden Meinung stets die Einschränkung, dass der Täter auch mit der notwendigen finalen Intention gehandelt haben muss.356 d) Gewalt gegen Dritte – Dreiecksnötigung Bewirkt die Gewaltanwendung gegen eine dritte Person zugleich eine körperliche Zwangswirkung beim Opfer, so ist unproblematisch und unstrittig tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 StGB gegeben.357 Strittig ist, ob es ausreicht, wenn Gewalt gegen eine dem Nötigungsopfer (nahestehende) dritte Person bzw. gegen eine schutzbereite dritte Person ausgeübt wird, die Gewaltanwendung also nur mittelbar auf das Opfer des sexuellen Angriffs wirkt.358 In der Literatur wird aus dem Wortlaut „an sich“ des § 177 I Nr. 1 StGB n. F. gefolgert, dass zwischen der genötigten Person und dem Opfer des sexuellen Angriffs Personenidentität vorliegen müsse.359 Dieser Auslegung ist zuzustimmen, weil die sexuelle Handlung unter Nötigungsdruck zustande gekommen sein muss. Abzulehnen ist jedoch der daraus gezogene Schluss, dass dieser Umstand generell eine Nötigung des Opfers durch Gewalt gegen Dritte ausschließe.360 Nach herrschender Mei352 Röthlein, 1986, S. 222; Gewalt ist nach ihrer Ansicht nur bei der Fesselung des Opfers gegeben. 353 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 25. 354 Ebenso Keller, JuS 1984, S. 115; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 44; SKWolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 10. 355 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 45. 356 Zur Ansicht der Rechtsprechung, dass Gewalt ausscheidet, wenn der Täter den Raum abschließt, um ungestört zu sein, s. C.II.3. 357 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 12; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5a. Vgl. BGH, Urteil vom 11.04.1961 – 1 StR 65/61 (Schüsse auf Fahrer eines Motorrads stellen zugleich Gewalt gegenüber dem Beifahrer dar). 358 In beiden Fällen Gewalt bejahend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 51 f. 359 So vertreten von Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 10; LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 8; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 28; Sch/ Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5a; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 12.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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nung wird gefordert, den Tatbestand des § 177 I Nr. 1 StGB folgendermaßen zu lesen: „Wer eine andere Person mit Gewalt gegen eine Person nötigt, sexuelle Handlungen (. . .) an sich zu dulden oder (. . .) vorzunehmen“. Wird beispielsweise ein Mann durch Misshandlung des eigenen Kindes dazu gebracht, sexuelle Handlungen an sich zu dulden oder vorzunehmen, so wird im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB eine andere Person mit Gewalt gegen eine Person, dem Kind, genötigt, sexuelle Handlungen an sich zu dulden bzw. vorzunehmen. Die Misshandlung des Kindes ist unmittelbare Gewalt, die auf das Nötigungsopfer, das Opfer des sexuellen Angriffs, mittelbar eine relevante Zwangswirkung erzeugt. Diese Zwangswirkung stellt sich für das Opfer des sexuellen Ansinnens als eine gegenwärtige Übelszufügung dar, wobei es auch einer „schlichten Erfahrungsregel“ 361 entspricht, dass es dadurch gegen seinen Willen zu Handlungen genötigt werden kann. Dies allein kann jedoch noch nicht genügen. Die Zwangswirkung muss sich darüber hinaus auch körperlich beim Nötigungsopfer selbst auswirken, ansonsten wird dieses nicht „mit Gewalt“, konkret mit vis compulsiva, genötigt.362 Argumentiert man mit dem Vokabular der Rechtsprechung, wie beispielsweise in BGHSt 23, 126 geschehen, so stünde der Annahme von Gewalt nichts entgegen.363 Die Wahrnehmung der Misshandlung einer Person – sei diese nahestehend oder nicht – versetzt das Nötigungsopfer wohl regelmäßig in eine starke psychische Erregung und wirkt somit unmittelbar auf die Sinne ein. Oftmals wird sich dieser Zustand auch unmittelbar durch Symptome wie Übelkeit und ähnliches körperlich bemerkbar machen, in der Regel wird jedoch die Psyche des Wahrnehmenden primär (erheblich) beeinträchtigt. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Konstellation existiert nicht. Tatbestandsmäßige Gewalt muss aber letztlich abgelehnt werden, weil entsprechend den Anforderungen aus BVerfGE 92, 1 eine körperliche Zwangswirkung unabdingbar ist und diese beim Nötigungsopfer in der Regel nicht eintritt. Psychischer Zwang kann zwar ebenso stark wie körperlicher Zwang wirken, im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der Gewalt ist dieser jedoch nicht ausreichend. Werden dem Opfer (nahestehende) Personen mit Gewalt misshandelt, so unterfallen diese Konstellationen damit in der Regel einer konkludenten Drohung im Rahmen einer Dreiecksnötigung.364 360 So vertreten von SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 12. Er lehnt darüber hinaus eine Dreiecksnötigung durch Drohung ab, wenn die gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben sich nicht auch gegen das Nötigungsopfer richtet. 361 Paeffgen, in: FS Grünwald, 1999, S. 447 f. 362 Ebenso Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 9, 12; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 28 f.; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5a; SKWolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 12. 363 BGHSt 23, 126, (127 f.): Bedrohung einer Person mit einer geladenen und entsicherten Schusswaffe aus unmittelbarer Nähe: „unmittelbarer körperlichen Zwang“, weil der Täter dadurch „auf die Sinne des Vergewaltigten“ einwirke und „ihn hierdurch in einen Zustand starker seelischer Erregung“ versetze. Ebenso BGHSt 19, 263, (265). 364 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 28; MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 46. s. dazu gleich.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Der Drohungsinhalt lautet: „Ich misshandle dein Kind solange weiter, bis du dich meinem Ansinnen fügst.“ Die gegenteilige Ansicht, die in den Konstellationen der erzwungenen Wahrnehmung von Gewalt vis compulsiva als gegeben ansieht,365 verzichtet auf das Kriterium der körperlichen Zwangswirkung beim Nötigungsopfer. Allein der Umstand, dass die Übelszufügung gegenwärtig ist, soll hier für das Vorliegen von Gewalt sprechen.366 Dies ist jedoch zu kurz gegriffen. Vis compulsiva ist nur deshalb eine anerkannte Gewaltform, weil sie ihre Wirkung nicht allein über die Psyche, sondern auch über die Physis entfaltet. Entsprechend diesen Grundsätzen sind die Fälle der Ausschaltung schutzbereiter Personen zu behandeln,367 mit denen sich auch die Rechtsprechung beschäftigt hat.368 In einem Beschluss aus dem Jahr 1997369 stellte der Zweite Strafsenat fest, dass tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des §§ 177, 178 StGB a. F. gegeben ist, wenn der Täter gegen eine dritte Person, die ihm zum Schutz des Opfers vor dem sexuellen Angriff entgegentritt, Gewalt ausübt.370 Eine Identität von Gewaltadressat und Opfer der sexuellen Handlung erforderte § 178 StGB a. F., der dem Wortlaut des § 177 I Nr. 1 StGB n. F. entspricht, nach Ansicht des Bundesgerichtshof nicht.371 In der Begründung heißt es: „Auch in solchem Fall setzt der Täter, indem er Gewalt gegen den zur Verteidigung des Opfers eingreifenden Dritten anwendet, das Opfer selbst jener Zwangswirkung aus, die als Nötigung 365 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 51; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 3; Paeffgen, in: FS Grünwald, 1999, S. 447 f.; Sch/Sch-Lenckner, 25. Aufl. (1997), § 177 Rn. 4 zu § 177 StGB a. F. 366 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 51; Paeffgen, in: FS Grünwald, 1999, S. 447 f. 367 Dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 52. 368 Vgl. BGH, Urteil vom 11.04.1961 – 1 StR 65/61: Dort hatte einer der Angeklagten in der Absicht, den Fahrer außer Gefecht zu setzen und das hinter ihm sitzende Mädchen zu vergewaltigen, Schüsse auf einen Motorradfahrer abgegeben. Die Schüsse verfehlten ihr Ziel. Der BGH nahm u. a. eine Strafbarkeit wegen versuchter Notzucht an. Vgl. nachfolgend BGH, Urteil vom 28.06.1966 – 5 StR 266/66 und BGH, Urteil vom 20.08.1975 – 2 StR 327/75: Unter Verweis auf das Urteil des BGH vom 11.04. 1961 wird ausgeführt, dass der Versuch einer Notzucht bereits „in einem tätlichen Angriff auf den männlichen Beschützer einer Frau liegen kann“ bzw. dass „durch den Angriff auf den Begleiter und Beschützer des Opfers der Angeklagte schon die Ausführung des Sittlichkeitsverbrechens“ begann. 369 BGHSt 42, 378. 370 BGHSt 42, 378, (379): Im zugrunde liegenden Fall hatte der Angeklagte die Stieftochter seiner Ehefrau anal vergewaltigt. Als diese ihrem Kind helfen wollte, weil das Kind vor Schmerzen laut aufschrie, setzte er sie mit mindestens einem Faustschlag außer Gefecht. Zustimmend Gössel, 2005, § 2 Rn. 23; Laubenthal, 2000, Rn. 122; LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 52; Sch/Sch-Lenckner, 25. Aufl. (1997), § 178 Rn. 3 i.V. m. § 177 Rn. 4 zu §§ 177 und 178 StGB a. F. 371 BGHSt 42, 378, (379). Ebenso LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 3 und Sch/Sch-Lenckner, 25. Aufl. (1997), § 177 Rn. 4 zu § 177 StGB a. F.

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den Tatbestand des Strafgesetzes erfüllt. Die Gegenauffassung würde den strafrechtlichen Schutz des von sexuellen Angriffen bedrohten Opfers sinnwidrig verkürzen, ohne daß dies vom Wortlaut des Gesetzes geboten wäre.“ Gemäß dem Bundesgerichtshof macht es keinen Unterschied, „ob der Täter unter Gewaltanwendung dem Opfer etwa einen von ihm selbst zur Verteidigung gebrauchten Gegenstand (etwa eine Waffe) entwindet oder ob er gewaltsam das Hindernis ausräumt, das sich ihm in der Person eines zum Schutz des Opfers eingreifenden“ 372 Dritten373 entgegenstellt. Unter unzutreffendem Verweis auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.04.1961374 führt er weiter aus, dass dies im Tatbestand der Vergewaltigung gängige Rechtsprechung sei.375 Der Entscheidung ist nur im Ergebnis, aber nicht in der Begründung zuzustimmen.376 Das im Ausgangsfall zehnjährige Kind, das seine Mutter als Schutzperson ansieht, wird zwar eines Schutzmittels beraubt, so dass sich die „körperlichen Handlungsalternativen“ 377 nun als absolut vermindert darstellen. Das Mädchen wurde dadurch jedoch nicht mit Gewalt, sondern vielmehr durch eine konkludente Drohung genötigt, die Fortsetzung des Analverkehrs zu dulden.378 Der kräftige Faustschlag in das Gesicht der Mutter bringt gegenüber der Stieftochter schlüssig zum Ausdruck, dass ihr dasselbe passiert, falls sie sich wehrt.379 Zu einem anderen Ergebnis kann man nur mit der Ansicht Hörnles gelangen, dass es auf Grund des Wortlauts „mit Gewalt“ ausreiche, wenn die Gewalt in einem bloß „additiven Verhältnis zu den nicht von einem Einverständnis gedeckten sexuellen Handlungen steht“.380 Nötigen im Sinne des § 177 StGB verlangt jedoch, eine andere Person „gegen ihren Willen zu einem Handeln, Tun oder Unterlassen zu bestimmen“.381 Das „Aufzwingen“ 382 der sexuellen Handlung muss „mit Gewalt“ durchgeführt werden, so dass beim Nötigungsopfer die körperliche Zwangswirkung auch spürbar sein muss. 372

BGHSt 42, 378, (379). Bei der schutzbereiten Person muss es sich keinesfalls um eine nahestehende Person handeln, solange diese „die Schutzfunktion tatsächlich ausübt“; vgl. BGHSt 42, 378, (380). 374 BGH, Urteil vom 11.04.1961 – 1 StR 65/61. 375 BGHSt 42, 378, (379 f.). In den maßgeblichen Entscheidungen wurde jedoch gerade nicht festgestellt, dass tatbestandsmäßige Gewalt vorliegt, wenn eine schutzbereite Person außer Gefecht gesetzt wird. Vielmehr wurde jeweils entschieden, dass der Eintritt in das Versuchsstadium der Vergewaltigung bereits durch die Angriffshandlung gegen den Beschützer bzw. Begleiter des Opfers erfolgt war. 376 Ebenso kritisch Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 11 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 28. 377 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 41. 378 Wobei man stets sorgfältig prüfen sollte, ob der Beginn des Analverkehrs nicht schon mit Nötigungsmitteln erzwungen wurde. 379 Vgl. BGHSt 41, 123 für eine derartige Konstellation im Rahmen einer räuberischen Erpressung. 380 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 52. 381 BVerfG NJW 2004, S. 3768 f. 382 BVerfG NJW 2004, S. 3770. 373

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Im Tatbestand des Raubes dagegen genügt Gewalt auch gegenüber einer Person, die nicht den Gewahrsam innehat, aber zumindest in der Vorstellung des Täters potentiell schutzbereit gegenüber dem betroffenen Gewahrsam ist. Bewirken Schläge die „Ausschaltung“ dieser Person, dann wurde in der Vorstellung des Täters die Duldung der Wegnahme mit Gewalt bewirkt.383 Der Umstand, dass der Gewahrsamsinhaber selbst nicht zwingend das Opfer der Gewalt werden muss, liegt darin begründet, dass der Gewahrsam ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis darstellt, dessen Bruch nicht die Gegenwart des Gewahrsamsinhabers erfordert. Diese tatbestandliche Struktur spiegelt sich im Wortlaut wider. Die Frage der Gewalt gegen Dritte ist im Tatbestand des Raubes demnach die Frage nach dem (zumindest in subjektiver Hinsicht vorliegenden) Finalzusammenhang, so dass das Nötigungsopfer und diejenige Person, die den Gewahrsamsbruch (in der Vorstellung des Täters) hindern will, personenidentisch sein müssen. Die Einstufung dieser Konstellation als Gewalt gegen Dritte ist somit irreführend, weil der Schutzbereite gerade kein Dritter im Sinne des Tatbestands ist, sondern das Angriffsobjekt der Gewalt (Beispiel: Der Täter schlägt einen Mann, der das verschlossene Auto des X gegen eine Wegnahme schützt). Ist der Gewaltadressat dagegen nicht schutzbereit, wie beispielsweise ein Bankkunde bei einem Banküberfall, so wird die Wegnahme nicht mit Gewalt durchgeführt, weil der Kassierer (der Gewahrsamsinhaber) nur unter dem Eindruck der Schläge gegenüber einem Dritten, also psychisch bedingt, die Wegnahme duldet. Hier liegt eine Drohung in einer Dreieckskonstellation vor.384 Der Vergleich mit dem Tatbestand des Raubes verdeutlicht, warum in § 177 I Nr. 1 StGB Gewalt gegen eine schutzbereite Person nicht genügen kann: Der Nötigungserfolg, die sexuelle Handlung, ist unlösbar mit der Person, die Opfer des sexuellen Angriffs wird, verbunden. Diese Auslegung ist nicht dem Wortlaut geschuldet, nachdem in § 177 I Nr. 1 StGB ebenso wie beim Raub die Nötigung einer anderen Person zu einer sexuellen Handlung mit Gewalt gegen eine Person verlangt wird. Im Gegensatz zum Gewahrsam kann jedoch die sexuelle Integrität nicht in Abwesenheit ihres Trägers verletzt werden. Im Unterschied zur Konstellation des Raubes bildet die schutzbereite Person nicht die alleinige Schutzbarriere zwischen dem Täter und dem Nötigungserfolg. Das unmittelbare Hindernis ist vielmehr das Opfer der sexuellen Handlung selbst. Dieses allein kann sexuelles Angriffsobjekt im Sinne des Tatbestands sein. Die Frage, ob sich Gewalt gegenüber einer schutzbereiten Person, die in der Tatsituation den Eintritt des Nötigungserfolgs beim Opfer desselben hindern will, auch beim Nötigungsopfer körperlich auswirken muss, muss auf Grund des 383 Zur Anwendung von Nötigungsmitteln gegenüber einer schutzbereiten Person beim Raub vgl. LK-Vogel, 12. Aufl. (2008), § 249 Rn. 21 ff.; NK-Kindhäuser, 3. Aufl. (2010), § 249 Rn. 16; Sch/Sch-Eser/Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 7. 384 Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 17.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

247

Wortlauts und der Struktur des § 177 I Nr. 1 StGB deshalb mit „Ja“ beantwortet werden. Wird nur eine dritte Person, mag sie auch schutzbereit sein, Opfer von Gewalt, so ist die Nötigung des Sexualopfers nicht mit Gewalt erfolgt. Es steht allerdings stets, wie oben gezeigt, eine konkludente Drohung im Raum. e) Die sogenannte Gewalt gegen Sachen Der „eingebürgerte“ 385 Terminus der Gewalt gegen Sachen ist irreführend und „unbrauchbar“.386 Dieser verlangt weder eine „Substanzverletzung“ noch eine „Zwangswirkung“ bei einer Sache, vielmehr geht es um Konstellationen, in denen Gewalt gegen eine Person verübt wird, und zwar mittelbar „durch die Einwirkung“ auf Sachen.387 Die „Wirkung“ 388 derartiger Handlungen auf das Opfer ist daher maßgeblich. Eine Gewalthandlung, die sich ausschließlich gegen Sachen richtet, kann nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur zu Recht im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB nicht genügen. Nur dann, wenn sich die Einwirkung auf eine Sache auch körperlich spürbar auf das Opfer auswirkt, wird mit Gewalt genötigt.389 Das im Rahmen des § 240 StGB oft zitierte Beispiel des „sachgewaltlose(n) Aushängen(s) von Fenstern im Winter“ 390 kann demnach auch in § 177 I Nr. 1 StGB zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt führen, solange das Opfer dadurch spürbar körperlich betroffen wird.391 Nachdem Gewalt „nicht unwiderstehlich“ sein muss, kann dieses Verhalten durchaus als „motivierende Kraft“ beim Opfer im Hinblick auf das vom Täter angestrebte Nötigungsziel wirken.392 Die Zerstörung von Sachen in Gegenwart des Opfers unter „aggressiv-dynamischem Vorgehen mit Krafteinsatz“,393 jedoch ohne körperliche Zwangswirkung beim Opfer, stellt damit keine im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB tatbestandsmäßige Gewalt dar.394 Es wird in diesen Konstellationen

385

LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 49. Sinn, 2000, S. 211. 387 So zutreffend LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 49; MüKo-Gropp/ Sinn, 2003, § 240 Rn. 62. 388 MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 62. 389 BGH NStZ 2005, S. 35; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 9; Gössel, 2005, § 2 Rn. 21; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 29; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5a; Wolter, NStZ 1985, S. 249. A. A. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53. 390 Wolter, NStZ 1985, S. 249; vgl. RGSt 7, 269; RGSt 9, 59. 391 Wolter, NStZ 1985, S. 249. Ablehnend Levy, 1932, S. 21, der diese Konstellation verkennt. 392 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 45. 393 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53. 394 Anders Hörnle, die hierbei Gewalt i. S. d. § 177 I Nr. 1 StGB bejaht. Vgl. LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53 i.V. m. 37. 386

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

aber in der Regel eine konkludente Drohung mit körperlichen Misshandlungen gegeben sein.395 In einem Beschluss vom 22.06.2006 nahm der Bundesgerichtshof zur Konstellation der Gewalt gegen Sachen Stellung.396 Der Bundesgerichtshof bezweifelte, „ob es sich bei der von dem Angekl. benutzten Schere um einen Gegenstand handelt, der nach seiner Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen“, obwohl die Schere derart scharf war, dass sie Kleidung und Slip aufschneiden konnte und daher als gefährliches Werkzeug durchaus in Betracht kam. Außerdem verneinte er das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals „Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs bei der Tat“.397 Nach Ansicht des Senats zielte vorliegend „die Gewaltanwendung nicht gegen das Opfer selbst, sondern gegen Sachen, was nur dann ausreicht, wenn die gegen die Sachen gerichtete Gewalt eine unmittelbare körperliche Zwangswirkung auch auf das Opfer selbst ausübt. Dazu verhält sich das Urteil nicht.“ 398 Der Senat mag von der Intention geleitet worden sein, dem hohen Mindeststrafmaß des § 177 IV Nr. 1 StGB zu entgehen, seine Ausführungen können jedoch nicht überzeugen. Der Täter hat die Schere bei der Tat, der versuchten Vergewaltigung, als Gewaltmittel verwendet. Eine körperliche Zwangswirkung ist hier eindeutig gegeben, indem der Täter die Kleidung aufschnitt. Das Opfer wurde durch den Einsatz des gefährlichen Werkzeugs in unmittelbarer Nähe zu ihrem Körper in ihrem körperlichen Bewegungsraum stark eingeschränkt und außerdem verletzt. Es bestehen keine Zweifel an dem Vorliegen des Qualifikationsmerkmals des § 177 IV Nr. 1 StGB.399 Des Weiteren ist ein Verwenden ebenfalls in einer konkludenten Drohung auf Grund des Messereinsatzes zu sehen, wobei der Bundesgerichtshof hierbei den Vorsatz des alkoholisierten Täters stark bezweifelt.400

395

Ebenso für den Tatbestand des Raubes LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 4. BGH NStZ 2005, S. 35: „Nach den Feststellungen wollte der Angekl. mit der Zeugin H gegen deren Willen geschlechtlich verkehren. Er riss der sich energisch wehrenden Frau gewaltsam die Kleider vom Leib und schlug ihr, um ihren Widerstand zu brechen, mehrfach heftig ins Gesicht. Wegen der anhaltenden Gegenwehr in Wut geraten, ergriff er eine Schere und schnitt ihre restliche Kleidung, u. a. ihren Slip auf. Dabei fügte er ihr – möglicherweise ungewollt – 3 etwa 5 mm große Verletzungen zu. Schließlich gelang es der Zeugin, sich dem Zugriff des Angekl. zu entziehen, indem sie sich in das Badezimmer flüchtete und die Tür verschloss. Nach einiger Zeit konnte sie eine Passantin auf sich aufmerksam machen und dazu veranlassen, die Polizei herbeizurufen.“ 397 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 294: Setzt der Täter ein Messer o. ä. „zu anderen Zwecken als einer expliziten Bedrohung“ ein, „kommt es darauf an, ob damit eine Gewaltanwendung oder eine konkludente Drohung verbunden ist.“ 398 Jeweils BGH NStZ 2005, S. 35. 399 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 294. 400 BGH NStZ 2005, S. 35. 396

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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3. Mit Gewalt nötigen – Ernstlicher Widerstand oder vis haud ingrata? Die im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB tatbestandsmäßige Gewalt muss – ebenso wie beim Raub – stets „Mittel zur Überwindung von Widerstand sein“.401 Widerstand von Seiten des Opfers wird deshalb sowohl im objektiven als auch im subjektiven402 Tatbestand eine große Relevanz beigemessen. Nach ständiger Rechtsprechung reicht es – ebenso wie beim Raub – aus, wenn nach der Vorstellung des Täters die Gewaltanwendung bzw. die Drohung erwarteten Widerstand von Anfang an unterbinden soll. Eine tatsächliche Widerstandsleistung wird damit – zumindest nach ständiger Definition in Rechtsprechung und Lehre – nicht verlangt.403 Dessen ungeachtet hat die Rechtsprechung – wie auch die bisherige Darstellung zeigt – in zahlreichen Entscheidungen deutlich gemacht, dass das Tatbestandsmerkmal der Gewalt von einem Mindestmaß an (körperlichem) Widerstand beim Opfer abhängt.404 Die Relevanz eines körperlichen Widerstands von Seiten des Opfers entspricht dem tradierten juristischen Verständnis von einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung. In der älteren Rechtsprechung wird geleisteter Widerstand nicht nur als Beweisanzeichen, sondern explizit als begriffskonstituierendes Element des Gewaltmerkmals behandelt.405 Auch die ältere Literatur betont, dass die Erzwingung des Geschlechtsverkehrs unter Anwendung von Gewalt eines tatsächlichen „körperlichen Widerstands“ bedürfe, bei dessen Fehlen schon der objektive Tat401 St. Rspr.; zuletzt BGH NStZ 2012, S. 34. Vgl. auch Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 6. 402 Vgl. BGH, Beschluss vom 29.01.1985 – 4 StR 792/84: „Daß das fehlende Einverständnis von Frau W. für den Angeklagten erkennbar war, besagt noch nichts darüber, ob er die Ernsthaftigkeit des Widerstandes auch erkannt hat und ob er diesen Widerstand mit Gewalt brechen wollte.“ Ausführlich dazu unter D. 403 Vgl. BGH NStE Nr. 13 zu § 177 StGB und die Nachweise oben in Fn. 254 sowie Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 13. Des Weiteren reicht es nach Ansicht des BGH aus, wenn der erwartete Widerstand erst nach Hilferufen von anderen ausgeübt worden wäre; vgl. BGH NStZ 1992, S. 433; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 57. 404 Ebenso BT-Drs. 12/3303, S. 7; Mildenberger, 1998, S. 72; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24. Vgl. BGH GA 1956, S. 317; BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71; BGH GA 1977, S. 144; BGH NJW 1981, S. 2204; BGH NStZ 1985, S. 70; BGH, Urteil vom 18.09.1986 – 4 StR 432/86; BGH StV 1987, S. 516; BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87; BGH, Urteil vom 26.05.1988 – 1 StR 111/88; BGH NStZ 1990, S. 335; BGH NStZ 1992, S. 33; BGH NStZ 1995, S. 229; BGH NStZ 1997, S. 120 Nr. 11; BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH, Beschluss vom 13.09.2001 – 4 StR 309/01; BGH NStZ 2002, S. 494; BGH NStZ-RR 2003, S. 42; BGH, Beschluss vom 26.11.2008 – 5 StR 506/08. 405 Ebenso Sick, 1993, S. 117 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24 lässt diese Frage offen: „mag hier dahinstehen“. Vgl. BGH GA 1956, S. 317; BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71; BGH NStZ 1985, S. 70; zumindest missverständlich BGH NStZ-RR 2003, S. 42.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

bestand der §§ 176 Nr. 1, 177 StGB entfalle.406 Die Beschreibung des Widerstands als ein körperlicher macht deutlich, dass nicht jede Art von Widerstand genügt. Die generelle und zeitlose Erwartung an das Opfer eines sexuellen Angriffs lautet vielmehr: aktiver körperlicher Widerstand. Erst dadurch wird es zum „idealen“ Opfer.407 „Man verlangt von einer Frau, dass sie sich gegen dieses Unrecht wehrt, dass sie um Hilfe ruft, dass sie körperlich Widerstand leistet.“ 408 Eine Entscheidung aus dem Jahr 1971 belegt diesen Anspruch. Das Landgericht hatte den Angeklagten frei gesprochen, weil nach seiner Auffassung das Opfer „um ihren Widerstand gegen den Geschlechtsverkehr deutlich zu machen, so laut hätte schreien und gegen die Wand schlagen müssen, daß die im Nebenzimmer schlafende Ehefrau des Angeklagten aufgewacht wäre, auch wenn diese im ersten Schlaf lag oder betrunken war.“ 409 Der Erste Strafsenat rügt diese Ansicht, weil die tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 StGB nicht verlange, „daß dem Täter jeder nur erdenkliche Widerstand geleistet wird; es genügt vielmehr, wenn der geleistete Widerstand dem Täter deutlich macht, daß er nur über ihn hinweg zu seinem Ziel gelangen kann“.410 Den Ausführungen des Landgerichts, die sehr an die äußerst restriktive Handhabung des Vergewaltigungsdelikts im 18. und 19. Jahrhundert erinnern,411 wird vom Bundesgerichtshof deutlich entgegengetreten. Gleichzeitig wird jedoch festgeschrieben, dass körperlicher Widerstand für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt konstituierend ist. Dieser muss so beschaffen sein, dass er für den Täter zumindest kurzfristig ein deutliches Hindernis bereitet, den dieser überwinden muss. Verbaler Widerstand kann dieser Anforderung in der Regel nicht genügen.412 So hatte der Bundesgerichtshof schon in einem Urteil von 1955413 ausgeführt: „Wenn eine Frau dem Verlangen eines Mannes nach Geschlechtsverkehr lediglich mit Worten, sei es auch ,eindeutig‘, widerspricht, sich aber gegen dieses Ansinnen nicht außerdem körperlich wehrt, so wird der Mann in aller Regel annehmen und annehmen dürfen, daß sie trotz des geäußerten Widerspruchs mit seinem Vorhaben letzten Endes einverstanden ist.“ 414 Der dahinter stehende Gedanke lautet: Sagt die Frau nur „Nein“ oder wehrt sie sich nicht „ernstlich“, meint sie in Wirklichkeit „Ja“. Und damit ist die nächste Qualitätsanforderung an die Widerstandsleistung genannt. Körperlicher 406

Maurach, GA 1956, S. 309. Abel, 1986, S. 326; dies bestätigt auch deren Urteilsanalyse. 408 Mueller, 2. Aufl. (1975), S. 1100. 409 BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71. 410 BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71; ebenso BGH, Urteil vom 06.03. 1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 11.08.1970 – 1 StR 224/70. 411 s. Zweiter Teil: A.III. 412 Zustimmend Röthlein, 1986, S. 223. 413 BGH, Urteil vom 13.10.1955 – 1 StR 359/55 = BGH GA 1956, S. 317. 414 Eine Strafbarkeit wegen Beleidigung und Körperverletzung schied ebenfalls aus, weil der Täter von einer Einwilligung in die damit verbundene Ehr- oder Körperverletzung ausgehen durfte; vgl. BGH GA 1956, S. 317. 407

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

251

Widerstand allein genügt nicht, der Widerstand des Opfers muss vielmehr ein „ernstlicher“ sein.415 Die Vorstellung von einem Widerstand, der nicht ernst gemeint ist, beruht auf dem antiquierten und unzutreffenden Konstrukt der sogenannten vis haud ingrata.416 Ernsthafter Widerstand muss hiernach stets „von dem nur ,schamhaften Sträuben‘ einer Frau, die den zum Geschlechtsverkehr drängenden Mann unter dem äußeren Widerstreben die innere, nur durch das natürliche weibliche Schamgefühl verdeckte Bereitschaft zur Hingabe erkennen oder erspüren lässt“, unterschieden werden.417 Die herrschende Meinung zu § 177 StGB a. F. vertrat, wie schon zu Zeiten des Reichsstrafgesetzbuchs, die Ansicht, dass eine vis haud ingrata bereits den Ausschluss des objektiven Tatbestands herbeiführe.418 Denn „nicht ernstlich gemeintes Sträuben (sogenannte vis haud ingrata) schließt Gewalt aus“.419 Auch zu § 177 StGB n. F. wird diese Auffassung noch vertreten. So führt Kühl in der 27. Auflage der Kommentierung zum StGB aus: „Auch ,nicht unwillkommene‘ Gewalt (vis haud ingrata) ist nicht tatbestandsmäßig, wenn das Opfer den erforderlichen inneren Widerstandswillen nicht hat, die Zwangsausübung vielmehr als Bestandteil der sexuellen Handlung bejaht.“ 420 Darin zeigt sich die beharrliche Ansicht, dass die vis haud ingrata einen festen Bestandteil der sexuellen Interaktion darstellt, aber keinesfalls tatbestandsmäßige Gewalt. Der Part der Frau besteht darin, diese rein verführerische „sexuelle“ Gewalt als erotisierend zu empfinden und sich dagegen scheinbar zu sträuben.421 Geerds verdeutlicht diese Ansicht, indem er in Konstellationen der 415 BGH NStZ 1983, S. 71 („ernstgemeinten“); BGH, Beschluss vom 11.08.1989 – 2 StR 361/89 = BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB; BGH, Urteil vom 01.12.1992 – 1 StR 682/92 = BGH NStE Nr. 30 zu § 177 StGB; BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH NStZ 2002, S. 495; BGH, Urteil vom 02.09.2004 – 5 StR 242/04; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 8; Sch/SchLenckner/Perron/Eisele, 27. Aufl. (2006), § 177 Rn. 13; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 416 Zur vis haud ingrata s. bereits Zweiter Teil: B.II.1.b). Der BGH umschrieb den Begriff der vis haud ingrata stets und benannte ihn nur einmal explizit in BGH, Urteil vom 11.08.1970 – 1 StR 224/70: „die Gewaltanwendung sei nicht unwillkommen (vis haud ingrata)“. Aus der Literatur vgl. statt vieler Hanack, 1968, Rz. 54; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 285; Helmken, StV 1983, S. 83; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 17; Mezger, 1949, S. 58; Niethammer, 1950, S. 168; Paeffgen, in: FS Grünwald, 1999, S. 457 Fn. 96; Schroeder, 1975, S. 29. s. zur Einordnung der Konstruktion der vis haud ingrata Kratzer, KritV 2010, S. 87 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 25 ff. und Sick, 1993, S. 164 ff.; 189 ff. 417 So umschrieb der BGH die Situation der vis haud ingrata; vgl. BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56. 418 BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 11.08.1970 – 1 StR 224/70; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 8; LK-Mösl, 9. Aufl. (1974), § 176 Rn. 5. 419 LK-Mösl, 9. Aufl. (1974), § 176 Rn. 5. 420 Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3. 421 Ebenso Sick, 1993, S. 189.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

vis haud ingrata ein Einverständnis der Verletzten fingiert und dies als Beispiel für die tatbestandsausschließende Wirkung eines Einverständnisses anführt.422 Die Gewaltanwendung des Mannes wird erst dann zur Überwindung von (ernsthaftem) Widerstand geleistet und damit zu einer im Sinne des § 177 I StGB tatbestandsmäßigen Gewalt, wenn sich das weibliche Gegenüber mit körperlichem Einsatz dagegen wehrt, so dass der Mann dagegen mit (noch mehr) Gewalt vorgehen muss. Aus der Konstruktion der vis haud ingrata erklärt sich auch, warum selbst eindeutiges und heftiges Abwehrverhalten gegenüber dem Vorgehen des Täters in der älteren Rechtsprechung als bloßes Zieren eingestuft wurde.423 Der Einfluss des Konstrukts der vis haud ingrata zeigt sich in der neueren Rechtsprechung am Kriterium der „Ernstlichkeit des Widerstandswillens“.424 Auch heute gilt noch: Hat das Opfer „naheliegende Möglichkeiten, sich zu widersetzen, außer acht gelassen“ 425, wird dies als ein Indiz für mangelnde Ernstlichkeit behandelt. Fehlen erhebliche bzw. länger andauernde Gewalthandlungen des Täters und/oder Widerstandshandlungen des Opfers, wozu auch das Nichtergreifen von Fluchtmöglichkeiten sowie das Unterlassen von Hilferufen gezählt werden,426 so werden diese Umstände – wie auch bereits oben erörtert – oftmals als Indiz für mangelnde Gewaltanwendung gewertet427 oder der diesbezügliche Vorsatz des Täters verneint.428 Die Frage, ob die Gewalt des Täters motivierend im Sinne des Täterverlangens wirkte, wird somit insbesondere am Widerstand des Opfers bemessen.429 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2002430 hatte das Landgericht auf Grundlage der konstanten Aussagen der Zeugin und der von Ärzten bestätigten Verletzungen eine Vergewaltigung als erwiesen angesehen. Der Bundesgerichtshof kritisierte die Verurteilung, weil das Landgericht die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt habe.431 Er kritisierte, dass sich „die Zeugin ihre Verletzungen auch 422

Geerds, GA 1954, S. 265. Vgl. BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56: „Einmal steht mit den tatsächlichen Feststellungen nicht im Einklang, daß die Strafkammer den Widerstand des Mädchens nur als ein ,schamhaftes Sträuben‘ angesehen hat. Von dem Angeklagten auf das Bett gedrückt und dort in Rückenlage von ihm mit den Händen und dem ganzen Körpergewicht festgehalten, versuchte Elfriede Ha. alsbald, auch durch ,Strampeln mit den Beinen‘, sich aus seinen Griffen zu befreien“. Vgl. auch BGH, Urteil vom 05.09.1967 – 1 StR 333/67 mit ähnlich absurden Bewertungen der Erstinstanz. 424 LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 8. 425 BGH, Urteil vom 11.08.1970 – 1 StR 224/70; vgl. auch BT-Drs. 12/3303, S. 7. 426 BGHSt 7, 99, (100); BGH GA 1956, S. 317; BGH, Urteil vom 06.03.1956 – 1 StR 19/56; BGH, Urteil vom 20.02.1959 – 2 StR 18/59; BGH, Urteil vom 05.09.1967 – 1 StR 333/67; BGH NJW 1981, S. 2204; BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87; BGH NStZ 1990, S. 335; BGH NStZ 1995, S. 229; BGH NStZ 2002, S. 494. 427 s. dazu A.II.2. sowie u. a. BGH NStZ 1992, S. 33. 428 s. dazu D. 429 Vgl. nur BGH, Urteil vom 26.05.1988 – 1 StR 111/88. 430 BGH NStZ 2002, S. 494. 423

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bei dem vom Angekl. geschilderten Geschehensablauf zugezogen haben“ 432 könnte. Wie die Verletzungen bei einem Austausch von Küssen – wie sie der Angeklagte schilderte – zustande gekommen sein sollen, erschließt sich dem Leser allerdings nicht. Der Schwerpunkt der Beanstandung des Bundesgerichtshofs lag auf der Artikulation des entgegenstehenden Willens, weil dieser nicht detailreich genug geschildert worden sei. Dabei seien auch die psychischen Probleme der Zeugin nicht genügend berücksichtigt worden.433 Der Bundesgerichtshof führte aus, dass „die – wenig aussagekräftigen – Äußerungen der Frau ,sie wolle das nicht‘, vom Angeklagten nicht zwingend als ernst gemeinter Widerstand“ hätten verstanden werden müssen, „zumal zu deren Bestimmtheit, Intensität und Lautstärke keine näheren Feststellungen getroffen sind.“ Schließlich seien „die vom Angekl. ausgeübte Gewalt und der von der Zeugin ausgeübte Widerstand nicht heftig und nachhaltig“ gewesen.434 Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs hinsichtlich des Einsatzes von tatbestandsmäßiger Gewalt können nicht überzeugen. Die Zeugin hat dem Angeklagten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mit dem sexuellen Ansinnen nicht einverstanden war und sich auch gewehrt, was die Verletzungen belegen. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs reichte jedoch dieses Abwehrverhalten nicht aus, weil die Gewaltanwendung sich im unteren Bereich bewegte und der Widerstand nicht erheblich ausfiel. Ausschlaggebend schien wohl zu sein, dass sich die Zeugin „nur“ mit einem Nachthemd bekleidet neben ihren Freund in das Bett legte, der Boxershorts trug. Dieses Verhalten soll – im Jahre 2002435 – schon aus Sicht des Täters darauf hindeuten, dass ein „generelle(s) Einverständnis“ der Zeugin mit sexuellen Handlungen vorlag.436 Unabhängig von der ebenfalls betroffenen Vorsatzproblematik437 ver431 BGH NStZ 2002, S. 494: Der Angeklagte und das Opfer waren freundschaftlich verbunden, wobei es in der Vergangenheit einmal zum Geschlechtsverkehr gekommen war. In der Folgezeit hatte die Zeugin jegliche Intimkontakte abgelehnt. Am Tattag wollte der Angeklagte bei der Zeugin mit deren Einverständnis übernachten. „Nachdem sich beide über ihre jeweiligen Beziehungsprobleme – die Zeugin hatte psychische Probleme wegen der Trennung von ihrem damaligen Freund – unterhalten hatten, legte sich der Angekl. im Schlafzimmer in das ca. 1,40 m breite Bett, wobei er nur mit einer Boxershorts bekleidet war. Die lediglich mit einem hüftlangen Nachthemd bekleidete Zeugin legte sich neben ihn. Während die Zeugin auf Wunsch des Angekl. dessen Schläfen massierte, berührte der Angekl. die Frau am Gesäß. Obwohl sie mehrfach äußerte, ,dass sie das nicht wolle und der Angekl. dies sein lassen solle‘, drehte der Angekl. die Zeugin gegen ihren Willen unter Anwendung körperlicher Gewalt auf den Rücken und drückte gewaltsam ihre Beine auseinander, wodurch er im Bereich des inneren linken Oberschenkels Blutergüsse und im Nackenbereich Kratzspuren verursachte. Sodann vollzog der Angekl. mit der Zeugin, die ihren Widerstand aufgab und das weitere Geschehen über sich ergehen ließ, den Geschlechtsverkehr.“ 432 BGH NStZ 2002, S. 495. 433 BGH NStZ 2002, S. 495. 434 BGH NStZ 2002, S. 495. 435 s. dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 26. 436 BGH NStZ 2002, S. 495. Vgl. zu diesem häufig anzutreffenden Deutungsmuster die empirische Untersuchung von Abel, 1986.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

langt der Bundesgerichtshof demnach, dass in derartigen Konstellationen ein deutlich erhöhtes Maß an Gewalt und vor allem physischer Widerstand auftritt, damit von einer Vergewaltigung gesprochen werden kann. Dies widerspricht der ständigen Rechtsprechung, dass ein bestimmtes Maß an Gewalt nicht erforderlich438 und Aussagen in Praxiskommentaren, dass körperlicher Widerstand „nicht Voraussetzung tatbestandlicher Gewalt“ ist.439 Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Ausführungen von der antiquierten Vorstellung, dass Männer sexuell triebgesteuert, Freundschaften zwischen Mann und Frau ohne sexuelle Interaktionen nicht möglich sind und sich jede Frau vorwerfbar in eine Risikosituation begibt, wenn sie sich neben einen Mann auf ein Bett legt, beeinflusst sind. Ein in der Regel gerade zwischen Freunden bestehendes Vertrauensverhältnis soll dann außer Kraft gesetzt sein. Jede Frau muss sich demzufolge innerhalb eines freundschaftlichen Verhältnisses stets ein Misstrauen bewahren und sich darüber hinaus bewusst sein, dass dem Mann bei einer sexuellen Annäherung gegenüber der Artikulation des entgegenstehenden Willens eine gewisse Taubheit zugestanden wird. Schon bei einmaligem Geschlechtsverkehr in der Vergangenheit reicht ein bloßes „Nein“ zur Artikulierung des entgegenstehenden Willens nicht mehr aus. Das Opfer muss „nachhaltig“ 440 Widerstand leisten, es muss dem Täter deutlich machen, dass sein „Nein“ und seine Abwehr ernst gemeint sind.441 Eine weitere Entscheidung aus dem Jahr 2002 belegt, dass für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt körperlicher Widerstand für notwendig erachtet wird und an das Maß des Widerstands hohe Anforderungen gestellt werden, wenn der Zweite Strafsenat ausführt: „Im Einzelfall ist das – mit nicht ganz unerheblicher Krafteinwirkung verbundene – Festhalten des Opfers ebenso wie die Überwindung von geringfügiger Gegenwehr als Gewalt zu qualifizieren; ausreichend sein kann je nach den Umständen des Falles auch das Packen an der Hand, das auf das Bett Stoßen und das sich auf das Opfer Legen beziehungsweise der Einsatz überlegener Körperkraft.“ Neben dem Umstand, dass ein erwachsener Täter, der sich auf ein kindliches Opfer legt, wohl stets Gewalt und zwar erhebliche Gewalt ausübt, ist die Verknüpfung der Gewaltanwendung mit dem (geringfügigen) Widerstand zu kritisieren. Tatbestandsmäßige Gewalt ist unabhängig von einer Widerstandsleistung, nachdem der Täter Widerstand nur erwarten muss. Überdies war laut dem zugrunde liegenden Sachverhalt der Widerstand sehr ausgeprägt.442 Unabhängig davon: Widerstand bleibt Widerstand, selbst wenn er als geringfügig eingestuft 437

s. dazu gleich unter D.II. BGH GA 1965, S. 58; BGH NStZ 1985, S. 71. 439 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 6. 440 BGH NStZ 2002, S. 495. 441 Vgl. dazu auch BGH, Urteil vom 02.09.2004 – 5 StR 242/04. 442 „Das Mädchen wehrte sich ohne Erfolg, trat und schlug nach dem Angekl., der sie mit seinem Gewicht auf die Couch drückte und sie teilweise entkleidete.“ Vgl. BGH NStZ-RR 2003, S. 43. 438

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wird. Auf Vorsatzebene muss der Täter erkennen, dass sein sexuelles Ansinnen nicht erwünscht ist. Diese Erkenntnis kann jedoch schon durch ein „Nein“ bewirkt werden, körperliche Abwehrhandlungen sind nicht erforderlich.443 Eine weitere Entscheidung aus dem Jahr 2006444 zeigt, dass geringe Gewalt und „geringfügiger“ Widerstand nicht genügen. Trotz der Feststellungen, dass die Zeugin von dem Angeklagten während des Geschlechtsverkehrs festgehalten wurde und die Zeugin diesen „durch Rückwärtsbewegungen ihrer angewinkelten Arme von sich wegzuschieben (versuchte), was der Angekl. auch registrierte“, wurde der Einsatz von Gewalt abgelehnt. „Das LG konnte jedoch nicht feststellen, ob der Angekl. diesen Widerstand durch Kraft überwinden musste“.445 Diese Aussagen sind inkonsequent. Versucht das Opfer den Täter wegzuschieben und gelingt ihm das nicht, liegt dies wohl an der Entfaltung körperlicher Kraft durch den Täter, die als Reaktion darauf entfaltet oder fortgeführt wird. Darin liegt tatbestandsmäßige Gewalt, selbst wenn der Täter diesen Widerstand mühelos überwinden kann. Ein bestimmtes Maß an Gewalt ist schließlich nicht erforderlich.446 Die Kritik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass „Gegenwehr des Opfers“ „als normatives Verhaltensmerkmal erwünscht“ sei und für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt erforderlich,447 ist nach alledem nicht obsolet.448 Es gilt jedoch: Physischer Widerstand „stellt eine hinreichende, jedoch keine notwendige Bedingung“ für das Vorliegen einer Nötigung mit Gewalt dar.449

443

Ebenso SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 7. BGH NStZ 2007, S. 218: „Nach den Feststellungen des LG hat der Angekl. gegen den Willen der Geschädigten mit dieser den Geschlechtsverkehr ausgeführt. Er stellte sich hinter sie, fasste ihr unter der Bekleidung an die Brust und zog ihr Jeans und Schlüpfer herunter. Die Geschädigte war dadurch völlig überrascht, versuchte, die Hose festzuhalten, hatte aber irgendwie nicht die Kraft dafür. Während der Angekl. sie umfasste und den Geschlechtsverkehr ungeschützt von hinten ausführte, versuchte sie mehrfach, ihn durch Rückwärtsbewegungen ihrer angewinkelten Arme von sich wegzuschieben, was der Angekl. auch registrierte. Das LG konnte jedoch nicht feststellen, ob der Angekl. diesen Widerstand durch Kraft überwinden musste; möglicherweise stellte die Geschädigte ihre Abwehrbewegungen auch erstarrt ein.“ Hinsichtlich der Verurteilung wegen Körperverletzung (das Opfer war nach dem Geschehen stark traumatisiert) zweifelte der BGH am Vorsatz des Angeklagten. 445 Jeweils BGH NStZ 2007, S. 218. Vgl. auch BGH NStZ 2011, S. 456 f.: Hier hatte das LG rechtsfehlerhaft ein Ausüben von Gewalt durch den Angeklagten (K) verneint, obwohl sich das Mädchen „durch Strampeln mit Armen und Beinen gegen K gewehrt“ hatte. 446 BGH MDR 1953, S. 147; BGH GA 1965, S. 58; BGH NStZ 1985, S. 71. 447 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 7. 448 Die im Zusammenhang mit dem Widerstand des Opfers vollzogene Privilegierung des Täters auf Vorsatzebene wird unter D.II. dargestellt. 449 So zutreffend Fischer, ZStW 112 (2000), S. 100. Selbst ein körperlich widerstandsunfähiges Opfer kann deshalb mit Gewalt genötigt werden, wenn es beispielsweise gegen seinen erklärten Willen von einem Raum in einen anderen Raum getragen wird (Beispiel nach Fischer). 444

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

III. Die Auslegung des Drohungsbegriffs in § 177 StGB Die Drohung im Sinne des § 177 StGB erfordert inhaltlich die Androhung einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Opfers und ist damit im Vergleich zu § 240 StGB qualifiziert. „Drohung ist das ausdrückliche oder schlüssige In Aussicht Stellen eines Übels, dessen Eintritt davon abhängen soll, dass der Bedrohte sich nicht dem Willen des Drohenden beugt.“ 450 Der Eintritt des Übels ist aus Sicht des Opfers vom Willen des Drohenden abhängig.451 Zumindest aus Sicht des Bedrohten muss der Drohende „Herr des Geschehens sein“,452 so dass der „Anschein der Ernstlichkeit“ 453 genügt.454 Die Drohung, das Opfer gewalttätigen Dritten auszuliefern, ist damit tatbestandsmäßig im Sinne des § 177 StGB.455 Irrelevant ist, ob der Täter seine Drohung realisieren kann oder will.456 Wie beim Tatbestandsmerkmal der Gewalt muss der Täter auch beim Einsatz der Drohung mit der Intention handeln, erwarteten oder geleisteten Widerstand zu überwinden.457 1. Inhalt, Form und Adressat der Drohung Der Inhalt der Drohung ist durch das Erfordernis der Gefahr für Leib oder Leben an hohe Anforderungen geknüpft. Die Gefahr für die körperliche Integrität wird hierbei – ebenso wie im Rahmen des § 223 StGB458 – von der herrschenden Meinung einseitig somatologisch verstanden, so dass seelische Beeinträchtigungen nicht erfasst werden, obwohl zwischen Körper und Psyche vielfältige Wechselwirkungen bestehen.459 Über das notwendige Ausmaß der drohenden Beeinträchtigung besteht jedoch Uneinigkeit. Die herrschende Meinung schließt aus dem Wortlaut und dem Nebeneinander von Gefahr für Leib oder Leben zwingend, dass nicht jede Androhung einer körperlichen Misshandlung tatbestandsmäßig ist. Vielmehr wird die Bedrohung mit einer nicht unerheblichen Gesund450

BGH NJW 2004, S. 3437. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71. 452 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71. 453 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 113. 454 Vgl. BGH NJW 1983, S. 767 sowie BGHSt 23, 295: „Eine die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung beeinträchtigende Drohung liegt dann vor, wenn der Bedrohte die Ausführung der Drohung für möglich hält, dadurch in Furcht versetzt und durch diese Furcht in seinem Entschluß beeinflußt wird; unerheblich ist, ob der Täter die Ausführung seiner Drohung beabsichtigt und ob sie für ihn überhaupt ausführbar ist.“ 455 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71 unter Hinweis auf BGH NStZ 2009, S. 263, wobei dieser Aspekt unberücksichtigt blieb. 456 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71. 457 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13; BezG Meiningen NStZ 1991, S. 490. 458 Dazu Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), § 223 Rn. 1, 4. 459 Ebenso Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), § 223 Rn. 1. 451

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heitsschädigung des Opfers für notwendig erachtet.460 Wird demnach mit einem Verhalten gedroht, dass bei seiner Realisierung tatbestandsmäßige Gewalt darstellen würde, ist das nicht in jedem Fall ausreichend.461 Ausreichend ist das In Aussicht Stellen eines lebens- oder gesundheitsgefährdenden Verhaltens, wie zum Beispiel die Androhung, das Opfer aus einem fahrenden Auto zu werfen.462 Die Ankündigung von nicht näher bestimmten Schlägen genügt nach der herrschenden Meinung dem Tatbestandsmerkmal der Drohung nicht, weil dieses „eine gewisse Schwere des in Aussicht gestellten Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit erfordert“ 463, und eine einfache Körperverletzung diesen Ansprüchen nicht genügen soll.464 Selbst die Androhung des Täters, er werde dem Opfer „eine knallen“, soll nicht die nötige Schwere aufweisen,465 erst wenn der Täter droht, das Opfer „kaputt zu schlagen“ 466 ist diese unzweifelhaft gegeben. Die enge Auffassung der Literatur und der Rechtsprechung ist kritisch zu bewerten, weil sie zum einen die Eskalationsgefahr unberücksichtigt lässt und zum anderen dem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit zu wenig Bedeutung beimisst.467 Aus der Androhung von Schlägen kann schließlich nicht geschlossen werden, dass die Ausführung kontrolliert und ohne körperliche Spuren zu hinterlassen durchgeführt wird. Die Intensität des Vorgehens und der Einwirkung sind vielmehr unvorhersehbar.468 Schläge deuten in der Regel auf eine ausreichende Gefahr einer Gesundheitsschädigung hin. Hierbei darf auch der Gesamtkontext (Tatort; dominantes Auftreten des Täters; Kräfteverhältnis; Vorgeschehen) nicht ignoriert werden, was jedoch des Öfteren geschieht.469 Die Tatbestandsmerkmale 460 Laubenthal, 2000, Rn. 140; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 72; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 9; ablehnend Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 343. 461 BGH StV 1994, S. 27; BGH NStZ 2001, S. 246; KG Berlin StV 2013, S. 749; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 18a. 462 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 72. 463 BGH StV 1994, S. 127. Die Ablehnung einer tatbestandsmäßigen Drohung bleibt vorliegend vor dem Hintergrund, dass der Täter laut den Feststellungen seine Tochter regelmäßig schlug und ein Klima der Angst geschaffen hatte, völlig unverständlich. 464 BGH NStZ 1994, S. 555 f.; BGH NStZ 1999, S. 505; BGH NStZ-RR 2001, S. 354 Nr. 6; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 18b; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 45; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 9. 465 BGH NStZ-RR 2001, S. 354 Nr. 6. Anders dagegen BGH NStE Nr. 24 zu § 177 StGB, der es bei dieser Art von Drohung als erforderlich ansieht, zu eruieren, „welches Maß von Gewaltanwendung“ das Opfer damit verband und „welche Vorstellungen der Angekl. hierzu hatte.“ 466 BGH NStZ-RR 2006, S. 270. 467 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 73; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 39; Sick, 1993, S. 201 f. 468 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 73. 469 So geschehen in BGH StV 1994, S. 127; BGH NStZ-RR 2001, S. 354 Nr. 6 wie auch in BGH NStZ 2001, S. 370. Vgl. demgegenüber BGH NJW 1955, S. 877 (zu §§ 253, 255 StGB).

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Leib oder Leben sind des Weiteren unabhängig voneinander zu behandeln. Denn es entspricht gerade nicht einer generellen Systematik des Strafgesetzbuchs, dass bei einem Nebeneinander von Gütern das höherrangige automatisch eine restriktive Auslegung des anderen nach sich zieht. Ansonsten dürften in § 35 StGB generell nur Freiheitsberaubungen von längerer Dauer zu einer Notstandslage führen, allein aus dem Grund heraus, dass dieses notstandsfähige Gut neben Leib und Leben normiert ist.470 Dies entspricht jedoch nicht der gängigen Auslegungspraxis.471 Die Drohung mit einer Vergewaltigung, falls sich das Opfer verweigere, wird unterschiedlich bewertet. Gegenüber einem kindlichen und auch jugendlichen 15jährigen Opfer wurde diese Ankündigung als tatbestandsmäßig bewertet, weil sie „den Einsatz wenigstens solcher Körperkraft“ ankündigt, „die erforderlich gewesen wäre, nachhaltigere Abwehrreaktionen des Opfers zu brechen und den Geschlechtsverkehr gegen dessen Willen zu vollziehen.“ 472 In einer Entscheidung des Vierten Strafsenats aus dem Jahr 2000 wurde jedoch die Tatbestandsmäßigkeit verneint, weil nicht festgestellt worden sei, dass damit gegenüber dem 16jährigen Opfer „ein schwerer Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit“ 473 angedroht wurde. In der Drohung mit einer Vergewaltigung ist jedoch entgegen dieser Entscheidung stets eine tatbestandsmäßige zu sehen, weil diese in der Regel mit starken Schmerzen und Verletzungen im Genitalbereich sowie durch begleitende Gewalt einhergeht, so dass eine Gesundheitsschädigung droht.474 Das gleiche gilt für die Androhung von Analverkehr.475 Auf Grund der restriktiven Vorgaben des Tatbestandsmerkmals der Drohung wird die Androhung einer Freiheitsentziehung nicht erfasst.476 Hierbei wird verkannt, dass Freiheitsberaubungen über einen längeren Zeitraum wie auch die Einweisung in ein Heim477 durchaus erhebliche gesundheitliche Schäden in Form von physischen (und auch psychischen) Beeinträchtigungen hervorrufen können. Die Androhung derartiger Umstände könnte demnach bereits de lege lata als Drohung i. S. d. § 177 StGB I Nr. 2 verstanden werden. Die Drohung des Täters, sich selbst zu töten, wird von der Rechtsprechung478 und überwiegenden Meinung in der Literatur479 nicht als tatbestandsmäßig an470

Ebenso schon Steinhilper, 1986, S. 340. Vgl. NK-Neumann, 3. Aufl. (2010), § 35 Rn. 17; Sch/Sch-Perron, 28. Aufl. (2010), § 35 Rn. 8. 472 BGH NStZ 2001, S. 246; ebenso BGH NStE Nr. 9 zu § 178 StGB. In BGH, Beschluss vom 18.11.1997 – 4 StR 546/97 wurde der Umstand, dass eine Drohung mit einer Vergewaltigung vorlag, vollkommen übersehen. 473 BGH NStZ 2001, S. 370. 474 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 74; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 11. 475 BGH NStZ-RR 2009, S. 230. 476 BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 16; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 72. 477 BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 16. 478 BGH NStZ 1982, S. 286; BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 15. 471

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gesehen. Richtigerweise wird jedoch vertreten, dass auch bei einer Selbstmorddrohung eine ausreichende „Zwangslage“ 480 erzeugt wird.481 Der Wortlaut lässt diese Auslegung zu. Der Einwand, dass dies dem Willen des historischen Gesetzgebers widerspreche,482 kann mit dem Telos der Norm, der nunmehr in dem Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts vor qualifizierten Angriffen besteht, begegnet werden. Entscheidend ist auch in dieser Konstellation damit allein die Frage nach der Zwangswirkung. Die Angst, dass der Drohende seinem Leben ein Ende setzt, wird jedoch in der Regel motivierend wirkend. Der Inhalt von Drohungsäußerungen, insbesondere wenn diese mehrdeutig sind, wird mit Hilfe des Kontexts der Äußerung, vor allem aber mit Hilfe des Empfängerhorizonts bestimmt.483 Durch die Einbeziehung des Kontexts bei Auslegung der Tätererklärung wird sicher gestellt, dass nicht allein die individuelle Empfängerperspektive maßgeblich ist, sondern die einer verständigen Person in der Situation des Opfers.484 Eine Drohung kann allgemeinen Redewendungen und versteckten Andeutungen wie Anspielungen auf frühere Gewaltausübungen485 zu entnehmen sein. Sie kann sich aus schlüssigen Verhaltensweisen wie beispielsweise der Gewalt gegen Dritte oder gegen Sachen sowie durch Versperren des Weges durch einen körperlich überlegenen Täter ergeben.486 In Konstellationen schlüssiger Drohungen durch die Ausnutzung von Angst vor Gewalt muss der Täter „erkennen und zumindest billigen, daß das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet und nur 479 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 18b; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 84 m.w. N.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 41. 480 Gössel, 2005, § 2 Rn. 32. 481 Gössel, 2005, § 2 Rn. 32; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7; Wetzel, 1998, S. 172. 482 BGH NStZ 1982, S. 286. 483 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 37. 484 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 71. 485 BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87; BGH, Urteil vom 05.04.1989 – 2 StR 557/88; BGH, Beschluss vom 05.03.1992 – 1 StR 716/91. 486 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 37. Vgl. BGH NStZ 1999, S. 505: „so kann sich aus einer Gesamtschau heraus das Vorliegen einer Drohung i. S. d. § 177 StGB ergeben, wenn der Täter dem Opfer gegenüber ein Klima der Angst und Einschüchterung geschaffen hat. Es ist mithin nicht isoliert auf die Ankündigung des Angekl. „Wenn du nicht dein Maul hältst, schlage ich dich“ abzustellen. Zu berücksichtigen ist auch, daß der Angekl. gleichzeitig eine erhebliche Gewaltbereitschaft zeigte, indem er die sich heftig wehrende Geschädigte so fest auf den Boden niederdrückte, daß es bei ihr zu punktförmigen Hautblutungen kam. Außerdem hatte der Angekl. kurz zuvor die Geschädigte eingeschüchtert, indem er angesichts ihrer Gegenwehr und ihres Schreiens erklärte, dies bringe doch nichts, es sei sowieso niemand da. Diese Umstände und die Einsamkeit des Ortes gaben der Drohung des Angekl. ein starkes Gewicht; sie stellt daher mehr als die Androhung einer nicht sehr bedeutenden Mißhandlung dar. Eine solche Drohung ist in ihrem Gewicht mit der Androhung etwa einer Ohrfeige nicht vergleichbar.“

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

deshalb den Geschlechtsverkehr erduldet.“ 487 Die generelle Angst des Opfers vor dem Täter genügt nicht.488 Gemäß dem Wortlaut kann dem Nötigungsopfer auch mit einer Gefahr für eine dritte Person gedroht werden. In diesen Dreieckskonstellationen wird (auch) eine Drohung gegenüber dem Nötigungsopfer ausgesprochen.489 Der Wortlaut spricht nicht von einer gegenwärtigen Gefahr „für ihren Leib oder ihr Leben“.490 Dies entspricht der Rechtsprechung und herrschenden Lehre.491 Schroeder misst dieser Art von Drohung richtigerweise eine oftmals stärkere Wirkung bei.492 Die Möglichkeit einer derartigen Dreiecksnötigung wird lediglich von Wolters strikt verneint, der dies aus der Tatbestandsformulierung in § 177 I StGB ablesen will, indem die genötigte Person die sexuelle Handlung „an sich“ dulden muss.493 Ebenso wie im Rahmen der Konstellation „Gewalt gegen Dritte“ – ist dieses Argument jedoch nicht durchschlagend,494 weil „Gefahradressat“ und „Nötigungsadressat“ 495 nicht identisch sein müssen. Voraussetzung ist lediglich, dass die gegenüber der dritten Person angekündigte Leibes- oder Lebensgefahr vom Nötigungsopfer selbst als Übel empfunden wird, damit ein Nötigungsdruck entsteht.496 Das Nötigungsopfer muss sich jedoch nicht in seiner eigenen Sicherheit beeinträchtigt fühlen.497 Uneinigkeit besteht darüber, ob sich die Drohung gegen eine nahestehende Person des Opfers richten muss. Die Rechtsprechung scheint zu einem Näheverhältnis zu tendieren, wenn es heißt, dass „jedenfalls dann“ eine Dreiecksnötigung gegeben sei.498 Es kann jedoch nicht darauf ankommen, ob die bedrohte Person nahestehend ist,499 auch wenn dies ein Teil der Lehre anders sieht.500 Ent487

BGH NJW 1996, S. 2107; ebenso BGH NStZ 1998, S. 105. MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 38. 489 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 41. 490 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 82. 491 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 82 m.w. N. 492 Schroeder, 1975, S. 28. 493 SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 12. 494 s. oben: A.II.2.d) und e). Damit bleibt Wolters konsequent, da er beide Arten von Dreiecksnötigungen ablehnt. 495 Jeweils Küper, 8. Aufl. (2012), S. 113. 496 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 82. 497 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 41; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7; BGH NStZ 1987, S. 223 für §§ 253, 255 StGB. Abweichend BGH NStZ 1994, S. 31 für § 177 StGB. 498 BGH NStZ 1994, S. 31; BGH NStZ-RR 1998, S. 270. Ob eine Dreiecksnötigung überhaupt möglich sei, wenn dem Opfer nahestehende Personen bedroht werden, wurde dagegen offen gelassen in BGH NStZ 1982, S. 286 und BGH NStZ 1994, S. 555 f. 499 Ebenso Gössel, 2005, § 2 Rn. 32; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 83; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 41. 500 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 18; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 5; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 44; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7. 488

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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scheidend ist allein die im Sinne des Täterverlangens motivierende Wirkung der Drohung, nämlich dass das Opfer des sexuellen Angriffs in eine Zwangslage versetzt und damit einem Nötigungsdruck ausgesetzt wird.501 Ein derartiger Druck hängt jedoch nicht von einer persönlichen Beziehung zur bedrohten Person ab, sondern – wie der Bundesgerichtshof 502 bereits im Rahmen der §§ 253, 255 StGB entschieden hat – allein davon, „ob die Ankündigung geeignet erscheint, den Genötigten im Sinne des Täterverlangens zu motivieren“, so „daß derjenige, auf dessen Willen eingewirkt wird, das einem anderen zugedachte Übel auch für sich selbst als Übel empfindet“.503 Im Rahmen des § 177 StGB müssen dieselben Anforderungen gelten, so dass in Konstellationen, in denen eine dritte Person mit einer erheblichen Körperverletzung oder gar Lebensgefahr bedroht wird, der Nötigungsadressat schon auf Grund der dadurch entstehenden Betroffenheit im Sinne des Täterverlangens motiviert werden kann.504 Eine derartige Betroffenheit hängt im Übrigen nicht davon ab, ob die Bedrohung des Dritten vor den Augen des Nötigungsadressaten stattfindet, sie kann vielmehr auch durch ein gegen einen abwesenden Dritten gerichtetes Bedrohungsszenario entstehen. 2. Der Zusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg Die Drohung muss vom Opfer wahrgenommen werden, weil nur dann eine Zwangslage entstehen kann.505 Die umstrittene Frage,506 ob der Bedrohte die Drohung tatsächlich ernst nehmen muss507 oder ob es genügt, dass der Bedrohte sie lediglich nach der Tätervorstellung ernst nehmen soll,508 kann in § 177 I Nr. 2 StGB eindeutig zu Gunsten der ersten Auffassung entschieden werden. Dies gebietet bereits der Wortlaut. Denn § 177 I Nr. 2 StGB erfordert eine „Nötigung durch Drohung“, so dass nach der herrschenden Meinung zwischen der Drohung und der sexuellen Handlung nicht nur ein finaler,509 sondern auch ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines „Motivationszusammenhang(s)“ 510 ge501

Gössel, 2005, § 2 Rn. 32. BGH NStZ 1985, S. 408; BGH NStZ 1987, S. 222 f. Dies ist auch die überwiegende Ansicht in der Literatur zu §§ 253, 255 StGB; vgl. Sch/Sch-Eser/Bosch, 28. Aufl. (2010), § 253 Rn. 6 und die Nachweise bei Küper, 8. Aufl. (2012), S. 114 f. 503 Jeweils BGH NStZ 1987, S. 223. 504 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 83. 505 BGH NJW 2004, S. 3437. 506 Vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 105 ff. 507 Vgl. aus der Rechtsprechung zu §§ 240, 253, 255 StGB: RGSt 3, 262, (263); BGHSt 7, 197, (198); BGHSt 23, 294, (295); BGH NStZ 1985, S. 408; BGH StV 1996, S. 482. 508 Vgl. aus der Rechtsprechung zu § 239b StGB: BGHSt 26, 309 f. und Küper, 8. Aufl. (2012), S. 106 Ziff. 2 m.w. N., wobei m. E. die Nachweise nicht belegen, dass in den angeführten Entscheidungen lediglich die Täterperspektive relevant ist. 509 Dazu gleich ausführlich unter C. 510 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 107. 502

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

geben sein muss.511 Der Streit um den Inhalt des Begriffs der Drohung wirkt sich damit nur in § 249 StGB aus, weil nur hierbei ein lediglich in subjektiver Hinsicht vorliegender Finalzusammenhang ausreicht. 3. Die Gegenwärtigkeit der Gefahr Neben der Beschränkung des Inhalts der Drohung auf Gefahr für Leib oder Leben ergibt sich eine weitere Restriktion durch das problematische Merkmal der Gegenwärtigkeit der Gefahr.512 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gefahr „dann als ,gegenwärtig‘ anzusehen, wenn die in Aussicht gestellte Schädigung an Leib oder Leben bei ungestörter Weiterentwicklung der Dinge nach menschlicher Erfahrung als sicher oder höchst wahrscheinlich zu erwarten ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.“ 513 Eine sogenannte „Augenblicksgefahr“ 514 ist dabei unproblematisch, weil hierbei der Täter im Rahmen seiner Drohung zu verstehen gibt, dass er bei Weigerung des Opfers diese unverzüglich umsetzen wird.515 Größere Probleme bereiten dagegen die Konstellationen, in denen der Täter die Realisierung seiner Drohung explizit für die Zukunft ankündigt, wobei zwischen Ausspruch und Verwirklichung der Drohung eine gewisse Zeitspanne liegt. Ein unmittelbares Bevorstehen scheidet im Rahmen dieser Dauergefahr (im weiteren Sinne)516 aus. Als gegenwärtig wird diese angekündigte Gefahr jedoch nach der herrschenden Meinung trotzdem eingestuft, wenn der Eintritt des Schadens nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann.517 Grundlage der Gegenwärtigkeit bildet nicht das Kriterium des unmittelbaren zeitlichen Bevorstehens der Gefahr, sondern das Kriterium des „gegenwärtigen Verhaltenszwangs“.518 Sinn und Zweck des § 177 I Nr. 2 StGB gebieten diese Aus-

511 BGH NStE § 177 StGB Nr. 19; BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 17; BGH NStZ 2004, S. 683; BGH NStZ-RR 2006, S. 270; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 18a, 49; Laubenthal, 2000, Rn. 145. A. A. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 81, die die Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens des Mittel-Zweck-Zusammenhangs in objektiver und subjektiver (finaler) Hinsicht verneint und es genügen lässt, wenn bei Fehlen eines Finalzusammenhangs ein Kausalzusammenhang vorliegt. Neben § 177 I Nr. 2 StGB erfordern auch die Tatbestände der §§ 240, 253, 255 StGB einen kausalen Zusammenhang zwischen der Drohung und dem Opferverhalten. 512 Vgl. dazu ausführlich Blanke, 2007, S. 40 ff.; 221 ff. 513 BGH NStZ-RR 1999, S. 266 m.w. N. (zu §§ 253, 255 StGB). 514 MüKo-Erb, 2003, § 34 Rn. 78. 515 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 76; eine solche lag in BGH, Urteil vom 17.01.1979 – 2 StR 457/78 vor. 516 Vgl. zu der Unterscheidung zwischen Dauergefahr im engeren und weiteren Sinn sowie zu dieser uneinheitlich verwendeten Terminologie ausführlich Blanke, 2007, S. 26 ff., 40 ff. 517 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 116 m.w. N.; Sch/Sch-Perron, 28. Aufl. (2010), § 34 Rn. 17; offen gelassen in BGH, Urteil vom 17.01.1979 – 2 StR 457/78; ablehnend LKLaufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 14.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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legung, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Täter-Opfer-Beziehung in der Mehrzahl der Fälle nicht auf die konkrete Tatsituation beschränkt ist, sondern oftmals bereits eine soziale Beziehung besteht, die es dem Täter erleichtert, das Opfer in Furcht zu versetzen. Der Gesamtkontext, in dem die Drohung eingebettet ist, wird dann oftmals für eine gegenwärtige Drohung sprechen. Hier eine Dauergefahr mit dem Argument abzulehnen, dem Opfer verbliebe genügend Zeit zur Inanspruchnahme von „Verhaltensalternativen“,519 verkennt die spezifische Deliktssituation von Taten dieses Zuschnitts. Die bis zur Realisierung der Drohung verstreichende Zeitspanne bildet demnach ein Indiz dafür, ob die Gefahr noch als gegenwärtig eingestuft werden kann. Unerheblich ist, ob die durch den Täter angedrohte Gefahr anders als durch die Erfüllung des Täteransinnens abgewendet werden kann. Das Kriterium der „Nicht anders Abwendbarkeit“ der §§ 34, 35 StGB520 gilt in § 177 I Nr. 2 StGB nicht.521 Maßgeblich ist, ob aus dem Blickwinkel einer objektivierten Opferperspektive ein zeitnaher Schadenseintritt wahrscheinlich ist.522 Sollen die Schäden für Körper und Leben erst in einem Monat oder gar Jahr realisiert werden, muss ein gegenwärtiger Handlungszwang und damit eine gegenwärtige Gefahr, die eine sexuelle Handlung forcieren kann, abgelehnt werden.523 Ansonsten würde der Wortlaut überdehnt werden. Maximale Zeitspannen von „nicht mehr als einem Tag“ 524 sind zu eng,525 weil pauschalisierend. Allein die zeitliche Komponente kann – wie gesagt – nicht entscheidend sein. Neben diesen zwei Gefahrtypen wird nach der herrschenden Meinung auch eine sog. Dauergefahr (im engeren Sinn) als gegenwärtig beurteilt.526 Hierbei

518 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 116; s. auch Sch/Sch-Perron, 28. Aufl. (2010), § 34 Rn. 17. 519 So unzutreffend Blanke, 2007, S. 230. 520 Vgl. dazu Sch/Sch-Perron, 28. Aufl. (2010), § 34 Rn. 17 f. 521 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 116; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 78; Sch/ Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7. 522 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 75; so auch BGH NStE § 177 StGB Nr. 19 sowie BGH MDR 1957 S. 691 (zu § 255 StGB). Verkannt wurde das Vorliegen der Gegenwärtigkeit in BGHR StGB § 177 I Drohung 3. Dort hatte der Täter damit gedroht, in eine andere Ortschaft zu fahren und dem Freund des Opfers „den Kopf einzuschlagen“. 523 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 76; BGH MDR 1957, S. 691; BGH MDR 1982, S. 447 (beide Entscheidungen ergingen zu §§ 253, 255 StGB). 524 Laubenthal, 2000, Rn. 143; in BGH MDR 1957, S. 691 zu § 255 StGB wurde bei Weigerung mit Erschießen am nächsten Tag gedroht. Laut dem BGH macht es rechtlich keinen Unterschied, ob „das Erschießen sogleich oder für den nächsten Tag in Aussicht gestellt wurde“. Die „Setzung einer kurzen Frist“ wird sogar unter Umständen als „nachhaltiger“ und damit „gefährlicher“ eingestuft. 525 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 76. 526 BGH NStE § 177 StGB Nr. 19; BGH NStZ 1991, S. 490; BGH NStZ 2004, S. 682; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 46; Laubenthal, 2000, Rn. 144; LK-

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

liegt in der Regel „eine konkludente Wiederholung der früher ausgesprochenen Drohung“ vor.527 Dieser Gefahrtypus spielt vor allem bei Serienstraftaten innerhalb familiärer Beziehungen, die von einem Klima der Gewalt und einer „ständigen Präsenz der Terrorisierung des Opfers“ 528 geprägt sind,529 eine große Rolle. 1989 entschied der Zweite Strafsenat zum ersten Mal, dass eine Dauergefahr auch im Rahmen des § 177 I StGB a. F. als tatbestandsmäßig anzusehen sei.530 Zu Grunde lag ein Fall, in dem ein Vater seine Tochter seit dem zehnten Lebensjahr sexuell missbraucht hatte und ab dem 15. Lebensjahr – um sie weiterhin sexuell gefügig zu halten – durch tägliche Gewaltakte einem Klima der Gewalt aussetzte, so dass diese in ständiger Angst um ihr Leben war.531 Der Bundesgerichtshof stimmte mit dem Landgericht darin überein, dass der Angeklagte sich wegen Vergewaltigung strafbar gemacht habe, indem er „für seine Tochter eine dauernde Gefahrenlage begründet“ habe, „um seine Zwecke zu erreichen, und damit in jedem Einzelfall konkludent im Sinne von § 177 I StGB gedroht“ 532 habe. Es sei bedeutungslos, ob bei einer Verweigerung „die von der Tochter befürchteten Nachteile stets sofort (. . .) oder erst später zu erwarten waren“.533 Denn „eine Gefahr ist auch dann gegenwärtig i. S. v. § 177 StGB, wenn sie als Dauergefahr über einen längeren Zeitraum in der Weise besteht, dass sie jederzeit – zu einem ungewissen Zeitpunkt, alsbald oder später – in einen Schaden umschlagen kann“. 534 Diese Art der Gefahr ist – im Gegensatz zum Delikt des Raubes – geradezu typisch für das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung, weil hierbei oftmals (hierarchische) soziale oder familiäre Bindungen bestehen, so dass das Opfer sich durch zeitlich unbestimmte, aber jederzeit realisierbare Drohungen beeindrucken lässt.535 Bevor jedoch auf diesen Problemkreis näher eingegangen wird, soll zunächst die Rechtsprechung im Zusammenhang mit konkludenten Drohungen näher beleuchtet werden.

Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 77; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 40; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7. 527 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7. 528 BGH NStZ 1991, S. 490. 529 Dazu ausführlich unter C.II.2. 530 BGH NStE Nr. 19 zu § 177 StGB. In der Literatur war die Dauergefahr auch im Rahmen des § 177 StGB aber schon vorher anerkannt; vgl. nur LK-Laufhütte, 10. Aufl. (1988), § 177 Rn. 11. 531 BGH NStE Nr. 19 zu § 177 StGB. 532 BGH NStE Nr. 19 zu § 177 StGB. 533 BGH NStE Nr. 19 zu § 177 StGB. 534 BGH NStE Nr. 19 zu § 177 StGB; ebenso BGH NStZ 2004, S. 682. 535 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 77; verkannt von Blanke, 2007, S. 230, der die Dauergefahr als nicht von § 177 I Nr. 2 StGB erfasst ansieht.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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4. Anforderungen der Rechtsprechung an konkludente Drohungserklärungen mit Ausnahme wiederholter Tatbegehungen und Serienstraftaten Es besteht Einigkeit darüber, dass die Praxis – zumindest vor dem 33. StÄG von 1997 – für die Annahme einer konkludenten Drohung hohe Hürden aufstellte.536 Neben der Tatsache, dass das Tatbestandsmerkmal der Drohung schon durch die inhaltliche Anforderung in Form einer erheblichen Körperverletzung eine restriktive Handhabung erfährt, lehnt es die Rechtsprechung oftmals ab, eine konkludente Drohung zu bejahen, auch wenn der Gesamtkontext – Isolation des Opfers und ähnliches – eindeutig dafür spricht.537 Mit der engen Auslegung des Gewaltbegriffs korrespondieren demnach hohe Anforderungen an die Annahme einer konkludenten Drohung, wobei dem Horizont des Opfers wenig Bedeutung beigemessen wird.538 In „Anhalterkonstellationen“ zeigt sich dieser einschränkende Umgang mit dem Tatbestandsmerkmal der Drohung besonders deutlich.539 Einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1990540 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der vom Landgericht wegen Vergewaltigung verurteilte Angeklagte eine Anhalterin zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, indem er sie mit dem PKW gegen ihren Willen auf einen Waldweg verbracht hatte. Bereits im PKW hatte er mehrmals zwischen ihre Oberschenkel gegriffen, obwohl die Frau seine Hände abwehrte. Die Frau hatte sich dann auf Grund von Todesangst vor dem Angeklagten dazu entschlossen, „alles über sich ergehen zu lassen, selbst wenn sie vergewaltigt werden würde. Dabei dachte sie an in jüngster Zeit ermordete Anhalterinnen.“ Sie sah deswegen von erheblicheren Widerstandshandlungen ab und fügte sich, indem sie schließlich selbst ihre Hose auszog.541 Ist die Ablehnung von Gewalt durch den Bundesgerichtshof noch nachvollziehbar, obwohl das Verbringen auf den Waldweg und die verbalen und körperlichen Bedrängungen des Angeklagten eine körperliche Zwangswirkung nicht ganz abwegig erscheinen lassen,542 so wäre jedoch das Tatbestandsmerkmal der Drohung naheliegend gewesen. Spitzfindig bemerkt der Bundesgerichtshof 536

Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 22; Mildenberger, 1998, S. 38 ff. Vgl. BGH NStZ-RR 1998, S. 103 f.; BGH NStZ-RR 2001, 354 Nr. 6, wobei der Gesamtkontext in keiner Weise Berücksichtigung fand (Isolation des Opfers; dominantes Auftreten des Täters; kindliches Opfer; Vorgeschehen). 538 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 41. 539 Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 42. 540 BGH NStZ 1990, S. 335. 541 BGH NStZ 1990, S. 335. 542 Zumal zum Zeitpunkt der Entscheidung die weite Auslegung des Gewaltbegriffs vom BVerfG noch nicht für verfassungswidrig erklärt worden war. Harbeck, 2001, S. 99 bejaht hier das Vorliegen von Gewalt; a. A. Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5, die in dem „Gefühl des Ausgeliefertseins des Opfers durch die Ortsveränderung, das jeden Widerstand als sinnlos erscheinen lässt,“ nur psychisch wirkenden Zwang erblicken. 537

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

jedoch: „Wenn der Entschluß der Zeugin, alles über sich ergehen zu lassen, ,selbst wenn sie vergewaltigt werden würde‘, wörtlich genommen wird, beinhaltet er, daß sie sich selbst noch nicht als ,vergewaltigt‘, also körperlich wirkendem Zwang ausgesetzt oder mit gegenwärtiger Leibesgefahr bedroht ansah.“ Er verzerrt damit die Aussage der Zeugin. Diese verstand unter „vergewaltigt“ naturgemäß den Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Des Weiteren sah sie sich vom Angeklagten durchaus als bedroht an, indem sie sich gerade auf Grund von Todesangst dem sexuellen Ansinnen fügte. Die Feststellung, dass die Zeugin immer wieder die Hände des Angeklagten weg schob und beruhigend auf ihn einzureden versuchte, unterstreicht die Drohungssituation. Diese Opferperspektive ist für den Bundesgerichtshof jedoch nicht von Interesse. Das Augenmerk liegt vielmehr auf dem – aus Sicht des Bundesgerichtshofs zu „kooperativen“ – Verhalten des Opfers, weil es nicht geflohen ist und sich die Hose letztendlich selbst ausgezogen hat.543 Die Tatsache, dass die Mehrheit der Frauen Angst vor einer Vergewaltigung hat und fürchtet, dabei erheblich verletzt bzw. getötet zu werden, spielte keine Rolle. Genau diese Angstvorstellungen hätten aber Berücksichtigung finden müssen, da sie durch das Verhalten des Täters verursacht wurden und eine körperliche und psychische Zwangswirkung beim Opfer hervorriefen, nämlich das Gefühl, ausgeliefert zu sein und durch Widerstand eine Eskalation der Situation zu bewirken.544 Dem Angeklagten konnte auf Grund der Situation die Angst der Zeugin nicht verborgen geblieben sein, so dass der Sachverhalt näher darauf hin untersucht hätte werden müssen,545 ob er – wofür einiges spricht – die Todesangst erkannt hatte und diese durch schlüssiges Verhalten bestätigte. Dies ist ausreichend für das Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Drohung.546 Schließlich genügt der Anschein der Ernstlichkeit. Bei ausreichender Würdigung des Gesamtkontextes hätte das Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Drohung damit nahegelegen. Ebenfalls eine Anhalterkonstellation betraf eine Entscheidung aus dem Jahr 1991, in der wiederum eine schlüssige Drohung verneint wurde, obwohl der Täter erkannt hatte, dass das Opfer sein Verhalten als eine im Sinne des § 177 StGB tatbestandsmäßig Drohung aufgefasst hatte und diesen Irrtum zu einer Vergewaltigung ausnutzte.547 Kurz nachdem das 18jährige Mädchen eingestiegen war, hatte der Angeklagte diese verbal und körperlich sexuell bedrängt und diese trotz Aufforderung nicht aus dem PKW aussteigen lassen. In der Folge hielt er an einer Straßeneinbuchtung an und vergewaltigte sie. „Da die immer wieder aufheulende, völlig verzweifelte und verängstigte Zeugin, die Angst davor hatte, daß der Angeklagte sie schlagen oder ihr sonst etwas antun 543

BGH NStZ 1990, S. 335. Ebenso Goy/Lohstöter, StV 1982, S. 21; Otto, JR 1982, S. 118. In BGH NStE Nr. 9 zu § 177 StGB wurde die Opferperspektive ebenfalls zu wenig berücksichtigt. 545 Zum subjektiven Tatbestand fehlten ausreichende Feststellungen. 546 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 22. 547 BGH NStE Nr. 26 zu § 177 StGB. 544

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würde, jedoch sehr verkrampft war und der Angeklagte daher sein Ziel nicht vollständig erreichen konnte, ließ er von ihr ab, setzte sich wieder auf den Fahrersitz und forderte sie auf, abzuhauen.“ 548 Der Bundesgerichtshof führte aus, dass der Angeklagte zwar durchaus erkannt habe, dass sich „das Mädchen durch ihn bedroht fühlte“ und dies ausgenutzt habe. Das Verhalten des Täters beinhaltete jedoch bei „objektiver Betrachtung“ keine schlüssige Drohung.549 Die Wesensmerkmale einer Drohung wurden hierbei ignoriert.550 Entscheidend ist der objektive Empfängerhorizont auf Grundlage des situativen Kontextes.551 Vorliegend war es nachvollziehbar, dass sich das Mädchen bedroht fühlte, aus ihrer Sicht lag es auf Grund des Verhaltens des Täters im PKW nahe, dass dieser bei Widerstand körperliche Gewalt anwenden würde. Ein Urteil aus dem Jahr 1991552 betraf einen ähnlichen Sachverhalt, wobei der Täter ein 16jähriges Mädchen in der Nacht in seinem PKW mitgenommen hatte, gegen ihren Willen dann zu einem einsamen Parkplatz fuhr und sie dort vergewaltigte. Trotz der angenommenen Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB wurde eine Strafbarkeit wegen Vergewaltigung in der tatbestandlichen Alternative der Gewaltanwendung nicht einmal andiskutiert. Darüber hinaus blieb auch die Frage einer schlüssigen Drohung unerwähnt, obwohl das Mädchen – für den Täter erkennbar – auf Grund seines Verhaltens große Angst vor diesem hatte und deswegen keinen Widerstand leistete.553 In einem Beschluss aus dem Jahr 1987 zweifelte der Bundesgerichtshof daran, ob der Täter dem Opfer ein zukünftiges Übel in Aussicht gestellt hatte.554 Laut den Feststellungen hatte der Angeklagte das Opfer gefragt, „was Martina F. tun würde, wenn ihr jemand ein Messer an die Kehle hielte und sie aufforderte, sich auszuziehen“.555 Auf Grund des Kontextes, wobei der Angeklagte die Wohnungstür verschlossen und das Opfer an Fluchtversuchen gehindert hatte, ist die Ablehnung einer Drohung nicht nachvollziehbar. Dazu im krassen Widerspruch steht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1955 zum Tatbestand der räuberischen Erpressung556, in der auf Grund der Umstände, dass ein Mann nachts an einem einsamen Ort von zwei anderen Männern – allerdings ohne drohende Gebärden – mit den Worten „Gib mal dein Moos raus“ zur Herausgabe von Geld aufgefordert wurde, ohne Probleme auf eine konkludente Drohung mit erheblichen Misshandlungen geschlossen wurde.

548 549 550 551 552 553 554 555 556

BGH NStE Nr. 26 zu § 177 StGB. Jeweils BGH NStE Nr. 26 zu § 177 StGB. Ebenso kritisch Mildenberger, 1998, S. 39 f. MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 37. BGH NStZ 1992, S. 33 f. s. dazu bereits A.II.2.c). BGH NStZ 1992, S. 33 f. Ebenso kritisch Mildenberger, 1998, S. 42 f. BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87. BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87. BGH NJW 1955, S. 877.

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Im Zusammenhang mit der sogenannten Gewalt gegen Sachen wird der Konstellation einer konkludenten Drohung ebenfalls zu wenig Beachtung geschenkt.557 Bei einem Zertrümmern von Gegenständen in der Wohnung des Opfers im Rahmen eines „aggressiv dynamischen Vorgehens“ 558 wird jedoch wohl niemand ernstlich bestreiten, dass diesem Verhalten der Erklärungswert beigemessen werden kann, bei Weigerung des Opfers auch vor direkter körperlicher Aggression nicht zurückzuschrecken. Nichtsdestotrotz scheint eine derartige Drohungssituation nicht auf der Agenda des § 177 I StGB zu stehen.559 Die Konstellationen der fortwirkenden Gewalt als konkludente Drohung bzw. des Fortwirkens von Drohungen als konkludente Drohung werden unter C. behandelt, weil sie in engem Zusammenhang mit der Finalstruktur und dem Finalzusammenhang stehen. 5. Fazit Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Drohung in § 177 I Nr. 2 StGB ebenfalls restriktiv erfolgt. Der objektive Empfängerhorizont wird in vielen Fällen losgelöst von der Opferperspektive und ohne Einbeziehung deliktsspezifischer Umstände bestimmt. Die später noch ausführlich erörterte Einführung des § 177 I Nr. 3 StGB war deshalb dringend notwendig, um die Konsequenzen aus der restriktiven Auslegung, insbesondere bei den Anhalterkonstellationen,560 zumindest partiell zu entschärfen.

IV. Die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung in der Reformdiskussion bis zum 4. StrRG von 1973 Die Strafbarkeitslücken, die durch die restriktive Auslegung des Nötigungsmittels der Drohung und der Gewalt und dessen Verknüpfung mit Widerstand von Seiten des Opfers entstanden, wurden in der Reformdiskussion bis einschließlich des 4. StrRG von 1973 weitestgehend ignoriert. Die Konstruktion der vis haud ingrata war absolut anerkannt.561 Lediglich der E 1962562 intendierte im Vergleich zu den vorhergehenden Entwürfen die Schließung von Strafbarkeitslücken, indem im Rahmen der Nötigung zur Unzucht in § 206 Drohungen mit einem 557

Vgl. BGH NStZ 2005, S. 35. s. dazu bereits A.II.2.e). LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 53. 559 In BGH NJW 1984, S. 1632 blieb dieser Umstand unerörtert. 560 Vgl. BT-Drs. 7324, S. 6: Erfasst werden soll insbesondere das Verbringen des Opfers an einen Ort, „an dem es fremde Hilfe nicht erwarten kann, dem körperlich überlegenen Täter ausgeliefert ist und angesichts seiner hilflosen Lage eine Verteidigung für sinnlos hält.“ 561 Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 168. 562 Vgl. Vormbaum/Rentrop, 2008, Band 3, S. 247 ff., 298 ff. 558

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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empfindlichen Übel erfasst werden sollten.563 Dieser Vorschlag war schon Teil der nationalsozialistischen Reformdiskussion gewesen.564 Begründet wurde er mit der Bedeutsamkeit des Rechtsguts der „geschlechtlichen Freiheit“ und der Gefährlichkeit eines derartigen Angriffs „für den Rechtsfrieden“.565 Hervorgehoben wurde, dass hierbei im Gegensatz zum allgemeinen Nötigungstatbestand kein „offener Tatbestand“ vorliege, der erst durch die Gerichte seine Konkretisierung erfahren müsse, weil in derartigen Fällen der „Nötigungszweck stets verwerflich“ sei.566 Durch die objektive Konkretisierung der Handlung sollte sichergestellt werden, dass eine „wollüstige Absicht“ nicht Voraussetzung war.567 Im Gleichlauf zum E 1960 wurde in § 11 II des Entwurfes geregelt, dass Gewalt auch dann vorliegt, „wenn der Täter bei einem anderen ohne dessen Willen Hypnose anwendet oder auf den Körper eines anderen ohne dessen Willen mit einem betäubenden, berauschenden oder ähnlichen Mittel einwirkt, um ihn bewußtlos oder sonst zum Widerstand körperlich unfähig zu machen“. Wie schon im Vorentwurf von 1909 angedacht, sollte die uneigentliche Notzucht des § 177 I Hs. 2 StGB (schwere Schändung) und die einfache Schändung des § 176 I Nr. 2 StGB in einem eigenen Tatbestand der „Schändung“, § 207 des Entwurfs, zusammengeführt werden. Lag ein (täuschungsbedingtes) Einverständnis der Frau mit der Einwirkung vor, sollte der – im Vergleich zur Notzucht, § 204, im Regelfall mit dem gleichen Strafmaß ausgestattete – § 207 einschlägig sein, nachdem die Einwirkung gem. § 11 II ohne den Willen des Opfers erfolgen musste.568 Die Verfasser des AE von 1968 hielten es auf Grund „der Mannigfaltigkeit der Tatsituationen“ nicht für tunlich, „die Tatmittel der Vergewaltigung anders oder konkreter zu umreißen als im E 1962“.569 In Abkehr zum E 1962 sollte die Drohung mit einem empfindlichen Übel jedoch nicht explizit erfasst werden. Zwar wurde anerkannt, dass auch durch Drohungen „mit einem empfindlichen Übel“ ein der qualifizierten Drohung gleichstehender Nötigungsdruck bewirkt werden könne.570 Die Drohung sollte jedoch auf die gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben beschränkt bleiben, weil der Tatbestand auf „eindeutig kriminelle Verhaltensweisen“ zugeschnitten sei und sich unter dieser Schwelle liegende „Nöti-

563

§ 206 Nötigung zur Unzucht (1) Wer einen anderen durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, eine Handlung zu dulden oder vorzunehmen, die das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung erheblich verletzt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. (. . .) 564 s. Zweiter Teil: C.II.2. 565 Jeweils Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung,1962, S. 362 f. 566 Jeweils Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung,1962, S. 363. 567 Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung, 1962, S. 363. 568 Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung, 1962, S. 361. 569 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11. 570 Hanack, 1969, Rz. 58.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

gungshandlungen“ „nur schwer erfassen“ ließen.571 Darüber hinaus habe „die Frau in diesen Fällen meist bessere Abwehrmöglichkeiten“.572 Ein Schwerpunkt des für den AE maßgeblichen Gutachtens von Hanack lag auf dem Komplex der „Abgrenzung der Gewalt zum bloßen Sträuben gegenüber nicht unwillkommener Gewalt“.573 Denn die vis haud ingrata beschäftige die Praxis sowohl im Rahmen des objektiven Tatbestands als auch des subjektiven Tatbestands. Der Gesetzgeber könne hier keine Abhilfe schaffen, vielmehr müsse auf die Einbeziehung „kriminologischer und psychologischer Erfahrung“ durch die Gerichte vertraut werden.574 Dieses Erfahrungswissen war damals noch eindeutig von der Auffassung geprägt, dass es schwierig sei, eine Vergewaltigung von einer normalen sexuellen Interaktion abzugrenzen, weil der gespielte Widerstand des weiblichen Teils vom ernstlichen Widerstand ebenso schwer abzugrenzen sei wie der „ernsthafte Angriff“ 575 vom bloßen „Werben des Mannes“ 576. Eine gewisse Gewaltanwendung gehörte also dazu. Der AE BT von 1968 die Sexualdelikte betreffend bewies hinsichtlich der Tatbestände der Notzucht und Schweren Unzucht keinen aufklärerischen Geist, auch wenn dies die Mitwirkenden freilich anders sahen.577 Auch im Rahmen des 4. StrRG von 1973 wurden keine Änderungen an den Nötigungsmitteln des § 177 StGB vorgenommen. Lediglich der Wortlaut des § 177 StGB wurde parallel zur Fassung des Raubtatbestands in „mit Gewalt“ geändert.

V. Kritische Würdigung Unterzieht man die Rechtsprechung zu § 177 StGB und §§ 240, 249 StGB hinsichtlich des Nötigungsmittels der Gewalt einem Vergleich, so fällt auf, dass die Argumentationsmuster, die für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt im Rahmen der §§ 240, 249 StGB herangezogen werden, in § 177 StGB von der Rechtsprechung eine strikte Ablehnung erfahren. Wird bei der Nötigung im Straßenverkehr bis heute akzeptiert, dass „zwischen den körperlichen und geistig-seelischen Funktionen (. . .) eine Wechselwirkung“ besteht, so dass „sich Eindrücke körperlicher und seelischer Art nicht voneinander trennen“ lassen,578 steht man seit jeher einer Anerkennung einer gemischt physisch-psychischen Zwangswirkung im Rahmen des § 177 StGB abweisend gegenüber.579 Und dies, obwohl sich der 571

Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13; s. dazu auch Hanack, 1969, Rz. 87. Hanack, 1969, Rz. 58. 573 Hanack, 1969, Rz. 54. 574 Hanack, 1969, Rz. 54. 575 Hanack, 1969, Rz. 56. 576 Hanack, 1969, Rz. 55. 577 Vgl. Hanack, 1969, S. 7 ff. Man war überzeugt, die neuesten Ergebnisse der Sexualwissenschaft eingearbeitet zu haben, wobei insbesondere auch auf die Arbeiten von Freud verwiesen wurde. 578 BGHSt 19, 263, (265). 572

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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Täter gerade in der Deliktssituation der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung oftmals die „Urangst“ der meisten Frauen zunutze macht, vergewaltigt zu werden, und diese Angst sich regelmäßig auch körperlich, wie unter anderem in Gestalt von Herzklopfen, Schweißausbrüchen sowie Panikgefühlen zeigt. Die Argumentationsmuster hätten somit unproblematisch – bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 92, 1 – übertragen werden können.580 Kritisch zu würdigen ist diese Restriktion insofern, als hierdurch Opfern sexueller Gewalt kein adäquater Schutz gewährt wurde.581 Zu kritisieren ist des Weiteren, dass – als Ausgangspunkt – zwar jeweils dieselbe Gewaltdefinition angeführt wurde, letztendlich jedoch von einem anderen, weil engeren Gewaltbegriff im Rahmen des § 177 StGB ausgegangen wurde,582 ohne dies offen auszusprechen, geschweige denn zu begründen. Nachdem auch die Auslegung der Drohung restriktiv erfolgte, drängt sich der Schluss auf, dass es einem Anliegen der Rechtsprechung entsprach, dem Rechtsgut des § 240 StGB und § 249 StGB im Gegensatz zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht einen umfassenderen Schutz zu gewähren.583 Die gegenwärtige Entscheidungspraxis deutet in weiten Teilen nicht auf eine Abkehr vom restriktiven Auslegungsverständnis der Nötigungsmittel Gewalt und Drohung hin.584 Das Leitbild im Rahmen der sexuellen Nötigung/Vergewalti579 Eine absolute Ausnahme stellt der Beschluss des OLG Köln dar, wo „die Ausübung rein psychisch wirkenden Zwanges“ als Gewalt konstituierend bewertet wurde; vgl. OLG Köln, Beschluss vom 18.05.1979 – 2 Ws 203/79. Dagegen BGH NStZ 1981, S. 218. Ausnahmecharakter hat auch LG Hamburg, Urteil vom 10.06.1994 – 627 KLs 2/94. 580 Die Kritik an dem engeren Gewaltbegriff in § 177 StGB im Vergleich zu § 240 StGB ist nach Ansicht von Schroeder „verfehlt“, weil hierbei unzulässigerweise die „Erzwingungsgewalt“ mit der „Verhinderungsgewalt“ gleichgesetzt werde; vgl. Schroeder, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 490. Dem ist zu widersprechen, weil beispielsweise auch bei der Nötigung im Straßenverkehr „Erzwingungsgewalt“ eingesetzt wird und durch Einsperren sehr wohl sexuelle Handlungen erzwungen werden können, weil dieses „erzwingend“ wirken kann. 581 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 32. Oftmals blieb – systemwidrig – nur eine Strafbarkeit wegen Beleidigung. Rössner plädierte für einen Verzicht auf das Kriterium der Körperlichkeit und die Übertragung des weiten Gewaltbegriffs des § 240 StGB auf § 177 StGB a. F.; vgl. Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 534; auch Hillenkamp, NStZ 1989, S. 529 hielt aus „viktimo-dogmatischer Sicht“ einen weiteren Gewaltbegriff für „vorzugswürdig“. 582 Ebenso Brüggemann, 2012, S. 259 f.; Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 340. 583 Ebenso Frommel, MschrKrim 1985, S. 354; Frommel, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 114. SK-Horn, § 178 Rn. 8 plädierte deshalb für folgende Kurzformel: „Als Gewalt i. S. d. § 177 StGB genügt jedes (nicht Drohungs-)Verhalten des Täters, das bestimmt und geeignet ist, die physischen oder psychischen Voraussetzungen des Opfers zu beeinträchtigen, deren dieses bedarf, um sich des sexuellen Ansinnens des Täters verweigern zu können.“ 584 Ebenso Fischer, NStZ 2000, S. 143; Gössel, 2005, § 2 Rn. 20 f.; Laubenthal, 2000, Rn. 117; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 32, 38; Wolter, NStZ 1985, S. 251. A. A. Brüggemann, 2012, S. 260 f., der die berechtigte Kritk an der Rechtspre-

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

gung scheint die offene und körperliche Auseinandersetzung zwischen dem Nötiger und dem Genötigten zu sein.585 Deshalb lautet die Gleichung oftmals: Gewalt ohne Widerstandsaktivitäten ist keine Gewalt,586 wodurch die Eskalationsgefahr durch Widerstand dem Opfer aufgebürdet wird.587 Hierbei zeitigt auch das immer noch wirksame Verhaltensbild der vis haud ingrata Relevanz.588 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll zwar der Gesamtkontext der Tat bei der Frage, ob Gewalt angewendet wurde, Berücksichtigung finden; dies geschieht jedoch nicht in ausreichendem Maße bzw. unter Einbeziehung falscher Wertungen. Letztendlich erschöpft sich die Gesamtbetrachtung der Rechtsprechung – entgegen ihres eigenen Anspruchs589 – oftmals in einer oberflächlichen und mechanischen Anwendung der Formel körperliche Kraftentfaltung und körperliche Zwangswirkung, ohne die konkrete Tatsituation ausreichend zu würdigen. Die für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt notwendige körperliche Zwangswirkung beim Opfer hängt jedoch „von der jeweiligen Eigenart des Delikts und vom jeweiligen Straftatbestand ab“.590 Gerade weil für den Begriff der Gewalt keine „Legaldefinition“ 591 existiert und es sich hierbei um „keinen sinnlich fassbaren Gegenstand handelt“ 592, erfährt der körperliche wirksame Zwang seine konkrete Ausfüllung erst anhand des betroffenen Delikts. Die Auslegung vollzieht sich daher am Normzweck, teleologisch, und muss die Schutzfunktion des Tatbe-

chung der 80er und frühen 90er nun als obsolet ansieht. Wolter verlangt für Gewalt „eine unmittelbare Leibes- oder Lebensgefahr“ bzw. die Schaffung eines „unwiderstehlichen Zwangs“ und dadurch „primär körperliche Wirkungen“; vgl. Wolter, NStZ 1985, S. 247. 585 Dieses Bild entspricht auch dem überholten naturalistischen Gewaltbegriff des Reichsgerichts; vgl. RGSt 56, 87, (88 f.) und Keller, JuS 1984, S. 110. 586 Ebenso Sick, 1993, S. 131. 587 Ebenso P.-A. Albrecht, 1992, S. 51; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/ 3303, S. 6; Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 341; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24; Otto, JR 1982, S. 118; Steinhilper, 1986, S. 339. 588 Ebenso Gössel, 2005, § 2 Rn. 21. 589 Vgl. BGHSt 23, 49: „Das Urteil darüber, ob ein tatsächlicher Vorgang als Gewalt im Sinne eines bestimmten strafrechtlichen Tatbestandes anzusehen ist, läßt sich nicht einfach dadurch gewinnen, daß dieser Vorgang an einer abstrakten Umschreibung des Gewaltbegriffs gemessen wird. Solch isolierte Betrachtung ist verfehlt; der Vorgang ist stets im Zusammenhang mit dem vom Tatbestand vorausgesetzten Ziel des Handelns und in seinem Verhältnis zu der Person oder den Personen zu beurteilen, die betroffen oder beeinflußt werden sollen. Es genügt also nicht, daß eine zur Überwindung irgendeines Widerstandes geeignete Kraft entfaltet wird, sondern es kommt wesentlich auf die spezifische Eignung dieser Kraft im Sinne ihrer vom Tatbestand vorausgesetzten Wirksamkeit an.“ 590 Laubenthal, 2000, Rn. 119; Wessels/Hettinger, 36. Aufl. (2012), Rn. 386. 591 Müller-Dietz, GA 1974, S. 34. Weder die grammatikalische noch die systematische oder die historische Auslegung konnten dem Gewaltbegriff eindeutige Konturen zuführen; vgl. dazu ausführlich Heintschel-Heinegg, 1975, S. 159 ff. 592 Gössel/Dölling, 2. Aufl. (2004), § 17 Rn. 37.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

273

stands,593 konkret die Wertigkeit und den Charakter des zu schützenden Rechtsguts berücksichtigen. Nachdem der Schutzbereich durch die Tatbestandsmerkmale der Gewalt und qualifizierten Drohung auf eine spezifische „Angriffsintensität“ eingeengt werden, muss das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung innerhalb dieses Prozesses dazu in Beziehung gesetzt werden.594 Nur „ausreichend intensive Angriffe“, die der Gesetzgeber in Form von Gewalt und qualifizierter Drohung erblickt, werden von § 177 StGB erfasst.595 Die Frage, ob der Angriff ein ausreichendes Motivationspotential im Sinne des Täterverlangens aufweist, darf und kann jedoch nicht ohne die Berücksichtigung der „Schutzbedürftigkeit des Opfers“ 596 beantwortet werden. Beide Aspekte hängen voneinander ab, so dass die Opferperspektive richtigerweise die teleologische Auslegung mitbestimmt.597 Als Konsequenz müsste im Rahmen des § 177 StGB die Opferperspektive und die spezielle Tatsituation der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung an Bedeutung gewinnen.598 Hierbei müsste das deliktsspezifische kriminologische und psychologische Erfahrungswissen unter anderem das Täter-Opfer-Verhältnis betreffend einfließen.599 Dieses Wissen kann dem Beurteilungsvorgang, ob das Opfer einem „gewaltintensiven Angriff“ 600 im Sinne des Tatbestands ausgesetzt ist, ein neues Fundament geben. Die über Jahrhunderte verfestigte Vorstellung vom ernstlichen Widerstand muss in ihrer Opferschutz verkürzenden Wirkung erkannt und verabschiedet werden. Gerade bei der Bewertung der Widerstandsleistung des Opfers wird psychologisches Erfahrungswissen ignoriert.601 Unterlassene Hilferufe können ein Indiz für die völlige Einschüchterung des Opfers durch den Täter sein und bereits erfahrene Gewalt auf Grund eines Schockzustands zu einer momentanen Lähmung des Opfers führen.602 Reaktionen von Opferseite sind vielfältig 593

Gössel/Dölling, 2. Aufl. (2004), § 17 Rn. 38; Müller-Dietz, GA 1974, S. 39. Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 530. 595 Jeweils Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 530. 596 Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 531. 597 Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 531. 598 In diesem Sinne sehr begrüßenswert BGH NStZ 1993, S. 341; ebenso Kruse/ Sczesny, KJ 1993, S. 341. 599 Ebenso Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 532. 600 Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 532. 601 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 24 und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 7. 602 Weis, 1982, S. 101. Vgl. BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87: Der Angeklagte hatte das Opfer „zeitweilig in seine Wohnung eingeschlossen, sie unter Entfaltung von Körperkraft an ihren Fluchtversuchen gehindert, sie über sich gerissen, an den Armen gezerrt und dadurch gezwungen, sich hinzulegen.“ Außerdem habe er „durch seine hypothetische Fragestellung, was Martina F. tun würde, wenn ihr jemand ein Messer an die Kehle hielte und sie aufforderte, sich auszuziehen, verbunden mit dem mehrfachen eindringlichen Ansehen der Zeugin erhebliche Angst eingeflößt und damit eine psychische Zwangswirkung auf sie ausgeübt“. Trotzdem wird ihr hinsicht594

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

und lassen sich nicht in eine Verhaltensschablone drängen. Das Opfer darf in der Tatsituation nicht wie eine völlig freie, in ihrer Entscheidungsfähigkeit unbeeinträchtigte Person behandelt werden. Des Weiteren kann Widerstand den „Entpersonalisationsprozess“ 603 des Opfers aus Sicht des Täters verstärken, so dass jede Emotion gegenüber dem Opfer und dessen Wahrnehmung als Mensch beim Täter verloren gehen, wodurch die Vollendung des Delikts äußerst wahrscheinlich ist.604 Bei vorurteilsfreier Untersuchung der Tatsituation wird offenbar, dass bereits unterhalb der Schwelle „körperlicher Auseinandersetzung intensive Zwangswirkungen“ 605 entstehen können. Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt ist nicht davon abhängig, welche Handlung das Opfer angeblich unterlassen hat, sondern davon, ob das Opfer in der konkreten Situation auf Grund der tatsächlichen Umstände und seiner daraus resultierenden psychischen und körperlichen Befindlichkeit einer körperlich wirksamen Zwangswirkung ausgesetzt war.606 Freilich wird gerade im Rahmen des § 177 StGB eingewandt, dass auf Grund der Verbindung der Gewalt mit der qualifizierten Drohung sowie auf Grund der hohen Wertigkeit des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, das Merkmal der Gewalt restriktiver ausgelegt werden müsse, um dem Tatbestand zu unterfallen.607 Daher seien an den Gewaltbegriff und die „unmittelbare Leibesgefahr“ in

lich der Vergewaltigung vorgehalten, dass sie nicht im Anschluss an die ersten sexuellen Handlungen, als der Täter für eine halbe Stunde die Wohnung verlassen hatte, sofort geflohen sei. Vgl. auch BGH, Urteil vom 29.05.1991 – 2 StR 141/91: „Die hilflose Untätigkeit der Zeugin, die nach dem Anhalten nicht einmal den (aussichtsreichen) Versuch unternahm, auszusteigen, sei auf ihre durch die erste Annäherung des Angeklagten ausgelöste Angst zurückzuführen.“ Vgl. auch BGH NStZ 1995, S. 229. 603 Ben-David, 1982, S. 245. 604 Ben-David, 1982, S. 245; Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 533. 605 Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 533. 606 Ebenso Sick, 1993, S. 117 f. Insofern ist das Urteil des LG Hamburg, Urteil vom 10.06.1994 – 627 KLs 2/94 zu begrüßen: „Wer durch sein gesamtes Verhalten (hier: Eindringen in fremde Wohnungen zur Nachtzeit, Wecken des Opfers mit den Worten: ,Sei still, ich tue Dir nichts, habe keine Angst und schreie nicht!‘) einen nachhaltigen Schock bei seinen Opfern auslöst und hierdurch Angst und Furcht verursacht, versetzt sie in eine körperlich wirksame Zwangslage, die diese auch als solche empfinden, weil sie aus ihrer Sicht in dieser Situation mit erheblichen Gewalttätigkeiten rechnen müssen, falls sie sich verweigern. Von den Opfern kann unter diesen Umständen nicht verlangt werden, ein zusätzliches Verletzungs- oder Todesrisiko durch Widerstand einzugehen, zumal wenn sie allein sind und nicht auf schnelle Hilfe durch Dritte hoffen können. Dieses Verhalten erfüllt daher das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in §§ 177, 178 StGB.“ Allerdings ist das Täterverhalten als konkludente Drohung und nicht als Gewalt i. S. d. § 177 StGB zu werten, weil das Verhalten des Täters zunächst auf psychischer Ebene in Form von Angst, Panik u. ä. wirkte und erst dann auch körperliche Reaktionen wie eine körperliche Lähmung nach sich zog. 607 Vgl. BGH NStZ 1981, S. 218; Blanke, 2007, S. 224 ff.; HK/GS-Laue, 2. Aufl. (2011), § 177 StGB Rn. 4; Knodel, 1962, S. 160 ff.; Krey, 1988, Rn. 142 ff.; Laubenthal, 2000, Rn. 119 f.; Röthlein, 1986, S. 219 ff.; Wolter, NStZ 1985, S. 198. Ablehnend MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 26.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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§ 177 StGB höhere Ansprüche als in § 240 StGB zu stellen.608 Dieser Auffassung, wie auch der Aussage, dass es bei bedeutsamen Rechtsgütern angemessen sei, vom Opfer mehr Selbstbehauptung und Widerstand zu verlangen, „bevor es vor der Gewalt des Täters kapituliert“,609 kann jedoch nicht zugestimmt werden.610 Ebenso wenig wie der Zusatz Gewalt gegen eine Person die Anforderungen an das bereits personenbezogene Gewaltmerkmal erhöht,611 geschieht dies durch das Tatbestandsmerkmal der Drohung. Das Tatbestandsmerkmal der Drohung determiniert nicht die Auslegung des Gewaltbegriffs. Jedes Tatbestandsmerkmal steht für sich und ist aus sich selbst heraus zu bestimmen. Der Umstand, dass die Drohung im Sinne des § 177 StGB qualifiziert ist und schon immer war, liegt in der Geschichte des Notzuchttatbestands begründet, wobei nur Drohungen, denen mindestens die gleiche Wertigkeit wie der Geschlechtsehre zukam, als tatbestandsmäßig anerkannt waren.612 Die höheren Anforderungen der Drohung im Rahmen des § 177 I Nr. 2 StGB beruhen darüber hinaus auf dem Umstand, dass Gewalt, die aktuell auf das Opfer körperlich einwirkt, in der Regel weitaus „eingriffsintensiver“ 613 ist. Auf Grund dessen ist Gewalt in § 177 I Nr. 1 StGB ebenso wie im Rahmen der §§ 240, 249, 253, 255 StGB auszulegen.614 Weder beim Raub noch bei der räuberischen Erpressung wird aber bei der Frage der Gewaltanwendung geprüft, ob das Opfer ihm mögliche Hilferufe oder Fluchtversuche unterlassen hat. Die von der Rechtsprechung hierbei vorgenommene „viktimologische Restriktion“ 615 des Gewaltbegriffs auf Tatbestandsebene innerhalb des § 177 StGB ist abzulehnen. Sie steht überdies im Widerspruch zur ständigen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Irrtum“ in § 263 StGB. Dort wird eine derartige Restriktion abgelehnt,616 „denn selbst leichtfertige Opfer werden durch das Strafrecht geschützt.“ 617 Darüber hinaus er608

Wolter, NStZ 1985, S. 198; in diesem Sinne Krey, 1988, Rn. 142 ff. Röthlein, 1986, S. 96; ebenso Arzt, JZ 1984, S. 429; Knodel, 1962, S. 161. 610 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33. 611 s. oben A.II.2.a) und LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2001), § 240 Rn. 43. 612 s. Zweiter Teil: A.II. und III. 613 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33. 614 Ebenso Gössel, 2005, § 2 Rn. 21; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33, 53; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 23; Sick, 1993, S. 102, 155; Wolter, NStZ 1985, S. 250, der jedoch den Gewaltbegriff letztlich doch enger als bei § 240 StGB auslegen möchte, weil er eine Harmonisierung mit der qualifizierten Drohung für geboten hält. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 5a weist darauf hin, dass in § 177 StGB kein erhöhtes Maß an Gewalt gegenüber § 240 StGB vorausgesetzt werde. 615 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 226. 616 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 226 f. m.w. N.; kritisiert u. a. von Schünemann, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 1 ff., S. 5. 617 BGH NJW 2003, S. 1198 f.: „Die viktimologisch motivierten Ansätze zur Einschränkung des Betrugstatbestands wegen geringerer Schutzbedürftigkeit des zweifelnden Tatopfers finden im Wortlaut des § 263 StGB keine Stütze (. . .).“ „Die ihr zu Grunde liegende Vorstellung, dass sich das Tatopfer bei solchen Zweifeln vergewissern oder von der schädigenden Vermögensverfügung Abstand nehmen könne, läuft auf eine 609

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

fordert weder die Eigenschaft als Verbrechen noch der Schutzzweck der Norm einen engeren Gewaltbegriff.618 Die hohe Wertigkeit des sexuellen Selbstbestimmungsrechts erfordert im Gegenteil, dass die Auslegung diese Qualität berücksichtigt und – daran gemessen – die eingesetzte Gewalt zur Opferperspektive in Relation setzt. Diese Vorgehensweise müsste aber – konträr zur Rechtsprechung – dazu führen, dass der strafrechtliche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ausgedehnt, der der Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit aber eingeschränkt wird. Hierbei ist einzustellen, dass die durch § 240 StGB geschützten Rechtsgüter gegenüber dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht geringer wiegen, da sie bereits im Alltag vielfach beschnitten werden, ohne dass dies strafrechtlich sanktioniert wäre. Der Bedeutungsunterschied kommt sowohl in der Strafandrohung als auch darin zum Ausdruck, dass die allgemeine Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit nicht durch § 35 StGB geschützt werden, verstärkt aber gefordert wird, die sexuelle Integrität als Bestandteil des Rechtsguts „Leib“ zu begreifen619 bzw. das sexuelle Selbstbestimmungsrecht dem Rechtsgut der Freiheit zuzuordnen.620 Wie Roxin zutreffend ausführt, stehen Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung „der Lebens- und Leibesgefahr noch näher“ als die Freiheitsberaubung.621 Es erschließt sich somit nicht, warum die Rechtsprechung gerade § 240 StGB extensiv auslegt, obwohl beispielsweise auch mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht auf Nötigungen im Straßenverkehr angemessen reagiert werden könnte.622 Schließlich ist folgendes zu bedenken: Das Opfer eines sexuellen Angriffs wird im Gegensatz zum Opfer einer Nötigung weitaus mehr paralysiert, gerade weil sein sexuelles Selbstbestimmungsrecht betroffen ist und dies aus Sicht des Opfers den Einsatz hoher krimineller Energie voraussetzt. Der Täter einer Nötigung im Straßenverkehr wird als nervlich belastend und teils auch als gefährlich empfunden werden; er erzeugt jedoch beim Opfer keine vergleichbare existentielle (Todes-) Angst, wie sie im Regelfall bei einer sexuellen Attacke empfunden wird. Man rechnet nämlich damit, dass der Nötiger sein eigedem Strafrecht fremde Bewertung eines Mitverschuldens hinaus, das auch sonst nicht tatbestandsausschließend wirkt“. 618 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 23. 619 Jakobs, 3. Aufl. (1993), § 20 Rn. 8; Jescheck/Weigend, 5. Aufl. (1996), § 44 I 1; MüKo-Müssig, 2. Aufl. (2011), § 35 Rn. 14 m.w. N. sieht die sexuelle Integrität zutreffend als Bestandteil der körperlichen Integrität an: „Letzteres wird überwiegend bestritten, hauptsächlich mit dem Argument, die Beeinträchtigung der sexuellen Integrität sei für sich allein (nur?) ein Delikt gegen die Selbstbestimmung, also ein Freiheitsdelikt. Damit wird jedoch die rechtliche Garantie der körperlichen Integrität um eine entscheidende kommunikative bzw. soziale Perspektive verkürzt: körperliche Integrität ist das Fundament der (individuellen) Verfügungsmacht über den eigenen Leib, und damit ausschnittsweise, im ,Zeichen‘ des Körpers materialisierte rechtliche Garantie von Freiheit.“ 620 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 22 Rn. 28. 621 Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 22 Rn. 28. 622 Ebenso P.-A. Albrecht, 1992, S. 72 f.

A. Auslegung der Nötigungsmittel der Gewalt/Drohung in § 177 StGB

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nes Leben bzw. sein Eigentum nicht verletzen will, also nicht bis zum Äußersten gehen wird. Des Weiteren kann man sich einem derartigen Angriff im Straßenverkehr in der Regel auch mühelos entziehen. Im Rahmen einer sexuellen Attacke rechnet das Opfer dagegen in der Regel mit einer Eskalation der Tatsituation, insbesondere auch weil Urängste vor Vergewaltigungen (insbesondere bei Frauen) sowie negative Informationen vom Hörensagen, die solche Taten betreffen, das Bewusstsein bedrängen und dadurch Panikgefühle hervorrufen können. Diese Verschiedenheit der Tatsituationen ist der Grund dafür, dass ein Eingriff in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht erzwungen werden kann, auch wenn erhebliche Gewalteinwirkungen fehlen. Es entspricht somit einem unreflektierten Verständnis hinsichtlich der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung, wenn „geringe“ Gewalt und „geringer“ Widerstand als Indiz dafür behandelt werden, dass das Opfer nicht ausreichend standgehalten und damit zur Rechtsgutsverletzung beigetragen habe. Als inakzeptable Konsequenz genießt das einfache Nötigungsopfer einen weitergehenden Schutz als das Opfer einer sexuellen Aggression, weil dessen Verhalten nicht dahingehend untersucht wird, ob es standhalten hätte können. Vor dem Hintergrund kriminologischer Forschungen, die belegen, dass sich Täter ihre Opfer oftmals gerade unter dem Aspekt der Vulnerabilität aussuchen, das heißt genau die Frauen auswählen, die insbesondere im Umgang mit Konfliktsituationen eine geringe Sozialkompetenz aufweisen,623 erscheint dieses Beharren besonders sachwidrig und verfehlt.

VI. Zwischenstand Ab den 70er Jahren bis Ende der 90er Jahre erfuhr das Thema (sexuelle) Gewalt gegen Frauen die notwendige Aufmerksamkeit von Seiten der Wissenschaft, Politik und der Strafverfolgungsbehörden. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema war die Folge.624 Die „feministische Bewegung“625 bewirkte durch ihr Engagement und eine – aus heutiger Perspektive – manchmal drastisch erscheinende Vorgehensweise eine „Enttabuierung, Skandalisierung und Dramatisierung“ dieses Themenkomplexes.626 Dieser Vorgang erfolgte auch in den USA und Großbritannien und spiegelt sich in empirischen Untersuchungen zu diesem Thema wieder.627 Die restriktive Auslegung des Gewalt- und Drohungsbegriffs, insbesondere die Unterlassung von Widerstand als Indiz für mangelnden Gegenwillen sowie die damit zusammenhängenden Vorstellungen rund um die Konstruktion der vis haud ingrata, wurden kritisiert und für revisionsbedürftig erklärt.628 623

Hiekel, Kriminalistik 1997, S. 627 ff., 629. Vgl. dazu Weßlau, DuR 1989, S. 37 ff. 625 Am 01.11.1976 wurde in Deutschland das erste Frauenhaus in Berlin eröffnet. 626 Steffen, 1987, S. 2, 12 ff., 31 ff. 627 Vgl. nur Abel, 1986; Baurmann, 1996; Jäger, 2000; Steffen, 1987; Steinhilper, 1986; Teufert, 1980. 628 Vgl. Steinhilper, 1986, S. 262, 337 f., 341. 624

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Drei Problemfelder wurden im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung sichtbar und standen fortan im Fokus: „1. Die sekundäre Viktimisierung weiblicher Opfer von Gewalttaten durch das Vorhandensein opfer(frauen)feindlicher Vorstellungen und Vorgehensweisen bei der allgemeinen und institutionellen Reaktion auf Opfer von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen. 2. Der tatsächliche Gewaltcharakter angeblich sexuell motivierter Delikte und die Problematik der Auslegung des Gewaltbegriffes bei diesen Taten durch die Rechtsprechung. 3. Das große Ausmaß an privater, familialer Gewalt und die unzulänglichen Reaktionen formeller Instanzen und Institutionen darauf“.629 Die oben dargestellte Auslegungspraxis des § 177 StGB belegt, dass ein Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ausgestattet nur mit den Tatmitteln der Gewalt und Drohung keinen ausreichenden Strafrechtsschutz bieten kann.630 In der ausgeprägten Reformdiskussion zum 33. StÄG wurde die Problematik, dass eine „richtige Vergewaltigung“ in den Augen der „Justiz und Volksmeinung“ nur vorlag, „wenn eine unbescholtene Frau in einsamer Gegend von einem ihr unbekannten Mann zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird und dabei möglichst sichtbare Verletzungen vorträgt“,631 schließlich als eine solche anerkannt und zum Anlass genommen, den Strafrechtsschutz zu erweitern.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels Erst im Rahmen des 33. StÄG erfolgte schließlich eine Verbesserung des Opferschutzes,632 indem unter anderem die traditionellen Nötigungsmittel des § 177 I Nrn. 1 und 2 StGB um die Nummer 3 „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“ erweitert wurden.633 Der Gesetzgeber wollte dadurch die Gesetzesfassung der Deliktsrealität der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung, die oftmals dadurch gekennzeichnet ist, dass zahlreiche Opfer sexueller Gewalt „vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“, anpassen.634 Des Weiteren kommt darin die gesetzgeberische Erkenntnis zum Ausdruck, dass auf Grund der restriktiven Rechtspre629

Elsner/Steffen, 2005, S. 266 f.; Steffen, 1987, S. 2, 81. Ebenso Kieler, 2003, S. 147. 631 BT-Drs. 12/3303, S. 7. 632 Ebenso Folkers, NJW 2000, S. 52 und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 93. 633 s. zu den weiteren Änderungen bereits Zweiter Teil: D.III. 634 BT-Drs. 13/7324, S. 6. 630

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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chung zum Tatbestandsmerkmal der Gewalt und Drohung ein adäquater Strafrechtsschutz für Opfer sexueller Gewalt nur durch eine Ausdehnung der Nötigungsmittel möglich war.635 Der Rechtsprechung, die häufig dem körperlichen Widerstand des Opfers ausschlaggebendes Gewicht zumaß, wurde hierdurch entgegengetreten.636 Unter den neuen § 177 I Nr. 3 StGB sollen insbesondere Konstellationen fallen, in denen „der Täter das Opfer an einen Ort verbringt, an dem es fremde Hilfe nicht erwarten kann, dem körperlich überlegenen Täter ausgeliefert ist und angesichts seiner hilflosen Lage eine Verteidigung für sinnlos hält.“ 637 Durch die Einführung von § 177 I Nr. 3 StGB hielt man deshalb auch § 237 StGB a. F. (Entführung gegen den Willen der Entführten) für obsolet, weil hiervon erfasst.638 Darüber hinaus wollte der Gesetzgeber den Strafrechtsschutz geistig und körperlich behinderter Menschen vor erzwungenen sexuellen Übergriffen verbessern.639 Die neu geschaffene Ausnutzungsvariante ist starker Kritik ausgesetzt,640 wurde jedoch nach anfänglichen Unsicherheiten mittlerweile von der Rechtsprechung mit festen Konturen versehen.641 Ob deren Einführung tatsächlich als Errungenschaft gesehen werden kann, wie es sich vor dem Hintergrund der bis 1997 geltenden Rechtslage zunächst darstellt, und inwieweit eine tatsächliche Ausdehnung strafrechtlichen Schutzes für Opfer sexueller Gewalt stattgefunden hat, kann aber erst bei näherer Betrachtung beurteilt werden.

I. Der Weg zu § 177 I Nr. 3 StGB n. F. – abweichende Reformvorschläge Der letztendlichen Fassung des § 177 I Nr. 3 StGB ging ein langer Prozess voraus.642 Besondere Hervorhebung verdient die Intention der Fraktion DIE GRÜNEN bzw. nach der Wiedervereinigung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Frauen im Rahmen eines Antidiskriminierungsgesetzes – ADG643 – umfassend gegen Diskrimi635

Ebenso Renzikowski, NStZ 1999, S. 378. Ebenso Renzikowski, NStZ 1999, S. 377. Die Einschätzung in BT-Drs. 13/7324, S. 6, dass der Sitzblockadenbeschluss des BVerfG eine Restriktion des Gewaltbegriffs auch bei § 177 StGB nach sich ziehen würde und der neue § 177 I Nr. 3 StGB deshalb umso mehr erforderlich sei, ist mit Skepsis zu begegnen und zeugt von Unverständnis. Schließlich war eine restriktive Handhabung bis dato bereits gängige Rechtsprechung. 637 BT-Drs. 13/7324, S. 6. 638 BT-Drs. 13/7324, S. 7. 639 BT-Drs. 13/7663 S. 4. 640 Vgl. nur Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 8, der die Vorschrift als „missglückt“ ansieht. 641 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 93; s. dazu B.II. und III. 642 Vgl. Fischer, ZStW 112 (2000), S. 76 ff.; Frommel, KJ 1996, S. 168 ff.; Mildenberger, 1998, S. 24 ff. 643 ADG I vom 09.10.1986 in BT-Drs. 10/6137; ADG II vom 07.09.1989 in BT-Drs. 11/5153; Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts und strafprozes636

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

nierung zu schützen und den Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung einer grundlegenden Revision zu unterziehen.644 So lautete der Vorschlag für einen neuen Tatbestand des § 177 StGB: Wer eine Person gegen ihren Willen anal, oral oder vaginal penetriert oder in anderer Weise in ihren Körper eindringt oder hierzu Gegenstände benutzt oder eine Person dazu nötigt, derartige Handlungen an sich selbst oder einem/einer Dritten vorzunehmen (Vergewaltigung), wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.645

Die sexuelle Nötigung sollte in § 178 StGB den Zwang zu den übrigen sexuellen Handlungen eigenständig erfassen, aber ansonsten inhaltlich parallel zu § 177 StGB verlaufen.646 Am 16.11.1995 stellte die Fraktion den Antrag an die Bundesregierung, ihre Vorschläge in einem Reformgesetz umzusetzen.647 Als Begründung für die von den Gesetzesentwürfen der SPD und des Bundesrates648 maßgeblich abweichende Tatbestandsfassung wurde die Problematik der restriktiven Rechtsprechung zum Gewaltmerkmal vorgebracht. Hierbei würde die Realität verkannt und die „psychischen Druckmittel außer acht“ gelassen, mit denen „der Wille von Frauen“ gebrochen werden könne.649 An der von der SPD vorgeschlagenen Erweiterung der Nötigungsmittel um die „Ausnutzung einer hilflosen Lage“ 650 wurde zutreffend kritisiert, dass dieses Merkmal „der Opferperspektive nicht gerecht“ werde, weil das Bestehen der hilflosen Lage wiederum maßgeblich von der Einschätzung des Richters abhänge,651 auch hierbei eine restriktive Auslegung zu befürchten sei und es nicht „darauf ankommen“ dürfe, „auf welche Weise der entgegenstehende Wille des Opfers mißachtet“ werde.652 Nur die Sanktionierung jedweden „Eingriff(s) in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, den ein Täter wissentlich gegen den Willen einer anderen Person begeht“, führe einen umfassenden Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts herbei.653 „Physische Kraftentfaltung“ sollte zukünftig „nur ein Indiz“ darstellen, „ob der Täter gegen den Willen“ des Opfers gehandelt hatte und damit der „Verknüpfung von körperlicher Gewalt und Sexualverkehr“ 654 die Relevanz entzogen wersualer Regelungen bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen vom 24.09.1992 in BT-Drs. 12/3303. 644 Vgl. dazu Beck, ZRP 1995, S. 285. 645 Zuletzt BT-Drs. 12/3303. 646 BT-Drs. 12/3303, S. 3. 647 BT-Drs. 13/3026. 648 BT-Drs. 12/1818; BR-Drs. 12/2167. 649 BT-Drs. 12/3303, S. 5. 650 BT-Drs. 12/1818, S. 3, 5. 651 Ebenso die PDS in BT-Drs. 13/356, S. 7. 652 BT-Drs. 12/3303, S. 6. 653 BT-Drs. 12/3303, S. 6. 654 BT-Drs. 12/3303, S. 7.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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den.655 Der Vorschlag bedeutete eine völlige Abkehr von den bis dahin bestehenden tatbestandlichen Strukturen der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung und ist bereits deshalb positiv zu sehen. Der Verzicht auf den Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel mag sehr extensiv erscheinen, ist jedoch der mangelnden Berücksichtigung der Opferperspektive sowie den Restriktionen der Rechtsprechung in § 177 StGB a. F. geschuldet. Es scheint sehr bedenkenswert, als sexuelle Gewalt jedes Aufzwingen von sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person zu verstehen und dies nicht von der Anwendung qualifizierter Nötigungsmittel abhängig zu machen. Zuzugeben ist jedoch, dass sich im subjektiven Tatbestand weiterhin die Problematik der Schutzbehauptung „Einverständnis“, wie in der gegenwärtigen Fassung stellen würde.656 Darüber hinaus muss die Strafandrohung von nicht unter zwei Jahren trotz der erheblichen Ausweitung des Tatbestands kritisch bewertet werden. Ein durchgreifender Veränderungswille liegt auch dem Vorschlag der PDS zugrunde.657 Danach sollten ebenfalls bereits alle sexuellen Handlungen gegen den Willen des Opfers strafbar sein, der Vergewaltigungsbegriff auf alle Eindringensformen erweitert und auch sexuelle Handlungen des Opfers an sich selbst mit einbezogen werden.658 Die Fassung der Vorschrift ist ein wenig irreführend, weil nur durch das Komma nach „gegen ihren Willen“ sichtbar wird, dass es keiner qualifizierten Nötigungsmittel bedarf. Der Vorschlag ist aber schon deshalb begrüßenswert, weil das Nötigungsmittel der Drohung mit einem empfindlichen Übel ausdrücklich aufgeführt ist. Letztendlich blieb von diesen Vorschlägen nur bzw. immerhin die Erweiterung des Vergewaltigungsbegriffs erhalten. Sexuelle Handlungen des Opfers an sich selbst werden weiterhin nicht von § 177 StGB erfasst, die Furcht des Opfers um seine körperliche Integrität ist weiterhin der Dreh- und Angelpunkt des Nötigungszwangs. Nur noch in der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, die Empfehlungen für eine Reform, insbesondere auch des Gewaltbegriffs, entwickelte, zeigt sich der Wille zum Aufbruch bestehender Strukturen. Leitendes Motiv war die Auffassung, dass „überkommene Moralvorstellungen und antiquierte Stereotypen des männlichen und weiblichen Sexualverhaltens den Einsatz des Strafrechts gegen sexualbezogene Handlun-

655 Kritisch Vollmer, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12. 1995, S. 21, weil bei fehlender Gegenwehr oder Schweigen aus Angst der innere Wille des Opfers für den Täter nicht erkennbar sei. 656 Mildenberger, 1998, S. 25. s. dazu D. 657 BT-Drs. 13/356, S. 3, 7 f. 658 § 177 StGB (1) Wer eine Person gegen ihren Willen, mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (. . .) nötigt, (. . .).

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

gen“ 659 kennzeichneten. Ein Teil der Kommission wollte denn auch entsprechend dem Vorschlag der GRÜNEN auf die Nötigungsmittel ganz verzichten und durch die Begrifflichkeit „gegen ihren Willen“ „nur auf den nach außen erkennbaren Willen der Frau“ abstellen, um „opferbeschuldigende Strategien“ zu beschneiden und der Frage nach einer „erfolgreichen physischen Gegenwehr“ jeden Boden zu entziehen.660 Daneben wurde eine für alle Tatbestände geltende allgemeine Gewaltdefinition in einem § 11 Abs. 1 Nr. 10 StGB empfohlen. Die Definition lautete: „Zwang, der mittels Einwirkung auf den Körper eines anderen Menschen oder mittels einer Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) ausgeübt wird.“ Damit wurde eine körperliche Einwirkung für unverzichtbar erklärt und die Freiheitsberaubung ausdrücklich als Nötigungsmittel anerkannt, und zwar entgegen der Rechtsprechung „unabhängig von den jeweiligen Umständen“.661 Sowohl die Einwirkung des Täters als auch die Reaktion des Opfers muss danach physischer Natur sein.662 „Verbleibende Zweifelsfragen“ wurden als nicht gesetzlich lösbar empfunden.663 Die Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission) im Rahmen der Endgutachten664 wollten vornehmlich dem Problem der Auslegung des Gewaltbegriffs insbesondere in § 240 StGB beikommen, indem dieser auf physischen Zwang beschränkt werden sollte. Für den Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung wurden keine Änderungsvorschläge die Nötigungsmittel betreffend angebracht. Es wurde lediglich zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe befürwortend Stellung genommen.665 Der Erweiterungsvorschlag der SPD von 1991 lautete schließlich Nötigung „unter Ausnutzung einer hilflosen Lage“.666 Die CDU/CSU und FDP schlugen erst 1995, knapp vier Jahre später, die Formulierung Nötigung „durch Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist“, vor.667 Inhaltlich wurde mit diesem Tatbestandsmerkmal an die hilflose Lage und damit an den Vorschlag der SPD angeknüpft.668 Es sollten 659 P.-A. Albrecht, 1992, S. 47. Diese wurde von der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen unter Ministerpräsident Schröder 1992 eingesetzt. Ihr gehörten an: PeterAlexis Albrecht; Heinrich Beckmann; Monika Frommel; Alexandra Goy; Gerald Grünwald; Heinrich Hannover; Werner Holtfort; Heribert Ostendorf. 660 P.-A. Albrecht, 1992, S. 52. 661 P.-A. Albrecht, 1992, S. 71. 662 P.-A. Albrecht, 1992, S. 71. 663 P.-A. Albrecht, 1992, S. 51. 664 Zu Genese und Inhalt vgl. Baumann, ZRP 1990, S. 103 ff. 665 Schwind, 1990, Rn. 453 f.; vgl. dazu auch Krey, 1991, S. 16 ff. 666 BT-Drs. 12/1818, S. 3, 5. 667 BT-Drs. 13/2463, S. 3, 6 f. 668 BT-Drs. 13/2463, S. 6 f.; BT-Drs. 12/1818, S. 5.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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Konstellationen erfasst sein, in denen „Frauen vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“.669 Auf Grund eines Änderungsantrags der CDU/CSU und FDP wurde schließlich die gegenwärtige, vom Wortlaut her abweichende Fassung des § 177 StGB beschlossen, ohne dass damit aber eine inhaltliche Neuausrichtung verbunden sein sollte.670 Das „strafbare Verhalten“ sollte vielmehr „noch deutlicher zum Ausdruck“ gebracht werden.671 Darüber hinaus wurde das Anliegen betont, durch die neue Tatvariante auch den „Schutz geistig und körperlich behinderter Menschen, deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist,672 vor erzwungenen sexuellen Übergriffen zu verbessern“.673 Schroeder hielt die geplante Erweiterung um die Tatvariante „Ausnutzen einer Lage, in der das Opfer dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist“, einerseits für zu weitgehend, da eine Frau dem „ungehemmten Einfluss des Täters“ schon „immer dann preisgegeben“ sei, „wenn keine hemmenden Dritten in der Nähe“ seien. Andererseits hielt er die Formulierung für „zu eng“, weil „das Erfordernis einer tatsächlichen Hilflosigkeit (. . .) geradezu die Verteidigung, das Opfer habe um Hilfe rufen oder weglaufen oder sich wehren können, die angeblich verschlossene Tür sei doch offen gewesen“ provoziere.674 Er schlug deshalb in Anlehnung an § 239a StGB die Formulierung „Ausnutzung der Sorge des Opfers um sein Wohl“ vor.675 Frommel dagegen hielt die Ausdehnung des Tatbestands um das „Ausnutzen einer hilflosen Lage“ für „moderat“, wies jedoch auf verbleibende „Strafbarkeitslücken“ hin, so dass ein „Auffangtatbestand“ mit dem Titel „Sexueller Mißbrauch eingeschränkt Widerstandsfähiger“ wünschenswert sei.676

II. Die Auslegung von § 177 I Nr. 3 StGB n. F. Die neu eingefügte Tatvariante des § 177 I Nr. 3 StGB intendiert die Schließung von Strafbarkeitslücken. Sie steht gleichrangig neben den Nötigungsmitteln 669

BT-Drs. 13/2463, S. 6. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses in BT-Drs. 13/ 4543, S. 4, 7. 671 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses in BT-Drs. 13/ 4543, S. 7. 672 § 179 StGB greift nur ein, wenn das Opfer widerstandsunfähig ist; vgl. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 179 Rn. 8. 673 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses in BT-Drs. 13/ 7663, S. 4. 674 Schroeder, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 66 f. 675 Schroeder, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 19; Schroeder, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 67. 676 Frommel, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 3; Frommel, KJ 1996, S. 170. Dieser sollte ein Vergehen darstellen. 670

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

der Gewalt und Drohung.677 „Es sollen Fälle erfaßt werden, in denen zwar weder Gewalt ausgeübt noch mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Opfers gedroht wird, dieses die Tat aber aus Angst vor dem Täter über sich ergehen läßt, weil es sich in einer hilflosen Lage befindet und ihm Widerstand aussichtslos erscheint“.678 1. Schutzlose Lage Eine schutzlose Lage liegt vor, „wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Hilfe nicht zählen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf.“ 679 Als typische Beispiele werden äußere Gegebenheiten wie die „Einsamkeit des Tatortes“ sowie „das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten“ 680 genannt. Diese Auslegung beruht auf dem synonym gebrauchten Tatbestandsmerkmal der hilflosen Lage in § 237 StGB a. F.681 Nachdem ältere Entscheidungen zu § 237 a. F. jedoch hohe Ansprüche an die hilflose Lage stellten und vom Opfer aktive Gegenwehr erwarteten,682 sind die dazu ergangenen Judikate nicht ohne Weiteres übertragbar.683 Entscheidend ist, ob „das Tatopfer nach objektiver ex-ante-Prognose möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre, das heißt ihnen weder mit Aussicht auf Erfolg körperlichen Widerstand entgegensetzen noch sich ihnen durch Flucht entziehen noch auf die Abwendung durch Hilfe dritter Personen hoffen könnte“.684 Die Schutzlosigkeit wird damit an der Möglichkeit „effektiver Abwehr“, auch in Form „sicherer Flucht“, sowie an der Möglichkeit „fremder Hilfe“ bemessen.685 Wie Fischer zutreffend bemerkt, ist es „nicht selbstverständlich“, dass „die Möglichkeit der Flucht eine ,Schutzlosigkeit‘ des Rechtsguts aus677 BGH NJW 1999, S. 369; BGH NStZ 2011, S. 274. A. A. BGH NStZ 2009, S. 207. 678 BGH NStZ 1999, S. 30; BGH NJW 1999, S. 369; BT-Drs. 13/7324, S. 2, 6. 679 St. Rspr.; BGH NStZ 2000, S. 140 f.; BGH NJW 2007, S. 2343; in Anknüpfung an BGHSt 22, 178 f. 680 Jeweils BGH NStZ-RR 2006, S. 139. 681 BT-Drs. 13/7324, S. 7; BGH NStZ 2000, S. 140; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 98. 682 Vgl. BGHSt 22, 178 f.; BGHSt 24, 93; Sch/Sch-Eser, 25. Aufl. (1997), § 237 Rn. 7 ff. 683 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 98. Eine hilflose Lage i. S. d. §§ 221, 234 StGB wird auf Grund der unterschiedlichen Schutzzwecke nicht verlangt; vgl. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 27; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 98 Fn. 242. 684 BGH NJW 2006, S. 1146. 685 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 99 f.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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schließt“.686 Nachdem der Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB über den des § 237 StGB a. F. hinausgeht, können sich „die verminderten Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten“ aber nicht nur „aus äußeren Gegebenheiten“, sondern auch „aus in der Person des Opfers liegenden Umständen einschließlich der in § 179 I Nrn. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen ergeben“.687 Die schutzlose Lage hängt daher maßgeblich von der „individuellen Fähigkeit“ ab, „in der konkreten Situation mögliche Einwirkungen abzuwehren“,688 also „zu wirksamem Widerstand oder erfolgreicher Flucht“ 689 fähig zu sein. Entscheidend sind die gesamten Umstände der Tat, wobei alle relevanten „Faktoren“ wie beispielsweise „Alter und soziale Stellung des Opfers, seine Verängstigung in Folge des gesamten Verhaltens“ des Täters Berücksichtigung finden müssen.690 In einer Gesamtwürdigung ist somit die Verminderung der Widerstandsmöglichkeiten des Opfers anhand der äußeren Gegebenheiten sowie der physischen und psychischen Konstitution desselben zu bestimmen.691 Physische oder psychische Beeinträchtigungen des Opfers sind für die Begründung einer schutzlosen Lage ebenso relevant wie eine (durch Ortsveränderung geschaffene) Isolierung des Opfers.692 Der psychischen Verfassung wird von der Rechtsprechung bei der Frage der verminderten Abwehrfähigkeit aber fälschlicherweise zu wenig eigenständige Bedeutung beigemessen. In zahlreichen Judikaten wird die hervorgehobene Bedeutung der äußeren Faktoren für eine schutzlose Lage betont und eine Begründung durch „Umstände(n) in der Person des Tatopfers“ als Ausnahmekonstellation bewertet.693 Die schutzlose Lage soll in diesen Fällen „erhöhte(n) Anforderungen“ unterliegen.694 Der Bundesgerichtshof benennt diese jedoch nicht, sondern prüft regelmäßig vorschnell die Frage der Einwirkung im Sinne des 686

Fischer, ZStW 112 (2000), S. 81 Fn. 39. BGH NStZ 2000, S. 141; BGH NStZ 2003, S. 424; BGH NStZ 2003, S. 533; BGH NStZ-RR 2003, S. 44; BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 106; Mildenberger, 1998, S. 56; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 57. 688 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 28; BGH NStZ 2010, S. 273. 689 BGH StV 2012, S. 535. 690 BGH NStZ-RR 2003, S. 44; BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; BGH NStZ 2011, S. 274. 691 BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; BGH NStZ 2011, S. 274; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 28; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 9. 692 BGH NStZ 2000, S. 141; BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 28, 31; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 106; MüKoRenzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44 f. Die „Abgeschiedenheit der familiären Wohnung“ kann ausreichen; vgl. BGH NStZ-RR 2003, S. 44. 693 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH StV 2005, S. 439 f.; BGH NStZ 2005, S. 267; BGH NStZ-RR 2006, S. 139; BGH NStZ 2009, S. 263. 694 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH NStZ 2005, S. 267; BGH StV 2005, S. 439 f. Vgl. dagegen BGH NStZ-RR 2006, S. 363 Nr. 15 (es wurde aber zusätzlich tatbestandsmäßige Gewalt angewandt). 687

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

§ 177 I Nr. 3 StGB.695 Die Gesamtwürdigung wird jedoch verkürzt, wenn dem Umstand, dass das „recht naive und unselbständige“ Opfer der Autorität des Schwiegervaters als Familienoberhaupt ausgeliefert war, keinerlei Relevanz für eine schutzlose Lage zugesprochen wird.696 Feststellungen, dass es „der Nebenklägerin ,physisch möglich‘ gewesen wäre, die unverschlossenen Praxisräumlichkeiten zu verlassen“,697 muten zynisch an, wenn man sich vor Augen führt, dass das liegende Opfer – „vor Schreck und Überraschung wie gelähmt“ – als Patientin des Täters während der Therapie völlig überraschend mit sexuellen Handlungen konfrontiert worden war und darüber hinaus halb nackt war.698 Die hierbei erfolgende „Differenzierung“ 699 zwischen äußeren und opferbedingten Umständen ist im Wortlaut des § 177 I Nr. 3 StGB nicht begründet und benachteiligt Opfer, die nicht auf Grund äußerlich sichtbarer Umstände schutzlos sind.700 Eine Lähmung der körperlichen Abwehrfunktionen infolge der als bedrohlich empfundenen Tatsituation kann das Opfer aber ebenso wehrlos machen wie das Verbringen an einen einsamen Ort.701 Schließlich sollen gerade Opfer geschützt werden, die „vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“.702 Eine schutzlose Lage muss regelmäßig geprüft werden, wenn – wie in den weit überwiegenden Tatsituationen – Täter und Opfer allein sind, das Kräfteverhältnis zu Gunsten des Täters überwiegt und der Tatort räumlich beengt ist.703 Das Vorliegen von Schutzlosigkeit wird von der Praxis vielfach „unterschätzt“. 704 Die Frage, ob „sich schutzbereite Dritte in Rufnähe“ befanden und „die Geschädigte eine realistische Chance auf Hilfe von außen gehabt hätte“,705 wird dagegen im Rahmen einer abstrakten ex-post Betrachtung oftmals überschätzt. Dem Alleinsein des Täters mit dem Opfer „in der eigenen Familienwohnung“ wird vielfach 695 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH StV 2005, S. 439; BGH NStZ-RR 2006, S. 139. Zutreffend begründet dagegen BGH NStZ 2010, S. 273. 696 BGH NStZ 2003, S. 534. 697 BGH StV 2005, S. 439. 698 Kritisch auch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 100. 699 Jeweils BGH NStZ 2003, S. 534. 700 In diesem Sinne MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 45; kritisch auch BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. 701 Als Beispiel sei hier BGH NStZ 2012, S. 440 angeführt, wobei das Opfer infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer abhängigen Persönlichkeitsstörung keinen effektiven körperlichen Widerstand gegenüber dem sexuellen Angriff leisten konnte. Vgl. außerdem die Tatsituation in BGH StV 2005, S. 439 f. 702 BT-Drs. 13/7324, S. 6. 703 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 100: „ein regelmäßig vorkommender Umstand“. Zweifelhaft deshalb BGH NStZ 2010, S. 149. Die Kritik von Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 29 an der Auffassung Hörnles ist verkürzt. 704 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44 spricht von der „Ermittlungspraxis“. 705 Jeweils BGH NStZ-RR 2003, S. 44.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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zu wenig Bedeutung beigemessen.706 Als „abwegig“ 707 muss die Verneinung einer schutzlosen Lage auf Grund der Anwesenheit des 7–10jährigen Sohnes des Angeklagten in einem anderen Raum der Wohnung während der Taten gewertet werden.708 In Familienverbänden, die von Gewalt geprägt sind, darf von den anderen Gewaltopfern keine Schutzbereitschaft bzw. -fähigkeit erwartet werden, weil sich alle Familienmitglieder dem Familienoberhaupt absolut unterordnen.709 Allein die Tatsache, dass sich die Mutter des Opfers in der Nähe aufhält,710 schließt ebenfalls nicht per se die Schutzlosigkeit aus, weil Mütter derartige Geschehnisse oftmals ignorieren bzw. verdrängen.711 Zusätzlich Umstände zu verlangen, „wie etwa das Abschließen der Tür durch den Täter mit der Folge, dass dem Opfer jegliche Fluchtmöglichkeit abgeschnitten wird“,712 setzt die Schwelle zu hoch und vernachlässigt die konkrete psychische Verfassung des Opfers in Folge des sexuell motivierten Angriffs. Bezüglich „der Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft fremder Dritter“ sind die Annahmen der Rechtsprechung oftmals realitätsfern.713 Abzulehnen sind die Erwägungen in einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005714, dass an einer objektiv schutzlosen Lage zu zweifeln sei, obwohl sich die Tat „bei einem Halt auf einem Rastplatz zur Nachtzeit“ in einem Lkw zutrug und die Opfer 9 bzw. 14 Jahre alt waren.715 Moniert wurde hierbei, dass „genauere Feststellungen zur Tatsituation, etwa zur Frequentierung des Rastplatzes und zur Anwesenheit Dritter in Rufweite des Fahrzeugs“ fehlten.716 Ebensowenig kann es überzeugen, Schutzlosigkeit abzulehnen, weil „auf dem Campingplatz unschwer Hilfe hätte erlangt werden können.“ 717 Die Anwesenheit von Personen ist nicht mit der Möglichkeit, Hilfe zu erlangen, gleichzusetzen. Dies ist ein unzutreffender Schluss. Es entspricht im Gegenteil allgemeiner Lebenserfahrung, dass Zivilcourage ein eher seltenes Gut ist und insbesondere an Orten, die sich durch Anonymität auszeichnen, Hilfsbereitschaft und die dazu gehörige Aufmerksamkeit eher die Ausnahme darstel-

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BGH NStZ 2005, S. 267; BGH NStZ 2006, S. 165; BGH NStZ-RR 2006, S. 139. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 103. 708 BGH NStZ 2006, S. 165. 709 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 103. 710 Dazu BGH NJW 2006, S. 1146. 711 Oftmals sind die Partnerinnen von Männern, die an (ihren) Kindern sexuelle Gewalt verüben, in ihrer Kindheit und/oder Jugend selbst sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen. Damit verlieren diese Mütter oftmals die Fähigkeit, ihre Kinder zu schützen. Vgl. Harten, 1995, S. 108 f. 712 BGH NStZ 2005, S. 268; ebenso BGH NStZ-RR 2006, S. 139. 713 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 102. 714 BGH NStZ 2005, S. 380. 715 BGH NStZ 2005, S. 380. 716 BGH NStZ 2005, S. 380. 717 BGH NStZ 2003, S. 424. 707

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

len.718 Eine räumliche Beengtheit und das Alleinsein mit dem Täter in einem umschlossenen Raum kann eine Bemächtigungssituation begründen, so dass für das Opfer die Außenwelt nicht mehr existiert. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2004 wurde deshalb im Hinblick auf das Bestehen einer schutzlosen Lage zutreffend ausgeführt, dass „zwar (. . .) auf dem belebten Parkplatz noch reger Betrieb geherrscht (habe), auch seien die Türen des LKWs von innen nicht verriegelt gewesen. Das Mädchen habe auf dem Parkplatz aber niemanden gekannt und habe in der Abgeschiedenheit der Kabine Hilfe Dritter nicht erwarten können.“ 719 Zutreffend wurde auch entschieden, dass die „Abgeschiedenheit der familiären Wohnung“ eine schutzlose Lage begründen kann, selbst wenn sich diese in einem Mehrfamilienhaus befindet, insbesondere weil „in Mehrfamilienhäusern mit anonymerem Charakter“ „häufig auch durch lautes Rufen oder Schreien keine besondere Hilfsbereitschaft anderer zu erlangen sein“ wird.720 Diese Erwägung liegt auch einer der ersten Entscheidungen zu § 177 I Nr. 3 StGB zugrunde, wobei das Opfer jedoch Gegenwehr geleistet und Fluchtversuche unternommen hatte, auf die der Täter mit Gewalt reagierte.721 Die bisher noch unbeantwortete Frage, ob die schutzlose Lage objektiv bestehen muss722 oder ob die Opfersicht auf objektivierbarer Grundlage ausreicht723, ist entgegen der Rechtsprechung724 zu Gunsten der zweiten Auffassung 718 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 102; Mildenberger, 1998, S. 63; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44; unzutreffend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 29a. 719 BGH StV 2005, S. 264. 720 BGH NStZ-RR 2003, S. 44. 721 BGH NJW 1999, S. 370: „Sie war auf dem Parkplatz am Waldsee mit dem Angekl. allein und wurde von diesem trotz der Fluchtversuche und trotz Gegenwehr zuletzt in das geparkte Auto zurückgetragen. Das nächste Wohngebiet war zwar „keine 100 m“, aber doch so weit entfernt, daß die Geschädigte nicht ohne weiteres dorthin gelangen konnte. Zudem brannte dort zu der nächtlichen Tatzeit lediglich in einem Haus noch Licht. Angesichts dieser Umstände war fremde Hilfe unwahrscheinlich.“ 722 BGH StV 2012, S. 535; BGH NStZ 2012, S. 269; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 42; Laubenthal, 2012, Rn. 208; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 104; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 12. Vgl. die Kritik von Schroeder in JZ 1999, S. 829, dass der Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB zu eng sei, weil es nicht darauf ankommen könne, ob das Opfer der Einwirkung schutzlos ausgeliefert ist, sondern, ob sie sich in einer derartigen Lage glaubt. Schutzbehauptungen des Täters blieben dadurch erhalten. 723 Hermann-Kolb, 2005, Rn. 35; Kieler, 2003, S. 156; noch Laubenthal, 2000, Rn. 150; Mildenberger, 1998, S. 64; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 51; Renzikowski, NStZ 1999, S. 379; Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13b; Wetzel, 1998, S. 174. 724 BGH StV 2012, S. 535; BGH NStZ 2012, S. 269. Die Aussage in BGH NJW 2006, S. 1148 und BGH NStZ-RR 2006, S. 241, dass die neue Tatvariante voraussetze, „dass das Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen Ausgeliefertseins aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf einen ihm grundsätzlich möglichen Wider-

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zu bejahen. Schutzlosigkeit liegt vor, wenn das Opfer dem Täter gegenüber wehrlos ist, weil es in seinen Schutzmechanismen und -möglichkeiten eingeschränkt ist. Die Opferperspektive stellt auch der Gesetzgeber in den Vordergrund, indem gerade Fälle erfasst werden sollten, in denen „Frauen vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen“.725 Es gilt zu unterscheiden: Ist das Opfer auf Grund seiner psychischen Konstitution wie beispielsweise eines Schockzustands oder einer besonderen „Persönlichkeitsstruktur“ 726 infolge des sexuellen Angriffs zu effektivem Widerstand nicht in der Lage,727 besteht bereits in objektiver Hinsicht eine schutzlose Lage, selbst wenn Dritte in der Nähe sind, weil das Opfer deren Hilfe in der konkreten Tatsituation nicht in Anspruch nehmen und damit nicht auf fremde Hilfe rechnen kann.728 Dies darf nicht übersehen werden. Ebenso liegt aber eine schutzlose Lage vor, wenn das Opfer in den von gravierendem psychischem Stress geprägten Tatsituationen sexueller Gewalt beispielsweise auf Grund einer Täuschung des Täters davon ausgeht, keine erfolgversprechenden Abwehr- oder Fluchtchancen zu haben.729 Auch dann ist das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert, weil es aufgegeben hat und Hilfe nicht wahrnehmen wird. Hier bemächtigt sich der Täter des Opfers erfolgreich und erzeugt für das Opfer eine schutzlose Lage. Es kann keinen Unterschied machen, ob die Abwehrfähigkeit des Opfers auf Grund der Gegebenheiten des Tatorts oder auf Grund der erfolgreichen Vorspiegelung des Täters herabgesetzt wird. In beiden Fällen wird das Opfer isoliert. Die gegenteilige Auffassung blendet das konkrete Täter-Opfer-Verhältnis aus und bestimmt die schutzlose Lage rein abstrakt nach äußeren Gegebenheiten.730 Darüber hinaus verkennt sie die Deliktswirklichkeit der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ebenso wie den „Schutzzweck der Norm“.731 Der Gesetzeswortlaut steht der Ansicht, die die Opfersicht für maßgeblich hält, nicht entgegen.732 Denn das Opfer ist dem Täter schutzlos ausgeliefert, wenn es keinerlei Abwehrmöglichkeiten erkennt.733 Darüber hinaus ist es widersprüchlich, bei der Auslegung der „Einwirkung“ im Gleichlauf mit § 177 I stand verzichtet“, vermittelt zwar eine subjektivierte Sichtweise, bezieht sich aber auf die nunmehr zu verneinende Frage, ob es bereits ausreicht, wenn das Opfer – ohne diese Lage zu erkennen – objektiv schutzlos ist. 725 BT-Drs. 13/2463, S. 6. Ebenso Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469. 726 BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. 727 Vgl. dazu oben und BGH StV 2005, S. 439. 728 Zutreffend deshalb BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. 729 Mildenberger, 1998, S. 63 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13b. 730 Ebenso Kieler, 2003, S. 156. 731 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44. 732 So auch Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469; a. A. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 104. 733 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 44.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Nr. 2 StGB auf die Opferperspektive abzustellen,734 beim Tatbestandsmerkmal der schutzlosen Lage jedoch nicht. Ebenso wie bei der Drohung735 beherrscht der Täter im Rahmen des § 177 I Nr. 3 StGB aber sein Opfer, wenn dieses davon ausgeht, der Gewaltwillkür des Täters ohne Chance auf ein Entkommen ausgeliefert zu sein. Der Tatbestand erhält auf Grund dieser Subjektivierung keine uferlose Weite. Das Opfer muss schließlich zusätzlich der „Einwirkung“ des Täters ausgeliefert sein736 und der Täter muss Ausnutzungsbewusstsein aufweisen. 2. Der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert Wurde das Vorliegen einer schutzlosen Lage bejaht, muss das Opfer darüber hinaus in dieser Lage auch der Einwirkung des Täters im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB ausgeliefert sein. Unter Einwirkung sind Handlungen zu verstehen, mit deren Hilfe das Nötigungsziel forciert werden könnte und deren Realisierungsmöglichkeit das Opfer von einer Widerstandsleistung absehen lässt.737 Das Opfer muss potentiellen „nötigenden Gewalteinwirkungen“ 738 bzw. „Gewalthandlungen“ 739 ausgeliefert sein.740 Ausschlaggebend ist wie bei § 177 I Nr. 2 StGB die Opfersicht, so dass es nicht darauf ankommt, ob der Täter wirklich Gewalt anwenden will oder dazu fähig wäre.741 Unerheblich ist auch, welche Zielsetzung der „erwartete(n) Gewalt“ zugrunde liegt, so dass es genügt, wenn diese als „Bestrafung wegen Verweigerung“ erfolgen würde.742 Auf Grund seiner systematischen Stellung neben den Nötigungsmitteln des § 177 I Nr. 1 und 2 StGB und der Beschränkung der Drohung auf gegenwärtige Gefahren für Leib oder Leben wird eine gewisse Eingriffsschwere verlangt,743 die eine restriktive Auslegung derart bewirkt, dass das Opfer „Körperverletzungshandlungen oder gar Tötungshandlungen“ 744, „körperliche(n) Gewalthandlungen“ 745, „Gewalttätig734

Dazu gleich. Auch Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469 und SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13b stellen auf den Gleichlauf mit der Drohung ab. 736 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 64. 737 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 24. 738 BGH NJW 2006, S. 1146. 739 BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. 740 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 26a; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 97; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 43. 741 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 42; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 97. 742 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 97. 743 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH, Beschluss vom 14.02.2005 – 3 StR 230/04; BGH NJW 2007, S. 2343. 744 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH NStZ 2006, S. 165; BGH NStZ 2009, S. 443; BGH NStZ 2010, S. 149; BGH NStZ-RR 2011, S. 116; BGH NStZ 2012, S. 209; BGH NStZ 2012, S. 570; BGH, Beschluss vom 24.10.2012 – 4 StR 374/12 = BGH StV 2013, S. 745 f. So schon die CDU/CSU und FDP in BT-Drs. 13/2463, S. 1. 745 BGH NStZ 2009, S. 263. 735

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keiten“ 746, also in jedem Falle eine „körperliche Beeinträchtigung“ 747 fürchten muss.748 „Nachteile nicht körperlicher Art“ 749 bzw. in Form von einfacher Gewalt750 sollen deshalb nur von § 240 I, IV StGB erfasst werden. Die Einengung auf den Aspekt der Furcht um seine „körperliche Unversehrtheit“ 751 bzw. vor „erhebliche(n) Eingriffe(n) in die Rechtsgüter Leib und Leben“ 752 verkürzt den Opferschutz unangemessen und ist daher abzulehnen. Die Rechtsprechung erachtet hierdurch parallel zur Drohung753 eine nicht unerhebliche Gesundheitsschädigung für notwendig,754 so dass die Angst vor nicht näher bestimmten Schlägen755 oder einer Freiheitsberaubung auch von der neuen Tatvariante nicht erfasst ist. Hat der Täter das eingeschränkt widerstandsfähige Opfer durch Anwendung einfacher Gewalt gegen den Widerstand des Opfers in der Vergangenheit mehrmals sexuell genötigt, wird die neue Tatvariante in Konstellationen ohne Anwendung tatbestandsmäßiger Gewalt abgelehnt, weil die Angst vor derartiger Gewalt – trotz ausgeprägter körperlicher Überlegenheit des Täters – nicht ausreicht.756 Eine derartig enge Auslegung ist vom Wortlaut her nicht geboten. Die Einwirkung im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB ist mit keinerlei Adjektiven näher qualifiziert. Laut den Gesetzesmaterialien sollen Konstellationen erfasst werden, in denen das Opfer „Angst vor der Anwendung von Gewalt“ hat, insbesondere weil es einem „körperlich überlegenen Täter“ in einer „hilflosen Lage“ ausgeliefert ist.757 Unter Gewalt fällt nach ständiger Rechtsprechung aber auch das Einsperren, so dass die Angst vor einer Freiheitsberaubung von § 177 I

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BGH NStZ-RR 2006, S. 242. BGH NStZ 2000, S. 52; BGH NJW 2007, S. 2343; BGH NStZ 2009, S. 263. 748 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96, deren Aussage, dass der „Verweis auf Verletzungen oder Tötungen“ nur der „Ausgrenzung von Opferängsten“ diene, „die sich nicht auf Gewaltanwendung“ beziehen, unzutreffend ist. Vgl. nur BGH NStZ-RR 2011, S. 117; BGH NStZ 2012, S. 209; BGH StV 2013, S. 745 f. 749 BGH NJW 2007, S. 2343; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 43. 750 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96. 751 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 43. 752 SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13b; ebenso Laubenthal, 2000, Rn. 157. 753 s. oben und Laubenthal, 2000, Rn. 140; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 72; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 9; kritisch Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 343. 754 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96. „Diffuse Bedrohungen unterhalb der Schwelle des § 177 Abs. 1 Nr.2“ werden somit entgegen Frommel von der Rechtsprechung gerade nicht erfasst. Ebenso wenig „Zwangssituationen unterhalb der Schwelle des § 240, sofern sich das Opfer aus Sorge um sein körperliches Wohl fügt“; vgl. NKFrommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 54. Es ist schon unklar, was darunter zu verstehen ist. 755 BGH StV 1994, S. 127. 756 Vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2012 – 4 StR 404/11. 757 BT-Drs. 13/7324, S. 6. 747

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Nr. 3 StGB erfasst sein müsste.758 Auch systematisch gesehen ist es keinesfalls zwingend, die Tatvariante der Nummer 3 am Maßstab der Drohung festzumachen. Die innere Stimmigkeit des § 177 I StGB würde nicht verloren gehen,759 nachdem von der Eigenständigkeit der einzelnenen Nötigungsvarianten des § 177 I StGB auszugehen ist und der Körperlichkeitsbezug der Einwirkung gewahrt bleibt. Der Verweis auf die „Entstehungsgeschichte“ 760 geht hier ebenfalls fehl. Es war der ausdrückliche gesetzgeberische Wille, den Strafrechtsschutz bei sexueller Gewalt zu erweitern und der einschränkenden Auslegung des § 177 StGB a. F. entgegenzutreten.761 Wird die neue Tatvariante an der restriktiv ausgelegten Drohung des § 177 I Nr. 2 StGB angelehnt, wird diese Intention des Reformgesetzgebers konterkariert und der Anwendungsbereich unnötig verengt.762 In ihrer Widerstandsfähigkeit stark eingeschränkte Opfer, deren entgegenstehender Wille von einem körperlich überlegenen Täter bereits mit wenig „Muskeleinsatz“ 763 überwunden werden kann, werden dadurch nicht von § 177 StGB erfasst.764 Das Unrecht der neuen Tatvariante liegt jedoch nicht in der Beugung eines entgegenstehenden Willens durch den Einsatz bestimmter Angriffsmittel, sondern in der Nötigung auf Grund Ausnutzung der „hohen Schutzbedürftigkeit“ des Opfers mangels (geringer) Selbstschutzmöglichkeiten.765 Der Gesetzgeber hat sich durch die neue Tatvariante von dem klassischen Vergewaltigungsbild ein Stück gelöst, es sollte explizit anerkannt werden, dass vergewaltigungstauglicher Zwang nicht nur durch Anwendung von Gewalt oder qualifizierten Drohungen bewirkt werden kann. Jede Form von Gewalt muss damit als befürchtete Einwirkung ausreichend sein, auch die Androhung von körperlichen Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle des § 177 I Nr. 2 StGB.766 Der Einsatz niedrigschwelligen Zwangs kann durch das Vorliegen „einer besonders ausgeprägten schutzlosen Lage“ 767 sowie einer evidenten physischen Dominanz des 758 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 97. Widersprüchlich Renzikowski: Einerseits verlangt er „Furcht vor Gewalttätigkeiten“ in NStZ 2006, S. 397 und „Angst vor Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit“ in MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 StGB Rn. 43, andererseits habe § 177 I Nr. 3 StGB nur dann einen eigenständigen Anwendungsbereich, wenn mit einem empfindlichen Übel gedroht werde, wie beispielsweise einer Freiheitsentziehung. Diesen Konstellationen weist er jedoch wenig Praxisrelevanz zu; vgl. MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51. 759 So aber BGH NStZ 2003, S. 534. 760 BGH NStZ 2003, S. 534. 761 BT-Drs. 13/7324, S. 6; Laubenthal, 2012, Rn. 198. 762 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96. 763 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96. 764 Vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2012 – 4 StR 404/11. 765 Mildenberger, 1998, S. 60 f. 766 Harbeck, 2001, S. 138 f.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 97; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 54; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 767 Folkers, NStZ 2005, S. 182.

