Festschrift für Roderich C. Thümmel zum 65. Geburtstag am 23.10.2020 9783110631395, 9783110630053

This festschrift is dedicated to Prof. Roderich Thümmel, LLM (Harvard), honorary professor at the University of Tübingen

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German Pages 1040 [1032] Year 2020

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Festschrift für Roderich C. Thümmel zum 65. Geburtstag am 23.10.2020
 9783110631395, 9783110630053

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I

Usus atque Scientia Festschrift für Roderich C. Thümmel zum 65. Geburtstag

II

III

USUS ATQUE SCIENTIA Festschrift für RODERICH C. THÜMMEL zum 65. Geburtstag am 23. Oktober 2020 herausgegeben von

Rolf A. Schütze Thomas R. Klötzel Martin Gebauer

De Gruyter

IV

ISBN 978-3-11-063005-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063139-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063017-6 Library of Congress Control Number: 2020935234 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: jürgen ullrich typosatz; Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com

Vorwort

V

Vorwort Vorwort

Vorwort Usus atque Scientia ist der Titel dieser Festschrift für Roderich C. Thümmel – ein Begriffspaar, das das gesamte berufliche Leben des Jubilars geprägt hat und prägt. Praxis und Wissenschaft bestimmen das Wirken des mit dieser Festschrift Geehrten. Geboren und aufgewachsen in Stuttgart hat er nach dem Abitur zunächst Tübingen zum Studienort gewählt, die schwäbische Universität – von Jens als deutsche Gelehrtenrepublik1 bezeichnet – an deren berühmter rechtswissenschaftlicher Fakultät über ein halbes Jahrtausend deutsche Juristen ausgebildet wurden. Nach einem Zwischenspiel an der Universität München ist er dann nach Tübingen zurückgekehrt, wo er sein 1. Juristisches Staatsexamen ablegte und mit einer rechtsvergleichenden Arbeit bei Dietrich Rothoeft summa cum laude promovierte. Er erhielt dafür den Preis der Reinhold-undMaria-Teufel-Stiftung für den jüngsten Promovierten mit einem summa cum laude Abschluss. Unmittelbar im Anschluss an das 2. Juristische Staatsexamen 1983 ging Roderich C. Thümmel nach Harvard, wo er seine Studien mit dem Master of Laws (LLM) abschloss. Über die Zeit in Harvard berichtet eine Studienkollegin anschaulich in dieser Festschrift. Über 60 Autoren aus mancherlei Jurisdiktionen haben sich zusammengefunden und einen bunten Strauß von Beiträgen aus den Rechtsgebieten, in denen Roderich C. Thümmel hauptsächlich wissenschaftlich und praktisch tätig ist, gebunden. So ist ein echtes liber amicorum entstanden, das die Arbeit des Jubilars würdigt. Janus, von dem Ovid berichtet, hatte auch den Beinamen Geminus: der Doppelte. Das trifft auch auf Roderich C. Thümmel zu. Seine eine Seite ist die des in der Praxis stehenden Rechtsanwalts, der Usus, die andere die der Wissenschaft, die Scientia. 1984 als Rechtsanwalt in Stuttgart und 1986 als attorney at law im Bundesstaat New York zugelassen, hat er sich national und international schnell den Ruf eines kundigen, sorgfältigen ausgleichenden Kautelarjuristen erworben. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen in der Beratung von Unternehmen, auch solchen der öffentlichen Hand, in Fragen des Gesellschaftsrechts, der Corporate Governance und bei M&A Transaktionen, ferner in der ge1 Vgl. Walter und Inge Jens, Eine deutsche Universität, 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 2. Aufl. 2004

VI

Vorwort

richtlichen Abwehr von Haftungsansprüchen, die sich gegen die Organe von Unternehmen richten. Er ist ein hervorragender D&O Versicherungsrechtler. Seine Veröffentlichungen zur Managerhaftung waren Pionierleistungen. Roderich C. Thümmel wurde von der Zeitschrift Wirtschaftswoche als einer der 25 besten Aktienrechtler Deutschlands ausgewählt. Auch das Handelsblatt hat ihn wiederholt als Top-Wirtschaftsanwalt für Gesellschaftsrecht empfohlen. Aber es ist nicht nur das Wissen, das ihn auszeichnet. Es sind Geschick und Feinfühligkeit, mit denen er es anwendet. Ein Autor dieser Festschrift beschreibt ihn treffend so: Auf allen Gebieten, auf denen er tätig ist, verbindet er juristische Finesse mit sicherem Blick für das Erreichbare und untrüglichem Gespür für den Ausgleich: Aus Bruchlinien der Argumentation erschließt er das Quellwasser der Lösung. Sein Interesse an Menschen ist das Fundament seines Verständnisses für die handelnden Personen und die Gründe ihrer Handlungen. Dabei ist nicht nur die Kautelarjurisprudenz Gegenstand seiner Praxis. Forensisch ist es die Schiedsgerichtsbarkeit, in der er als Schiedsrichter, Vorsitzender, Parteivertreter in nationalen und internationalen Verfahren als einer der Besten zu finden ist. Kein großes Verfahren, in dem nicht sein Name auftaucht. Die zweite Seite ist die Wissenschaft. Nach Lehraufträgen in Potsdam fand er wieder zurück in seine wissenschaftliche Heimat Tübingen. Hier ist er Honorarprofessor, hält Vorlesungen und Seminare über das Recht der Schiedsgerichtsbarkeit. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Managerund Aufsichtsratshaftung, zur Corporate Governance, zur Schiedsgerichtsbarkeit und zum Zivilprozessrecht. Seine Kommentierung des einstweiligen Rechtsschutzes im Großkommentar von Wieczorek/Schütze zur ZPO ist zum Standardwerk geworden. Das in dieser Festschrift abgedruckte Schriftenverzeichnis ist Ausdruck seiner ungeheuren Schaffenskraft. So ist Roderich C. Thümmel in beiden Gebieten des Rechts – Usus atque Scientia, Praxis und Wissenschaft – verwurzelt. Aber das ist nicht alles. Er steht auch im öffentlichen Leben. Zehn Jahre – von 2001 bis 2011 – war er Regional Chairman der American Chamber of Commerce in Germany. Er ist Honorarkonsul der Republik Island und ein geschätztes Mitglied des konsularischen Corps. Roderich C. Thümmel ist nie dem politischen Zeitgeist erlegen, der mit dem Mittel der political correctness zunehmend eine Wahrheit aus der Sicht des vermeintlich Guten zum Maß der Dinge erklärt und die Freiheit des Wortes und der Lehre einschränkt. Umberto Eco sieht darin die Gefahr eines Fundamentalismus, der annimmt, dass es von der Wahrheit nur eine einzige Version geben könne und daraus Intoleranz folgt. Aber Roderich C. Thümmel ist weder fundamentalistisch noch intolerant. Er ist der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet.

Vorwort

VII

Die juristische Welt wünscht mit dieser Festschrift einem, der aufrecht und ehrlich für das Recht kämpft, Glück mit dem Wunsch, der früher lateinische Doktorurkunden einleitete: Quod faustum felixque esse iubeat summum numen

VIII

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Vorwort

Autorenverzeichnis

IX

Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis AHRENS, HANS-JÜRGEN, Prof. Dr., Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht Universität Osnabrück, Richter am OLG Celle a.D., Vizepräsident des Nieders. Landesjustizprüfamtes a.D. ARNOLD, MICHAEL, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart BACHMANN, GREGOR, Prof. Dr., LL.M. (Michigan), Humboldt-Universität zu Berlin BERGER, BERNHARD, Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt, Bern BORRIS, CHRISTIAN, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Köln BRUSE, MATTHIAS, Dr., LL.M., Rechtsanwalt, München BUSSE, DANIEL, Dr., LL.M. (Columbia University), Rechtsanwalt, Partner, Frankfurt am Main CONRAD, NICOLE, Prof. Dr., LL.M., Rechtsanwältin, Basel CZERNICH, DIETMAR, Prof. Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Wien EDELMANN, HERVÉ, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart EIDENMÜLLER, HORST, Prof. Dr., LL.M. (Cantab.), M.A. (Oxon), Statutory Chair for Commercial Law, Professorial Fellow St. Hugh's College, University of Oxford ELSING, SIEGFRIED H., Prof. Dr., LL.M. (Yale), Rechtsanwalt, Düsseldorf FLEISCHER, HOLGER, Prof. Dr. Dr. h.c., LL.M., Direktor des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg GARBER, THOMAS, Universitätsprofessor, Mag. Dr., Karl-Franzens-Universität, Graz GEBAUER, MARTIN, Prof. Dr., Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen GEIMER, REINHOLD, Prof. Dr. Dr. h.c., Rechtsanwalt, München GERSTENMAIER, KLAUS-A., Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart GROBECKER, WOLFGANG, Dr., Rechtsanwalt, München HAARMANN, WILHELM, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Frankfurt am Main HABERSACK, MATHIAS, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht, Ludwig-Maximilians-Universität, München HANEFELD, INKA, Dr. LL.M. (NYU), Rechtsanwältin, Attorney-at-Law (New York), Hamburg HAPP, RICHARD, Dr., Rechtsanwalt, Hamburg HARSÁGI, VIKTÓRIA, Prof. Dr., Pázmány Péter Catholic University Faculty of Law and Political Sciences, Budapest HAUBOLD, JENS, Rechtsanwalt, Stuttgart HENZLER, JÖRG, Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart HORVATH, GÜNTHER J., Dr., MJC (NYU), Rechtsanwalt, Wien KINDLER, PETER, Prof. Dr. Dr. h.c., Institut für Internationales Recht, LudwigMaximilians-Universität, München

X

Autorenverzeichnis

KLAPPERT, MAREIKE, Doktorandin, Universität Regensburg KLÖTZEL, THOMAS R., Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart, Registered Foreign Lawyer, Singapur KOCH, ROBERT, Univ.-Prof. Dr., LL.M. (McGill), Geschäftsführender Direktor des Seminars für Versicherungswissenschaft, Universität Hamburg KÖHLER, MARKUS, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart KREINDLER, RICHARD, Prof. Dr., Attorney-at-Law and Avocat, Frankfurt am Main/New York LANGE, OLIVER, LL.M. (M&A), LL.M. (Insurance), Rechtsanwalt & Wirtschaftsmediator (MuCDR), Leiter Schadenmanagement VOV GmbH, Köln LANGE, SVEN, Dr., Rechtsanwalt, Counsel, Frankfurt am Main LIEBSCHER, THOMAS, Prof. Dr., Honorarprofessor an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Rechtsanwalt, Mannheim LOH, QUENTIN SZE-ON, Justice, Supreme Court of Singapore LÖRCHER, TORSTEN, Dr., Rechtsanwalt, Köln MAILÄNDER, K. PETER, Prof. Dr., M.C.J. (NYU), Rechtsanwalt, Stuttgart MEYDING, THOMAS, Dr. Rechtsanwalt, Solicitor England and Wales, Stuttgart DE MICHELI, CECILIA, Research Assistant, Institut für internationales und ausländisches Privat- und Wirtschaftsrecht, Universität Heidelberg MÜNCH, JOACHIM, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und ausländisches Zivilprozessrecht, Georg-AugustUniversität, Göttingen; NEUMAYR, MATTHIAS, Univ.-Prof. Dr., Vizepräsident des OGH, Paris-LodronUniversität Salzburg/OGH Wien OIWOH, BRIAN S., Mag., LL.M. (Edinburgh), Wien OTTE, DANIEL, Dr., LL.M. (Boston Univ.), Rechtsanwalt, Attorney-at-Law (New York), Köln PALMER, CHRISTOPH E., Dr., Minister a.D., seit 2008 Geschäftsführer der Allianz Deutscher Produzenten Film&Fernsehen e.V., Berlin/München PÖRNBACHER, KARL, Rechtsanwalt, München PRANTL, DÉSIRÉE, Dr., LL.M. (NYU), Rechtsanwältin, Wien RAJOO, SUNDRA, Datuk, Professor, Kuala Lumpur REICHERT, JOCHEM, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Mannheim REUTER, ALEXANDER, Prof. Dr., M.C.J., Rechtsanwalt und Attorney-at-Law (New York), Köln REYES, ANSELMO, International Judge, Singapore International Commercial Court, Hong Kong RISSE, JÖRG, Prof. Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Frankfurt am Main ROHE, MATHIAS, Prof. Dr. Dr. h.c., M.A., RiOLG a.D., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Erlangen-Nürnberg RUCKTESCHLER, DOROTHEE, Dr., Rechtsanwältin, Stuttgart RUTER, RUDOLF X., Experte in Nachhaltigkeit und Corporate Governance, Mitglied der Expertenkommission Deutscher Public Corporate Governance Musterkodex, Diplom-Ökonom, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Unternehmensberater, Stuttgart SACHS, KLAUS, Prof. Dr., Rechtsanwalt, München SCHÄFER, JAN K., Rechtsanwalt, LL.M. (Singapur), Frankfurt am Main SCHLOSSER, PETER F., Prof. Dr. Dr. h.c., ord. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität, München

Autorenverzeichnis

XI

SCHMIDT-HUSSON, FRANCK, Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart SCHNEIDER, UWE H., Universitätsprofessor Dr. Dr. h.c., Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz Of Counsel, Frankfurt am Main SCHÜTZE, ROLF A., Prof. Dr. Dr. h. c., Rechtsanwalt, Stuttgart SERVATIUS, WOLFGANG, Prof. Dr., Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht, Universität Regensburg SOLOMON, DENNIS, Prof. Dr., LL.M. (Berkeley), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Passau STRICKER-KELLERER, SABINE, Dr., Rechtsanwältin, München THOMAS, STEFAN, Prof. Dr., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Wettbewerbs- und Versicherungsrecht, Eberhard-KarlsUniversität, Tübingen TRITTMANN, ROLF, Prof. Dr., LL.M. (Berkeley), Rechtsanwalt, Frankfurt am Main TRUEHART, HARRY P., Senior Counsel & Chairman Emeritus, Immediate Past Chair, TerraLex, New York TRUNK, ALEXANDER, Prof. Dr. Dr. h.c., Institut für Osteuropäisches Recht, Christian-Albrechts-Universität, Kiel UNMUTH, NIKOLAI, Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart VORPEIL, KLAUS, Rechtsanwalt, Mainz WAGNER, JASMIN, Rechtsanwältin, München WEGEN, GERHARD, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Stuttgart WEILER, MARCUS, LL.M. (London School of Economics), Rechtsanwalt, München WELLER, MARC-PHILIPPE, Prof. Dr., Licencié en droit, Direktor des Instituts für internationales und ausländisches Privat- und Wirtschaftsrecht, Universität Heidelberg WENDELSTEIN, ANIKA, Dr., Rechtsanwältin, Stuttgart WIEGANDT, DIRK, Dr., LL.M. (Cambridge), Rechtsanwalt, Hamburg WILHELMI, RÜDIGER, Prof. Dr., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht sowie Rechtsvergleichung, Universität Konstanz WILSKE, STEPHAN, Dr. Maître en Droit, FCIArb, Rechtsanwalt und Attorneyat-Law (New York), Stuttgart ZAHN, BASTIAN, Rechtsanwalt, München

XII

Autorenverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

XIII

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V IX

HANS-JÜRGEN AHRENS „Schlichte“ und serielle Verletzung rechtlichen Gehörs im Eilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

MICHAEL ARNOLD UND NIKOLAI UNMUTH Zwingender Selbstbehalt – auch beim Vergleich mit dem D&O-Versicherer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

GREGOR BACHMANN Die Beweisbelastung ausgeschiedener Organmitglieder und ihrer Rechtsnachfolger im Haftungsprozess . . . . . . . . . . . . . . .

27

BERNHARD BERGER Die Zuständigkeit von Schiedsgerichten in Investitionsstreitigkeiten mit Sitz in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

CHRISTIAN BORRIS Die Unidroit Principles of International Commercial Contracts in der Praxis Internationaler Schiedsgerichte . . . . . . . . . . . . . .

53

MATTHIAS BRUSE Zur Aufteilung des Gewinnanteils zwischen Nießbraucher und Anteilseigner beim Nießbrauch an Gesellschaftsanteilen . . . . . . .

63

DANIEL BUSSE UND SVEN LANGE Schadensschätzung durch Schiedsgerichte – insbesondere bei der Anwendung komplexer Schadensmodelle . .

71

NICOLE CONRAD UND MAREIKE KLAPPERT Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln aus Schweizer- und deutscher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

XIV

Inhaltsverzeichnis

DIETMAR CZERNICH Gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren in Österreich . . . . . . . .

101

HERVÉ EDELMANN Der Begriff der „bauspartechnischen Gründe“ – Zugleich Besprechung von BGH, Urteil v. 12.11.2019, Az. XI ZR 148/19 – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

HORST EIDENMÜLLER Competition between State Courts and Private Tribunals . . . . . .

125

SIEGFRIED H. ELSING Disqualification of Counsel in Investment Arbitration . . . . . . . .

143

HOLGER FLEISCHER Die Beweislastumkehr nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG: Rechtsgeschichte – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik

. . . . . . .

157

THOMAS GARBER UND MATTHIAS NEUMAYR Ein neues System des einstweiligen Rechtsschutzes in Europa Einstweilige Maßnahmen nach der Brüssel IIb-Verordnung . . . . .

171

MARTIN GEBAUER Schadensersatz bei Verletzung von Schiedsund Gerichtsstandsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

REINHOLD GEIMER Aspekte des internationalen Zwangsvollstreckungsrechts . . . . . . .

221

KLAUS-A. GERSTENMAIER Der Arme Konrad, das württembergische Hofgericht zu Tübingen und die Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . .

233

WOLFGANG GROBECKER UND JASMIN WAGNER Die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . .