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Täters ausgeglichen werden.768 Die Regelbeispielstechnik erlaubt bei Nötigungszwang im unteren Bereich die Bestrafung aus § 177 I StGB und gegebenenfalls nochmals über Absatz 5 die Vornahme einer Strafminderung.769 3. Furcht vor nicht unmittelbar körperlich wirkenden Nachteilen erfasst? Problematisch sind Konstellationen, in denen das Opfer andere Einbußen fürchtet als die an seiner körperliche Integrität. In Rechtsprechung und Literatur ist es mittlerweile770 nahezu unstrittig, dass § 177 I Nr. 3 StGB hierbei nicht eingreifen kann, sondern lediglich § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB.771 In der Literatur wird in diesem Zusammenhang irreführend von „rationalen Motiven“ 772 gesprochen. Dass durch Drohungen, dem Arbeitnehmer zu kündigen, eine Straftat anzuzeigen, den Ehepartner zu verlassen773 oder diesem die Kinder wegzunehmen sowie eine Heimeinweisung zu veranlassen774, vergewaltigungstauglicher gravierender psychischer Druck ausgeübt und dadurch ein entgegenstehender Wille gebeugt werden kann, wird hierbei verkannt.775 Die Androhung einschneidender sozialer Konsequenzen kann das Opfer ebenso einschüchtern wie die Androhung von Schlägen und dessen Unterordnung unter den Willen des Täters erzwingen.776 In einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005 hatte der Schwiegervater unter Ausnutzung seiner überlegenen Stellung als Familienoberhaupt und mit der Drohung, „ihre Ehe kaputt machen“ 777, gegenüber dem Opfer mehrfach sexuelle Handlungen erzwungen. Laut einem Beschluss vom 11.6. 2008778 hatte die 11- bis 15jährige Stieftochter des Angeklagten davor Angst, als Prostituierte arbeiten zu müssen. In einem Beschluss aus dem Jahr 2007 war das aus Usbekistan stammende Opfer von einer Gruppe von Männern unter Ausnutzung der Angst vor Abschiebung und Verbüßung von Haftstrafen über einen längeren Zeitraum als Sexualobjekt missbraucht worden.779 All diesen Fällen ist ge768 Folkers, NStZ 2005, S. 182; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96; ähnlich Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. Zweifelhaft deshalb BGH, Beschluss vom 07.07.2009 – 3 StR 223/09. 769 Vgl. BGH NStZ-RR 2006, S. 365 Nr. 21, 22. 770 Im Jahr 2000 hatte Fischer die Drohung mit einem empfindlichen Übel noch als von § 177 I Nr. 3 StGB erfasst angesehen; vgl. Fischer, ZStW 112 (2000), S. 86. 771 Kieler, 2003, S. 157 ff.; Laubenthal, 2012, Rn. 206; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 95 m.w. N.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 43. 772 Folkers, 2004, S. 71. Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 50. 773 Beispiele nach Folkers, 2004, S. 71. 774 BGH NStZ 2009, S. 443. 775 Unzutreffend deshalb NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 50. 776 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 61. A. A. Kieler, 2003, S. 159. 777 BGH NJW 2003, S. 2251. 778 BGH NStZ 2009, S. 263. 779 BGH NJW 2007, S. 234; vgl. auch BGH StV 2013, S. 745 f.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

meinsam, dass die Opfer unter einem erheblichen psychisch wirkenden Zwang standen und die Täter ihre Opfer auf Grund verschiedener Szenarien beherrschten. Dem erheblichen Eingriff in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht kann durch eine Verurteilung aus dem Nötigungstatbestand des § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB hierbei nicht gerecht werden. Zur Verdeutlichung soll der BGH NJW 2007, S. 2341 und BGH NStZ 2009, S. 263780 zugrundeliegende Fall näher beleuchtet werden. Der Sachverhalt erschließt sich dabei aus der Zusammenschau beider Revisionsentscheidungen.781 Das aus Usbekistan stammende, der deutschen Sprache nicht mächtige Opfer wollte in Deutschland illegal als Prostituierte arbeiten. „Sex mit mehreren Personen gleichzeitig oder nacheinander oder die Ausübung sexueller Handlungen in Anwesenheit weiterer Personen“ lehnte sie ab.782 Sie geriet zunächst in die Hände von „äußerst gewaltbereiten Zuhältern“ 783 der „russischen Mafia“.784 Sie entzog sich dieser Gruppe, nachdem sie die Tötung ihres Freundes durch diese miterlebt hatte.785 Im Anschluss traf sie auf eine Gruppe von Zuhältern, denen sie als Sexualobjekt über einen längeren Zeitraum gegen ihren Willen dienen musste. Wie schwerwiegend die Taten sich für das Opfer gestalteten, zeigt der Umstand, dass eine „posttraumatische Belastungsstörung mit der Gefahr einer andauernden Persönlichkeitsänderung“ auftrat.786 Das Landgericht Saarbrücken verurteilte die Angeklagten J, B, Sch, St, K, S, D, Z und Ke unter anderem allesamt wegen Vergewaltigung gem. § 177 I Nr. 3, II Nr. 1 StGB. Die Ausnutzung einer schutzlosen Lage begründete es mit dem Umstand, dass das illegal in Deutschland lebende Opfer „davon ausging, sich nicht an die Polizei oder sonstige Behörden wenden zu können, da sie dann unweigerlich inhaftiert, gegebenenfalls bestraft und in ihr Heimatland abgeschoben werde. Dort erwartete sie ihrer Vorstellung nach – wie die Angeklagten wussten – eine weitere mehrjährige Inhaftierung. Außer den Angeklagten verfügte Frau Ba. auch über keine persönlichen Verbindungen oder Kontakte, die ihr eine Erfolg versprechende Alternative geboten hätten, den Angeklagten dauerhaft zu entkommen.“ 787 All dies nutzten die Angeklagten aus. Der Bundesgerichtshof betonte jedoch, dass es für die neue Tatvariante unverzichtbar sei, dass sich „das Opfer aus Angst vor körperlicher

780 BGH, Beschluss vom 04.04.2007 – 4 StR 345/06 = BGH NJW 2007, S. 2341 und BGH, Beschluss vom 06.11.2008 – 4 StR 495/08 = BGH NStZ 2009, S. 263. 781 BGH NStZ 2009, S. 263 betrifft die Revision des Angeklagten Sch., aus der Zuhältergruppe, die in BGH NJW 2007, S. 2341 aufgeführt ist. 782 BGH NStZ 2009, S. 263. 783 BGH NStZ 2009, S. 263. 784 BGH NJW 2007, S. 2342. 785 BGH NStZ 2009, S. 263; BGH NJW 2007, S. 2343. 786 BGH NJW 2007, S. 2341; zur posttraumatischen Belastungsstörung vgl. Huber, 5. Aufl. (2012), S. 112 ff., 117 ff. 787 BGH NJW 2007, S. 2343.

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Beeinträchtigung nicht gegen den Täter zur Wehr setzt; es genügt nicht, dass es dies aus Angst vor der Zufügung anderer Übel unterlässt“. Vorliegend „nutzten die Angekl. in den fraglichen Fällen lediglich die auslandsspezifische Hilflosigkeit des Tatopfers und die Tatsache aus, dass sich die Zeugin aus Angst vor ausländer- und strafrechtlichen Konsequenzen ihres illegalen Aufenthalts nicht gegen die sexuellen Übergriffe der Angekl. zu wehren wagte“.788 Damit konnten lediglich die Angeklagten J, K und Ke wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung verurteilt werden.789 Beim genauen Lesen der Revisionsentscheidungen fragt man sich jedoch, ob die Angst des Opfers wirklich nur auf der Illegalität des Aufenthalts beruhte und nicht ebenso auf der Angst vor körperlicher Gewalt. Auch der Bundesgerichtshof stuft es „in einzelnen Fällen“ als naheliegend ein, dass „die Zeugin Ba. im Falle einer Weigerung mit Gewalttätigkeiten rechnen musste.“ Auf ihre Weigerung hin wurde sie „von dem Angeklagten Sch. gefragt, ob sie sich wichtig machen wolle“, der Angeklagte S. äußerte, „sie solle froh sein, nicht in Karlsruhe zu sein, wo man sie schlage“, J machte „ihr klar, dass er Widerspruch nicht duldete“ und J. und St. äußerten, „es gebe, wenn sie bei ihnen in der Gruppe sei, kein „ich will nicht“.790 Allerdings wurde moniert, dass Feststellungen dazu fehlten, dass das Opfer „im Falle einer Weigerung mit Tätlichkeiten rechnete und gerade deshalb der Vornahme sexueller Handlungen keinen Widerstand entgegensetzte“.791 Vor dem Hintergrund, dass die Zeugin durch J, Ke und K tatbestandsmäßiger Gewalt und qualifizierten Drohungen ausgesetzt war,792 was die anderen Angeklagten wussten, und ihr von den anderen Mitgliedern der Gruppe um J – „zumindest konkludent“ – angedroht wurde, wieder der gewalttätigen Gruppe in Karlsruhe ausgeliefert zu werden,793 wovor sie – wie alle wussten – große Angst hatte,794 stellt sich die Frage, ob die Furcht der Zeugin vor körperlicher Gewalt nicht auf der Hand lag. Den Einsatz einer konkludenten qualifizierten Drohung zur Erzwingung von Oralverkehr, indem „sie in vergleichbarer Situation von dem ebenfalls anwesenden Angeklagten J. geschlagen worden war“, am Vorsatz des Sch. scheitern zu lassen, „da die Zeugin zwischenzeitlich in zahlreichen Fällen mit den Angeklagten sexuell verkehrt hatte, ohne nach den Feststellungen dazu gezwungen worden zu sein“,795 scheint auf Grund der gesamten Situation ebenfalls eine verkürzte Wertung darzustellen. Die Revisionsentscheidung gegenüber Sch. in BGH NStZ 2009, S. 263 bestätigt denn auch diese Zweifel, hinterlässt aber auch Ratlosigkeit ob des Umstands, dass Sch. 788 789 790 791 792 793 794 795

BGH NJW 2007, S. 2343. BGH, Beschluss vom 04.04.2007 – 4 StR 345/06. BGH NJW 2007, S. 2343. BGH NJW 2007, S. 2343. BGH, Beschluss vom 04.04.2007 – 4 StR 345/06. BGH NStZ 2009, S. 263; BGH NJW 2007, S. 2342. BGH NJW 2007, S. 2342. BGH NJW 2007, S. 2343.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

nun anstatt wegen Vergewaltigung in neun Fällen nur wegen Nötigung in neun Fällen gem. § 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB verurteilt wurde. Aus den Urteilsgründen geht hervor, dass neben der Drohung, sie an die Polizei auszuliefern, hinsichtlich der Nötigung maßgeblich an die konkludente Drohung, die Zeugin wieder an die gewalttätige Zuhältergruppe in Karlsruhe auszuliefern, angeknüpft wurde.796 Nachdem die Zeugin dort körperlicher Gewalt ausgesetzt worden und durch die miterlebte Tötung ihres Freundes durch diese Gruppe traumatisiert war, drängt sich die Frage auf, warum nicht eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben angenommen wurde und damit der Tatbestand des § 177 I Nr. 2 StGB. Die Entscheidungen sind damit letztendlich ein Beispiel für den restriktiven Umgang des Bundesgerichtshofs mit der konkludenten Drohung in § 177 I Nr. 2 StGB und der neuen Tatvariante des § 177 I Nr. 3 StGB. Darüber hinaus muss der Frage nachgegangen werden, ob in Fällen wie diesen, unter der Prämisse, die Schutzlosigkeit hätte sich nur aus einer ausländerspezifischen Hilflosigkeit ergeben, § 177 I Nr. 3 StGB wirklich keine Anwendung finden kann. Letztendlich geht es also um die Frage, ob Konstellationen der (konkludenten) Drohung mit einem empfindlichen Übel von der neuen Tatvariante erfasst werden können. Dies hatte beispielsweise Fischer im Jahr 2000 noch bejaht.797 Dass die tatbestandsmäßige Einwirkung „an Ort und Stelle“ erfolgen798 und schon deshalb in Konstellationen verneint werden muss, in denen die befürchteten Einbussen erst nach der erzwungenen sexuellen Handlung eintreten, ist nicht überzeugend. Bereits der Wortlaut legt diese Auslegung nicht nahe. Aus Opfersicht ist man der Einwirkung des Täters auch dann schutzlos ausgeliefert und kann infolgedessen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, wenn das potentielle Übel erst im Anschluss realisiert werden soll. Gerade die Furcht vor der Realisierung durch den Täter und die Überzeugung, diese außer durch Duldung des sexuellen Angriffs nicht hindern zu können, erzeugt die schutzlose Lage gegenüber der Einwirkung des Täters.799 Hierbei ist ebenso wie im Rahmen der Drohung mit einer Dauergefahr im weiteren Sinne das Kriterium des „gegenwärtigen Verhaltenszwangs“ 800 maßgeblich. Für eine tatbestandsmäßige schutzlose Lage ist allerdings „eine über eine gewisse Zeitdauer stabilisierte Konstellation von Umständen“ 801 erforderlich, die sich der Täter zunutze macht. Diese Voraussetzung ist bei ständigen Beziehungen, insbesondere wenn sie mit einem Über-/Unterordnungsverhältnis oder einer

796

BGH NStZ 2009, S. 263. Fischer, ZStW 112 (2000), S. 86. 798 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 95; ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 43, 51. 799 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 61. 800 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 116; s. A.III.3. 801 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 32. 797

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Abhängigkeit verbunden sind, oftmals gegeben. Steht das Opfer zu dem Täter in einer derartigen Beziehung, schwebt das potentielle Übel quasi wie ein Damoklesschwert über dem Opfer, so dass sich die Einwirkung in Form einer gegenwärtigen Dauergefahr äußert, die jederzeit realisiert werden kann. Die Vorstellung des Opfers, bei Weigerung zurück ins Heimatland abgeschoben und inhaftiert zu werden, als Prostituierte arbeiten zu müssen802 oder seine Kinder zu verlieren, führt einen vergewaltigungstauglichen Zwang herbei, solange diese Übel in der Vorstellung zeitnah erfolgen sollen. In allen Fällen befindet sich das Opfer in einer für den Täter günstigen untergeordneten Lage. Im Ausländerfall sprach das Opfer kein Wort deutsch, hielt sich hier illegal auf, war in der Hand einer Zuhältergruppe und kurz zuvor in der Hand der russischen Mafia. Im Prostitutionsfall war das kindliche Opfer die Tochter des Täters und damit seiner Verfügungsgewalt ausgeliefert. Sind Opfer und Täter verheiratet und steht das Opfer zum Täter in einem psychischen oder tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnis, auf Grund fehlender Deutschkenntnisse oder weil es jeden Tag in der Wohnung eingesperrt wird, bevor der Täter zur Arbeit geht, können Drohungen, dem Opfer die Kinder wegzunehmen, vergewaltigungstauglichen Zwang erzeugen. Der Unrechtsgehalt wiegt in diesen Fällen im Vergleich zu § 177 I Nrn. 1 und 2 StGB auch gleich schwer, wenn man bedenkt, dass unter Gewalt auch die sogenannte einfache Gewalt wie das Auseinanderdrücken der Beine fallen kann. Im Vergleich zur gegenwärtigen Auslegung des § 177 I Nr. 3 StGB sind die Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers in den obigen Konstellationen ebenso herabgesetzt, darüber hinaus ist die Angriffsintensität gleich schwer oder sogar schwerer, wenn eine ausdrückliche Drohung erfolgt ist.803 Erforderlich ist jedoch die Loslösung von der Vorstellung, dass eine Vergewaltigung stets die Anwendung physischer Gewalt oder deren Androhung erfordert. Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung würde dadurch einen erweiterten Schutz erfahren. Der Einwand, dass dadurch auch „naiven“ Opfern Strafrechtsschutz zuteil würde, kann nicht durchgreifen. Hinsichtlich der Einwirkung kommt es schließlich auf die Vorstellung des Opfers an und der Erfolg des Täters belegt die Durchsetzungskraft seiner Drohungen. Darüber hinaus wird nach herrschender Ansicht auch beim Betrug das naive und leichtsinnige Opfer geschützt.804 Nachdem die Konstellationen der Drohung mit einem empfindlichen Übel entsprechen, kann auf den dortigen Maßstab zurückgegriffen werden. Dieser stellt sich als ein „objektiv-individualisierender“ dar, so dass gefragt werden muss, ob ein besonnener Mensch in der konkreten Situation unter Einbeziehung der „persönlichen Verhältnisse“ zu dem erstrebten Verhalten bestimmt werden kann.805 In den oben angeführten Fällen müsste diese Frage mit einem „Ja“ beantwortet werden. 802 803 804 805

BGH NStZ 2009, S. 263. Mildenberger, 1998, S. 61. Vgl. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 226 m.w. N. Küper, 8. Aufl. (2012), S. 108.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Letztendlich könnte eine Einbeziehung derartiger Fälle unter § 177 I Nr. 3 StGB aber nur de lege ferenda erfolgen. De lege lata scheitert eine derartige Auslegung am gesetzgeberischen Willen und wohl auch am Telos der Norm, Opfer nur dann vor Eingriffen in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht zu schützen, wenn diese körperlicher Gewalt aktuell ausgesetzt sind oder deren Vornahme fürchten. 4. Nötigung zu sexuellen Handlungen unter Ausnutzung der schutzlosen Lage Die schutzlose Lage muss nach zutreffender Ansicht nicht vom Täter zu verantworten sein, er muss diese gemäß dem Wortlaut nur ausnutzen, um sexuelle Handlungen zu erzwingen.806 Die schutzlose Lage muss den sexuellen Übergriff demnach zumindest erleichtert haben.807 Zur Tatbestandserfüllung reicht jedoch nicht schon die Ausnutzung der schutzlosen Lage zur Herbeiführung der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers aus, der Täter muss das Opfer vielmehr „unter Ausnutzung“ dieser Lage hierzu nötigen. Nach zutreffender Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet Nötigen „seinem Wortsinn nach, einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten aufzuzwingen, ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu bestimmen“.808 Die „bloße Willensmissachtung“ genügt demnach nicht.809 Der Wortlaut des § 177 I Nr. 3 StGB beantwortet dadurch die zeitweise in der Rechtsprechung strittige Frage, ob bezüglich des Ausnutzens einer schutzlosen Lage die Täter- oder Opferperspektive relevant ist,810 zugunsten der zweiten Auffassung. Eine Person kann nur dann unter Ausnutzung ihrer schutzlosen Lage gegen ihren Willen zu einer sexuellen Handlung bestimmt werden, wenn diese Person Kenntnis von ihrer schutzlosen Lage hat und deshalb von Widerstand absieht.811 Das Nötigen und die Ausnutzung stehen in einem tatbestandlichen Zusammenhang. Eine Zwangswirkung im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB liegt nur dann vor, wenn das Opfer diesen Zwang auch selbst empfindet.812 Die zeitweilig vom Zweiten Senat des Bundesgerichtshofs gegenteilig vertretene Auffassung813 weitete den Anwen-

806 St. Rspr.; BGH NStZ 2000, S. 141; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 27 m.w. N.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 105; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 45 m.w. N. A. A. Folkers, 2004, S. 56, 58 ff. 807 Kieler, 2003, S. 173; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 46. 808 BVerfG NJW 2004, S. 3769; ebenso BGH NStZ 2000, S. 141. 809 So zutreffend Laubenthal, 2012, S. 199; ebenso SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 14a. 810 Vgl. dazu BGH NStZ 2006, S. 396; Fischer, 59. Aufl. (2012), § 177 Rn. 39 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 107 m.w. N. 811 So BGH NStZ 2000, S. 140; BGH NStZ-RR 2003, S. 357 Nr. 20; BGH NStZ 2005, S. 380; BGH NStZ-RR 2006, S. 139. Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 107 m.w. N. 812 Ebenso Renzikowski, NStZ 2006, S. 397.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

dungsbereich der neuen Tatvariante sachwidrig zu den Missbrauchsdelikten der §§ 176 ff., 179 halb bei den anderen Senaten auf Kritik814 und das Bundesverfassungsgericht815 – 2006 vom ben.816

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aus und verwischte die Grenzen StGB. Die Auslegung stieß deswurde – trotz Bestätigung durch Zweiten Senat wieder aufgege-

Umstritten geblieben ist die Frage, wie die Nötigungshandlung der neuen Tatvariante beschaffen sein muss, nachdem in § 177 I Nr. 3 StGB „keine bestimmte Handlungs-Form“ 817 vorgeschrieben ist.818 Nach gefestigter Ansicht der Rechtsprechung, die inzwischen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt wurde,819 verlangt § 177 I Nr. 3 StGB, „dass der Täter sich die sein Tatvorhaben ermöglichende oder erleichternde schutzlose Lage des Opfers bewusst zunutze macht, um dessen entgegenstehenden Willen zu überwinden. Einer die Voraussetzungen des § 240 I StGB erfüllenden Nötigungshandlung bedarf es nicht“.820 An dieser Auslegung hat die Rechtsprechung festgehalten, auch wenn sie formuliert, dass Nötigen „das Beugen eines dem Ansinnen des Täters entgegenstehenden Willens durch Ausüben von Zwang“ 821 ist. „Auf eine bestimmte Form des Täterhandelns oder den Einsatz eines bestimmten Zwangsmittels kommt es“ nicht an.822 813 BGH NStZ 2004, S. 440: „Wenn das Opfer sich – wie vorliegend rechtsfehlerfrei festgestellt – in einer objektiv schutzlosen Lage befindet, welche der Täter zur Vornahme einer sexuellen Handlung gegen den Willen der betroffenen Person bewusst ausnutzt, kann es nach Auffassung des Senats nicht darauf ankommen, ob das Opfer selbst diese Lage zum Tatzeitpunkt als solche erkennt und ob es sich vor Zwangshandlungen oder Zufügung von über die sexuelle Handlung hinausgehenden sonstigen Übeln fürchtet. Auch durch überraschende, gegen seinen Willen ausgeführte sexuelle Handlungen wird das Opfer zu deren Duldung genötigt; nach dem Wortlaut des § 177 I Nr. 3 StGB reicht es aus, wenn der Täter hierzu eine schutzlose Lage ausnutzt.“ Ebenso OLG Celle NStZ-RR 2005, S. 263. 814 BGH NStZ 2003, S. 533; BGH NStZ 2005, S. 380; BGH NStZ 2005, S. 267; BGH StV 2006, S. 14; BGH StV 2006, S. 15. 815 BVerfG NJW 2004, S. 3769: „Die durch die angefochtenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung der Vorschrift des § 177 I Nr. 3 StGB, wonach sich die Nötigung in der Vornahme der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers erschöpfe, wenn sich dieses in einer schutzlosen Lage befinde und der Täter dies zur Tat ausnutze, verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG“. 816 BGH NStZ 2006, S. 395 mit Anm. Renzikowski. 817 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 33. 818 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 47 ff. 819 BVerfG NJW 2004, S. 3768 mit Bespr. von Güntge, NJW 2004, S. 3750. 820 BGH NStZ 2000, S. 141 mit abl. Anm. Fischer; ebenso BGH NStZ 2002, S. 199; NStZ-RR 2003, S. 42; BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; BGH NStZ 2006, S. 396; Kieler, 2003, S. 180; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 94 i.V. m. 14; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 47. A. A. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 33 ff.; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 821 BGH NStZ 2006, S. 396. 822 BGH NStZ 2006, S. 396.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Diese Auslegung der Rechtsprechung stößt in der Literatur auf Kritik.823 Entgegen dem Wortlaut und der systematischen Einordnung des § 177 I Nr. 3 StGB als eigenständige Begehungsvariante824 wird eine Nötigungshandlung im Sinne des § 240 I StGB für erforderlich gehalten.825 Begründet wird dies mit der Auffassung, dass der Gesetzeswortlaut der neuen Tatvariante, insbesondere das Ausnutzen „keine Handlung“ darstelle und deshalb als Nötigungsmittel nicht tauge.826 Hierbei werden jedoch die tatbestandlichen Voraussetzungen unzutreffend verkürzt. Es geht schließlich nicht nur um „das Ausnutzen einer (günstigen) Lage“ 827, sondern um die „Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer den Einwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist“. „Diese spezifische Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters muss ferner eine Zwangswirkung auf das Opfer dahin entfalten, dass es aus Angst vor Körperverletzungsoder gar Tötungshandlungen einen – ihm grundsätzlich möglichen – Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet“.828 Zuzugeben ist, dass eine derartige Zwangswirkung auch auf das Verhalten des Täters zurückzuführen sein muss,829 da ansonsten die Kenntnis des Täters von der Lage für die Erfüllung des Nötigungstatbestands ausreichen, dies aber nur einen Missbrauch darstellen würde. Eine Nötigungshandlung im Sinne des § 240 StGB ist dennoch nicht erforderlich, nachdem bereits dem Tatbestandsmerkmal der Nötigung „unter Ausnutzung“ der in § 177 I Nr. 3 StGB näher bestimmten Lage eine Aktivität des Täters immanent ist. Diese stellt sich als ein bewusstes Zueigenmachen der Situation des Opfers dar, um das Nötigungsziel zu erreichen. Allein das (konkludente oder verbale) Verlangen sexueller Handlungen kann hierfür genügen, wenn beispielsweise das Opfer einem Klima der Gewalt bzw. vorhergehender Gewalt ausgeliefert ist bzw. war. Ein in der Außenwelt deutlich sichtbares nötigendes Tun ist nicht vonnöten.830 Die Nötigung 823 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 36 ff.; Fischer, ZStW 112 (2000), S. 83 ff.; Renzikowski, NStZ 2006, S. 397 m.w. N.; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 824 s. dazu BVerfG NJW 2006, S. 3769; BGH NStZ 2000, S. 141 mit abl. Anm. Fischer = BGH JR 2001, S. 116 mit abl. Anm. Graul. § 121 I Nr. 1 Alt. 1 macht nach zutreffender Ansicht des BGH (aaO) nicht zuletzt deutlich, dass das Nötigen in § 177 I Nr. 3 StGB im Sinne von „einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten aufzwingen, ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen bestimmen“, zu verstehen ist und nicht im Sinne von § 240 StGB. 825 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 33, 48 m.w. N.; Fischer, ZStW 112 (2000), S. 86; Fischer, NStZ 2000, S. 142; Graul, JR 2001, S. 117. 826 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 34a; Fischer, ZStW 112 (2000), S. 84 f.; Graul, JR 2001, S. 117; ebenso Hiebl/Bendermacher, StV 2005, S. 265. 827 Graul, JR 2001, S. 117. 828 BGH NStZ 2012, S. 34. 829 Insbesondere wenn er die schutzlose Lage nur vorgefunden hat. 830 Die Ausführungen zur Tathandlung der neuen Tatvariante in NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 55 sind teilweise unklar. Darüber hinaus ist es irreführend, eine Nötigung mangels „Willensbeugung“ in Konstellationen „der schlichten Nichtbe-

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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erfolgt hier mittels des bewussten Missbrauchs der Schutzlosigkeit und der Angst des Opfers vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Integrität.831 Die Schutzlosigkeit und die Angst werden vom Täter also instrumentalisiert,832 durch das Auftreten des Täters wird die schutzlose Lage „dem Opfer überhaupt erst fühlbar (ge)macht“.833 Die Nötigung in § 177 I Nr. 3 StGB ist vom Gesetzgeber damit hinreichend konkret umschrieben worden,834 die Auslegung durch den Bundesgerichtshof, der den Nötigungsvorgang als „das Beugen eines dem Ansinnen des Täters entgegenstehenden Willens durch Ausüben von Zwang“ 835 beschreibt, ist folgerichtig. Die Verwandtschaft der neuen Tatvariante mit einer konkludenten Drohung mit körperlicher Gewalt im Sinne des § 177 I Nr. 2 StGB ist auf Grund dieser Auslegung kaum zu leugnen.836 Bereits in der ersten Entscheidung zur neuen Tatvariante in BGHSt 45, 253 hätte das Täterverhalten auch als eine konkludente Drohung mit körperlicher Gewalt verstanden werden können. Die folgenden Entscheidungen stützen dieses Verständnis. Eine Nötigung unter Ausnutzung der im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB näher bestimmten Lage wurde in den bisherigen Judikaten837 – abgesehen von der Ausweitung durch den zweiten Strafsenat838 – nämlich nur dann angenommen, wenn der Täter (in der Vergangenheit) bereits gewalttätig geworden war bzw. damit gedroht hatte.839 Wurde das aktive Gewaltachtung eines zu vermutenden entgegenstehenden Willens“ abzulehnen, hierfür dann aber neben § 179 StGB auf den Nötigungstatbestand (!) des „§ 240 Abs. 4 Nr. 1“ zurückgreifen zu wollen. 831 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51. 832 Vgl. auch BVerfG NJW 2004, S. 3770: „Das dem Nötigungsbegriff immanente ,Aufzwingen‘, also die Bestimmung des Opfers etwa zu einer Duldung gegen seinen Willen, kann in der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers unter Ausnutzung einer Lage, in der Widerstand aussichtslos erscheint, gesehen werden“. 833 So zutreffend Reichenbach, KritV 2002, S. 248. 834 Ebenso Kieler, 2003, S. 182; Renzikowski, NStZ 2006, S. 398 f. 835 BGH NStZ 2006, S. 396. 836 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 69 ff.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51; vgl. auch Fischer, ZStW 112 (2000), S. 99. 837 BGH NStZ 1999, S. 30; BGH NStZ 2003, S. 533; BGH NStZ 2005, S. 380; BGH NStZ 2005, S. 267; BGH StV 2006, S. 14; BGH StV 2006, S. 15, BGH NStZ 2009, S. 263; BGH NStZ 2009, S. 443; BGH NStZ 2010, S. 149; BGH NStZ-RR 2011, S. 116. 838 BGH NStZ 2004, S. 440. 839 Dies bestätigt auch der BGH implizit. Vgl. BGH NStZ 2003, S. 534 f.: „Dementsprechend hat auch die bisherige Rechtsprechung des BGH § 177 I Nr. 3 StGB nur in Tatsituationen für gegeben angesehen, in denen das Opfer entweder bereits vom Täter grob misshandelt worden war (BGHSt 45, 253 = NJW 2000, S. 1048 = NStZ 2000, S. 140) oder solche Misshandlungen befürchtete (BGH NStZ-RR 1998, S. 105; Beschl. v. 18. 11. 1997 – 4 StR 546/97 – und v. 27. 6. 2001 – 5 StR 245/01)“. Ebenso Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 37a, der kritisiert, dass sich der BGH dem Problem der Nötigungshandlung nicht stelle, indem in Konstellationen des § 177 I Nr. 3 StGB „noch immer eine ,konkludente Drohung‘ gefunden“ wurde.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

oder Drohungsverhalten aus der Vergangenheit vom Täter als Nötigungsmittel instrumentalisiert bzw. aktualisiert, erfüllt dies den Tatbestand des § 177 I Nr. 3 StGB. Dies ist jedoch keine Eigenheit der neuen Tatvariante und macht diese auch nicht zu einem „Missbrauchs-Delikt“ 840. Vielmehr können derartige Konstellationen nach der Rechtsprechung bereits eine konkludente Drohung darstellen, „wenn das Opfer angesichts der früheren Gewaltanwendung und der gegebenen Kräfteverhältnisse aus Furcht vor weiteren Gewalttätigkeiten von einer Gegenwehr absieht, sofern der Täter zumindest erkennt und billigt, dass das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben empfindet“.841 Ausreichend für die Kundgabe der konkludenten Drohung kann hierbei schon das erneute Verlangen sexueller Handlungen sein. Es handelt sich dabei um nichts anderes als die „Ausnutzung der Angst vor Gewalt im Sinne einer konkludenten Drohung“.842 Die Kritik der Literatur, dass die vom Gesetzgeber angedachten Fälle des § 177 I Nr. 3 StGB „bei ein wenig gutem Willen auch über die juristische Konstruktion der konkludenten Drohung zu lösen gewesen wäre“,843 ist daher zutreffend. Sie richtet sich jedoch an die Praxis und kann gerade deshalb § 177 I Nr. 3 StGB seine Existenzberechtigung nicht absprechen. Das Beharren der Rechtsprechung auf der restriktiven Auslegung der Gewalt und Drohung machte dessen Einführung unumgänglich. Die neue Tatvariante schafft hierbei insoweit Abhilfe, als dass ein geleisteter oder erwarteter Widerstand nicht überwunden werden muss und eine Kundgabe der Drohung im Sinne von § 177 I Nr. 2 StGB nicht erforderlich ist,844 insbesondere bei Konstellationen innerhalb eines Klimas der Gewalt.845 Andererseits erfährt der Anwendungsbereich auch deutliche Einschnitte, wenn das objektive Vorliegen einer schutzlosen Lage verlangt wird und es nicht ausreicht, wenn sich das Opfer den Einwirkungen des Täters (nachvollziehbar) schutzlos ausgeliefert fühlt.846 Der Realisierung der neuen Tatvariante „kommt daher grundsätzlich ein eigener Unrechtsgehalt zu“.847 Der Anwen840

So die Kritik von Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 36. BGH NStZ-RR 2003, S. 42 f. 842 BGH NStZ-RR 2003, S. 42 f. Ausführlich dazu gleich. 843 Helmken, ZRP 1995, S. 304; ebenso Fischer, ZStW 112 (2000), S. 99, 103; Fischer, NStZ 2000, S. 143 („eine darüber hinaus gehende ,Lücke‘ hat zu keiner Zeit bestanden“); Lenckner, NJW 1997, S. 2802; Mildenberger, 1998, S. 91; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51; Schroeder, JZ 1999, S. 829; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 14a. 844 Ebenso SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 14a. 845 Vgl. dazu BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05 sowie ausführlich C.II.2. 846 BGH StV 2012, S. 534 mit kritischer Anm. von Renzikowski/Sick in NStZ 2013, S. 468 ff. Gemäß Mildenberger, 1998, S. 91 ist es „rechtspolitisch fragwürdig“, in diesen Konstellationen eine „hilflose Lage“ zu verlangen. 847 BGH NStZ 2011, S. 274. A. A. BGH NStZ 2009, S. 207: „Eine – allein objektiv ohnehin kaum bestimmbare (. . .) – Lage äußerer Schutzlosigkeit kann die Zwangswirkung einer vom Täter ausdrücklich oder konkludent ausgesprochenen Drohung mit ge841

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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dungsbereich von § 177 I Nr. 3 StGB ist mit dem Nötigungsmittel der Drohung demnach nicht deckungsgleich, der „Nötigungsdruck“ von Gewalt und Drohung entfaltet keinesfalls automatisch eine „Schutzlosigkeit“.848 Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass auch innerhalb des § 177 I Nr. 3 StGB zwischen Nötigungshandlung und Nötigungserfolg differenziert werden kann.849 Die Kritik, dass „der BGH (in Abkehr von einer 130 Jahre alten Nötigungsdogmatik)“ nunmehr auf eine „Nötigungs-Handlung“ verzichte850 ist nach alldem und auch insbesondere nach der „Umkehr“ des zweiten Strafsenats unzutreffend. Die neue Tatvariante beinhaltet nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung851 keine „einaktige(n) Nötigung“,852 auch wenn „die abgenötigte sexuelle Handlung und die Nötigungshandlung“ zusammentreffen können.853 § 177 I Nr. 3 StGB erfordert ebensowenig wie die Tatvariante der Gewalt eine „zeitliche Zweiaktigkeit“.854 Das Tatgeschehen kann sich damit äußerlich als ein „einaktiges“ 855 darstellen, „ein und dieselbe Körperbewegung“ kann jedoch auf Grund ihres unterschiedlichen Bedeutungsgehalt in zwei Handlungen aufgesplittet werden.856 Eine zusätzliche Zwangshandlung, „verstanden als Körperbewegung“, ist für § 177 I Nr. 3 StGB aber keine „zwingende Voraussetzung“.857 In diesem Sinne liegt auch nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur ein zweiaktiges Delikt vor.858 Die Kritik, dass die neue Tatvariante als „Missbrauchs-Delikt“ gehandhabt werde,859 ist demnach überholt. genwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verstärken. Sie wirkt dann als Teil dieser Drohung, hat aber keinen eigenen, selbständigen Unrechtsgehalt, der über die Verwirklichung des Tatbestands des § 177 Absatz I Nr. 2 StGB hinausginge“. 848 So aber SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13a unter Verweis auf BGH NStZ 2009, S. 207. 849 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 52. 850 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 35. 851 Die noch gegenteilig vertretene Ansicht des BGH in NStZ 2004, S. 440 ist mittlerweile vom Zweiten Senat aufgegeben worden; s. o. 852 So aber Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 35 f. 853 Renzikowski, NStZ 2006, S. 398; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 52. 854 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 52. 855 BGH NStZ 2004, S. 440. 856 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 52. 857 Renzikowski, NStZ 2006, S. 398; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 52. 858 Anders Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 35 ff. Die Kritik von Fischer in Rn. 36d an den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfG NJW 2000, S. 3770, dass „der Nötigungsbegriff als solcher eine gesonderte Nötigungshandlung nicht schon beinhaltet“, ist verkürzt; denn im Anschluss wird ausgeführt, dass „das dem Nötigungsbegriff immanente ,Aufzwingen‘, also die Bestimmung des Opfers etwa zu einer Duldung gegen seinen Willen, (. . .) in der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers unter Ausnutzung einer Lage, in der Widerstand aussichtslos erscheint, gesehen werden“ könne. Wenn LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 94 formuliert, dass es „keiner Aktivität des Täters“ bedarf, „die über die sexuelle Handlung hinaus-

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Die Erkenntnis des Opfers – bewirkt durch das Verhalten des Täters –, dass es dessen Einwirkungen in einer schutzlosen Lage ausgeliefert ist, muss kausal geworden sein für die Duldung oder Vornahme der sexuellen Handlung.860 Darüber hinaus einen finalen Zusammenhang „zwischen objektivem Nötigungselement (Schutzlosigkeit vor Gewalteinwirkungen), Opferverhalten (Dulden oder Vornehmen einer sexuellen Handlung) und Täterhandlung“ 861 zu fordern,862 ist insofern erklärungsbedürftig, weil Finalität den aktiven Einsatz eines Nötigungsmittels zur Herbeiführung sexueller Handlungen bedeutet.863 Im Rahmen der neuen Tatvariante muss der Täter die schutzlose Lage jedoch gerade nicht selbst zweckbestimmt herbeigeführt haben. Es reicht vielmehr aus, wenn der Täter die Angst des Opfers vor potentiellen Einwirkungen erkennt und dies für sein weiteres Vorgehen bewusst ausnutzt. Nur wenn man dieses bewusste Ausnutzen im Sinne eines Zueigenmachens als final-aktive Handlung begreift, kann man auch hier von einem finalen Zusammenhang zwischen Ausnutzung und Nötigungserfolg sprechen. Man sollte sich allerdings des Unterschieds zum „originären“ Finalzusammenhang bewusst sein. Danach werden Gewalt und Drohung explizit zur Erzwingung sexueller Handlungen aktiv ausgeübt, im Rahmen der neuen Tatvariante reicht dagegen bei der Ausnutzung der schutzlosen Lage im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB deren gedankliche Verknüpfung mit der sexuellen Handlung aus.864 Nachdem zwischen dem Bemerken der schutzlosen Lage und der Erduldung bzw. Vornahme sexueller Handlungen ein Kausalzusammenhang vorliegen muss, kann die noch offen gebliebene Frage nach der Abgrenzung von § 177 I Nr. 3 StGB zu § 179 StGB beantwortet werden.865 Eine Verbesserung des Schutzes geistig und körperlicher behinderter Personen vor sexuellen Angriffen war durch dessen Einfügung intendiert, jedoch nur bei „eingeschränkt(er) Widergeht“, so ist dies missverständlich. Gemeint ist wohl, dass keine zusätzliche Körperbewegung erforderlich ist. Nichtsdestotrotz muss der Täter „unter Ausnutzung“ der schutzlosen Lage nötigen; s. o. 859 So Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 36. 860 BGH NJW 2006, S. 1147; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 40a f.; LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 109. 861 BGH NJW 2006, S. 1148. 862 Folkers, NStZ 2005, S. 182; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 16; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 863 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 109; s. dazu gleich ausführlich unter C. 864 Ein auf diese Weise – rein gedanklich – hergestellter Finalzusammenhang reicht der Rechtsprechung, wie noch zu zeigen sein wird, auch im Rahmen konkludenter Drohungen auf Grund von Gewalt in der Vergangenheit (s. C.II.2.b)) sowie bei Gewalt durch Unterlassen aus (s. C.II.1.a)). 865 Darüber hinaus wird die Abgrenzung zu den restlichen Missbrauchsdelikten der §§ 174 ff.; §§ 176 ff. StGB klar: Nachdem die schutzlose Lage zur Tatbestandserfüllung allein nicht ausreicht, entscheidet die Furcht vor körperlichen Beeinträchtigungen über die Anwendung von § 177 I Nr. 3 StGB.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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standsfähigkeit“ 866. § 179 StGB wurde als Auffangtatbestand für Fälle verstanden, in denen eine Nötigung „nicht nachweisbar“ ist.867 Eine genauere Vorstellung vom verbleibenden Anwendungsbereich des § 179 StGB lag nicht vor,868 vielmehr wurde die Bundesregierung aufgefordert, nach drei Jahren Bericht zu erstatten, ob § 179 StGB noch einen „Anwendungsbereich in der gerichtlichen Praxis“ habe.869 Die oben geschilderte – nunmehr gefestigte – Praxis verdeutlicht den eigenständigen Anwendungsbereich von § 179 StGB.870 Nachdem die neue Tatvariante eine Nötigung unter näher bestimmten Voraussetzungen verlangt, ist es ausschlaggebend, ob es dem Opfer des sexuellen Angriffs möglich ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und diesen zu „signalisieren“ 871, also ob eine „generelle(n) Fähigkeit“ zum Widerstand besteht.872 Dabei kommt es nicht auf die Fähigkeit zu effektivem Widerstand an.873 § 179 StGB findet dann Anwendung, wenn ein „entgegenstehender Wille des Tatopfers nicht vorliegt“ oder das Opfer vollkommen widerstandsunfähig ist.874 Schlafende oder Bewusstlose fallen zwar nicht deshalb aus dem Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB, weil es an einem entgegenstehenden Willen fehlt,875 allerdings kann

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BT-Drs. 13/7663, S. 4. BT-Drs. 13/7663, S. 4. 868 Dazu Fischer, ZStW 112 (2000), S. 94. 869 BT-Drs. 13/7663, S. 4. Nach der Auswertung von erstinstanzlichen Gerichtsentscheidungen durch Oberlies, ZStW 114 (2002), S. 135 ff. wird § 179 StGB oftmals vorschnell im Sinne einer „Arbeitserleichterungsvorschrift“ (S. 135) und im Sinne eines „Ausweichtatbestands“ (S. 136) angewandt. 870 BGH NJW 2006, S. 1147: „Ein vom Rechtsausschuss des Bundestags geforderter Bericht der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 13/7663, S. 5) ist auf der Grundlage einer bundesweiten Praxisbefragung zu dem Ergebnis gelangt, dass § 179 StGB auch weiterhin einen eigenständigen Anwendungsbereich neben § 177 I Nr. 3 StGB habe. Der Gesetzgeber hat dies zuletzt durch eine Erweiterung der Vorschrift und eine Angleichung der Strafrahmen für besonders schwere Fälle und Qualifikationen an § 177 StGB durch das Gesetz vom 27.12.2003 (BGBl. I, 3007) bestätigt.“ 871 Oberlies, ZStW 114 (2002), S. 134. 872 SSW-Wolters, 2009, § 177 Rn. 25. 873 Vgl. BGH NStZ 2011, S. 456: Das Opfer „leidet an einer spastischen Lähmung beider Beine und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Darüber hinaus kann es eine Hand nicht bewegen.“ LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 112 ff.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 50; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 14a; SSW-Wolters, 2009, § 177 Rn. 25. A. A. Hermann-Kolb, 2005, S. 128. 874 BGH NJW 2006, S. 1147; Oberlies, ZStW 114 (2002), S. 134. Unzutreffend Folkers, 2004, S. 67. Zum Anwendungsbereich von § 179 StGB vgl. auch Fischer, ZStW 112 (2000), S. 94 ff. und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179. 875 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 4; Oberlies, ZStW 114 (2002), S. 140. Es ist stets davon auszugehen, dass sexuellen Handlungen an einer schlafenden Person deren mutmaßlicher Wille entgegensteht; es sei denn, es wurde vorhergehend ein Einverständnis erteilt. Hervorhebenswert sind die Ausführungen von Schroeder, 1975, S. 20, dass „für Handlungen ,an‘ dem Opfer dessen bewusste Wahrnehmung nicht erforderlich sei, z. B. wenn das Opfer schläft. Dies entspricht nicht nur der Auslegung des 867

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

ein schlafendes Opfer nicht durch Angst vor körperlichen Beeinträchtigungen zur Passivität motiviert werden.876 Der durch § 179 StGB eintretende Strafrechtschutz ist inzwischen jedoch nahezu gleichwertig,877 darüber hinaus deutet eine Verurteilung nach § 179 StGB keinsfalls auf ein minder schwer verwirklichtes Unrecht hin.878 5. Anwendungsbereich des § 177 I Nr. 3 StGB n. F. – kritische Würdigung Nachdem festgestellt wurde, dass die neue Tatvariante der konkludenten Drohung mit körperlicher Gewalt nahe steht, stellt sich die Frage, wo deren (eigenständiger) Anwendungsbereich liegt. In der Literatur wird vertreten, dass § 177 I Nr. 3 StGB insbesondere bei der sogenannten Gewalt gegen Sachen und Dritte sowie bei Drohungen gegenüber nahestehenden Dritten einen eigenständigen Anwendungsbereich besitze.879 Dies kann nicht überzeugen, weil hierbei in der Regel schon eine konkludente Drohung gegeben ist.880 Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum gerade in diesen Konstellationen so unproblematisch eine schutzlose Lage gegeben sein soll. Außerdem wird in „Drohungen mit einem anderen gegenwärtigen Übel als Leibes- oder Lebensgefahr“, „soweit damit beim Opfer auch die Angst vor körperlichen Beeinträchtigungen verbunden ist“, ein eigenständiger Anwendungsbereich gesehen.881 Derartige Drohungen werden dann aber wohl in der Regel schon Leibes- oder Lebensgefahren zum Inhalt haben. Die Rechtsprechung neigt im Rahmen der neuen Tatvariante inzwischen zu einer restriktiven Auslegung,882 nachdem die schutzlose Lage objektiv vorliegen muss, stark von äußeren Umständen abhängig gemacht wird und das Opfer erhebliche Eingriffe in seine körperliche Integrität fürchten muss. früheren Rechts, sondern angesichts der Psychologie des Unbewussten auch dem Schutzzweck des neuen Rechts“. 876 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 112. Vgl. zum Strafrechtsschutz Schlafender Fahl, Jura 1998; Oberlies, ZStW 114 (2002), S. 137 ff. 877 Durch das 33. StÄG und das 6. StrRG wurde § 179 StGB Gegenstand reformerischer Aktivitäten, u. a. wurde die Mindeststrafe des Grunddelikts nach Absatz 1 erhöht und in Absatz 5 wurden Regelbeispiele eingeführt; s. näher LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Entstehungsgeschichte. 878 So zutreffend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 116; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13e. Vgl. Oberlies, ZStW 114 (2002) S. 131 ff. und Reichenbach, GA 2003 S. 550 ff. zur Frage der sexuellen Selbstbestimmung und Behinderung. 879 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 46a („Gewalt und Drohungen gegen Dritte“); Folkers, 2004, S. 60 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51 („Gewalt gegen Dritte“); Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 880 s. A.II.2.d) und e) sowie III. 881 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a. 882 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 7.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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Darüber hinaus wird die neue Tatvariante auch ignoriert, wie ein Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2012 zeigt.883 Der Umstand, dass die Geschädigte die Erschießung eines Freundes durch ihren (Noch-)Mann aus nächster Nähe miterleben musste und dieser die Geschädigte danach ebenfalls mit der Pistole bedrohte, führte naturgemäß zu einem panikartigen Schock bei derselben. Die Erzwingung sexueller Handlungen durch ihren (Noch-)Mann im Hotel hätte deshalb unter dem Blickwinkel des § 177 I Nr. 3 StGB untersucht werden müssen.884 Dem Angeklagten war nach der Vorgeschichte sehr wohl bewusst, dass sich die Geschädigte seinen Wünschen nur aus Angst vor ihm beugte und er sie vollkommen in der Hand hatte. Auch eine Entscheidung aus dem Jahr 2002885 verdeutlicht den restriktiven Umgang mit dem Tatbestandsmerkmal der schutzlosen Lage. Darüber hinaus zeigt sich dort, dass auch im Rahmen der neuen Tatvariante die Frage der finalen Verknüpfung vorhergehender Gewalt oder Drohungen mit der sexuellen Handlung zum ausschlaggebenden Moment wird – worauf in den Ausführungen unter C. noch einmal zurück zu kommen sein wird. Der Täter hatte seine Tochter ab dem 14. Lebensjahr elf Jahre lang sexueller Gewalt ausgesetzt. In der Familie herrschte ein ständiges Klima der Angst, weil der Angeklagte unberechenbar gewalttätig war und dabei oft zu „drastischen Strafen“ griff. Zur Durchsetzung der sexuellen Handlungen benötigte er keine Gewalt, weil das Opfer auf Grund der alltäglichen Gewalt wusste, dass Widerstand zwecklos war. In der Revisionsentscheidung betont der Bundesgerichtshof zunächst begrüßenswert, dass es für § 177 I Nr. 3 StGB „einen zu engen Maßstab“ bedeutet, lediglich „auf die örtlichen Gegebenheiten der Tatorte“ abzustellen.

883 BGH, Beschluss vom 16.10.2012 – 3 StR 385/12: „Nach den Feststellungen erschien der Angeklagte nach einem Streit mit der Nebenklägerin, seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau, an deren Wohnung. Nachdem er sich dort Einlass verschafft hatte, erschoss er mit der Äußerung „Wenn du nicht mit mir redest, dann muss er sterben“ oder „Dann erschieße ich den M.“ den dort anwesenden M. K., einen guten Freund der Nebenklägerin. Sodann richtete er seine Pistole auf diese und sagte, sie sei die nächste, wenn sie jetzt nicht mit ihm komme bzw. rede. Die Nebenklägerin erklärte sich hierzu bereit und verließ mit dem Angeklagten aus Furcht davor, ebenfalls erschossen zu werden, die Wohnung. Die beiden fuhren mit dem Auto zu einem Hotel. Während der Fahrt erwiderte die Nebenklägerin aus Angst auf die Bemerkung des Angeklagten, er liebe sie, sie liebe ihn auch, und umfasste seine Hand mit der ihren. In dem Hotel betraten die beiden ein Zimmer. Spätestens nunmehr entschloss sich der Angeklagte, den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin auszuüben. Er forderte sie auf, sich zu entkleiden, zog sich ebenfalls aus und legte die Pistole zu seinen Kleidern. Er fragte sie sodann, ob er nochmals mit ihr schlafen könne. Die Nebenklägerin befand sich nach wie vor in Angst, was der Angeklagte erkannte. Sie antwortete deshalb, dies sei okay. Sodann kam es zum Oral-, Vaginal- und Analverkehr. Da die Nebenklägerin danach nicht aufhörte zu weinen, verließ der Angeklagte das Zimmer; er stellte sich noch am selben Tage der Polizei.“ 884 Zur Frage der finalen Verknüpfung im Zusammenhang. mit § 177 I Nr. 2 StGB s. C.II.6.c). 885 BGH NStZ 2003, S. 424.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Vorliegend könne eine schutzlose Lage nämlich auch in „der außergewöhnlich starken Einbindung der Geschädigten in den Familienverband gesehen werden (. . .), der durch ein fortwährendes Klima der Gewalt und Einschüchterung geprägt war“.886 Der Bundesgerichtshof verneinte jedoch eine Schutzlosigkeit gegenüber den Einwirkungen des Täters, weil die Geschädigte erklärt hatte, „dass der Angekl. wohl in seinem allgemeinen Verhalten gewalttätig war und seine Kinder oft geschlagen hat, aber in der Regel bei seinen sexuellen Übergriffen nicht zu Gewalttätigkeiten und Drohungen“ griff. Diese Erwägung greift jedoch zu kurz, die entscheidende Frage lautet nämlich, ob sich das Opfer dem Täter auf Grund der alltäglichen Gewaltrealität ausgeliefert fühlte und deshalb jeden Widerstand von vornherein unterließ. Bei derartigen Sachverhalten liegt dies mehr als nahe. Eine weitere unzutreffende Privilegierung des Täters bedeutet es, wenn vorliegend auch das Ausnutzungsbewusstsein des Täters verneint wird, weil sich das Opfer schließlich auch bei dem erzwungenen Geschlechtsverkehr auf dem Campingplatz um keine fremde Hilfe bemüht habe.887 Derartige Erwägungen muten auf Grund des Sachverhalts mehr als zynisch an und widersprechen den zutreffenden Ausführungen zur schutzlosen Lage. Der Täter weiß in derartigen Konstellationen, dass er sein Opfer auf Grund der Gewaltwillkür beherrscht, egal ob die Tat auf einem Campingplatz oder in einem Keller stattfindet. Die Auslegung der schutzlosen Lage erfolgt daher zu restriktiv.888 Fühlt sich das Opfer den Einwirkungen des Täters (nachvollziehbar) schutzlos ausgeliefert, führt die Anforderung der schutzlosen Lage zu einer Einschränkung des Strafrechtsschutzes, weil § 177 I Nr. 3 StGB bei Vorhandensein objektiver Schutzmöglichkeiten – ohne Rücksicht auf die konkrete psychsiche Verfassung des Opfers – abgelehnt wird, die Opfersicht also gerade nicht entscheidend ist.889 Dem Opfer wird hierdurch die Selbstschutzobliegenheit auferlegt, bei einem sexuellen Angriff alle Abwehrmöglichkeiten rational zu eruieren. Es wird quasi dafür bestraft, wenn es in objektiv nachvollziehbarer Weise seinen Ängsten erlegen ist. Wird eine konkludente Drohung, die entgegen Fischer890 durchaus kausal für die sexuelle Handlung werden kann, auch wenn eine schutzlose Lage verneint wird, ebenfalls abgelehnt, bleibt eine unangemessene Strafbarkeitslücke bestehen. Die Anforderung, dass das Opfer „Körperverletzungshandlungen oder gar Tötungs-

886 887 888

BGH NStZ 2003, S. 425. BGH NStZ 2003, S. 424. Die Ablehnung in BGH NStZ 2012, S. 34 erschließt sich aus den Ausführungen

nicht. 889 BGH NStZ 2003, S. 424; BGH StV 2012, S. 534 mit kritischer Anm. von Renzikowski/Sick in NStZ 2013, S. 468 ff. Ob der Sachverhalt aus BGH NJW 1984, S. 1632 nun unter § 177 I Nr. 3 StGB gefasst werden würde, kann somit nicht eindeutig beantwortet werden. 890 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 45b.

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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handlungen“ 891 befürchten muss und deshalb auf Widerstand verzichtet, führt zu weiteren Restriktionen im Rahmen des § 177 I Nr. 3 StGB. In ihrer Widerstandsfähigkeit stark eingeschränkte Opfer, deren entgegenstehender Wille von einem körperlich überlegenen Täter bereits mit wenig „Muskeleinsatz“ 892 überwunden werden kann, so dass diese bereits aus Angst vor der Anwendung einfacher Gewalt Widerstand unterlassen, sind dadurch vom Anwendungsbereich des § 177 StGB ausgenommen.893 Feststellungen wie „die Geschädigten hätten im Falle des Widerstands befürchtet, dass der Angekl. mit ihnen ,noch Schlimmeres‘ anstellen könne, bzw. sie würden es mit aktivem körperlichen Widerstand ,noch schlimmer machen‘“, sind nach dem Bundesgerichtshof „die Furcht der Opfer gerade vor Körperverletzungs- oder Tötungshandlungen“ nicht zu entnehmen.894 Das Absehen von Widerstand aus „Angst“ der Adoptivtochter, „weil sie nicht wusste, wie der Angekl. dann reagieren würde, also ob er insbesondere zornig reagieren würde“, soll ebenfalls nicht auf Angst vor körperlicher Gewalt hindeuten, sondern auf „die Unsicherheit des Mädchens über die Reaktion des Angekl. im Falle seiner Zurückweisung“.895 Diese Interpretation ist jedoch zu kurz gegriffen, weil Zorn auf eine potentielle körperlich-aggressive Reaktion hindeutet. Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte seine Adoptivtochter 31/2 Jahre lang sexuell missbrauchte, erscheint es zynisch, eine derartige Furcht schon deshalb als fernliegend einzustufen, weil „sich der Angekl. seit der Geburt um das Mädchen ,wie ein Vater‘ gekümmert und es adoptiert hatte und in der Familie ein gutes Verhältnis herrschte“.896 Die Anwendung von § 177 I Nr. 3 StGB bereitet infolgedessen immer dann Probleme, wenn das Opfer jeden Widerstand unterlässt und der Täter das Opfer vor der Tat nicht misshandelt oder damit (final) gedroht hat. Trotz einer schutzlosen Lage kann der Tatbestand verneint werden, weil objektive Anknüpfungspunkte für potentielle Einwirkungen fehlen.897 „Diffuse(n) Bedrohungen“ 898 führen in der Regel zur Ablehnung der neuen Tatvariante. Das Urteil über den Gewinn der neuen Tatvariante fällt nach alledem ambivalent aus. § 177 I Nr. 3 StGB kann den Strafrechtsschutz verstärken, indem eine Bejahung des Tatbestands nicht an der Kundgabe der konkludenten Drohung 891 BGH NStZ 2003, S. 534; BGH NStZ 2006, S. 165; BGH NStZ 2009, S. 443; BGH NStZ 2010, S. 149; BGH NStZ-RR 2011, S. 116; BGH NStZ 2012, S. 209; BGH NStZ 2012, S. 570. So schon die CDU/CSU und FDP in BT-Drs. 13/2463, S. 1. 892 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 96. 893 Vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2012 – 4 StR 404/11. 894 BGH NStZ 2010, S. 150. 895 Jeweils BGH NStZ 2006, S. 165. „Der Angekl. hat seine zu Tatbeginn 10 Jahre alte Adoptivtochter 31/2 Jahre lang sexuell missbraucht.“ 896 BGH NStZ 2006, S. 165. 897 Vgl. BGH NStZ 2010, S. 150; BGH, Beschluss vom 8.11.2011 – 4 StR 445/11 = BGH NStZ 2012, S. 268 (das Opfer war auf Grund der überraschenden sexuellen Attacke paralysiert); BGH StV 2013, S. 745 f. 898 NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 54.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

scheitert. Allerdings sind – wie oben erläutert – stets Anknüpfungspunkte für potentielle Einwirkungen erforderlich, wie ein Klima der Gewalt899, vorhergehende erhebliche Gewalt900 oder Drohungen. Betrachtet man im Rückblick die viel kritisierte Enscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1981901, so muss man feststellen, dass trotz der neuen Tatvariante auch heute in diesem Fall eine Verurteilung wegen Vergewaltigung gemäß § 177 I Nr. 3 höchst unwahrscheinlich wäre.902 Die Schließung von Strafbarkeitslücken ist deshalb nur teilweise gelungen, weil Fälle ohne Zwangsausübung im Sinne einer konkludenten Androhung mit körperlicher Misshandlung von § 177 I Nr. 3 StGB nicht erfasst werden.903 Deshalb bleibt auch der Strafrechtsschutz für die sexuelle Selbstbestimmung von pflegebedürftigen – nur eingeschränkt widerstandsfähigen – Personen beschränkt, wenn einerseits nicht die Angst vor (erheblichen) körperlichen Beeinträchtigungen nachgewiesen werden kann und andererseits keine (absolute) Widerstandsunfähigkeit vorliegt.904 So wurde in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2011905 § 177 I Nr. 3 StGB verneint, weil es an der Feststellung fehlte, dass das Opfer, das „linksseitig komplett gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen war“ „die sexuellen Handlungen des Angekl. aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen hingenommen hat, sondern dass sie diese wegen der Äußerungen des Angekl. erduldete, man werde ihr ohnehin nicht glauben und es sei niemand anwesend, von dem sie Hilfe erwarten könne (. . .)“. Nachdem es für § 179 StGB an der absoluten Widerstandsfähigkeit fehlt, kann höchstens § 174 a II StGB eingreifen. Vergegenwärtigt man sich die Tatsituationen, erscheint dieses Ergebnis nicht angemessen.906

III. Fazit Die Besorgnis der Grünen und der PDS, dass die neue Tatvariante restriktiv ausgelegt werden könnte,907 hat sich ebenso bewahrheitet wie die Befürchtung 899

Vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. Dazu gleich. BGH NStZ 2001, S. 370; BGH NJW 2002, S. 381 (der Täter hatte das Opfer darüber hinaus eingesperrt); BGH NStZ 2003, S. 167. 901 BGH NJW 1981, S. 2204; s. A.II.2.c) Fn. 321 und 331. 902 Anders Folkers, 2004, S. 60, die unzutreffend annimmt, dass die Praxis § 177 I Nr. 3 StGB hier bejahen würde. 903 Ebenso Laubenthal, 2012, Rn. 201; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 51. 904 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 179 Rn. 10 sowie MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 179 Rn. 17 verlangen im Rahmen des § 179 StGB absolute Widerstandsunfähigkeit. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 30 m.w. N. kritisiert diese Auffassung und liest „zum Widerstand unfähig“ als „zum effektiven Widerstand unfähig“. Dadurch könnten Lücken gemindert werden. 905 BGH NStZ 2012, S. 209. 906 Vgl. auch BGH, Urteil vom 21.12.2012 – 4 StR 404/11. 907 s. B.I. 900

B. Das 33. StÄG – Einführung eines neuen Nötigungsmittels

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von Schroeder, dass das Erfordernis der „tatsächlichen Hilflosigkeit (. . .) geradezu die Verteidigung, das Opfer habe um Hilfe rufen oder weglaufen oder sich wehren können, die angeblich verschlossene Tür sei offen gewesen“, provoziere.908 Sein Vorschlag einer Gesetzesfassung „Ausnutzung der Sorge des Opfers um sein Wohl“ hätte die von der Rechtsprechung verneinte Frage, ob es auf die „Vorstellung des Opfers, es sei hilflos“, ankommt oder auf eine „objektive Hilflosigkeit“, zu Gunsten der ersten Auffassung beantwortet.909 § 177 I Nr. 3 StGB wurde und wird stark kritisiert. So wird vorgebracht, dass dieses Tatmittel im Vergleich zu den anderen Nötigungsdelikten der §§ 240, 249, 253 StGB, systemfremd sei910 und einer „Vereinheitlichung der Willensbeugungsdelikte“ 911 zuwider laufe. Des Weiteren wird in Zweifel gestellt, ob dem Ausnutzen einer schutzlosen Lage derselbe Unrechtsgehalt wie dem Nötigungsmittel der Gewalt zukomme, so dass die Gleichstellung in einem Tatbestand gerechtfertigt sei.912 Der Gesetzgeber ist jedoch nicht „weit über das Ziel hinausgeschossen“ 913, die Norm ist des Weiteren nicht „missglückt“ 914.915 Der Umstand, dass eine „bislang im System des StGB nicht bekannte Modalität der sexuellen Nötigung geschaffen“ 916 wurde, ist nicht kritisch, sondern vielmehr als Errungenschaft zu beurteilen. Die Systemfremdheit des § 177 I Nr. 3 StGB ist Ausdruck der spezifischen Deliktssituation des § 177 StGB und berücksichtigt die von den Tatbeständen der §§ 249, 253 StGB abweichende Täter-Opfer-Beziehung. Eine Vereinheitlichung der Willensbeugungsdelikte allein um des Vorteils des Gleichlaufs der Strukturen ist nicht erstrebenswert, der Inhalt von Tatbeständen soll vielmehr die Deliktswirklichkeit widerspiegeln. Konstellationen, in denen das Opfer aus Angst vor dem Täter Gegenwehr für zwecklos hält, indem es quasi den physischen Zwang „antizipiert“ 917, sind ebenso strafwürdig wie die

908 Schroeder, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 67. Vgl. dazu BGH NStZ-RR 2006, S. 139; BGH NStZ 2006, S. 165; BGH StV 2012, S. 534 f. mit kritischer Anm. von Renzikowski/Sick in NStZ 2013, S. 468 ff.; LG Essen, Urteil vom 10.09.2012 – 25 KLs 10/12. 909 Jeweils Schroeder, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 67. 910 Fischer, ZStW 112 (2000), S. 85; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 8. 911 Renzikowski, NStZ 1999, S. 378. 912 Renzikowski, NStZ 1999, S. 378 f. 913 Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 12; Schroeder, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 491. 914 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 8. 915 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 93. 916 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 8. 917 NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 41.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Anwendung der Nötigungsmittel der Gewalt oder Drohung.918 Darüber hinaus sind alle Befürchtungen, dass es in der Folge des § 177 I Nr. 3 StGB zu einer unangemessenen Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes sexueller Selbstbestimmung kommen würde, inzwischen obsolet. Im Gegenteil, die neue Tatvariante hat durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs inzwischen scharfe Konturen erhalten und zeichnet sich eher durch eine restriktive Handhabung aus. Der Tatbestand der Vergewaltigung ist weiterhin nur dann erfüllt, wenn die körperliche Integrität betroffen ist. Psychische Gewalt im Sinne eines erheblichen, psychisch wirkenden Zwangs wird nicht als vergewaltigungstaugliches Nötigungsmittel anerkannt. Die „äußerst restriktive Auslegung von § 177 I Nr. 1 und Nr. 2“ wird von der Rechtsprechung tendenziell beibehalten.919 Dadurch entstehende „Lücken“ werden nur zum Teil über die neue Tatvariante gelöst.920 Die restriktive Handhabung wird bestätigt durch Statistiken, die trotz der neuen Tatvariante keinen Anstieg von Taten im Bereich der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung verzeichnen.921 Letztendlich führen wie beim Tatbestandsmerkmal der Gewalt potentielle Widerstandsmöglichkeiten des Opfers wie unter anderem Hilferufe oder Fluchtmöglichkeiten, die allein aus einer objektiven ex-ante Sicht bestimmt werden, zu einem Ausschluss der neuen Tatvariante.922 Hierbei wird verkannt, dass einem Opfer die Vernachlässigung von Selbstschutzmöglichkeiten nur entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten vorgehalten werden kann.923 Die ursprüngliche gesetzgeberische Intention des Gesetzgebers, den Opferschutz zu erweitern, wird dadurch konterkariert. Eine weitergehende Erfassung sexueller Gewalt gegen den Willen einer Person wäre im Rahmen des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuchs wünschenswert gewesen. Der Deutsche Juristinnenbund kritisierte schon 1995 zu Recht, dass die Nötigung zu sexuellen Handlungen mit dem Nötigungsmittel der „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ weiterhin nur über § 240 StGB erfasst sein soll.924 Wie bei den Nötigungsmitteln der Gewalt und Drohung steht aber letztlich auch in dem neuen § 177 I Nr. 3 StGB die physische Integrität, nämlich die Angst vor Beeinträchtigungen derselben im Mittelpunkt.

918

Ebenso BGH NStZ 2011, S. 274: (. . .), wobei die vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Fälle kein „Weniger“ gegenüber den beiden anderen Begehungsalternativen darstellen“. 919 Fischer, NStZ 2000, S. 143. Gemäß NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 41 blieb insbesondere bei mittelbarer Gewalt die Spruchpraxis auch nach dem 33. StÄG restriktiv. 920 Fischer, NStZ 2000, S. 143. 921 Ruch, 2011, S. 7 m.w. N. 922 Vgl. nur BGH StV 2013, S. 534 mit kritischer Anm. Sick/Renzikowski in NStZ 2013, S. 468 ff. 923 So zutreffend Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469. 924 Deutscher Juristinnenbund, Streit 1995, S. 103.

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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C. Der Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB I. Einführung Liegen die objektiven Voraussetzungen der Nötigungsmittel der Gewalt bzw. Drohung im Sinne des § 177 I Nrn. 1 und 2 StGB vor, so wird anschließend – wie im Tatbestand des Raubes – die finale Intention und damit die subjektive Beziehung des Täters zum Tatgeschehen in zweifacher Hinsicht relevant. Zum einen muss das Nötigungsmittel zur Überwindung von Widerstand eingesetzt werden, zum anderen gerade zur Erzwingung der sexuellen Handlung.925 Man kann insoweit von einer dualen finalen Intention (Absicht) sprechen. Die Widerstandsüberwindungsintention wird hierbei – ebenso wie beim Raub – einerseits als subjektiver Teil des ansonsten objektiven Tatbestandsmerkmals der Gewalt sowie andererseits als Kriterium des Finalzusammenhangs behandelt.926 Dogmatisch korrekt wäre es allerdings, bereits das Tatbestandsmerkmal der Gewalt bei Fehlen der Widerstandsüberwindungsintention entfallen zu lassen.927 Der Prüfungsstandort ist jedoch insoweit irrelevant, als sich am Ergebnis, dem Entfallen des Tatbestands des § 177 I Nr. 1 StGB, nichts ändert. Die Tatbestandsgleichung lautet: Finaler Nötigungsmitteleinsatz des Täters – (geleisteter oder erwarteter) Widerstand des Opfers – sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers. Die Prüfung der finalen Voraussetzungen stellt quasi das Verbindungsglied zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand dar.928 Beiden Elementen kommt im Tatbestand des § 177 StGB erhebliche Bedeutung zu; beide führen zu vielfältigen Problemen.929 § 177 I Nr. 3 StGB nimmt – wie oben bereits ausgeführt – eine Sonderstellung ein. Rechtsprechung und Literatur930 fordern zwar ebenfalls einen Finalzusammenhang „zwischen objektivem Nötigungselement (Schutzlosigkeit vor Gewalteinwirkungen), Opferverhalten (Dulden oder Vornehmen einer se925 St. Rspr.; Laubenthal, 2012, Rn. 167, 176, 196; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 57 m.w. N.; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6, 13. 926 s. bereits unter A.I.2.a) und b) sowie BGH, Beschluss vom 13.09.1991 – 3 StR 341/91. 927 So zutreffend Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6. 928 Vgl. für § 249 StGB: Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 7, 23. Auch dort wird der Finalzusammenhang in der Regel schon im objektiven Tatbestand geprüft. 929 Vgl. die Kritik von Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 342. Im Hinblick auf den Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und sexueller Handlung reicht nach ständiger Rechtsprechung bedingter Vorsatz aus. „Der Täter erkennt – oder billigt zumindest –, dass das Opfer den Sexualkontakt nur vornimmt oder duldet, weil es infolge der Gewaltanwendung in seinen Fähigkeiten zur Ablehnung des sexuellen Ansinnens beeinträchtigt ist“. Vgl. Laubenthal, 2000, S. 43 m.w. N. sowie SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 17. 930 BGH NJW 2006, S. 1148; Folkers, NStZ 2005, S. 182; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 11a.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

xuellen Handlung) und Täterhandlung“.931 Im Rahmen der neuen Tatvariante reicht es jedoch aus, wenn der Täter die Angst des Opfers vor potentiellen Einwirkungen erkennt und dies für sein weiteres Vorgehen bewusst ausnutzt.932 Er muss die schutzlose Lage also nicht final-aktiv herbeiführen, ausreichend ist vielmehr, dass er bei Ausnutzung dieser Lage in subjektiver Hinsicht einen Wirkungszusammenhang zwischen der schutzlosen Lage und dem Nötigungserfolg herstellt. Kann dem Täter nachgewiesen werden, dass er die Angst des Opfers vor körperlicher Gewalt erkannt und den sexuellen Angriff gerade deshalb und trotzdessen weitergeführt hat, ist der Finalzusammenhang (und auch der Kausalzusammenhang) schon hinreichend belegt. Ein „unfinales“ Ausnutzen einer schutzlosen Lage zu sexuellen Handlungen gibt es nicht. Hingegen sind das „unfinale“ Einsetzen von Gewalt und die Ausnutzung von deren Folgen zu sexuellen Handlungen keine Seltenheit.