243

WILHELM HAARMANN Die Erstattungsfähigkeit der durch die Hinzuziehung externer Sachverständiger entstehenden Kosten für einzelne Mitglieder oder eine Gruppe von Mitgliedern des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Inhaltsverzeichnis

XV

MATHIAS HABERSACK Zur Mitsprache der Vereinsmitglieder an Strukturmaßnahmen des Vereins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

INKA HANEFELD UND DIRK WIEGANDT The Prague Rules – the New Contender and its Old Champion . .

283

RICHARD HAPP The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal? Is it something else? An analysis of a legal chimera . . . . . . . . . .

297

VIKTÓRIA HARSÁGI Gerichtsbarkeit, internationale Zuständigkeit und Rechtshängigkeit im ungarischen IPR nach der Reform 2018 . . . . . . . . . . . . . . .

313

JENS HAUBOLD Haftungsverteilung und Regress in der Organhaftung . . . . . . . .

331

JÖRG HENZLER Schadenszurechnung bei Verstößen gegen Zustimmungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

GÜNTHER HORVATH, DÉSIRÉE PRANTL UND BRIAN S. OIWOH Privatstiftungen und Schiedsverfahren in Österreich . . . . . . . . .

367

PETER KINDLER Die sachliche Reichweite der Schiedsvereinbarung in Fällen der Anspruchskonkurrenz – Eine internationale Fallstudie aus Sicht des deutschen Exequaturrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

THOMAS R. KLÖTZEL Justitiae dilatio est quaedam negatio – Considerations on expedited arbitral procedures – . . . . . . . . . . .

395

ROBERT KOCH Wechselseitige Rücksichtnahmepflichten der Versicherer in der Exzedentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

MARKUS KÖHLER Beweiserhebung in-camera? Geschäftsgeheimnisschutz in IP-Schiedsverfahren . . . . . . . . . . .

439

XVI

Inhaltsverzeichnis

RICHARD KREINDLER Some Cross-Cultural Reflections On The Notion Of “Due Process Paranoia” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

OLIVER LANGE Wissentlichkeitsausschluss, Bindungs- und Infektionswirkung im D&O-Deckungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

THOMAS LIEBSCHER „Schiedsfähigkeit“ personengesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

JUSTICE QUENTIN LOH The Rise of International Commercial Courts – A Threat to Arbitration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

TORSTEN LÖRCHER UND DANIEL OTTE Schiedsklauseln in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen nach „Schiedsfähigkeit II“ und „Schiedsfähigkeit III“ . . . . . . . . .

515

K. PETER MAILÄNDER Die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit inaktiven Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

533

THOMAS MEYDING UND SIMON C. KIRCHNER Effektive Konzernsteuerung in internationalen Gruppen – ein Fall für Legal Tech?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551

JOACHIM MÜNCH „Divide et impera“ – Trennbarkeit im Schiedsrecht . . . . . . . . . .

573

CHRISTOPH E. PALMER Die Modernisierung der Auftragsbedingungen zwischen den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD und ZDF und der Fernseh-Produktionswirtschaft in Deutschland . . . . . . . .

593

KARL PÖRNBACHER UND BASTIAN ZAHN Die Wahl deutschen Rechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle: Lösungsansätze für die Praxis aus der schiedsrechtlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

617

DATUK SUNDRA RAJOO Conflict of Laws in Arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

633

Inhaltsverzeichnis

XVII

JOCHEM REICHERT Wissenszurechnung im faktischen Konzern und Verschwiegenheitspflichten von Aufsichtsratsmitgliedern bei Doppelmandaten . . . .

657

ALEXANDER REUTER Verbessern Unternehmenssanktionen die Rechtstreue des Managements? – Kriminologische Antworten mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

673

ANSELMO REYES Implications of the 2019 Hague Convention on the Enforcement of Judgments of the Singapore International Commercial Court . .

695

JÖRG RISSE Über Document Production - ein Wutausbruch! . . . . . . . . . . .

709

MATHIAS ROHE Zur Substitution im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht .

731

DOROTHEE RUCKTESCHLER UND ANIKA WENDELSTEIN Kann ein Schiedsrichter zugleich Mediator sein? . . . . . . . . . . . .

741

RUDOLF X. RUTER Der unabhängige Beirat und Aufsichtsrat aus der Sicht eines Nicht-Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

755

KLAUS SACHS UND MARCUS WEILER A comparison of the recognition and enforcement of foreign decisions under the 1958 New York Convention and the 2019 Hague Judgments Convention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

763

JAN K. SCHÄFER Das niederländische summarische Schiedsverfahren – Innovation für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

PETER F. SCHLOSSER Verschärfte Rechtsprechungsanforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

797

FRANCK SCHMIDT-HUSSON Was, um Himmels willen, ist eine „Kardinalpflicht“? . . . . . . . . .

811

XVIII

Inhaltsverzeichnis

UWE H. SCHNEIDER Die Pflicht zur Ad-hoc – Publizität bei Verdacht . . . . . . . . . . . .

835

ROLF A. SCHÜTZE Falsches Recht richtig angewendet – richtiges Recht falsch angewendet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

847

WOLFGANG SERVATIUS Disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH – gesellschaftsrechtliche Todsünde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

859

DENNIS SOLOMON Das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen von 2019 und die internationale Anerkennungszuständigkeit . . . .

873

SABINE STRICKER-KELLERER „Getting to Yes“ in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

893

STEFAN THOMAS Stand und Perspektiven des Kartellzivilprozesses . . . . . . . . . . . .

901

ROLF TRITTMANN Die Sachverhaltsermittlung im Schiedsverfahren: IBA Rules, Prague Rules und keine Alternative? . . . . . . . . . . . .

913

HARRY P. TRUEHEART Can a Non-signatory to an International Arbitration Agreement to Which German Law Applies Be Compelled to Arbitrate Under United States Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

929

ALEXANDER TRUNK Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit in der Ukraine: Qualitätssicherung im Schatten des Konflikts . . . . . . . . . . . . . .

939

KLAUS VORPEIL Im Spannungsfeld zwischen ICC-DOCDEX-Verfahren und ICC-Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

947

GERHARD WEGEN Die Kompetenzabgrenzung von Schiedsgerichten und Schiedsgutachtern zur Beantwortung rechtlicher Vorfragen – eine Fallskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

959

Inhaltsverzeichnis

XIX

MARC-PHILIPPE WELLER UND CECILIA DE MICHELI Ordre public in International Arbitration. . . . . . . . . . . . . . . . .

967

RÜDIGER WILHELMI Die Begründung des Schiedsspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

983

STEPHAN WILSKE Mitwirkung an einer juristischen Festschrift als Gefahr der Besorgnis der Befangenheit – Ketzerische Anmerkungen zu einem gefährlichen Thema – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

995

Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1005

XX

Inhaltsverzeichnis

1

„Schlichte“ und serielle Verletzung rechtlichen Gehörs im Eilverfahren „Schlichte“ und serielle Verletzung rechtlichen Gehörs im Eilverfahren Hans-Jürgen Ahrens

„Schlichte“ und serielle Verletzung rechtlichen Gehörs im Eilverfahren HANS-JÜRGEN AHRENS

I. Theorie und Praxis der Gehörsgewährung . . . . . . . . 1. Konzeption des Eilrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . 2. Die Pfade der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entscheidungen des BVerfG vom 30.9.2018 zur prozessualen Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren 1 BvR 1783/17 – Die F.-Tonbänder . . . . . 2. Verfahren 1 BvR 2421/17 – Steuersparmodell eines Fernsehmoderators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Verfahrensergebnisse . . . . . . . . . . . III. Fragwürdige Begründungsemelemente . . . . . . . . . . 1. Freibrief zur Missachtung des § 937 Abs. 2 ZPO . . . . 2. Mitteilungspflicht entgegen § 922 Abs. 3 ZPO . . . . . IV. Konsequenzen für Fachgerichte und Antragsteller . . . 1. Beschlussentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Darlegung einer vorausgegangener Abmahnung und fehlgeschlagener Antragstellungen . . . . . . . . . . . . . 3. Kommunikation zur Vorbereitung von Beschlussverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Folgenlosigkeit serieller Verstöße aufgrund einseitiger Verfahrensdurchführung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Heilung durch nachgeholtes Gehör . . . . . . . . . . . . 2. Einführung einer Rüge verletzter Waffengleichheit? . . 3. Richterwechsel als Flucht des Antragsgegners . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

2 2 2

. . . . . . . . . .

4 4

. . . . . . .

. . . . . . .

6 6 7 7 8 9 9

. . . . .

11

. . . . .

11

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12 12 13 14

. . . . . . .

. . . .

. . . . . . .

. . . .

. . . . . . .

. . . .

. . . .

Der Jubilar hat das Verfahren der einstweiligen Verfügung eingehend kommentiert. Dort hat er den verfassungsrechtlichen Rahmen beschrieben, in dem sich Begünstigungen und Verkürzungen des Rechtsschutzes aus der Sicht beider Prozessparteien bewegen. Notwendig ist eine Abwägung zwischen widerstreitenden Garantien, nämlich der Gewährung effektiven Rechtsschutzes einerseits und rechtlichen Gehörs andererseits.1 1 Thümmel in Wieczorek/Schütze, ZPO, zuletzt in 5. Aufl., Band 11, 2020, vor § 916 Rn. 5 f.

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Hans-Jürgen Ahrens

I. Theorie und Praxis der Gehörsgewährung 1. Konzeption des Eilrechtsschutzes Rechtliches Gehör ist nach dem theoretischen Konzept des Verfassungsrechts und der Prozessrechtsordnungen grundsätzlich vor einer richterlichen Entscheidung zu gewähren. Das gilt auch für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Davon dürfen Ausnahmen gemacht werden, wenn die Effektivität der Rechtsschutzgewährung, eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, irreversiblen Schaden nehmen würde. Die Eilverfahren unterscheiden verschiedene Stufen der Dringlichkeit. Das Gericht entscheidet bei gesteigerter Dringlichkeit ohne vorherige mündliche Verhandlung auf der Grundlage einseitigen Vorbringens des Antragstellers durch Beschluss (so § 920 ZPO). Es gelten dann allerdings nicht die normalen Regeln für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast; vielmehr muss der Antragsteller sein gesamtes tatsächliches Vorbringen glaubhaft machen. Die Prozessordnungen sehen für diese Fälle vor, dass das rechtliche Gehör nachzuholen ist, wenn auch nicht zwingend von Amts wegen, sondern – so etwa § 924 ZPO – auf Widerspruch des Antragsgegners hin. Bleibt der Widerspruch aus, findet nicht zwangsläufig eine Überprüfung der Beschlussentscheidung in einem Hauptsacheverfahren statt, denn das deutsche Prozessrecht verlangt vom Antragsteller nicht, ein solches Verfahren einzuleiten. Bei Vorwegnahme des möglichen Hauptsachetenors im Eilverfahren hat er daran in der Regel auch kein rechtliches Interesse, da eine Abschlusserklärung eine Bestandssicherung der Eilentscheidung gegen spätere Angriffe ermöglicht. Es bleibt dem Antragsgegner überlassen, die Initiative zu ergreifen, etwa durch Antragstellung nach § 926 ZPO, durch Erhebung einer negativen Feststellungsklage oder durch Einleitung eines Schadensersatzverfahrens auf Grundlage des § 945 ZPO. Das Erfordernis einer Parteiinitiative ist mit Art. 50 Abs. 6 TRIPS-Abkommen vereinbar, der vorsieht, dass nach Ablauf einer fixierten Frist das mündliche Gehör in einem Hauptsacheverfahren nachzuholen ist.2 Der Antragsgegner soll nicht um der reinen Lehre willen mit einem zusätzlichen, Kosten verursachenden Verfahren belastet werden. 2. Die Pfade der Praxis a) Bevorzugung der begründungslosen Beschlussverfügung Seit langem wird beklagt, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Eilverfahren mit und ohne mündliche Verhandlung durchbrochen, wenn nicht 2 EuGH GRUR Int. 2002, 41, 46 Tz. 70 – Route 66; Ahrens in Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, 8. Aufl. 2017, Kap. 61 Rn. 4.

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sogar umgekehrt worden ist. Das ist der Überlastung der Justiz geschuldet, die trotz rückläufiger Eingangszahlen weiter anhält. Beschlussverfügungen müssen nicht mit einer näheren Begründung versehen werden (Umkehrschluss aus § 922 Abs. 1 S. 2 ZPO, jedoch streitig3), sind also zeitsparend zu erlassen. Der Richter mag auch hoffen, dass es dabei bleiben wird. Aus der Sicht des Antragsgegners ist der Erlass einer Beschlussverfügung misslich, weil er bei unsicher zu beurteilender Tatsachen- und Rechtslage abwägen wird, ob er Kosten für eine Fortsetzung des Verfahrens aufwenden soll, bei der er kalkulieren muss, dass das Gericht an seiner einmal getroffenen Bewertung festhalten wird und eine Umkehr des Ergebnisses erst in der zweiten Instanz erreichbar scheint. Die Missachtung der Dringlichkeitsabstufung lässt sich in ihren Wirkungen noch steigern. Eine erste Steigerung besteht darin, dass der Antragsgegner zunächst einmal im Dunkeln darüber gelassen wird, auf welchem Sachvortrag des Antragstellers die Entscheidung beruht. Zur Vermeidung dieser Ungewissheit müsste das Gericht tenorieren, dass die Antragsschrift zum Bestandteil der Beschlussverfügung gemacht wird und deshalb mit der Verfügung zuzustellen ist. Leider gibt es aber selbst renommierte Gerichte, die es dem Antragsgegner überlassen, die Antragsschrift vom Gericht anzufordern. b) Einseitige Kommunikation mit dem Antragsteller Der Gipfel der Gehörsverletzung ist erreicht, wenn der Richter sich darauf einlässt, im einseitigen Verfahren telefonische Anfragen des Antragstellers zu den Aussichten des Verfügungsantrags zu beantworten,4 so dass der Antragsteller abhängig von der Antwort seinen Antrag entweder zurücknehmen oder ihn mit weiterem Material unterfüttern kann. Allerdings ist das schriftliche Verfahren mittlerweile durch Berücksichtigung des Vorbringens in Schutzschriften gesetzlich abgesegnet worden. Noch vor Jahrzehnten war umstritten, ob Schutzschriften zur Abwendung einer Entscheidung im Beschlusswege überhaupt zu berücksichtigen sind;5 anfänglich wurde gar die Entstehung eines Prozessrechtsverhältnisses geleugnet.6 Als die Bedeutung der Schutzschrift für die Gewährung rechtlichen Gehörs endlich anerkannt wurde, blieb weiterhin umstritten, ob Schutzschriftvorbringen des potentiellen Antragsgegners bloß der Abwehr 3

Dazu Scharen in Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, Kap. 51 Rn. 41 m.w.Nachw. Kritisch dazu Scharen in Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, Kap. 51 Rn. 34; Schwippert in Teplitzky/Peifer/Leistner, Großkommentar zum UWG, 2. Aufl., Band 3, 2015, § 12 Teil C, Rn. 119. 5 Nachweise dazu in Ahrens/Spätgens, Einstweiliger Rechtsschutz und Vollstreckung in UWG-Sachen, 4. Aufl. 2001, Rn. 269 f.; Ahrens in Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, Kap. 55 Rn. 13 m.w.Nachw. und Büttner/Spätgens, ebenda Kap. 7 Rn. 30. 6 Nachweise zur Entwicklung in Ahrens/Spätgens, Einstweiliger Rechtsschutz und Vollstreckung in UWG-Sachen, Rn. 285 ff. 4

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einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung dienen darf, oder ob sich der Richter zur Abweisung des Verfügungsantrags im Beschlusswege auf glaubhaft gemachtes Vorbringen des Antragsgegners stützen darf, weil damit ja ein schriftliches Verfahren an § 128 Abs. 1 ZPO vorbei durchgeführt wird. Die Durchführung eines Verfahrens ohne mündliche Verhandlung – sei es schriftlich oder telefonisch – am Antragsgegner vorbei lässt sich nicht mit der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht rechtfertigen. Die gesetzliche Regelung ist an den Grundwerten der Verfassung zu orientieren.7 So nimmt es nicht Wunder, dass sich damit auch das Bundesverfassungsgericht befasst hat.

II. Die Entscheidungen des BVerfG vom 30.9.2018 zur prozessualen Waffengleichheit Das BVerfG hat in zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren, die beide von Medienunternehmen betrieben wurden, die vorstehend gerügte Verfahrenspraxis zu beurteilen gehabt. In beiden Verfahren wurde u.a. die Verletzung prozessualer Waffengleichheit geltend gemacht. Vorbereitet worden sind diese Beschlüsse bereits durch ein obiter dictum in einem Beschluss des BVerfG vom Juni 2017.8 1. Verfahren 1 BvR 1783/17 – Die F.-Tonbänder a) Prozessgeschichte Im Verfahren 1 BvR 1783/179 war im Ausgangsverfahren vor dem LG Köln durch Beschluss eine Unterlassungsanordnung erlassen worden, die den Antragsgegner völlig überrascht hatte, weil eine vorprozessuale Abmahnung nicht ausgesprochen worden war. Von der Begründung erhielt der Antragsgegner erst nach Akteneinsicht Kenntnis. Der Beschluss war auf Widerspruch hin bestätigt worden. Die Entscheidung des BVerfG zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit erging noch während des schwebenden Berufungsverfahrens. b) Grundsatz prozessualer Waffengleichheit Das BVerfG hat die Beschwerdeführerin in ihrem „grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verb. mit Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl. 2019, § 139 Rn. 1. BVerfG NJW 2017, 2985 Tz. 11 m. Anm. M.Vollkommer MDR 2017, 1287 f. = WRP 2017, 1073; Bespr. Teplitzky WRP 2017, 1163 ff. 9 BVerfG NJW 2018, 3631 = GRUR 2018, 1288 – Die F.-Tonbänder. 7 8