II. Final- und Kausalzusammenhang Die Ansicht des Reichsgerichts, dass die Gewalt der unzüchtigen Handlung zeitlich vorausgehen müsse,933 wurde vom Bundesgerichtshof als zu restriktiv aufgegeben.934 Unstrittig ist jedoch der Finalzusammenhang zwischen dem Einsatz des Nötigungsmittels und der sexuellen Handlung geblieben.935 Hatte das Reichsgericht stets davon gesprochen, dass die Gewalt im Sinne des § 177 RStGB „das Mittel“ 936 darstellen müsse, um über den Widerstand hinweg das sexuelle Ziel zu erreichen, verwendet der Bundesgerichtshof – soweit ersichtlich 1984 931

BGH NJW 2006, S. 1148. Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 109. 933 s. Zweiter Teil: B.II.1.c). 934 BGHSt 17, 1, (4 f.): „Es gibt zwar Fälle, in denen Gewaltanwendung und unzüchtige Handlung in dem Sinne ,zusammenfallen‘, daß der Tatbestand des § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erfüllt ist, wie etwa dann, wenn eine Frau sich freiwillig den Schlägen eines Sadisten preisgibt. Dann ist die Gewaltanwendung nicht das Mittel für die Vornahme der unzüchtigen Handlung. (. . .) Der über solche Fälle hinausreichende verallgemeinernde Satz, daß die Gewaltanwendung der unzüchtigen Handlung vorausgegangen sein muß, ergibt sich jedoch weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch ist er mit seinem Zweck vereinbar; er schränkt vielmehr den Tatbestand des § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB über Gebühr ein.“ Ebenso BGH NJW 1970, S. 1465 unter Aufgabe der Rechtsprechung des RG und des BGH. Vgl. RGSt 63, 227; RG JW 1925, S. 2135 Nr. 4; RG JW 1939, S. 400 Nr. 3 sowie BGH, Urteil vom 01.03.1956 – 4 StR 37/56; BGH, Urteil vom 24.04.1956 – 5 StR 78/56; BGH, Urteil vom 14.05.1957 – 5 StR 95/57; BGH, Urteil vom 7.10.1958 – 1 StR 282/58. 935 BGH NJW 1984, S. 1632; BGH NStZ 1992, S. 433; BGH NStZ 1992, S. 587; BGH NStZ 1994, S. 224 Nr. 17; BGH NStZ 1995, S. 229; BGH NStZ 1995, S. 230; BGH, Beschluss vom 13.05.1997 – 1 StR 12/97; BGH NStZ 1998, S. 133 Nr. 26; BGH NStZ 1999, S. 506; BGH NStZ-RR 1999, S. 324 Nr. 16; BGH NStZ-RR 2003, S. 42; OLG Köln NStZ-RR 2004, S. 168; BGH NStZ 2005, S. 268; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, S. 348; BGH NStZ 2011, S. 457. Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 56 ff., 67. 936 RGSt 77, 81, (82). 932

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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zum ersten Mal – den Begriff der finalen Verknüpfung.937 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Angeklagte aus Gründen, die nicht mehr festzustellen waren „mit einem Aschenbecher, einer Kaffeekanne, einer Kaffeetasse und einem Wandteller nach der Zeugin geworfen“, „sie dann mit der Hand und mit den Fäusten etwa zehn Minuten lang zusammengeschlagen, anschließend tobte er in der Wohnung herum; zwischen dem Ende der Mißhandlungen und den vom Angekl. verlangten sexuellen Handlungen lag ein Zeitraum von etwa einer Stunde. Hiernach diente die Gewaltanwendung durch den Angekl. nicht dem Ziel, die Zeugin zur Vornahme sexueller Handlungen zu bewegen. Denn erst nach Anwendung der Gewalt sagte er – offenbar aufgrund eines neuen Entschlusses – zu ihr: ,So und jetzt bedienst Du mich wie einen Deiner Freier‘ sowie: ,So, jetzt gehen wir ins Bett‘.“ Auf Grund des Umstands, dass das Nötigungsmittel schon zum Zweck der sexuellen Nötigung angewandt werden muss, reicht es nicht aus, „wenn der Täter eine mit anderer Zielrichtung oder ohne ein bestimmtes Motiv durch Nötigung geschaffene, psychisch fortwirkende Zwangslage zur Tatbegehung ausnutzt, ohne daß eine andauernde Zwangsausübung vorliegt. Eine finale Verknüpfung zwischen der vorangegangenen Gewaltanwendung und dem sexuell motivierten Ansinnen an die Zeugin“ lag somit nicht vor.938 Für Gewalt und Drohung im Sinne des § 177 I Nrn. 1 und 2 StGB ist es demnach stets erforderlich, dass die Motivation des Täters bereits beim Einsatz dieser Nötigungsmittel explizit auf die Erzwingung sexueller Handlungen gerichtet ist. Trotz derselben tatbestandlichen Struktur von § 249 StGB und § 177 I Nr. 1 StGB, dass jemand „mit Gewalt“ zur Duldung der Wegnahme bzw. zu einer sexuellen Handlung genötigt wird,939 reicht es im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB jedoch im Unterschied zur ständigen Auslegung des Raubtatbestands keineswegs aus, wenn die finale Verknüpfung lediglich subjektiv vorliegt. In Kommentaren wird im Rahmen des Finalzusammenhangs zwar stets lapidar darauf verwiesen, dass insoweit dasselbe wie im Raubtatbestand gelte.940 Der Hinweis, dass im Rahmen des § 177 I Nr. 1 StGB keine Subjektivierung stattgefunden hat, unterbleibt jedoch. In der Rechtsprechung heißt es regelmäßig, dass der Sachverhalt „den funktionalen (objektiv zweckdienlichen) und finalen (subjektiv zweckgerichteten) Zusammenhang belegen“ muss, „der nach dem Willen (der Vorstellung) des Täters zwischen dem angewendeten Nötigungsmittel (hier: Einsatz eines Messers), dem Verhalten des Opfers (hier: Dulden des Beischlafs) und der Handlung des Täters (hier: Vollzug des Beischlafs) erforderlich ist“.941 Des Wei937

BGH NJW 1984, S. 1632. Jeweils BGH NJW 1984, S. 1632. 939 Dies verkennt Lenckner, JR 1983, S. 162. 940 U.a. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 13. 941 OLG Düsseldorf NStZ-RR 2008, S. 348; BGH NJW 2006, S. 1147; BGH NStZRR 2006, S. 270. Auch Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 16 sehen den Zusammenhang als einen „funktionalen und finalen“ an. 938

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

teren heißt es: „Das angewendete Nötigungsmittel muss nach dem Willen des Täters der Herbeiführung der sexuellen Handlungen und ihrer Durchführung tatsächlich dienen, also ,final verknüpft‘ sein“.942 Daneben wird von dem Erfordernis einer „ursächlichen Verknüpfung“ bzw. eines „kausalen Zusammenhangs“ zwischen Nötigungsmittel und -erfolg gesprochen.943 An der Kausalbeziehung soll es beispielsweise fehlen, „wenn das Opfer trotz vorangegangener Gewalt in die sexuelle Handlung aus sexueller Erregung“ (!) eingewilligt hat.944 Festzuhalten ist: Sowohl die Rechtsprechung als auch die herrschende Meinung in der Literatur ließen945 und lassen946 es keinesfalls genügen, wenn die finale Verknüpfung nur in der Vorstellung des Täters gegeben ist.947 Der Finalzusammenhang muss auch in objektiver Hinsicht bestehen, das heißt aber nichts anderes, als dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Nötigungshandlung und dem Nötigungserfolg vorliegen muss.948 Leitet man – wie es das Reichsgericht und auch der Bundesgerichtshof stets getan haben – aus dem Wortlaut „mit Gewalt“ die Unabdingbarkeit eines finalen Gewalteinsatzes durch den Täter ab, so muss auch konsequenterweise aus der Wendung „mit Gewalt nötigen“ das zusätzliche Erfordernis eines kausalen Zusammenhangs folgen. Ein „Nötigen mit Gewalt“ ist nämlich nur dann gegeben, wenn die Gewalt eine Bedingung der Zwangswirkung darstellt.949 Die Kritik von Hörnle950, dass mit der Forderung 942 BGH NStZ 2005, S. 269; ebenso BGH StV 1983, S. 359; BGH NStZ 1985, S. 71 f.; BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NStZ 1994, S. 224 Nr. 17. 943 BGH, Urteil vom 10.10.1984 – 3 StR 355/84; BGH NStZ 2003, S. 424; BGH NStZ-RR 2006, S. 270; BGH NStZ 2011, S. 457 („Ursächlichkeit“). 944 Folkers, NJW 2000, S. 3319. 945 s. Zweiter Teil: B.II.1.b) und c) und RGSt 77, 81 ff.; v. Liszt/Schmidt, 25. Aufl. (1927), § 105 Anm. II.1; Meves, 1876, § 177 Anm. 5; v. Olshausen, 11. Aufl. (1927), § 176 Anm. 5; Schönke, 1942, § 176 Anm. II. 946 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 13, 49; Gössel, 2005, § 2 Rn. 46 ff.; Kindhäuser, 4. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6; Laubenthal, 2012, Rn. 161; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 14; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 16; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 54; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 28, 30; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 12; Schroeder, 1975, S. 28; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 11. 947 Insoweit sind die Ausführungen von Hörnle dahingehend, dass die Ansicht, die eine Verknüpfung in objektiver und subjektiver Hinsicht fordert, in der Literatur und Rechtsprechung eine Mindermeinung darstelle, irreführend; vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 56 und Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1144. Auch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 30, 54 ist irreführend, wenn er einerseits das Erfordernis einer Kausalbeziehung zwischen „Gewaltanwendung und Duldung des Sexualkontakts“ ablehnt, andererseits in Rn. 54 ausführt, dass der Erfolg der sexuellen Handlung „durch die Nötigung nach Abs. 1 Nr. 1–3“ erzielt worden sein muss. 948 Irreführend deshalb Laubenthal, 2012, Rn. 178, wenn er ausführt, dass die „zweckbestimmte(n) Verknüpfung“ nicht nur in „objektiver Hinsicht“ vorliegen, sondern auch vom Vorsatz erfasst sein müsse. Eine zweckbestimmte Verknüpfung ist schließlich ohne eine subjektive Zwecksetzung durch den Handelnden nicht möglich. 949 s. bereits A.I.2.b)bb).

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einer Kausalbeziehung die abzulehnende Anforderung einhergehe, dass in jedem Einzelfall nachgewiesen werden müsse, dass das Opfer ohne Gewaltanwendung effektiven Widerstand geleistet hätte, trifft nicht zu. Die Rechtsprechung verlangt nicht, dass die Gewalt erforderlich war, also die alleinige Ursache, sondern diese muss eine Bedingung der sexuellen Handlung darstellen. Gewalt müsste also – ebenso wie nach richtiger Ansicht beim Raub – in Konstellationen abgelehnt werden, in denen die Gewaltanwendung den konkreten Erfolg der sexuellen Handlung in keiner strafrechtlich relevanten Weise mit herbeigeführt hat, weil das Opfer beispielsweise bewusstlos war.951 Der Umstand, dass sich im Rahmen des § 177 StGB kein subjektivierter Maßstab durchgesetzt hat, beruht vermutlich auf zwei Gründen. Zum einen bestand wegen der Existenz von § 179 StGB keine Notwendigkeit, diesen zu entwickeln,952 zum anderen werden derartige Sachverhalte nicht als sexuelle Nötigung/Vergewaltigung eingestuft, weil sie nicht dem Stereotyp einer Vergewaltigung entsprechen. Beim Nötigungsmittel der Drohung ist schon auf Grund des Wortlauts „durch Drohung“ die Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs hinreichend klar gestellt. Es reicht auch hier aus, wenn die Drohung eine Bedingung der sexuellen Handlung war.953 Zusammenfassend betrachtet muss nach der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur der Einsatz der Nötigungsmittel der Gewalt, Drohung und des Ausnutzens einer schutzlosen Lage in einem finalen und kausalen Zusammenhang mit den erzwungenen sexuellen Handlungen stehen. Nach der herrschenden Ansicht handelt es sich bei § 177 I Nr. 1 StGB deshalb auch um ein zweiaktiges Delikt.954 Die Gewalt kann zwar zugleich mit der sexuellen Handlung vorgenommen werden, aber nur solange sie deren „Erzwingung dient“.955 Des Weiteren reicht es für „die tatbestandliche Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg“ aus, wenn mit einer erst während des Geschlechtsverkehrs einsetzenden Gewaltanwendung dessen Fortführung gegen nun beginnenden Widerstand des Opfers erreicht wird.956 Das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung beinhaltet nach der herrschenden Meinung demnach stets mehr als die Ausübung „eines spezifischen Nötigungsmittels plus sexuelle Handlung“.957 950

LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 56. s. A.I.2.b)bb). 952 Die Vergewaltigung von Schlafenden und Bewusstlosen, ohne dass der Täter diesen Zustand herbeigeführt hat, wird nicht von § 177 I Nr. 3 StGB, sondern von § 179 StGB erfasst. Zur Frage der Anwendbarkeit von § 177 I Nr. 3 StGB in diesen Konstellationen vgl. B.II.4. 953 Vgl. BGH NStE zu § 177 StGB Nr. 19. 954 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 59. 955 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 13. 956 BGH GA 1970, S. 57; BGH NStZ 2003, S. 165; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 12. 957 Laubenthal, 2000, S. 41; Laubenthal, 2012, Rn. 176. 951

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Im Folgenden werden die speziellen Probleme des § 177 I StGB im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Finalität dargestellt und dessen Schwächen aufgezeigt. 1. Fortwirkende Gewalt in Abgrenzung zur konkludenten Drohung – der (zeitliche) Zusammenhang bei zweiaktigen Delikten a) Vis absoluta und Gewalt durch Unterlassen Fesselt der Täter das Opfer an Armen und Beinen, um sexuelle Handlungen durchzuführen, liegen vis absoluta und die notwendige Finalität vor.958 Hat der Täter durch ein vorausgegangenes pflichtwidriges Tun wie beispielsweise Fesselung oder Einsperren des Opfers eine körperliche Zwangslage geschaffen und nutzt er diesen Dauerzustand der Freiheitsberaubung auf Grund eines neu gefassten Entschlusses zur Durchführung sexueller Handlungen aus, ist fraglich, ob dieser Vorgang tatbestandsmäßige Gewalt darstellt.959 In einem Beschluss aus dem Jahr 1998 hatten die Täter „die Freiheitsberaubung nicht von vornherein als Nötigungsmittel zur Durchführung der sexuellen Handlungen eingesetzt“, sondern „zur Erzwingung der sexuellen Handlungen ausgenutzt“.960 Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs stellte „das bewußte Ausnutzen der bereits seit Samstagabend andauernden Freiheitsberaubung zur Erzwingung der sexuellen Handlungen (. . .) eine Gewaltanwendung i. S. der §§ 177 StGB, 178 StGB dar.“ 961 Diese Entscheidung erstaunt in zweierlei Hinsicht. Es wird weder die Frage der Gewalt durch Unterlassen962 angesprochen noch das Erfordernis der dualen finalen Intention, an dem es hier fehlt. Die Täter haben lediglich die fortdauernde Gewalt958

Zur Frage der Gewalt durch Einsatz betäubender Stoffe vgl. C.II.7. Vgl. BGHSt 48, 365, (368) für den Tatbestand des Raubes. 960 BGH NStZ 1999, S. 83 (Freiheitsberaubung durch Einsperren in einer Wohnung); ein weiterer Beschluss des BGH vom 26.10.2000 (BGH NStZ 2001, S. 246) beinhaltet eine Fesselung, ist insofern jedoch nicht weiterführend, nachdem auf Grund des Sachverhalts keine vis absoluta vorlag, weil nur die Hände gefesselt waren und der Täter schon Gewalt einsetzte, indem er zur Erzwingung der sexuellen Handlung die Beine des Opfers auseinander drückte (übersehen von LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 58). Gemäß LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 54, 58 stellen beide Konstellationen einen Fall der Gewalt durch Unterlassen dar. Nach der neuen Fassung des § 177 StGB könnte dieser Sachverhalt je nach den Umständen auch § 177 I Nr. 3 StGB unterfallen. § 177 I Nr. 3 StGB oder § 179 I Nr. 2 StGB sind auch einschlägig, wenn eine durch einen Dritten vorgenommene Fesselung vom Täter zu sexuellen Handlungen ausgenutzt wird. § 177 I Nr. 1 StGB geht vor, wenn der Täter die Fesselung final bewirkt hat. Vgl. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 179 Rn. 10; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 179 Rn. 25. 961 BGH NStZ 1999, S. 83. Allerdings hatten die Täter auch Gewalt und Drohungen eingesetzt; vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.1998 – 4 StR 347/98. 962 Als Beispiel für Gewalt durch Unterlassen kann die Verweigerung von Nahrung oder Medikamenten gegenüber dem Opfer durch einen Beschützergaranten angeführt werden; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 54. Vgl. schon RGSt 13, 49, (50) zur Gewalt durch Unterlassen. 959

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anwendung in Form der Freiheitsberaubung gedanklich mit der Erzwingung der sexuellen Handlung verknüpft. Die aktive Gewaltanwendung, das Einsperren, erfolgte jedoch ohne diese Intention. Das Ergebnis überzeugt, eine Begründung fehlt. Diese kann allerdings der vergleichbaren Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Annahme eines Raubes im Jagdhüttenfall entnommen werden: „Tatsächlich schließen sich Unterlassen und Finalität nicht aus“. „Der Unterlassungstäter kann die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands wollen, um die Wehrlosigkeit des Opfers zur Wegnahme auszunutzen“.963 Finalität bedeutet nach dem Bundesgerichtshof also keineswegs ausschließlich den final-aktiven Einsatz eines Nötigungsmittels, sondern kann auch in der bewussten Ausnutzung eines Zustandes liegen. b) Vis compulsiva Liegt eine Konstellation der vis compulsiva vor, so ist fraglich, ob und wie lange diese Art der Gewaltanwendung als fortwirkende tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB angesehen werden kann und ab wann diese in eine konkludente Androhung erneuter Gewaltausübung umschlägt. Schließlich ist es oftmals typisch, dass die Gewaltanwendung der sexuellen Handlung zeitlich vorausgeht. Entscheidend ist also das Urteil darüber, ab wann eine kompulsive Gewalthandlung ihre motivatorische Kraft verliert, so dass der Täter bei Durchführung der sexuellen Handlungen nun die Angst des Opfers vor erneuter Gewalt ausnutzt. Ein Fortwirken von Gewalt wird nur in engen Grenzen – auch von der Rechtsprechung – bejaht, wenn das Opfer weiterhin unter dem Eindruck körperlicher Beeinträchtigungen steht, worunter beispielsweise die Benommenheit bzw. die Schmerzen auf Grund von Schlägen fallen sollen.964 Dem ist zuzustimmen, weil zugefügte Schmerzen einen eigenen unmittelbar körperlich wirkenden „Motivationswert“ 965 aufweisen, sie dienen dem Täter als ein Mittel der Kontrollerlangung über das Opfer. Schläge werden in der Regel im Nachgang weiterhin als „gegenwärtige Einwirkung körperlich empfunden“,966 auch wenn aktuell die Gewalthandlungen nicht mehr andauern. Ein Fortwirken der körperlichen Zwangswirkung muss verlangt werden, mag hierdurch auch der Charakter der vis compulsiva verkürzt werden, weil – hierfür kennzeichnend – die Willensbeugung gerade aus einer beendeten Gewaltausübung resultiert.967 Dies gebietet die verfassungsgemäße Auslegung des Gewaltbegriffs. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass die Auffassung, dass „Gewaltan963

BGHSt 48, 365, (368). BGH, Urteil vom 19.06.1980 – 4 StR 148/80 (die Täter bedienten sich aber auch des Einsperrens als Nötigungsmittel während der gesamten Tat); BGH, Urteil vom 10.10.1984 – 3 StR 355/84; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 33. Diese Ansicht als „zu eng“ kritisierend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 68. 965 Knodel, 1962, S. 32 f. 966 LK-Träger/Altvater, 11. Aufl. (2005), § 240 Rn. 7. 967 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 68. 964

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wendung nur gegeben sei, wenn der Beischlaf selbst durch eine augenblickliche Gewaltanwendung erzwungen werde“,968 fehlerhaft ist. In der Rechtsprechung spielt der zeitliche Konnex zwischen Gewaltvornahme und sexueller Handlung eine große Rolle. Liegt zwischen der Gewalthandlung und der sexuellen Handlung „ein Zeitraum von mehreren Tagen, Wochen und sogar Monaten“,969 lehnt sie fortwirkende Gewalt ab. Die vorangegangene Gewalt kann dann nur noch als konkludente Drohung im Sinne des § 177 I Nr. 2 StGB fortwirken, wobei dasselbe für frühere Drohungen gilt.970 Entscheidend ist der zeitliche Zusammenhang zwischen Gewaltanwendung und sexueller Handlung jedoch keineswegs. Ausschlaggebend ist vielmehr die finale Intention des Täters. Gewalt wird deshalb selbst bei andauernder motivatorischer Kraft verneint, wenn der Täter im Zeitpunkt der aktiven Gewalthandlungen nicht mit sexuellen Absichten gehandelt hat. Denn nach der Rechtsprechung und herrschenden Meinung ist allein die Intention des Täters bei Zufügung der Gewalt, also die „vom Täter selbst hergestellte Finalität zwischen der Gewalt und der sexuellen Handlung“ 971 bestimmend.972 Der bereits oben unter Ziffer II angesprochene Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1984973 belegt diese Relevanz deutlich. Die massive Gewalt wirkte evident fort und zwar nicht nur psychisch, wie der Bundesgerichtshof behauptet. Das Opfer wurde erheblichen Misshandlungen ausgesetzt, die sicherlich noch körperlich spürbar waren, als der Täter eine Stunde später die Durchführung sexueller Handlungen erzwang. Eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung mit Gewalt scheiterte jedoch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs,974 weil der Täter im ersten Akt die Gewalt noch nicht explizit zur Erzwingung sexueller Handlungen eingesetzt hatte975 und im zweiten Akt auf Grund der vorangegangenen erheblichen Gewalt nicht noch einmal gewalttätig werden, sondern schlicht die auf das Opfer fortdauernde Gewaltwirkung ausnutzen musste. Das Andauern der motivatorischen Kraft der im ersten Akt angewandten Gewalt war belanglos, das Opfer hätte Widerstand leisten müssen, damit es zu einem tatbestandsmäßigen aktiven Gewalteinsatz gekommen wäre. Hätte der Täter von Anfang an sexuelle Handlungen bezweckt, wäre das Urteil anders 968

BGH, Urteil vom 19.05.1976 – 2 StR 59/76. BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NJW 1996, S. 2108; BGH, Beschluss vom 24.09.1997 – 2 StR 422/97. 970 Vgl. u. a. BGH, Urteil vom 01.06.1989 – 1 StR 170/89; BGH, Urteil vom 31.08.1993 – 1 StR 418/93. 971 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 34. 972 Vgl. BGH, Urteil vom 19.05.1976 – 2 StR 59/76; BGH NStZ 1981, S. 344; BGH NJW 1984, S. 1632; BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NStZ-RR 2008, S. 349 sowie Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 16. A. A. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 69. 973 BGH NJW 1984, S. 1632. 974 BGH NJW 1984, S. 1632: Der Vorsatz hinsichtlich einer konkludenten Drohung mit weiteren Misshandlungen wurde als noch prüfungsbedürftig angesehen. 975 BGH NJW 1984, S. 1632. 969

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ausgefallen. Diesen Schluss lässt unter anderem ein Urteil aus dem Jahr 1981 zu, wobei der Bundesgerichtshof ausführt, dass es für den Tatbestand des § 177 StGB a. F. genüge, wenn „eine frühere, nicht zur Erzwingung des Geschlechtsverkehrs erfolgte Gewaltanwendung fortwirkt, das Opfer also nur aus Furcht vor weiteren Gewaltanwendungen keinen nennenswerten Widerstand mehr leistet“.976 Worin liegt aber der Unterschied dieser Konstellationen? In der vorliegenden Entscheidung hatte der Täter von Anfang an Gewalt gegenüber dem Opfer eingesetzt, um sexuelle Handlungen zu erzwingen. Er handelte also mit der geforderten finalen Intention. Er verbrachte das Opfer gegen seinen Willen an einen entlegenen Ort, er erzwang dort unter Anwendung von Gewalt sexuelle Handlungen und im unmittelbaren Anschluss daran, wobei sich das Opfer zwar geringfügig, aber nach außen hin immer noch sichtbar wehrte, den Geschlechtsverkehr. Zwischen den ersten erzwungenen sexuellen Handlungen und dem Geschlechtsverkehr bestand somit keine zeitliche Zäsur, es lag ein einheitliches Handlungsgeschehen vor. Das Vorliegen von fortwirkender vis compulsiva konnte problemlos bejaht werden, insbesondere auch, weil Widerstand geleistet worden war. Der Tenor des Urteils ist demnach insofern irreführend, weil der Täter von Anfang an die Gewalt final zur Herbeiführung sexueller Handlungen und des Geschlechtsverkehrs eingesetzt hatte.977 Dagegen verneinte der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 1995 ein Fortwirken von Gewalt, obwohl der Täter von Anfang an mit der Absicht, sexuelle Handlungen zu vollziehen, gehandelt hatte.978 Er führt aus, dass das Opfer lediglich „den Geschlechtsverkehr unter dem Eindruck vorheriger 976 BGH NStZ 1981, S. 344: „Nach den Feststellungen hat der Angekl. die Nebenkl. gegen ihren Willen mit seinem Kfz an einen entlegenen Ort gebracht und dort unter Gewaltanwendung zu außerehelichen sexuellen Handlungen gezwungen. Die anschließenden Vorbereitungen des Angekl. zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs ließ die Nebenkl. über sich ergehen, ,weil sie Angst hatte und erkannte, daß sie dem Angekl. ausgeliefert war‘. Ihre nur noch zaghaften Versuche, die Durchführung des Geschlechtsverkehrs zu verhindern, konnte der Angekl. ,ohne Mühe‘ überwinden. Die Nebenkl. brachte wiederholt zum Ausdruck, daß sie mit dem Geschlechtsverkehr nicht einverstanden war, sie weinte und forderte den Angekl. auf, sie in Ruhe zu lassen.“ Vgl. auch BGH, Urteil vom 20. November 1975 – 4 StR 538/75. 977 Vgl. zu dieser Entscheidung auch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 69 Fn. 177. Vgl. einen ähnlichen Sachverhalt in BGH, Urteil vom 19. Mai 1976 – 2 StR 59/76. 978 BGH, Beschluss vom 10.01.1995 – 3 StR 588/94: „Nach den Feststellungen hat der Angeklagte seine frühere Freundin, die von ihm ein Kind erwartete, gegen ihren Willen in die von beiden zuvor bewohnte Wohnung verbracht, sie dort in die Haare gefaßt, nach Entkleiden auf das Sofa gedrückt und gegen ihren ausdrücklich geäußerten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt, wobei er sie so festhielt, daß sie sich nicht wehren konnte. Insoweit hat das Landgericht rechtsfehlerfrei die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Vergewaltigung ,mit Gewalt‘ i. S. d. § 177 StGB bejaht.“ Die zweite Vergewaltigung wurde jedoch nicht als eine solche beurteilt: „Bei der vom Landgericht angenommenen zweiten Vergewaltigung kehrte der Angeklagte nach halbstündiger Abwesenheit in die von ihm verschlossene Wohnung zurück und führte mit der Geschädigten erneut den Geschlechtsverkehr aus. Sie hatte zwar bekundet, daß sie nicht einverstanden (sei), gewehrt hat sie sich aber nicht, (sondern) den Geschlechtsver-

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Gewaltanwendung einfach so über sich“ 979 habe ergehen lassen. Obwohl diese Wortwahl eher dafür spricht, dass das Opfer bei der zweiten Vergewaltigung immer noch unter der Wirkmacht der ursprünglich angewendeten Gewalt stand, verneinte er eine solche. Der Schluss liegt nahe, dass zum einen die im ersten Handlungsakt vorgenommene Gewalt als nicht erheblich genug bewertet wurde, um eine halbe Stunde lang fortzuwirken, so dass der fehlende Widerstand gegen Gewalt sprach, zum anderen wurde die halbstündige Abwesenheit bei verschlossener Wohnung als relevante zeitliche Zäsur angesehen.980 Einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2007981 liegt dieselbe Wertung zugrunde. Der Angeklagte hatte seiner (Noch-)Frau im Auto eine Messerspitze an die linke Körperhälfte gedrückt. In dem kurz darauf erfolgenden Geschlechtsverkehr in der Wohnung wandte er keine weitere Gewalt oder Drohungen an, um diesen zu erzwingen. Ausschlaggebend für eine Verneinung von fortwirkender Gewalt bzw. Drohung war der Umstand, dass der Angeklagte das Messer „nur“ einsetzte, „um sie zu der Erklärung zu zwingen, dass sie die Scheidung zurücknehme“.982 Eine gleichfalls gegebene Intention des Angeklagten, diese Gewaltanwendung im Anschluss zur Erzwingung des Geschlechtsverkehrs einzusetzen, wurde – insbesondere auch auf Grund der zeitlichen Zäsur zwischen dem Nötigungsakt und der sexuellen Handlung in der Wohnung – abgelehnt.983 c) Zwischenergebnis Hinsichtlich der zeitlichen Verbindung von Gewalteinwirkung und sexueller Handlung verlangt der Bundesgerichtshof einen engen Zusammenhang, wobei fortwirkende Gewalt als tatbestandsmäßige Gewalt in der Regel abgelehnt wird. Bei mehraktigen Delikten liegt im Zeitpunkt der relevanten sexuellen Handlung der Schwerpunkt deshalb regelmäßig auf der Frage nach einer Nötigung durch konkludente Drohung. Bis auf eine Entscheidung984 scheitert das Fortwirken von Gewalt aber bereits an der dualen finalen Intention.985 Das Vorliegen von fortwirkender vis compulsiva wird damit nicht objektiv unter Zugrundelegung des Auskehr unter dem Eindruck vorheriger Gewaltanwendung einfach so über sich ergehen lassen“. 979 BGH, Beschluss vom 10.01.1995 – 3 StR 588/94 = BGH NStZ 1995, S. 229 f. 980 Vergleichbar oben mit BGH NJW 1984, S. 1632. 981 BGH NStZ-RR 2008, S. 348. 982 BGH NStZ-RR 2008, S. 349. 983 Ebenso wurde der Vorsatz hinsichtlich eines Fortwirkens der Gewalt als Drohung und eine diesbezügliche finale Verknüpfung mit dem Geschlechtsverkehr verneint; vgl. BGH NStZ-RR 2008, S. 349. Hörnle nimmt in beiden Varianten fortwirkende vis compulsiva an; vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 68. Vgl. auch BGH NStZ 2010, S. 570 f. 984 In BGH NStZ 1995, S. 229 f. war die zeitliche Zäsur von einer halben Stunde ausschlaggebend. 985 Der Kausalzusammenhang ist in allen Konstellationen gegeben.

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maßes der Gewalthandlungen sowie der Verfassung des Opfers bestimmt, das Tatbestandsmerkmal der Gewalt und das der finalen Verknüpfung hängt vielmehr davon ab, ob der Täter bei Anwendung der Gewalt schon an sexuelle Handlungen gedacht hat. Die objektiven Umstände: Einsatz von körperlicher Gewalt und dadurch Willenbeugung des Opfers hinsichtlich der sexuellen Handlung, in concreto also der Kausalzusammenhang, genügen nicht. Der dualen finalen Intention kommt die Hauptrolle im Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung zu. Die subjektive Absicht des Täters entscheidet über das Vorliegen des § 177 I Nr. 1 StGB. Diese Vorgehensweise erscheint verfehlt, weil nicht die Intention des Täters bestimmen darf, ob die sexuelle Nötigung/Vergewaltigung „mit Gewalt“ vorgenommen wurde oder nicht.986 Nichtsdestotrotz entspricht dies der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, weil aus dem Wortlaut „mit Gewalt“ – ebenso wie beim Raub – die zwingende Vorgabe eines Finalzusammenhangs abgelesen wird. Besonders problematisch ist dies bei Serienstraftaten. 2. Wiederholte Tatbegehung und Serienstraftaten Zahlreiche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs betreffen wiederholte Tatbegehungen und Serienstraftaten zu Lasten desselben Opfers.987 Serienstraftaten sind dadurch gekennzeichnet, dass der Täter über Jahre hinweg Familienmitglieder physisch und psychisch sowie sexuell misshandelt. Nicht selten entsteht dadurch ein fortwährendes Klima der Gewalt und Angst, wobei die Opfer von dem ständigen Wissen begleitet sind, dass der Täter eine Verweigerung seiner Wünsche nicht hinnehmen wird.988 Die Darlegung des Finalzusammenhangs sowie des Kausalzusammenhangs bereitet in diesem Zusammenhang oftmals Probleme, von Seiten des Bundesgerichtshofs werden insbesondere bei Taten der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung hohe Anforderungen aufgestellt.989 Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen „die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177 StGB auch bei einer länger dauernden Serie von Tathandlungen grundsätzlich für jede Tat konkret und individualisiert festgestellt werden.“ Es könne nicht angenommen werden, „daß bei langdauernden Mißbrauchsverhältnissen ,immer‘ Gewalt angewendet oder ein Nötigungsmittel des § 177 StGB eingesetzt wird.“ 990 So muss bei mehreren im Raume stehenden Taten für jeden 986

Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 69; Sick, 1993, S. 141. Diese Taten betreffen in der Regel die Ehefrau, die Lebensgefährtin, die Kinder und Stiefkinder. Vgl. zu den Folgen des Wegfalls der fortgesetzten Tat auf die Aburteilung wegen sexuellen Missbrauchs gem. §§ 174, 176, 176a, 177 StGB durch den Beschluss des Großen Senats des BGH vom 03.05.1994 in BGHSt 40, 138 C. Rohleder, 2001. 988 Vgl. dazu auch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 85 ff. 989 Vgl. dazu auch C. Rohleder, 2001, S. 263 f.; 320 ff.; 391 ff.; 399 ff.; 451 ff.; 499 ff. 990 BGH NStZ-RR 2006, S. 363 Nr. 11; vgl. auch BGH NStZ 1994, S. 502; BGH NStZ 1995, S. 204; BGH NStZ 1999, S. 520 sowie BGH NJW 1996, S. 2107: „Das 987

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Einzelfall dargelegt werden, dass der Täter das Nötigungsmittel bewusst zur Widerstandsüberwindung und zur Erzwingung der sexuellen Handlung eingesetzt hat. Bei fortgesetzter Vergewaltigung und sexueller Nötigung muss somit notwendigerweise festgestellt werden, dass „sich die Tochter in allen Fällen widersetzte und dem Angeklagten das auch klar und er sich bewußt war, daß sie in allen Fällen nur unter dem Eindruck der Schläge“ bzw. auf Grund seines „Hinweises darauf zum Geschlechtsverkehr und den sexuellen Handlungen bereit gewesen ist.“ 991 „Geringere Anforderungen an den Nachweis sind nur hinzunehmen, wenn sich der Tatrichter im Einzelfall die Überzeugung eines von dem Täter erzeugten und bewusst eingesetzten ,Klimas ständiger Gewalt‘ verschafft“.992 a) Klima der Gewalt Als Folge eines Klimas der Gewalt tritt bei Opfern von Serienstraftaten, die sich anfänglich gegen die sexuellen Übergriffe erfolglos zur Wehr gesetzt hatten, oftmals ab einem bestimmten Zeitpunkt Resignation ein.993 In der Folgezeit muss der Täter nur noch geringe Gewalt bzw. Gewalt nicht mehr explizit zur Erzwingung der sexuellen Handlung anwenden, weil der Wille des Opfers schon auf Grund des vom Täter geschaffenen Klimas der Gewalt gebeugt ist.994 Nachdem gemäß der festen Auslegungspraxis für § 177 I Nr. 1 StGB der Finalzusammenhang in jedem einzelnen Fall nachgewiesen werden muss,995 scheitert eine Verurteilung aus § 177 I Nr. 1 StGB oftmals. Hierbei wird die Problematik der von der herrschenden Meinung geforderten Widerstandsüberwindungsintention besonders deutlich. Wendet der Täter nämlich weiterhin (geringe) Gewalt gegenüber dem Opfer im unmittelbaren Zusammenhang mit der sexuellen Handlung an, wird der Tatbestand des § 177 I Nr. 1 StGB dessen ungeachtet angezweifelt bzw. Gewalt verneint, weil der Täter schließlich von dem resignierten Opfer keinen Widerstand mehr erwarten musste.996 Der von der herrschenden Meinung vorgenomVerbrechen der Vergewaltigung ist durch besondere tatbestandliche Voraussetzungen gekennzeichnet, die auch bei Serienstraftaten wegen der erfahrungsgemäß nicht gleichen Handlungsabläufe beim Einsatz des Nötigungsmittels genauer Feststellung bedürfen.“ 991 BGH, Beschluss vom 04.04.1991 – 1 StR 77/91. 992 BGH NStZ-RR 2006, S. 269 f. 993 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 63. 994 Vgl. BGH NStZ 1996, S. 409; BGH NJW 1996, S. 2107; BGH, Beschluss vom 24.11.1999 – 3 StR 466/99. 995 Vgl. BGH, Urteil vom 05.04.1989 – 2 StR 557/88; BGH NStZ 1992, S. 587. 996 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 63; BGH NStZ-RR 2005, S. 363 Nr. 10: „Ob das Hochheben und Tragen bzw. das Werfen auf das Bett von dem Mädchen als ein derartiger Zwang empfunden wurde und ob der Angekl. mit dem Einsatz seiner Körperkraft eine solche Zwangswirkung erzielen wollte, ist nicht festgestellt. Dies versteht sich hier auch nicht von selbst, weil das LG im Übrigen festgestellt hat, dass sich das kindliche Opfer gegen andere – vor den abgeurteilten Taten vorgenommene – sexuelle Handlungen nach vergeblichem Widerspruch in der Folgezeit nicht mehr wehrte und

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mene Fehlschluss von tatsächlich geleistetem sowie nicht nur schwachem Widerstand auf das Vorliegen von Gewalt tritt ebenfalls hervor,997 wenn es heißt: „M hat sich nur in den ersten Monaten gewehrt, wenn der Angekl. mit ihr den Geschlechtsverkehr ausüben wollte. Später gab sie den Widerstand auf, so daß keine Gewalt mehr angewendet werden mußte. Der Angekl. hat das Mädchen deshalb später auch nicht mehr mit Gewalt zum Beischlaf genötigt.“ 998 § 177 I Nr. 1 StGB scheitert darüber hinaus oftmals, wenn zum Familienalltag Gewalt als Bestrafungs- und Frustrationsmittel oder ähnliches gehört, so dass die Gewaltanwendung des Täters nicht ausschließlich auf die Erzwingung einer sexuellen Handlung gerichtet ist bzw. mit dieser nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht. Das Opfer steht zwar offensichtlich unter dem Eindruck dieser alltäglichen Gewalt, durch das Übermaß an Gewalt wird eine gezielte Gewaltanwendung zur Durchsetzung sexueller Ansinnen jedoch entbehrlich.999 In beiden Konstellationen wird damit der besonders brutale Täter privilegiert, weil zum einen die Widerstandsüberwindungsintention und zum anderen die subjektive finale Verknüpfung verneint werden.1000 Beim Lesen von Urteilsgründen kann man sich manchmal nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die finale Intention bzw. Verknüpfung vorschnell abgelehnt wird, derartige Konstellationen sogar als eine (nur schwer) widerlegliche Vermutung für deren Fehlen behandelt werden.1001 Im Anschluss muss aber geprüft werden, ob zumindest eine konkludente Drohung in Betracht kommt.1002 b) Konkludente Drohung infolge von Gewalt in der Vergangenheit sowie auf Grund des Fortwirkens einer Drohung Eine konkludente Drohung kann nach ständiger Rechtsprechung auf Grund des Fortwirkens von Gewalt bzw. einer Drohung Bedeutung erlangen.1003 „Ange„alles“ über sich ergehen ließ. Danach musste der Angekl. Widerstand nicht erwarten.“ Vgl. auch BGH, Beschluss vom 13.09.1991 – 3 StR 341/91; BGH NStZ 1992, S. 587. 997 Ebenso Sick, 1993, S. 131. 998 BGH NStZ 1986, S. 409. Vgl. auch BGH, Beschluss vom 13.09.1991 – 3 StR 341/91 sowie BGH, Beschluss vom 04.04.1991 – 1 StR 77/91: „Zur Festlegung des Schuldumfanges bei fortgesetzter Vergewaltigung und sexueller Nötigung ist jedoch die Feststellung unverzichtbar, ob sich die Tochter in allen Fällen widersetzte“. 999 BGH NStZ 1992, S. 587; BGH, Beschluss vom 24.11.1999 – 3 StR 466/99; BGH NStZ-RR 2001, S. 354 Nr. 5; BGH NStZ 2005, S. 268 f. 1000 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 63; vgl. auch BGH NStZ 1992, S. 587. 1001 BGH NStZ-RR 2001, S. 353 f. Nr. 5. 1002 BGH NStZ 1996, S. 409: „Gewaltanwendung im Vorstadium einer Vergewaltigung, die im Opfer als Angst vor erneuter Gewalt weiterwirkt, erfüllt nach Auffassung des erkennenden Senats aber nicht das Tatbestandsmerkmal der Gewaltanwendung des § 177 StGB. Sie kann allein als ,konkludente‘ Drohung des Täters Bedeutung erlangen, und zwar dann, wenn der Täter zumindest erkennt und billigt, daß das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben empfindet.“

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wandte Gewalt kann als Drohung i. S. d. § 177 I StGB fortwirken und dazu führen, dass sich das Opfer aus Furcht vor weiterer Gewalt dem Täter nicht widersetzt. Erkennt und billigt der Täter diese Auswirkungen der Gewaltanwendung, kann darauf aufbauendes Vorgehen grundsätzlich als konkludente Drohung zur Abnötigung sexueller Handlungen angesehen werden.“ 1004 Dasselbe gilt für eine Drohung aus der Vergangenheit, die im Sinne einer Dauergefahr fortwirken kann, so dass das Opfer jederzeit mit der Verwirklichung der angekündigten Gefahr rechnet.1005 Die Rechtsprechung zeigt hinsichtlich der Bejahung eines diesbezüglichen bedingten Vorsatzes Zurückhaltung.1006 Auch hier ist stets der Nachweis der Widerstandsüberwindungsintention als auch der der finalen Verknüpfung erforderlich.1007 Allerdings genügt es entsprechend einiger Judikate in subjektiver Hinsicht, wenn der Täter erkennt und billigt, dass das Opfer sein Verhalten als Drohung empfindet und allein deshalb die sexuelle Handlung duldet.1008 Für das Vorliegen des Finalzusammenhangs ist es somit ausreichend, wenn der Täter – und das ist das Besondere dieser Konstellation – erst zum Zeitpunkt des sexuellen Übergriffs gedanklich eine finale Verknüpfung vornimmt. Durch die Fortführung des sexuellen Vorhabens, trotz der von ihm erkannten Angst des Opfers, übt der Täter eine zweckbestimmte nötigende Herrschaft über das Opfer aus.1009 Auf die Ähnlichkeit dieser Konstellation mit der Tatvariante des § 177 I Nr. 3 StGB wurde bereits oben verwiesen. Viele Entscheidungen betreffen Sachverhalte, in denen der Täter auf Grund von vorhergehender bzw. fortlaufender Gewalt ein Klima der Angst und Einschüchterung bei seinem Opfer geschaffen hat.1010 Hierbei muss zwischen den Konstellationen, in denen der Täter schon früher Gewalt bzw. Drohungen zur Erzwingung sexueller Handlungen eingesetzt hatte, und den Konstellationen, in 1003

Vgl. nur BGH NStZ-RR 2003, S. 42; BGH StV 2012, S. 536 m.w. N. BGH NStZ 2007, S. 468. 1005 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 91. Vgl. BGH NStZ-RR 2003, S. 42: „Zum anderen ist auch eine Fortwirkung der vom Angeklagten ausgesprochenen Drohung, er werde das Mädchen umbringen, wenn es über die (erste) Tat spreche, denkbar. Denn ebenso wie Gewalt, die der Täter ursprünglich aus anderen Gründen angewendet hatte, eine konkludente Drohung darstellen kann, kann auch eine zunächst zu anderen Zwecken ausgesprochene Drohung als solche i. S. des § 177 I Nr. 2 StGB fortwirken.“ 1006 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 117. 1007 BGH NJW 1996, S. 2107; BezG Meiningen NStZ 1991, S. 490. 1008 BGH NStZ 1996, S. 409; BGH NStZ-RR 2003, S. 43; BGH NStZ 2007, S. 468; BGH NStZ 2010, S. 570; BGH StV 2012, S. 536 m.w. N. Laubenthal, 2000, Rn. 145; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 7. BGH NStZ 2003, S. 424 f.: „Allein schon durch sein Verlangen nach Duldung der sexuellen Handlung“ kann der Täter „konkludent zu verstehen“ geben, dass auf Ablehnung Gewalt folgt. 1009 Vgl. BGH StV 2012, S. 536: „In subjektiver Hinsicht setzt § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB in diesen Fällen voraus, dass der Täter die von seinem Vorverhalten ausgehende latente Androhung weiterer Misshandlungen in ihrer aktuellen Bedeutung für das Opfer erkennt und als Mittel zur Erzwingung der sexuellen Handlungen einsetzt.“ 1010 Vgl. BGH StV 2012, S. 536. 1004

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denen der Täter (fortwährend) Gewalt bzw. Drohungen zu anderen Zwecken einsetzt, differenziert werden.1011 aa) Frühere Gewalt und Drohungen zur Erzwingung sexueller Handlungen Ist der Täter zur Erzwingung sexueller Handlungen früher gewalttätig geworden, so kann diese vorangegangene Gewalt als konkludente Drohung, bei Gegenwehr wiederum Gewalt einzusetzen, fortwirken.1012 Typisch hierbei ist, dass das Opfer aus Angst vor erneuten Gewalttätigkeiten von Widerstand absieht. Dem Täter muss bewusst sein, dass dem Opfer die Gewaltanwendung noch vor Augen steht und es sich gerade deswegen seinem Willen beugt. Die erlebte Gewaltanwendung muss noch „wirkmächtig“ 1013 sein, so dass der konkrete Einzelfall und dabei insbesondere die Intensität der Gewalteinwirkungen und der zeitliche Aspekt zu berücksichtigen sind. Die Rechtsprechung hierzu ist uneinheitlich und in Teilen zu restriktiv.1014 In einer Entscheidung aus dem Jahr 1995 genügte schon eine halbstündige Zäsur für eine Ablehnung des Fortwirkens der bei der ersten Vergewaltigung eingesetzten Gewalt als Drohung.1015 Den individuellen Tatumständen wie die Schwangerschaft des Opfers und dessen Eingesperrtsein wurde keine Bedeutung beigemessen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 03.08.19871016 zeigt ebenfalls völliges Unverständnis für die Situation des Opfers auf. Trotz der Umstände, dass der Täter die Wohnung – zumindest zeitweilig – abgesperrt, das Opfer an Fluchtversuchen gehindert und auch körperliche Gewalt angewandt sowie eine Drohung ausgesprochen hatte, wurde die finale Intention bei der im Anschluss an verschiedene sexuelle Handlungen erfolgenden Vergewaltigung abgelehnt. Ausschlaggebend schien in beiden Entscheidungen die Intensität der Gewalt gewesen zu sein, die als gering bewertet wurde.1017 Dies belegt unter anderem ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.03.2000.1018 Dort war das Opfer vier Tage in eine Wohnung eingeschlossen und unter anderem einmal mit wuchtigen Faustschlägen traktiert worden, um sexuelle Handlungen zu erzwingen. Ein Fortwirken dieser – als massiv eingestuften – Gewalt als Drohung wurde im Rahmen dieses einheitlichen Handlungs1011

LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 87. Vgl. BGH NStE Nr. 18 zu § 177 StGB; BGH NStZ 1995, S. 244 (das Opfer hatte sich auch immer wieder zur Wehr gesetzt); Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6. 1013 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 86. 1014 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 88. 1015 BGH NStZ 1995, S. 229 f. Der Täter hatte das Opfer in seine Wohnung eingesperrt und diese für eine halbe Stunde nach der ersten Vergewaltigung verlassen. 1016 BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87. 1017 Auch BGH NStZ 2010, S. 570 scheint diese Wertung zugrunde zu liegen. 1018 BGH NStZ 2000, S. 419. 1012

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geschehens bejaht.1019 Bedenklich restriktiv1020 sind Judikate zu bewerten, in denen pauschal – ohne Einbeziehung der Opferperspektive – eine konkludente Drohung sowie deren finale Verknüpfung mit der maßgeblichen sexuellen Handlung abgelehnt wird, weil „zwischen Gewaltanwendung und dem späteren Geschlechtsverkehr ein Zeitraum von mehreren Tagen, Wochen und sogar Monaten“ lag.1021 Eine derartige Vorgehensweise findet sich auch bei fortwirkenden Drohungen wieder.1022 Diese schematische Vorgehensweise ist kritisch zu sehen, insbesondere kann nicht die verstrichene Zeitspanne allein über das Vorliegen einer Drohung entscheiden.1023 Relevant sind vielmehr alle konkreten Umstände des Einzelfalls,1024 so dass die Massivität der Gewalteinwirkung und die Schwere der ausgesprochenen Drohung ebenso betrachtet werden müssen wie die „Kräfteverhältnisse“ 1025 und überhaupt das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 18.11.19971026 wurde es als relevante Zäsur angesehen, dass zwischen der Gewaltanwendung des Vaters gegenüber seiner kindlichen Tochter und dem Geschlechtsverkehr diese zunächst dem Geschlechtsverkehr zwischen ihrer Mutter und dem Täter zusehen musste. Das Vorliegen einer zumindest konkludenten Androhung einer Vergewaltigung wurde ebenfalls nicht angedacht.1027 Auf Grund der Alkoholisierung des Täters wurde des Weiteren daran gezweifelt, dass dieser erkennen konnte, dass sich seine Tochter zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung von ihm bedroht fühlte. Dies steht im Widerspruch zur Vorgeschichte der Tat und zur Feststellung des Landgerichts, dass der Vater den entgegenstehenden Willen seiner Tochter erkannt hatte. In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 20071028 hatte der Tä1019 Ähnlich BGH NStZ 1997, S. 178 Nr. 18; richtig entschieden auch BGH NStZ 1997, S. 178 Nr. 17. 1020 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 16 Fn. 78 hinsichtlich BGH NStZ 1986, S. 409. 1021 BGH NStZ 1986, S. 409; BGH NJW 1996, S. 2107 f.; BGH NStZ-RR 1998, S. 105; BGH NStZ-RR 2000, S. 355 Nr. 13; BGH NStZ 2003, S. 424 f.; BGH NStZ 2007, S. 468. Zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 15. 1022 BGH NStZ 2003, S. 424 f. 1023 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 88; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 38. 1024 So auch BGH NStZ-RR 2003, S. 43 f. 1025 BGH NStZ-RR 2003, S. 42. 1026 BGH, Beschluss vom 18.11.1997 – 4 StR 546/97. 1027 Der Angeklagte hatte seine Tochter zunächst gegen ihren Willen in das eheliche Schlafzimmer verbracht. „Dort schmiß er sie, weil sie sich zu wehren versuchte, auf das Schlafzimmerbett, wo die Mutter (. . .) bereits lag. Der Angeklagte hatte erkannt, daß Petra unwillig war; er wollte ihr so seine überlegenen körperlichen Kräfte demonstrieren. Dabei sagte der Angeklagte sinngemäß zu ihr: ,Ich mach gleich was mit der Mama, das mache ich dann auch mit dir. Schau gut zu‘.“ 1028 BGH NStZ 2007, S. 468: „Anfänglich versuchte die Nebenklägerin noch, sich gegen den Angeklagten zur Wehr zu setzen. Nachdem sie erkannte, dass sie keine Chance gegen den ihr körperlich weit überlegenen Angeklagten hatte, leistete sie später

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ter seine Stieftochter mehrmals vergewaltigt. Der Bundesgerichtshof widersprach jedoch der Verurteilung in 10 Fällen auf Grund der fehlenden finalen Verknüpfung. Bezweifelt wurde, ob der Täter erkannt hatte, dass seine Stieftochter sein Verhalten als Drohung empfunden habe, weil sie „in einer großen Zahl der späteren Fälle ,noch nicht einmal‘ auch nur verbalen Widerstand mehr geleistet“ 1029 hatte. Vor dem Hintergrund, dass sich das Opfer anfangs regelmäßig gewehrt hatte, der Täter also Gewalt final einsetzen musste, erscheint es unverständlich, diesem hier das Bewusstsein abzusprechen, dass sein vorhergehender Gewalteinsatz vom Opfer bei den folgenden sexuellen Handlungen weiterhin als Drohung empfunden wurde.1030 Welche Vorstellung soll er denn sonst gehabt haben? Gerade weil jeglicher Widerstand ab einem bestimmten Zeitpunkt unterlassen wurde, musste dem Täter klar geworden sein, dass beim Opfer durch seinen anfänglichen Gewalteinsatz Resignation eingetreten war und es sich durch ihn bedroht fühlte.1031 Gegen ein bewusstes Ausnutzen der Angst des Opfers vor weiteren körperlichen Misshandlungen durch den Täter soll es aber auch sprechen, wenn das Opfer auf das sexuelle Ansinnen „nicht grundsätzlich ablehnend, sondern mit den Worten reagiert: ,Da steh ich jetzt nicht drauf, ich will das nicht“.1032 Warum das eindeutige „Nein“ hier keine grundsätzliche Ablehnung ausdrücken soll, bleibt unverständlich. Entgegen zahlreicher Entscheidungen darf, wie es der Zweite Senat in einer begrüßenswerten Entscheidung aus dem Jahr 2002 richtig ausführt, „die Sicht des Opfers, insbesondere wenn es sich noch im Kindesalter befindet, nicht außer acht bleiben“.1033 Die Gewaltausübung gegenüber dem Opfer zur Durchsetzung sexueller Handlungen kann einen derart starken Eindruck hinterlassen, dass der Täter auch noch Monate danach als eine latente Bedrohung empfunden wird.1034 Argumentationsstränge wie die, dass der Täter „nie mehr als die zur Überwindung der Gegenwehr erforderliche Gewalt angewandt hat“ 1035 und daraus zu schließen sei, dass die Gewalt nicht fortgewirkt habe, sind abzulehnen. Zu betonen gilt, dass die konkludente Drohung auf Grund fortwirkender Gewalt eine Bedingung der sexuellen Handlungen, aber keine Gegenwehr mehr. Auch aus Angst, der Angeklagte werde etwaigen Widerstand wie in der Vergangenheit gewaltsam brechen, ließ sie den Geschlechtsverkehr über sich ergehen, (. . .)“. „Im Übrigen setzt auch die konkludente Drohung durch Ausnutzen der Angst vor Gewalt eine finale Verknüpfung mit der sexuellen Handlung voraus. Der Täter muss erkennen und zumindest billigen, dass das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet und nur deshalb den Geschlechtsverkehr erduldet“. 1029 BGH NStZ 2007, S. 468. 1030 Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 455. 1031 Dieser Umstand fand auch in BGH NJW 1996, S. 2107 f. zu wenig Beachtung. Richtig entschieden dagegen BGH, Beschluss vom 05.03.1992 – 1 StR 716/96. 1032 BGH, Beschluss vom 07.11.1995 – 4 StR 608/95. 1033 BGH NStZ-RR 2003, S. 42. 1034 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 88. 1035 BGH NStZ-RR 2000, S. 355 Nr. 13.

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nicht die einzige, gewesen sein muss, so dass der eventuell ebenfalls gegebene Einfluss von väterlicher Autorität den Kausalzusammenhang nicht ausschließt. Der Bundesgerichtshof weicht jedoch von seiner ständigen Kausalitätsprüfung ab,1036 wenn er verlangt, dass „der Täter erkennen und zumindest billigen (muss), daß das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben empfindet und nur deshalb den Geschlechtsverkehr erduldet“.1037 Die Berufung auf die väterliche Autorität bzw. das angeführte väterliche Recht auf sexuelle Handlungen wird das Vorliegen einer konkludenten Drohung in ihrer Wirkung auf das Opfer sogar zusätzlich verstärken.1038 Im Rahmen der soeben angeführten Entscheidungen wird jedoch implizit fälschlicherweise behauptet, dass die vorangegangene Gewalt bei den sexuellen Übergriffen überhaupt keine Rolle mehr gespielt hat. Väterliche Autorität oder Drohungen dergestalt, bei Weigerung die Mutter zu verlassen, werden oftmals vorschnell zur einzigen Bedingung der sexuellen Handlungen erklärt.1039 Es sei sogar in Betracht zu ziehen, „daß das Opfer dem Täter ein besonderes Entgegenkommen zeigt, um eine – vielleicht sonst nicht erreichbare – Vergünstigung zu erhalten, z. B. nach einem bereits ausgesprochenen Verbot durch die Mutter“.1040 Das Gericht zieht hier aus dem Umstand, dass das Opfer vom Täter Vergünstigungen, Geschenke oder ähnliches erhalten hat, die irrige Wertung, dass dies das Opfer veranlasst haben könnte, freiwillig mit dem Täter sexuelle Handlungen zu vollziehen, und die ursprüngliche Gewalt – auch aus Sicht des Täters – völlig in den Hintergrund getreten ist. Derartige Verhaltensweisen des Täters dienen jedoch dazu, die Abhängigkeit und Schuldgefühle des Opfers zu verstärken sowie schlechtes Gewissen zu kompensieren.1041 Das Opfer nimmt die Geschenke an, weil es zu dem Täter ambivalente Gefühle hat und dem Täter trotz der von ihm ausgehenden Gewalt Liebe entgegenbringt, gerade wenn es sich dabei um den Vater handelt.1042 Das Bewusstsein des Täters, dass sein vorangegangener Gewalteinsatz dem Opfer noch gut in Erinnerung ist, wird aber nur dann abzulehnen sein, wenn die Gewalt unerheblich war und lange zurück liegt. Die Angst des Opfers wird darüber hinaus im Regelfall, es sei denn, beim Täter liegt ein Wahrnehmungsmangel vor, erkennbar sein.1043

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Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 453 f. BGH NJW 1996, S. 2108. 1038 Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 453. 1039 Vgl. u. a. BGH NStZ 1993, S. 35; BGH NJW 1996, S. 2107 f. 1040 BGH NJW 1996, S. 2107 f. 1041 C. Rohleder, 2001, S. 457 ff. 1042 Vgl. zu diesen Ambivalenzen den eindrücklichen Bericht über das Opfer eines langjährigen sexuellen Missbrauchs durch einen Turnlehrer mit dem Titel „Das zerstörte Mädchen“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Heft 45/2012 unter http://szmagazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/38807. 1043 Vgl. dazu C. Rohleder, 2001, S. 465 ff. 1037

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bb) Klima der Gewalt bzw. Angst als schlüssige Drohung Neben diesen Fragen bereitet speziell der Finalzusammenhang im Rahmen von Serienstraftaten innerhalb von Familien große Probleme. Insbesondere Familienstrukturen, die von Gewalttätigkeiten und Angst vor dem Täter geprägt ist, legen zwar eigentlich nahe, dass das sexuelle Herantreten an das Opfer stets als eine schlüssige Drohung, dass bei einer Verweigerung der Täterwünsche Gewalt folgen wird, zu behandeln ist.1044 Zahlreiche Entscheidungen1045 verkennen jedoch derartige Sachverhalte.1046 In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 20041047 wurde es für eine schlüssige Drohung als nicht ausreichend erachtet, dass das Opfer vom Täter regelmäßig geschlagen wurde und überdies regelmäßig Zeugin fortlaufender erheblicher Misshandlungen ihrer Mutter war.1048 Hier zusätzlich zu verlangen, dass eine „Aufrechterhaltung des Gewaltklimas in der Familie durch ausdrückliche oder schlüssige Drohungen bei der Vornahme der sexuellen Handlungen zum Ausdruck gekommen ist“ und zu behaupten, dass „die bloße Angst der Geschädigten“ nichts über das Vorliegen einer konkludenten Drohung und einer finalen Verknüpfung zwischen dieser und den sexuellen Handlungen aussage, zeugt von „Verständnislosigkeit“ 1049 gegenüber der gefahrdrohenden Situation für das Tatopfer. Letztendlich scheitert die Annahme einer Vergewaltigung an der schematischen Prüfung und Verneinung des Finalzusammenhangs, weil die Gewalt nicht unmittelbar vor den sexuellen Handlungen eingesetzt wurde. Auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1044 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 38. Vgl. BGH NStZ 1994, S. 234 f.: „Im Zusammenhang damit, daß der Angeklagte seine Tochter häufig geschlagen und insgesamt ihr gegenüber ein Klima der Angst und Einschüchterung geschaffen hatte, können daher in einer Gesamtschau durchaus Drohungen im Sinne der §§ 177, 178 StGB vorgelegen haben, zumal bei der Gewichtung der Vorgänge die Sicht des Opfers, insbesondere wenn es sich noch im Kindesalter befindet, nicht außer Betracht bleiben kann“. Allerdings wurde die fehlende zeitliche Präzisierung gerügt. 1045 BGH NStZ 1992, S. 587; BGH, Beschluss vom 24.11.1999 – 3 StR 466/99; BGH NStZ 2003, S. 424; BGH NStZ-RR 2003, S. 356 Nr. 14; BGH NStZ 2005, S. 268. Auch BGH, Beschluss vom 27.06.2001 – 5 StR 245/01 erscheint fraglich. 1046 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 89 f. 1047 BGH NStZ 2005, S. 268: „Soweit sich die Zeugin dem Angekl. fügte, weil sie – das Beispiel ihrer Mutter vor Augen, die durch Schläge und Einsperren in einen Raum des Hauses vom Angekl. laufend misshandelt wurde – der Gefahr entgehen wollte, den Gewalttätigkeiten des Angekl. ausgesetzt zu sein, lässt sich den Urteilsfeststellungen ein unmittelbarer Handlungszusammenhang mit den sexuellen Handlungen nicht entnehmen. An einer finalen Verknüpfung von Gewaltanwendung gegenüber der Zeugin selbst fehlt es, soweit den Urteilsgründen Schläge des Angekl. gegenüber seiner Tochter zu entnehmen sind, weil nicht erkennbar ist, dass die Schläge wegen vermeintlichen Fehlverhaltens der Zeugin in einem zeitlichen und zweckgerichteten Zusammenhang mit der Vornahme der sexuellen Handlungen standen“. 1048 Ebenso kritisch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 90 und MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 38. 1049 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 89.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

20021050 weist diese irrige Vorgehensweise auf. Trotz der Feststellung, dass der Täter ein fortwährendes Klima der Gewalt geschaffen hatte, wurde er von dem Vorwurf der Vergewaltigung und Nötigung freigesprochen, weil er „nur in seinem allgemeinen Verhalten gewalttätig gewesen sei und seine Kinder oft geschlagen habe“, die Schläge aber nicht im Zusammenhang mit den sexuellen Handlungen erfolgt seien.1051 Die lediglich „allgemeine Angst der Geschädigten vor ihrem Vater“ sprach gegen eine konkludent erneuerte Drohung.1052 Ein Beschluss aus dem Jahr 2006 ist ebenfalls sachwidrig entschieden. Nach den Feststellungen der Erstinstanz hatte ein Vater seine Tochter ab dem 11. Lebensjahr sexuell missbraucht und genötigt. „Er drohte ihr immer wieder mit Schlägen für den Fall, dass sie anderen von den Vorfällen erzählen sollte. Die Zeugin nahm die Drohungen sehr ernst, da ihr Vater ihr gegenüber bereits in der Vergangenheit handgreiflich geworden war“.1053 Die finale Verknüpfung wurde abgelehnt und damit einer Verurteilung wegen sexueller Nötigung die Grundlage entzogen. Erklärungsbedürftig bleibt, warum die Tatalternative der Gewalt völlig ignoriert wurde, obwohl sich das Opfer regelmäßig gewehrt hatte. Des Weiteren hätte hier durchaus ein Fortwirken der Drohung mit Schlägen bei den weiteren sexuellen Übergriffen bedacht werden müssen, insbesondere weil der Angeklagte seine Tochter schon oft körperlicher Gewalt ausgesetzt hatte. Die Praxis, zwischen der alltäglichen Gewalt und der Gewalt zur Erzwingung sexueller Handlungen eine Trennung vorzunehmen und zu suggerieren, dass in Fällen eines Klimas der Angst zum Zeitpunkt der sexuellen Handlungen kein Nötigungsdruck auf Grund einer Drohung vorliegt, ist verfehlt.1054 Wie Hörnle zutreffend ausführt, wäre es aus Opfersicht „geradezu abwegig“ davon auszugehen, „dass ein Familienoberhaupt, das mit brutalen Methoden absolute Kontrolle über das Leben der ihm Unterworfenen etabliert, seine sexuellen Wünsche nicht mit Gewalt durchsetzen würde“.1055 Adäquat erfasst wurde die Konstellation eines Klimas der Angst dagegen in einer Entscheidung aus dem Jahr 1989.1056 Auch hier war der Täter täglich gewalttätig und hatte seine Tochter bedroht, jedoch nie im engsten zeitlichen Zu1050 BGH NStZ 2003, S. 424: „Die familiären Verhältnisse waren dadurch geprägt, dass der zu erheblichem Alkoholgenuss neigende Angekl. insbesondere unter Alkoholeinfluss und, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging, manchmal auch ohne erkennbaren Anlass, Gewalttätigkeiten gegenüber Ehefrau und Kindern verübte, wobei er auch zu drastischen ‘Strafen‘ griff. Es entstand ein Klima ständiger Furcht, er könne gewalttätig werden, herumschreien oder sich sonst unkontrolliert verhalten“. 1051 Ebenso BGH NStZ 1992, S. 587; BGH, Beschluss vom 24.11.1999 – 3 StR 466/ 99; BGH NStZ-RR 2003, S. 356 Nr. 14. 1052 BGH NStZ 2002, S. 425. 1053 BGH NStZ 2007, S. 31 f. 1054 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 90. 1055 Jeweils LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 90. 1056 BGH, Urteil vom 05.04.1989 – 2 StR 557/88.

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sammenhang mit der Tat. Der Zweite Strafsenat traf den Kern dieser Sachverhalte, indem er die Situation als „dauernde Gefahrenlage“ 1057 einstufte und eine konkludente Drohung in jedem Einzelfall bejahte. Können die Feststellungen belegen, dass der Täter „systematisch dafür sorgte“, dass das Opfer in einem fortwährenden Klima der Angst lebte, nämlich in der Angst „er werde gewalttätig, falls sie sich ihm verweigere“,1058 ist gemäß dieser Entscheidung der finale Zusammenhang hinreichend belegt.1059 So stellte auch das Bezirksgericht Meiningen in einer Entscheidung aus dem Jahr 1991 ganz richtig fest, dass „eine ständige Präsenz der Terrorisierung des Opfers und seiner Familie“ eine tatbestandsmäßige Drohung darstellen kann, „wenn sie der Täter zur Überwindung des Widerstandes des Opfers bewußt ausnutzt“.1060 Ebenso richtig entschieden wurde deshalb auch ein Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 19911061, dem ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag. cc) Anforderungen an die Kundgabe der konkludenten Drohung Erschwert wird die Annahme einer konkludenten Drohung zusätzlich durch übertriebene Anforderungen an deren Kundgabe. Konstellationen, in denen der Täter im Zeitpunkt des sexuellen Ansinnens durch Äußerungen oder sein Auftreten auf die frühere Gewalt anspielt, sind dabei unproblematisch.1062 Einige Entscheidungen1063 missverstehen jedoch die Eigentümlichkeiten einer konkludenten Drohung infolge vorangeganger Gewalt, indem im unmittelbaren Zusammenhang mit der sexuellen Handlung stets eine Andeutung auf die frühere Gewalt verlangt wird.1064 Die Aussage, dass „ein Geschlechtsverkehr allein gegen den Willen der Frau und aufgrund von nur deren Angstempfinden keine Vergewaltigung im Rechtssinne“ 1065 darstellt, ist zwar durchaus richtig. Die Willensbeugung beruht jedoch in Fällen vorangegangener Gewalt nicht auf lediglich subjektiver bzw. irrig empfundener Angst,1066 sondern gerade auf der „gewalttätigen 1057

BGH, Urteil vom 05.04.1989 – 2 StR 557/88. Jeweils BGH, Urteil vom 05.04.1989 – 2 StR 557/88. 1059 Die Aburteilung von Serienstraftaten bereitet den Gerichten große Probleme, weil sexuelle Übergriffe oftmals über einen Zeitraum von mehreren Jahren untersucht werden müssen. Gerade die zeitliche Präzisierung von Drohungen oder Gewaltakten wird dabei oftmals vom BGH für ungenügend erachtet, so dass eine Verurteilung wegen Vergewaltigung scheitert oder abgelehnt wird. Vgl. BGH NStZ-RR 2006, S. 269; BGH NStZ-RR 2007, S. 173. 1060 Jeweils BezG Meiningen NStZ 1991, S. 490. 1061 BGH, Beschluss vom 05.03.1992 – 1 StR 716/91. 1062 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 86. 1063 BGH NStZ 1995, S. 229 f.; BGH NStZ 2003, S. 424 f.; BGH NStZ 2005, S. 268 f. 1064 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 86. 1065 BGH NStZ 1995, S. 229 f. 1066 Dies wurde in BGH NStZ 1995, S. 229 f. verkannt. 1058

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Praxis“ 1067 des Täters in der Vergangenheit, die zum Zeitpunkt der Tat fortwirkt. Durch diese Praxis ist das zukünftige Verfahren quasi „vorprogrammiert“.1068 Der Täter gibt in der Regel „allein schon durch sein Verlangen nach Duldung der sexuellen Handlung konkludent zu verstehen“, dass er bei Widerstand „gegen das Opfer vorgehen“ werde.1069 Es ist deshalb „nicht angemessen“ 1070 bei jedem Übergriff wiederum eine erneute „Kommunikation“ 1071 der Drohung zu verlangen, der Täter muss lediglich erkennen, dass das Opfer die sexuelle Handlung nur auf Grund der vorangegangen Gewaltausübung duldet.1072 c) Schließung der Strafbarkeitslücken durch § 177 I Nr. 3 StGB? Die Probleme der dualen Finalität stellen sich bei Anwendung des § 177 I Nr. 3 StGB in entschärfter Form. Im Rahmen der neuen Tatvariante muss der Täter weder mit Widerstandsüberwindungsintention handeln noch die schutzlose Lage des Opfers final herbeiführen. Kennzeichnend für die neue Tatvariante ist gerade, dass das Opfer sich auf Grund der Tatsituation der Herrschaftsgewalt des Täters ausgeliefert fühlt und deshalb jeden Widerstand unterlässt; der Täter erwartet demgemäß auch keinen solchen. Des Weiteren können auch der Tat vorhergehende unspezifische Gewalt und Drohungen objektive Anhaltspunkte für potentielle „Einwirkungen“ im Sinne des § 177 I Nr. 3 StGB bilden.1073 Die in der neuen Tatvariante näher bestimmte Nötigung zu sexuellen Handlungen liegt damit auch dann vor, wenn das Opfer von Widerstand ablässt, weil es sich in der konkreten Tatsituation auf Grund einer Gewaltanwendung in der Vergangenheit mit dem Zweck der Bestrafung oder ähnlichem vor dem Täter fürchtet.1074 Allerdings spielt auch hier die zeitliche Dimension eine Rolle, so dass Gewalthandlungen, die länger zurückliegen, die Eignung abgesprochen wird, die Angst „vor der Wiederholung eines solchen Geschehens zu belegen“.1075 Strafbarkeitslücken, die durch die duale Finalität im Rahmen des § 177 I Nrn. 1 und 2 StGB entstehen, könnten somit durch die neue Tatvariante abgemildert werden. Als positiv sind deshalb Entscheidungen zu bewerten, die die Lücke füllen, die durch die restriktive Auslegung der Drohung entstehen.1076 Als negativ muss es jedoch be1067

LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 86. Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6. 1069 BGH NStZ 2003, S. 424 f. 1070 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 38. 1071 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 86. 1072 Kritisch Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 16, 20 f. i.V. m. § 249 Rn. 13 ff. 1073 In diesem Sinne NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 58. 1074 Sachverhalte wie die in BGH NStZ 2005, S. 268 und BGH NStZ 2007, S. 31 könnten somit in den Anwendungsbereich der neuen Tatvariante fallen. 1075 BGH NStZ 2009, S. 263. 1076 BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05. Sachverhalte wie in BGH NStZ 2005, S. 268 müssten heute deshalb anders entschieden werden. 1068

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urteilt werden, wenn die neue Tatvariante gänzlich unerwähnt bleibt1077 oder die Finalität von Gewalt in der Vergangenheit auch im Rahmen des § 177 I Nr. 3 StGB relevant wird. So verneinte der Bundesgerichtshof, wie bereits oben dargestellt, in einer Entscheidung aus dem Jahr 2002 eine Schutzlosigkeit gegenüber den Einwirkungen des Täters, weil die Geschädigte erklärt hatte, „dass der Angekl. wohl in seinem allgemeinen Verhalten gewalttätig war und seine Kinder oft geschlagen hat, aber in der Regel bei seinen sexuellen Übergriffen nicht zu Gewalttätigkeiten und Drohungen“ griff.1078 Anstatt die für die neue Tatvariante entscheidende Frage zu stellen, ob sich das Opfer dem Täter auf Grund des Klimas der Gewalt ausgeliefert fühlte und deshalb jeden Widerstand von vornherein unterließ, wurde die Nicht-Verknüpfung dieser Gewalt mit den sexuellen Übergriffen auch für § 177 I Nr. 3 StGB zum entscheidungsrelevanten Kriterium erklärt. Die Ablehnung der neuen Tatvariante in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 20061079 offenbart ebenfalls eine restriktive Handhabung der Rechtsprechung. Eine schutzlose Lage wurde von der Erstinstanz abgelehnt, obwohl die familiären Verhältnisse von Gewalt und Misshandlungen geprägt und die Familienmitglieder absolut eingeschüchtert waren. Die Problematik der dualen Finalität im Rahmen von Serienstraftaten ist auf Grund des § 177 I Nr. 3 StGB somit keineswegs obsolet. d) Kritik Die Anforderung, dass der Täter zur Überwindung von Widerstand und zur Erzwingung einer sexuellen Handlung im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dieser ein Nötigungsmittel einsetzt, kollidiert mit der Realität von Serienstraftaten und wiederholten Tatbegehungen. Den Kausalzusammenhang in einen Erforderlichkeitszusammenhang umzudeuten, indem die Ursache sexueller Handlungen nicht auf stattgefundene Gewalt oder Drohungen, sondern auf eine als irrig eingestufte Angst des Opfers oder beispielsweise die Autorität des Täters zurückgeführt wird, verkennt diese Realität und ist abzulehnen.1080 Bei Serienstraftaten profitiert der Täter davon, dass er im Regelfall eine Autoritätsperson für das Opfer darstellt und auf Grund der familiären Situation jederzeit Zugriff auf dieses nehmen kann. Diese Taten passen regelmäßig nicht in die Auslegungsschablone „um zu“, gerade weil sich die sexuelle und sonstige Gewalt über einen langen Zeitraum erstreckt und der Täter zur Erzwingung sexueller Handlungen Gewalt und Drohungen nicht (mehr) einsetzen muss. Schüchtert er sein Opfer massiv ein, wird dieses in der Regel jeden Mut zur Gegenwehr zum 1077 In BGH NStZ-RR 2000, S. 355 Nr. 13 fehlt jedes Eingehen auf § 177 I Nr. 3 StGB. 1078 BGH NStZ 2003, S. 424. 1079 BGH, Urteil vom 13.01.2006 – 2 StR 463/05. 1080 Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 457 für Serienstraftaten an Kindern.