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Art. 20 Abs. 3 GG“ verletzt gesehen. Dieses Recht sichere die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter, der – auch im Blick auf die Verfahrensgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG – den Parteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen habe, alles für die Entscheidung Erhebliche vorzutragen. Der Richter habe die „Pflicht“, die Gleichstellung „durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozessbeteiligten zu wahren“.10 Der Gehörsgrundsatz wird als „besondere Ausprägung der Waffengleichheit“ bezeichnet. Dieses „prozessuale Urrecht“ gebiete, der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen; die Verweisung auf eine nachträglich Anhörung setze voraus, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens verhindert würde, wirksamen vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.11 c) Ermessen zur Entscheidung im Beschlusswege Das BVerfG differenziert zwischen dieser Pflicht zur vorherigen Anhörung und der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Für die Entscheidung über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung stehe den Fachgerichten ein weiter Wertungsrahmen zur Verfügung. Die Medienwelt sei durch schnelle Reaktionen über das Internet, ständig aktualisierte Online-Angebote und die sozialen Medien geprägt, die eine beschleunigte Weiterverbreitung von Informationen ermöglichten, so dass das Bedürfnis nach zeitnaher Anordnung einer etwaigen Unterlassung oder der Durchsetzung eines Gegendarstellungsanspruchs ein Beurteilungskriterium für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei.12 Die Beurteilung der gesteigerten Dringlichkeit des § 937 Abs. 2 ZPO könne sich im Laufe eines Verfahrens ändern; dem müsse das Gericht auch nachträglich noch Rechnung tragen.13 d) Einseitige Kommunikation mit dem Antragsteller Für die Verletzung der Waffengleichheit war maßgebend, dass eine Abmahnung nicht vorangegangen war und der Antragsgegner deshalb keine Gelegenheit gehabt hatte, sich vorbeugend in einer Schutzschrift zu äu10 11 12 13

BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 14. BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 15. BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 19. BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 20.

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ßern.14 Diese Form der Erwiderungsmöglichkeit genüge allerdings nur, wenn der Verfügungsantrag unverzüglich im Anschluss an den Ablauf der in der Abmahnung gesetzten Unterwerfungsfrist gestellt werde und der Verfügungsantrag mit der Abmahnung identisch sei. Ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners müsse mit der Antragsschrift vorgelegt werden.15 Sei der Antragsgegner nicht in gehöriger Form abgemahnt worden oder weiche der Verfügungsantrag davon ab, müsse dem Antragsgegner in anderer Weise Gehör gewährt werden.16 Mündliche oder telefonische Hinweise gem. § 139 ZPO seien vollständig zu dokumentieren, so dass sich nachvollziehbar aus den Akten ergebe, „wer wann wem gegenüber welchen Hinweis“ gegeben habe. Der Gegner sei davon zeitnah und vor der Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu setzen, insbesondere wenn der Antragsteller durch die Hinweise Gelegenheit erhalte, den Antrag nachzubessern oder wenn der Richter eine Einschätzung über die Erfolgsaussichten oder das Vorliegen gesteigerter Dringlichkeit abgebe. Unzulässig sei ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen.17 2. Verfahren 1 BvR 2421/17 – Steuersparmodell eines Fernsehmoderators Das Verfahren 1 BvR 2421/1718 betraf ein Ausgangverfahren vor LG und OLG Hamburg, in dem schon zwei Gegendarstellungsanträge vom Landgericht abgelehnt worden waren, der dritte Antrag dann im Beschwerdeverfahren Erfolg hatte und dem Antragsteller wiederholt telefonische rechtliche Hinweise erteilt worden waren, ohne dass der Presseverlag als Gegner davon Kenntnis bekommen hatte. Die Rechtsausführungen des BVerfG, das der Verfassungsbeschwerde stattgegeben hat, entsprechen fast wortgleich der Entscheidungsbegründung im Verfahren 1 BvR 1783/17. 3. Eingeschränkte Verfahrensergebnisse a) Ausnahmsweise Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden jeweils nur deshalb für zulässig gehalten, weil die Verstöße gegen das Recht auf Gehör auf einem bewussten und systematischen Vorgehen beruhten, dessen Wiederholung bei 14

BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 22. BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 23. 16 BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 24. 17 BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 24. 18 BVerfG NJW 2018, 3634 m. Anm. Roth = GRUR 2018, 1291 – Steuersparmodell eines Fernsehmoderators. 15

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im Wesentlichen unveränderten rechtlichen und tatsächlichen Umständen konkret zu befürchten war.19 In diesen seriellen20 Rechtsverletzungen lag die Besonderheit, die das Verfahren von einem gewöhnlichen error in procedendo21 unterschied, der nicht zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde berechtigt. Darauf beruhte die herausgehobene Bewertung des Procedere als Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit. b) Feststellung der Verfassungswidrigkeit Der Erfolg der Verfassungsbeschwerden bestand allerdings lediglich in einer Feststellung der Rechtsverletzung. Die Rechtsverletzungen selbst waren nach Ansicht des BVerfG nicht mehr zu beseitigen, weshalb eine Entscheidungsaufhebung auch nicht mehr in Betracht kam. Nicht gerüttelt hat das BVerfG an der gehäuften Anwendung des § 937 Abs. 2 ZPO im Medienäußerungsrecht. Allerdings wurde dazu eine detaillierte Begründung gegeben.22 III. Fragwürdige Begründungsemelemente 1. Freibrief zur Missachtung des § 937 Abs. 2 ZPO Das BVerfG will den Fachgerichten eine „weiten Wertungsrahmen“ bei der Entscheidung über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung einräumen. Schumann hat dies zu Recht gerügt.23 Die Anforderungen der §§ 935 und 940 ZPO, zusammenfassend als Dringlichkeitserfordernis kategorisiert, sprechen nicht von „Ermessen“, sondern verwenden die Formulierung „sind zulässig“. Die Vorschriften weichen damit ausdrücklich von § 922 Abs. 1 S. 1 ZPO ab, der ungeachtet der Verweisung des § 936 ZPO nicht für das Verfahren der einstweiligen Verfügung, sondern nur für den Erlass eines Arrestes gilt. Nach § 937 Abs. 2 ZPO „kann“ ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Das könnte als Umschreibung eines Ermessens gedeutet werden, was jedoch umstritten ist.24 Ungeachtet dieser Kontroverse ergibt sich das Verständnis aus dem systematischen Zusammenhang des § 937 Abs. 2 mit §§ 935, 940 ZPO. Es handelt sich um das Erfordernis einer gesteigerten Dringlichkeit. Beide Dringlichkeitserfordernisse sind als Zulässigkeitsschwellen zu verstehen, die ausnahmsweise nach Maßgabe der konkreten 19 20 21 22 23 24

So BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 11 und NJW 2018, 3634 Tz. 24. So die Kennzeichnung durch Roth NJW 2018, 3636, 3637. So BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 11 und NJW 2018, 3634 Tz. 24. BVerfG NJW 2018, 3631 Tz. 19 und NJW 2018, 3634 Tz. 21. Schumann JZ 2019, 398, 401. Ablehnend Huber in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl., 2019, § 937 Rn. 4.

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Erforderlichkeit ein Abweichen von der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens erlauben. Keinesfalls ist ein weiter Spielraum für die Annahme gesteigerter Dringlichkeit eingeräumt. Das BVerfG sollte diesen lapsus, den die Fachgerichte leider aufgreifen werden, bei nächster Gelegenheit korrigieren. Wesentlich strenger geht das Kartellrecht bei dem Begehren auf Herausgabe von Beweismitteln oder der Erteilung von Auskünften (§ 33g GWB) aufgrund einstweiliger Verfügungen mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör um. Nach § 89b Abs. 2 S. 2 GWB ist vor einer Entscheidung stets eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. 2. Mitteilungspflicht entgegen § 922 Abs. 3 ZPO a) Teleologische Reduzierung der Norm Das BVerfG hat an dem Hamburger Verfahren („Steuersparmodell“) beanstandet, dass die beiden anfänglichen zurückweisenden Beschlüsse dem Antragsgegner nicht mitgeteilt worden waren. Das entsprach allerdings dem Wortlaut des § 922 Abs. 3 ZPO, der über § 936 ZPO auch im Verfahren der einstweiligen Verfügung anwendbar ist. Die Gesetzgebungstechnik des § 936 ZPO ist als solche generell missglückt, weil die Verfahren für Arrest und einstweilige Verfügung unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen haben. Gemeinsam ist ihnen zwar, dass der Antragsgegner nicht vorzeitig gewarnt werden darf, wenn und soweit er den Eilrechtsschutz durch rasche Dispositionen durchkreuzen könnte.25 Diese Situationen treten aber bei Arrest und einstweilige Verfügung nur unter sehr unterschiedlichen Umständen auf. Kennt der Antragsgegner den Verfügungsantrag schon oder kann er mit ihm aufgrund der Androhung in einer Abmahnung rechnen, besteht für eine Geheimhaltung kein Bedürfnis.26 Schumann hat § 922 Abs. 3 ZPO wegen seines weiten Wortlauts als „kaum grundrechtskonform“ bezeichnet.27 Bornkamm befürwortet eine verfassungskonforme Auslegung.28 Die Norm ist insoweit teleologisch zu reduzieren.29 b) Schutzschriftenregisterverordnung Das Prozessrechtsverhältnis wird wegen der Entscheidungsmöglichkeit aufgrund einseitigen Vorbringens bereits durch die Einreichung einer Antragsschrift begründet. Das ist im Laufe der zähen Diskussion über die WirThümmel in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 922 Rn. 13. OLG München WRP 2019, 1375, 1378 Rn. 30 m. Anm. Löffel = GRUR-RR 2019, 443 Rn. 33 f. Am Wortlaut der Norm festhaltend Büscher/Schmidt, UWG, 2019, § 12 Rn. 288. 27 Schumann JZ 2019, 398, 402/403. 28 Bornkamm WRP 2019, 1242, 1243. 29 Ebenso Mantz NJW 2019, 953, 958; Löffel in Anm. zu OLG München WRP 2019, 1375, 1379. 25 26

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kungen einer Schutzschrifteinreichung anerkannt worden, wenn auch lange vor Schaffung des § 945a ZPO (s. oben I 2 b). Die Schutzschriftenregisterverordnung, die auf der Grundlage des § 945b ZPO erlassen wurde, sieht in § 5 Abs. 3 ZPO konsequent vor, dass der Abruf einer im Register aufgefundenen Schutzschrift, die vom Gericht als sachlich einschlägig gekennzeichnet worden ist, dem Schutzschriftabsender nach drei Monaten mitzuteilen ist. Der Absender benötigt diese Information für die Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs und zur Verteidigung gegen weitere – dann missbräuchliche – Antragstellungen bei anderen Gerichten.

IV. Konsequenzen für Fachgerichte und Antragsteller 1. Beschlussentscheidungen a) Begründung des Verzichts auf mündliche Verhandlung? Aus der Begründung des BVerfG zum Umgang mit § 937 Abs. 2 ZPO ist nicht abzulesen, dass die Fachgerichte in Beschlussverfügungen künftig jeweils ausführen müssen, weshalb unter den Umständen des konkreten Falles eine gesteigerte Dringlichkeit der Entscheidung und damit der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung besteht. Das ist zu bedauern, weil die verborgene Sekundärmotivation der Ersparnis einer Begründung des Verfügungsanspruchs allzu verführerisch ist. Selbst wenn für wiederkehrende materiellrechtliche Situationen Textbausteine eingesetzt würden, wäre der Zwang zu ihrer Verwendung jedenfalls Anlass zur konkreten Ausübung des Ermessens. Bei der Ermessensentscheidung muss u.a. berücksichtigt werden, welche Zeitspanne zwischen vorangegangener behaupteter Rechtsverletzung und Antragstellung verstrichen ist.30 Da das Ergebnis der Ermessensentscheidung im weiteren Zeitablauf zu überprüfen ist, muss sogar das Ausbleiben weiterer Rechtsverletzungen nach Antragstellung berücksichtigt werden. b) Sachvortrag des Antragstellers zur gesteigerten Dringlichkeit Allerdings könnte von den Antragstellern verlangt werden, dass der Antrag auf Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung näher zu begründen ist. Zur Darlegung hat die Glaubhaftmachung der Einzelfallumstände hinzuzutreten (§ 294 ZPO). Fehlt beides, ist unter dieser Prämisse zwingend eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Einer Aufforderung des Gerichts bedarf es nicht.31 30

So auch Mantz NJW 2019, 953, 954. Anders aber Mantz NJW 2019, 953, 954, zur Angabe des Zeitpunktes der Kenntnis von der Rechtsverletzung. 31

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In UWG-Sachen wird die generelle Dringlichkeit der Entscheidung nach ganz h.M. aus der Vorschrift des § 12 Abs. 2 UWG abgeleitet. Die Norm dispensiert aber nur von den Voraussetzungen der §§ 935 und 940 ZPO, nicht auch zugleich von einer Darlegung der Anforderungen des § 937 Abs. 2 ZPO.32 Fehlt es an konkreten Ausführungen, kann das Gericht sein Ermessen nicht ausüben; auch Ermessensentscheidungen bedürfen einer Tatsachengrundlage. Derartige Tatsachen sind nicht für ein ganzes Rechtsgebiet als offenkundig iSd § 291 ZPO anzusehen. c) Wandel der Dringlichkeitsbeurteilung Das BVerfG hat betont, dass sich im Verfahrensablauf bis zum Erlass einer Beschlussentscheidung die Beurteilung der gesteigerten Dringlichkeit wandeln kann (s. oben II 1 c). Dabei hatte es den Verlust dieser Dringlichkeitsstufe im Blick. Sie kann eintreten, wenn Kommunikation mit dem Antragsteller Zeit verbraucht. Die Dringlichkeitsbeurteilung kann sich aber auch in die umgekehrte Richtung entwickeln. Wird mangels hinreichender Darlegung des Antragstellers zum Erfordernis des § 937 Abs. 2 ZPO zunächst Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt und reicht der Antragsteller dann seinen notwendigen Sachvortrag (mit Glaubhaftmachung) nach, bleibt eine Beschlussentscheidung trotz Terminierung noch möglich. Dafür ist aber zu fordern, dass nunmehr mit sehr kurzer Frist dem Antragsgegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem nachgereichten Schriftsatz zu geben ist. Die Stellungnahmemöglichkeit für den Antragsgegner kann nur dann unterbleiben, wenn der Verfügungsantrag trotz Nachbesserung scheitert und durch Beschluss abgewiesen wird.33 Auch dann ist aber die Beschlussentscheidung dem Antragsgegner bekannt zu geben (dazu zuvor III 2 a). d) Differenzierung nach Qualität der Darlegungsunzulänglichkeiten In der Diskussion über die Folgen der Entscheidungen des BVerfG war auf der GRUR-Tagung 2019 zu hören, das Gericht dürfe in seiner Kommunikation mit dem Antragsteller hinsichtlich der Gewährung einer Nachbesserungsmöglichkeit zwischen kleinen und größeren Mängeln des Sachvortrags differenzieren. Dem ist zu widersprechen. Ein mangelhafter Verfügungsantrag ist in beiden Fällen gleichermaßen unbegründet. Kommt eine Nachbesserung in Betracht, ist – sofern nicht ausnahmsweise ein dargelegtes Geheimhaltungsbedürfnis besteht – Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen und zugleich eine Hinweisverfügung zu erlassen, die Thümmel in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 937 Rn. 7. So in OLG München WRP 2019, 1375, 1378 (dort: zwischenzeitliche Dringlichkeitswiderlegung). 32 33

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auch dem Antragsgegner übermittelt werden muss. Diesen Spielraum belässt § 937 Abs. 2 ZPO. 2. Darlegung einer vorausgegangener Abmahnung und fehlgeschlagener Antragstellungen Aus der Auseinandersetzung des BVerfG mit dem Fehlen einer vorprozessualen Abmahnung in den Ausgangsverfahren wird man entnehmen müssen, dass der Antragsteller künftig darzulegen hat, ob eine dem Verfügungsanspruch inhaltlich entsprechende Abmahnung ausgesprochen worden ist und welche Reaktion des Abmahnten daraufhin erfolgt ist.34 Wünschenswert wäre eine derartige Anforderung jedenfalls. Zwar hat sich das BVerfG mit der Abmahnung in erster Linie wegen der nachfolgenden Einseitigkeit der richterlichen Verfahrensweise auseinandergesetzt, doch wurde auch ein Zusammenhang mit der Dringlichkeitsbeurteilung hergestellt. In dem Verfahren 1 BvR 2421/17 („Steuersparmodell“) ist ein weiterer Missbrauch von Eilverfahren angesprochen worden, der in der Geheimhaltung der Zurückweisung zweier Verfügungsanträge liegt. Der Antragsteller konnte so lange ausprobieren, was die Pressekammer akzeptiert, bis er mit dem dritten Antrag Erfolg hatte. Eine Steigerung dieses Ausprobierens besteht darin, nach telefonisch erfragter Aussichtslosigkeit des Verfügungsantrags diesen Zurückzunehmen und bei einem anderen Gericht einzureichen, soweit ein weiterer Gerichtsstand erreichbar ist. Das OLG Düsseldorf hat im Anschluss insbesondere an das OLG München35 für einen solchen erneuten Antrag nach Wechsel des Gerichtsortes ein Rechtsschutzbedürfnis verneint.36 Dem hat es im Anschluss an das OLG Hamburg37 sogar den Fall gleichgestellt, dass das zunächst angerufene Gericht erklärt, nicht ohne mündlich Verhandlung entscheiden zu wollen, weil diese Ankündigung Zweifel wecke, dass es der Rechtsauffassung des Antragstellers uneingeschränkt folgen wolle.38 3. Kommunikation zur Vorbereitung von Beschlussverfügungen Der Trend zum schriftlichen Verfahren ist durch die Pflicht zur Beachtung von Schutzschriften bereits eingeleitet worden.39 Das Verfahren vor Er34