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Zeitpunkt der sexuellen Handlung verloren haben. Wird ein Klima der Gewalt und Angst festgestellt, reicht dies demnach für eine finale Verbindung mit der sexuellen Handlung aus, selbst wenn nicht unmittelbar vorausgehend Gewalt angewendet oder angedroht wurde. Es wäre realitätsfern zu behaupten, dass ein Täter, der Gewalt als Mittel der Kommunikation einsetzt, sich nicht bewusst ist, dass dieses Verhalten zum Zeitpunkt jedweden Ansinnens wie ein ständig drohendes Damoklesschwert fortwirkt.1081 Durch tägliche Gewaltakte schafft der Täter eine eigene Realität für das Opfer mit dem Inhalt, dass auf Verweigerung Gewalt folgt.1082 Bei länger andauernden Misshandlungen erlangt der Täter durch die „systematische und wiederholte“ Zufügung von „psychischen Traumata“ die uneingeschränkte Herrschaft über das Opfer.1083 Die Rechtsprechung täte gut daran, derartige Sachverhalte als ein Ganzes zu sehen und Gewaltakte nicht isoliert zu betrachten, und insbesondere nicht zu verlangen, dass diese ausschließlich sexuelle Zwecke verfolgen. Des Weiteren wird auch hier dem geleisteten Widerstand zu viel Relevanz beigemessen, wenn bei dessen Fehlen bzw. einer „schwachen“ Ausprägung das objektive Vorliegen von Gewalt ignoriert und an der dualen finalen Intention gezweifelt wird.1084 Diese Vorgehensweise erscheint insbesondere dann unerträglich, wenn es sich um sexuelle Handlungen von Erwachsenen gegenüber Kindern handelt,1085 die sich über viele Jahre erstrecken, oder um mehrmalige Vergewaltigungen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang. Wird auch die Drohungsalternative in § 177 I Nr. 2 StGB abgelehnt, entstehen erhebliche Strafbarkeitslücken, wenn das Schutzalter1086 überschritten wird. Der Täter, dessen Agieren gegenüber seiner Umwelt von Gewalt geprägt ist, fällt damit partiell durch das Raster des § 177 StGB. Keineswegs greift hier automatisch § 177 I Nr. 3 StGB ein, wie soeben erörtert.1087 Eine eventuell verbleibende Strafbarkeit wegen §§ 223 ff. StGB1088 oder § 240 I, IV Nr. 1 StGB1089 kann den Unrechtsgehalt solcher Taten nicht adäquat erfassen. 1081

Unverständlich deshalb BGH NStZ 2003, S. 424. Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 90. 1083 Herman, 2. Aufl. (2006), S. 110. 1084 Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 454 f. 1085 Dazu auch C. Rohleder, 2001, S. 466 f. 1086 Ist das Opfer unter vierzehn Jahre greifen die §§ 176, 176a StGB ein, unabhängig davon, welche Beziehung der Täter zum Opfer hat. Ist das Opfer über vierzehn bis achtzehn Jahre müssen die Voraussetzungen des § 174 StGB vorliegen, der darüber hinaus nur ein Vergehen darstellt und den kriminellen Unrechtsgehalt dieser Konstellationen nicht erfassen kann. 1087 Vgl. BGH NStZ 2003, S. 424. 1088 Dazu gleich unter D.II.2.c). 1089 Die Nötigung kann aus den denselben Gründen wie § 177 StGB entfallen, indem schon die Kundgabe einer konkludenten Drohung verneint wird oder der Kausalzusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg; vgl. BGH NStZ 2003, S. 424. Zur zurückhaltenden Anwendung von § 240 StGB in diesen Konstellationen vgl. Weßlau, DuR 1989, S. 49 f. 1082

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Die Finalstruktur des Gewaltbegriffs und der Finalzusammenhang laufen dem Deliktscharakter der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung zuwider.1090 3. Einsperren Die duale finale Intention führt beim „Einsperren“ zu absurden Ergebnissen. Auch hierbei entscheidet allein die subjektive Vorstellung des Täters, ob Gewalt zur Erzwingung der sexuellen Handlung eingesetzt wurde. So soll es an der erforderlichen finalen Verknüpfung fehlen, wenn der Täter die Wohnung bzw. das Zimmer seiner Aussage nach nur deswegen abgeschlossen hat, um bei seinem sexuellen Übergriff ungestört zu bleiben und nicht entdeckt zu werden.1091 Die Behauptung des Täters, das Einsperren nur vorgenommen zu haben, um seine frühere Freundin zurückzubekommen, aber nicht, um dies zu einer dreimaligen Vergewaltigung auszunutzen, wurde ebenfalls vom Bundesgerichtshof gebilligt.1092 Auch in einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 20021093 wurde die Wertung vorgenommen, dass das Einsperren über mehrere Tage aus Tätersicht „nur der Fortsetzung eines gemeinsamen Familienlebens dienen sollte“ und nicht der Erzwingung sexueller Handlungen.1094 All diese Situationen sind objektiv dadurch gekennzeichnet, dass sich das Opfer in einer körperlichen Zwangslage befindet. Die vermeintlich fehlende subjektive Verknüpfung dieser Zwangslage mit der sexuellen Handlung durch den Täter führt jedoch zur Ablehnung von § 177 I Nr. 1 StGB. Dies trifft in der Literatur auf Zustimmung1095 und nur vereinzelt auf Kritik.1096 Dies ist verwunderlich. Beim Raub würde die Einlassung des Täters, er habe das Opfer nur deshalb eingeschlossen, um ungestört einen Diebstahl begehen zu können, nicht zur Ablehnung eines Raubes führen. Vom Vorliegen der objektiven Elemente körperliche Kraftentfaltung und insbesondere Zwangswirkung würde auf die subjektive Intention der Widerstandsüberwindung und Vornahme des Einsperrens zur Wegnahme geschlossen werden. Bei der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung wird dagegen der objektiv gegebenen 1090

Ebenso C. Rohleder, 2001, S. 456 f. LG Saarbrücken NStZ 1981, S. 222; BGH, Beschluss vom 07.11.1995 – 4 StR 608/95; BGH NStZ 1996, S. 123 Nr. 22; BGH, Beschluss vom 24.08.1999 – 4 StR 339/ 99; BGH NStZ-RR 2003, S. 42; BGH, Urteil vom 21.12.2005 – 2 StR 245/05; vgl. zuletzt BGH NStZ 2012, S. 34. 1092 BGH NStZ 1995, S. 229 f. Die finale Verknüpfung wurde auch deswegen – wenig verständlich – in Frage gestellt, weil beide ein „langdauerndes Intimverhältnis hatten“. Vgl. die absurden Erwägungen der Erstinstanz hinsichtlich der Motivation des Einsperrens in BGH, Urteil vom 21.01.1987 – 2 StR 656/86. 1093 BGH NJW 2002, S. 381. 1094 BGH NJW 2002, S. 382. 1095 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 8; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6. 1096 Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 62 ff.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 60. 1091

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Zwangswirkung auf das Opfer keine Relevanz zugesprochen, wenn der Täter aussagt, dies innerlich nicht mit der Erzwingung sexueller Handlungen verknüpft zu haben. 4. Sadismus Die geforderte Finalität zwischen Gewalt und sexueller Handlung soll auch dann fehlen, wenn der Täter sein Opfer auf Grund sadistischer Motive, aus Rache oder mit dem Ziel der Bestrafung sexuell misshandelt.1097 Ist das Opfer einer sadistischen Behandlung ausgesetzt, die zugleich eine sexuelle Handlung im Sinne des § 177 I Nr. 1, II Nr. 1 StGB beinhaltet, wird die dabei vorgenommene Gewalt nicht als „Mittel“ 1098 für die Durchführung dieser sexuellen Handlung beurteilt.1099 Nach der herrschenden Meinung dient die Gewalt hier „nicht zugleich der Widerstandsüberwindung“, weil sie keinen Nötigungszweck verfolge, sondern reiner „Selbstzweck“ sei.1100 Der Bundesgerichtshof verneinte das Vorliegen einer Vergewaltigung im Sinne des § 177 I Nr. 1, II Nr. 1 StGB, indem der Täter gegen den Willen seiner Tochter in deren Vagina mit einem Schraubenzieher eindrang, um diese zu weiten, was mit erheblichen Schmerzen verbunden war.1101 Die Penetration mit Gegenständen wird zwar von § 177 I Nr. I, II Nr. 1 StGB erfasst,1102 des Weiteren können Gewaltakt und sexuelle Handlung durchaus zusammenfallen, allerdings muss die Gewalt dann der Erzwingung der sexuellen Handlung dienen. Dieser finale Zusammenhang wurde hier verneint. Problematisch ist wiederum, dass das Opfer sich nicht aktiv wehrte. Daraus wurde geschlossen, dass die gewaltsame Handlung keinen (zukünftigen) Widerstand brechen sollte,1103 insbesondere auch deswegen, weil das Opfer sich auf Grund stän1097

Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 60. BGHSt 17, 1, (4). Vgl. OLG Hamburg JR 1950, S. 408 f. als Beispiel für eine sexuell motivierte sadistische Attacke („sog. Busenbissfall“): Die Zeugin hatte sich gegen die sexuellen Übergriffe des Angeklagten gewehrt. In der Folge biss er der Frau in die Brust. Der subjektive Tatbestand des § 176 I StGB a. F. wurde verneint, weil der Widerstand vom Täter als ein nicht „ernsthaft entgegengesetzter“ bewertet wurde. Dieser sei nur „formeller Natur“ gewesen. Unter der Annahme, dass der Biss nicht mehr von dem vorgestellten Einverständnis abgedeckt war, wurde vom BGH der Schluss gezogen, dass der Biss „nicht mittels ernstlicher Gewalt, sondern durch Überraschung und Überrumpelung“ vonstatten gegangen sei. 1099 So auch schon das RG; s. oben Zweiter Teil: B.II.1.c). 1100 Jeweils Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 6; ebenso Lackner/ Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 4; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 30. 1101 BGH NStZ 2005, S. 268 f. Wie oben ausgeführt, hätte hier aber auch das vom Täter geschaffene Klima der Gewalt als konkludente Drohung Berücksichtigung finden müssen. Vgl. aber BGH NStZ-RR 2013, S. 10. 1102 Der BGH ordnete diese Handlung als eine ambivalente ein, so dass es zu deren Einordnung als sexueller Handlung i. S. d. § 184g StGB weiterer Feststellungen bedurfte, ob dieses Verhalten „zumindest auch von sexuellen Absichten geleitet war“; vgl. BGH, Beschluss vom 05.10.2004 – 3 StR 256/54. 1103 Vgl. Lenckner, JR 1983, S. 162 a. E. 1098

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diger Gewalt nicht mehr zu widersetzen wagte. Lehnt man das Erfordernis der dualen finalen Intention ab, so ist die Penetration tatbestandsmäßig im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB. Der Einsatz des Schraubenziehers erfüllt das Tatbestandsmerkmal der Gewalt, diese (schmerzhafte) Gewalt bewirkte kausal die Duldung der Penetration, auch wenn es sich hier um einen einaktigen Vorgang handelt, so dass der Übergang von Gewalt und Nötigungserfolg quasi fließend ist. Sexuelle Nötigungen können sich aber auch als einaktige Vorgänge darstellen.1104 5. Überraschungsangriff Wie im Tatbestand des Raubes1105 werden auch im Rahmen des § 177 I Nr. 1, II Nr. 1 StGB Überraschungsattacken auf die sexuelle Integrität, wobei auch überraschende „Vergewaltigungen“ möglich sind,1106 tatbestandlich nicht erfasst.1107 § 177 I Nr. 3 StGB ist bei Überraschungsangriffen bereits deshalb nicht anwendbar, weil das Opfer nicht aus Furcht vor potentiellen Gewalteinwirkungen von Widerstand absieht.1108 In BGHSt 31, 76 stellte der Bundesgerichtshof in Fortführung des Reichsgerichts1109 hinsichtlich des Nötigungsmittels der Gewalt klar: „Die Vorschrift setzt damit voraus, daß das Tatopfer das sexuelle Ansinnen des Täters erkannt sowie einen entgegenstehenden Willen gebildet hat,1110 und dass der Täter gerade mittels Gewalt – der Fall der Drohung kommt hier nicht in Betracht – diesen Willen zu beeinflussen oder dessen Betätigung zu verhindern sucht. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn der Täter die sexuelle Handlung so überraschend vornimmt, daß der Angegriffene einen Abwehrwillen nicht bilden konnte“.1111 1104 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 67; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 27 ff. Hörnle kann derartige Konstellationen problemlos unter die Gewaltalternative fassen: Wird „Gewalt nicht zur Verminderung von Abwehrchancen“ angewandt, „sondern als Begleitmodus der sexuellen Handlung“ ist ihrer Ansicht nach § 177 I Nr. 1 StGB ebenfalls entgegen der herrschenden Meinung erfüllt. Der Wortlaut „mit Gewalt“ lässt das Verständnis zu, Gewalt sowohl als „Begleitmodus“ als auch als „Widerstandskraft mindernde Gewalt“ anzusehen; vgl. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1159; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 67. 1105 Zumindest nach der neueren Rechtsprechung zum Handtaschenraub. 1106 Vgl. den sog. „Hanauer Arzt Fall“ in BGHSt 36, 145 = NStZ 1989, S. 528 mit Anm. Hillenkamp; OLG Köln NStZ-RR 2004, S. 168 und die kritischen Anmerkungen von Frommel, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 123 ff.; BGH NStZ 2010, S. 698. 1107 Fischer, 60 Aufl. (2013), § 177 Rn. 14; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 4; Lenckner, JR 1983, S. 161; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 11. Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 61. 1108 Vgl. BGH, Beschluss vom 08.11.2011 – 4 StR 445/11 = BGH NStZ 2012, S. 268. Die noch in BGH NStZ 2004, S. 440 gegenteilig vertretene Ansicht ist inzwischen vom Zweiten Senat in BGH NJW 2006, S. 1146 aufgegeben worden. 1109 RGSt 77, 81. s. Zweiter Teil: B.II.1.b). 1110 Ebenso BGH NStZ 1993, S. 78 f.; BGH NStZ 2010, S. 698.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Bereits dem aus dem Wortlaut des § 178 StGB a. F. gezogenen Schluss im ersten Halbsatz ist nicht beizupflichten. Das Opfer von sexueller Gewalt muss keinen aktuellen Abwehrwillen gebildet haben, damit es überhaupt mit Gewalt genötigt werden kann. Dies zeigt bereits der Umstand, dass das Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung – auch damals schon unstrittig – durch die Anwendung von vis absoluta zu der Duldung sexueller Handlungen genötigt werden kann.1112 Wie Lenckner es richtig ausdrückt, setzt das Dulden keinesfalls „bewußtes Geschehen lassen“ und damit auch kein Bewusstwerden der sexuellen Absicht voraus.1113 Der Abwehrwille muss nicht aktuell vorliegen, vielmehr reicht es aus, wenn er latent vorhanden ist. Gerade bei Angriffen auf das sexuelle Selbstbestimmungsrecht gilt der Grundsatz, dass niemand bereit ist, seine sexuelle Integrität gegenüber einer überraschenden Attacke widerstandslos preiszugeben. Entscheidend ist nach der herrschenden Meinung1114 demnach auch das finale Element des Gewaltbegriffs: Erschöpft sich der sexuelle Übergriff in einer gewaltsamen Handlung wie einem festen Griff oder Schlag an die Genitalien,1115 einem Biss in die Brust1116 oder einer schmerzhaften Penetration,1117 so dient dieser aus der Sicht des Täters nicht der Überwindung eines künftigen Widerstands und damit auch nicht der „Willensbeugung“ 1118 zur Erzwingung einer sexuellen Handlung, wenn der Tatplan keine weiteren Aktivitäten vorsah.1119 Handelt der Täter ausschließlich unter Ausnutzung eines Überraschungsmoments, 1111 „Nach den Feststellungen näherte sich der Angeklagte jeweils zu Fuß oder mit dem Fahrrad einer einzelnen Fußgängerin. Mit seiner Faust, in der er in acht Fällen einen spitzen, nicht näher identifizierten Gegenstand und in einem Fall einen Schlüsselbund hielt, schlug er die betreffende Frau in den Unterleib, auf das Gesäß oder auf die Brust. Meist blieb es bei einem Schlag, insbesondere wenn er ihn im Vorbeifahren vom Fahrrad ausführte, in drei Fällen schlug er zweimal bzw. mehrfach zu. Die Frauen erlitten durch den spitzen Gegenstand Ritz- oder bis zu zwei Zentimeter tiefe Stichwunden, die Schlüssel verursachten Schmerzen und Flecken. Sofort danach, wenn die Frau aufschrie, fuhr oder rannte der Angeklagte weg. Er hatte jeweils das Ziel verfolgt, „sich durch die gegen die Genitalsphäre der Frauen gerichtete körperliche Mißhandlung sexuellen Lustgewinn zu verschaffen“. Vgl. die Anm. von Lenckner, JR 1983, S. 159. Kritisch zu diesem Urteil Frommel, in: Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 118. 1112 Beispiel: heimliche Betäubung (s. dazu gleich unter C.II.7.). 1113 Lenckner, JR 1983, S. 160 f. 1114 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 14; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 4; Lenckner, JR 1983, S. 161; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 11. 1115 BGHSt 31, 76. 1116 Dazu OLG Hamburg JR 1959, S. 408 f. Der Sachverhalt wurde allerdings falsch entschieden, weil der Täter im Verlaufe von Abwehrhandlungen gegenüber sexuellen Übergriffen den Biss durchführte. Der gewaltsame Biss war demnach nicht die einzige sexuelle Handlung. 1117 OLG Köln NStZ-RR 2004, S. 168; BGH NStZ 2010, S. 698. 1118 OLG Köln NStZ-RR 2004, S. 168. 1119 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 61.

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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mag zwar das gewaltsame Vorgehen der Durchführung der sexuellen Handlung objektiv gedient haben, eine finale Verknüpfung von Gewalt und sexueller Handlung werden verneint. Im Rahmen der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung war dies stets gängige Rechtsprechung – und zwar durchgängig – im Gegensatz zum Tatbestand des Raubes.1120 In BGHSt 18, 329 hatte der Bundesgerichtshof in der Konstellation eines „Handtaschenraubes“ Gewalt bejaht und sich gegen die Ansicht des Reichsgerichts gewandt, dass Gewalt gegen eine Person erst dann vorliege, „wenn diese sich der Gefahr und ihres Willens zum Widerstandleisten bewußt geworden sei“. Der Bundesgerichtshof argumentierte dagegen: „Gewalt (§ 249 StGB) ist die Einwirkung auf den Körper einer Person, die geeignet und dazu bestimmt ist, die Freiheit der Willensbildung oder Willensbetätigung aufzuheben. Wer einen nicht geradezu wertlosen Gegenstand in der Hand hält, ist nach der Erfahrung des täglichen Lebens in aller Regel bereits entschlossen, sich der beliebigen Wegnahme dieses Gegenstandes, z. B. einer Handtasche, zu widersetzen. Darüber muß er sich nicht dann erst klar werden, wenn er sich etwa bewußt wird, daß ihm der Gegenstand weggenommen wird oder weggenommen werden soll. Das weiß in aller Regel auch derjenige, der eine solche Tasche an sich bringen will. Von dieser Vorstellung aus ist sein planmäßiges Vorgehen erst sinnvoll. Er greift überraschend zu, um den Träger der Tasche daran zu hindern, seiner von vornherein vorhandenen inneren Haltung entsprechend Widerstand zu leisten, nicht aber deswegen, wie das Reichsgericht meint, um der Entscheidung des Betroffenen darüber zuvorzukommen, ob er die Tasche widerstandslos herausgeben will oder nicht“. Diese Argumentation überzeugt dahingehend, dass es in den Fällen eines überraschenden Zugriffs sicherlich nicht an der Widerstandsüberwindungsintention fehlt, wie uns die herrschende Meinung Glauben machen will.1121 Vogel erkennt dies ebenfalls, wenn er ausführt, dass die Unterscheidung danach, ob „der Täter sage, er vereitele durch überraschendes, geschicktes Zugreifen jede Möglichkeit zu einem Widerstand oder er breche ,prophylaktisch potentiellen Widerstand‘, ,rabulistisch‘“ erscheine.1122 Diese Argumentationsschiene mag – mit Blick auf die hohe Strafandrohung – von der anerkennenswerten Bestrebung getragen sein, einen „Handtaschenraub“ nicht dem Tatbestand des Raubes unterfallen zu lassen. Tatbestandsentscheidend – auch im Rahmen des § 177 StGB – muss jedoch letztendlich die Frage sein, ob Gewalt gegen eine Person vorliegt, also eine ausreichende körperliche Zwangswirkung.1123 Denn der Täter wählt den überraschenden Zugriff, um Widerstand zu verunmöglichen, ebenso wie in den Fällen der vis absoluta.1124 Da1120

So schon RGSt 77, 81. Ebenso LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 12. 1122 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 12. 1123 LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 12. 1124 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 31; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 29. 1121

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

bei macht es keinen Unterschied, ob der Tatplan nur einen Übergriff beinhaltete, weil bereits der eine Übergriff überraschend und damit zur Verhinderung von Widerstand vorgenommen wurde.1125 Zur Veranschaulichung kann eine Entscheidung aus dem Jahr 2006 dienen.1126 Der Bundesgerichtshof verneinte entgegen der vorhergehenden Instanz hinsichtlich der gewaltsamen Penetration das Vorliegen einer „finalen Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und Willensbeugung“, weil das Vorgehen auf „bloßer Überrumpelung“ sowie „Lustbefriedigung“ 1127 basiert habe. Dem ist zu widersprechen. Der Angeklagte hat gegen den Willen der Zeugin unter Anwendung von körperlicher Kraft eine schmerzhafte Penetration vorgenommen. Die sexuelle Handlung fiel vorliegend mit der körperlichen Zwangswirkung zusammen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Angeklagte die Zeugin mit Gewalt nötigte, die sexuelle Handlung zu dulden. Er ging überraschend vor, weil er um das fehlende Einverständnis wusste, er also Widerstand verhindern wollte. Eine Verurteilung wegen Vergewaltigung gem. § 177 I Nr. 1, II Nr. 1 StGB mag hinsichtlich des Strafmaßes abzulehnen sein, es bleibt jedoch die Möglichkeit einer Strafmilderung über § 177 I i.V. m. V StGB.1128 Festzuhalten bleibt, dass in Fällen überraschenden Vorgehens der Täter durchaus zur Überwindung von Widerstand handelt, indem er den Opfern schlichtweg keine Zeit lässt, Widerstand zu leisten. Er weiß aber dennoch, dass diese gegen seine sexuellen Attacken Widerstand leisten würden und kommt diesem zuvor.1129 6. Ablehnung einer finalen Verknüpfung auf Grund realitätsferner Annahmen a) Drohung zur Erzwingung des Beischlafs oder nur zur aktiven Beteiligung daran? Die zwingend vorausgesetzte Finalität führt zu spitzfindigen – nicht mehr der Realität entsprechenden – Unterscheidungen hinsichtlich der Bewertung des Ein1125

Anders LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 61. BGH NStZ-RR 2004, S. 168 f. Täter und Opfer waren verheiratet. Es war immer wieder zu Konflikten wegen des rücksichtslosen sexuellen Vorgehens des Angeklagten gekommen. Am Tattag hatten diese zunächst einvernehmlichen Geschlechtsverkehr „bis der Angekl. plötzlich unvermittelt und überraschend die Pobacken der Zeugin auseinander riss und derart heftig sein Glied in ihre Scheide stieß, dass die Zeugin bis in den Oberbauch Schmerzen verspürte. Überdies schlug er sie auf das Gesäß und begleitete das Ganze mit Ausdrücken der Vulgärsprache“. Eine Verurteilung wegen § 223 StGB wurde nicht in Erwägung gezogen. 1127 Jeweils BGH NStZ-RR 2004, S. 168. 1128 Vgl. auch BGH NStZ 2010, S. 698. 1129 Im Rahmen der herrschenden Auslegung wird deutlich, dass in Deutschland ein Tatbestand der (tätlichen) sexuellen Belästigung fehlt, der überraschende Attacken zumindest nicht völlig straflos ließe. Vgl. dazu die Regelung im SchweizStGB in Art. 198 (Bußtatbestand) sowie Adelmann, Jura 2009, S. 24 ff.; Schaefer/Wolf, ZRP 2001, S. 27 f. 1126

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satzes von Nötigungsmitteln. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 19941130 heißt es: „Die Nebenkl. hat in der Hauptverhandlung bekundet, der Angekl. habe ihr angedroht, er werde sie umbringen, wenn sie nicht ,mitmache‘. Die StrK, die die Aussagen der Nebenkl. teilweise für glaubhaft hält und teilweise nicht, macht nicht deutlich, ob dieser Teil der Aussage glaubhaft ist oder nicht. Dies beruht darauf, daß die StrK offenbar der Auffassung ist, selbst wenn dieser Teil der Aussage glaubhaft wäre, hätte er rechtlich keine Bedeutung, weil sich diese Aussage der Zeugin auf die Situation des Beischlafs (bezog), (die Drohung) diente also (. . .) nicht seiner Erzwingung als solcher“. Nur dann, wenn die Drohung die Fortsetzung des Beischlafs erzwingen sollte, wäre sie tatbestandsmäßig, weil final eingesetzt vom Täter. Ist es „dem Angekl. darum gegangen, seine Tochter zu einer aktiven Beteiligung am Geschlechtsverkehr zu veranlassen“,1131 ist § 177 StGB nicht erfüllt. Die Determinierungsmacht darüber, ob eine Vergewaltigung gegeben ist, liegt demnach in der Hand des Täters, weil seine Absicht bei Ausspruch der Drohung entscheidend ist – unabhängig von der Opferperspektive. Die Drohungswirkung wird hierbei künstlich aufgespalten. Für einen Außenstehenden ist evident, dass die Drohung (auch) der Beischlafserzwingung dienen sollte. Die mögliche Interpretation, dass dadurch lediglich eine aktive Beteiligung erzwungen werden sollte, ist realitätsfern und verkennt die konkrete Deliktssituation.1132 Ebenso unverständlich bleibt die Skepsis des Bundesgerichtshofs hinsichtlich des Vorliegens der finalen Verknüpfung in einem Beschluss aus dem Jahr 1994.1133 Der Bundesgerichtshof führte aus, dass sich aus der „eher pauschalen

1130

BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 14. BGH NStZ 1995, S. 223 Nr. 14. 1132 Ebenso unverständlich BGH, Urteil vom 20.10.1970 – 1 StR 394/70: „Den vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist schon nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß die Drohungen (Anm.: er drohte, diese umzubringen) des Angeklagten gegen seine geschiedene Ehefrau, die Zeugin W, objektiv dazu bestimmt waren, diese zur Duldung des Beischlafs gegen ihren Willen zu zwingen. Die Zeugin hatte sich nach ihrer Scheidung bereit gefunden, zu dem Angeklagten wieder intime Beziehungen aufzunehmen. Selbst wenn es bald darauf erneut zwischen ihnen zu einem ernsthaften Zerwürfnis gekommen ist, läßt sich daher auch nach der Art und Weise, wie der Angeklagte die Zeugin ,gefoltert‘ hat, nicht ausschließen, daß diese durch die Drohungen lediglich in Angst und Schrecken versetzt, nicht aber zur Duldung des außerehelichen Beischlafs gefügig gemacht werden sollte. Möglicherweise wehrte sie sich auch nur gegen den anomalen Verkehr. § 177 StGB wird aber nur durch den normalen Geschlechtsverkehr erfüllt (RG JW 1937, 756)“. Vgl. außerdem die unzutreffenden erstinstanzlichen Ausführungen, die wiedergegeben werden in BGH NStZ 2003, S. 165, 167: „Eine Vergewaltigung hat es verneint, weil es jedenfalls an einer Verknüpfung von Gewalt und ,Taterfolg‘ fehle. Der Geschlechtsverkehr habe bereits stattgefunden, als der Angeklagte die Arme des Mädchens festgehalten und ihm den Mund zugehalten habe, was damit lediglich ,die Aufrechterhaltung‘ des Geschlechtsverkehrs ermöglicht habe“. 1133 BGH NStZ-RR 1999, S. 324 Nr. 16. 1131

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Feststellung, daß das Mädchen versuchte, den Angeklagten ,mit Armen und Beinen abzuwehren‘, noch nicht notwendig“ ergebe, „daß der Angeklagte seinerseits qualifizierende Gewalt gegen das Mädchen zur Erzwingung der sexuellen Handlungen verübte“. Hieraus und aus den Umständen, „daß der Angeklagte dem Mädchen, das sich zur Wand abkehrte, ,den Mund zu(hielt) oder ihr das Kissen ins Gesicht (drückte)‘, und daß er sich in den Fällen ,in ähnlicher Weise‘ an dem Mädchen verging und er sie ,auf die Couch oder auch auf den Fußboden niederdrückte und sie dann am Unterkörper entkleidete, worauf er sich zu ihr legte‘“, soll sich nicht ergeben, dass der Täter jeweils bewusst final Gewalt zur Erzwingung der sexuellen Handlung einsetzte. Warum der Täter jedoch sonst auf – auch vom Bundesgerichtshof – als Gewalt qualifizierte Handlungen zurückgegriffen haben soll, bleibt offen. Des Weiteren finden sich Erwägungen, dass es gegen eine finale Verknüpfung von vorausgehender Gewalt mit der sexuellen Handlung im Sinne einer konkludenten Drohung spreche, wenn zwischen den Beteiligten ein „langdauerndes Intimverhältnis“ 1134 bestanden hatte. In einem Urteil aus dem Jahr 20061135 wurde objektiv vorliegende Gewalt nicht einmal angedacht, obwohl der Täter dem kindlichen Opfer, das bei Durchführung des Analverkehrs „vor Schmerzen weinte“, den Mund zugehalten hatte. Dieses Vorgehen erfüllt die Voraussetzungen des Gewaltbegriffs.1136 Laut den Feststellungen wollte der Täter jedoch durch sein Handeln seine Entdeckung verhindern. Ein Handeln zur Überwindung von Widerstand wurde demnach abgelehnt, obwohl das Opfer doch eindeutig Widerstand geleistet hatte. Wiederum wird fehlender körperlicher Widerstand zum Ablehnungskriterium von tatbestandsmäßiger Gewalt.1137 b) Gewaltanwendung zur gewaltlosen Erreichung des Höhepunkts Gemäß den Feststellungen eines Urteils aus dem Jahr 19911138 hatte sich der Angeklagte unter einem Vorwand Zutritt zur Wohnung des Opfers verschafft.1139 Er wurde dann so „zudringlich“ 1140, dass die Frau immer mehr zurückweichen musste und sich schließlich in dem Schlafzimmerbereich ihrer Einzimmerwohnung befand. Der Angeklagte stellte sich so vor sie hin, dass sie „diesen Bereich nicht mehr ohne den Willen des Angekl. verlassen konnte. Der Angekl. erklärte

1134

BGH NStZ 1995, S. 229 f. BGHSt 50, 359, (361). 1136 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 43. 1137 Richtig entschieden dagegen BGH, Urteil vom 15.01.1986 – 2 StR 435/85. 1138 BGH NStZ 1991, S. 431. 1139 Sie verband eine Bekanntschaft; er hatte ihr bei der Einrichtung der Wohnung geholfen. 1140 Hier gibt der BGH die Feststellungen des LG nicht wörtlich wieder, so dass man sich ausmalen muss, was darunter zu verstehen ist. 1135

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Frau M nun, daß er mit ihr ,schlafen‘ wolle. Aus Angst vor dem Angekl. ging Frau M auf die Forderung des Angekl. ein, wobei sie aber zu ihm sagte: ,Laß das doch, ich will das nicht.‘ Während des Geschlechtsverkehrs kurz vor dem Samenerguss, stemmte sich die unter dem Angekl. liegende Frau M mit beiden Händen gegen den Angekl. Auch zog sie an den Schlaufen seines ,Blaumanns‘. Beide Handlungen dienten dazu, den Angekl. dazu zu bewegen, von der weiteren Durchführung des Geschlechtsverkehrs abzusehen. Diesen von Frau M ausgehenden körperlichen Widerstand, der von ihr dazu eingesetzt wurde, den Angekl. von der Durchführung des Geschlechtsverkehrs abzubringen, überwand der Angekl. dadurch, daß er sich von oben der Abwehrhaltung der Frau M entgegenstemmte“.1141 Sowohl das Landgericht als auch der Bundesgerichtshof sahen in dem Versperren des Türbereichs nach den Zudringlichkeiten keine mittelbare Gewalt als gegeben an.1142 Das Landgericht wertete jedoch das Entgegenstemmen des Angeklagten gegen das Abwehrverhalten des Opfers während des Geschlechtsverkehrs als tatbestandsmäßige (geringfügige) Gewalt, weil die erzwungene Fortsetzung eines zunächst gewaltlos begonnenen Geschlechtsverkehrs unstrittig eine Vergewaltigung begründet.1143 Der Bundesgerichtshof sprach den Täter vom Vergewaltigungsvorwurf frei. Der Täter habe zwar das Verhalten des Opfers als Widerstand erkannt, allerdings wollte er diesen Widerstand nicht mit Gewalt brechen, so dass er seine Körperkräfte auch nicht dahingehend bewusst einsetzte, sondern es ging ihm „in diesem Augenblick“ nur um „die gewaltlose Erreichung des ,Höhepunkts‘, nachdem er ,schon ganz kurz davor‘ war“.1144 Diese Ausführungen sind von – fast schon absurder – juristischer Spitzfindigkeit gekennzeichnet und in der Sache „befremdlich“ 1145 und abwegig.1146 Der Bundesgerichtshof will hier offenbar eine Verurteilung wegen Vergewaltigung vermeiden und knüpft seine Argumentation an der Widerstandsüberwindungsintention an. Obwohl der Täter – laut seiner Aussage – den Widerstand des Opfers gegen die Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs wahrgenommen hatte, soll das Tatbestandsmerkmal „mit Gewalt“ entfallen, weil er diesen Widerstand gar nicht unter Einsatz seiner (überlegenen) Körperkräfte überwinden wollte. Er stemmte sich zwar dem Opfer entgegen, aber dieses Verhalten war nach Ansicht des Bundesgerichtshofs völlig gewaltlos, weil er dies nur tat, um zum sexuellen Höhepunkt zu kommen. Auch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs lagen demnach eine körperliche Kraftentfaltung sowie Zwangswirkung vor und der Täter setzte seine Kraft zweckgerichtet dazu ein, den Geschlechtsverkehr fortzusetzen und 1141 Jeweils BGH NStZ 1991, S. 431. Im Anschluss an die Tat tötete er das Opfer aus Angst vor einem Bekanntwerden der Tat. 1142 Kritisch dazu Sick, JR 1993, S. 164 ff. 1143 BGH GA 1970, S. 57; BGH NStZ 1991, S. 431. 1144 Jeweils BGH NStZ 1991, S. 431. 1145 Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 18 Fn. 82. 1146 Ebenso kritisch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 60.

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Widerstand zu überwinden. Der Umstand, dass er die Abwehrhandlungen unterband, weil er zum Orgasmus kommen wollte, ändert aber nichts an dem Vorliegen der Merkmale des Nötigungsmittels der Gewalt. Denn die Überwindung des Widerstands war das Zwischenziel für sein Endziel, so dass er diesbezüglich mit Absicht handelte.1147 Ein Gewalteinsatz wird nicht auf Grundlage dahinter stehender Motive normativ bestimmt. Im Hinblick auf die kausale Wirkung der Gewalt hat der Angeklagte zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt. Ein anderes Ergebnis lässt sich auf Grund des festgestellten Sachverhalts nicht überzeugend erzielen.1148 Bedingter Vorsatz liegt auch dann vor, „wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges unerwünscht ist“. 1149 Am Wissen und Wollen ändert der Wunsch, den Höhepunkt gewaltlos zu erreichen, nichts.1150 Die Entscheidung belegt zum einen, dass die vom Täter ausgeübte mittelbare Gewalt nicht für tatbestandsmäßig erklärt wurde, weil sich das Opfer nicht wehrte.1151 Zum anderen wurde hier in absurder Art und Weise die Intention, Widerstand mit Gewalt zu überwinden, verneint, obwohl der Täter genau wusste, was er tat und dies auch wollte.1152 Ein – hier nicht zur Debatte stehender – den Vorsatz ausschließender Irrtum nach § 16 I 1 StGB wäre ebenfalls nicht gegeben, weil die irrige Wertung, dass sein Verhalten keine tatbestandsmäßige Gewalt darstellte, ein irrelevanter Subsumtionsirrtum wäre.1153 c) Fortwirkung massiver Gewalthandlungen gegen Dritte Ein Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2012 zeigt noch einmal deutlich die Problematik der finalen Verknüpfung auf.1154 Trotz des traumatisierenden Erlebnisses der Erschießung eines Menschen in nächster Nähe und der anschließenden Bedrohung mit der Pistole wurde § 177 I Nr. 2 StGB mangels finaler Verknüpfung abgelehnt. Das Landgericht hatte zutreffend ausgeführt, dass „der Angeklagte (. . .) der Nebenklägerin mit der Ankündigung ,Du bist die Nächste‘ mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben gedroht“ und „die durch die Tötung des M. K. verstärkte und bis zum Betreten des Hotelzimmers fortwirkende Bedrohungslage (. . .) ausgenutzt“ habe, „um die Nebenklägerin zu nötigen,

1147

Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 118. Ebenso Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 12. 1149 BGHSt 7, 363, (369). 1150 Ebenso Sick, JR 1993, S. 166. Die Vermutung liegt nahe, dass auch hier der Mythos vom unbeherrschbaren Sexualtrieb eine erhebliche Rolle spielte. 1151 Ebenso Sick, JR 1993, S. 165; s. A.II.2.c). 1152 Ähnlich BGH, Beschluss vom 13.09.2001 – 4 StR 309/01. 1153 Ebenso Sick, JR 1993, S. 167. 1154 BGH, Beschluss vom 16.10.2012 – 3 StR 385/12. 1148

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sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen und von ihm an ihr vornehmen zu lassen“.1155 Laut dem Bundesgerichtshof fehlte es jedoch an einer „Aktualisierung“ der ursprünglichen Drohung durch den Täter des Mordes, weil er zwar die Pistole mit in das Hotelzimmer genommen hatte, aber nicht erneut zur Erzwingung der sexuellen Handlungen einsetzte.1156 Der Umstand, dass die Geschädigte sich in einem panikartigen Schock befand und ihr (Noch-)Mann sich ihrer auf Grund des Mordes und der Bedrohung mit der Waffe bemächtigt hatte, findet keinerlei Berücksichtigung. Allein das Verlangen der sexuellen Handlungen hätte auf Grund der Vorgeschichte als Aktualisierung der Drohung aufgefasst werden können. Weil sich die Geschädigte – gezwungenermaßen – zu sexuellen Handlungen bereit erklärt hatte, wird der Finalzusammenhang jedoch realitätsfern verneint. 7. Gewalt durch Einsatz betäubender Stoffe Ursprünglich hatte die reichsgerichtliche Rechtsprechung Gewalt nur dann bejaht, wenn das Betäubungsmittel gewaltsam beigebracht worden war, weil es ansonsten an der körperlichen Kraftentfaltung fehlte.1157 Hatte der Täter sein Opfer in der Absicht, den dadurch bewirkten Zustand im Anschluss zum Geschlechtsverkehr auszunutzen, betäubt oder in sonstiger Weise widerstandsunfähig gemacht, so trat bis zum 4. StrRG von 1973 eine Strafbarkeit wegen uneigentlicher Notzucht gem. § 177 I Hs. 2 StGB a. F. ein.1158 Diese Tatbestandsfassung bestätigte nach Ansicht der Wissenschaft, dass die Einordnung der Anwendung von Betäubungsmitteln als „Gewalt“ vom Strafgesetzbuch ausdrücklich gebilligt war.1159 Ab 1973 wurden diese Sachverhalte tatbestandlich voneinander getrennt, so dass seitdem strikt zwischen der Vergewaltigung in § 177 StGB und dem sexuellen Missbrauch Widerstandunfähiger in § 179 StGB unterschieden wird.1160 Zur Erfüllung des § 177 StGB muss die Betäubung damit unter Gewalt fallen. Wie oben erläutert, fasste die Rechtsprechung entgegen dem Reichsgericht ab BGHSt 1, 145 auch das gewaltlose Beibringen von Betäubungsmitteln als Gewalt auf.1161 Werden dem Opfer Drogen, Alkohol, K.O.-Tropfen, LSD oder ähnliche Stoffe gegen bzw. ohne1162 seinen Willen verabreicht, so ist nach ständiger Rechtspre1155

BGH, Beschluss vom 16.10.2012 – 3 StR 385/12 Rn. 3. BGH, Beschluss vom 16.10.2012 – 3 StR 385/12 Rn. 6. 1157 RGSt 58, 98; RGSt 72, 349. 1158 s. Zweiter Teil: B.II.1.a). 1159 Maurach, NJW 1961, S. 1051 m.w. N. 1160 Gewalt i. S. d. § 177 StGB sollte nur vorliegen, wenn kein – sei es auch täuschungsbedingt – Einverständnis der Frau in die Betäubung o. ä. vorlag; vgl. BT-Drs. VI/3521 S. 38 f. 1161 s. A.I.1. sowie BGH NJW 1951, S. 532; BGHR StGB § 249 I Gewalt 6. 1162 Wobei bei derartigen Sachverhalten wohl immer von einem entgegenstehenden Willen ausgegangen werden kann. 1156

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

chung auch tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB gegeben.1163 Das Vorliegen von Gewalt wird dagegen verneint, wenn das Betäubungsmittel durch den Täter mit Einverständnis des Opfers beigebracht wird, selbst wenn der Täter von Anfang an mit der Betäubung die Durchführung sexueller Handlungen bezweckt.1164 Unter dem Aspekt von Strafbarkeitslücken ist diese Auslegung in der Regel unproblematisch, weil entweder eine Strafbarkeit aus § 177 I Nr. 3 StGB1165 oder § 179 StGB eintreten kann. Dogmatisch zu überzeugen vermag sie jedoch nicht. Die Unterscheidung für die Annahme von Gewalt danach, ob ein Einverständnis in die Betäubung vorliegt oder nicht, ist – insbesondere auch aus Opfersicht – nicht gerechtfertigt. In beiden Fällen bezweckt der Täter die Herbeiführung eines willenlosen Zustands, um sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers zu vollziehen.1166 Eine (geringe) körperliche Kraftentfaltung und eine (erhebliche) körperliche Zwangswirkung wie auch die Intention des Täters, Widerstand von Anfang an auszuschalten, sind in beiden Fällen gegeben. Denn wie schon der Bundesgerichtshof entschieden hat, muss das Opfer die Gewaltanwendung nicht also solche empfinden.1167 Die Rechtsprechung und auch ein großer Teil der Wissenschaft, die Gewalt ablehnen,1168 verkennen die Bedeutung der persönlichen Freiheit1169 bzw. des sexuellen Selbstbestimmungsrechts. Liegt unzweifelhaft eine Krafteinwirkung auf den Körper des Opfers zur Überwindung erwarteten Widerstands durch den Täter vor, die auch eine körperlich fühlbare Zwangswirkung zur Folge hat und der Vorbereitung der sexuellen Handlung dient, wenn der Täter die Berauschung ohne Einverständnis herbeiführt,1170 so ändert sich durch eine einverständliche Berauschung an dem Vorliegen dieser Gewaltmerkmale nichts. Vielmehr handelt es sich dabei – wie Maurach es ausdrückt – um eine „höchst anfechtbare These“.1171 Diejenigen, die dieser These zustimmen, stellen – unter Verweis auf die Rechtsprechung – lediglich 1163 BGH NJW 1960, S. 639; BGH StV 1991, S. 149; NStZ-RR 1999, S. 323 Nr. 14; BGH NStZ-RR 2004, S. 355 Nr. 10 (Konstellation Täterin–männliches Opfer); BGH NStZ-RR 2009, S. 278. 1164 BGH NJW 1959, 1092; NJW 1960, S. 639; OLG Celle NJW 1961, 1079 und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 47; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5. 1165 Solange das Opfer noch einen entgegenstehenden Willen bilden kann. 1166 Klarzustellen ist, dass für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt der Täter die Betäubung o. ä. beim Opfer in eigener Person vornehmen muss; der gemeinsame Alkoholexzess kann niemals Gewalt sein, selbst wenn der Täter von Anfang an beabsichtigt, den Komazustand zum Geschlechtsverkehr auszunutzen. 1167 BGHSt 4, 210, (212); in Fortführung von RGSt 67, 183, (187). 1168 BGH NJW 1959, 1092; NJW 1960, S. 639; OLG Celle NJW 1961, 1079; abl. Maurach, NJW 1961, S. 1050 ff. und Mittelbach, JR 1959, S. 345; zustimmend die Mehrheit in der Literatur Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 7; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 47; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5. 1169 Maurach, NJW 1961, S. 1051. 1170 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 6 f. 1171 Maurach, NJW 1961, S. 1050.

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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fest, dass die vorsätzliche, aber einverständliche Herbeiführung eines willenlosen Zustands zum Zweck der Durchführung sexueller Handlungen bei dahingehender Unkenntnis des Opfers Gewalt ausschließt.1172 Eine Begründung fehlt. Fischer verneint „Gewalt zur Verhinderung erwarteten Widerstands“.1173 Aus der Perspektive des Täters, die von der herrschenden Meinung beim Einsatz von Gewalt im Sinne des § 177 StGB für maßgeblich erklärt wird, macht es jedoch keinen Unterschied, ob das Opfer mit der Betäubung einverstanden ist oder nicht.1174 Schließlich hält er die Betäubung für notwendig, um die sexuellen Handlungen an dem Opfer durchführen zu können, er rechnet also sehr wohl mit Widerstand. Das Einverständnis bezieht sich ja nur auf die Betäubung und gerade nicht auf die sexuelle Handlung. Darüber hinaus stützt sich die ablehnende Haltung wohl auf die herkömmliche Unterscheidung zwischen List und Gewalt, so dass das Täterverhalten in der Konstellation des Einverständnisses insgesamt sachwidrig als List beurteilt wird.1175 Letztendlich findet sich keine sinnvolle Begründung für die Ablehnung von Gewalt. Denn Gewalt bleibt Gewalt, auch wenn ein Einverständnis damit vorliegt. Der Knackpunkt liegt vielmehr auf dem Tatbestandsmerkmal des Nötigens. Denn ein Einverständnis – mit der Gewalt und den sexuellen Handlungen – lässt das Merkmal des Nötigens entfallen.1176 Beim heimlichen Beibringen von Betäubungsmitteln wird sowohl Gewalt als auch ein Nötigen zu sexuellen Handlungen ohne weitere Begründung bejaht. Der entgegenstehende Wille wird selbstverständlich vorausgesetzt. Im Fall der einverständlichen Betäubung könnte der Tatbestand des § 177 I Nr. 1 StGB demnach nur entfallen, wenn man das Einverständnis in die Narkose auch auf die Vornahme der sexuellen Handlung durchschlagen lassen würde, so dass ein „Nötigen“ entfiele. Dies wird jedoch niemand ernsthaft vertreten, weil ansonsten – wie Maurach und Schroeder es ausdrücken – die Wertung nahe läge, dass die bloße Zustimmung des Opfers in seine Betäubung oder ähnliches als „Blankoscheck“ 1177 für eine daran anschließende sexuelle Nötigung/Vergewaltigung behandelt wird.1178 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass entgegen der herrschenden Meinung auch eine einverständliche Betäubung und ähnliche Vorgehensweisen sehr wohl Gewalt im Sinne des § 177 I Nr. 1 StGB darstellen.1179 1172 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 47; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 26; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5. 1173 Fischer, ZStW 112 (2000), S. 97. 1174 Lediglich die Betäubung selbst wird leichter durchzuführen sein. 1175 Diese Argumentation findet sich im Beschluss des BGH vom 21.04.1959 – 5 StR 75/59; Maurach, NJW 1961, S. 1052. 1176 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 17. 1177 Maurach, NJW 1961, S. 1051 und Schroeder, 1975, S. 28. 1178 Ebenso Sick, 1993, S. 123. 1179 Im Übrigen sei angemerkt: Will man behaupten, dass der entgegenstehende Wille im Rahmen des § 177 StGB sichtbar zum Ausdruck gekommen sein muss und in derartigen Konstellationen nicht unwiderlegbar vermutet werden kann, so müsste nicht

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

III. Fazit: Abschied von der Lehre der Finalstruktur und des Finalzusammenhangs Sowohl die Lehre von der Finalstruktur als auch vom Finalzusammenhang sind im Rahmen des § 177 StGB entgegen der herrschenden Meinung abzulehnen. Die Schwächen dieser Lehre wurden bereits im Tatbestand des Raubes ausführlich dargestellt.1180 In keinem anderen Tatbestand tritt jedoch deren Inkonsistenz so deutlich zu Tage wie im Tatbestand des § 177 StGB. Umso verwunderlicher ist die Tatsache, dass beide Dogmen fast unumstritten sind,1181 obwohl der reelle Unrechtsgehalt sexueller Gewalt bei dieser Auslegung nicht adäquat erfasst und die Opferperspektive ausgeblendet wird. Tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 StGB zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Grund körperlicher Kraftentfaltung und dadurch entstehender körperlicher Zwangswirkung eine Nötigung beim Opfer herbeiführt, also „einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten“ aufzwingt, „ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen“ bestimmt.1182 Die Vorstellung, dass das Opfer der Tat Widerstand entgegenbringt, ist für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in subjektiver Hinsicht nicht konstituierend.1183 Dem Gewaltbegriff ist die Nötigungskomponente nicht immanent, diese ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel zwischen den Tatbestandsmerkmalen Gewalt und Nötigen.1184 Das Widerstandselement wirkt sich in § 177 I StGB so gravierend wie in keinem anderen Tatbestand aus. Wie die Rechtsprechung immer wieder deutlich macht, nur in beiden Konstellationen ein „Nötigen mit Gewalt“ abgelehnt werden, sondern darüber hinaus jede den Willen ausschaltende vis absoluta als taugliche Gewaltform in § 177 StGB abgelehnt werden, weil das Opfer in derartigen Konstellationen stets den entgegenstehenden Willen nicht mehr äußern kann. 1180 s. A.I.2. 1181 Die Finalstruktur des Gewaltbegriffs wird kritisiert von Blei, NJW 1954, S. 586; Haffke, ZStW 84 (1972), S. 49; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 35; LK-Vogel, 12. Aufl. (2010), § 249 Rn. 9 und Wolter, NStZ 1985, S. 248. Lediglich Hörnle und Jakobs lehnen den Finalzusammenhang als zwingendes Erfordernis ab. Vgl. dazu bereits oben sowie Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1143 ff. und Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332 f.: „Der Finalzusammenhang ist also ersatzlos zu verabschieden; was bleibt, ist Vorsatz.“ Rengier, in: Staat – Kirche – Verwaltung, 2001, S. 1196 f. sieht zumindest die Problematik des rein subjektiven Finalzusammenhangs im Rahmen des Raubes. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 17 Rn. 11; Seelmann, JuS 1986, S. 204; SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36; Wolter, NStZ 1985, S. 248 m.w. N. fordern das Vorliegen eines objektiven Kausalzusammenhangs zwischen Gewalt und Wegnahme. Bis auf Wolter wird darüber hinaus jedoch an dem zusätzlichen Erfordernis des Finalzusammenhangs festgehalten. 1182 Jeweils BVerfG NJW 2004, S. 3769. Ebenso Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1160. 1183 Ebenso Blei, NJW 1954, S. 586; Haffke, ZStW 84 (1972), S. 49; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 282 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 119; Wolter, NStZ 1985, S. 248. 1184 Ebenso A. H. Albrecht, 2011, S. 46 f.

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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wird das Vorhandensein der Widerstandsüberwindungsintention vom Vorliegen eines eindeutigen, am besten körperlichen Widerstandes von Opferseite abhängig gemacht.1185 Dies steht in deutlichem Widerspruch zu §§ 249, 253, 255 StGB, wobei hier die Widerstandskomponente des Gewaltbegriffs regelmäßig nicht zur Ablehnung von Gewalt führt, weil selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass der Täter zumindest erwartetem Widerstand zuvorkommen wollte. Insbesondere die Urteilspraxis bei wiederholten Tatbegehungen und Serienstraftaten belegt die Privilegierung des besonders gewalttätigen Täters, weil dieser in der Regel auf nur noch geringen oder keinen Widerstand mehr trifft und Widerstand auch nicht mehr erwartet.1186 Im Unterschied zu § 177 StGB ist die Auslegung des § 249 StGB und der §§ 253, 255 StGB darüber hinaus nicht durch klischeehafte Alltagstheorien über die Täter-Opferbeziehung geprägt. Die gängige Auslegung eröffnet dem Täter Schutzbehauptungen, wenn Einsperren als Gewaltmittel abgelehnt wird, weil der Täter angeblich nur ungestört sein wollte, oder Gewalt entfallen soll, weil der Täter das Opfer nur aus sadistischen Motiven sexuell misshandelte.1187 Aus Sicht des Opfers beruht es bei (sadistisch motivierten) überraschenden Attacken auf Zufälligkeiten, ob eine Bestrafung wegen § 177 I Nr. 1 StGB in Betracht kommt. Es bleibt unverständlich, dass ein Täter, dessen Handlung sich in einem sexuellen Gewaltakt erschöpft, nicht bestraft wird, derjenige jedoch, der zwei Schläge durchführt, nämlich den ersten zur Widerstandsüberwindung und den zweiten als sexuelle Handlung, bestraft werden kann.1188 Die mechanische Formel „zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands“ 1189 erweist sich im Kontext sexueller Gewalt als ungeeignet. Ergibt sich aus dem Wortlaut des § 177 I Nr. 1 StGB bereits keine Andeutung auf die Finalstruktur des Gewaltbegriffs, so enthält die Wendung „mit Gewalt“ und „durch Drohung“ darüber hinaus keinen zwingenden Hinweis auf den Finalzusammenhang.1190 Der Vergleich mit dem Tatbestand des Raubes und der räuberischen Erpressung ist in diesem Zusammenhang nicht weiterführend, weil sich die Deliktssituationen grundlegend voneinander unterscheiden.1191 Die Forde1185 Vgl. Fischer, ZStW 112 (2000), S. 100, der ausführt, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle „die Vornahme sexueller Handlungen an einer körperlich widerstandsunfähigen Person bei sachgerechter Anwendung des Gewaltbegriffs § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB unterfallen.“ 1186 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 63; Wolter, NStZ 1985, S. 248. 1187 s. C.II.3., 4. und 5. 1188 Lenckner, JR 1983, S. 163. Darüber hinaus handelt der Täter bei (sadistisch motivierten) überraschenden sexuellen Attacken sehr wohl zur Verhinderung von Widerstand. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit der Anwendung von vis absoluta; s. C.II.5. 1189 BGH NStZ-RR 2002, S. 354; NStZ-RR 2009, S. 202. 1190 Ebenso A. H. Albrecht, 2011, S. 45; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 64; Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1149. 1191 Anders und hinsichtlich der kriminologischen Ähnlichkeit von Raub und sexueller Nötigung/Vergewaltigung unzutreffend A. H. Albrecht, 2011, S. 34 ff.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

rung, von dem Erfordernis des Finalzusammenhangs im Rahmen des § 177 StGB Abstand zu nehmen, hat somit nicht zwangsläufig eine durchschlagende Wirkung auf § 249 StGB und §§ 253, 255 StGB.1192 Der „zweckrational-final Gewalt einsetzende Täter“ ist für die Raubdelikte in der Regel charakteristisch.1193 Dies liegt unter anderem daran, dass sich beim Raub und der räuberischen Erpressung Täter und Opfer in der Regel nicht kennen1194 und das deliktische Ziel eindimensional in der Mehrung von Eigentum bzw. Vermögen besteht. Der Täter muss deshalb Gewalt oder Drohungen zweckgerichtet einsetzen, um sein Ziel zu erreichen. Die Deliktssituation der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung verhält sich dagegen weitaus komplexer. Dieses Delikt ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Täter und Opfer in der großen Mehrheit der Fälle kennen. Oftmals besteht zwischen ihnen eine persönliche Beziehung,1195 so dass der Zugriff von Täterseite erleichtert ist. Im Gegensatz zu den Raubdelikten können die deliktischen Schritte keiner generalisierenden Schablone unterworfen werden. Insbesondere bei den im Kontext sexueller Gewalt typischen Serienstraftaten ist der zeitliche Ablauf von Gewalt und sexuellem Übergriff aus der Perspektive des Täters daher irrelevant. Der Täter muss nicht zwingend zweckgerichtet vorgehen. Er beherrscht1196 das Opfer und differenziert nicht zwischen „asexueller“ Gewalt und Gewalt zur Erzwingung sexueller Handlungen,1197 weil diese allgemein als Instrument der Unterwerfung eingesetzt wird und die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers ebenfalls ein solches Instrument darstellt. Die vom Täter angewandte Gewalt und dessen Drohungen sind selten eindimensional. Sie können – ebenso wie die sexuelle Handlung selbst – die Erniedrigung, Demütigung und Bemächtigung des Opfers bezwecken und neben dem Ausleben von Aggressionen auch Dominanz verkörpern sowie Bestrafungswünsche oder sadistische Neigungen erfüllen.1198 Einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung liegen somit viel1192 Auch bei §§ 253, 255 StGB ist unstreitig eine finale Verknüpfung erforderlich; vgl. statt vieler MüKo-Sander, 2. Aufl. (2012), § 253 Rn. 29. 1193 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1158 f.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 66. Somit gibt es wenig Anlass, dieses Dogma zu überdenken. 1194 Vgl. dazu oben und Bundeskriminalamt, PKS 2011, S. 27: Danach überwiegen hierbei die Konstellationen, in denen keine Vorbeziehung vorliegt mit 62,9%. Verwandtschaft war in 2,3%, Bekanntschaft in 7,8% der Fälle und eine flüchtige Vorbeziehung in 7,7% der Fälle gegeben. 1195 In Form von Freundschaft, Ehe, Partnerschaft, Eltern-Kind-Beziehung, Bekanntschaft. S. dazu bereits oben und Bundeskriminalamt, PKS 2011, S. 27 f.: Danach lag ein Verwandtschaftsverhältnis gem. § 11 I Nr. 1 StGB in 23,1% und eine Bekanntschaft in 32,8% der Fälle vor. Eine flüchtige Vorbeziehung war in 14,9%, keinerlei Vorbeziehung in 21,3% der Fälle gegeben. Jede zweite erfasste Tat wurde damit von Verwandten oder näheren Bekannten verübt. Die Taten finden zu insgesamt 17,4% in Partnerschaften statt. 1196 Zur psychischen Herrschaft des Täters über das Opfer in derartigen Verhältnissen vgl. Herman, 2. Aufl. (2006), S. 110 ff. und Renzikowski/Sick, NStZ 2013, S. 469. 1197 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 66. 1198 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 66.

C. Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg in § 177 StGB

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fältige Defizite des Täters zugrunde. Die Täter sind daher „oft eingriffsintensiver und gefährlicher für die Opfer“.1199 Die Tatbestände der §§ 249, 253, 255 StGB und § 177 StGB gleichen sich auf Grund des Umstands, dass mit den qualifizierten Nötigungsmitteln der Gewalt und Drohung ein Nötigungserfolg abgerungen wird. Hier hört die Gemeinsamkeit aber bereits auf. Das Opfer eines Raubdelikts wird durch die Anwendung der Nötigungsmittel in seiner physischen und psychischen Integrität betroffen. Vom tatbestandsmäßigen Nötigungserfolg der Duldung der Wegnahme bzw. der Handlung, Duldung oder Unterlassung ist die Person des Opfers jedoch nicht mehr unmittelbar tangiert, dieser Erfolg findet außerhalb der körperlichen Sphäre des Opfers statt. Das Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung wird hingegen – in zweifacher Hinsicht – sowohl durch den Einsatz der Nötigungsmittel als auch durch den Nötigungserfolg in Form der Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen in seiner physischen und psychischen Integrität betroffen. Der Nötigungserfolg kann nur unter direkter und körperlicher Einbeziehung des Opfers erfolgen und dauert oftmals auch länger an. Die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers verletzt schon für sich allein betrachtet Körper und Seele des Opfers. Eine Anlehnung der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung an den Raub oder die räuberische Erpressung ist somit nicht überzeugend. Der Notzuchtstatbestand der CCC, Art. 119, der eine Vergewaltigung als Raub der weiblichen Geschlechtsehre ansah, entsprach niemals der Deliktsrealität.1200 Die Eigenständigkeit beider Delikte wird bestätigt durch die unterschiedliche Auslegung im Hinblick auf den Finalzusammenhang. Bei § 249 StGB muss die finale Verknüpfung nur subjektiv vorliegen. Als Grund für die „subjektive Interpretation“ 1201 wird regelmäßig die spezifische Gefährlichkeit eines Täters angeführt, der Gewalt oder Drohung in qualifizierter Form zur Wegnahme anwendet.1202 Obwohl dieser Argumentationsstrang auch für § 177 StGB Gültigkeit beanspruchen könnte, wird in § 177 StGB in subjektiver Hinsicht ein Finalzusammenhang und in objektiver Hinsicht ein Kausalzusammenhang gefordert. Die unterschiedliche Auslegung wird nicht einmal diskutiert, geschweige denn auf diese Differenzierung hingewiesen. Dies macht evident, dass der Strafgrund des § 177 StGB entgegen der herrschenden Meinung nicht die „subjektive Gefährlichkeit“ 1203, sondern die objektive Gefährlichkeit des Täters ist. Die herrschende Meinung hat eine unangemessene Beschränkung der Strafbarkeit wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung zur Folge. Im 13. Abschnitt über

1199 1200 1201 1202 1203

LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 66. Dies verkennt A. H. Albrecht, 2011, S. 34 ff. Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 22. Statt vieler Rengier, 14. Aufl. (2012), § 7 Rn. 22. So aber A. H. Albrecht, 2011, S. 61.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

die Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht existiert kein Auffangtatbestand der „einfachen sexuellen Nötigung“ als Pendant zum Diebstahl,1204 und das Nötigungsmittel des § 177 I Nr. 3 StGB kann auf Grund seiner restriktiven Auslegung oftmals nicht eingreifen.1205 Bei Taten gegen erwachsene Opfer bleibt dann oftmals höchstens § 223 I StGB.1206 Gerade die Interessen des Opfers, also die „Interessen desjenigen, der von der Straftat am unmittelbarsten betroffen ist“, sollten jedoch im Rahmen der „materiell-rechtlichen Wertungen“ 1207 Berücksichtigung finden.1208 Das Erfordernis der dualen finalen Intention steht dazu konträr. Hierbei entscheidet allein die Perspektive des Täters, ob Gewalt oder Drohung im Sinne des § 177 I StGB gegeben ist.1209 Das kriminelle Unrecht der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung liegt jedoch nicht in der vom Täter vorgenommenen finalen Verknüpfung von Nötigungsmittel und sexueller Handlung, sondern darin, dass der Täter gegen den Willen des Opfers einen sexuellen Übergriff vornimmt1210 und seine Gewalt oder Drohung diesen kausal bedingen. Hinsichtlich dieses Kausalzusammenhangs genügt das Vorliegen von bedingtem Vorsatz beim Täter.1211 Auch hierbei erfolgt eine „Instrumentalisierung der qualifizierten Nötigungsmittel zum Zweck des ungewollten Sexualkontaktes“.1212 Zu klären bleibt die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts dieses Vorsatzes. In Abkehr von der herrschenden Meinung ist der Zeitpunkt der sexuellen Handlung maß-

1204

Ebenso Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1159. s. B.II.5. Es kann im Einzelfall je nach Alter, Beziehung zum Opfer und Konstitution des Opfers eine Strafbarkeit nach den §§ 174 ff., 179 StGB in Betracht kommen, des Weiteren eventuell auch §§ 223 ff., 240 I, IV S. 2 Nr. 1 StGB. Die Nötigung kann aus denselben Gründen wie § 177 StGB entfallen, indem schon die Kundgabe einer konkludenten Drohung verneint wird oder der Kausalzusammenhang zwischen Nötigungshandlung und -erfolg; verlangt man hinsichtlich „des abgenötigten Verhaltens Absicht im Sinne von zielgerichtetem Handeln“ scheidet § 240 StGB in der Regel ebenfalls aus, darüber hinaus auch schon auf Grund der Finalstruktur des Gewaltbegriffs; vgl. Sch/Sch-Eser/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 240 Rn. 34. 1206 Dazu D.II.2.c). 1207 Jeweils Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361. 1208 Die Viktimodogmatik, die auf Grund ihrer Begrifflichkeit eine derartige Blickrichtung verspricht, zielt auf das Gegenteil ab, nämlich auf eine Strafbarkeitseinschränkung auf Grund eines bestimmten Verhaltens des Tatopfers, sie arbeitet also im Täterinteresse; vgl. Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361 und Günther, in: FS Lenckner, 1998, S. 69. 1209 Vgl. dazu die Kritik von LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 65. 1210 Dies ist der Unrechtskern von § 177 StGB; vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 51. SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13e sieht es im Zusammenhang mit der althergebrachten Abgrenzung von Missbrauch und Nötigung in den §§ 176, 176a, 177, 179 StGB „im Rahmen einer umfassenden Reform“ als „kriminalpolitisch“ erstrebenswert an, „dass für § 177 der (vom Täter erkannte) entgegenstehende Wille des Opfers zum wesentlichen Kriterium erhoben wird“. 1211 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1157; Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332 f. 1212 A. H. Albrecht, 2011, S. 61. 1205

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geblich.1213 Es besteht entgegen Jakobs keine Notwendigkeit, dass der Täter bereits zum Zeitpunkt des Einsatzes der Nötigungsmittel es in seinen (zumindest bedingten) Vorsatz aufgenommen hat, dass es „auch zu einer dadurch bedingten Wegnahme“ bzw. sexuellen Handlung kommen wird.1214 Der sexuelle Übergriff ist deshalb strafwürdig, weil Nötigungsmittel diesen erzwingen, jedoch nicht, weil der Täter bei Anwendung der Gewalt schon um die Gefahr sexueller Handlungen wusste bzw. diese intendierte.1215 Der Schwerpunkt des Unrechts liegt nicht auf dem Einsatz der Gewalt zur Herbeiführung sexueller Handlungen, sondern auf der Durchführung sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers. Wäre dies anders, müsste der Finalzusammenhang wie in § 249 StGB auch in § 177 StGB subjektiviert werden. Maßgeblich für das Unrecht ist demnach nicht die Absicht des Täters, sondern die Wirkung in der Außenwelt, konkret: die Wirkung beim Opfer.1216 Wie oben bereits erörtert, wird dieser Ansatz im Rahmen des § 177 I Nr. 3 StGB,1217 im Rahmen der Ausnutzung von unfinal bewirkten Freiheitsberaubungen1218 sowie im Rahmen der konkludenten Drohung infolge vorhergehender Gewalt bereits praktiziert, „wenn das Opfer angesichts der früheren Gewaltanwendung und der gegebenen Kräfteverhältnisse aus Furcht vor weiteren Gewalttätigkeiten von einer Gegenwehr absieht, sofern der Täter zumindest erkennt und billigt, dass das Opfer sein Verhalten als Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben empfindet“.1219 Es genügt demnach, wenn es bei Vornahme der sexuellen Handlung von bedingtem Vorsatz umfasst ist, dass vorangegangene Gewalt oder Drohungen den aktuellen sexuellen Übergriff bedingen.1220 Die Gewalt oder Drohung liegt in der Vergangenheit, sie wird nicht final-aktiv erneut vorgenommen, lediglich deren Wirkmacht wird vom Täter final zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt.

1213 Hörnle drückt dies so aus: Sind „zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung die Abwehrchancen des Opfers gemindert“, ist § 177 I Nr. 1 StGB erfüllt, wenn die Gewalt hierfür die Ursache darstellt, „und wenn dieser Effekt zu diesem Zeitpunkt vom bedingten Vorsatz umfasst ist“. Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1157. 1214 Jakobs, in: FS Eser, 2005, S. 332 f. Statt der Absicht hinsichtlich der Herbeiführung sexueller Handlungen bei Vornahme der Nötigungsmittel postuliert er also bedingten Vorsatz. Er nimmt darüber hinaus im Tatbestand des § 177 StGB die Einschränkung vor, dass „die bloße Zuständigkeit für die Abwehrinsuffizienz des Opfers beim Vollzug des Beischlafs durch den Täter nicht per se hinreicht“, sondern die „Aufhebung dieser Insuffizienz“ möglich sein muss. Dies folgert er aus den Qualifikationen des § 177 III Nr. 3 und IV Nr. 2a und b StGB sowie aus § 178 StGB. 1215 Ebenso Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1157 ff. 1216 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1149 f. 1217 s. B.II.4. 1218 s. C.II.1.a) und BGH NStZ 1999, S. 83. 1219 BGH NStZ-RR 2003, S. 42 f.: Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die „Ausnutzung der Angst vor Gewalt im Sinne einer konkludenten Drohung“. 1220 Vgl. dazu oben sowie BGH NStZ 1986, S. 409 und BGH NStZ 2007, S. 468. Hierzu kritisch Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 20 f. i.V. m. § 249 Rn. 13 f.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Zusammenfassend ist festzuhalten: Gewalt ist unabhängig von einer Widerstandsüberwindungsintention. Gewalt und Drohung müssen für den Nötigungserfolg in seiner konkreten tatbestandsmäßigen Gestalt kausal geworden sein. Kausalität bedeutet nicht Erforderlichkeit, so dass die objektive Erleichterung bzw. Förderung des sexuellen Übergriffs darunter fällt1221 und hypothetische Reserveursachen nicht berücksichtigt werden dürfen. Ein Finalzusammenhang kann vorliegen, muss aber nicht. Der maßgebliche Zeitpunkt für das Bewusstsein, dass Gewalt und Drohung als Bedingung der sexuellen Handlung wirken, ist der Zeitpunkt der sexuellen Handlung. Hierbei genügt bedingter Vorsatz. Irrelevant ist daher, ob der Täter schon bei Einsatz der Nötigungsmittel an sexuelle Handlungen dachte.1222 Ebenso wie im Tatbestand des § 240 StGB ist für die Frage des Vorliegens „nötigender Gewalt“ maßgeblich, „welcher Zwang verboten sein soll und nicht was der Täter mit dem Zwang erreichen will“.1223 Strafgrund des § 177 StGB ist die Durchführung sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers, bedingt durch den Einsatz von Gewalt oder Drohung. Der räumliche und zeitliche Zusammenhang ist nur ein Indiz für die Frage, ob die Gewalt bzw. Drohung den sexuellen Übergriff bedingt hat. Entscheidend ist die Massivität und Intensität der ursprünglich angewendeten Gewalt bzw. Drohung.1224 In der bereits oben dargestellten Ausgangsentscheidung des Bundesgerichtshofs zur Problematik der „finalen Verknüpfung“ wäre somit nach dieser Ansicht Gewalt zu bejahen gewesen.1225 Dem angemessenen Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts würde durch diese Auslegung bereits de lege lata Rechnung getragen werden können. „Die Übernahme der Täterperspektive bei der Beurteilung, ob eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung vorliegt oder nicht“ 1226 sollte aufgegeben werden.

D. Das Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand I. Das Einverständnis Das Einverständnis1227 in die sexuelle Handlung schließt das Tatbestandsmerkmal des Nötigens aus.1228 Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht gewährleis1221 So schon im Rahmen des § 249 StGB SK-Sinn, 120. Lfg. (November 2009), § 249 Rn. 36. 1222 Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1157. 1223 MüKo-Gropp/Sinn, 2003, § 240 Rn. 63. 1224 Ebenso Hörnle, in: FS Puppe, 2011, S. 1158. 1225 BGH NJW 1984, S. 1632; vgl. C.II. 1226 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 7. 1227 Grundlegend zum Einverständnis und zur herkömmlichen Unterscheidung zwischen tatbestandsausschließendem Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung Bottke, JZ 1994, S. 262 ff. und Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 13.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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tet eine vollumfängliche Dispositionsmöglichkeit durch den Träger dieses Rechts, so dass dieser sich auch mit gewaltsamen sexuellen Handlungen einverstanden erklären kann. Die Grenze des § 228 StGB gilt hier nicht.1229 Eine Willensbeugung liegt jedoch vor, wenn das Opfer sein „Einverständnis“ nur unter dem Eindruck einer Nötigung erteilt, weil es beispielsweise jede Weigerung für sinnlos hält.1230 In diesen Fällen liegt kein rechtswirksames tatbestandsausschließendes Einverständnis vor. Ein diesbezüglicher Irrtum des Täters ist jedoch zu prüfen.1231 Die immer noch anzutreffende Annahme,1232 dass eine sexuelle Erregung der Frau auf Grund der Anwendung von Gewalt möglich sei und dies einer Vollendung des Tatbestands entgegenstehe, ist abzulehnen.1233 Ist der Sexualpartner, etwa bei sadistischen sexuellen Praktiken, auch mit der Anwendung von Gewalt einverstanden, so muss nach der herrschenden Meinung bereits der Tatbestand entfallen, weil die auf Täterseite verlangte Widerstandsüberwindungsintention dann naturgemäß nicht gegeben ist. Gemäß Schroeder/Maiwald kann man „in Gewalt (. . .) einwilligen (,vis haud ingrata‘)“, so dass eine Einwilligung wie auch sonst rechtfertigend wirken soll.1234 Beizupflichten ist dieser Auffassung insoweit, als dass die Ansicht, die das Merkmal der Gewalt auf Tatbestandsebene bereits dann verneint, wenn diese innerlich gebilligt wird, als unzutreffend einzustufen ist.1235 Die Gewalt könnte damit theoretisch erst auf Rechtfertigungsebene durch eine Einwilligung entfallen, wenn der Täter aus seiner Sicht gewaltsam vorgeht, sein Gegenüber dem jedoch innerlich zustimmt.1236 Dabei wird jedoch regelmäßig insgesamt ein Einverständnis mit dem Vorgehen des Täters vorliegen, also auch mit den sexuellen Handlungen, so dass bereits der Tatbestand entfällt, weil es zwar nicht unbedingt an der Kausalbeziehung zwischen Gewalt und sexueller Handlung fehlt,1237 allerdings am Merkmal des Nötigens. Die Prüfung einer rechtfertigenden Einwilligung ist damit obsolet. Darüber hinaus ist in Fällen einverständlicher Betäubung, jedoch ohne Einverständnis mit darauf folgenden se1228 Diese tatbestandsausschließende Wirkung ist unumstritten; vgl. statt vieler Sch/ Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), Vor §§ 32 Rn. 29 ff. 1229 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 356. 1230 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 22; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 53. Vgl. BGH, Urteil vom 07.11.1972 – 1 StR 483/72; BGH NJW 1993, S. 2188. Auch in der Bitte, „wenigstens ein Schutzmittel zu verwenden“, liegt kein Einverständnis; vgl. BGH, Urteil vom 18.12.1952 – 3 StR 50/52 = BGH MDR 1953, S. 147 zu § 177. 1231 Dazu gleich. 1232 Vgl. u. a. Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10. 1233 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 53 m.w. N. 1234 Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 17. 1235 So aber Heintschel-Heinegg, 1975, S. 285; Knodel, 1962, S. 90 f. Diese Ansicht beruht auf der Konstruktion der vis haud ingrata. 1236 Für eine wirksame Einwilligung müsste diese jedoch kundgegeben worden sein; vgl. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 13 Rn. 71 ff. 1237 Insbesondere wenn der Sexualpartner Gewalt als notwendige Stimulanz ansieht.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

xuellen Handlungen, sowohl das Tatbestandsmerkmal der Gewalt als auch das des Nötigens gegeben, weil der Täter zur Überwindung von Widerstand gegen den Willen des Opfers handelt.1238 Zu betonen gilt, dass das einmal abgegebene Einverständnis jederzeit widerruflich ist.1239

II. Subjektiver Tatbestand 1. Einführung Nach der herrschenden Meinung muss der Täter beim Einsatz des Nötigungsmittels die Vornahme der sexuellen Handlung bezwecken, hinsichtlich des Nötigungserfolgs also mit Absicht handeln.1240 Das Erfordernis von „Absicht im Sinne zielgerichteten Handelns“ 1241 folgt aus der von der herrschenden Meinung vorausgesetzten finalen Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und -erfolg. Der sexuelle Übergriff muss zwar nicht der einzige Zweck sein, die Rechtsprechung verlangt jedoch, wie oben unter C. ausgeführt, eine diesbezügliche Bewusstseinsdominanz.1242 Darüber hinaus muss der Täter die Gewalt und Drohung in der Absicht einsetzen, erwarteten oder geleisteten Widerstand zu überwinden.1243 Zwingende Folge dieser Widerstandsüberwindungsintention ist, dass zumindest bedingter Vorsatz dahingehend vorliegen muss, dass durch den Einsatz von Gewalt und Drohung ein geleisteter oder erwarteter Widerstand verunmöglicht wird.1244 Die Aussage, dass es vom bedingten Vorsatz umfasst sein muss, dass „das Opfer der Tat Widerstand entgegensetzt“,1245 ist jedoch verkürzt und irreführend, nachdem es bereits ausreicht, wenn ein potentieller Widerstand des Opfers verhindert wird. Hinsichtlich der restlichen Tatbestandsmerkmale genügt bedingter Vorsatz.1246 Der Täter muss es insbesondere für möglich halten und 1238

s. C.II.7. BGH NStZ 2003, S. 165 f.; BGH NStZ-RR 2004, S. 168; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 53; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 12. 1240 Statt vieler BGH NJW 1984, S. 1632; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 16. Abweichend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 117, 123, die insgesamt bedingten Vorsatz genügen lässt (sie lehnt den Finalzusammenhang ab). Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 50, allerdings ohne Begründung und mit m. E. unzutreffendem Verweis auf Fischer. 1241 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1242 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58. 1243 s. oben und Laubenthal, 2012, Rn. 167. 1244 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 52; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58. 1245 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1246 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 61; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 17. Grundlegend zum bedingten Vorsatz vgl. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 21 ff. 1239

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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billigen, dass der Einsatz des Nötigungsmittels den sexuellen Übergriff kausal bedingt und der Wille des Opfers entgegensteht.1247 Der herrschenden Meinung ist darin zuzustimmen, dass der Täter hinsichtlich der sexuellen Handlung wohl stets mit Absicht handeln wird.1248 Im Übrigen muss jedoch, wie bereits oben erläutert, weder beim Einsatz des Nötigungsmittels bereits eine sexuelle Handlung beabsichtigt sein noch eine Widerstandsüberwindungsintention vorliegen. Vorstellungen über Widerstandsleistungen des Opfers sind damit obsolet. Es reicht aus, wenn der Täter – von bedingtem Vorsatz umfasst – Gewalt oder Drohungen einsetzt, selbst wenn er weiß, dass das Opfer – aus welchem Grund auch immer – nicht zu körperlichem Widerstand greifen wird.1249 Im Rahmen der neuen Tatvariante, § 177 I Nr. 3 StGB, ist ein „Ausnutzungsbewusstsein“ des Täters in dem Sinne erforderlich, dass dieser „die tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzlosigkeit auch als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlungen erkennen muss“. Von zumindest bedingtem Vorsatz muss es demnach umfasst sein, dass das Opfer „gerade wegen seiner Schutzlosigkeit auf einen grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet“.1250 Die Rechtsprechung ist in ihren Formulierungen zum subjektiven Tatbestand teilweise verwirrend bzw. ungenau.1251 Die Anforderungen an die Feststellungen zum Vorsatz des Täters sind teilweise hoch.1252 Insbesondere bei der Bejahung einer konkludenten Drohung, auch infolge vorangegangener Gewalt, zeigt sich die Rechtsprechung eher verhalten.1253 Immer wieder finden sich realitäts- und sachverhaltsferne Annahmen darüber, was der Täter nicht erkannt haben soll. In einem Beschluss aus dem Jahr 19951254 wurde beispielsweise der Vorsatz hin1247 BGH NStZ 2002, S. 446 f.; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 52 f. m.w. N.; Laubenthal, 2012, Rn. 167; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 125. 1248 Eine Konstellation, in der der Täter hinsichtlich der sexuellen Handlung nur mit bedingtem Vorsatz handelt, ist schwer vorstellbar. 1249 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 119. 1250 BGH NStZ 2012, S. 34 m.w. N.; BGH NStZ 2012, S. 268; Laubenthal, 2012, Rn. 167; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 121; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58. A. A. Gössel, 2005, § 2 Rn. 52, der hinsichtlich des Bestehens der schutzlosen Lage dolus directus verlangt. 1251 Vgl. BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/87: „(. . .) waren hier Feststellungen zum subjektiven Tatbestand unverzichtbar. Es mußte dargelegt werden, ob der Angeklagte den von ihm erkannten Widerstand der Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben brechen wollte – unbedingter Vorsatz –, oder ob ihm der Widerstand möglicherweise gleichgültig war und er sich darüber hinwegsetzen wollte, um sein Ziel zu erreichen – bedingter Vorsatz“. Diese Ausführungen sind inkorrekt. In beiden dargestellten Varianten liegt Absicht vor. Ebenso fehlerhaft BGH, Beschluss vom 02.12.1997 – 4 StR 557/97. 1252 Vgl. nur BGH NStZ 1985, S. 71; BGH, Beschluss vom 03.08.1987 – 4 StR 358/ 87; BGH NStZ 1999, S. 506. 1253 s. dazu bereits C.II.2.b) sowie BGH NStE Nr. 2 zu § 177 StGB; BGH NStZ-RR 1998, S. 104 und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 117. 1254 BGH NStZ 1995, S. 230.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

sichtlich eines Gewalteinsatzes verneint, weil „es nicht festgestellt sei, dass der Angeklagte bewusst Gewalt zur Erzwingung der sexuellen Handlung eingesetzt habe. Auch unter Berücksichtigung der Überlegenheit eines erwachsenen Mannes gegenüber einem Kind sei es denkbar, dass das Mädchen lediglich überrumpelt worden sei und nur subjektiv Angst empfunden habe“. Äußerst fragwürdig ist auch folgende Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1991: Der Angeklagte schlug das Opfer, um ihren aktiven Widerstand zu brechen „und verlangte, daß sie zunächst sein Glied in den Mund nehme. Auch dies verweigerte die Zeugin. Aus Angst nahm sie aber sein erigiertes Glied in die Hand. Da der Angeklagte neben dem in erster Linie beabsichtigten Geschlechtsverkehr nur den Mundverkehr gefordert hatte, kann nicht davon ausgegangen werden, daß sein Vorsatz auch diese von der Geschädigten von sich aus vorgenommene Handlung umfaßt hat; es liegt keine nur unerhebliche Abweichung vom Vorstellungsbild des Angeklagten vor“.1255 Die Annahme, dass hier eine wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf vorliegen soll, ist abwegig und daher abzulehnen. Der Täter hat hier im Vergleich zu den angestrebten sexuellen Handlungen ein Weniger erreicht, welches vom weitergehenden Vorsatz mit umfasst war.1256 Der Kausalverlauf hat sich „innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren“ 1257 gehalten. Wie bereits oben ausgeführt, führt das Erfordernis der dualen finalen Intention in zahlreichen Fällen zu einer Ablehnung des (subjektiven) Tatbestands, obwohl das Geschehen dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung entspricht. In Fällen geringer Gewalt wurde die finale Verknüpfung verneint, obgleich der entgegenstehende Wille ausdrücklich geäußert wurde.1258 Renzikowski bezeichnet diese Vorgehensweise als „Exkulpationsstrategien“, die seiner Ansicht nach eine „von der üblichen Vorsatzzuschreibung abweichende Praxis“ 1259 darstellt. Diese Praxis ist insbesondere in der Widerstandsüberwindungsintention begründet bzw. überhaupt in der Vorstellung, dass das normale Opferverhalten stets aktiver, körperlicher Widerstand ist. Diese Anforderung begünstigt im Rahmen des § 177 StGB den Täter, weil es nicht ausreicht, wenn der entgegenstehende Wille durch ein „Nein“ artikuliert wird, sondern darüber hinaus auch körperlicher Wi1255

BGH, Urteil vom 25.09.1991 – 2 StR 383/91. Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1257 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 15 Rn. 55. Das Schrifttum, das diesen Aspekt im Rahmen der objektiven Zurechnung prüft, kommt ebenfalls zu deren Bejahung, weil der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im Erfolg realisiert hat. Von einem eigenverantwortlichen Dazwischentreten des Opfers kann nicht gesprochen werden. Vgl. zur objektiven Zurechnung Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 15 Rn. 54 f. m.w. N. 1258 BGH, Urteil vom 28.02.1991 – 4 StR 553/90; BGH, Beschluss vom 29.05.1991 – 3 StR 152/91; BGH NStZ 1995, S. 230; BGH NStZ 1999, S. 506. 1259 Jeweils MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 59. 1256

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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derstand geleistet werden muss. Bei der Prüfung eines Irrtums hinsichtlich des Vorliegens eines Einverständnisses wird die dadurch entstehende Privilegierung1260 besonders deutlich. 2. Der Irrtum des Täters über ein Einverständnis des Opfers Hat der Täter „ernsthaft darauf vertraut“,1261 dass die sexuelle Handlung auf Grund eines freiwilligen Einverständnisses zustande kam und ist diese Vorstellung irrig, stellt dies einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 I 1 StGB dar. Im deutschen Recht wird dabei „nicht zwischen nachvollziehbaren, nicht mehr nachvollziehbaren und absurden Irrtümern“ 1262 differenziert. So muss ein Irrtum, der auf der ureigenen Gedankenwelt des Täters basiert, zum Vorsatzausschluss führen,1263 darüber hinaus auch dann, wenn er verschuldet war.1264 Der verbleibende kriminelle Unrechtsgehalt kann nicht erfasst werden, weil ein Fahrlässigkeitstatbestand mit dem Titel „Fahrlässige sexuelle Nötigung“ nicht existiert, so dass § 16 I 2 StGB insoweit ins Leere läuft. Die entscheidende Frage im subjektiven Tatbestand bezieht sich regelmäßig auf das voluntative Element und lautet, ob der Täter ernsthaft und „nicht nur vage“ auf ein freiwilliges Einverständnis vertraut oder ob er den entgegenstehenden Willen „billigend in Kauf“ genommen hat.1265 Die Antwort kann letztendlich nur im Rahmen eines „Wertungsakts“ herbeigeführt werden,1266 insbesondere in einer „Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände“.1267 Nachdem der Vorsatz, die psychologische Einstellung zur Tat, einer direkten Wahrnehmung nicht zugänglich ist, muss auf die vorhandenen Indizien zurückgegriffen werden.1268 Die Entscheidung, ob der Täter fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat, ist damit letzten Endes eine „normative Zuschreibung“.1269 Im Rahmen des § 177 StGB führt diese Normativierung oftmals zu einer einseitigen Täterprivilegierung in Form von ungerechtfertigten Freisprüchen, nachdem zwar ein Tatbestandsirrtum nur bei „ausreichenden realen Anknüpfungspunkten“ 1270 angenommen werden soll, die Anknüpfungstatsachen jedoch unter dem Filter der über-

1260

Ebenso Hilgendorf, in: Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001,

S. 121. 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267 1268 1269 1270

MüKo-Joecks, 2003, § 16 Rn. 32. Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 359. Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 360. Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 15 Rn. 12. BGHSt 36, 1 (10). Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 31. BGHSt 36, 1 (10). Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 31. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 31. BGH NStZ 1991, S. 400.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

kommenen1271 Konstruktion der vis haud ingrata bewertet werden. Dieser Vorgang äußert sich in dem beharrlichen Festhalten an der Unterscheidung zwischen ernsthaftem und nicht ernsthaftem Widerstand.1272 Die strafrechtliche Kommentarliteratur spiegelt den Einfluss der sogenannten vis haud ingrata durch unreflektierte und unrichtige Ausführungen wider, wenn es heißt: „Der Vorsatz muss sich ferner insbesondere darauf erstrecken, dass das Opfer der Tat ernsthaften Widerstand entgegensetzt“.1273 Er soll entfallen, wenn der Täter davon ausgeht, dass „eine ausdrückliche oder konkludente Weigerung des Opfers nicht ernst gemeint sei“.1274 Das Adjektiv „ernsthaft“ hat im Zusammenhang mit dem Begriff des Widerstandes aber keine Relevanz, weil jede Form einer gegenteiligen Willensäußerung auch als Widerstand akzeptiert werden muss, solange der Täter erkennt, dass er sich über den Willen des Opfers hinwegsetzt.1275 Die Qualitätsanforderung der Ernsthaftigkeit erhöht die Anforderungen an die Widerstandsleistung des (weiblichen) Tatopfers und vermindert gleichzeitig die Anforderungen für die irrtümliche Annahme eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses auf (männlicher) Täterseite gem. § 16 I 1 StGB.1276 Die hierin liegende „geschlechtsspezifische Differenzierung“ 1277 ist abzulehnen.1278 a) Die Konstruktion der vis haud ingrata als eine Ursache der spezifischen Vorsatzprüfung im Rahmen des § 177 StGB Das spezielle Verhaltensbild der vis haud ingrata, das schon zu Zeiten des Reichsgerichts fester Bestandteil der Prüfung des Tatbestands des § 177 RStGB war,1279 behielt auch in der Rechtsprechung und Literatur nach 19451280 seinen Einfluss. Über den objektiven Tatbestand hinaus zeitigt die Konstruktion der vis 1271

Ebenso Laubenthal, 2012, Rn. 166; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 58. s. bereits oben unter A.II.3. sowie Hilgendorf, in: Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, S. 120 f. Vgl. BGH NStZ 1983, S. 71; BGH, Beschluss vom 29.01.1985 – 4 StR 792/84: „Daß das fehlende Einverständnis von Frau W. für den Angeklagten erkennbar war, besagt noch nichts darüber, ob er die Ernsthaftigkeit des Widerstandes auch erkannt hat und ob er diesen Widerstand mit Gewalt brechen wollte“. Ebenso BGH NStZ-RR 1997, S. 199; BGH NStZ 2002, S. 494. 1273 Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; ebenso noch Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele, 27. Aufl. (2006), § 177 Rn. 13. 1274 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 54a; ebenso Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1275 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 60; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 7. 1276 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 86 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 59 ff. m.w. N. und Sick, 1993, S. 165. 1277 Hilgendorf, in: Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, S. 120. 1278 Hilgendorf, in: Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, S. 130. 1279 s. Zweiter Teil: B.II.1.b). 1280 Der BGH umschrieb den Begriff der vis haud ingrata stets und benannte ihn nur einmal explizit in BGH, Urteil vom 11.08.1970 – 1 StR 224/70: „die Gewaltanwendung 1272

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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haud ingrata insbesondere im subjektiven Tatbestand noch nachhaltig bei der Frage eines eventuellen Tatbestandsirrtums Relevanz.1281 Unbestritten in der älteren Kommentarliteratur folgte der irrtümlichen Annahme einer vis haud ingrata der Ausschluss des Tätervorsatzes.1282 Lackner führte aus: „Die irrige Annahme, der Widerstand sei nicht ernst gemeint, sondern nur ein der weiblichen Geschlechtsrolle entsprechendes Sträuben oder eine Reaktion auf vis haud ingrata, ist Tatbestandsirrtum“.1283 Nach Tröndle konnte diese Überzeugung gegeben sein, wenn sich das Opfer „zwar mit Worten wehrt, aber körperlich keinen Widerstand leistet“.1284 Auch in der neueren Literatur gehört das Eingehen auf die vis haud ingrata immer noch zum Standardrepertoire.1285 Die gegenwärtige Kommentarliteratur, die seit dem 33. StÄG die vis haud ingrata vermehrt, wenn auch nicht grundsätzlich, in Frage stellt, greift auf dieses Verhaltensbild vor allem im subjektiven Tatbestand weiterhin zurück, wenn zum Inhalt des Vorsatzes die Ernsthaftigkeit des Widerstandswillens gemacht wird.1286 Zumindest wird jedoch auf die in diesem Zusammenhang bestehende Gefahr von Schutzbehauptungen verwiesen. Der Einfluss der vis haud ingrata zeigt sich in der Rechtsprechung ebenfalls insbesondere im subjektiven Tatbestand deutlich.1287 In Konstellationen, in denen die Gewaltanwendung und der Widerstand als gering eingestuft werden oder die Täter-Opfer-Beziehung dem Täter die Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens erschwert haben soll, lässt sich die Rechtsprechung eindeutig vom Verhaltensbild der vis haud ingrata leiten, indem sie die Ernstlichkeit des Widerstandes in den Blickpunkt rückt.1288 Führt diese Praxis nicht sei nicht unwillkommen (vis haud ingrata)“. Vgl. aus der Literatur u. a. Hanack, 1968, Rz. 54; Heintschel-Heinegg, 1975, S. 285; Maurach/Schroeder/Maiwald, 7. Aufl. (1988), § 18 Rn. 17; Mezger, 1949, S. 58; Niethammer, 1950, S. 168; Sch/Sch-Lenckner, 22. Aufl. (1985), § 177 Rn. 6; Schroeder, 1975, S. 29. 1281 Ebenso Mildenberger, 1998, S. 86 f.; vgl. dazu auch Brüggemann, 2012, S. 261 ff.; Sick, 1993, S. 189 ff. m.w. N. 1282 Lackner, 14. Aufl. (1981), § 177 Anm. 6; LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.3.a; LK-Mösl, 9. Aufl. (1974), § 176 Rn. 5; Sch/Sch-Lenckner, 22. Aufl. (1985), § 177 Rn. 7. 1283 Lackner, 14. Aufl. (1981), § 177 Anm. 6. 1284 Tröndle, 45. Aufl. (1991), § 177 Rn 7. 1285 Vgl. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 13; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 17; ebenso noch Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele, 27. Aufl. (2006), § 177 Rn. 12; Paeffgen, in: FS Grünwald, 1999, S. 457 Fn. 96; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 7. Grundsätzlich ablehnend Laubenthal, 2012, Rn. 166; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 25 ff.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 59; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 58 und Sick, 1993, S. 164 ff., 189 ff. 1286 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 54a; Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. Dazu kritisch LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 119. 1287 Ebenso kritisch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 61; vgl. auch Sick, 1993, S. 191. 1288 Kritisch auch Brüggemann, 2012, S. 263.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

bereits zur Ablehnung des objektiven bzw. subjektiven Tatbestands, werden die Wertungen der vis haud ingrata auf Strafzumessungsebene im Rahmen des minder schweren Falls berücksichtigt.1289 Dies erstaunt umso mehr, als dass dieses Verhaltensbild dem „Prüfstand der Empirie“ 1290 noch niemals standgehalten hatte.1291 aa) Frühere Rechtsprechung Ein Vortrag des Täters mit dem Inhalt, dass er das ablehnende Verhalten des weiblichen Opfers als lediglich anfängliches Zieren eingestuft habe und deshalb von einem Einverständnis in die sexuellen Handlungen ausgegangen sei, war insbesondere in der früheren Rechtsprechung keine Seltenheit.1292 Derartige Einlassungen wurden selbst dann für glaubhaft erachtet, wenn die Tatsituation evident gegen ein bloßes Zieren sprach.1293 Die Entscheidungspraxis verwundert,1294 weil schon das Reichsgericht hohe Anforderungen für den Vorsatzausschluss aufgestellt hatte, nämlich dass sich der Täter „vorher über die Einwilligung der Angegriffenen Gewissheit“ 1295 zu verschaffen habe, wobei der Bundesgerichtshof diese Praxis fortführte.1296 Eine derartige Prüfungspflicht erweckt zunächst den Eindruck, dass die Anerkennung eines Tatbestandsirrtums im Rahmen des § 177 StGB eher restriktiv erfolgt. Sie erinnert an die strengen Maßstäbe, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung1297 für die Vermeidbarkeit eines Irrtums im Rahmen des § 17 StGB aufstellt.1298 Letztendlich sind die hohen Hürden hinsichtlich eines Irrtums jedoch nur formaler Natur geblieben.1299 Eine Ent1289

Ebenso Sick, 1993, S. 193 Fn. 444. S. dazu E. und BGH NStZ 1981, S. 222. Jerouschek, JZ 1992, 227; vgl. auch ebenda seine Kritik an dieser „Rechtsfigur“. 1291 s. zur Einordnung der vis haud ingrata Kratzer, KritV 2010, S. 87 ff.; LKHörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 25 ff. und Sick, 1993, S. 164 ff., 189 ff. 1292 Vgl. BGHSt 7, 99, (100); BGH JR 1950, S. 408; BGH, Urteil vom 07.11.1972 – 1 StR 483/72 = BGH MDR 1973, S. 191; BGH NStZ 1982, S. 26; BGH, Beschluss vom 29.1.1985 – 4 StR 792/84; BGHSt 22, 154, (155): Hier hatte der Täter unter Vorhaltung einer Schreckschusspistole ein Mädchen zum Beischlaf gezwungen, das LG sah sich jedoch nicht imstande, dem Täter eine Drohung nachzuweisen. „(. . .) ihm sei nicht zu widerlegen, daß er geglaubt habe, das Mädchen sei nach anfänglichem Zieren und Sträuben mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen“. Vgl. die Aufhebung der landgerichtlichen Freisprüche in BGH, Urteil vom 14.07.1955 – 1 StR 728/54; BGH, Urteil vom 13.11.1963 – 2 StR 370/63; BGH, Urteil vom 16.03.1971 – 1 StR 54/71. Vgl. außerdem die empirische Untersuchung von Steinhilper, 1986, S. 261 f., 327 f. 1293 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 128. 1294 Ebenso Sick, 1993, S. 167 f., 194 ff. 1295 RG JW 1935, S. 2734. 1296 BGH, Urteil vom 14.07.1955 – 1 StR 728/54; BGH, Urteil vom 13.11.1963 – 2 StR 370/63; BGH, Urteil vom 05.09.1967 – 1 StR 333/67. 1297 Dazu MüKo-Joecks, 2. Aufl. (2011), § 17 Rn. 40 ff. 1298 Ebenso Sick, 1993, S. 167 f., 194 f. 1299 Ebenso Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 345. 1290

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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scheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 19731300 soll dies verdeutlichen. Hierbei hatte der Täter ein Mädchen gewaltsam in seine Wohnung verbracht, sie dort eingeschlossen und mit einer Lederpeitsche bedroht. Das Mädchen „entschloß sich in ihrer Verzweiflung nach der Bedrohung mit der Peitsche, dem Angeklagten nun vorzuspielen, daß sie mit einem Geschlechtsverkehr einverstanden sei“.1301 Der Angeklagte wurde nur wegen Versuchs verurteilt, weil er im Zeitpunkt der Penetration „nicht mehr das Bewußtsein hatte, jetzt noch Gewalt anzuwenden“. Er glaubte vielmehr an „die Bereitwilligkeit“.1302 Auf der Grundlage dieses Sachverhalts erscheint die Beweiswürdigung fernliegend.1303 Ein Tatbestandsirrtum kommt dem Täter zwar auch dann zugute, wenn er die Situation leichtfertig verkannt hat, der Irrtum also „unvernünftig“ 1304 war. Allerdings muss im Rahmen einer umfassenden Beweiswürdigung auf Grundlage der objektiven Gegebenheiten untersucht werden, ob der Vortrag des Täters, er habe an ein Einverständnis geglaubt, nicht lediglich als Schutzbehauptung anzusehen ist. Die Umstände, dass die Nötigungsmittel der Gewalt und Drohung eingesetzt wurden und das Verlangen nach Geschlechtsverkehr auf eindeutige Abwehr stieß, ließen die ernsthafte Annahme eines Einverständnisses im Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs als abwegig erscheinen.1305 Daran vermag auch das wahrheitswidrige Vorspielen des Einverständnisses nichts zu ändern. Es lag doch äußerst fern, dass der Täter nicht mit der Möglichkeit rechnete, dass die plötzliche Zustimmung auf dem Nötigungsversuch beruhte.1306 Die Beweiswürdigung belegt den Einfluss überkommener tradierter Vorstellungen über die weibliche Rolle im Sexualgeschehen. Dass der Täter letztendlich von einem nicht ernstlich gemeinten Sträuben des Opfers ausgehen durfte, liegt auch an der Auffassung von „der Widerspenstigen gewalttätigen Zähmung“, die der „geheime Wunsch des Opfers“ 1307 sei. Hierauf beruht gerade die Figur der vis haud ingrata. Jeder Widerstand steht

1300

BGH, Urteil vom 07.11.1972 – 1 StR 483/72 = BGH MDR 1973, S. 191. BGH, Urteil vom 07.11.1972 – 1 StR 483/72 = BGH MDR 1973, S. 191. 1302 Jeweils BGH, Urteil vom 07.11.1972 – 1 StR 483/72 = BGH MDR 1973, S. 191. 1303 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 60. 1304 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 125. 1305 Ablehnend auch Sick, 1993, S. 167. Vgl. auch BGH NStZ 1982, S. 26: „Dem Angekl. wird vorgeworfen, er habe die Taxifahrerin F mit einem metallenen Gegenstand bedroht, sie an den Haaren gezogen und gezwungen, sich auf den Rücksitz zu setzen und sich auszuziehen. Er habe sodann ihren Körper gestreichelt und versucht, sie zum Orgasmus zu bringen. Drei- oder viermal habe er auch sein Geschlechtsteil in die Scheide der Zeugin eingeführt, ohne daß es dabei aber zum Samenerguß gekommen sei. Später habe er gefragt, ob sie bereit sei, den Mundverkehr bei ihm auszuführen. Die Zeugin habe zunächst gezögert, dann aber aus Angst vor Repressalien dem Wunsch des Angekl. nachgegeben“. Trotz der massiven Gewalt wurde der Irrtum über ein Einverständnis gebilligt. Vgl. dazu die Kritik von LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 128; Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 357. 1306 Dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 130. 1307 Jeweils Jerouschek, JZ 1992, S. 227. 1301

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

somit zunächst unter dem Verdacht nur „simuliert“ 1308 zu sein. Eine Erweiterung des Irrtumsfelds ist die Folge. Dies verdeutlichen auch die Ausführungen Hanacks in seinem Gutachten zur Revision des Sexualstrafrechts. Er stellte sich gegen strenge Anforderungen im Irrtumsbereich, weil die Vergewaltigungssituation meistens durch die Frau in „erheblicher Weise provoziert“ worden und durch ein sexuelles Entgegenkommen von Seiten der Frau geprägt sei.1309 Schließlich „spielt“ jede Frau gegenüber „dem Werben des Mannes mit ihrem Widerstand“.1310 Konsequenterweise müsse sich der Täter aber in diesen Konstellationen über das Vorhandensein eines Einverständnisses mit dem späteren Geschlechtsverkehr nicht mehr vergewissern. Vielmehr kehre sich die „Beweislast für das Nichtvorhandensein eines Einverständnisses“ – zumindest aus Tätersicht – um.1311 Die bereits oben erörterte Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1955 zur Irrelevanz verbalen Widerstands belegt die Konsensfähigkeit dieser Auffassung.1312 Auch das Schrifttum hinterfragte das Stereotyp des ernstlichen Widerstands nicht, sondern schrieb es fort, indem stets darauf verwiesen wurde, dass der Täter zur Erfüllung des subjektiven Tatbestands mit der Möglichkeit „ernsthaften“ Widerstands rechnen müsse.1313 Vereinzelt wurde bemerkt, dass die Konsequenzen dieser Ansicht aus „kriminalpolitischer und prozessualer“ Sicht „unerfreulich“ 1314 seien, weil hierdurch „eine eindeutige Privilegierung des bedenkenlosen Rohlings“ bewirkt werde, „der jede Gegenvorstellung seinem hemmungslosen Triebstreben zuliebe unterdrückt und das ernstliche Sträuben“ nicht erkennt, weil er es „nicht zur Kenntnis nehmen will“ oder als „Ziererei abtut“.1315 Lösungsvorschläge fehlen jedoch bzw. sind in überkommenen Vorstellungen verhaftet.1316 Weitere Exkulpationsmöglichkeiten eröffneten sich dem Täter durch die Auffassung, dass eine Frau auf Grund ihres natürlichen Masochismus1317 durch die Vornahme von Gewalt sexuell stimuliert werden könne, so dass sie schließlich „wirklich“ 1318 in den Geschlechtsverkehr einwillige. Selbst bei äußerst gewalt1308

Jerouschek, JZ 1992, S. 227. Hanack, 1969, Rz. 55. 1310 Hanack, 1969, Rz. 55. 1311 Hanack, 1969, Rz. 55. 1312 BGH, Urteil vom 13.10.1955 – 1 StR 359/55: „Wenn eine Frau dem Verlangen eines Mannes nach Geschlechtsverkehr lediglich mit Worten, sei es auch ,eindeutig‘, widerspricht, sich aber gegen dieses Ansinnen nicht außerdem körperlich wehrt, so wird der Mann in aller Regel annehmen und annehmen dürfen, daß sie trotz des geäußerten Widerspruchs mit seinem Vorhaben letzten Endes einverstanden ist“. s. bereits A.II.3. 1313 Anstatt vieler Lackner, StGB, 14. Aufl. (1981), § 177 Anm. 6; Sch/Sch, 17. Aufl. (1974), § 177 Rn. 11. 1314 Jeweils Maurach, GA 1956, S. 305. 1315 Jeweils Maurach, GA 1956, S. 305. 1316 Vgl. Maurach, GA 1956, S. 305 ff. 1317 s. dazu Erster Teil: B.II.2. 1309

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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tätigem und brutalem Verhalten1319 stellte eine derartige Annahme „keinen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen die Denkgesetze“ 1320 dar, so dass nur eine Verurteilung wegen versuchter Notzucht stattfand.1321 Trug der Täter vor, dass „sein Entschluss nicht auf die gewaltsame Vornahme des Beischlafs gerichtet“ 1322 gewesen sei, die Gewalt vielmehr der „geschlechtlichen Erregung“ 1323 gedient habe, wurde daraus sogar lediglich eine Strafbarkeit wegen Nötigung zur Unzucht (§ 176 I Nr. 1 StGB a. F.) gefolgert.1324 Darüber hinaus gereichte eine erfolgreiche Abwehr des Opfers dem Täter – wie schon zu Zeiten des Reichsgerichts1325 – zum Vorteil und diente als Beleg dafür, dass er den Beischlaf von Anfang an nicht gewaltsam erzwingen wollte.1326 1318

BGH, Urteil vom 04.02.1964 – 1 StR 423/63. BGH, Urteil vom 04.02.1964 – 1 StR 423/63: „Nach den Feststellungen des Landgerichts wurden seine Angriffe gegen das sich wehrende Mädchen schließlich ,so brutal, daß sie erhebliche Schmerzen bereiteten‘. Maria L. hatte drei Tage nach dem Vorfall noch die blauen Flecken, die sie am rechten Handgelenk sowie an einem Oberschenkel erlitten hatte“. 1320 BGH, Urteil vom 04.02.1964 – 1 StR 423/63. 1321 Ebenso BGH, Urteil vom 18.12.1952 – 3 StR 50/52. Kritisch Hanack, 1969, Rz. 56 f.: Er hielt zwar gerade bei „ehrbaren Ehefrauen oder prüde erzogenen Mädchen“ eine sexuelle Stimulation durch Gewalt für möglich. Nachdem ein derartiges Einverständnis aber „aus unkontrollierten Quellen eines sonst beherrschten Trieblebens“ resultiere, gelte es nicht mehr als frei und ändere damit nichts am Vorliegen des Notzuchtstatbestands. 1322 BGH NJW 1965, S. 1284 f.; zustimmend Knodel, 1962, S. 160 f.; LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 14. 1323 BGH NJW 1965, S. 1285. Die Feststellungen zur inneren Tatseite gliedern sich in vier Abschnitte: 1. Gewaltsamer Griff an die nackte Brust der 15jährigen; hier hatte der Angeklagte nur die Absicht, sich durch die unzüchtige Berührung geschlechtliche Erregung und Befriedigung zu verschaffen; 2. Gewaltsames Festhalten des fliehenden Mädchens und seine Niederwerfung in den Kleeacker, ferner weiteres Festhalten, indem er sich rücklings mit entblößtem Geschlechtsteil auf das Mädchen setzte in der Absicht, es durch Gewalt zum Geschlechtsverkehr zu bringen; 3. Nach der Erkenntnis, daß dies wegen der starken Gegenwehr nicht möglich sein werde, nochmals gewaltsamer Griff an die nackte Brust und Betastung des Geschlechtsteils des Mädchens in der Absicht, das sich immer noch wehrende Mädchen hierdurch „geschlechtlich so stark zu erregen, daß es zum Beischlaf willig werde“; 4. Selbstbefriedigung vor den Augen des Mädchens, wobei er weiterhin auf ihm saß und mit einer Hand an ihrem Geschlechtsteil spielte. 1324 OGHSt. 3, 96 = NJW 1950, S. 710; BGH NJW 1965, 1284 f.; BGH GA 1968, 84 f.; a. A. BGH NJW 1953, 1070. Zustimmend das Schrifttum: Kohlrausch-Lange, 42. Aufl. (1959), § 177 Anm. II; LK-Mezger, 6. und 7. Aufl. (1951), § 176 Anm. I.3.a; LK-Mösl, 9. Aufl. (1974), § 177 Rn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, 7. Aufl. (1988), § 18 Rn. 16; Schönke/Schröder, 12. Aufl. (1965) bis 17. Aufl. (1974), § 177 Rn. 4; Schönke/Schröder-Lenckner, 21. Aufl. (1982), § 177 Rn. 6. 1325 s. bereits Zweiter Teil: B.II.1.b). 1326 Vgl. BGH, Urteil vom 21.06.67 – 4 StR 277/67 = BGH GA 1968, S. 84. 1319

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Die Rechtsprechung zum Verhältnis des Verführungstatbestands des § 182 StGB a. F. zum Vergewaltigungstatbestand gibt weitere Hinweise, dass das Vergewaltigungsdelikt und der dabei erfolgende Einsatz von Gewalt in ihrer Auswirkung auf das Opfer missgedeutet wurden. Die Verführung und die Vergewaltigung wurden nach gängiger Rechtsprechung in ein Stufenverhältnis1327 zueinander gestellt. Alle Nötigungsmittel, die die Schwelle des § 177 StGB nicht erreichten, wie die Drohung mit einem empfindlichen Übel, wurden zum Tatbestand der Verführung gezählt,1328 obwohl deren Einsatz den Charakter einer Verführung verfälscht. Das Opfer vollzieht den Geschlechtsverkehr mit dem „Partner“ in diesen Zwangssituationen ja gerade nicht einverständlich. Die Vergewaltigung erfuhr durch diese Wertung eine Herabstufung zu einer lediglich qualifizierten Verführung. Die männliche Tätersicht wurde demnach gerade in früheren Entscheidungen auffallend stark in den Vordergrund gerückt. bb) Neuere Rechtsprechung Auch neuere Entscheidungen neigen oftmals dazu, einen Irrtum zuzulassen, obwohl der Sachverhalt andere Wertungen nahe legt.1329 Selbst bei klassischen Vergewaltigungssituationen wird die Möglichkeit eines Irrtums anerkannt, wie unter anderem eine Entscheidung aus dem Jahr 1993 zeigt.1330 Hier wäre bei 1327 BGHSt 22, 154, (156 f.): „Die Bestimmung des § 177 StGB betrifft also, soweit das Opfer ein unbescholtenes Mädchen unter 16 Jahren ist, eine Steigerung der Verführung“. Vgl. auch BGH NJW 1955, S. 470 und BGH NJW 1965, S. 1087. Dazu auch Fezer, JZ 1974, S. 603. 1328 Schönke/Schröder, 14. Aufl. (1969), § 182 Rn. 4, 9. 1329 Vgl. BGH, Beschluss vom 02.12.1997 – 4 StR 557/97; auch in BGH NStZ 1999, S. 453 ist die Erwägung eines Einverständnisses bzw. eines diesbezüglichen Irrtums völlig unverständlich. 1330 BGHSt 39, 244: „In den späten Abendstunden bemerkte der Angeklagte die 44jährige B. L., die sich auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstelle befand. Er faßte den Entschluß, sie zu vergewaltigen, sprang sie von hinten an und riß sie zu Boden, wobei er sie geringfügig verletzte. Als die Frau die sexuellen Absichten des Angeklagten erkannte und ihr klar wurde, daß sie von Dritten keine Hilfe gegen den ihr körperlich überlegenen Angeklagten erwarten konnte, spiegelte sie ihm aus Angst vor weiteren Mißhandlungen ihr Einverständnis mit dem von ihm beabsichtigten Geschlechtsverkehr vor. Sie erklärte ihm, daß er ,ihr wie gerufen komme‘, da sie geschieden sei und schon lange keine sexuelle Begegnung mit einem Mann mehr gehabt habe. Der Angeklagte glaubte dies und ging nunmehr davon aus, daß die frühere Gewaltanwendung nicht mehr fortwirkte, sondern die Frau freiwillig zu sexuellem Kontakt bereit sei. Ihren Vorschlag, ,alles auf den nächsten Tag zu verschieben, da man es gemeinsam im Bett angenehmer habe‘, lehnte er jedoch ab; vielmehr drängte er, nachdem beide einen nur schwach erleuchteten Parkplatz erreicht hatten, auf sofortigen Vollzug des Beischlafs. Scheinbar bereitwillig, unter Vorspiegelung sexueller Erregung kam die Frau diesem Verlangen nach, erreichte jedoch, daß der Geschlechtsverkehr nicht, wie von dem Angeklagten ursprünglich beabsichtigt, auf dem schmutzigen Boden, sondern im Stehen vollzogen wurde“.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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„lebensnaher Betrachtung und entsprechender Ermittlung“ 1331 eine Verurteilung wegen vollendeter Vergewaltigung möglich gewesen. Der Bundesgerichtshof befand jedoch, dass auf Grund der „außergewöhnlichen schauspielerischen Leistung des Opfers“ es „nachvollziehbar“ gewesen sei, daß der Täter „an ein Einverständnis der Frau glaubte“.1332 Bei einer – auf Grund der Tatumstände erforderlichen – skeptischen Würdigung hätte allerdings der Schluss, dass der Täter sehr wohl um das Fortwirken seiner Gewaltanwendung wusste, nahegelegen.1333 Auf Grund der besonderen Tatumstände1334 mangelte es an „ausreichenden realen Anknüpfungspunkten“ 1335 für die Annahme eines Irrtums. Im Hinblick darauf, dass Frauen früher der Rat erteilt wurde, „lieber fünf Minuten vergewaltigt, als lebenslänglich tot“ 1336 und die Tat dem klassischen Vergewaltigungsbild entsprach, war die Reaktion der Frau lebensnah, die Vorstellung des Täters von einem Einverständnis dagegen lebensfern. Der Täter verschloss sich insbesondere dem Vorschlag, den Geschlechtsverkehr zu verschieben, so dass er sich wohl nicht ernsthaft als „erfolgreicher Verführer“ 1337 sah oder dies zumindest billigend in Kauf nahm. Nur die absurde Vorstellung, dass ein derartiges Verhalten eine sexuelle Erregung bei der Frau hervorrufen konnte, kann die rechtliche Bewertung zulassen, dass der Täter vorliegend ernsthaft auf ein freiwilliges Einverständnis – ohne Nachwirkung des gewaltsamen Überfalls – vertraute. Die Problematik „absurder Irrtümer“ 1338 stellt sich auch im Rahmen der neuen Tatvariante gem. § 177 I Nr. 3 StGB.1339 Allerdings entfällt die Problematik des nicht ernstlichen Widerstands, nachdem der Täter hierbei nicht mit einer Widerstandsüberwindungsintention handeln muss und das Opfer gerade auf Grund der besonderen Tatsituation auf jeden Widerstand verzichtet.1340 Das Widerstandsverhalten spielt jedoch indirekt eine Rolle, indem im Rahmen des Ausnutzungsbewusstseins der konkreten Tatsituation der Umstand, ob sich das Opfer bei vorhergehenden sexuellen Übergriffen um Hilfe bemüht hat, Relevanz erlangt.1341 1331

Bottke, JZ 1994, S. 71. BGHSt 39, 244. 1333 Ebenso Bottke, JZ 1994, S. 72. 1334 Überfall durch fremden Täter in den Abendstunden; Vollziehung des Geschlechtsverkehr auf einem Parkplatz. 1335 BGH NStZ 1991, S. 400. 1336 Schäfer, Kriminalistik 1982, S. 364. 1337 Bottke, JZ 1994, S. 72. 1338 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 357. 1339 Vgl. nur BGH NStZ 1999, S. 453: Auf Grund der vorhergehenden Vergewaltigungen des Opfers duch zwei andere Täter liegt die Annahme eines Einverständnisses durch den Angeklagten mehr als fern. Ebenso Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 357 f. 1340 Dazu auch Mildenberger, 1998, S. 89. 1341 Vgl. BGH NStZ 2003, S. 424 als Beispiel für eine unzutreffende Ablehnung des Vorsatzes im Rahmen der neuen Tatvariante: „Jedenfalls hat die StrK bei der Prüfung einer schutzlosen Lage auf Grund entsprechender örtlicher Gegebenheiten (z. B. im Keller des Wohnhauses) ohne Rechtsfehler verneint, dass der Vorsatz des Angekl. gerade 1332

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Auf der Ebene der Landgerichte finden sich immer wieder erschreckende Beispiele für die Annahme eines Irrtums, wobei hier jeweils der Täter vom Vorwurf der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung gänzlich freigesprochen wurde.1342 Der Bundesgerichtshof hob diese Freisprüche glücklicherweise auf. Die Verteidigungslinie vom bloßen Zieren des Opfers trifft jedoch auch beim Bundesgerichtshof teilweise auf Zustimmung und belegt seine irrtumsfreundliche Auslegung, insbesondere bei verbalem oder geringem Widerstand.1343 Scharf zu kritisieren auf die Ausnutzung dieser schutzlosen Lage gerichtet gewesen wäre und dabei darauf abgestellt, dass die Geschädigte den Geschlechtsverkehr auch in Situationen duldete, in denen – wie etwa auf dem Campingplatz – unschwer Hilfe hätte erlangt werden können. Der Senat kann daher ausschließen, dass das LG einen entsprechenden Vorsatz bejaht hätte, wenn es in der genannten Einbindung in den von Gewalt geprägten Familienverband eine schutzlose Lage gesehen hätte (. . .)“. 1342 Vgl. BGH, Beschluss vom 05.03.1992 – 1 StR 716/91: „Einziger Anhaltspunkt für die Annahme, der Angeklagte habe geglaubt, Francesca müsse Freude an seinem Handeln haben, ist die Ankündigung des Angeklagten, nach der Vorführung eines pornografischen Films werde es auch ihr (gemeint ist damit Francesca) Spaß machen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, da der Angeklagte (Francesca) unmittelbar zur Vornahme sexueller Handlungen (nur) veranlassen konnte, daß er ihr die Zufügung erheblicher Schmerzen androhte. Auch in der Folgezeit ,weinte Francesca fast immer‘ bei der Vornahme der sexuellen Handlungen; soweit der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ausübte, ,schrie‘ sie vor Schmerzen. ,Immer wieder‘ sagte sie dem Angeklagten, ,daß sie es nicht machen wolle‘. Der Angeklagte hat sie demgegenüber ,gezwungen, den Oralverkehr mit ihm durchzuführen‘, und hat sich auf seine väterlichen Rechte berufen, ,um‘ den – von ihm also offenbar erkannten – ,Widerstand seiner Tochter zu brechen‘. Darüber hinaus hat er, wie dargelegt, Francesca angedroht, sie würde nicht mehr lange leben, wenn sie sich seiner Lebensgefährtin anvertrauen würde. Mit all diesen Feststellungen hätte sich die Jugendkammer bei der Prüfung der subjektiven Voraussetzungen von §§ 177, 178 StGB auseinandersetzen müssen. Bisher ist auf der Grundlage von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen nicht erkennbar, warum der Angeklagte davon ausgegangen sein könnte, Francesca habe an den sexuellen Handlungen Freude, während ,ein Erkennen der Angst des Mädchens nicht (zu) belegen‘ sei“. Vgl. außerdem BGH NStZ 2002, S. 446: Der Angeklagte und seine Ehefrau lebten getrennt, weil es immer wieder zu tätlichen Übergriffen gekommen war, insbesondere wenn sich das Opfer seinen sexuellen Wünschen nicht gebeugt hatte. Der Angeklagte drang zweimal in das Haus des Opfers ein und zwang seine Ehefrau entgegen ihrem deutlich zum Ausdruck gebrachtem Widerwillen unter Einsatz von Gewalt zum Geschlechtsverkehr. Das Landgericht sah sich außerstande, den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu verurteilen: „Er kann die Weigerung der Zeugin und ihre Abwehrhandlungen als besonders reizvolles Spiel der Zeugin gewertet haben“. Vgl. außerdem BGH NStZ 2003, S. 165 = BGH, Urteil vom 23.10.2002 – 1 StR 274/ 02: „Zudem fehle es am Vorsatz des Angeklagten. Angesichts des passiven Verhaltens von M. H. habe der Angeklagte davon ausgehen müssen, daß das Mädchen sich in sein Schicksal füge und den Geschlechtsverkehr ,zwar widerwillig, aber doch freiwillig‘ durchführe (UA S. 15). Seine Äußerung, es ,tue ihr weh und er solle aufhören‘, habe er auch dahin verstehen können, daß ihr der Verkehr ,lediglich körperlich unangenehm‘ sei (UA S. 16)“. Vgl. auch BGH NStZ 1991, S. 400. 1343 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 61 m.w. N. Hilgendorf sieht in diesem Verteidigungsverhalten zwar ein „Dilemma“ für das Opfer, das zugrundeliegende Problem der Akzeptanz der vis haud ingrata wird jedoch nicht gesehen; vgl. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 13.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

371

ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1989.1344 Das Opfer hatte gegenüber dem Angeklagten deutlich gemacht, keinen Geschlechtsverkehr ausüben zu wollen. Laut dem Bundesgerichtshof fehlten jedoch die „Feststellungen zum subjektiven Tatbestand“, insbesondere wurde bemängelt, dass nicht geprüft worden war, ob der Angeklagte den Widerstand von Seiten des Opfers als „ernst gemeint“ 1345 erfasst hatte. Auf Grund des Umstands, dass es immer wieder „zu erheblichen tätlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin gekommen war, ohne daß diese das Zusammenleben beendet hatte“,1346 war dies laut dem Bundesgerichtshof stark zu bezweifeln. Fehlendes Trennungsengagement von Seiten der Lebensgefährtin trotz tätlicher Auseinandersetzungen im Rahmen einer Partnerschaft soll nach Aussage des Bundesgerichtshofs also dazu führen, dass der Lebenspartner Gewalt und Drohungen einsetzen darf, um seine sexuellen Bedürfnisse umzusetzen. Eindeutiger Widerstand darf hierbei als nicht ernstlich abgetan werden, obwohl der Einsatz der Nötigungsmittel deutlich zeigte, dass der Angeklagte den Widerwillen erkannt hatte.1347 Abgesehen davon, dass derartige Ausführungen erschreckende laienpsychologische Deutungen offenbaren, kommt darin die Wertung zum Ausdruck, dass die Verantwortung für die Vergewaltigung beim Opfer liegt.1348 Diese Art von Verantwortungszuschreibung findet sich auch in einer Entscheidung aus dem Jahr 1987.1349 Der Bundesgerichtshof hob die erstinstanzliche Verurteilung des Täters wegen Vergewaltigung – hier unter Einsatz des Nötigungsmittels der Drohung – auf, obwohl sich das Landgericht ausführlich und nachvollziehbar mit der

1344 BGH, Beschluss vom 11.08.1989 – 2 StR 361/89 = BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB: „Als er (Anm. der Verf.: der Angeklagte) am 19. Januar 1988 angetrunken (BAK 2,6%) nach Hause kam, beleidigte er diese während einer wörtlichen Auseinandersetzung erheblich. Die Nebenklägerin zog sich darauf ins Schlafzimmer zurück. Er folgte ihr und verlangte, daß sie mit ihm schlafe. Die Nebenklägerin lehnte dieses Ansinnen jedoch ab, zumal sie sich vor dem nach Alkohol riechenden Angeklagten ekelte. Als sie das Schlafzimmer verlassen wollte, packte der Angeklagte sie am Schlafanzugoberteil, welches zerriß, zog sie auf das Bett, ergriff fest ihre Handgelenke, hielt die Arme nach oben und drohte, ihr beide Handgelenke zu brechen, wenn sie sich weiter wehren würde. Gegen den Willen der Nebenklägerin führte er dann den Geschlechtsverkehr durch“. 1345 Jeweils BGH, Beschluss vom 11.08.1989 – 2 StR 361/89 = BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB. 1346 BGH, Beschluss vom 11.08.1989 – 2 StR 361/89 = BGH NStE Nr. 21 zu § 177 StGB. 1347 Nur bei regelmäßigen sadomasochistischen Sexualpraktiken wäre anders zu entscheiden. Die Tatsache, dass sich die Frau von einem gewalttätigen Partner nicht trennt, bedeutet jedoch nicht, dass sie im sexuellen Sinne masochistisch veranlagt ist. 1348 Zum „Mißhandlungszyklus“ bei „sexuellen Mißhandlungen in Ehe und Partnerschaft“ vgl. Gerstendörfer, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12. 1995, S. 5. 1349 BGH StV 1987, S. 516 mit abl. Anm. Engel, StV 1988, S. 506 f.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Glaubwürdigkeit des Opfers auseinandergesetzt hatte.1350 Er würdigte die Feststellungen des Landgerichts als lückenhaft, so dass diese Entscheidung als „unerfreuliches Beispiel für die Verdrehung von Tatsachenfeststellungen durch die Revisionsinstanz“ 1351 bezeichnet werden kann. Zu kritisieren ist diese Vorgehensweise vor allem deshalb, weil der Bundesgerichtshof als Revisions- und damit Rechtsinstanz sich keinen persönlichen Eindruck von der Zeugin machen konnte. Der persönliche Eindruck ist aber gerade bei Vergewaltigungsprozessen – und insbesondere, wenn es Aussage gegen Aussage steht – von ausschlaggebender Bedeutung. In den Mittelpunkt der Entscheidung rückte der Bundesgerichtshof die psychische Verfassung des Opfers und erklärte: „Entscheidend ist vielmehr, ob sie sich in einer seelischen Verfassung befand, in der sie dem Ansinnen des Angeklagten, sich auf einen sexuellen Kontakt mit ihm, einem ihr unbekannten Mann, einzulassen, erkennbaren Widerstand entgegensetzen wollte und konnte“. Auf Grund der Umstände (Streit mit dem Freund, Alkoholisierung des Opfers, Einfluss von Beruhigungsmitteln sowie Durchqueren eines Waldstücks bei Dunkelheit um vier Uhr früh), schloss der Bundesgerichtshof, dass sich das Opfer „auf demonstrative Weise in mehrfacher Hinsicht besonderer Gefahren ausgesetzt“ habe, so dass die Wertung naheliege, dass die Zeugin „ohne erkennbaren Widerstand“ das sexuelle Ansinnen des Angeklagten duldete.1352 Letztendlich führte also das – als unangemessen eingestufte – Verhalten der Zeugin dazu, dass zumindest aus Sicht des Angeklagten von einem Einverständnis in den Geschlechtsverkehr ausgegangen werden durfte, obwohl die Tatumstände mehr als dagegen sprachen. Im Widerspruch zum angeblich fehlenden Widerstandswillen bzw. zur angeblichen Widerstandsunfähigkeit steht bereits der Umstand, dass die Zeugin ihren Körper sehr wohl noch unter Kontrolle hatte, schließlich war sie imstande, zu laufen. Der Streit mit dem Freund und die Tatsache, dass sie sich von dem Angeklagten nach der Vergewaltigung heimfahren ließ, sprachen aber nach Ansicht des Bundesgerichtshofs dafür, dass sie die Tat erst nachträglich als Vergewaltigung deklarierte. Der Aussage der Zeugin, dass sie aus Todesangst nicht allein im Wald bleiben wollte und deshalb in den Wagen des Angeklagten gestiegen sei, wurde, ebenso wie der „psychisch völlig desolaten“ und „ernsthafte Schockanzeichen“ 1353 aufweisenden Konstitution der Zeugin nach Ankunft bei ihrer Mutter, jede Relevanz abgesprochen. Der Bundesgerichtshof berief sich auf Erfahrungssätze, die der Verbrechenswirklichkeit nicht entsprechen. Es spricht nicht per se gegen eine Vergewaltigung, wenn sich das Opfer vom Täter heimfah-

1350 Ihr Aussageverhalten war gemäß dem Landgericht ohne Belastungseifer und von hoher Konstanz. 1351 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 60 Fn. 249. Der gleiche Vorwurf kann gegen BGH StV 1986, S. 149 ff. erhoben werden; vgl. in dieser Hinsicht die Urteilsanmerkung von Hillenkamp, StV 1986, S. 151 f. 1352 Jeweils BGH StV 1987, S. 516. 1353 BGH StV 1987, S. 516.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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ren lässt, sondern kann auf Grund der Tatumstände nachvollziehbar sein.1354 Wohl mehr als schlüssig – auf Grund ihres psychischen Zustands – war auch der Umstand, dass sich die Zeugin im konkreten Fall das Kennzeichen des Autos nicht notierte und dem Angeklagten auch bewusst war, dass kein derartiges Risiko drohte. Der Bundesgerichtshof sieht dieses Verhalten des Angeklagten aber als Beweis dafür an, dass keine Vergewaltigung stattgefunden hat.1355 Der Angeklagte wird auf Grund des außergewöhnlichen Sachverhalts privilegiert.1356 Überspitzt formuliert macht sich eine Frau, die nachts allein unterwegs ist, per se verdächtig, wenn sie im Anschluss einen Vergewaltigungsvorwurf erhebt, weil sie sich schließlich freiwillig in eine „Vergewaltigungsgefahrenlage“ begeben hat. Eine Verantwortungszuschreibung an das Opfer hinsichtlich der Erkennbarkeit von dessen entgegenstehendem Willen erfolgt insbesondere auch dann, wenn es zwischen Täter und Opfer schon zu einvernehmlichen sexuellen Kontakten gekommen war oder sich letzteres bei der fraglichen Tat zunächst mit sexuellen Handlungen einverstanden erklärt hatte.1357 Widerspricht das Opfer dem Geschlechtsverkehr, wird dem Täter zuerkannt, dass er verbale Äußerungen wie „ich will das nicht“, die in einem konkreten Fall so laut artikuliert wurden, dass er dem Mädchen den Mund zuhalten musste, nicht als „ernsthaftes Widerstreben“ bewertet.1358 Dies ist umso kritischer zu sehen, als im vorliegenden Beschluss das Mädchen die Schutzbefohlene des Angeklagten im Sinne des § 174 StGB war. Hatten sexuelle Handlungen zwischen den Beteiligten – auch nur unter Widerwillen des späteren Opfers – stattgefunden, soll dies in der Tatsituation gegen das Vorliegen von Gewalt bzw. die Erfüllung des subjektiven Tatbestands sprechen. Hier wird dem Täter wiederum zugestanden, keinen Abwehrwillen wahrgenommen zu haben. So führt der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 aus: „Der bisher festgestellte sehr geringe Widerstand der Nebenklägerin und deren eher allgemein bekundeter Abwehrwille (,in Ruhe lassen‘ . . .) werden eine genauere Feststellung des inneren Tatbestandes erfordern“.1359 In einem Urteil aus dem Jahr 2004 beanstandet der Bundesgerichtshof zwar die Ablehnung des Tatvorsatzes, die erstinstanzlichen Ausführungen geben darüber hinaus aber keinen Anlass zu grundsätzlicher inhaltlicher Kritik: „Der Angeklagte 1354 Das Nachtatverhalten ist stets vom Einzelfall abhängig. s. bereits Erster Teil: A.III.2. Vgl. auch BGH, Urteil vom 21.01.1987 – 2 StR 656/86; BGH NStZ-RR 1998, S. 103 f. 1355 BGH StV 1987, S. 516; vgl. zu einer ähnlichen Konstellation BGH, Urteil vom 20.02.1959 – 2 StR 18/59. 1356 Ebenso Engel, StV 1988, S. 506 f. 1357 Solche Fälle wurden in der Untersuchung von Steinhilper schon auf Ebene der Staatsanwaltschaft stark vorselektiert, so dass bei vorhergehenden Zärtlichkeiten in 60% der Fälle eine Einstellung erfolgte; vgl. Steinhilper, 1986, S. 194 f. 1358 Vgl. BGH, Urteil vom 01.12.1992 – 1 StR 682/92 = BGH NStE Nr. 30 zu § 177 StGB. 1359 BGH, Beschluss vom 26.11.2008 – 5 StR 506/08.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

habe davon ausgehen können, daß die Nebenklägerin im Regelfall zum Geschlechtsverkehr mit ihm bereit gewesen sei, diesen sogar erwünscht habe. Es bestünden erhebliche Zweifel daran, daß die Nebenklägerin dem Angeklagten zum Zeitpunkt der angeklagten Tat so sehr und nachdrücklich deutlich gemacht habe, daß sie an diesem Tag keinen Geschlechtsverkehr mit ihm wollte, daß er die Ernsthaftigkeit der Ablehnung des Geschlechtsverkehrs ihrerseits an diesem Tag erkennen konnte“.1360 Warum die Aussage „in Ruhe lassen“ bzw. das Neinsagen und Wegschieben des Täters keine eindeutigen Willensbekundungen darstellen sollen, bleibt unerklärlich. Zugrunde liegt wohl der Mythos vom unkontrollierbaren Sexualtrieb des Mannes. Dieser führt zu einer Vorrangigkeit der männlichen Täterperspektive, wie ein weiterer Beschluss des Bundesgerichtshofs1361 aus dem Jahr 2008, diesmal zu § 179 I StGB, zeigt. Ein18jähriges Mädchen hatte mit zwei Freunden nach einem Discobesuch in den frühen Morgenstunden den Angeklagten zu Hause aufgesucht, um weiterzufeiern. Irgendwann wurde die junge Frau müde und legte sich bekleidet in das Bett des Angeklagten und schlief dort ein. Der Angeklagte legte sich später zu ihr, zog sie aus und penetrierte sie. „Als sie aus dem Schlaf erwachte und sich erschrocken aufrichtete, ließ der Angekl. von ihr ab und entgegnete auf ihre Frage, was das solle, er habe gedacht, sie wolle das auch“.1362 Das Landgericht konnte nicht ausschließen, dass der Angeklagte sich über das Vorliegen eines Einverständnisses1363 mit dem Geschlechtsverkehr geirrt hatte. Das Verhalten des Mädchens wurde demnach allein auf Grund des Umstands, dass sie sich – bekleidet – in das Bett des Angeklagten legte, sexualisiert und mit dem Aussagewert, „ich bin mit sexuellen Handlungen einverstanden“, versehen.1364 Ein Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 20021365 beinhaltet gleichläufige Deutungen. Angeklagter und Opfer waren eng befreundet und leisteten sich psychischen Beistand. Bei der fraglichen Tat hatte sich die Zeugin mit einem Nachthemd bekleidet zum Angeklagten auf das Bett gesetzt und dessen Schläfen massiert. Im Anschluss hatte er sie mit Gewalt1366 zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Der Bundesgerichtshof rügte, dass es hier doch nahegelegen habe, dass der Angeklagte „zunächst von einem generellen Einverständnis mit sexuellen Handlungen ausgegangen“ sei, 1360

BGH, Urteil vom 02.09.2004 – 5 StR 242/04: „Da die Nebenklägerin an diesem Tag keinen Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten wollte, sagte sie ihm dies und versuchte, ihn mit Armen und Füßen wegzuschieben, was ihr jedoch nicht gelang“. 1361 BGH NStZ 2009, S. 90. Die Rechtsfolgen eines Irrtums über ein Einverständnis bzw. eine Einwilligung wurden allerdings verkannt. 1362 BGH NStZ 2009, S. 90. 1363 Vom Landgericht irreführend als „Einwilligung“ bezeichnet. 1364 Vgl. auch BGH, Urteil vom 13.10.1982 – 3 StR 137/82. 1365 BGH NStZ 2002, S. 494. 1366 Der Angeklagte hatte die Beine des Opfers gewaltsam auseinander gedrückt. Es hatte „im Bereich des inneren linken Oberschenkels Blutergüsse und im Nackenbereich Kratzspuren“; vgl. BGH NStZ 2002, S. 494.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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„in dieser Situation musste der Angekl. die – wenig aussagekräftigen – Äußerungen der Frau ,sie wolle das nicht‘, nicht zwingend als ernst gemeinten Widerstand auffassen“.1367 Wie bereits oben kritisiert, wird die Vortatsituation zwischen dem Angeklagten und dem Opfer zu Gunsten des Täters rein sexuell gedeutet.1368 Der Umstand, dass ein Mann und eine Frau zusammen auf einem Bett sitzen, beinhaltet demnach – zumindest als nachvollziehbare Interpretation aus Sicht des Angeklagten – die schlüssige Aussage, mit sexuellen Handlungen einverstanden zu sein. „Die einzig mögliche Kommunikation mit einem Mann“ ist in dieser Situation „die sexuelle Interaktion“.1369 Von der Frau müsste dann konsequenterweise erwartet werden, derartige Situationen zu meiden, weil Männer grundsätzlich einem starken Sexualtrieb unterliegen.1370 In all diesen Konstellationen profitiert der Täter von derartigen Verhaltenszuschreibungen. Die Wertung, dass verbale ablehnende Äußerungen vom Täter nicht ernst genommen werden müssen, sondern ignoriert und als Ziererei abgetan werden können, ist jedoch inakzeptabel. In bestimmten, als sexuell eingestuften Konstellationen, tritt damit das sexuelle Selbstbestimmungsrecht hinter das sexuelle Ansinnen des Täters zurück. Es gilt jedoch: Weder aus einmal stattgefundenen Intimitäten noch aus freundschaftlich-intimer Nähe kann auf eine generelle Bereitschaft zu sexuellen Handlungen geschlossen werden. cc) Die Problematik der „geschlechtsspezifischen Situationsverkennung“ Untrennbar mit der vis haud ingrata ist das Konstrukt der „geschlechtsspezifischen Situationsverkennung“ 1371 verbunden. Ausgangspunkt dieser These von Schorsch ist, dass Frauen und Männer die Wirklichkeit unterschiedlich konstruieren, was auf eine unterschiedliche Sozialisation von Männern und Frauen zurückzuführen sei. Dabei greift Schorsch auf die bereits oben erläuterte Rollenverteilung und die damit zusammenhängende Verhaltenserwartung von einer sich zierenden und sträubenden Frau im Rahmen eines sexuellen Geschehens zurück. Der Mann deutet demnach eine neutrale Freundlichkeit der Frau als Verliebtheit, ein „Nein“ als ein „Ja“, so dass eine projektive Verkennung der Situation entstehe, die nicht selten auch den sexuellen Vollzug überdauere.1372 In der empirischen Untersuchung von Jäger1373 wurde von den Tatverdächtigen als Ursache der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung zu 71,1% eine derartige geschlechtsspe1367

Jeweils BGH NStZ 2002, S. 494 f. Vgl. zu dieser gängigen Urteilspraxis die empirische Untersuchung von Abel, 1986 und dort insbesondere die S. 324 ff. 1369 Jeweils Abel, 1986, S. 274 f., 324 f. 1370 Ebenso Abel, 1986, S. 324 f. 1371 Schorsch, 1971, S. 214. 1372 Schorsch, 1971, S. 214 f. 1373 M. Jäger, 2000, S. 72 f. 1368

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

zifische Situationsverkennung bzw. wohl besser Situationsignoranz angegeben, nämlich unter anderem ein „vermeintliches Recht auf Grund eines bestehenden Intimverhältnisses, die Hoffnung, das Opfer werde zum Geschlechtsverkehr bereit sein, ein vorangegangener Flirt, unvorsichtige oder Hoffnung machende Gesten oder Bemerkungen des Opfers, aufreizende Auffälligkeiten des Opfers“.1374 Treffen diese Faktoren mit geringer körperlicher Gegenwehr von Seiten des Opfers und als „unbrutal“ eingeschätzte Gewalt von Seiten des Täters zusammen, wird zum einen schon bezweifelt, ob überhaupt eine echte Vergewaltigung vorliegt und zum anderen Verständnis für den Täter gezeigt, da aus seiner Sicht eine von sexuellen Intentionen geprägte Situation vorlag.1375 Eine derartige Situationsverkennung kann sich, wie soeben dargestellt, im subjektiven Tatbestand niederschlagen und darüber hinaus auf Strafzumessungsebene Relevanz erlangen.1376 Kritisch zu bewerten ist, dass auch im Schrifttum diese Art der angeblichen Situationsverkennung unreflektiert als irrtumsbegründend akzeptiert wird.1377 Es gilt jedoch zu betonen, dass illusionäre Situationsverkennungen das aggressive Täterverhalten bei einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nicht zu „entschuldigen“ vermag. Eine derartige Ignoranz für die tatsächliche Situation erklärt auch nicht aus sich heraus die Ursachen einer Vergewaltigung.1378 Lag eine Zustimmung mit dem sexuellen Handeln für den Täter erkennbar nicht vor, darf und kann eine geschlechtsspezifische Situationsverkennung nicht zum Vorsatzausschluss führen. Diesem Konstrukt wird zu viel Platz eingeräumt1379 bzw. unterliegt einer falschen Interpretation. Auffällig ist, dass trotz der Enttabuisierung der Sexualität die antiquierten Rollenbilder im sexuellen Geschehen fortwirken. Die „geschlechtsspezifische Situationsverkennung“ gibt damit opferfeindlichen Perspektiven Raum. Gerade die ältere Viktimologie zur Vergewaltigung ist durch diese Perspektive in großem Maße geprägt.1380 Vorsicht ist jedoch angebracht, da dem Täter Schutzbehauptungen ermöglicht werden, die den Rechtsbruch neutralisieren sollen.1381 Androzentrische Sichtweisen und eine selektive Wahrnehmung gestalten eine Vergewaltigungstat so nachträglich in eine Verführungssituation um.1382

1374

M. Jäger, 2000, S. 73. Dazu Baurmann, 1996, S. 319; aus der Rechtsprechung vgl. u. a. BGH StV 2008, S. 81. 1376 Vgl. BGH NStZ 1981, S. 222 und E. 1377 Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 18. 1378 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 865 f. 1379 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 866 hebt hervor, dass dieser Theorie in der viktimologischen Diskussion zu viel Bedeutung beigemessen wurde. 1380 Weis, 1982, S. 17; dazu bereits oben im Ersten Teil: B.III. und Amir, 1971, S. 336 f.; (noch) H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 118 ff. 1381 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 861; ebenso Kieler, 2003, S. 107. 1382 So auch Hillenkamp, StV 1986, S. 152; Steinhilper, 1986, S. 342. 1375

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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b) Valide Maßstäbe im subjektiven Tatbestand Bedingter Vorsatz liegt in der Regel vor, „wenn das Opfer seinen entgegenstehenden Willen – sei es auch nur verbal – artikuliert und dem Täter keinen Grund für die Annahme seines Einverständnisses gegeben hat“. 1383 Generell wird der Einsatz von Nötigungsmitteln im Rahmen der Beweiswürdigung wohl stets ein bedeutsames Indiz sein, das gegen einen Irrtum spricht.1384 Wird trotzdem auf ein tatbestandsausschließendes Einverständnis verwiesen, deutet dies auf Ignoranz und Gleichgültigkeit des Täters hin.1385 Für einen Vorsatzausschluss ist dann nicht mehr und nicht weniger als die Überzeugung erforderlich, dass die Zustimmung des Opfers mit dem vorherigen Nötigungsversuch „nichts zu tun hat“,1386 der Täter sich demnach voll und ganz als „erfolgreicher Verführer“ 1387 betätigt hat.1388 Ist diese Sicherheit nicht vorhanden, billigt der Täter die Möglichkeit, dass die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers geschieht, und zwar insbesondere auch dann, wenn ihm dieser Erfolg an sich unerwünscht ist.1389 Er hat dann nicht ernsthaft auf ein freiwilliges Einverständnis vertraut. Der Bundesgerichtshof stellte fest: „Wem aus egoistischer, allein auf die Durchsetzung eigener Wünsche gerichteter Gesinnung ein möglicherweise entgegenstehender Wille des Opfers einer sexuellen Nötigung von vornherein gleichgültig ist, handelt nicht im vorsatzausschließenden Irrtum, sondern zumindest bedingt vorsätzlich“.1390 Dieser Aussage ist voll und ganz zuzustimmen. Entspringen „Fehlbeurteilungen“ der Geringachtung des Opfers oder „abwegiger Selbstüberschätzung“ 1391 kann dies keinen Vorsatzausschluss begründen. Abzulehnen ist die einseitig täterfreundliche Auslegung in Konstellationen, in denen sich Täter und Opfer vor der Tat kannten und eventuell schon sexuell intim waren.1392 Sowohl der Mythos vom Triebdelikt als auch die absurde Auffassung, dass bereits bei einmaligem Geschlechtsverkehr der Täter von einem zukünftigen generellen Einverständnis in sexuelle Handlungen ausgehen könne, werden hierbei bedient. In der Folge hat es wiederum das Opfer über seine Widerstandsaktion in der 1383

Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 51; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 128. So schon LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 15 für vorangegangene Drohungen unter Einsatz von Messern, Skalpellen oder einem Gasrevolver. 1385 Ebenso Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 357; vgl. dazu BGH, Urteil vom 02.09. 2004 – 5 StR 242/04. 1386 SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 17. 1387 Bottke, JZ 1994, S. 72. 1388 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 130. 1389 Seit BGHSt 7, 363, (369) gängige Rechtsprechung; vgl. ausführlich Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 75 ff. 1390 BGH NStZ 2002, S. 446. 1391 Jeweils Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 54a. 1392 Ebenso kritisch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 129, die hierbei für „größere Zurückhaltung“ plädiert. 1384

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

Hand, ob der Vorsatz bejaht wird, weil durch „andauernde und intensive Abwehr“ 1393 ein Irrtum unstrittig als nicht glaubhaft gilt. Der Umstand, dass der Widerstand des Opfers für die Ermittlung des Vorsatzes eine große Rolle spielt, ist grundsätzlich nachvollziehbar, insbesondere wenn kein Geständnis des Täters oder eindeutige Gewaltspuren vorliegen. Die Spruchpraxis, die trotz eines eindeutigen Widerstandes – sei er auch „gering“ oder „nur“ verbal – einen Irrtum des Täters zulässt, ist jedoch inakzeptabel.1394 Die Folge ist, dass der gleichgültige, auf seine Bedürfnisse fixierte Täter im Vorteil ist. Einem geistig gesunden Mann ist es möglich – und dies ist ihm auch abzuverlangen – den entgegenstehenden Willen zu erkennen, auch wenn der Widerstand in einem eindeutigen „Nein“ besteht. Ist die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters dagegen beispielsweise auf Grund einer hohen Blutalkoholkonzentration beeinträchtigt,1395 kann die Wahrnehmung getrübt sein. Dies hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, etwa davon, ob der Täter alkoholgewohnt ist und wie lange und intensiv sich der sexuelle Übergriff gestaltete. Trägt der Täter vor, von einem Einverständnis ausgegangen zu sein, bedarf es zur Einordnung dieses Irrtums als glaubhaft – wie es der Bundesgerichtshof richtig ausdrückt – „ausreichender realer Anknüpfungspunkte“.1396 Abzulehnen ist zwar die Statuierung einer besonderen Prüfungspflicht des Täters hinsichtlich eines Einverständnisses, weil damit – im Vergleich zu anderen Delikten – höhere Hürden für die Annahme eines Tatbestandsirrtums aufgestellt würden.1397 Generell sollte allerdings Behauptungen des Täters, wie die „Weigerung des Opfers sei nicht ernst gemeint“ 1398 skeptisch begegnet werden. Oftmals wird es sich hier um eine „bloße Schutzbehauptung“ 1399 handeln.1400 Man sollte sich vor Augen halten, dass „männliche Sichtweisen oder hochwirksame Neutralisationstechniken den Täter die klar erkannte Vergewaltigungssituation vor sich und der Umwelt nur nachträglich in eine Verführungssituation umdefinieren“ lassen.1401 Wenig hilfreich sind Ausführungen, die dem gegenwärtigen Stand der kriminologischen Forschung nicht entsprechen. Schroeder hält „infolge vorheriger Einwilligung in Zärtlichkeiten, geschlechts1393

M. Jäger, 2000, S. 73. Ebenso Hilgendorf, in: Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, S. 120 f. 1395 Vgl. dazu BGH NStZ-RR 2003, S. 325: Der Täter wies eine Blutalkoholkonzentration von 2 ‰ auf. 1396 BGH NStZ 1991, S. 400. 1397 Ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 62; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1398 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 54a. 1399 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 13. 1400 Ebenso Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 10; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 126, 128; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 58; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 17. 1401 Hillenkamp, StV 1986, S. 152. 1394

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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spezifischer Situationsverkennung und Blindheit für die Stimmung der Frau auf Grund zunehmender sexueller Spannung (Schorsch 209, 214 f.) eine irrtümliche Annahme der Einwilligung“ 1402 in zahlreichen Fällen für gegeben. Die Frage, ob und wann eine derartige Situationsverkennung überhaupt realistisch ist, wird nicht gestellt. Hilgendorf führt aus: „Die Behauptung des Täters, er habe das Sträuben des Opfers als bloßes Zieren interpretiert (vis haud ingrata), ist zu widerlegen, sonst ist in dubio pro reo von fehlendem Vorsatz auszugehen“.1403 Wird dieser Auffassung gefolgt, muss das Opfer „die Last des subjektiven, fehlerhaften Weltbilds des Täters“ 1404 und darüber hinaus die Last überkommener und unzutreffender Vorstellungen tragen. In der oben erläuterten Rechtsprechung konnte es nur deshalb zur Anwendung von § 16 I 1 StGB kommen, weil das Bild über die sexuelle Interaktion von Mann und Frau am nicht validen Maßstab der vis haud ingrata gemessen wurde. Eindeutiger Widerstand konnte dadurch als Ziererei abgehandelt werden. Derartige Einlassungen verfestigen antiquierte und verfehlte Vorstellungen über die Rolle der Frau in der sexuellen Interaktion. Eine „sorgfältige Sachverhaltsermittlung“ um „etwaiger richterlicher Leichtgläubigkeit“ entgegenzutreten, ist demnach nicht ausreichend, um ungerechtfertigte Freisprüche bei „wenig nachvollziehbar behaupteten Irrtümern“ zu verhindern.1405 Solange die „ungebrochene Imaginationskraft“ 1406 der fiktiven Verhaltenskonstruktion der vis haud ingrata fortwirkt, wird dies nicht genügen. Der Maßstab eines „vernünftigen Dritten“ 1407 kann demnach nur dann weiterhelfen, wenn dieser Dritte in der Lage ist, die Situation vorurteilsfrei zu bewerten und sich nicht an tradierten Deutungsmustern orientiert. Einen hilfreichen Beitrag zur Revision überkommener Auslegungsmuster stellt daher der Vorschlag dar, aus der Perspektive eines Raubes bzw. einer räuberischen Erpressung zu fragen, ob das Verhalten des Opfers vom Täter als freiwillige Schenkung bewertet werden dürfte.1408 Die Deliktsarten unterscheiden sich zwar, wie oben dargestellt, der Vergleich würde meines Erachtens jedoch erfolgreich verhindern, vorschnell in überkommene Gedankenmuster zu verfallen und in Irrtumsfragen ohne sachlichen Grund unterschiedliche Maßtäbe anzusetzen. Bleibt es dennoch bei einem Tatbestandsirrtum, der verschuldet war, käme gem. § 16 I 2 StGB eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht. Der Rückgriff auf einen durchaus denkbaren Tatbestand einer fahrlässigen sexuellen Nötigung/Vergewaltigung bleibt jedoch verschlossen, weil der Gesetzgeber einen solchen bisher nicht normiert hat. 1402

Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 18. Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 13. 1404 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 364. 1405 Jeweils Gössel, 2005, § 2 Rn. 55. 1406 Jerouschek, JZ 1992, S. 227. 1407 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 358. 1408 Dieser Vergleich stammt von Sick, 1993, S. 168; ebenso MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 62. 1403

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

c) Fahrlässigkeitsstrafbarkeit de lege lata oder ferenda zur Vermeidung ungerechtfertigter Freisprüche? Sowohl Hörnle als auch Jerouschek haben sich mit der Problematik des Irrtums über ein Einverständnis beschäftigt und sich dafür ausgesprochen, ungerechtfertigte Freisprüche über eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit aufzufangen.1409 Die Konzepte unterscheiden sich jedoch erheblich. Ausgangspunkt bei Hörnle ist die Stellung des Opfers, dessen Sicht de lege lata zu wenig Berücksichtigung findet.1410 Wird der Täter unter Anwendung von § 16 I 1 StGB von dem Vorwurf der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung freigesprochen, entfällt insgesamt das Unrechtsurteil.1411 Das Verhalten des Täters wird damit als rechtmäßig bzw. erlaubt bewertet,1412 der Eingriff in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht dagegen als nicht existent, so dass dieser aus Sicht des Opfers letztendlich „akzeptiert“ 1413 werden muss. Die fatale Folge ist, dass die Täter ihr Verhalten nicht hinterfragen müssen.1414 Zu Recht stellt sich deshalb die Frage, ob und wie der Situation de lege ferenda Rechnung getragen werden könnte, wenn der Täter seinen Irrtum vermeiden konnte. Im Hinblick auf das schwerwiegende Unrecht einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ist es inakzeptabel, dass das Opfer die Verletzung seines höchstpersönlichen Rechtsguts ohne strafrechtliche Ahndung des Täterverhaltens hinzunehmen hat und auf zivilrechtliche Schadensersatzansprüche verwiesen wird.1415 Auf Grund der Schwierigkeiten, für das Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung einen einheitlichen Sorgfaltsmaßstab zu entwickeln, will Hörnle nur leichtfertige und damit gerade die absurden Irrtümer ahnden.1416 Sie schlägt eine Regelung durch eine Bestimmung im Allgemeinen Teil vor, wobei sich der Strafrahmen – orientiert an den Vorsatzdelikten des § 177 I, II StGB – nach den Milderungsregeln des § 49 I Nr. 3 StGB richten könnte.1417 Lautet der Vorwurf nur auf leichte Fahrlässigkeit, weil kein oder kein ein1409 Vgl. Hörnle, ZStW 112 (2000); Jerouschek, JZ 1992; dagegen Gössel, 2005, § 2 Rn. 55. 1410 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361. 1411 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 363: Sie plädiert aus Opfergesichtspunkten für eine Differenzierung von Freisprüchen „mangels Unrecht und mangels Schuld“. 1412 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 363. 1413 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 363. 1414 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 364. 1415 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 366. Die fehlende Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wirkt sich u. a. auch in den Fällen des § 303 oder § 242 StGB auf die Interessen des Opfers aus. Hierbei sind die Einbußen jedoch gemessen an der „Schadensdimension und des Grades des Täterverschuldens“ ohne strafrechtliche Ahndung vom Opfer hinnehmbar, was der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete; vgl. S. 365 f. Vgl. in zivilrechtlicher Hinsicht Büchner, 2009. 1416 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 370 ff., 376, 378. 1417 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 380: Bei § 177 I StGB wäre die Mindeststrafe drei Monate Freiheitsstrafe bei § 177 II StGB sechs Monate.

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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deutiger Widerstand aus der Sicht eines „durchschnittlichen Mannes“ erkennbar war, soll Straflosigkeit eintreten.1418 Die Orientierung an der Einsichtsfähigkeit eines durchschnittlichen Mannes löst jedoch keine Probleme. Nachdem eine derartige Regelung „systemwidrig“ 1419 wäre, ist eine derartige Gesetzgebungsinitiative darüber hinaus schwer vorstellbar. Der Vorschlag von Jerouschek, Strafbarkeitslücken bereits de lege lata unter Zuhilfenahme der fahrlässigen Körperverletzung zu schließen, erscheint deshalb vorzugswürdig. Kommt § 177 StGB mangels Vorsatzes nicht zur Anwendung, soll das verbleibende Unrecht durch § 229 StGB aufgefangen werden, eine derartige Vorgehensweise ist nach Jerouschek „geradezu geboten“.1420 Ausgangspunkt ist die unbestreitbare Tatsache, dass bei jeder Vergewaltigung – unabhängig davon, ob sie vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt – die „psychophysische Integrität“ 1421 nachteilig betroffen wird. Der Rückgriff auf § 229 StGB ist somit mehr als naheliegend, so dass man sich unwillkürlich fragt, ob dies nicht bereits gängige Rechtsprechung ist. Die herrschende Meinung, wonach eine körperliche Misshandlung eine „üble, unangemessene Behandlung, durch die das Opfer in seinem körperlichen Wohlbefinden, wenn auch nicht unbedingt durch Zufügung von Schmerzen, so doch in mehr als nur unerheblichem Grade beeinträchtigt wird“,1422 voraussetzt, scheint diese Ansicht zu stützen. Eine fahrlässige Vergewaltigung gegen den Willen des Opfers unterfällt dieser Definition, sie liegt „im traumatisierenden Akt des körperverletzenden-mißhandelnden Übergriffs selbst“.1423 Woran die Einstufung einer Vergewaltigung als Misshandlung im Sinne einer Körperverletzung „scheitern könnte“, ist somit mit Jerouschek „nicht ersichtlich“.1424 Im Folgenden muss daher die Rechtsprechung zum Verhältnis von sexueller Nötigung/Vergewaltigung und Körperverletzung näher betrachtet werden. §§ 223, 229 StGB sind anwendbar und konkurrieren ideal mit § 177 StGB, „sofern das Opfer über die im Vollzug des Geschlechtsverkehrs liegende unangemessene Behandlung hinaus körperlich misshandelt wird“.1425 Liegen Substanzverletzungen vor oder wird das Opfer während der Vergewaltigung defloriert,1426

1418

Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 378. Gössel, 2005, § 2 Rn. 55. 1420 Jerouschek, JZ 1992, S. 229 ff.; 230. 1421 Jerouschek, JZ 1992, S. 229. 1422 Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), § 223 Rn. 3. 1423 Jerouschek, JZ 1992, S. 230. 1424 Jerouschek, JZ 1992, S. 230. 1425 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 5; BGH NJW 1963, S. 1683; BGH NStZ 1995, S. 224 Nr. 20; BGH NStZ-RR 1998, S. 325 Nr. 22; BGH NStZ 2000, S. 419; BGH NStZ-RR 2002, S. 355 Nr. 11. 1426 OLG Frankfurt NJW 1967, S. 2075. 1419

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

ist eine Körperverletzung demnach unstrittig gegeben.1427 Fehlen äußerlich sichtbare Verletzungen, muss auf Grund des „einseitigen somatologischen Rechtsgutsverständnisses“ im Rahmen des § 223 StGB eine „körperliche Auswirkung“ gegeben sein,1428 wenn sich die Beeinträchtigung als psychische darstellt.1429 Oftmals sind auch lang anhaltende gravierende physische und psychische Beeinträchtigungen in Form posttraumatischer Belastungsstörungen1430 die Folge sexueller Übergriffe, so dass auch das Merkmal der Gesundheitsschädigung nahe liegt. Derartige für den Tatbestand der Körperverletzung relevante Beeinträchtigungen werden von der Rechtsprechung jedoch nahezu ignoriert.1431 Darüber hinaus wird der Umstand, dass ein sexueller Übergriff gegen den Willen einer Person bereits für sich allein betrachtet eine körperliche Misshandlung darstellen kann,1432 verkannt.1433 Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2007 macht dies deutlich, wenn ausgeführt wird, dass eine „mehr als unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens i. S. d. Misshandlungsalternative des § 223 I StGB“ an den fehlenden „körperlichen Auffälligkeiten“ und „Verletzungen“ scheitere.1434 Im Ergebnis wäre zwar also bereits de lege lata ein Auffangtatbestand für fahrlässig verschuldete Tatbestandsirrtümer im Rahmen des § 177 StGB gegeben, die Praxis hat jedoch – wie Jerouschek konstatiert – diesen „Weg noch nie beschritten“ und hält „sich damit nicht einmal an ihre eigenen Spielregeln“.1435 Es wäre begrüßenswert, wenn die Rechtsprechung einen Auffassungswechsel vollziehen würde. Verschuldete Irrtümer über das Vorliegen eines Einverständnisses im Rahmen eines sexuellen Übergriffs könnten so gem. § 229 StGB wenigstens teilweise geahndet werden.1436 Mag der „wahre Un-

1427 BGH NJW 1963, S. 1683; OLG Frankfurt NJW 1967, S. 2076; BGH NStZ 1995, S. 224 Nr. 20; BGH NStZ-RR 1998, S. 325 Nr. 22. 1428 Jeweils Sch/Sch-Eser/Sternberg-Lieben, 28. Aufl. (2010), § 223 Rn. 1, 4. 1429 Vorstellbar bei „Ekel und Schmerzen“ durch Oralverkehr; vgl. BGH NStZ 1996, S. 188. 1430 s. Erster Teil: A.III.2. 1431 In BGH NStZ 2007, S. 218 wurde zwar auf die Traumatisierung eingegangen, aber der diesbezügliche Vorsatz des Täters für problematisch angesehen. 1432 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 257; Sick, 1993, S. 309 f. 1433 BGH NStZ 2007, S. 218. 1434 BGH NStZ 2007, S. 218; ebenso OLG München NStZ 2008, S. 632. 1435 Jeweils Jerouschek, JZ 1992, S. 231. 1436 Ebenso Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 14; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 125. Darüber hinaus kann in Einzelfällen auch § 185 StGB gegeben sein, „wenn das Verhalten des Täters wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles über die sonst mit der sexuellen Handlung regelmäßig verbundene Beeinträchtigung hinaus einen Angriff auf die Geschlechtsehre enthält“; vgl. BGHSt 36, 145, (148). § 185 StGB kommt jedoch in der neueren Rechtsprechung keine Auffangfunktion zu. Vgl. ausführlich LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 103 ff. und Zweiter Teil: D.II.2. (Fn. 832).

D. Einverständnis des Opfers und der subjektive Tatbestand

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rechtsgehalt“ 1437 in zahlreichen Fällen dadurch auch nicht adäquat erfasst werden, so ist völlige Straffreiheit in Konstellationen absurder Irrtümer noch unerträglicher.

III. Fazit Dem Urteil von Dessecker, dass das „Konstrukt der einvernehmlichen sexuellen Gewalt“ in der „Judikatur bisher unangemessen breiten Raum“ 1438 einnehme, muss beigepflichtet werden. Der (weiblichen) Opferperspektive wird dadurch auch im subjektiven Tatbestand des § 177 StGB nicht ausreichend Rechnung getragen. Bei einem nicht wehrhaften Verhalten des Opfers „droht“ oftmals „die Fiktion des Einverständnisses durch das Opfer“.1439 Im Rahmen der Entscheidungen wird deutlich, dass sich die Eruierung der inneren Einstellung zu den objektiven Tatbestandsmerkmalen oftmals nicht an der „individuellen Täterpsyche“ orientiert, sondern an „kollektiven Vorstellungen“ 1440 in Bezug auf das Delikt der sexuelle Nötigung/Vergewaltigung.1441 Gerade der subjektive Tatbestand wird damit regelmäßig zum Einfallstor für außerrechtliche Faktoren,1442 so dass eine Revision der von Mythen durchsetzten Alltagstheorien im Zusammenhang mit sexueller Gewalt vonnöten ist. Überlegungen zur Modifizierung des Vorsatzes in § 177 StGB würden sich hierdurch erledigen und die Beweiswürdigung auf eine neue Grundlage gestellt werden. Ohne eine Überprüfung wird es wohl bei den von der Praxis entwickelten Abweichungen im Vorsatzbereich in Form von „Exkulpationsstrategien“ 1443 bleiben. Gegenwärtige Kommentierungen,1444 die den Mythos von der sexuellen Stimulanz der Frau durch die Vornahme von Gewalt bekräftigen bzw. kritiklos übernehmen, sind daher besonders abträglich.1445 Der „tiefere Grund“ 1446 für die Beständigkeit des Bildes von der willkommenen sexuellen Gewalt liegt wohl in der „stumme(n) Macht tradierter Konventionen“ 1447, die die Praxis besonders beim Umgang mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung beeinflusst.1448 Diese Autorität ist, wie im Folgenden gezeigt wird, auch auf Strafzumessungsebene spürbar.