So auch Mantz NJW 2019, 953, 959. OLG München WRP 2011, 364, 365. 36 OLG Düsseldorf WRP 2019, 487, 488 Rn. 6 ff. 37 OLG Hamburg GRUR 2007, 614, 615. 38 OLG Düsseldorf WRP 2019, 487, 489 Rn. 11. 39 Zum „dritten Weg“ der schriftlichen Anhörung Schumann JZ 2019, 398, 402; kritisch Scharen in Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, Kap. 51 Rn. 19 ff. m.w.Nachw. Zum Inhalt des Anhörungsverfahrens Mantz NJW 2019, 953, 954 f.; a.a.O. S. 958 auch zum fehlenden Anwaltszwang. 35

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lass einer Beschlussverfügung muss jedoch nicht auf Schriftlichkeit beschränkt bleiben. Indem das BVerfG die telefonische Kommunikation mit dem Antragsteller nicht untersagt, sondern nur deren konkrete Dokumentation gem. § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO und eine Offenlegung gegenüber dem Antragsgegner verlangt hat, verfestigt sich der Verfahrensweg zu einer Beschlussverfügung mit einer merkwürdigen fernmündlichen, in Bezug auf beide Prozessparteien zeitlich versetzen und besonders beschleunigten Verhandlung. Daraus könnte ein superprovisorisches Verfahren entstehen, das der Gesetzgeber weiter verfeinern könnte, indem er die Möglichkeit einer zeitgleichen Kommunikation per Video- oder Telefonkonferenz anerkennt, die dann aber zugleich eine weitere mündliche Verhandlung im Gerichtssaal instanzabschließend ersetzen dürfte.

V. Folgenlosigkeit serieller Verstöße aufgrund einseitiger Verfahrensdurchführung? 1. Heilung durch nachgeholtes Gehör a) Rechtsbehelf zum iudex a quo Das BVerfG hat in seiner Plenarentscheidung vom 30.4.2003 ausgeführt, dass ein zunächst fehlerhafter Umgang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen eines Rechtsbehelfs zum iudex a quo beseitigt werden kann, wenn eine Selbstkontrolle effektiv ist.40 Die Verletzung rechtlichen Gehörs kann also im Instanzenzug geheilt werden. Im Eilverfahren kommt dafür das Widerspruchsverfahren nach § 924 ZPO in Betracht.41 Eine Verfassungsbeschwerde ist in diesen Fällen wegen deren Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) unzulässig.42 Der Antragsgegner wird diese Chance der Beseitigung eines „schlichten“ Gehörsverstoßes in derselben Instanz allerdings nicht zu Unrecht mit Misstrauen betrachten, wenn es nur um die Korrektur der rechtlichen Bewertung unveränderten Tatsachenstoffes geht. Sich von psychischen Beharrungseffekten freizumachen, wird nicht jedem Gericht gelingen. Diese Lebenserfahrung steht hinter der Zurückdrängung nachträglicher Gehörsgewährung. Dem Unbehagen an einer nachträglichen Korrektur des Gehörverstoßes im Widerspruchsverfahren ließe sich Rechnung tragen, indem prozessual unberechtigt einseitig erlassene einstweilige Verfügungen schlichtweg aufgehoben würden. Bei sachlicher Berechtigung des geltend gemachten Verfü40 41 42

BVerfGE 107, 395, 412 = NJW 2003, 1024, 1927 (C III 1 a). Roth NJW 2018, 3636, 3637. BVerfG NJW 2017, 2985 Tz. 7.

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gungsanspruchs müsste die einstweilige Verfügung dann aber neu erlassen werden. Das wäre eine unnütze Förmelei, wie das OLG Köln in argumentativer Auseinandersetzung mit dieser hypothetischen Erwägung zutreffend ausgeführt hat.43 Eine dem Antragsteller daraus erwachsende Belastung mit Kosten des Antragsgegners würde wie eine Kostenstrafe für das fehlerhafte Procedere des Gerichts wirken, selbst wenn hinsichtlich der Gerichtskosten von § 21 GKG Gebrauch gemacht wird. b) Hoffnung auf Wandel der Verfahrenspraxis Fraglich ist, ob die Heilbarkeit auch bei seriellen Verstößen aufgrund einer bewusst eingeschlagenen Verfahrenshandhabung bejaht werden sollte. Der 15. Zivilsenat des OLG Düsseldorf hat dies in einem UWG-Verfahren angenommen. Es sei nicht zu erwarten, dass die Erstgerichte ihre frühere Praxis nach Erlass der Beschlüsse des BVerfG fortsetzen werden.44 Im Übrigen stehe gegen eine fortgesetzte Praxis die Verfassungsbeschwerde offen. Das OLG Hamburg hat in einem Beschluss gem. § 91a ZPO verneint, dass wegen der neuen Rechtsprechung des BVerfG die Billigkeitsentscheidung über die Kosten wegen der unterbliebenen Beteiligung des Antragsgegners zu dessen Gunsten ausfallen müsse.45 Sicher ist es richtig, dass sich die Gerichte an die Rechtsprechung des BVerfG anpassen werden, sofern sie die Entscheidungen zur Kenntnis genommen haben. Der Wink mit der Verfassungsbeschwerde bewirkt in einem konkreten Fall freilich nichts, weil nur eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit ausgesprochen, die Ausgangsentscheidung selbst aber nicht aufgehoben wird. 2. Einführung einer Rüge verletzter Waffengleichheit? Schumann hat die Frage aufgeworfen, ob ein Rügeverfahren nach dem Vorbild des § 312a ZPO eingeführt werden sollte, hat die negative Antwort aber zugleich selbst gegeben. § 321a ZPO sei auf unabsichtliche Grundrechtsverstöße zugeschnitten, nicht aber auf bewusste Verfahrensgestaltungen, die nach verfassungsgerichtlicher Klärung der Rechtslage ohnehin in Zukunft unterbleiben würden. Ein Rechtsbehelf analog § 321a ZPO, über den derselbe Richter zu entscheiden hat, ist in der Tat überflüssig, weil es bereits einen Rechtsbehelf gibt, nämlich das Widerspruchsverfahren.

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OLG Köln NJW-RR 2019, 240, 242 Tz. 10; bestätigt vom selben Senat in OLG Köln MDR 2019, 1023, 1024. 44 OLG Düsseldorf WRP 2019, 773, 775 Rn. 16. 45 OLG Hamburg, 30.7.2019 – 5 W 15/19.

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3. Richterwechsel als Flucht des Antragsgegners a) Befangenheitsablehnung Die Durchführung eines einseitigen Geheimverfahrens kann Anlass für eine erfolgreiche Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit sein. Einzelne Verfahrensfehler reichen freilich in der Regel nicht aus, um eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Als Beispiel für einen ausnahmsweise verfahrensbedingten Befangenheitsgrund werden der leichtfertige Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen und die schwerwiegende Vernachlässigung rechtsstaatlicher Grundsätze genannt.46 Auch die Häufung prozessualer Fehler soll Besorgnis der Befangenheit begründen.47 Bei einer seriellen Verfahrensverletzung unter Nichtbeachtung der neuen Rechtsprechung des BVerfG wird diese Ausnahme einschlägig sein, selbst wenn der abgelehnte Richter in seiner dienstlichen Erklärung (§ 44 Abs. 3 ZPO) seine Unkenntnis der Rechtsprechung offenbart. Das OLG Düsseldorf hat die Befangenheit in einem UWG-Verfahren bejaht, in dem der Vorsitzende einer KfH dem Antragsteller einseitig den konkreten Hinweis gegeben hatte, wie der ursprünglich unschlüssige Antrag durch Antragsänderung unter Bezugnahme auf ein ähnliches Produkt, das in einer Schriftsatzanlage erwähnt war, zum Erfolg führen werde. Dass trotz hinterlegter Schutzschrift keine mündliche Verhandlung anberaumt worden war, sollte die Befangenheitsbesorgnis unter Bezugnahme auf die beiden Beschlüsse des BVerfG zusätzlich untermauern.48 Ausgereicht hätte für den Erfolg des Ablehnungsantrags allerdings schon der richterliche Hinweis auf die Streitgegenstandsänderung, die dem Antragsteller die Dispositionsentscheidung und das damit verbundene Risiko aus der Hand nahm.49 b) Antrag auf Verweisung an die KfH In geeigneten Fällen kann man als Antragsgegner dem bisherigen Richter ausweichen, indem man einen bei einer allgemeinen Zivilkammer gestellten Verfügungsantrag an die Kammer für Handelssachen verweisen lässt, vorausgesetzt es handelt sich um eine Handelssache. Nicht hinreichend geklärt ist, ob der Antrag auf Verweisung an die KfH (§ 98 GVG) schon in der Schutzschrift gestellt werden kann und dann verpflichtend zu beachten ist. Bejaht man dies, schließt sich die Frage an, ob der erst mit dem Widerspruch 46 Vgl. BVerfG NJW 2006, 2248, 2249 Tz. 20; Zöller/G.Vollkommer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 42 Rn. 24. 47 Bejaht von OLG Karlsruhe MDR 1991, 1195; OLG Schleswig NJW 1994, 1227; nur als theoretische Möglichkeit genannt von OLG München MDR 2016, 449 (LS). 48 OLG Düsseldorf GRUR-RR 2019, 286 Tz. 9 und 11 f. – Schuhmodelle = WRP 2019, 642, 643. 49 Vgl. Gerken in Wieczorek/Schütze, ZPO, Bd. 1/2, 2015, § 42 Rn. 11.