1437 1438 1439 1440 1441 1442 1443 1444 1445 1446 1447 1448

Gössel, 2005, § 2 Rn. 55. Dessecker, NStZ 1998, S. 2; ebenso Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 357. P.-A. Albrecht, 1992, S. 51. Jeweils Sick, 1993, S. 191 Fn. 436. Vgl. dazu die Untersuchung von Abel, 1986, S. 101 ff., 227 ff. Die Untersuchung von Abel, 1986, S. 93 ff., 101 ff. bestätigt dies. MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 59. Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 3. Ebenso kritisch LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 28. Jerouschek, JZ 1992, S. 231. Frommel, ZRP 1988, S. 238. Jerouschek, JZ 1992, S. 231.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

E. Die „Bescholtenheit“ des Opfers – Strafzumessung und minder schwerer Fall als Plattform antiquierter Schuldzuschreibungen I. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hatte die schon im Gemeinen Peinlichen Recht vorgenommene Praxis, die Bescholtenheit des Opfers als strafmildernden Wertungsgesichtspunkt zu behandeln, weitergeführt.1449 Im weiteren Sinne dem Urteil der Bescholtenheit fiel ein Verhalten der Frau anheim, das als Tatprovokation angesehen wurde.1450 Führte ein Irrtum des Täters über das Vorliegen von vis haud ingrata nicht bereits zum Ausschluss des subjektiven Tatbestands, kam eine Strafmilderung in Betracht.1451 Denn es entsprach tradierten Vorstellungen, es als Indiz für einen minder schweren Fall der Notzucht zu werten, wenn sich Täter und Opfer bereits vor der Tat kannten,1452 weil solche Fälle pauschal und täterprivilegierend unter anderem als „vis haud ingrata-nah“ bewertet wurden, insbesondere wenn es schon zu Intimitäten gekommen war.1453 Vor Gericht war es daher üblich, genaue Erkundigungen über den Leumund des Opfers einzuholen, wobei dem sittlichen Verhalten im Rahmen der Lebensführung die tragende Rolle zukam.1454 Nicht selten war die Ansicht, dass es sich bei der Notzucht in den meisten Fällen um Grenzfälle handelte.1455 Deshalb wurde immer wieder gefordert, das gesetzliche Strafmaß der Notzucht herabzusetzen. Zum einen, um der statistischen Realität des Hellfelds gerecht zu werden, zum anderen auf Grund der aufgeworfenen Frage, ob es nicht im Tatbestand des Notzuchtsdeliktes selbst

1449 Vgl. Zweiter Teil: A.II., III. und B.I. sowie die Definition in Sch/Sch, 14. Aufl. (1969), § 182 Rn. 2: „Bescholten ist regelmäßig ein Mädchen, das vorher freiwillig und bewusst den Beischlaf gestattet hat; darüber hinaus begründet aber auch sonstiges in der sittenlosen Gesinnung des Mädchens wurzelndes unzüchtiges Treiben die Annahme geschlechtlicher Bescholtenheit“. Vgl. außerdem die Urteile der Instanzgerichte in den Richterbriefen Boberach, 1975, S. 11 ff. 1450 Dazu Elster/Lingemann, 1936, S. 231 f. 1451 s. Zweiter Teil: B.II.1.b) und Levy, 1932, S. 2 f.; Ort, 1933, S. 37. 1452 Vgl. Levy, 1932, S. 30 f.; oft kam es in derartigen Konstellationen gar nicht erst zur Anklageerhebung. 1453 In Elster/Lingemann, 1936, S. 231 wird ausgeführt, dass in solchen Fällen der Vorwurf der Notzucht mit größter Vorsicht zu behandeln sei. Die Verurteilungen wegen Notzucht in den 1920er Jahren zeigen, dass die Verurteilung zu Zuchthaus, der Regelstrafe des § 177 RStGB, äußerst selten war. So wurden laut der in der Kriminalstatistik von 1926 und 1927 erfassten Fälle rund 1/3 der Angeklagten freigesprochen, 1/10 mit Zuchthaus bestraft, 1/3 zu Gefängnis von drei Monaten bis einem Jahr verurteilt und 1/4 wegen eines minder schweren Falls zu mehr als einem Jahr Gefängnis verurteilt. Vgl. Levy, 1932, S. 3 f. 1454 Vgl. dazu die Aktenanalyse von Hommen, 1999, S. 126 ff. 1455 Vgl. Levy, 1932, S. 3 f.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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liegende Gründe gebe, die diesen „weniger verabscheuungswürdig“ erscheinen ließen.1456

II. § 177 II StGB a. F. – Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bis zum 33. StÄG Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss bei der Frage nach dem Vorliegen eines minder schweren Falls geprüft werden, „ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, welches die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheinen lässt. Hierzu ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen“.1457 Gem. § 177 II StGB a. F.1458 betrug der Strafrahmen hierbei sechs Monate bis zu fünf Jahren, der Regelfall des Absatzes I sah dagegen einen Strafrahmen von 2 bis 15 Jahren vor. Die Anhebung der Freiheitsstrafe des Absatzes I auf „nicht unter zwei Jahren“ erfolgte im Rahmen des 4. StrRG von 1973. Diese „unflexible hohe Mindeststrafe“ 1459 wurde von der Praxis in zahlreichen Konstellationen als zu hoch empfunden.1460 Mindestens1461 ein Drittel aller Verurteilungen zu § 177 StGB a. F. wurden denn auch als „minder schwerer Fall“ eingestuft, so dass von einem Ausnahmestrafrahmen – zumindest vor 1997 – nicht die Rede sein kann.1462 Des Weiteren war der Tatbestand der Vergewaltigung durch eine „richterliche Strafrahmenverengung“ gekennzeichnet, indem die Verhängung von sechs Jahren Freiheitsstrafe wegen einer Verurteilung aus § 177 I StGB äußerst selten war1463 und sich die durchschnittliche Strafe im Regelfall auf drei Jahre und sechs Monate belief.1464 Nach der Untersuchung von Albrecht betrug die Quote des Versuchsanteils bei den 1456

Levy, 1932, S. 6. BGH NStZ-RR 1998, S. 298; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 177 m.w. N. Zur Praxis der Strafzumessung vgl. ausführlich Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012). 1458 In der Fassung ab dem 4. StrRG von 1973. 1459 Frommel, MschrKrim 1985, S. 353. 1460 Steinhilper, 1986, S. 273. 1461 In der Untersuchung von M. Jäger beliefen sich diese Quoten für das Jahr 1986 und 1989 sogar auf 51,6% bzw. 64,7%; vgl. M. Jäger, 2000, S. 248 ff. 1462 H.-J. Albrecht, 1994, S. 293. Vgl. zu den Kategorien des minder schweren Falls die Untersuchung von Abel, 1986, S. 299 ff., 319 ff., 323 ff. sowie LK-Laufhütte, 11. Aufl. (2005), § 177 Rn. 18; Sch/Sch-Lenckner, 25. Aufl. (1997), § 177 Rn. 18 m.w. N. 1463 Hillenkamp, StV 1986, S. 150, 153. Nachgewiesen für die Jahre 1979 bis 1984. 1464 Greger, MschrKrim 1987, S. 261 f. Auch die Untersuchung von Steinhilper belegt das geringe Strafniveau; s. Steinhilper, 1986, S. 50 f., 270 ff. 1457

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

minder schweren Fällen nur 26%, so dass der Versuch keine Determinante für den minder schweren Fall darstellte.1465 Dagegen waren ungefähr die Hälfte der minder schweren Fälle durch das Vorbringen des Täters gekennzeichnet, dass das Opfer mit der sexuellen Handlung einverstanden gewesen sei, und gerade nicht – wie man erwarten könnte – durch ein Geständnis.1466 Die Täter-Opfer-Beziehung spielte die tragende Rolle. Ein Verwandtschaftsverhältnis oder eine (länger andauernde) Beziehung zwischen Täter und Opfer führte in zwei Drittel der Fälle zur Annahme eines minder schweren Falls.1467 Je stärker der Bekanntschaftsgrad war, desto eher wurde auf den minder schweren Fall zurückgegriffen.1468 Der Mythos, dass der Normalfall einer Vergewaltigung ein Fremddelikt sei, schlug hier durch.1469 Auch die viktimologische Forschung bestärkte diese Auffassung, indem es zur Strafmilderung führen sollte, wenn sich „das Opfer vorsätzlich oder fahrlässig in viktimogene Situationen begibt“.1470 „Das Opfer darf den Täter nicht ernstlich in Versuchung führen“.1471 Lagen ein „(unbewußtes) Erwecken von sexuellen Hoffnungen durch das Opfer“ oder vorhergehende sexuelle Beziehungen vor oder strebte der Täter „eine echte Liebesbeziehung“ 1472 an, so führte dies in der Regel zu einem minder schweren Fall.1473 Es fällt auf, dass die Konstellationen der Täter-Opfer-Beziehung entgegen der Erwartungen nicht von „leichteren Deliktsgestaltungen“ geprägt waren.1474 Somit waren nicht das Erfolgs- und Handlungsunrecht für das Vorliegen eines minder schweren Falls ausschlaggebend, sondern die Täter-Opfer-Beziehung stellte die „Schlüsselvariable“ dar.1475 Im Rahmen der Strafzumessung und minder schweren Fälle kam dem Urteil der sogenannten Bescholtenheit über das weibliche Opfer und der Einstufung der Vergewaltigung als Triebdelikt eine zentrale Rolle zu.1476 Dabei spielte 1465

H.-J. Albrecht, 1994, S. 294 f. H.-J. Albrecht, 1994, S. 296. 1467 H.-J. Albrecht, 1994, S. 298. In der Untersuchung von M. Jäger, 2000, S. 252 begründete dieses Verhältnis in 37% der Fälle einen minder schweren Fall. Auch nach der Untersuchung von Greger korrelierte der minder schwere Fall mit der Täter-OpferBeziehung; vgl. Greger, MschrKrim 1987, S. 275. 1468 H.-J. Albrecht, 1994, S. 298. 1469 Diese wurden fast ausschließlich als normale Fälle behandelt; vgl. H.-J. Albrecht, 1994, S. 298. Vgl. dazu auch die Kritik von Kruse/Sczesny, KJ 1993, S. 346. 1470 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 187. 1471 H. J. Schneider, Viktimologie, 1975, S. 187. Der Überfall eines Fremden und der Einsatz roher Gewalt sollten dagegen strafschärfend wirken. 1472 BGH MDR 1963, S. 62; dazu auch Abel, 1986, S. 316 f. 1473 Greger, MschrKrim 1987, S. 262. Daneben waren Alkoholeinfluss und geringe Gewalt relevant. 1474 H.-J. Albrecht, 1994, S. 298, 300 f. 1475 H.-J. Albrecht, 1994, S. 298, 301, 302 f.; ebenso BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 7 f. und Frommel, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 2 f. 1476 Vgl. dazu auch die Aktenanalyse von Abel, 1986, S. 310 ff.; Paul, Kriminalistik 11 (1993), S. 723 und BGH, Beschluss vom 03.02.1989 – 2 StR 530/88. In diesem Kon1466

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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– unabhängig von der konkreten Tat – ganz allgemein das Verhalten des Opfers gegenüber Männern eine maßgebliche Rolle.1477 Wurde dieses als „unsittlich“ eingestuft, bestanden für eine Strafmilderung gute Chancen. Hervorzuheben ist, dass die Strafzumessung auch nach der Neuausrichtung der Schutzfunktion der Tatbestände des 13. Abschnitts durch die Implementierung des neuen Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung im Rahmen des 4. StrRG durch die Kriterien der Geschlechtsehre und Bescholtenheit geprägt war. Die Strafzumessung bildete damit das Einfallstor für eine Verantwortungszuschreibung an das Opfer. Es wurde – zumindest in Teilen – selbst für seine Viktimisierung verantwortlich gemacht.1478 Die seit den 80er Jahren in der Literatur ausgeprägte und differenzierte Diskussion um die sogenannte Viktimodogmatik,1479 die generell auf eine im „Täterinteresse vorgenommene Strafbarkeitseinschränkung“ 1480 abzielt und derartige Einschränkungen auf „unterlassene Selbstschutzmaßnahmen“ 1481 des Opfers stützen will, war im Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung somit stets Rechtsprechungspraxis. Im Folgenden werden typisierte Strafmilderungsgründe dargestellt. 1. Triebstau und sexueller Notstand Der sexuelle Notstand war als Strafmilderungsgrund bis in die neunziger Jahre explizit anerkannt.1482 Strafmildernd wirkte es sich dabei regelmäßig aus, wenn der Täter bei der Tat unter einem „Triebstau“ gelitten hatte, „der sich für ihn als text sind auch Warnungen und Ratschläge, die bis in die 90er Jahre gängig waren, (z. B. in Form von Flugblättern der Polizei) gegenüber Frauen zu sehen, von bestimmten Verhaltensweisen, wie u. a. dem Tragen bestimmter Kleidung und dem Aufsuchen von Gaststätten ohne Begleitung, abzusehen. Wurden diese Verhaltensregeln nicht eingehalten, wurde dies dem Opfer regelmäßig in der Urteilsbegründung vorgeworfen. Der Inhalt präventiver Verhaltenstipps hat sich inzwischen deutlich geändert; s. dazu http:// www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/sexualdelikte/sexuelle-gewalt-gegen-frauen/ tipps.html#section_4. 1477 Vgl. den abgelehnten Beweisantrag des Verteidigers in BGH, Urteil vom 07.11. 1972 – 1 StR 483/72: „Die weitere Aufklärungsrüge, die das Fehlen von Ermittlungen über das Verhalten der Zeugin B. Männern gegenüber beanstandet, ist mangels einer bestimmten Beweisbehauptung und der Angabe des erwarteten Beweisergebnisses unzulässig“. 1478 Hillenkamp, StV 1986, S. 151; Steffen, 1987, S. 80 ff. 1479 Dieser Begriff wurde von Hillenkamp, 1981, S. 17 eingeführt; dazu gleich unter VI.1. 1480 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361. 1481 Hörnle, GA 2009, S. 626; dazu auch Hillenkamp, StV 1986, S. 152 f. 1482 BGH, Urteil vom 18.10.1979 – 4 StR 517/79; BGH MDR 1980, S. 240; BGH, Beschluss vom 20.2.80 – 3 StR 36/80; BGH, Beschluss vom 10.4.80 – 3 StR 119/80; BGH, Beschluss vom 30.12.1980 – 3 StR 490/80; BGH, Urteil vom 01.10.82 – 2 StR 218/82; BGH, Urteil vom 08.08.1984 – 3 StR 256/84; Sch/Sch-Lenckner, 25. Aufl. (1997), § 177 Rn. 17; ablehnend BGH StV 1993, S. 521. Vgl. auch Sick, ZStW 103 (1991), S. 66 ff.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

„sexueller Notstand“ 1483 darstellte. Die Vorstellung von einem „übermächtigen Trieb“ wirkte sich damit strafmildernd aus.1484 2. Tatprovokation – Vorhergehende (intime) Beziehung Auf Grund der Einordnung der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung als Triebdelikt stellt die sexuelle Tatprovokation einen oftmals anzutreffenden strafmildernden Faktor dar. Hierbei wurde der Frau vorgeworfen, die Tat provoziert zu haben, „sei es auch ungewollt“.1485 Der Täter wurde entlastet, weil die unzutreffende Vorstellung von einer „sexuellen Spannung“, die zu einer Beschränkung der „Handlungsfreiheit“ 1486 führte, vorherrschte. Die Täterperspektive war hierbei maßgebend: „Ein minder schwerer Fall der Vergewaltigung kommt namentlich dann in Betracht, wenn das Opfer dem Täter Anlaß zur Tat gegeben hat. Maßgebend ist dabei, wie der Täter das Geschehen beurteilen durfte“.1487 Der Widerstand des Opfers spielte deshalb eine bedeutende Rolle.1488 Eine Provoka1483

Jeweils BGH, Urteil vom 18.10.1979 – 4 StR 517/79. Abel, 1986, S. 310; vgl. hierzu deren Aktenanalyse, S. 310 ff. 1485 BGH NStZ 1981, S. 222. Präventive polizeiliche Verhaltenstipps lauteten entsprechend: „Kleiden und verhalten Sie und ihre Tochter sich so, daß sich kein Mann eingeladen fühlt?“; vgl. Schäfer, Kriminalistik 1982, S. 383. 1486 Jeweils BGH NStZ 1981, S. 222. 1487 BGH NStZ 1981, S. 222. 1488 Vgl. u. a. BGH MDR 1963, 62: „Auf jeden Fall hat das Mädchen, trotz seiner ständig gegenteiligen Erklärungen doch, wenn auch vielleicht unbewusst mit dem Feuer gespielt. Dies alles konnte das letzte brutale Vorgehen des jungen Mannes, so verwerflich es war, doch menschlich irgendwie verständlich erscheinen lassen“.; BGH, Urteil vom 14.10.1981 – 3 StR 215/81: „. . . der Umstand, dass der Angeklagte seine frühere Freundin bei der ersten Tat körperlich mißhandelt, sie gegen erkennbaren Widerstand ausgezogen, angeherrscht und bedroht hat, schließt nicht aus, daß er, ,in weitaus stärkerem Umfang mit eigenen moralischen Hemmungen konfrontiert worden‘ wäre, ,wenn U mehr körperlichen Widerstand gezeigt und geschrien hätte‘. Dies gilt auch dann, wenn dem sensiblen und zarten und eingeschüchterten Mädchen ein stärkerer körperlicher Widerstand oder wenigstens laute Hilferufe nicht möglich gewesen wären“; in BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 findet sich derselbe Wortlaut und dieselbe Wertung wieder. BGH StV 1986, 149 f.; BGH, Urteil vom 25.04.1991 – 4 StR 110/91; BGH, Beschluss vom 01.09.1993 – 4 StR 495/93: „So berücksichtigt (das LG) insbesondere nicht, daß die Verfehlung des Angeklagten als Spontantat zu werten ist, die sich aus einer – zumindest aus der Sicht des Angeklagten – erotisch gefärbten Beziehung zwischen Täter und Opfer zur Tatzeit ergeben hat. Zudem hat die später geschädigte Bettina P. – wenn auch unbeabsichtigt – mit ihrem Verhalten nicht unerheblich zu einer Fehleinschätzung der Situation durch den Angeklagten beigetragen. So hatte sie zunächst den Angeklagten in einer Gaststätte getroffen, um gemeinsam mit ihm den Abend zu verbringen. Auf ihre Veranlassung suchten beide später die Wohnung des Angeklagten auf, um dort Musik zu hören. Nachdem Bettina P. Schuhe und Jacke abgelegt hatte, begann sie nach der Musik zu tanzen. Auch wenn sich die Geschädigte im Hinblick auf ihre langjährige lose Bekanntschaft mit dem Angeklagten, in der es bislang zu keinen sexuellen Kontakten gekommen war, hierbei völlig arglos verhielt, so ist doch nachvollziehbar, daß der Angeklagte sich durch das Verhalten der Frau stimuliert fühlte 1484

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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tion und damit ein Mitverschulden wurden in sozial adäquaten Verhaltensweisen wie der bloßen Unterhaltung oder dem Begleiten eines Mannes in seine Wohnung gesehen.1489 Derartige Verhaltensweisen wurden für eine Frau als unangemessen eingestuft. Überkommenes Sittlichkeitsdenken war hier von großem Einfluss. Durch die Bewertung eines derartigen Verhaltens als tatprovozierend wurde der Prozess dazu genutzt, das sexuelle Vorleben des Opfers zu sezieren und auf angeblich unmoralische und für die konkrete Tat irrelevante Aspekte hin zu untersuchen. Die Rechtsprechung war äußerst kreativ, wenn es um eine Entschuldigung für das Verhalten des Täters ging, wie unter anderem das folgende Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24.01.1990 exemplarisch zeigt.1490 Die Geschädigte verdiente sich als Aktmodell Geld und sollte am Tattag von dem Betreiber der vermittelnden Agentur zu einem Kunden gefahren werden. Auf dem Weg suchte dieser jedoch einen Waldparkplatz auf und zwang sie mit einem Fahrtenmesser dazu, geschlechtlich mit ihm zu verkehren, danach Mundverkehr mit ihm auszuüben und sich schließlich in unbekleidetem Zustand von ihm fotografieren zu lassen. Die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens war hier nach Ansicht des Gerichts geboten, da der sexuellen Tatprovokation durch das Opfer eine maßgebliche Rolle zugesprochen wurde. Diese wurde in dem Umstand gesehen, dass das Opfer Aktmodell stand. Dadurch sei die „Hemmschwelle des Täters im sexuellen Bereich herabgesetzt“ 1491 worden. Hervorzuheben ist, dass die Tat ausweislich der Urteilsfeststellungen bereits Tage vorher geplant war. Wer bei einer im Voraus geplanten Tat von einer Provokation und Verführung durch das Opfer spricht, argumentiert sachwidrig und verfälscht den Interaktionsprozess der Beteiligten.1492 Darüber hinaus ist es absurd, aus der Tätigkeit als Aktmodell eine Tatprovokation zu konstruieren. Der sexuelle Triebstau als Tatverursacher sowie die gedankliche Prägung durch die Konstruktion der vis haud ingrata bewirkten, dass jede Art von TäterOpfer-Beziehung, selbst wenn diese rein freundschaftlich war, als ein Indiz für das Vorliegen eines minder schweren Falls behandelt wurde.1493 Führten vorherund sich Hoffnung auf die Aufnahme intimer Kontakte machte. Zwar vermag dies nicht zu entschuldigen, daß er den Geschlechtsverkehr mit der Geschädigten erzwang, nachdem er nach erstem Körperkontakt den entgegenstehenden Willen der Frau erkannt hatte, läßt seine Tat jedoch in milderem Licht erscheinen“. 1489 BGH StV 1986, S. 149 mit kritischer Anm. Hillenkamp, S. 150 ff. Dieser Beschluss zeigt eine Verdrehung der Feststellungen der Erstinstanz, indem das Opfer als aktiv und tatinitiierend dargestellt wird; ders., S. 151 f. Anders OLG Frankfurt am Main StV 1988, S. 389. 1490 BGH, Urteil vom 24.01.1990 – 2 StR 548/89 = BGH NStE Nr. 23 zu § 177 StGB. 1491 BGH NStE Nr. 23 zu § 177 StGB. 1492 Ebenso Hillenkamp, StV 1986, S. 152. 1493 BGH MDR 1963, S. 62; BGH NStZ 1982, S. 26; BGH NStZ 1983, S. 119; BGH NStZ 1988, S. 126; BGH, Beschluss vom 04.06.1993 – 3 StR 204/93; BGH, Beschluss vom 01.09.1993 – 4 StR 495/93.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

gehende intime Beziehungen im subjektiven Tatbestand im Rahmen eines Tatbestandsirrtums nicht bereits zum Tatbestandsausschluss, fanden sie beim minder schweren Fall in der Regel Berücksichtigung. Und zwar immer dann, wenn es „nachvollziehbar“ war, „daß der Angeklagte sich durch das Verhalten1494 der Frau stimuliert fühlte und sich Hoffnung auf die Aufnahme intimer Kontakte machte.“ 1495 Insgesamt betrachtet ließ sich zwar dadurch die gewaltsame Erzwingung des Geschlechtsverkehrs nicht entschuldigen, aber die Tat „in milderem Licht erscheinen“.1496 Die männliche Triebhaftigkeit wurde als ein unkontrollierbares Ereignis behandelt, mit der Konsequenz, dass Frauen eine Einschränkung ihres Handlungsspielraums abverlangt wurde.1497 Bestimmte Situationen waren zu meiden, weil die Beziehung zwischen Mann und Frau auf das sexuelle reduziert wurde. Begab sie sich dennoch in eine solche Situation, lag der Schluss nahe, dass ein sexueller Kontakt erwünscht war.1498 Die Frau wurde also quasi zur „Überwachergarantin“ der männlichen Sexualität bzw. Aggression erklärt1499 anstatt den Mann zur Kontrolle seines Verhaltens zu verpflichten. 3. Vergewaltigung von Prostituierten Der fortwirkende Einfluss der sogenannten Bescholtenheit des weiblichen Opfers im Rahmen der Strafzumessung zeigt sich insbesondere bei der Vergewaltigung von Prostituierten.1500 Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs folgte aus „dem Schutzzweck“ des § 177 StGB „ein sehr erheblicher Unterschied“ im Schuldumfang, je nachdem, „ob eine unbescholtene Frau oder ob eine Prostituierte, die sich allgemein Männern gegen Entgelt zum Beischlaf und zu unzüchtigen Handlungen hinzugeben pflegt, das Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens wird“.1501 Die Beurteilung der Vergewaltigung erfolgte hierbei unter Ausblendung der wahren Deliktsnatur. Prostituierte wurden zu minderen Vergewaltigungsopfern gemacht, weil – in Fortführung des Gemeinen Rechts und beispielsweise auch des ALR – der Fokus des Delikts auf den Verlust der Geschlechtsehre gelegt wurde.1502 Selbst nachdem im Rahmen des 4. StrRG von 1973 das neue 1494

Bloßes Tanzen in der Wohnung des Täters. BGH, Beschluss vom 01.09.1993 – 4 StR 495/93. 1496 BGH, Beschluss vom 01.09.1993 – 4 StR 495/93; vgl. auch BGH, Urteil vom 19.10.1993 – 1 StR 601/93. 1497 Abel, 1986, S. 324 f. 1498 Abel, 1986, S. 325. 1499 Ebenso Steffen, 1987, S. 19 ff. 1500 BGH, Beschluss vom 18.04.1973 – 4 StR 135/73; BGH StV 1995, S. 635; BGH, Beschluss vom 03.01.1995 – 4 StR 723/94; BGH StV 1996, S. 26 f.; dagegen BGH, 29.06.1971 – 5 StR 235/71 und BGH NStZ-RR 1998, S. 326. 1501 Jeweils BGH, Beschluss vom 18.04.1973 – 4 StR 135/73. 1502 Teilweise führte die Prostituierteneigenschaft bereits zu einem völligen Tatbestandsausschluss: BGHSt 21, 188 verneinte den Tatbestand des § 236 I StGB a. F., weil 1495

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung implementiert worden war, galt für Prostituierte weiterhin nur ein eingeschränkter Strafrechtsschutz durch § 177 StGB. Als Grundlage für die Annahme eines minder schweren Falls wurde „die grundsätzliche Bereitschaft des Tatopfers zu sexuellen Handlungen“ 1503 fruchtbar gemacht. Dieser Umstand sei „regelmäßig ein für die Beurteilung des Schuldgehalts der Tat bestimmender Umstand“.1504 Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht soll in diesen Konstellationen also weniger betroffen sein, weil das Opfer mit dem späteren Täter einen Dienstvertrag über sexuelle Handlungen abgeschlossen hat, egal, unter welchen Bedingungen im Anschluss daran die sexuelle Handlung erzwungen wird.1505 Dahinter steht der unzutreffende Gedanke, dass es eine Prostituierte gewohnt ist, verschiedenste sexuelle Handlungen zu erbringen, so dass die gewaltsame Erzwingung als weniger gravierend bzw. überhaupt nicht als Eingriff empfunden wird. Der Einsatz der Gewalt wird demnach völlig verkannt. Roxin kritisiert die oben angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs1506 zutreffend, indem er ausführt, dass in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall in das Selbstbestimmungsrecht des Opfers, nämlich in die Freiheit, über die Voraussetzungen, den Ort sowie die Art und Weise der sexuellen Betätigung selbst zu entscheiden, auf die „massivste überhaupt denkbare Weise eingegriffen“ wurde.1507 Jegliche moralische Wertungen lehnt er zu Recht ab.1508

III. Der minder schwere Fall in der Reformdiskussion und der Gesetzgebung ab 1945 1. Die Entwürfe von 1959, 1960, 1962 In den Entwürfen von 1959, 1960 und 1962 war im Tatbestand der Notzucht jeweils in den Absätzen II ein minder schwerer Fall vorgesehen, der statt Zuchtdas Opfer eine Prostituierte war. Denn schließlich schütze „§ 236 Abs.1 StGB mit seiner hohen Mindeststrafe die Freiheit der Frauen im geschlechtlichen Umgang überhaupt, nicht eine damit verbundene Erwartung einer Belohnung in Geld“. Zustimmend Rejewski, JR 1967, S. 339 und Schroeder, der verkennt, dass in diesen Konstellationen eben sehr wohl ein „Eingriff in die Intimsphäre“ stattfindet und nicht eine bloße „Verweigerung der Bedingungen“; vgl. Schroeder, 1975, S. 27. Dagegen Sch/Sch-Eser, 21. Aufl. (1982), § 237 Rn. 3; Schröder, JR 1967, S. 226 f. 1503 BGH, Beschluss vom 03.01.1995 – 4 StR 723/94. So auch Hanack, 1969, Rz. 72, der die Mindeststrafe von einem Jahr in diesen Fällen als zu hoch kritisierte. 1504 BGH, Beschluss vom 03.01.1995 – 4 StR 723/94. 1505 Gemäß Schroeder, 1975, S. 27 entfällt hier bereits der Tatbestand der §§ 177, 236 a. F. StGB. Schließlich werde die „bloße Freiheit, über die Voraussetzungen oder den Ort der sexuellen Betätigung“ zu entscheiden, von den Tatbeständen der §§ 177, 236 StGB a. F. nicht geschützt, sondern nur die sexuelle Freiheit. 1506 BGHSt 21, 188. 1507 Roxin, NJW 1967, S. 1286 f. 1508 Roxin, NJW 1967, S. 1286 f.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

haus bis zu zehn Jahren Gefängnis von einem bis zu fünf Jahren vorsah. Ausgeschlossen war ein minder schwerer Fall bei einem gemeinschaftlichen oder hinterlistigen Überfall. Hintergrund war wohl die Überzeugung, dass in diesen Konstellationen auf Grund der Übermacht der Täter unzweifelhaft der Nötigungserfolg nicht auf der „Nachgiebigkeit“ des Opfers beruhte. Der hinterlistige Überfall stand für das klassische Bild einer Vergewaltigung und unterfiel somit der Regelstrafe. Mit Ausnahme dieser eindeutigen Konstellationen, bestand jedoch darüber Konsens, dass es „im Bereich der Notzucht“ zahlreiche Fälle gab, „in denen der Schuldvorwurf“ „nicht besonders schwer wiege, weil die Frau ihn durch ihr Verhalten zur Tat veranlasst oder gereizt hat“. Darunter fasste man die Fälle, die sich „an der Grenze der sogenannten vis haud ingrata“ bewegten und diejenigen, „in denen die Frau schuldhaft das Verhalten des Täters provoziert hat“.1509 2. Der Alternativentwurf von 1968 Der AE von 1968 spiegelt die Rechtsprechung zum minder schweren Fall eindrucksvoll. Schon Hanack hatte betont, dass viele sexuelle Attacken durch die Frau „in erheblicher Weise provoziert“ seien und dass diese „sogar in ihrem Verhalten sexuell entgegenkommend“ sei.1510 Sowohl im Tatbestand der sexuellen Nötigung als auch der Vergewaltigung sollte deshalb das Verhalten des Opfers und die Beziehung der Beteiligten vor der Tat bestimmend für das Strafmaß sein, im Tatbestand der sexuellen Nötigung konnte sogar von Strafe abgesehen werden.1511 Die Kritik am E 1962, dass dieser die Notzucht als „zuchthauswürdig“ eingestuft hatte, fügt sich hier nahtlos ein. Die „Wirklichkeit“ zeigte nach Ansicht der Verfasser des AE, dass es sich oftmals nicht um „Hochkriminalität“ handele, weshalb ja auch die minder schweren Fälle geschaffen worden seien.1512 Nach der Begründung des AE war der Absatz II des Tatbestands der Vergewalti-

1509 Lackner in der 80. Sitzung vom 25.04.1958, 1959, S. 168. Ebenso der Entwurf eines Strafgesetzbuches. E 1962 mit Begründung,1962, S. 361 f. 1510 Jeweils Hanack, 1969, Rz. 55. 1511 Vergewaltigung (1) Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf nötigt, wird mit . . . bestraft. (2) Hat die Verletzte durch ihr Verhalten Anlaß zur Tat gegeben oder liegen wegen ihrer Beziehung zum Täter erheblich mildernde Umstände vor, ist die Strafe . . . Sexuelle Nötigung (1) Wer einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, außereheliche sexuelle Handlungen von einiger Erheblichkeit an sich zu dulden oder an sich oder anderen vorzunehmen, wird mit . . . bestraft. (2) Hat das Opfer durch sein Verhalten Anlaß zur Tat gegeben oder liegen wegen seiner Beziehung zum Täter erheblich mildernde Umstände vor, kann von Strafe abgesehen werden. (3) Im Falle des Absatzes 1 ist der Versuch strafbar. 1512 Leferenz, ZStW 77 (1965), S. 389.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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gung als „benannter Strafänderungsgrund“ 1513 gedacht. Der Absatz II der sexuellen Nötigung eröffnete sogar die Möglichkeit des Absehens von Strafe, weil „im Hinblick auf das dem Opfer abgeforderte Verhalten Fälle häufig“ seien, in denen „ein Strafbedürfnis überhaupt nicht“ existiere.1514 Die jeweiligen Alternativen 1 der Absätze II1515 erfassten die „sehr häufige Situation, daß das Opfer den Täter zur Gewaltanwendung provoziert hat“.1516 Das sei „beim Charakter des Delikts grundsätzlich nur denkbar, wenn die Frau durch ein entsprechendes sexuelles Verhalten zur Tat Anlaß gegeben hat“.1517 Oftmals fielen darunter Konstellationen, „in denen es zu einverständlichen körperlichen Zärtlichkeiten gekommen ist, die als vorbereitendes Stadium eines späteren Geschlechtsverkehrs erscheinen konnten; doch ist eine solche Provokation im Einzelfall auch durch massives und gewissermaßen zielgerichtetes sexuelles Anreizen anderer Art möglich“.1518 Betont wurde, dass der Absatz II keinesfalls dazu benutzt werden dürfe, entgegen dem „Grundsatz in dubio reo“ Zweifel am Vorsatz des Täters nicht ausreichend zu würdigen.1519 Die Alternative 2 des Absatzes II sollte „intime Beziehungen“ zwischen Täter und Opfer „vor der Tat“ berücksichtigen, „die die Tat weniger schwerwiegend erscheinen lassen“.1520 Es sei „nicht angemessen, z. B. die Vergewaltigung einer Frau, die mit dem Täter monatelang einverständlichen Geschlechtsverkehr gepflogen hat, ebenso zu bestrafen, wie die an einer ihm Unbekannten begangenen Tat“.1521 Hanack kritisierte es deshalb auch als Wertungswiderspruch, dass „die Vergewaltigung der Dirne“, die mit dem Täter vor der Tat „Zärtlichkeiten“ ausgetauscht und „mit ihm schon früher Geschlechtsverkehr hatte“ als Notzucht behandelt werde, ein Tatbestand der „ehelichen Notzucht“ jedoch nicht angedacht worden sei.1522 Die dem Absatz II unterstellten Taten wurden insgesamt eher als „sexualbezogenes“ 1523 Verhalten beurteilt, denn als kriminelles Unrecht. Vorhergehende „intime Sexualbeziehungen“ ließen „im Einzelfall eine Gewaltanwendung kaum noch als Vergewaltigung der freien Selbstbestimmung erscheinen“ und „schon gar nicht als Verletzung der Geschlechts-

1513

Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 15. 1515 Für die Auslegung des Absatzes II der sexuellen Nötigung wurde auf die Begründung des Absatzes II der Vergewaltigung verwiesen; vgl. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 15. 1516 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11. 1517 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11. Vgl. dazu auch Hanack, 1969, Rz. 67. 1518 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11. 1519 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 11. 1520 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. 1521 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. 1522 Jeweils Hanack, 1969, Rz. 67, 72. 1523 Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. 1514

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

ehre“.1524 Der Versuch sollte in diesen Fällen so auch straflos bleiben, weil sich eine Abgrenzung „vom mehr oder weniger sozial- oder milieuüblichen Werben diskutabel nicht mehr“ bewerkstelligen lasse.1525 Entgegen dem E 1962 sollte eine Strafmilderung auch bei einer „sog. Gruppen- oder Kettennotzucht“ in Betracht kommen. Auf Grund „der neueren Forschung“ würden derartige Taten in der Mehrzahl von „pubertätsverwirrten jungen Männern begangen“, wobei die Taten oftmals „aus sexuellen Spielereien“ entstünden und die Betroffenheit des Opfers „zu einem überwiegenden Prozentsatz geringer“ ausfalle als bei der Vergewaltigung durch einen Einzeltäter.1526 Laut dem AE wurde eine „Differenzierung nach dem sozialen oder moralischen Wert des Opfers“ abgelehnt,1527 letztendlich spielte das sittliche Verhalten jedoch weiterhin eine maßgebende Rolle, indem jede Tat auf eine sexuelle Provokation hin untersucht wurde. Das Streben Hanacks nach „einer unreflektiert-emotionalen Betrachtung des Sexualstrafrechts“ sowie „überkommenen Denkschemen“ 1528 sowie „festeingefahrenen alten empirischen Vorurteilen“ 1529 entgegenzutreten, muss insoweit als gescheitert bewertet werden. In den Vorschriften des AE wurden vielmehr die Fehlvorstellungen im Zusammenhang mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung weiter verfestigt und insbesondere auch im Normtext fest geschrieben. 3. Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1973 Durch dieses Reformgesetz wurde der bisher schon bestehende minder schwere Fall in § 177 II StGB beibehalten, das Mindeststrafmaß jedoch deutlich, nämlich auf sechs Monate Freiheitsstrafe gesenkt. Als minder schwer ordnete der Gesetzgeber in Anlehnung an den AE von 1968 und die Ausführungen Hanacks in seinem Gutachten die Tatprovokation durch das Opfer und eine bestimmte Beziehung der Beteiligten ein. Insbesondere bei vorangehenden „einverständlichen sexuellen Handlungen“, die aus Sicht des Täters „als Vorbereitung zum Geschlechtsverkehr“ gedient hatten, wurde eine Tatveranlassung der Verletzten diskutiert. Darüber hinaus sei „eine Provokation des Täters“ jedoch „auch auf andere Weise vorstellbar“. Entgegen dem AE wollte der Reformgesetzgeber des 4. StrRG den minder schweren Fall aber explizit nicht durch Fallgruppen einengen.1530

1524 1525 1526 1527 1528 1529 1530

Hanack, 1969, Rz. 67. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. Jeweils Hanack, 1969, Rz. 74. Baumann/Brauneck/Grünewald, 1968, S. 13. Hanack, 1969, S. 11. Hanack, 1969, S. 26. BT-Drs. VI/3521 S. 40.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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IV. Zwischenergebnis Im Rahmen des § 177 StGB a. F. wurden das Verhalten und der sittliche Wert des Opfers sowie die Täter-Opfer-Beziehung bei der Strafzumessung zu den maßgeblichen Entscheidungsparametern erklärt.1531 Die an das Opfer gestellten Verhaltenserwartungen erinnern an sittliche Anschauungen bzw. Anforderungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.1532 Die männliche Täterperspektive bestimmte, ob das fragliche Verhalten als entgegenkommend beurteilt werden durfte.1533 In der Strafzumessung fanden somit vornehmlich extralegale Faktoren, „deren Verwertung in der Entscheidung ausgeschlossen sein sollte“,1534 regelmäßig Berücksichtigung. Um „rational durchstrukturierte Strafzumessungskategorien“ 1535 handelt es sich hierbei nicht. Der zwingend einzuhaltende Grundsatz in dubio pro reo erhielt auf Grund „fragwürdiger Kriterien“ vielmehr einen „weiten Anwendungsbereich“, so dass der Grundsatz sich teilweise in ein „in dubio contra victimam“ verkehrte.1536 Die Täter-Opfer-Beziehung, die bereits bei der Frage der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft eine große Rolle spielte,1537 wurde aus „alltagstheoretischer Sicht“ als ein „Kriterium der Glaubwürdigkeit“ behandelt,1538 so dass in beweisschwierigen Fällen die Intensität dieser Beziehung auch auf Gerichtsebene als „informelle Beweisregel“ oftmals zu einem Freispruch oder zumindest zu einem minder schweren Fall führte.1539 Ebenso verhielt es sich mit Konstellationen, in denen vor der Tat Intimitäten stattgefunden hatten, weil es dem Täter auf Grund dieses Umstands zugestanden wurde, insgesamt auf ein Einverständnis mit dem später erzwungenen Geschlechtsverkehr zu schließen.1540 War das potentielle Opfer schlecht beleumun-

1531 So auch Hanack, 1969, Rz. 67 für die Rechtsprechung bis 1969. Vgl. Hillenkamp, StV 1986, S. 154, der jegliche Strafmilderung auf Grund Bescholtenheitserwägungen im weiteren Sinne ablehnt. 1532 Vgl. auch Hillenkamp, StV 1986, S. 152: „Wer solche Umdeutungen befördert, setzt sich selbst dem Verdacht aus, das vorurteilsbefrachtete Bild der Väter gegen die mittlerweile besser erforschte Wirklichkeit auch dort zu verteidigen, wo seine verfälschenden Zeichnungen offenbar werden“. 1533 Ebenso Steinhilper, 1986, S. 277. 1534 H.-J. Albrecht, 1994, S. 199. 1535 Hillenkamp, StV 1986, S. 154. 1536 Steinhilper, 1986, S. 338 f. Vgl. das Interview mit einem Polizeibeamten bei Steffen, 1987, S. 88 ff. 1537 Nach der Untersuchung von Steinhilper lag die Quote der Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft bei Taten, in denen sich Täter und Opfer überhaupt nicht kannten bei lediglich 14% (im Vergleich zu 49% bei enger Vorbeziehung und 42% bei loser Vorbeziehung), so dass sich die Täter-Opfer-Beziehung schon im Ermittlungsstadium signifikant auswirkte; vgl. Steinhilper, 1986, S. 192 ff. 1538 Steinhilper, 1986, S. 193 f., 327. 1539 Steinhilper, 1986, S. 243 ff., 338. 1540 Steinhilper, 1986, S. 194 f. Die Einstellungsquote lag in diesen Fällen bei 60%.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

det, war bereits die Einstellungsquote hoch.1541 Ein Grund hierfür liegt in der damals noch weit verbreiteten einseitigen und unzutreffenden Ansicht, dass die Sexualdelikte der „sexuellen Triebbefriedigung“ dienten und der „Sexualtrieb als leiblicher Trieb“ monokausal für die Begehung einer Notzucht verantwortlich sei.1542 In Konsequenz ging man davon aus, dass der sexuelle Trieb das Tatgeschehen vollkommen beherrschte und jede Willenssteuerung durch den Täter ausgeschlossen war. Sexuelle Attacken waren demnach stets spontane Affekttaten bzw. triebgesteuerte Kurzschlusshandlungen.1543 Des Weiteren galt als echte „zuchthauswürdige“ Vergewaltigung nur die klassische Vergewaltigung durch einen fremden Täter unter Einsatz von roher Gewalt. Man erkannte zwar, dass sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen oftmals als Beziehungstat vonstatten gingen, maß diesen Konstellationen aber minderes Unrecht bei, weil jeder sexuellen Interaktion zwischen Mann und Frau ein gewisser Gewaltcharakter zugesprochen wurde. Man deutete derartige Taten eher als sexualbezogenens Geschehen, wobei der Mann entweder von der Frau zur sexuellen Aggression gereizt worden war oder aber auf Grund einer bestehenden intimen Beziehung die Tat eher als vis haud ingrata-nah beurteilt wurde. Derartige Taten wurden „als nicht so schlimm“ und als „Gentleman-Delikt“ eingeordnet.1544 Der Strafmilderungsgrund der vorhergehenden Intimbeziehungen deutet darüber hinaus auf den fortwirkenden Einfluss des Rechtsguts der Geschlechtsehre hin. Diese kann einer Frau durch einen Täter, mit dem sie schon intim war, nicht mehr genommen werden. Des Weiteren verliert jede Frau, wie es scheint, durch die Vornahme einverständlicher sexueller Handlungen ein Stück ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechts für die Zukunft. Die erzwungene sexuelle Interaktion mit einem „körperlich vertrauten“ Täter wird von der Qualität her ferner nicht so gravierend eingestuft, sondern bagatellisierend quasi als sexuelle Handlung plus ein bisschen Gewalt verstanden. Als Erklärungsversuch für die übermäßige Anwendung des minder schweren Falls mag die nach der alten Fassung drohende Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren dienen. Dieser Umstand kann jedoch nicht entschuldigen, dass Begründungsinhalte von außerrechtlichen und irrelevanten bzw. illegitimen Erwä-

1541

In der Untersuchung von Steinhilper, 1986, S. 198 betrug sie 69%. Jeweils Leferenz, ZStW 77 (1965), S. 379. Ebenfalls auf den „Triebcharakter“ des menschlichen Sexus verweisend Eser, in: Juristische Analysen 2, 1970, S. 218. Lange kritisierte die These vom „kausal reduzierten Handlungscharakter bei den Sexualdelikten“ als „Teilwahrheit“ und wies darauf hin, dass die Taten oftmals auch von langer Hand geplant seien; vgl. Weber, JZ 1965, S. 505. 1543 Leferenz, ZStW 77 (1965), S. 381 f. Von der Maßnahme der „Entmannung“ versprach man sich deshalb einen großen kriminalprophylaktischen Erfolg; vgl. Leferenz, ZStW 77 (1965), S. 385. Kritisch Hanack, 1969, S. 17 f. 1544 Helmken, 35. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestags vom 06.12.1995, S. 30. 1542

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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gungen getragen werden.1545 Die in seinem Gutachten zum Sexualstrafrecht im Jahre 1968 geäußerte Kritik von Hanack, dass Richter dazu neigen „das Unmoralische im Zweifel auch als strafbar anzusehen“,1546 verkehrte sich bei der Strafzumessung zur sexuellen Nötigung/Vergewaltigung insoweit ins Gegenteil, dass hierbei eine Mitschuld des Opfers konstruiert wurde, um den Täter auf der Strafzumessungsebene zu entlasten. Wie Hanack jedoch zu Recht ausführt, kommt dem Gericht nicht die Funktion einer „moralischen Instanz“ 1547 zu, es hat über Rechtsgutsverletzungen zu entscheiden und darüber, ob eventuell je nach Stärke und Intensität dieser Verletzung ein milderes Unrecht verwirklicht ist. Die Verurteilung eines Verhaltens des Opfers als unmoralisch darf jedoch nicht zu Strafmilderungen führen.

V. Der „minder schwere Fall einer Vergewaltigung“ in § 177 StGB n. F. nach dem 33. StÄG 1. Einführung Im Zuge der Reformdiskussionen zum 33. StÄG war das Institut des minder schweren Falls starker Kritik ausgesetzt.1548 Die oben erörterte Praxis der Rechtsprechung, vom minder schweren Fall insbesondere dann Gebrauch zu machen, wenn das Verhalten des Opfers als „unehrenhaft“ oder „provokativ“ eingestuft wurde, führte zur Forderung, den minder schweren Fall ganz zu streichen.1549 Der Rechtsprechung wurde zum Vorwurf gemacht, mit dieser Praxis „das fehlende Unrechtsbewusstsein“ zu legitimieren und „herrschende Vorurteile“ 1550 zu untermauern. Der minder schwere Fall sei „durch die Rechtsprechungspraxis der Vergangenheit so diskreditiert – denn dieser Begriff transportiert die ganze Ungerechtigkeit, die vergewaltigte Frauen in diesem Zusammenhang widerfahren ist“.1551 Daneben wurde aber auch „im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit“ 1552 für die Beibehaltung des minder schweren Falles plädiert,1553 auch wenn der Recht1545 Vorgeschlagen wurde deshalb auch die Herabsetzung der Mindeststrafe auf ein Jahr; vgl. P.-A. Albrecht, 1992, S. 52 f. 1546 Hanack, 1969, S. 25. 1547 Hanack, 1969, S. 34. 1548 Kieler, 2003, S. 77 ff. Vgl. nur Abel, 1986, S. 402 ff.; Steinhilper, 1986, S. 339 ff. 1549 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 1 f., 5 ff.; 7 f. Für eine gänzliche Abschaffung plädierten auch Frommel, KJ 1996, S. 165 Fn. 6, 169; Weßlau, DuR 1989, S. 48. 1550 Jeweils BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 5. 1551 Weßlau, DuR 1989, S. 48. 1552 Helmken, ZRP 1995, S. 305. 1553 Helmken, ZRP 1995, S. 305; Vollmer, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 21.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

sprechung innerhalb des minder schweren Falles das Ausleben „patriarchalische(r) Alltagstheorien über die Vergewaltigung“ 1554 vorgehalten wurde. Um der Rechtsprechung „ihren beliebtesten Fluchtweg in den minder schweren Fall“ zu nehmen, wurden „negative Legaldefinitionen“ 1555 vorgeschlagen, nämlich dass ein minder schwerer Fall weder vorliegt, „wenn das Opfer vermeintlich Anlaß zu der Vergewaltigung gegeben hat“ 1556 noch wenn „einvernehmliche Sexualhandlungen vor der Tat“ stattgefunden haben.1557 Die neue Tatbestandsfassung des § 177 StGB lässt zunächst den gesetzgeberischen Willen vermuten, dass der minder schwere Fall der Vergewaltigung endgültig abgeschafft werden sollte, weil sich Absatz V auf die Absätze I, III und IV bezieht und es den minder schweren Fall eines Regelbeispiels auf Grund dessen Eigenschaft als Strafzumessungsregel1558 eigentlich nicht geben kann.1559 Dieses systematische Argument ändert jedoch nichts daran, dass die Praxis von der Möglichkeit, das Regelbeispiel der Vergewaltigung über Absatz I zu einer sexuellen Nötigung herabzustufen und darüber hinaus „in extremen Ausnahmefällen“ dann über Absatz V zu einem „minder schweren Fall der Vergewaltigung“ zu gelangen, rege Gebrauch macht.1560 Dabei können die Aspekte, die eine Entkräftung der Indizwirkung der Regelbeispiele herbeiführen, auch bei der Prüfung eines minder schweren Falles gem. § 177 V StGB relevant werden.1561 Hierbei begegnet man auf beiden Ebenen zum großen Teil wiederum den in der Reformdiskussion kritisierten fragwürdigen Kriterien.1562 Schroeder erkannte die Möglichkeit der Herabstufung, erhoffte sich aber, dass „die zu häufige Annahme min1554

Jeweils Helmken, ZRP 1995, S. 305. Jeweils Helmken, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 5. 1556 Nelles, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 15. 1557 Helmken, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 5. 1558 Grundsätzlich zur Gesetzestechnik der Regelbeispiele Sch/Sch-Stree/Kinzig, 28. Aufl. (2010), Vor §§ 38 ff. Rn. 47 ff. m.w. N. 1559 Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 76; gemäß Frommel, KJ 1996, S. 169 f. ist der minder schwere Fall der sexuellen Nötigung für z. B. „gewaltsames Busengrapschen“ reserviert. 1560 St. Rspr. BGH StV 2000, S. 557; BGH NStZ 2000, S. 419; BGH NStZ 2001, S. 366; BGH NStZ 2003, S. 202; BGH NStZ 2004, S. 32; BGH NJW 2005, S. 1520; BGH StV 2006, S. 523; BGH NStZ-RR 2006, S. 6; BGH StraFo 2007, S. 472; BGH StV 2008, S. 81; BGH, Beschluss vom 13.04.2011 – 4 StR 100/11 m.w. N. = BGH StraFo 2011, S. 325; BGHS StV 2013, S. 743 f. 1561 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 18. 1562 Ebenso Brüggemann, 2012, S. 286 (Fallgruppen „Prostituierte“, „Intimbeziehung“); LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 233 f.; Reichenbach, NStZ 2004, S. 128 (Fallgruppe „Intimbeziehung“); so schon die Prognose von Lenckner, NJW 1997, S. 2802. A. A. Kieler, 2003, S. 103. (Kritik „überzogen“). Zur Strafzumessung und dem minder schweren Fall des § 177 V StGB insgesamt vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 146 ff. 1555

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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der schwerer Fälle reduziert“ 1563 werde, da der Richter einem höheren Begründungszwang ausgesetzt sei. Schließlich kommt bereits „eine Entkräftung der Regelwirkung des § 177 II 2 Nr. 1 StGB (. . .) nur bei ganz außergewöhnlichen Milderungsgesichtspunkten in Betracht“.1564 Weitergehende außerordentliche Umstände, die „in einem ganz außergewöhnlichen Umfang schuldmildernd“ sind, sind erforderlich, darüber hinaus sogar einen minder schweren Fall nach § 177 V StGB anzunehmen.1565 Die Prognose, dass das Gericht den „doppelten Schritt“ von Absatz II auf Absatz I und dann noch auf Absatz V„wohl kaum tun“ werde,1566 hat sich trotz dieser hohen Anforderungen nicht bewahrheitet. Der Bundesgerichtshof hat inzwischen in zahlreichen Konstellationen „den minder schweren Fall einer Vergewaltigung“ über Absatz V in Betracht gezogen.1567 2. Mitverschulden und „Bescholtenheit“ des Opfers a) Tatprovokation Im Rahmen der minder schweren Fälle spielen die Einstufung der Vergewaltigung als rein sexuelles Triebdelikt sowie der Aspekt der Bescholtenheit1568 weiterhin eine zentrale Rolle. Die männliche Definitionsmacht über adäquates weibliches Verhalten bleibt relevant. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass der (sexuellen) Tatprovokation als Strafmilderungsaspekt großes Gewicht beigemessen wird.1569 Hierbei wird dem Opfer vorgworfen, mit seinem „Verhalten nicht unerheblich zur Entwicklung des Geschehens beigetragen“ zu haben, „wenn auch unbeabsichtigt“.1570 Insbesondere „frühere Sexualbeziehungen zwischen Täter und Opfer“ sowie der Tat vorangegangene Intimitäten werden entsprechend „verbreiteter Praxis“ 1571 als strafmildernder Tatbeitrag des Opfers gewertet.1572 Hier1563 Schroeder, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 66; in JZ 1999, S. 829 vermutet ders. in der Umgestaltung der Vergewaltigung zu einem Regelbeispiel einen „Trick“ des Gesetzgebers, die Regel der Annahme von minder schweren Fällen durch die Rechtsprechung zu durchbrechen. 1564 BGH NStZ 2011, S. 335; vgl. dazu LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 232 ff. 1565 Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1622. 1566 Jeweils Schroeder, JZ 1999, S. 829; auch Wetzel, 1998, S. 191 vermutete, dass die Gerichte bei Verneinung der Indizwirkung des Regelbeispiels in § 177 II Nr. 1 StGB stets auf den Grundtatbestand des § 177 I StGB zurückgreifen würden. 1567 s. die Belege in Fn. 1552. Vgl. hierzu auch Kratzer, in: Hat Strafrecht ein Geschlecht?, 2010, S. 127 ff. 1568 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 156. 1569 BGH StV 2000, S. 557; BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08; BGH StV 2008, S. 81; BGH NStZ 2009, S. 450; BGH StV 2013, S. 743 f. 1570 BGH StV 2008, S. 81. Zustimmend Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 23. 1571 Jeweils Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1620. 1572 Ablehnend Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1620.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

bei wird dem Täter fälschlicherweise unter anderem zugute gehalten, dass er sich aus seiner Sicht Hoffnungen auf die Durchführung sexueller Handlungen machte.1573 Dazu der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs1574: „Trotz Vorliegen eines Regelbeispiels des § 177 Abs. 2 StGB kommt die Anwendung des Normalstrafrahmens des § 177 Abs. 1 StGB bzw. die Annahme eines minder schweren Falls i. S. d. § 177 Abs. 5 StGB in Betracht, wenn der Täter bei dem erzwungenen Vaginalverkehr nur sehr geringe Gewalt ausgeübt hat und das Tatopfer durch vorangegangenes Verhalten, das in dem Angeklagten den begründeten Eindruck erwecken konnte, das Tatopfer werde (weiteren) sexuellen Handlungen zustimmen, nicht unerheblich (wenn auch unbeabsichtigt) zur Entwicklung des Geschehens beigetragen hat. Dass der Angeklagte sich bis kurz vor der Tat noch Hoffnungen auf weiterführende intime Kontakte mit der Nebenklägerin machte, bleibt auch angesichts des Umstands, dass sie ihn zunächst nicht in die Wohnung lassen wollte, jedenfalls nachvollziehbar (. . .). Angesichts des Gewichts der Milderungsgründe und der Tatsache, dass die Nebenklägerin selbst ihr Verhalten während des Tatgeschehens nachträglich als nicht wehrhaft und energisch genug einschätzt, (. . .)“. Interessant wird diese Urteilsbegründung, wenn eine Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt des Landgerichts1575 erfolgt. Dabei fällt auf, dass der Bundesgerichtshof den Sachverhalt verzerrt1576 und maßgebliche, den Täter belastende Gesichtspunkte unerwähnt lässt. So verschweigt der Bundesgerichtshof unter anderem, dass der Angeklagte, als Trainer von Ringern, der zierlichen Geschädigten definitiv körperlich überlegen war. Er betont, dass die Beteiligten in einem Lokal in der Tatnacht Zärtlichkeiten ausgetauscht hätten, verschweigt aber, dass die Geschädigte kein Interesse an einer weiteren Intensivierung hatte (der Bundesgerichtshof wählt die Worte, sie habe dies dem Angeklagten „bewusst verborgen gehalten“ 1577). Daher nahm sie bei der Taxifahrt nach Hause (der Angeklagte wollte ein Taxi teilen) im Wagen vorne Platz. Des Weiteren ließ die Geschädigte den Angeklagten nur deshalb in ihre Wohnung, weil dieser sie bedrängte hatte, dass er die Toilette aufsuchen müsse. Der Annahme, dass „nur sehr geringe Gewalt“ 1578 ausgeübt wurde, ist auf Grund der Tatsache, dass der Angeklagte die Geschädigte mit seinem Körpergewicht von oben auf die Matratze drückte, entgegenzutreten. Die Ausführung zum Abwehrverhalten der Geschädigten entnahm der Bundesgerichtshof einem Gespräch mit ihrem Therapeuten nach der Tat. Dort sagte sie, „sie habe das 1573 Ablehnend MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111; zustimmend SKWolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. 1574 BGH StV 2008, S. 81; zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 90; Sch/ Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33. 1575 LG Berlin, Urteil vom 11.12.2006 – (506) 70 JS 624/06 (21/06). 1576 Ebenso BGH StV 1986, S. 149 mit abl. Anm. Hillenkamp sowie BGH StV 1987, S. 516 mit abl. Anm. von Engel, StV 1988, S. 506. 1577 BGH StV 2008, S. 81. 1578 BGH StV 2008, S. 81.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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Gefühl, sie hätte sich bei dem Vorfall stärker wehren müssen, sie sei dazu aber nicht in der Lage gewesen“.1579 Diese Art von Selbstvorwürfen findet sich häufig bei Vergewaltigungsopfern,1580 ist jedoch kein Aspekt, der das Handlungsunrecht des Täters vermindert. „Geringes“ Abwehrverhalten wirkt sich jedoch oftmals strafmildernd aus, wie eine weitere Entscheidung des Fünften Strafsenats zeigt.1581 Dort wurden die Umstände, dass sich das mit dem Täter befreundete Opfer „aufgrund eigener Initiative in das Fahrzeug des Angeklagten begeben habe“ 1582 und ein „aktiverer körperlicher oder lautstarker verbaler Widerstand des Opfers den Angeklagten in weitaus stärkerem Umfang mit eigenen moralischen Hemmungen konfrontiert“ 1583 hätte, als Beiträge „zur Entstehung der Tatsituation“ eingestuft. Es ist äußerst irritierend, wenn es dem Täter strafmildernd zugute kommen soll, dass sich das Opfer nicht heftiger gewehrt hat, so dass keine Aktivierung der Hemmschwelle1584 stattgefunden hat. Diese Aussage beinhaltet die absurde Feststellung, dass die Schuld des Täters gemindert ist, wenn das Opfer in seinen Abwehrbemühungen den „klassischen“ Anforderungen nicht optimal entsprochen hat. Ein als gering eingestuftes Abwehrverhalten kann keine Grundlage für eine Strafmilderung bilden, vielmehr zeigt es, dass der Täter sich des Opfers absolut bemächtigt hat. Darüber hinaus ist nach dem Bundesgerichtshof die strafmildernde „Wertung des Landgerichts, im Vorfeld der Tat ausgetauschte Zärtlichkeiten – ersichtlich auch in Verbindung mit dem weiteren vertrauten persönlichen Umgang zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin – hätten dem Angeklagten Hoffnung auf einverständliche sexuelle Handlungen gemacht“, ein „zulässiger Schluss“ und deshalb „nicht zu beanstanden“.1585 Auf Grund des Sachverhalts sind derartige Schuldminderungsaspekte befremdlich. Der Angeklagte war für die Geschädigte ersichtlich eine Vertrauensperson in einer Krisenzeit, so dass sie dessen (auch körperliche) Zuwendung suchte. Sexuelle Annäherungen hatte sie jedoch im Vorfeld eindeutig abgelehnt, so dass sich der Angeklagte keinerlei begründete Hoffnungen auf eine sexuelle Beziehung machen konnte.1586 Darüber hinaus ist jedoch auch bei begründeten Hoffnungen eine Stramilderung abzulehnen, weil diese die gewaltsame Erzwingung des Ge1579

LG Berlin, Urteil vom 11.12.2006 – (506) 70 JS 624/06 (21/06). Dazu Weis, 1982, S. 81. 1581 BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08. 1582 BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 Rn. 7. 1583 BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 Rn. 7; der Wortlaut erinnert stark an BGH NStZ 1982, S. 26. Der BGH stellte die Erwägungen des Landgerichts hinsichtlich der Strafmilderungsaspekte grundsätzlich nicht in Frage, sondern beurteilte die Formulierungen nur als „teilweise nicht gelungen“; a. a. O. Rn. 29. 1584 So Lederer, 2011, S. 345 ff. 1585 BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 Rn. 27. Voll zustimmend Lederer, 2011, S. 342 ff. Diese mahnt die Einbeziehung des Gesamtkontextes an, tut es selbst jedoch nicht. 1586 Vgl. BGH, Urteil vom 09.12.2008 – 5 StR 412/08 Rn. 4 f. 1580

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

schlechtsverkehrs keinesfalls in einem milderen Licht erscheinen lassen.1587 Richtigerweise muss gelten, dass eine „durch das vorangegangene Verhalten des Tatopfers hervorgerufenen Erwartung“ des Täters „allenfalls für den Zeitpunkt des Tatbeginns strafmildernde Bedeutung zukommen“ kann, jedoch nicht mehr für das weitere Geschehen.1588 Eine (selbst nachvollziehbare) enttäuschte Hoffnung begründet nicht die „pauschale“ Annahme eines „Schuldminderungsgrunds“, weil dieser Aspekt nicht mit einer Einschränkung der „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gleichzusetzen“ ist.1589 Vielmehr ist es wohl der „Normalfall“, dass Männer im Rahmen einer sexuellen Interaktion den entgegenstehenden Willen einer Frau akzeptieren. Schließlich gibt es unzählige zwischenmenschliche (sexuelle) Kontakte, ohne dass es zur Erzwingung sexueller Handlungen kommt.1590 Derartige Erwägungen ließen sich nur mit dem unzutreffenden „laienpsychologische(n)“ 1591 und „pseudobiologische(n)“ 1592 Erklärungsmodell vom unkontrollierbaren Triebstau bzw. mit der Fehleinordnung der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung als Triebdelikt begründen.1593 Diese – von der kriminologischen Forschung1594 längst widerlegten – Erklärungsmodelle sind nach wie vor wirksam. Anders lässt es sich nicht erklären, dass es dem Täter immer wieder zugute gehalten wird, „daß es sich um eine im Zustand – insoweit einvernehmlich bewirkter – sexueller Erregung begangene Spontantat handelte“.1595 Der gewaltsam erzwungene Geschlechtsverkehr hatte in der maßgeblichen Entscheidung trotz Gegenwehr des Opfers 20 bis 30 Minuten angedauert,1596 so dass der Aspekt der Spontantat wohl nicht mehr als „Bonus“ wirken konnte. Das Opfer hatte die sexuelle Erregung des Täters aber aus Sicht des Gerichts mitzuverantworten, so dass die gewaltsame Durchsetzung sexueller Bedürfnisse als minder schweres Unrecht angesehen wurde.1597 Wie Mildenberger zutreffend bemerkt, 1587 A. A. BGH StV 2008, S. 81; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 91; Sankol, StV 2006, S. 609; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. 1588 BGH NStZ-RR 1998, S. 298; ebenso Laubenthal, 2012, Rn. 224; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 165, 240; a. A. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 90, 92. 1589 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 165. 1590 Reichenbach, NStZ 2004, S. 129; ebenso Brüggemann, 2012, S. 284. 1591 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 165. 1592 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 112. 1593 Hierzu ebenso kritisch Brüggemann, 2012, S. 284; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 95; Kieler, 2003, S. 106 f.; Laubenthal, 2012, Rn. 223 („überkommene Milderungsaspekte“); LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 165; Reichenbach, NStZ, 2004, S. 128 f. 1594 s. Erster Teil: A. 1595 BGH StV 2000, S. 558; vgl. nachfolgend BGH NStZ 2001, S. 366; zustimmend Sankol, StV 2006, S. 609. 1596 BGH StV 2000, S. 557. 1597 Ebenso LG Berlin NJ 1998, S. 382 mit kritischer Anm. Mildenberger; BGH, Beschluss vom 22.04.2002 – 5 StR 149/02; BGH NStZ-RR 2010, S. 9; zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 91.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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gilt immer noch der Grundsatz: „Die Frau ist der Reizauslöser, auf den der Mann natürlich triebhaft, d.h. gewaltsam reagiert“.1598 Die Einordnung derartiger Konstellationen als „einwilligungsähnliche Fälle“, im Sinne der Kategorisierung von Hillenkamp1599, mit der Konsequenz geminderten Tatunrechts,1600 vermag aber nicht zu überzeugen. Wurde kein Einverständnis mit dem Geschlechtsverkehr erklärt, kann eine Vergewaltigung nicht als „einverständnisnah“ 1601 gewertet werden, dies ist irreführend. Auf Grund vorangegangener Intimitäten ensteht keine Verpflichtung zum Geschlechtsverkehr.1602 Das Handlungs- und/oder Erfolgsunrecht kann in diesen Konstellationen gemindert sein, aber nicht auf Grund des Umstands, dass sich das Opfer gegen den Geschlechtsverkehr entschieden hat. Als Gegenprobe die entsprechende Konstellation eines Raubes: Ein Räuber, der einen Gegenstand – nach Zurücknahme des Versprechens einer diesbezüglichen Schenkung – gewaltsam entwendet, wird von der Rechtsprechung wohl nicht in den Genuss eines minder schweren Falls kommen. Im Kontext der Tatprovokation steht auch der Strafmilderungsaspekt des ambivalenten Verhaltens.1603 Dieses wird als Hemmschwellen herabsetzend beim Täter beurteilt. Hierbei wird die Frage relevant, ob sich das spätere Tatopfer im Vorfeld der Tat „weder leichtfertig noch animierend verhalten“ 1604 hat. Hierfür soll es schon ausreichen, wenn das spätere Opfer den Täter in seiner Wohnung besucht hat.1605 Der Bundesgerichtshof kritisiert in einem Beschluss aus dem Jahr 2003, dass das „ambivalente Verhalten der Zeugin“, das zum einen darin gesehen wurde, „dass die Zeugin vor der Tat fast ein Jahr mit dem Angeklagten eine intime Beziehung unterhalten hatte und trotz häufigen Streits, vorübergehender Trennungen und des Eingehens einer anderen Beziehung immer wieder zum Angeklagten zurückgekehrt war“ und zum anderen darin, dass sie „auch alsbald nach der Tat“ die (sexuelle) Beziehung zum Angeklagten fortführte, nicht genügend berücksichtigt wurde.1606 Es sei nämlich „nicht auszuschließen, dass dieses ambivalente Verhalten der Zeugin geeignet war, den Unrechtsgehalt der Tat zwar nicht objektiv, so doch aus Sicht des Angeklagten zu vermindern und 1598

Mildenberger, NJ 1998, S. 383. Hillenkamp, 1981, S. 240 ff.; dazu gleich näher. 1600 So MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 110. 1601 Hillenkamp, 1981, S. 261. 1602 In BGH StV 2000, S. 557 war die Ausübung von Geschlechtsverkehr zwischen den Ehepartnern in der Tatsituation explizit ausgeschlossen worden. 1603 BGH, Beschluss vom 14.05.2002 – 3 StR 133/02; BGH StV 2004, S. 479; BGH NStZ-RR 2006, S. 6; BGH NStZ-RR 2007, S. 13; BGH NStZ-RR 2009, S. 309; BGH NStZ-RR 2010, S. 9. Grundsätzlich zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 90, 94a. 1604 BGH, Beschluss vom 14.05.2002 – 3 StR 133/02. 1605 BGH NStZ-RR 2006, S. 6. 1606 Jeweils BGH StV 2004, S. 479; zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 94; ablehnend MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 107. 1599

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

seine Hemmschwelle zu ihrer Begehung herabzusetzen“.1607 Diese Erwägungen sind abzulehnen. Es bleibt unverständlich, warum die Erzwingung sexueller Handlungen milder bestraft werden soll, wenn die Beziehung der Beteiligten im Vorfeld durch Streit und Trennungen geprägt war. Aus dem Umstand, dass das Opfer trotz dessen immer wieder zum Angeklagten zurückkehrte, den Schluss zu ziehen, dies habe die Hemmschwelle des Angeklagten zu einer sexuellen Nötigung herabgesetzt, bedeutet nichts anderes als die entschieden abzulehnende Erwägung, dass Streit und Trennungen stets zu sexueller Gewalt führen und diese partiell entschuldigen. Für eine geminderte Schuld des Täters bestehen keine Anhaltspunkte. Der Strafmilderungsaspekt des ambivalenten Opferverhaltens ist äußerst fragwürdig. Er suggeriert fälschlicherweise eine Mitverantwortung des Opfers – resultierend aus einem angeblich Hemmschwellen herabsetzenden Vortatverhalten – obwohl der entgegenstehende Wille des Opfers eindeutig geäußert und erkannt sowie Widerstand geleistet wird.1608 Ebenso abzulehnen sind die Erwägungen in einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1997.1609 Hierbei wurde die Geschädigte, die mit dem Angeklagten eine Beziehung hatte, von diesem zur Prostitution gezwungen und körperlich misshandelt. Die Geschädigte war ausweislich der Feststellungen dem Angeklagten hörig und beendete die Beziehung trotz dieses Verhaltens nicht. Der Bundesgerichtshof nimmt deshalb hinsichtlich der sexuellen Nötigungen und Vergewaltigung an, dass der Angeklagte „aus dem Verhalten der Geschädigten falsche Schlüsse auf die Bewertung seiner Handlungen und deren Bedeutung für das Tatopfer gezogen haben“ könnte. Dadurch könne „die Hemmschwelle bereits bei Begehung der ersten Tat herabgesetzt gewesen und für die späteren Taten niedriger geworden sein“.1610 Die Hemmschwelle mag herabgesetzt gewesen sein. Dies liegt jedoch daran, dass der Täter erkannte, dass das Opfer ihm hörig war und er es deshalb, trotz der von ihm ausgehenden Aggression, für seine Zwecke benutzen konnte. Bei Serienstraftaten zu Lasten desselben Opfers erscheint eine derartige Gesinnung aber eher schulderhöhend.1611 Eine Berücksichtigung derartiger Konstellationen als strafmildernd ist deshalb entgegen Lederer nicht „sinnvoll“ 1612, weil ansonsten 1607

BGH StV 2004, S. 479; vgl. auch BGH NStZ-RR 2007, S. 13. BGH, Beschluss vom 14.05.2002 – 3 StR 133/02: „erhebliche(n) körperliche(n) Gegenwehr“. Ebenso ablehnend Laubenthal, 2012, Rn. 224; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 178, 243. 1609 BGH NStZ-RR 1997, S. 294. 1610 BGH NStZ-RR 1997, S. 294; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25.04.2001 – 1 StR 135/01; BGH, Beschluss vom 18.12.2002 – 2 StR 467/02; BGH, Beschluss vom 16.03.2004 – 5 StR 88/04; BGH, Beschluss vom 12.11.2008 – 2 StR 355/08. Den Umstand, dass der Täter im Rahmen einer Tatserie immer gegen dasselbe Opfer vorgegangen ist, als strafmildernd zu bewerten, ist fragwürdig. Warum soll der Täter davon profitieren, wenn der Täter bei seinen Taten „leichtes Spiel“ hatte, weil sich seine Opfer nicht entziehen können? Ebenso ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 166. 1611 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 166. 1612 Lederer, 2011, S. 335. 1608

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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einseitig die Täterperspektive begünstigt wird und dieser davon profitiert, dass sich das Opfer auf Grund seiner psychischen Disposition nicht zur Wehr setzt. Die Strafmilderungsgründe „Anstreben eines echten Liebsverhältnisses“ 1613, „enttäuschte Liebesbeziehung“ 1614 sowie die Feststellung, dass „der Angeklagte die Nebenklägerin durch die Tat nicht bestrafen oder seine ,Rechte‘ demonstrieren (wollte), sondern sich (. . .) nach ihrer Zuneigung (sehnte)“,1615 sind ebenfalls abzulehnen. Weder das Unrecht noch die Tatschuld werden hierdurch gemindert.1616 Liebe und die Erzwingung sexueller Handlungen mit Nötigungsmitteln schließen sich aus. In einem derartigen Verhalten offenbart sich vielmehr das Defizit des Täters im Umgang mit Konflikten. Der Einsatz sexueller Gewalt zur Unterwerfung, Demütigung und Durchsetzung männlicher Besitzansprüche ist der Regelfall einer Vergewaltigung.1617 Der Täter wird in seinem fehlerhaften Weltbild bestärkt, wenn hierin ein Strafmilderungsaspekt gesehen wird. b) Vorhergehende intime Beziehungen Eng verbunden mit dem Strafmilderungsaspekt der (sexuellen) Tatprovokation ist die Fallgruppe der vorhergehenden intimen Beziehungen. Bestanden zwischen Täter und Opfer vor der Tat intime Beziehungen, wobei egal ist, ob diese im Rahmen einer Ehe oder einer sonstigen Partnerschaft gepflegt wurden, so ist dies nach der Rechtsprechung stets ein Indiz für das Vorliegen eines minder schweren Falls.1618 Dies trifft auf Ablehnung und Zustimmung.1619 Die Befürchtung, dass 1613 Ablehnend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 94; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 162; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 112. Zustimmend Lackner/Kühl-Kühl, 27. Aufl. (2011), § 177 Rn. 13; Sankol, StV 2006, S. 609; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33 („im Ausnahmefall“). 1614 BGH StV 2004, S. 479; zustimmend Lederer, 2011, S. 322; ablehnend Folkers, 2004, S. 226. Auch in BGH NStZ 2003, S. 202 hatte der Angeklagte gemäß den Feststellungen „die Tat aus verletzter Liebe heraus begangen“. Sollte damit ein psychischer Ausnahmezustand gemeint sein, dann muss dieser aber auch so benannt werden. 1615 BGH StV 2002, S. 20; zustimmend Sankol, StV 2006, S. 609. 1616 Verkannt von Lederer, 2011, S. 321 f., 328 f. 1617 Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 77. 1618 LG Berlin NJ 1998, S. 382 mit kritischer Anm. Mildenberger; BGH StV 1998, S. 76; BGH StV 2000, S. 557; BGH StV 2001, S. 453 (Urteil vom 26.10.2000 und Beschluss vom 23.05.2000); BGH NStZ-RR 2002, S. 235; BGH NStZ-RR 2003, S. 168; BGH, Urteil vom 19.02.2004 – 4 StR 524/03 = HRRS 2004 Nr. 313; BGH NStZ-RR 2004, S. 169; BGH StV 2004, S. 479; BGH NStZ-RR 2006, S. 6; BGH NStZ-RR 2006, S. 365 Nr. 22 und 23; BGH StraFo 2007, S. 472; BGH NStZ-RR 2009, S. 277; BGH NStZ-RR 2010, S. 9; BGH NStZ-RR 2010, S. 364 Nr. 21; BGH, Beschluss vom 13.07.2011 – 2 StR 181/11; BGH StV 2013, S. 743 f. Vgl. auch BGH StV 2002, S. 20, mit der abzulehnenden Erwägung, dass der Ehemann eine niedrigere Hemmschwelle zu überwinden hatte, da Täter und Opfer aus einem Kulturkreis stammen, in welchem von der Ehefrau Unterordnung und Gehorsam erwartet wird; auch im Islam ist die Vergewaltigung der Ehefrau jedoch nicht erlaubt; vgl. zu diesem Strafmilderungsaspekt zustimmend Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 23; Sankol, StV

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

eheliche Vergewaltigungen zukünftig generell als minder schwer eingestuft würden, so dass schon aus diesem Grund der minder schwere Fall zu streichen sei,1620 hat sich damit als zutreffend erwiesen. Strafmildernd kann es sich auswirken, wenn der Täter keine für die Beziehung ungewöhnlichen Sexualpraktiken erzwungen1621 und es sich beim Täter um einen „vertrauten Partner“ gehandelt hat.1622 Weist die Tat Bestrafungscharakter auf oder liegen schwerwiegende Serienübergriffe vor, soll kein Raum für einen minder schweren Fall sein.1623 Allerdings wird trotz erheblicher Gewaltanwendung und länger andauernder Taten eine Stramilderung in Betracht gezogen.1624 So rügte der Bundesgerichtshof in einem Beschluss des Vierten Strafsenats die Ablehnung „eines minder schweren Falles“ von § 177 II Nr. 1 StGB, obwohl der Täter das Opfer gewürgt hatte, um so einen Oralverkehr zu erzwingen.1625 Maßgeblich für diese Wertung ist gemäß dem Bundesgerichtshof zum einen der „wesentliche(n) Umstand“ des Bestehens einer „länger andauernde(n) intime(n) Beziehung“ zwischen den Betei-

2006, S. 609 und kritisch BGH NStZ-RR 1998, S. 298; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 162. 1619 Kritisch Brüggemann, 2012, S. 284; Goedelt, 2010, S. 205; Gössel, 2005, § 2 Rn. 76; Kieler, 2003, S. 112 ff.; Laubenthal, 2012, Rn. 223; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 154 f., 179, 241 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 107, 112; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 77, 81; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33 (im Einzelfall „ausnahmsweise“ zuzulassen; Rechtsprechung wird als „recht weitgehend“ eingestuft); Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1620. Zustimmend Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 91 (ausgenommen Taten mit „Bestrafungs“-Charakter“); Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 23; Sankol, StV 2006, S. 609; Schroeder, JZ 1999, S. 829 bewertet die meisten Beziehungstaten pauschal als „zweifelhafte Fälle“. 1620 Frommel, KJ 1996, S. 165 Fn. 6, 169. 1621 BGH StV 2001, S. 453 (BGH, Beschluss vom 30.11.2000 – 4 StR 463/00); BGH, Urteil vom 12.06.2008 – 3 StR 154/08 Rn. 13; ablehnend MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 105. 1622 BGH NStZ 2000, S. 254. 1623 BGH NStZ-RR 1997, S. 353; BGH NStZ 2000, S. 254; BGH NStZ-RR 2003, S. 110; BGH, Urteil vom 12.06.2008 – 3 StR 154/08 Rn. 13; BGH, Urteil vom 04.08. 2011 – 3 StR 175/11. 1624 BGH StV 2001, S. 453; BGH NStZ-RR 2009, S. 277. 1625 BGH StV 2001, S. 453 (BGH, Beschluss vom 30.11.2000 – 4 StR 463/00): „Nach den Feststellungen wollte die Ehefrau des Freundes des Angeklagten, mit der dieser – in Kenntnis des Ehemannes – ein intimes Verhältnis hatte, den Angeklagten am Auszug aus der gemeinsamen Wohnung hindern. Als dieser sich nicht aufhalten ließ, sie zu Boden stieß und mit seinem Rucksack und Taschen die Treppe herabgehen wollte, versetzte sie ihm einen kräftigen Stoß, wodurch er die Treppe hinabstürzte; ,seine Nase und Lippe blutete‘ (UA 6). Es kam zu einer erneuten Auseinandersetzung. Der Angeklagte, ,nicht so wortgewandt wie sie und der Situation nicht mehr gewachsen, fühlte sich gedemütigt. Er beschloß, sie zu vergewaltigen und dadurch seinerseits zu demütigen‘ (UA 7). Deshalb zwang er sie, indem er ihren Widerstand durch Würgen brach, zum Oralverkehr“. Kritisch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 110 Fn. 481 („zweifelhaft“).

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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ligten und zum anderen der vom Bundesgerichtshof als „maßgeblich“ eingestufte Tatbeitrag der Geschädigten, der zu einer Augenblickstat führte.1626 Diese Erwägungen sind abzulehnen. Es fehlt an einem „Mitverschulden des Opfers“.1627 Schließlich lag keine „Absichtsprovokation“ vor, sondern „beide Beteiligte“ hatten die Entstehung der Konfrontation mitzuverantworten.1628 Des Weiteren ist ein schuldmindernder Affekt abzulehnen. Der Angeklagte war selbst für seinen „Erregungszustand“ und die Eskalation des Streits in tätlicher Hinsicht verantwortlich, indem er die Geschädigte „zu Boden stieß“.1629 Der vom Bundesgerichtshof als strafmildernd angeführte Umstand, dass der Angeklagte die Tat „aus dem Augenblick heraus“ 1630 begangen habe, wird aufgewogen durch die erhebliche Gewaltanwendung und die lange Dauer der sexuellen Erniedrigung in Form des Oralverkehrs.1631 Darüber hinaus entlud sich die Wut des Angeklagten über den Stoß nicht in einer Kurzschlusshandlung. Der Angeklagte fasste laut den Feststellungen vielmehr bewusst den Entschluss, die Geschädigte zu demütigen und griff hierbei auf das Instrument sexueller Erniedrigung und Unterwerfung zurück. Strafmildernd kann es sich auch nicht auswirken, wenn eine Vergewaltigung aus Wut darüber erfolgt, dass die Partnerin des Täters diesem (bewusst) Anlass zur Eifersucht gegeben hat.1632 Die angewandte sexuelle Gewalt zeigt vielmehr in fataler Weise auf, dass der Täter mit Konflikten und Aggressionen nicht umgehen kann. Dieser Befund ist jedoch der Regelfall und gerade nicht der Ausnahmefall einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung.1633 Der Strafmilderungsaspekt der vorhergehenden intimen Beziehungen offenbart immer wieder ein eklatant unzutreffendes Verständnis vom Charakter sexueller Gewalt. In einem Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2006 rügte dieser „angesichts der Anzahl und des Gewichts“ von Milderungsgründen die Ablehnung des Absehens von der Regelwirkung des § 177 II Nr. 1 StGB und eines minder schweren Falles gemäß Absatz V.1634 Schließlich habe zwischen dem Angeklag1626 Jeweils BGH StV 2001, S. 453 (BGH, Beschluss vom 30.11.2000 – 4 StR 463/00). 1627 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 160, 244. 1628 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 160. 1629 Jeweils LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 169. 1630 BGH StV 2001, S. 453 (BGH, Beschluss vom 30.11.2000 – 4 StR 463/00). 1631 Dies verdeutlicht auch ein Vergleich mit § 213 Alt. 1 StGB, der eine Strafmilderung beim Totschlag nur dann zulässt, wenn der Täter durch eine gewichtige Provokation „auf der Stelle zur Tat hingerissen“ wurde; vgl. MüKo-Schneider, 2003, § 213 Rn. 32. Derartige Taten sind „durch ein unmittelbares zeitliches Aufeinanderfolgen von Kränkung und Tötungshandlung“ gekennzeichnet, so dass sich der „Zornesaffekt“ unmittelbar in der Tat „entlädt“; vgl. MüKo-Schneider, 2003, § 213 Rn. 5. Zu § 213 StGB vgl. außerdem Geilen, 1977, S. 357 ff. 1632 Sachverhalt nach Stang/Sachsse, 2007, S. 35; anders scheinbar BGH NStZ 2000, S. 254. 1633 Verkannt von Stang/Sachsse, 2007, S. 35. 1634 BGH NStZ-RR 2006, S. 365 Nr. 23.

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ten und der Geschädigten „vor der Tat eine langjährige, intime Beziehung“ bestanden, es sei „auch nach der Trennung weiterhin, und zwar zuletzt noch eine Woche vor der Tat, zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr“ gekommen und die Geschädigte habe den „Angekl. ,lediglich mit einem schwarzen String-Tanga bekleidet‘ kurz vor Mitternacht in ihre Wohnung gelassen“.1635 Diese Ausführungen belegen exemplarisch und eindrucksvoll die Wirksamkeit von antiquierten und verfehlten Deutungsmustern im Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Warum soll es strafmildernd wirken, wenn Täter und Opfer eine Woche vor der Tat Geschlechtsverkehr hatten? Warum darf die Geschädigte ihrem wohl bekannten Ex- und Intimpartner nicht leicht bekleidet gegenübertreten? Das Unrecht des Erzwingens sexueller Handlungen wird vorliegend milder bewertet, weil das Opfer von einem Täter zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird, dessen Körper und sexuelles Agieren vertraut sind. Als eigentliches Unrecht wird nur noch der Einsatz von Gewalt angesehen. Derartige Strafmilderungsaspekte sind jedoch abzulehnen, weil sie verkennen, dass der Einsatz von Gewalt die bis dahin gegebene Beziehungsstruktur grundlegend verändert. Es handelt sich nicht um eine sexuelle Interaktion plus Gewalt, sondern um einen gewaltsamen Eingriff in die Intimsphäre.1636 Lediglich die Berücksichtigung der „im unteren Bereich“ liegenden „Gewaltanwendung“ als strafmildernd erfolgte damit korrekt.1637 Ausführungen, dass „eine Tat, die innerhalb einer Beziehung erfolgt, tatsächlich – und nicht nur usurpiert, wie im Fall der Situationsverkennung – an der Schwelle zum Einverständnis steht“ 1638, offenbaren ein unzureichendes Verständnis von einer Vergewaltigungstat und sind abzulehnen. Sexuelle Gewalt in Beziehungen wird dadurch als „vis haud ingrata-nah“ bagatellisiert und als Ausnahmekonstellation bewertet, so dass das Bild von der angeblich klassischen Vergewaltigung bedient wird.1639 Völlig unberücksichtigt bleibt die Opferperspektive, konkret der stattfindende Vertrauensbruch bei sexueller Gewalt durch (Ex-)Partner.1640 Die „Verletzung einer Vertrauensvorgabe“ müsste jedoch eher straferhöhend ins Gewicht fallen.1641

1635

Jeweils BGH NStZ-RR 2006, S. 365 Nr. 23. Kritisch ebenso Kieler, 2003, S. 115; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 107. 1637 BGH NStZ-RR 2006, S. 365 Nr. 23. 1638 Lederer, 2011, S. 330. 1639 Dies implizieren auch die Ausführungen von Lederer, 2011, S. 295 ff., 328 f., 342 ff., 345 f. Kritisch auch MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 112. 1640 Ebenso Brüggemann, 2012, S. 285. 1641 Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1620; ebenso Kieler, 2003, S. 112; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 157 m.w. N.; Reichenbach, NStZ 2004, S. 128. 1636

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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c) Vergewaltigung von Prostituierten Prostituierte genießen weiterhin nur eingeschränkten Strafrechtsschutz.1642 Dazu der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs1643: „Im kriminologischen Gesamtspektrum der – auch qualifizierten – Vergewaltigungstaten besteht eine Polarität und ist dementsprechend bei der Strafzumessung eine Differenzierung geboten zwischen Taten gegen Frauen, die sich dem Täter zu – gegebenenfalls entgeltlichen – sexuellen Handlungen anbieten, und Taten gegen Opfer, die dem Täter keinerlei Anlass zu der Annahme geben, sie wären zu sexuellem Kontakt bereit (. . .)“. Hier schlägt zum einen der Gedanke der Bescholtenheit des Tatopfers durch1644 und zum anderen der Gedanke einer sexuellen Tatprovokation allein auf Grund der Ausübung eines bestimmten, mit Sexualbezug ausgestatteten Gewerbes.1645 Der Vierte Strafsenat begründet die Strafmilderung in diesen Fällen damit, „daß das Schwergewicht des Tatunrechts nicht in der Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts des Tatopfers (. . .) liegt, sondern in der (versuchten) Nötigung (§ 240 StGB) und der Körperverletzung (§ 223 StGB), mit deren Hilfe der Täter zum Vollzug der sexuellen Handlung gelangen will“.1646 Schroeder/Maiwald verneinen auf Basis derselben Argumentationsgrundlage bereits den Tatbestand, weil es an einem in § 177 StGB vorausgesetzten „Eingriff in die Intimsphäre“ fehle, das Rechtsgut also gar nicht betroffen sei. In der gewaltsamen Erzwingung sexueller Handlungen durch einen Freier liege „lediglich eine Verweigerung der Bedingungen“, die eventuell § 240 StGB unterfalle.1647 Schroeder hält daran fest, dass der Schutz durch § 177 StGB für Prostituierte nur 1642 BGH, Beschluss vom 21.11.2000 – 4 StR 489/00; BGH NStZ 2001, S. 29; BGH NStZ 2001, S. 369. Dagegen BGH NStZ-RR 1998, S. 326 Nr. 30; BGH NStZ-RR 2000, S. 358 Nr. 36; BGH NStZ 2009, S. 207. Vgl. auch BGH, Urteil vom 04.05.2011 – 2 StR 26/11. 1643 BGH NStZ 2001, S. 29: Der (. . .) Angekl. bestellte sich über eine Agentur telefonisch eine Prostituierte in seine Wohnung, um sich sexuelle Dienste kostenlos, gegebenenfalls unter Anwendung von Gewalt, gewähren zu lassen. Es erschien die Nebenklägerin, die zunächst eine Entgeltzahlung i. H. von 200 DM im Voraus verlangte. Durch erhebliche Schläge, Bedrohung mit einem Teppichmesser und das Ausreißen von Haarbüscheln erzwang der Angekl. im Wechsel zweimal ungeschützten Oralverkehr (fellatio), zweimal Beischlaf unter Verwendung eines Kondoms und schließlich schmerzhaften Analverkehr, bei dem er der Nebenklägerin ein Kissen in das Gesicht drückte. Zum Samenerguss kam es nicht. Schließlich zwang der Angekl. die Nebenklägerin zur Säuberung des WC; ebenso BGH NStZ 2001, S. 369. Ablehnend Hörnle, StV 2001, S. 454 ff.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 68 Fn. 283 („überaus fragwürdige(n) Strafzumessungserwägungen“). 1644 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 156; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 107. 1645 Vgl. oben den „Aktmodellfall“ in BGH, Urteil vom 24.01.1990 – 2 StR 548/89 = BGH NStE Nr. 23 zu § 177 StGB. 1646 BGH StV 1996. S. 26; bestätigt durch BGH, Beschluss vom 21.11.2000 – 4 StR 489/00. 1647 Jeweils Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 6.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

dann bestehe, wenn diese in der aktuellen Tatsituation ihr Gewerbe nicht ausüben oder den Geschlechtsverkehr mit bestimmten Männern von vornherein verweigern.1648 Diese Ansicht ist verfehlt. Denn die Freiheit, über sämtliche Bedingungen der sexuellen Interaktion zu entscheiden, wird sehr wohl von § 177 StGB geschützt.1649 Der Zweite und Dritte Strafsenat erheben gegen die Praxis des Vierten und Fünften Strafsenats Bedenken.1650 Allerdings stellt der dritte Strafsenat in einer Entscheidung aus dem Jahr 20071651 ausdrücklich auf die Besonderheiten des Einzelfalls ab und schränkt damit den strafrechtlichen Schutz Prostituierter vor Vergewaltigungen wieder ein. Die Rechtsprechung des Vierten und Fünften Strafsenats zur Vergewaltigung von Prostituierten ist unhaltbar.1652 Wie schon beim Strafmilderungsaspekt der vorhergehenden Intimbeziehungen ist die Argumentation, dass das Kernunrecht nicht in der Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts liege, wenn ehemalige Intimpartner oder Prostituierte vergewaltigt werden, abzulehnen. Diese verkennt und blendet den Charakter der Erniedrigung einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung aus, der auf Grund des Einsatzes von Gewalt oder Drohungen ensteht und unabhängig davon ist, ob das Opfer die erzwungene sexuelle Handlung in ihrem Leben schon einmal freiwillig (mit dem Täter) vollzogen hat.1653 Darüber hinaus stellt nach der herrschenden Meinung 1648 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 6 und bereits Schroeder, 1975, S. 27. 1649 s. Zweiter Teil: D.II.2. und LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 1. Anders aber Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 6. 1650 BGH NStZ-RR 1998, S. 326 Nr. 30; BGH NStZ-RR 2000, S. 358 Nr. 36; BGH NStZ 2009, S. 207 (2. Strafsenat); BGH NStZ 2001, S. 646 (3. Strafsenat). Der 3. Strafsenat scheut sich jedoch vor einer argumentativen Ablehnung, wenn er ausführt, dass es offen bleiben könne, ob der gegenteiligen Rechtsprechung zu folgen sei, „weil die Feststellungen die strafmildernde Bewertung der grundsätzlichen Bereitschaft des Tatopfers im vorliegenden Fall nicht tragen. Denn das Landgericht hat übersehen, daß zwischen dem Angeklagten und Opfer einvernehmlich nur Geschlechtsverkehr in Form des Oralund Vaginalverkehrs vereinbart war. Der Angeklagte hat aber über die vereinbarten Sexualpraktiken hinaus auch den für die Zeugin schmerzhaften Analverkehr erzwungen, der nicht von der grundsätzlichen Bereitschaft der Geschädigten erfaßt war“. 1651 BGH NStZ-RR 2008, S. 74: Die Erfüllung des Regelbeispiels des § 177 II Nr. 1 StGB wurde „angesichts der Besonderheiten der Tat, auf die das LG zutreffend abgestellt hat (Verbringen der Nebenkl. gegen ihren Willen von H aus in eine ihr unbekannte Gegend, Anhalten auf freiem Feld und die dadurch beim Opfer hervorgerufene große Angst)“ zutreffend als erfüllt angesehen. 1652 Ebenso ablehnend Brüggemann, 2012, S. 283; Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 70, 93 f.; Gaede, NStZ 2001, S. 238 ff.; Hörnle, StV 2001, S. 454 ff.; Kieler, 2003, S. 121 ff.; Laubenthal, 2012, Rn. 225; Lederer, 2011, S. 300 ff.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 156; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 107; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 79a; Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1618; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33. Zustimmend Maurach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. (2009), § 18 Rn. 6; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. 1653 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 156. Verkannt auch von LKTeuhne, 12. Aufl. (2006), § 46 Rn. 230.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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die grundsätzliche Bereitschaft, Waren zu veräußern, beim Raub bzw. der räuberischen Erpressung keinen Strafmilderungsgrund dar.1654 Antiquierte Erwägungen zum Zusammenhang zwischen einer Tätigkeit, die der traditionellen sexuellen Moral widerspricht, und einer daraus folgenden „Minderfähigkeit“, vergewaltigt zu werden, sind in höchstem Maße diskriminierend und kein tauglicher Ausgangspunkt gegenwärtiger juristischer Überlegungen.1655

VI. Kritische Würdigung 1. „Mitverantwortung“ des Opfers als Strafzumessungskategorie im Rahmen des § 177 StGB? Die bisherige Darstellung der Strafmilderungspraxis belegt, dass die Verantwortungsabgabe bzw. Verantwortungszuschreibung an das Opfer im Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung eine zentrale Rolle spielen.1656 Hier leben die Mythen von der Frau als Verführerin und dem Mann, der diesem Verführungsakt willenlos ausgeliefert ist, auf; das weibliche Agieren wird stark in den Vordergrund gerückt.1657 Das Verhalten des Opfers kann auf diese Weise als tatveranlassend beurteilt werden und die zentrale Begründung für die Annahme eines minder schweren Falls bilden.1658 Die in der strafrechtlichen Literatur vieldiskutierte grundsätzliche Frage, ob es Selbstschutzobliegenheiten gibt, die sich bei Vernachlässigung zumindest strafmildernd auswirken,1659 bejaht die Rechtsprechung im Rahmen des Delikts der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung seit jeher also mit einem uneingeschränkten „Ja“. Im Kontext der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ist sie seit jeher Verfechterin des in der Literatur entwickelten viktimodogmatischen Ansatzes,1660 der sich im Ergebnis dadurch aus1654

H. M.; vgl. LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 156 m.w. N. Ebenso NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 79. Dazu auch Baurmann, 1996, S. 475 und Bottke, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 239, der richtigerweise betont, dass Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung auch derjenige sein kann, der „aus bürgerlicher Sexualmoral aussteigt“. 1656 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 158; Hörnle, GA 2009, S. 630 f. 1657 Ebenso Abel, 1986, S. 320; 338 ff. 1658 Ebenso Steinhilper, 1986, S. 277 f. 1659 Hier kann nicht der Frage nachgegangen werden, ob ein bestimmtes Opferverhalten bereits zum Ausschluss des Tatbestands oder der Rechtswidrigkeit führen kann. Die gegenwärtige h. M. in Rechtsprechung und Literatur lehnt dies ab: Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 14 Rn. 15 ff. m.w. N.; Hillenkamp, 1981, S. 211 ff., 310. 1660 Zur Viktimodogmatik vgl. u. a. Amelung, GA 1977, S. 1 ff.; Günther, in: FS Lenckner, 1998, S. 515 m.w. N. in Fn. 3; Hassemer, 1981, S. 72 ff.; Hörnle, GA 2009 S. 626 ff. m.w. N.; Schünemann, ZStW 90 (1978), S. 11; ders., in: Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege, 1982, S. 407 ff.; ders., in: FS Schmitt, 1992, S. 128 f.; ders., in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 1 ff. Die Einführung dieses Begriffes wird zurückgeführt auf Hillenkamp, 1981, S. 17 und Schüler-Springorum, in: FS Honig, 1970, S. 208. 1655

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

zeichnet, im Interesse des Täters „Strafbarkeitseinschränkung(en)“ 1661 vornehmen zu wollen. Eine tragfähige Begründung für die exzessive Annahme von Selbstschutzobliegenheiten ist die Rechtsprechung bisher jedoch schuldig geblieben.1662 Darüber hinaus sind die von der Rechtsprechung verwandten Kriterien, um eine Vernachlässigung von Selbstschutzobliegenheiten zu begründen, einer solchen auch nicht zugänglich. Die Strafzumessungskategorie der Opfermitverantwortung ist vielmehr eine Plattform für Vergewaltigungsmythen und -stereotype. Anknüpfungspunkt für eine Mitveranwortung des Opfers ist offensichtlich die Nichteinhaltung sozialer Regeln, die einem überkommenen androzentrischen Weltbild entsprechen. Trotz – auch sexueller – Emanzipation wirken die antiquierten Rollenbilder im sexuellen Geschehen fort. Es widerspricht den traditionellen Rollenvorgaben, als Frau die Initiative bei der Kontaktaufnahme zu einem Mann zu ergreifen, alleine eine Bar aufzusuchen, Alkohol zu trinken oder gar sexuell aktiv zu sein, letztendlich also all das zu tun, was als Männerdomäne verstanden wird. Kommt es nach einem derartigen Verhalten zu einer sexuellen Nötigung/ Vergewaltigung wird das Abweichen des weiblichen Opfers von den tradierten Rollenvorgaben als sexuell provozierend eingestuft.1663 Darüber hinaus muss eine Frau es strikt vermeiden, mit einem Mann, der sich ihr bereits vergeblich sexuell zu nähern versucht hat, alleine zu sein. Denn die Interaktion zwischen Mann und Frau wird auf das Sexuelle reduziert. Die Kontrolle der männlichen Sexualität wird der Frau zugeschoben.1664 Innerhalb dieser verengten und primitiven, den Mann auf das Sexuelle reduzierenden Sichtweise, gilt die Erfahrungsregel, dass Intimitäten automatisch zum Geschlechtsverkehr führen und dies auch erwartet werden darf.1665 Das skeptisch zu beurteilende Konstrukt der geschlechtsspezifischen Situationsverkennung fügt sich hier zwanglos ein.1666 Lag eine Zustimmung mit dem sexuellen Handeln für den Täter erkennbar nicht vor, kann jedoch auch eine geschlechtsspezifische Situationsverkennung die Schuld des Täters nicht mindern, weil spätestens bei Beginn der Tatausführung der Irr-

1661

Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361. Ebenso Hörnle, GA 2009, S. 626. 1663 Ebenso Schäfer, in: FS Dünnebier, 1982, S. 474 f.; H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 402 f. 1664 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 865; ebenso Kieler, 2003, S. 107. 1665 Vgl. BGH StV 2008, S. 81: „(. . .) und das Tatopfer durch vorangegangenes Verhalten, das in dem Angeklagten den begründeten Eindruck erwecken konnte, das Tatopfer werde (weiteren) sexuellen Handlungen zustimmen . . .“; Michaelis-Arntzen, 1981, S. 4 f. 1666 s. bereits D.II.2.a)cc) und Hillenkamp, StV 1986, S. 152 f. Kritisch auch Kieler, 2003, S. 109; NK-Frommel, 3. Aufl. (2010), § 177 Rn. 77. Neuerdings wird die Täterperspektive auf Grund derartiger Verkennungen von Lederer, 2011, S. 342 f. unter dem Blickwinkel der Herabsetzung von Hemmschwellen wieder beängstigend unreflektiert in den Vordergrund gerückt. 1662

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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tum sichtbar wird.1667 Ein Flirt mag aus Sicht des Täters das Verhalten des Opfers als ambivalent erscheinen lassen, jedoch gilt: „Ein Nein ist ein Nein“, so dass die Grenze zwischen einverständlicher und nicht einverständlicher sexueller Interaktion weder „zweideutig noch unrealistisch“ ist.1668 Trotzdessen eine Schuldminderung zu bejahen, könnte dann nur noch unzutreffend mit fehlender Steuerungsfähigkeit auf Grund sexueller Spannung begründet werden.1669 Das Tor zur sexuellen Tatprovokation, bestimmt aus androzentrischer Sicht, würde dadurch wieder weit geöffnet. Der Grund für die Wirksamkeit der oben dargestellten Strafzumessungskriterien liegt nach alledem in der Tradition und einer unreflektierten1670 Rezeption begründet. Es bleibt jedoch unbeantwortet, warum die angeführten Strafmilderungsaspekte das Tatunrecht oder die Schuld mindern sollen. Warum das „Ausmaß“ des dem Opfer zuteil gewordenen Unrechts (durch eine Obliegenheitsverletzung) gemindert wurde, wäre jedoch ausreichend zu begründen.1671 Denn nicht zu vergessen gilt, dass das „Unrechtsurteil“ durch seine Symbolkraft nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer tangiert.1672 Das Opfer und sein Verhalten werden im Rahmen des Urteils von staatlicher Seite rückblickend einer Bewertung anhand der konkreten Tat unterzogen.1673 Dabei liegt das Problem nicht in der geringeren Bestrafung, die pauschale Forderung nach einer härteren Bestrafung von Vergewaltigungstätern stellt sich vielmehr als äußerst einseitig dar.1674 Die Problematik liegt vielmehr darin, dass sich die Spirale von primärer und sekundärer Viktimisierung weiter drehen kann und stets von neuem 1667 Ebenso Laubenthal, 2012, Rn. 224. A. A. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 90, 92, der nur bei „länger andauernde(m) Tatverhalten“ die Erwartungshaltung auf Grund Vortatverhaltens des Opfers für irrelevant ansieht; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. In BGH, Beschluss vom 14.05.2002 – 3 StR 133/02 wirkte sich der Einfluss dieses Konstrukts strafmildernd aus, obwohl das Opfer starke Gegenwehr leistete. 1668 Jeweils MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111. A. A. Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 90, der die Möglichkeit einer klaren Grenzziehung anzweifelt. 1669 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 165. Die Ausführungen von SKWolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24, dass eine Minderung des Unrechts vor allem dann in Betracht komme, wenn das Einverständnis erst „im letzten Moment“ widerrufen wird, implizieren genau dies. 1670 Auch Hörnle, GA 2009, S. 635 ordnet die in der Rechtsprechung im Sexualstrafrecht anzutreffenden „Annahmen über Opfermitverschulden“ als „unreflektierte“ ein. 1671 Hörnle, GA 2009, S. 629. 1672 Hörnle, GA 2009, S. 629; Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 362. Dabei soll die Frage, ob die Interessen des Opfers durch die „symbolisch-expressive Unrechtsfeststellung“ befriedigt werden und ob dieses sogar einen „Anspruch“ auf Verhängung einer Strafe gegenüber dem Täter hat bzw. es einer Strafe als Ausgleich für erlittene Schäden bedarf, ausgeklammert werden; vgl. dazu Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 362 m.w. N. 1673 Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 362 m.w. N. 1674 Vgl. dazu Baurmann, 1996, S. 24.

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belebt wird. Wird das Opfer mit der Zuweisung von Mitschuld konfrontiert, erlebt es eine erneute (zweite) Viktimisierung. Zumindest aus Sicht des Opfers wird ein Teil des Opferstatus aberkannt. Der konkrete wie auch der potentielle Täter wird dagegen entlastet und erfährt eine partielle Bestätigung seines Denkens und Handelns.1675 Das Stigma der Mitschuld bleibt hierdurch für zukünftige Opfer einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung erhalten. Zu kritisieren gilt darüber hinaus, dass die strafmildernde Berücksichtigung von tatveranlassenden Beiträgen des Opfers nahezu ausschließlich auf den Bereich der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung beschränkt ist, wie ein Vergleich mit anderen Interaktionsdelikten wie Raub, räuberische Erpressung und Betrug ergibt.1676 Wollte man eine Strafzumessungskategorie der Mitverantwortung begründen, müsste es sich jedoch um ein „allgemeine(s) Strafzumessungskonzept(s)“ handeln, das alle Interaktionsdelikte, also auch Eigentums- und Vermögensdelikte, miteinbezieht. 1677 Eine diesbezügliche Recherche nach einschlägigen Entscheidungen ist jedoch ebenso wenig von Erfolg gekrönt wie die Lektüre einschlägiger Kommentarliteratur.1678 Schlägt man beispielsweise Schönke/Schröder1679 auf, so fällt einem die fast ganzseitige Kasuistik zum minder schweren Fall des § 177 I StGB ins Auge. Im Gegensatz dazu existieren bei § 249 StGB 1675

Baurmann, 1996, S. 34 (Problem „Trampen“). Zur Verdeutlichung folgende Textpassage von Finkelhor, in: Vergewaltigung, 1986, S. 31: „Stellen Sie sich ein Polizeirevier vor. Es ist Abend. Ein gut gekleideter Herr kommt herein und sagt, er wolle anzeigen, dass er auf der Straße von einem Mann, der mit einem Messer bewaffnet war, beraubt wurde. Würden Sie erwarten, dass er mit folgenden Einstellungen konfrontiert wird? Warum gehen Sie allein am Abend spazieren? Glauben Sie nicht, dass Sie es selbst provoziert haben, beraubt zu werden? Der Anzug, den Sie tragen, sieht teuer aus. Denken sie nicht, dass dies eine Ermutigung für jeden Dieb ist? Sie sehen nicht so aus, als seien Sie verletzt, grün und blau geschlagen oder beschmutzt. Haben Sie versucht, sich zu wehren oder wegzulaufen? Soll man Ihnen glauben, dass Sie tatsächlich beraubt wurden? Sie machen einen sehr ruhigen Eindruck. Woher soll ich wissen, ob Sie diese Geschichte nicht erfunden haben? Spenden Sie oft Geld für die Wohlfahrt? Geben Sie Bettlern Geld? Ja? Gut, und woher soll ich wissen, ob Sie nicht Ihr Geld verschenkt haben, und hinterher Ihre Meinung geändert haben? Reiche Leute sind oft sehr rachsüchtig. Wie kann ich sicher sein, dass sie nicht gerade versuchen, den Ruf eines armen Mannes zu ruinieren, indem Sie diese ganze Geschichte erfinden? Ist Ihnen früher so etwas schon einmal passiert? Ja? Überlegen Sie mal, ob Sie vielleicht den unbewussten Wunsch haben, beraubt zu werden“. 1677 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 159. 1678 Vgl. nur die Rechtsprechungsübersichten von Detter zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht ab NStZ 2009, S. 74. 1679 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33; Sch/Sch-Eser/Bosch, 28. Aufl. (2010), § 249 Rn. 12, § 250 Rn. 37. 1676

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diesbezüglich nur zwei Zeilen. In § 250 StGB finden sich längere Ausführungen, diese enthalten aber nur einen einzigen Entscheidungsnachweis zu einer Tatprovokation durch das Opfer.1680 Nach der Untersuchung von Albrecht wurde § 249 II StGB bei geringer Intensität der Nötigungsmittel sowie im Falle des § 21 StGB angewandt, § 250 III StGB bei geringer Schadenshöhe, die Täter-Opfer-Beziehung spielte so gut wie keine Rolle.1681 Schäfer/Sander/van Gemmeren weisen zwar darauf hin, dass das Prahlen des Opfers „mit Bargeld gegenüber Fremden in zweifelhafter Umgebung“ strafmildernd wirken könne, allerdings existiert kein Rechtsprechungsnachweis.1682 Dies ist erstaunlich, da beim Raub und der räuberischen Erpressung ebenfalls eine Interaktion zwischen Täter und Opfer stattfindet.1683 Allerdings kann im Gegensatz zum Sexualtrieb ein „Eigentumstrieb“ biologisch nicht verortet werden, darüber hinaus wird diesem nicht dieselbe Kontrollmacht über die Steuerungsfähigkeit einer Person zugesprochen. In der Rechtsprechung zum Betrug gibt es einige wenige Fälle, die es strafmildernd werten, dass das Opfer „nachlässig“ gehandelt habe und der Täter infolgedessen zur Tatbestandsverwirklichung lediglich geringe kriminelle Energie einsetzen musste.1684 Es gilt jedoch zu unterscheiden, ob tatbegünstigende Unternehmens- oder Behördenstrukturen ausgenutzt werden oder ein Verhalten bzw. eine psychische Disposition einer Person, die es dem Täter erleichtern, dieses als Sexualobjekt zu instrumentalisieren. Die Ausnutzung taterleichternder Momente erfolgt bei der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung nämlich nicht anonym, sondern von Angesicht zu Angesicht. Die kriminelle Energie ist demnach nicht per se reduziert. Erkennt der Täter den entgegenstehenden Willen, kann der Bruch einer Vertrauensvorgabe vielmehr strafschärfend wirken. Nutzt der Täter bestimmte Persönlichkeitsstrukturen aus, mag sich die Tatbegehung für ihn leichter darstellen, die kriminelle Energie ist jedoch bei einer derartigen Vorgehensweise ausgeprägt vorhanden. Der Blick in die moderne Kriminologie bzw. Viktimologie1685 bestätigt die Kritik an der gängigen Strafmilderungspraxis, im Rahmen des § 177 StGB ein Opferverhalten als Mitverursachungsbeitrag im Sinne eines Mitverschuldens zu missdeuten. Schneider weist darauf hin, dass mit dem Begriff der Verursachung in der modernen Viktimologie die Entstehung der Tat auf Grund bestimmter situativer Faktoren gemeint sei, aber gerade keine Verantwortungszuschreibung 1680

BGH StV 1982, S. 575. H.-J. Albrecht, 1994, S. 306 m.w. N., 307, 314 f. 1682 Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1680. 1683 Ebenso Hauch, ZfS 1988, 266. 1684 BGH, Beschluss vom 03.05.1983 – 1 StR 25/83 = BGH StV 1983, S. 326 (Täuschung von Beamten des Finanzamtes; Geschädigter: Freistaat Bayern); BGH, Urteil vom 15.01.1986 – 2 StR 567/85 = BGH wistra 1986, S. 172 (Geschädigte: Firma = Arbeitgeberin des Täters). 1685 s. Erster Teil: A. 1681

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bzw. Opferbeschuldigung vorgenommen werden soll.1686 Es handelt sich demnach um die offene Frage aus der viktimologischen Forschung, wie ein Tatgeschehen unter anderem im Rahmen der Interaktionsdelikte Raub1687 und Vergewaltigung abläuft.1688 Es geht jedoch nicht um die Berücksichtigung des Opferverhaltens im Sinne eines strafmildernden Mitverschuldensanteils an der Tat.1689 Die notwendige Erforschung der Opferrolle im Rahmen der Viktimologie wird von Rechtsprechung und Strafrechtsdogmatik demnach fehlerhaft übernommen, wenn sie zu einer Opferbelastung im Sinne eines Mitverschuldens führt.1690 „Mitursächlichkeit“ als viktimologischer Befund und „Mitverantwortung“ als dogmatische Kategorie für einen Rückzug des Strafrechts müssen demnach klar getrennt werden.1691 Es bleibt die umstrittene und schwierige Frage, ob es anerkennenswerte Selbstschutzobliegenheiten gibt, deren Vernachlässigung sich im Rahmen des § 177 StGB strafmildernd auswirkt.1692 Wohl selten wird eine auf Strafzumessungsebene zu berücksichtigende Absichtsprovokation1693 mit dem Ziel, vergewaltigt zu werden, gegeben sein. Grundsätzlich sollten Selbstschutzobliegenheiten nur in ganz eng gesteckten Grenzen bejaht werden.1694 Denn die Feststellung einer Obliegenheitsverletzung ist ein normativer Akt und somit von den Einstellungen desjenigen abhängig, der darüber entscheidet. Gerade im Rahmen der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung besteht die große Gefahr, dass in Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung jegliches riskantes Verhalten des Opfers als tatveranlassend und damit als strafmildernd berücksichtigt wird. Hillenkamp hat – unter Einbeziehung viktimologischer Erkenntnisse – in begrüßenswerter Weise versucht, strafzumessungsrelevantes Opferverhalten zu kategorisieren und damit der „Domäne richterlicher Willkür“ 1695 zu entziehen. Er unterscheidet – in An1686 H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 863 f. Dazu auch Hillenkamp, 1981, S. 7 f. 1687 s. dazu die interessante Untersuchung zur Körpersprache potentieller Opfer von Grayson/Stein, Journal of Communication 1981, S. 68 ff. 1688 Dazu auch Bottke, in: Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem, 2000, S. 239. 1689 H. J. Schneider, in: FS Lenckner, 1998, S. 864. 1690 Hillenkamp, 1983, S. 12 f. 1691 Hillenkamp, 1981, S. 6 f.; Günther, in: FS Lenckner, 1998, S. 76 hebt zutreffend hervor, dass es grundsätzlich zu begrüßen ist, wenn viktimologische Erkenntnisse zur Unrechtsbestimmung miteinbezogen werden; jedoch: „eine Viktimodogmatik, die einseitig als Entkriminalisierungsprogramm auftritt, verstümmelt sich selbst. Sie schrumpft zu einer quantité négligeable, wenn sie sich dabei auch noch auf einen einzigen Aspekt kapriziert, die Vernachlässigung zumutbaren und sozial üblichen Selbstschutzes“. 1692 Eine abschließende Beantwortung und Darstellung dieser viktimodogmatischen Frage kann hier nicht geleistet werden. 1693 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 160. 1694 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 159. 1695 Hillenkamp, 1981, S. 214.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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lehnung an „gesetzliche(n) und gewohnheitsrechtliche(n) Vorwertungen“ 1696 – zwischen den einwilligungsnahen, den notwehrnahen, den verwirkungsnahen und den beteiligungsnahen Fällen.1697 Hinsichtlich der Frage von Selbstschutzobliegenheiten im Rahmen der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung hält sich der Erkenntnisgewinn jedoch in Grenzen, weil seine Kategorien die oben kritisierten Strafzumessungsaspekte aufgreifen und nicht grundsätzlich in Frage stellen. Das liegt unter anderem daran, dass die herangezogene junge viktimologische Forschung noch von Vergewaltigungsstereotypen und dem Mythos vom sexuellen Triebdelikt stark geprägt ist.1698 Als beteiligungsnah im Sinne einer „anstiftungsnahe(n) Versuchung“ wird denn auch das „bewusste geschlechtliche Reizen bei der Notzucht“ eingeordnet.1699 Strafmildernd soll dies allerdings nur wirken, wenn die „Versuchungssituation“ „pflichtwidrig“ geschaffen wurde.1700 Das Kriterium der Pflichtwidrigkeit liefert dabei einen Ansatzpunkt, um relevante Obliegenheitsverletzungen herauszuarbeiten, um für die Strafzumessung einen nachvollziehbaren und berechenbaren normativen Maßstab zu schaffen. In der Literatur wird deshalb vorgeschlagen, danach zu fragen, ob das Opfer „in sozialadäquater Weise von Handlungsfreiheit Gebrauch gemacht“ hat.1701 Wird diese Frage bejaht, wird eine Missachtung von Selbstschutzobliegenheiten verneint.1702 Der Begriff der Sozialadäquanz bzw. Pflichtwidrigkeit stößt jedoch ebenfalls an seine Grenzen, indem der hierbei anzulegende Maßstab wiederum einer normativierenden Ausfüllung bedarf. Es gilt zu betonen, dass „unüblich“ nicht gleich „schutzunwürdig“ bedeutet.1703 Trotzdessen bedeuten die Kriterien der Pflichtwidrigkeit und Sozialadäquanz auf der Basis einer entmythologisierten kriminologischen Forschung einen deutlichen Fortschritt. So werden in der Literatur im Gegensatz zu früher nicht mehr alle risikobehafteten Verhaltensweisen als strafmildernd eingestuft. Das „Einsteigen in das Kfz des Täters“ oder „das Aufsuchen abgelegener Örtlichkeiten“ wird nicht mehr als ausreichend für einen minder schweren Fall erachtet.1704 Schafft das Opfer aber „eine objektiv nicht veran-

1696

Hillenkamp, 1981, S. 309. Hillenkamp, 1981, S. 240 ff., S. 269 ff., S. 287 ff., S. 294 ff. 1698 Als einverständnisnahe Fälle werden der „Rückzug(s) der Einwilligung im letzten Moment etwa duch Prostituierte oder in eheähnlichen Verhältnissen“ und die „sexuelle(n) Provokation“ genannt; vgl. Hillenkamp, 1981, S. 261 f. 1699 Hillenkamp, 1981, S. 300. 1700 Hillenkamp, 1981, S. 300. 1701 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 158 m.w. N.; Hörnle, GA 2009, S. 631; ebenso Hillenkamp, 1981, S. 300; Hillenkamp, StV 1986, S. 153 f.; Laubenthal, 2012, Rn. 224; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. 1702 Hillenkamp, StV 1986, S. 153; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 158. 1703 Hörnle, GA 2009, S. 631. 1704 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 94a; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111. 1697

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

lasste Situation besonderer Vertraulichkeit“, die vorliegen soll, „wenn das Opfer in der Wohnung des ihm nur flüchtig bekannten Täters übernachtet“, soll dies wiederum ein Indiz für einen minder schweren Fall sein.1705 Hier stellt sich schon die Frage, wann eine solche Situation gegeben ist, denn was objektiv nicht veranlasst ist, wird erst nachträglich offenbar.1706 Darüber hinaus darf in unserer Gesellschaft die „Grundeinstellung nicht Misstrauen“, sondern muss vielmehr „Vertrauen“ sein.1707 Ansonsten käme es zu intolerablen „Einschränkungen individueller Lebensgestaltung“.1708 Renzikowski ergänzt, dass über ein objektiv tatbegünstigendes Verhalten hinaus das Opfer in subjektiver Hinsicht „das Risiko eines Übergriffes erkannt haben“ muss.1709 Diese Feststellung weist in die richtige Richtung. Riskantes Opferverhalten ist dem Grundsatz nach kein Grund für eine Strafmilderung. Eine strafmildernde Opferpartizipation kommt auch nicht schon dann in Betracht, wenn der Täter ein sexuelles Ansinnen offenbart hat.1710 Erst dann, wenn sich das voll einsichtsfähige Opfer einer Person ausliefert, die signalisiert hat, einen entgegenstehenden Willen nicht zu respektieren, wäre eine „Unrechtszuschreibung an das Opfer“ 1711 denkbar.1712 Denn hier liegt die „bewusste Entscheidung, ein Risiko einzugehen“,1713 vor und dem Opfer kann unterlassene Eigenverantwortung1714 gegenüber seinen Rechtsgütern vorgeworfen werden. Es kommt jedoch stets auf die Umstände des Einzelfalls an.1715 Liegt die überwiegende Definitionskompetenz der Situation beim Täter, was bei Abhängigkeitsverhältnissen und außergewöhnlicher physischer oder psychischer Konstitution des Opfers naheliegt, so kann selbst ein derart „tatbegünstigende(s)“ Verhalten wieder kompensiert werden.1716 Unter diesen Prämissen trifft die Aussage von Günther zu: „Je schutzbedürftiger und schutzwürdiger das Opfer ist, um so strafwür1705 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 94a unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 14.09.1994 – 4 StR 343/94; Kieler, 2003, S. 120 f.; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111. Ablehnend LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 77 Rn. 159. 1706 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 159. 1707 Hörnle, GA 2009, S. 631. 1708 Hörnle, GA 2009, S. 631. 1709 MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111. 1710 So aber Hillenkamp, StV 1986, S. 154; SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24; unrichtig deshalb LG Essen, Urteil vom 15.02.2012 – 26 KLs 47/11, Rn. 127. 1711 Hörnle, GA 2009, S. 631. 1712 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 159; Hörnle, GA 2009, S. 632. 1713 Hörnle, GA 2009, S. 631. 1714 Gemäß Hörnle, GA 2009, S. 630 sind die „normative(n) Ansprüche“ der „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ nicht nur an den Täter, sondern auch an das Opfer zu stellen. 1715 So zutreffend statt vieler SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 24. 1716 Fischer, 60. Aufl. (2013), § 177 Rn. 94a; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 111.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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diger verhält sich der Täter, der das Opfer unter Ausnutzung seiner Lage schädigt“.1717 2. Die Relevanz der „Bescholtenheit“ und der Täter-Opfer-Beziehung Neben der hervorgehobenen Bedeutung des Opferverhaltens ist die Relevanz der Täter-Opfer-Beziehung im Rahmen der Strafzumessung zu kritisieren. Die Feststellung Albrechts aus dem Jahr 1994, dass die Täter-Opfer-Beziehung insgesamt betrachtet geradezu „ein Leitmerkmal“ 1718 der Abgrenzung des minder schweren vom Regelfall der Vergewaltigung darstelle, beansprucht immer noch Gültigkeit. In keinem anderen Tatbestand werden die Täter-Opfer-Beziehung und das Verhalten des Opfers vor und nach der Tat derartig relevant.1719 Diese Vorgehensweise stellt sich als „problematisch“ dar.1720 Sie spiegelt unter anderem „die Zurückhaltung des Strafrechts in privaten Konflikten“ wieder, ist jedoch als „normative Begründung“ in Zweifel zu ziehen.1721 Die Irrelevanz, die hierbei dem Unrechtsgehalt der Tat beigemessen wird, ist kritisch zu sehen.1722 Die Rechtsprechung ignoriert die Deliktsrealität, wenn sie davon ausgeht, dass Vergewaltigungen innerhalb von persönlichen Beziehungen und Partnerschaften nach wie vor „nicht dem typischen Bild der Vergewaltigung im Sinne des § 177 StGB entspreche(n)“.1723 Die klassische Vergewaltigungstat ist gerade eine Beziehungstat.1724 Die Vorstellung, dass die in der Beziehung übliche Sexualpraktik in einer Vergewaltigungssituation vom Opfer als weniger demütigend empfunden werde, geht fehl. Sie verkennt die Dimension sexueller Aggression, weil sich das Unrecht einer Vergewaltigung nicht in der Vornahme eines körperlichen Akts erschöpft. Hinter der Bagatellisierung partnerschaftlicher sexueller Gewalt steht neben dem Konstrukt der vis haud ingrata wohl auch die überkommene Auffassung, dass sich eine Frau mit der Eheschließung zu regelmäßigem Geschlechtsverkehr verpflichtet.1725 Eine eheliche Vergewaltigung kann dadurch 1717

Günther, in: FS Lenckner, 1998, S. 80; kritisch Hörnle, GA 2009, S. 629. H.-J. Albrecht, 1994, S. 305. 1719 Vgl. zur Strafzumessung beim Raub auch die empirische Untersuchung von Hoppenworth, 1991. 1720 H.-J. Albrecht, 1994, S. 306. 1721 H.-J. Albrecht, 1994, S. 306. 1722 Ebenso H.-J. Albrecht, 1994, S. 306. 1723 BGH, Urteil vom 19.02.2004 – 4 StR 524/03 = HRRS 2004 Nr. 313. 1724 Dies hebt auch Laubenthal, 2012, Rn. 223 zutreffend hervor. 1725 Ebenso Reichenbach, NStZ 2004, S. 128. Vgl. dazu die zeitgenössische Kommentarliteratur: Nach Erman-K. Kroll-Ludwigs, BGB, 13. Aufl. (2011), § 1353 Rn. 8 beinhaltet die Ehe die „Verpflichtung“ der Partner zur Geschlechtsgemeinschaft. Auch Palandt-Brudermüller, 71. Aufl. (2012), § 1353 Rn. 7 weist auf diese Verpflichtung im Rahmen eines traditionellen Eheverständnisses hin. Vgl. auch BGH NStZ-RR 2009, S. 308 (4. Strafsenat): „Nicht berücksichtigt sind dagegen das geringe Maß der angewendeten Gewalt und die Tatvorgeschichte, nämlich dass die Eheschließung der Ne1718

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

als eine Art „Selbsthilfe“ 1726 bzw. auf Grund des in der Ehe bestehenden „Grundkonsenses“ zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr als ein das sexuelle Selbstbestimmungsrecht „weniger intensiv“ beeinträchtigender Vorgang bewertet werden.1727 Diese Gedanken werden heute auch auf andere Beziehungsformen übertragen, weil die Ehe nicht mehr die Regel und auch nicht mehr die Voraussetzung für Sexualität ist. Im Rahmen einer Neubewertung sexueller Gewalt in Beziehungen sollte, wie oben bereits festgestellt, der hierbei regelmäßig erfolgende Vertrauensbruch aber strafschärfende Berücksichtigung finden.1728 Die gegenwärtige Praxis steht konträr zum sonstigen Umgang mit dem Umstand eines Vertrauensbruchs im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs. Im Rahmen der Unterschlagung, § 246 II StGB, wird das Merkmal des Anvertrautseins qualifizierend berücksichtigt.1729 Der Misshandlung von Schutzbefohlenen in § 225 StGB liegt ebenfalls der Gedanke des besonderen Vertrauensbruchs zu Grunde. Eine weit verbreitete Auffassung sieht des Weiteren im Vertrauensbruch das kennzeichnende Merkmal des Heimtückebegriffs, wobei dessen Vorliegen gerade in „institutionalisierten Vertrauensverhältnissen“ zur Bejahung des Mordmerkmals führen soll.1730 Darüber hinaus sollte der Umstand, dass sexuelle Nötigungen/ Vergewaltigungen innerhalb von Partnerschaften oftmals in der Wohnung des Opfers bzw. der gemeinsamen Wohnung stattfinden,1731 berücksichtigt werden. Der Strafgrund des Wohnungseinbruchsdiebstahls, § 244 I Nr. 2 StGB, liegt in der Erschütterung des Vertrauens des Opfers, in der eigenen Persönlichkeitssphäre vor kriminellen Eingriffen geschützt zu sein. Dieser Vertrauensbruch besitzt im Rahmen einer Vergewaltigung aber dieselbe Intensität. In der viktimologischen Forschung wird zu Recht betont, dass sexuelle Viktimisierungsprozesse im sozialen Nahraum größere psychische und soziale Schäden bewirken können, weil es zu einem Zusammenbruch des menschlichen Vertrauens kommt.1732

benkl. mit dem Angekl. für sie ,keine reine Liebesheirat‘ war, sie vielmehr sich und ihre 3 Kinder versorgt wissen wollte, dies beim Angekl. – einem Beamten mit gesichertem Einkommen – als gewährleistet ansah und sie ,in der Anfangszeit [den Geschlechtsverkehr] über sich ergehen‘ ließ, ab einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zu ,einvernehmlichem Geschlechtsverkehr‘ – zumindest weitgehend – aber nicht mehr bereit war“. 1726 Schroeder, JZ 1999, S. 828. 1727 Schünemann, GA 1996, S. 316. 1728 Ebenso Hillenkamp, StV 1986, 150 ff., 154; Kieler, 2003, S. 112; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 157 m.w. N.; Mitsch, JA 1989, S. 488; Reichenbach, NStZ 2004, S. 128; Schäfer/Sander/van Gemmeren, 5. Aufl. (2012), Rn. 1620 („unter Umständen“). Vgl. zum Trauma ehelicher Vergewaltigungen Finkelhor/Yllo, in: Vergewaltigung, 1986, S. 71 ff. 1729 Ebenso Reichenbach, NStZ 2004, S. 129. 1730 Küper, 8. Aufl. (2012), S. 197. 1731 Elsner/Steffen, 2005, S. 76, 98. 1732 H. J. Schneider, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, 1998, S. 384 f.

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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Die 1995 getätigte Aussage in der Reformdebatte zum 33. StÄG, dass „die modernen Vorstellungen von der sexuellen Selbstbestimmung der Frau und davon, daß sie sich dieses Rechts nicht dadurch begibt, daß sie den Nahbereich des Täters aufsucht, erst allmählich zu wirken beginnen“,1733 hat ihre Gültigkeit bewahrt. Darüber hinaus wird die Aufteilung der „Frauen in bescholtene und unbescholtene“ 1734 auch in der neuen Rechtsprechung weitergeführt. Der Schutz insbesondere vor „Fragen nach dem sexuellen Vorleben des Opfers, die keinen Zusammenhang zu Tat und Täter aufweisen“,1735 ist somit unverzichtbar. Trotz § 68a StPO1736 sind hierauf hinwirkende prozessuale Maßnahmen erforderlich, weil es nach wie vor Usus ist, die Geschädigte nach ihrem Intimleben zu befragen, selbst wenn dieses mit der Tat in keinerlei Zusammenhang steht.1737 Zu begrüßen ist deshalb die Rüge des Bundesgerichtshofs gegenüber der Erstinstanz in einem Beschluss aus dem Jahr 2005,1738 dass „auch im Rahmen seiner vorrangigen Verpflichtung zur Wahrheitsermittlung (. . .) das Gericht (ebenso wie auch die Ermittlungsbehörden) jedoch auf die Achtung der menschlichen Würde eines Zeugen, wie sie sich letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, Bedacht zu nehmen“ hat. 3. „Zurückwandlung“ des Regelbeispiels des § 177 I, II Nr. 1 StGB und Abschaffung des minder schweren Falls als Konsequenz? Die „Zurückwandlung“ des Regelbeispiels der Vergewaltigung in eine Qualifikation, im Gleichlauf mit den §§ 176a II Nr. 1 und 179 V Nr. 1 StGB, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.1739 Allerdings könnte das Merkmal der „Erniedrigung“ auch im Rahmen einer Qualifikation weiterhin als Einfallstor für moralische Erwägungen dienen. Darüber hinaus bliebe die Ausweichmöglichkeit

1733 Der leitende Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Traunstein, Zusammenstellung der Stellungnahmen zur Anhörung des Rechtsausschusses vom 07.12.1995, S. 94. 1734 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 12/3303, S. 7 f. 1735 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN forderten Schutzmaßnahmen vor derartigen Fragen in BT-Drs. 13/3026, S. 1 f. 1736 § 68a StPO soll diesem Anliegen Rechnung tragen. Durch das sog. Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 (BGBl. I S. 2496) wurde die Alternative „oder deren persönlichen Lebensbereich betreffen“ eingefügt. Sie soll insbesondere die durch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Verletzten vor detaillierter Befragung über ihr Sexualleben ohne erkennbaren Zusammenhang mit der zu verhandelnden Tat schützen; vgl. KK-StPO-Senge, 6. Aufl. (2008), § 68a Rn. 1a; BGH NJW 2005, S. 1519; BGH NStZ-RR 2009, S. 247. 1737 Vgl. BGH NStZ-RR 2009, S. 247. 1738 BGH NJW 2005, S. 1520; ebenso BGH NStZ-RR 2009, S. 247. 1739 s. zur Kritik an der Ausgestaltung der Vergewaltigung als Regelbeispiel bereits Zweiter Teil: D.III. und Brüggemann, 2012, S. 549 f.; Gössel, in: FS Hirsch, 1999, S. 187 ff.; Gössel, 2005, § 2 Rn. 63.

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3. Teil: Das Auslegungsverständnis des § 177 StGB

des minder schweren Falls. Das Institut des minder schweren Falls ist aber grundsätzlich begrüßenswert, da es die nötige Flexibilität bei der Strafzumessung schafft. Die Problematik liegt nicht – wie schon Helmken erkannte – „in der Gesetzestechnik, sondern bei den Anwendern“.1740 „Die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters“ sind die Grundlagen der Strafzumessung.1741 In den oben dargestellten Fallgruppen fehlt es jedoch an einer präzisen und rational-reflektierten Würdigung von Tatunrecht und Tatschuld.1742 Die Formel der Rechtsprechung zur Bestimmung eines minder schweren Falls trägt hierzu bei, nach der zu fragen ist, „ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, welches die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheinen lässt“.1743 Dieser Gesamtwürdigung haftet die Gefahr an, „Begünstigungen auf unklarer normativer Basis“ vorzunehmen.1744 Die Bezugnahme auf den „Durchschnitt“ ist wenig hilfreich, nachdem gerade bei Sexualstraftaten oftmals das notwendige Fachwissen bei den Gerichten fehlt1745 und als Regelfall gerade der Ausnahmefall der klassischen Vergewaltigung gilt. Die Praxis, eine Vergewaltigung über Absatz I zu einer sexuellen Nötigung und schließlich über Absatz V Alt. 1 zu einem minder schweren Fall einer sexuellen Nötigung herabzustufen, ist deshalb kritisch zu bewerten. Sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsunwert einer Vergewaltigung lassen die Anwendung eines minder schweren Falles über Absatz V Alt. 1 in den meisten Fällen als unangemessen erscheinen.1746 Für die Anwendung des § 177 V Alt. 1 StGB ist es ja gerade nicht ausreichend, dass das Tatbild vom Durchschnitt der das Regelbeispiel verwirklichenden Sachverhalte abweicht; „es muss sich vielmehr um einen Fall handeln, der bei einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter auch mit dem durchschnittlichen Erscheinungsbild und Unwertgehalt einer sexuellen Nötigung i. S. d. Abs. 1 nicht mehr vergleichbar ist“.1747 Der Appell, Strafminderungen nur dann

1740

Helmken, ZRP 1995, S. 305. BGHSt 20, 264 (266); vgl. dazu auch MüKo-Miebach, 2. Aufl. (2012), § 46 Rn. 23. 1742 Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 177, die zutreffend betont, dass eine Schwer- oder Gehbehinderung ebenso wenig wie eine gescheiterte Ehe oder Arbeitslosigkeit automatisch zu einer Strafminderung führt. 1743 BGH NStZ-RR 1998, S. 298; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 177 m.w. N. 1744 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 177. 1745 LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 177. 1746 Ebenso Frommel, Protokoll der 35. Sitzung des Rechtsausschusses vom 06.12.1995, S. 2 f.; LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), § 177 Rn. 234; MüKo-Renzikowski, 2. Aufl. (2012), § 177 Rn. 114; Sankol, StV 2006, S. 609 („seltene Ausnahmefälle“). 1747 Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 33. 1741

E. Die „Bescholtenheit‘‘ des Opfers

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vorzunehmen, wenn das Erfolgs- und/oder Handlungsunrecht und/oder die Schuld gemindert sind, verhallt jedoch ins Leere, solange nicht die Notwendigkeit erkannt wird, die alltagstheoretischen Erklärungsmodelle im Zusammenhang mit dem Delikt der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung zu überdenken und Strafzumessungserwägungen von überkommenen Vergewaltigungsmythen und -stereotypen zu befreien.1748 Unter diesem Blickwinkel müssten zahlreiche Urteile revidiert werden.

1748

Auch Mildenberger, 1998, S. 18 sieht dies als notwendig an.

Schlussbetrachtung und Ausblick Die Vergewaltigung als eines der ältesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurde im deutschen Raum stets als Kapitalverbrechen eingestuft, wie bereits Art. 119 CCC beweist. Auf Grund des Stereotyps der echten Vergewaltigung, das in allen Kodifikationen zum Ausdruck kommt, und des stets restriktiven Auslegungsverständnisses, das in der Ansicht der Unmöglichkeit der Notzucht einer Frau durch einen Mann gipfelte, blieb ein Großteil sexueller Gewalt im Verborgenen. Als Mittel der Willensüberwältigung wurde nur die (angedrohte oder angewandte) physische Gewalt anerkannt, Täter konnte nur der Fremdtäter sein, Opfer nur eine (unbescholtene) Frau. Dieses klassische Vergewaltigungsbild blieb bis zum 33. StÄG von 1997 erhalten, obwohl die entgegengesetzte Deliktsrealität bereits ab den 70er Jahren – auch durch die kriminologische Forschung – sichtbar gemacht wurde. Das 33. StÄG von 1997 bedeutete für § 177 StGB eine durchgreifende Veränderung: Erstmals seit über 450 Jahren – gerechnet von der CCC an – fielen der Mann als Opfer und die eheliche Vergewaltigung unter § 177 StGB. Darüber hinaus wurde mit § 177 I Nr. 3 StGB ein neues Nötigungsmittel geschaffen, das die „Widerstandsproblematik“ einer Lösung zuführen sollte. Die Auslegung des § 177 I, II Nr. 1, V StGB n. F. infolge des Reformgesetzes zeigt jedoch, dass eine Reform alleine ein tradiertes Auslegungsverständnis nicht zu verändern vermag. Hieraus erklären sich die mittlerweile auch restriktive Auslegung der neuen Tatvariante und das Festhalten der Rechtsprechung am „minder schweren Fall einer Vergewaltigung“ bei Prostituierten als Opfern, bei vorhergehenden (Intim-)Beziehungen und in Fällen einer vermeintlichen „Tatprovokation“. Die Rechtsprechung zu § 177 StGB ist in Teilen immer noch „rückständig“.1 Es fehlt die Bereitschaft, psychologische und kriminologische Fachkompetenz heranzuziehen bzw. sich diese anzueigenen.2 Das wünschenswerte Ziel, die Rechtsprechung und damit den Tatbestand des § 177 StGB von „unreflektiertem Alltagsvorverständnis“ 3 zu befreien, ist noch nicht erreicht. Diesem Ziel dient die vorliegende Arbeit. Zentrales Element des § 177 StGB ist nach wie vor die physische Gewalt oder die Angst davor. Mehr als problematisch stellt sich die duale finale Intention im Rahmen des § 177 StGB dar. Nachdem die Tätersicht hierbei Vorrang genießt, wird der (Serien-)Täter privilegiert, wenn er keinen Widerstand (mehr) erwartet 1

Brüggemann, 2012, S. 290. Vgl. die Würdigung des Nachtatverhaltens des Opfers in LG Essen, Urteil vom 15.02.2012 – 26 KLs 47/11, Rn. 127. 3 Rössner, in: FS Leferenz, 1983, S. 532. 2

Schlussbetrachtung und Ausblick

425

oder Nötigungsmittel zwar objektiv kausal, aber eben nicht final zur sexuellen Handlung einsetzt oder nicht mehr einsetzen muss. Die monokausale Zurückführung sexueller Gewalt auf den finalen Einsatz physisch wirkender Nötigungsmittel scheitert aber oftmals an der Deliktsrealität. Es bleibt die Frage, warum das sexuelle Selbstbestimmungsrecht im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs nur gegen besonders intensive Nötigungen geschützt sein soll. Denn letztendlich liegt der Unrechtskern einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung in der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers. Die Anwendung von Gewalt und Drohung erhöhen damit das Unrecht, begründen es aber nicht.4 Innerhalb der Eigentumsdelikte gibt es § 242 StGB, der die Wegnahme gegen den Willen einer Person sanktioniert. Innerhalb der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung gibt es keinen Auffangtatbestand, der die Erzwingung sexueller Handlungen – ohne Anwendung von Nötigungsmitteln gem. § 177 I StGB oder § 240 I StGB – gegen den Willen einer Person erfasst, selbst wenn „objektivierbare Indikatoren dafür festgestellt sind“ und „die Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts“ 5 damit nicht zu leugnen ist.6 Die Schaffung eines derartigen Tatbestands wäre in Deutschland ein absolutes Novum im Umgang mit sexueller Gewalt.7 Ausschließlich im Rahmen der Reformdebatte zum 33. StÄG war die 4

Ebenso LK-Hörnle, 12. Aufl. (2010), Vor § 174 Rn. 51. Jeweils Frommel, ZRP 1989, S. 232. 6 Vgl. z. B. BGH StV 2013, S. 745 f. 7 Vgl. hinsichtlich dieses Anliegens aktuell die Unterschriftenaktion von Terre des Femmes: „Vergewaltigung – Schluss mit der Straflosigkeit!“; s. https://www.frauen rechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/fahnenaktion/fahnenaktion-2013/unter schriftenaktion/unterschriftenaktion-ce sowie das Projekt vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte zum Sexualstrafrecht: s. https://www.frauen-gegen-gewalt.de/onlineansicht-vom-newsletter/items/bff-newsletter-nr-23-august-2013.html. Hintergrund ist die auch von Deutschland gezeichnete Konvention des Europarates zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ vom 11.05.2011, in der eine Strafbarkeit nicht einverständlicher sexueller Handlungen gefordert wird: Artikel 36 – Sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung 1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches Verhalten unter Strafe gestellt wird: a) nicht einverständliches, sexuell bestimmtes vaginales, anales oder orales Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem Körperteil oder Gegenstand; b) sonstige nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen mit einer anderen Person; c) Veranlassung einer Person zur Durchführung nicht einverständlicher sexuell bestimmter Handlungen mit einer dritten Person. 2 Das Einverständnis muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden. 3 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Absatz 1 auch auf Handlungen anwendbar ist, die gegenüber früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen oder Partnern im Sinne des internen Rechts begangen wurden. 5

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Schlussbetrachtung und Ausblick

Schaffung eines derartigen Tatbestands Diskussionsinhalt.8 Man darf gespannt sein, wie der deutsche Staat als Unterzeichner der sog. Istanbuler Konvention vom 11.05.2011, die am 01.08.2014 in Kraft trat und in Art. 36 die Sanktionierung nicht einverständlicher sexueller Handlungen fordert, gesetzgeberisch reagieren wird. Der britische Sexual Offence Act von 2003,9 der ganz auf die Anwendung (qualifizierter) Nötigungsmittel verzichtet, belegt bereits, dass eine andere Sichtweise möglich ist.10 Immerhin sieht es auch Wolters im Zusammenhang mit der althergebrachten Abgrenzung von Missbrauch und Nötigung in den §§ 176, 176a, 177, 179 StGB „im Rahmen einer umfassenden Reform“ als „kriminalpolitisch“ erstrebenswert an, dass im Rahmen des § 177 StGB „der (vom Täter erkannte) entgegenstehende Wille des Opfers zum wesentlichen Kriterium erhoben wird“.11 Darüber hinaus bleibt die Frage, warum der Androhung empfindlicher Übel und dem dabei auftretenden psychischen Zwang die Fähigkeit abgesprochen wird, einen vergewaltigungstauglichen Zwang bewirken zu können. Insbesondere weil sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen – im Gegensatz zum Raub und der räuberischen Erpressung – zum großen Teil Beziehungsdelikte sind, kann durch die Androhung von Übeln, die nicht die physische Integrität betreffen, ein vergleichbarer gravierender psychischer Druck entstehen, der in der Lage ist, einen Menschen zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Zumindest in Konstellationen, in denen eine „stabilisierte Bemächtigungslage“ in dem Sinne existiert, dass zwischen Täter und Opfer, egal aus welchen Gründen, ein Über-/Unterordnungsverhältnis besteht und beim Opfer ein Defizit an Abwehrpotential vorliegt, könnte die Ausübung von Druck durch den Täter als vergewaltigungstauglicher Zwang Vgl. http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/convention-violence/about_en.asp sowie die Stellungnahme des djb zur Notwendigkeit einer Reform des Sexualstrafrechts unter www.djb.de. 8 s. B.I. 9 Vgl. den Sexual Offence Act von 2003 unter http://www.legislation.gov.uk/ukpga/ 2003/42/pdfs/ukpga_20030042_en.pdf: Rape (1) A person (A) commits an offence if – (a) he intentionally penetrates the vagina, anus or mouth of another person (B) with his penis, (b) B does not consent to the penetration, and (c) A does not reasonably believe that B consents. (2) Whether a belief is reasonable is to be determined having regard to all the circumstances, including any steps A has taken to ascertain whether B consents. (3) Sections 75 and 76 apply to an offence under this section. (4) A person guilty of an offence under this section is liable, on conviction on indictment, to imprisonment for life. 10 Zum amerikanischen Recht vgl. Mauer, 2009, S. 23 ff. Hiernach wird in einigen, aber nicht in allen Staaten für den Tatbestand der Vergewaltigung (rape) der Einsatz von Gewalt oder Drohung verlangt. 11 Jeweils SK-Wolters, 124. Lfg. (September 2010), § 177 Rn. 13e.

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anerkannt werden. Auch im Rahmen der Gewalt gegen Dritte und Drohung für Leib und Leben dritter (nahestehender) Personen wird eine tatbestandsmäßige Drohung bejaht, obwohl dem Nötigungsadressat selbst nicht mit körperlichen Nachteilen gedroht wird. Allein das unmittelbare Miterleben dieser Situation wird zu Recht als motivierend im Sinne des Täterverlangens gewertet, weil hierdurch erheblicher psychischer Druck auf das Nötigungsopfer ausgeübt wird. Die Androhung einschneidender sozialer Konsequenzen,12 die Androhung gegenüber der minderjährigen Tochter, als Prostituierte arbeiten zu müssen,13 die Drohung, eine Straftat anzuzeigen oder den Ehepartner zu verlassen14 oder diesem die Kinder wegzunehmen15 sowie eine Heimeinweisung zu veranlassen,16 kann deshalb vergewaltigungstauglichen gravierenden psychischen Druck begründen.17 Dies gilt allerdings nur, wenn die oben beschriebene Bemächtigungslage vorliegt. Hat der Täter sein Opfer durch alltägliche erhebliche Gewalt unter seine Kontrolle gebracht, überzeugt es deshalb nicht, wenn eine Aburteilung mehrerer Taten wegen Vergewaltigung daran scheitert, dass der Täter hierbei nur mit der Wegnahme des Sohnes final gedroht hat.18 Die Wirkmacht psychischen Drucks wird bereits anerkannt, ansonsten hätte im sog. Katzenkönigfall19 keine mittelbare Täterschaft der Hintermänner angenommen werden dürfen. Das Tatwerkzeug in Gestalt des volldeliktisch handelnden Polizisten wurde jedoch derartig psychisch manipuliert, dass es glaubte, töten zu müssen. In der Literatur wird des Weiteren zu Recht vertreten, dass mittelbare Täterschaft bei „psychischer Beherrschung des strafbaren Tatmittlers“ 20 vorliegen soll.21 Blickt man in die Schweiz, werden diese Gedanken bestätigt. Das Schweizerische Strafgesetzbuch hat in Art. 189 SchweizStGB (Sexuelle Nötigung) und Art. 190 (Vergewaltigung) neben der Drohung und Gewalt als zusätzliches Nötigungsmittel den Einsatz psychischen Drucks eingeführt.22 Ängste, dass mit der Sanktionierung nicht einverständlicher sexueller Handlungen – ohne die Anwendung (qualifizierter) Nötigungsmittel –

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Ebenso Mildenberger, 1998, S. 61; a. A. Kieler, 2003, S. 159. BGH NStZ 2009, S. 263. 14 Beispiele nach Folkers, 2004, S. 71. 15 BGH NStZ-RR 2007, S. 173. 16 BGH NStZ 2009, S. 443. 17 Vgl. auch die Sachverhalte in BGH NJW 2003, S. 2251; BGH NJW 2007, S. 2341. 18 BGH NStZ-RR 2007, S. 173. 19 BGHSt 35, 347. 20 Maurach/Gössel/Zipf, 1989, § 48 Rn. 86. 21 Als Beispiel wird hierfür genannt: A bestimmt die „leicht beeinflussbare, ihm sexuell und psychologisch vollkommen hörige Frau B unter der Drohung, sie sonst zu verlassen, zur Tötung ihres Mannes“. Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, 1989, § 48 Rn. 86. 22 s. unter http://www.admin.ch/ch/d/sr/311_0/a190.html. Das revidierte Sexualstrafrecht trat am 01.10.1992 in Kraft. Vgl. ausführlich Hangartner, 1998, S. 75 ff., zum psychischen Druck S. 138 ff. 13

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nicht strafwürdige Verhaltensweisen tatbestandlich erfasst werden, sind – wie die obigen Ausführungen belegen – unbegründet. Der Gesetzgeber hat sich bisher jedoch dagegen entschieden, im Rahmen der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Erzwingung sexueller Handlungen ohne Einsatz von Nötigungsmitteln oder durch Einsatz bloß psychisch wirkenden Zwangs zu sanktionieren.23 Stattdessen wird ein Teil der Strafbarkeitslücken, die § 177 StGB hinterlässt, vom Regelbeispiel des Nötigungstatbestands in § 240 I, IV Nr. 1 StGB geschlossen. Dieses ist aber ebenfalls nur lückenhaft ausgestaltet und weist „Ungereimtheiten“ 24 auf. Auf Grund seiner Eigenschaft als Nötigungsdelikt wird naturgemäß der Einsatz von Nötigungsmitteln verlangt, wobei die Drohung mit einem empfindlichen Übel ausreicht. Das Regelbeispiel des § 240 I, IV Nr. 1 StGB erfasst entgegen § 177 StGB die erzwungene Vornahme einer sexuellen Handlung am Opfer selbst sowie sexuelle Handlungen ohne körperliche Berührung oder mit bzw. an Tieren25, das erzwungene Dulden einer sexuellen Handlung ist vom Wortlaut jedoch „unverständlich(er)“ Weise nicht erfasst.26 Entgegen einer Mindermeinung entfaltet § 177 StGB keine Sperrwirkung gegenüber § 240 StGB bei Einwirkungen unter dem „Intensitätsniveau“ 27 des § 177 StGB.28 Es vermag dennoch nicht zu überzeugen, dass die erzwungene Vornahme sexueller Handlungen ohne Anwendung qualifizierter Nötigungsmittel sowie Handlungen an sich selbst oder mit bzw. an Tieren nur von § 240 StGB sanktioniert wird. Indem diese Handlungen dem allgemeinen Nötigungstatbestand des § 240 StGB unterstellt werden, werden sie im Vergleich zu § 177 StGB bagatellisiert.29 Sie können jedoch ebenso massiv in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht eingreifen und die Menschenwürde in gleichem Maße verletzen wie eine sexuelle Nötigung/Vergewaltigung im Sinne des § 177 StGB. § 240 StGB, der dem Schutz der allgemeinen Willensbildungs- und Willensbetätigungsfreiheit dient, ist nicht der richtige Tatbestand, um das spezifische Unrecht der Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts zu sanktionieren. Diese Handhabung ist vielmehr widersprüchlich in ihrer Systematik. Es ist inkonsequent, den

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Vgl. die Kritik dazu von Fezer, JZ 1974, S. 599 ff., 603 f. Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 38. 25 § 177 I, II Nr. 1 StGB kann hier nur eingreifen, wenn der Täter das Tier als Werkzeug einer Penetration benutzt. 26 Fischer, 59. Aufl. (2012), § 240 Rn. 59; Sch/Sch-Perron/Eisele, 28. Aufl. (2010), § 177 Rn. 38 schlägt in diesen Fällen deshalb die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falls vor. 27 Mitsch, JA 1989, S. 485. 28 So Arzt, JZ 1984, S. 429; Röthlein, 1986, S. 219 ff. Ablehnend die h. M. in Rspr. und Literatur: BGHSt 31, 195 ff.; A. H. Albrecht, 2011, S. 23 ff.; Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 15; Mitsch, JA 1989, S. 486; Sick, 1993, S. 299 ff. 29 Ebenso Sick, 1993, S. 302 (zu § 240 StGB a. F.). 24

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besonderen Freiheitsbereich der sexuellen Selbstbestimmung zu zersplittern und einzelne Handlungen lediglich von dem allgemeinen Nötigungstatbestand erfassen zu lassen. Denn das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung eröffnet einen persönlichen Schutzbereich vor unerwünschten Eingriffen in dasselbe. Jede Willensbeeinträchtigung in diesem Bereich bedeutet demnach eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung. Neben der Beeinträchtigung dieser Schutzsphäre ist eine gleichzeitig isolierbare Verletzung des freien Willens aber ebenso wenig denkbar wie eine Abspaltung desselben.30 Wünschenswert wäre demnach eine abschließende Regelung der Eingriffe in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht innerhalb des 13. Abschnitts. Die Ansicht, die aus § 177 StGB die gesetzgeberische Entscheidung abliest, dass § 177 StGB auf Grund der hohen Wertigkeit des betroffenen Rechtsguts nur vor „massive(n)“ Nötigungen schützen soll und dem Opfer deshalb „viel Standvermögen“ abverlangt, so dass bei unterschwelligem Zwang das Opfer eine Eigenverantwortung für sein Rechtsgut treffe,31 ist abzulehnen. Wie oben bereits ausgeführt, erscheint gerade das gewichtige Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung über die Maßen schützenswert. Die pauschale Äußerung, es stelle eine Geringachtung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung dar, „wenn eine Frau bereits einer Übelsandrohung ohne lebens- oder gesundheitsgefährdenden Gehalt nach- und sich dem Täter hingibt“,32 verkennt die konkrete Situation des Opfers eines sexuellen Angriffs und die Wirkmacht psychisch wirkenden Zwangs. Die Möglichkeit, „nüchtern“ 33 abzuwägen, ist oftmals gerade nicht gegeben. Abzulehnen sind dagegen „punitive Strategien“,34 wenn es um die Verbesserung des Opferschutzes geht. Denn zum einen bewirken hohe Strafandrohungen eine „Selektivität der Strafverfolgung“,35 zum anderen wird hierdurch nicht die Wurzel des Problems angegangen. De lege lata wäre vielmehr eine Abkehr vom restriktiven Auslegungsverständnis der Nötigungsmittel in § 177 I StGB wünschenswert und darüber hinaus ein Abschied von der Lehre der Finalstruktur und des Finalzusammenhangs innerhalb des § 177 StGB.36 Als Konsequenz müssten im Rahmen des § 177 StGB die Opferperspektive und die spezielle Tatsituation der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung an Bedeutung gewinnen. Die Interessen des Opfers, das „von der Straftat am unmittelbarsten betroffen ist“, dürfen im Rahmen der „materiell-rechtlichen Wertungen“ nicht unberücksichtigt bleiben.37

30 31 32 33 34 35 36 37

Fezer, JZ 1974, S. 604. Arzt, JZ 1984, S. 429; Arzt/Weber/Hilgendorf, 2. Aufl. (2009), § 10 Rn. 15. Mitsch, JA 1989, S. 486; ebenso Röthlein, 1986, S. 219 ff. Mitsch, JA 1989, S. 486. Frommel, MschrKrim 1985, S. 358. Frommel, MschrKrim 1985, S. 358. s. ausführlich Dritter Teil: A.V., B.III. sowie C.III. Hörnle, ZStW 112 (2000), S. 361.

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Als Folge müssten das deliktsspezifische kriminologische und psychologische Erfahrungswissen und insbesondere die Erkenntnisse der Traumafoschung Beachtung finden. Die über Jahrhunderte verfestigte Vorstellung vom „ernstlichen Widerstand“ 38 muss in ihrer Opferschutz verkürzenden Wirkung erkannt und verabschiedet werden. Tatbestandsmäßige Gewalt im Sinne des § 177 StGB zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Grund körperlicher Kraftentfaltung und dadurch entstehender körperlicher Zwangswirkung eine Nötigung beim Opfer herbeiführt, also „einem anderen ein von ihm nicht gewolltes Verhalten“ aufzwingt, „ihn gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen“ bestimmt.39 Die Vorstellung, dass das Opfer der Tat Widerstand entgegenbringt, ist für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in subjektiver Hinsicht nicht konstituierend. Dem Gewaltbegriff ist die Nötigungskomponente nicht immanent, diese ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel zwischen den Tatbestandsmerkmalen Gewalt und Nötigen. Das kriminelle Unrecht der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung liegt darüber hinaus nicht in der vom Täter vorgenommenen finalen Verknüpfung von Nötigungsmittel und sexueller Handlung, sondern darin, dass der Täter gegen den Willen des Opfers einen sexuellen Übergriff vornimmt und seine Gewalt oder Drohung diesen kausal bedingen. Hinsichtlich dieses Kausalzusammenhangs genügt das Vorliegen von bedingtem Vorsatz beim Täter; in Abkehr von der herrschenden Meinung ist hierbei der Zeitpunkt der sexuellen Handlung maßgeblich. Die Deliktssituation der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen Täter und Opfer in der Mehrheit der Fälle eine persönliche Beziehung besteht,40 so dass der Zugriff von Täterseite erleichtert ist. Im Gegensatz zu den Raubdelikten können die deliktischen Schritte demnach oftmals keiner generalisierenden Schablone unterworfen werden. Insbesondere bei den im Kontext sexueller Gewalt typischen Serienstraftaten ist der zeitliche Ablauf von Gewalt und sexuellem Übergriff aus der Perspektive des Täters daher irrelevant. Der Täter muss nicht zwingend zweckgerichtet vorgehen. Er beherrscht das Opfer und differenziert nicht zwischen „asexueller“ Gewalt und Gewalt zur Erzwingung sexueller Handlungen, weil diese allgemein als Instrument der Unterwerfung eingesetzt wird und die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers ebenfalls ein solches Instrument darstellt. Der Opferperspektive und dem angemessenen Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts wird nur auf Basis dieses Auslegungsverständnisses Genüge getan. Des Weiteren wäre eine Wiederaufnahme der eingeschlafenen Reformdiskussion wünschenswert, weil der Schutz des sexuellen Selbstbestimmungsrechts 38 s. Erster Teil: A.II., B.II.1.; Zweiter Teil: B.II.1.b) sowie Dritter Teil: A.II.3. und D.II.2.a). 39 Jeweils BVerfG NJW 2004, S. 3769. 40 s. Erster Teil: A.I.

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noch nicht befriedigend gelöst ist.41 Wie auf dem Kongress des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe 2010 richtig bemerkt, herrscht seit dem 6. StrRG von 1998 aber eine „friedhöfliche Ruhe in der Debatte um den § 177 StGB“.42 Es scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass jetzt alles in Ordnung sei bzw. nach der Reform doch sein müsse. Sexuelle Gewalt gegen erwachsene Frauen und Männer liegt nicht (mehr) im Trend der Wissenschaft.43 Nach den Skandalen um den Missbrauch durch unter anderem katholische Geistliche liegt der Fokus vielmehr auf dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen44 (bzw. pflegebedürftigen und behinderten Menschen). Die Aufarbeitung dieses Komplexes ist auch dringend notwendig; es darf aber kein Ranking geben. Der Fall Kachelmann hat deutlich gezeigt, dass der Umgang mit dem Thema „Vergewaltigung“ in der Gesellschaft defizitär ist und dieses die Gesellschaft spaltet, und zwar in pro Opfer- und pro Täter-Parteien. Sämtliche Vorurteile traten hierbei wieder in Erscheinung.45 Wird eine Ausweitung der Strafbarkeit zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung diskutiert, wird deshalb auch regelmäßig der althergebrachte Einwand der Gefahr von Erpressungen instrumentalisiert.46 Auf Grund der sog. Istanbuler Konvention sollte der deutsche Staat jedoch nun gesetzgeberisch tätig werden. Strafrecht allein ist allerdings „eine stumpfe Waffe“.47 Außerstrafrechtlich müssen Denkprozesse angeregt und Aufklärung betrieben werden. Wichtigste Voraussetzung für ein Umdenken im Kontext sexualisierter Gewalt wäre deshalb zunächst die Bekämpfung von Vergewaltigungsstereotypen und -mythen, um einen Einstellungswandel in der Gesellschaft insgesamt zu erreichen.48 Denn die

41 s. den Hinweis auf die Konvention des Europarates zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ und die Projekte vom bff und Terre des Femmes in Fn. 7 als erfreuliches Beispiel dafür, dass die Diskussion wieder aufgenommen wird. 42 Grieger, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 9. 43 Ebenso Grieger, in: Streitsache Sexualdelikte – Frauen in der Gerechtigkeitslücke, 2010, S. 10. Seit der Reform gibt es kaum noch empirische Studien zur sexuellen Nötigung/Vergewaltigung. 44 Vgl. Bundesministerium der Justiz, Runder Tisch. Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich, 2011 sowie den Bericht über den systematischen Missbrauch im Kloster Ettal unter http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-03/klostertal-et tal-sexueller-missbrauch. 45 Vgl. dazu bereits die Einleitung: Fn. 5. 46 Vgl. dazu auch Lembke, 2008, S. 14. 47 Frommel, KJ 1996, S. 166. 48 Ebenso Hiekel/Endres, Kriminalistik 1997, S. 627 ff., 628 und http://www.polizeiberatung.de/presse/downloads/pressebilder/neue_medien/index/content_socket/medien/ display/116/.

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Abwandlung von Rechtsnormen allein hat „noch keinen grundlegenden Einfluss auf die Einstellung und das Bewusstsein der Gesellschaft“.49 Der Umgang mit dem Tatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung erfordert nach alledem ein reflektiertes Rechtsbewusstsein, darüber hinaus den Willen und den Mut, den Vorgang einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung einer vorurteilsfreien Revision zu unterziehen. Denn eine Genesung des Opfers kann erst beginnen, wenn die Wahrheit Anerkennung gefunden hat.50 Dasselbe gilt für den Täter.

49 So zutreffend die Ausführungen auf www.polizei-beratung.de unter http://www. polizei-beratung.de/presse/downloads/pressebilder/neue_medien/index/content_socket/ medien/display/116/. Im Rahmen dieses Prozesses sollten auch Beratungsstellen für Männer als Opfer eingerichtet werden. 50 Herman, 2. Aufl. (2006), S. 9.

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Stichwortverzeichnis 4. StrRG von 1973 118 f., 182 ff., 268 ff., 394 ff. 33. StÄG von 1997 189 ff., 278 ff., 397 ff. ALR von 1794 93 f. Alternativentwurf von 1968 178 ff., 269 f., 392 ff. Amtliche Entwürfe eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1922, 1925 und 1927 151 ff. Ausnutzung einer schutzlosen Lage, § 177 I Nr. 3 StGB 278 ff. – Anwendungsbereich 306 ff. – Entstehungsgeschichte 279 ff. Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 94 ff. Beleidigung, § 185 StGB 187 Fn. 833 Bescholtenheit – minder schwerer Fall 384 ff. – Rechtsgut „weibliche Geschlechtsehre“ 109 ff. – Vergewaltigungsmythos 27 f., 72 Blankeneser Notzuchtsaffäre 135 ff. CCC 81, 82 ff. Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 84 f. Drohung – Gemeines Peinliches Recht 85 ff. – RStGB 136 f. – StGB 256 ff. – konkludent 265 ff., 318 ff., 325 ff. – wiederholte Tatbegehung und Serienstraftaten 325 ff. – Territorialgesetzgebungen 98 f.

Einverständnis 356 ff. – Irrtum über ~ 361 ff. Entwurf Kahl von 1930 157 ff. Ernstlicher Widerstand – RStGB 123 ff. – StGB 249 ff., 272, 361 ff. – Traumaforschung 29 – Vergewaltigungsmythos 29 f. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit 380 ff. Falschanzeigen 30 ff., 49, 66, 73 f. Finalstruktur 207 ff. – Abschied von der Lehre der ~ 350 ff. Finalzusammenhang 314 ff. – § 177 I Nr. 3 StGB 334 f. – Abschied vom ~ 350 ff. – Einsatz betäubender Stoffe 347 ff. – Einsperren 337 f. – Klima der Gewalt 324 f., 331 ff. – Raub, § 249 StGB 212 ff. – RStGB 130 ff. – Sadismus 338 f. – Überraschungsangriff 339 ff. Frauenbewegung 77, 160 ff., 277 Freud, Sigmund 67 f. Gegenentwurf des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts 153 ff. Gegenentwurf von 1911 146 f. Geschlechtsspezifische Situationsverkennung 375 ff. Gewaltbegriff 225 ff. – Finalstruktur 207 ff. – Abschied von der ~ 350 ff. – fortwirkende Gewalt 318 ff. – Gemeines Peinliches Recht 85 ff. – Gewalt gegen Dritte 242 ff.

Stichwortverzeichnis – – – – – – –

Gewalt gegen eine Person 229 ff. Gewalt gegen Sachen 247 ff. Nötigung, § 240 StGB 196 ff. Raub, § 249 StGB 202 ff. RStGB 119 ff. Territorialgesetzgebungen 97 f. Vergeistigungsprozess 196 ff.

Hysterie 66 ff. – Falschanzeigen 66 ff., 73 f. – Freud, Sigmund 67 ff. – Psychoanalyse 67 ff. Kausalzusammenhang zwischen Nötigungsmittel und sexueller Handlung – RStGB 130 ff. – StGB 314 ff. Kommissionsentwürfe eines Strafgesetzbuchs von 1913 und 1919 147 ff. Körperverletzung, § 223 StGB, Verhältnis zu sexueller Nötigung/Vergewaltigung 381 f. Kriminologische Befunde – Opfer 44 ff. – Statistische Daten 19 ff. – Täter 37 ff. Minder schwerer Fall – § 177 StGB n. F. 397 ff. – Tatprovokation 399 ff. – Vergewaltigung von Prostituierten 409 ff. – vorhergehende intime Beziehungen 405 ff. – bis zum 33. StÄG 385 ff. – Reichsgericht 384 f. Nationalsozialismus 165 ff. Nötigung, § 240 StGB 197 ff. Preußisches Strafgesetzbuch von 1851 96 f.

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Psychologische Befunde 19 ff. – Opfer 44 ff. – Täter 37 ff. Rechtsgüter 107 ff. – Geschlechtsehre 109 ff. – sexuelle Selbstbestimmung 186 ff. – Sittlichkeitsordnung 108 f. Reformdiskussion – ab 1871 140 ff. – ab 1933 165 ff. – ab 1945 175 ff. Sekundäre Viktimisierung 46 ff., 51 Sexuelle Belästigung 187 Triebdelikt 25 f., 37 ff. Vergewaltigungsmythen/-stereotypen 23 ff. – Gerichtsmedizin 57 ff. – gesellschaftliche und geistige Grundlagen 52 ff. – Mythos Fremddelikt 19 f., 32 ff. – Mythos Triebdelikt 25 f., 37 ff. – Prozess der Entmythologisierung 70 ff. – Sexualwissenschaft 62 ff. Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts 140 ff. Viktimodogmatik 411 ff. Viktimologie 70 ff., 376, 415 f. Vis haud ingrata – Gemeines Peinliches Recht 88 ff. – geschlechtsspezifische Situationsverkennung 375 ff. – RStGB 123 ff. – StGB 249 ff., 362 ff. – Territorialgesetzgebungen 99 ff. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909 143 ff.