„Schlichte“ und serielle Verletzung rechtlichen Gehörs im Eilverfahren

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gegen die Beschlussverfügung gestellt Antrag noch fristgerecht (§ 101 Abs. 1 S. 1 GVG) gestellt wird, wenn eine Schutzschrift eingereicht worden ist, darin aber die potentielle Einreichung des befürchteten Verfügungsantrags bei einer allgemeinen Zivilkammer nicht schon vorbeugend gerügt worden ist.50 Voraussetzung ist, dass ein Verweisungsantrag in der Schutzschrift als Sachantrag und nicht nur als Anregung zu behandeln ist.51

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Eingehend dazu Lambrecht Festschrift Harte-Bavendamm, 2020, S. 501, 512. Ablehnend Büscher/Schmidt, UWG, § 12 Rn. 282. Für bloße Anregung OLG Stuttgart NJW-RR 2019, 699; a.A. Heil WRP 2014, 24 ff.; Lambrecht a.a.O. 51

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Zwingender Selbstbehalt – auch beim Vergleich mit dem D&O-Versicherer?

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Zwingender Selbstbehalt – auch beim Vergleich mit dem D&O-Versicherer? Michael Arnold und Nikolai Unmuth

Zwingender Selbstbehalt – auch beim Vergleich mit dem D&O-Versicherer? MICHAEL ARNOLD

UND

NIKOLAI UNMUTH

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Keine Geltung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG bei Vergleichsabschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auch kein zwingender Selbstbehalt nach § 93 Abs. 1 AktG 1. Maßstab der Entscheidung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . 2. Abwägung zum Wohl der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung D&O-Versicherungen sind in Deutschland seit Jahren weit verbreitet und gehören jedenfalls in Großunternehmen zu den absoluten Standardversicherungsprodukten.1 Aktienrechtlich ist dies insofern beachtenswert, als die D&O-Versicherung die in § 76 AktG festgeschriebene Eigenverantwortlichkeit des Vorstands und sein damit verbundenes, persönliches Innenhaftungsrisiko aus § 93 Abs. 2 AktG zu verringern geeignet ist. Jedenfalls eine gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung, die jeden potenziellen Schaden deckt, nähme der mit der Organhaftung bezweckten Präventionswirkung den Wind aus den Segeln.2 Dies rief vor etwas mehr als zehn Jahren – nach der Finanzkrise – den Gesetzgeber auf den Plan, der mit dem Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)3 für den Fall des Abschlusses einer D&O-Versicherung in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG einen zwin1 Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 101, 454; Hoffmann-Becking ZHR 2017, 737; Fleischer Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 12 Rn. 5; Dreher/Thomas ZGR 2009, 31, 32. 2 Tatsächlich übernehmen D&O-Versicherungen aber lange nicht jeden Schaden. Aufgrund begrenzter Deckungssummen und weitreichender Haftungsausschlüsse mildern sie das Organhaftungsrisiko tatsächlich nur graduell ab. Ausführlich dazu Thomas Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 119 ff. 3 BGBl. 2009 I Nr. 50 S. 2509.

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genden Selbstbehalt für Vorstandsmitglieder eingeführt hat. Dieser Selbstbehalt soll nach der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses die Eigenverantwortlichkeit des Vorstands flankieren und risikoreichem Verhalten vorbeugen,4 letztlich also die durch die D&O-Versicherung vermeintlich geschwächte Präventionswirkung der Organhaftung stützen. Ob Vorstandsmitglieder durch zwingende Selbstbehalte allerdings überhaupt „steuerbar“ sind, sie also tatsächlich andere, risikoärmere Entscheidungen treffen, wenn im Haftungsfall ein zwingender Eigenbeitrag droht, ist zumindest zu hinterfragen5 und bedürfte einer eingehenden empirischen Untersuchung6. Selbst wenn man die Präventionswirkung von Selbstbehalten jedoch unterstellt, ist jedenfalls die gesetzgeberische Umsetzung in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG kaum gelungen.7 Viele Fragen rund um den Selbstbehalt sind auch mehr als zehn Jahre nach seiner Einführung noch ungeklärt.8 Die Praxis ist dadurch vielfach mit erheblicher Rechtsunsicherheit konfrontiert. So regelte der Gesetzgeber insbesondere den sachlichen Anwendungsbereich des Selbstbehalts nicht ausdrücklich. Nach dem Wortlaut des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG ist völlig offen, ob der Selbstbehalt nur für den Fall der streitigen Anspruchsverfolgung gedacht ist oder auch dann greifen soll, wenn ein Vergleich abgeschlossen wird. Die Gesetzesunterlagen enthalten hierzu ebenfalls keinen Hinweis. Für die Praxis ist diese Ungewissheit besonders misslich. Organhaftungsfälle werden überwiegend durch den Abschluss eines Vergleichs beendet9, und meist besteht – wie bereits erwähnt – eine D&O-Versicherung. Die Frage, ob der Selbstbehalt des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG auch für den Fall eines Vergleichsabschlusses gilt, ist daher sehr praxisrelevant. Ihr widmet sich dieser Beitrag und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass ein Selbstbehalt im Fall eines Vergleichsabschlusses weder nach § 93 Abs. 2 Satz 3 noch nach § 93 Abs. 1 AktG zwingend ist.

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BT-Drs. 16/13433 S. 11. Zweifelnd Dreher AG 2008, 429; Dauner-Lieb/Tettinger ZIP 2009, 1555. 6 Von der Empfehlung in Ziff. 3.8 des DCGK vom 7. Februar 2017, einen Selbstbehalt in der D&O-Versicherung für Aufsichtsratsmitglieder zu vereinbaren, wurde in der Praxis jedenfalls verbreitet mit dem Argument abgewichen, dass ein Selbstbehalt kein geeignetes Mittel darstelle, das Verantwortungsbewusstsein und die Motivation der Aufsichtsratsmitglieder zu steigern. Die Regierungskommission hat die Empfehlung daher gestrichen, siehe Entwurf eines geänderten DCGK vom 25. Oktober 2018, S. 57. 7 Kritisch auch Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rn. 240; Kann NZG 2009, 1010, 1013; Dauner-Lieb/Tettinger ZIP 2009, 1555 f.; Rudzio Vorvertragliche Anzeigepflicht bei der D&O-Versicherung der Aktiengesellschaft, 2010, S. 55. 8 Vgl. auch Sieg in Krieger/Uwe H. Schneider, Hdb. Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rn. 18.72. 9 Siehe auch Bachmann ZIP 2017, 842, 850; Koch in MünchHdb GesR VII, § 30 Rn. 57; Fleischer AG 2015, 133; Hopt ZIP 2013, 1793, 1794. 5

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II. Keine Geltung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG bei Vergleichsabschlüssen 1. Meinungsstand Die überwiegende Auffassung im Schrifttum vertritt, dass der nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG zwingende Selbstbehalt auch im Fall eines Vergleichsabschlusses gelte.10 Der Selbstbehalt könne andernfalls zu leicht umgangen werden11, und der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG würde – wenn man die Norm nicht auf Vergleiche anwendet – wegen der hohen Abschlussquote von Vergleichen zu stark eingeschränkt12. Demjenigen, der gesetzlich verpflichtet sei, einen Selbstbehalt zu vereinbaren, müsse es verboten sein, an Vereinbarungen mitzuwirken, die von eben diesem Selbstbehalt entbinden.13 Eine gewichtige Gegenmeinung vertritt, dass § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG beim Vergleichsabschluss nicht gelte und es daher insofern keinen zwingenden Selbstbehalt gebe.14 Die Dispositionsmöglichkeit der Hauptversammlung aus § 93 Abs. 4 AktG zeige, dass sich die Hauptversammlung gerade auch über die mit § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG verfolgten Präventionszwecke hinwegsetzen könne.15

10 Mertens/Cahn in Kölner Komm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 251; Spindler in Münch. Komm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rn. 245; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 456 f.; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rn. 244; Lange VersR 2009, 1011, 1021; Lange D&O Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 16 Rn. 96; Kerst WM 2010, 594, 599 Fn. 51; Franz DB 2011, 2019, 2022; Franz DB 2009, 2764, 2768; Pregler Der Selbstbehalt des Vorstands im Spannungsfeld des Aktien- und Versicherungsrechts, 2012, S. 239 f.; Paszek Die Pflicht zur Vereinbarung eines Selbstbehalts in der D&O-Versicherung nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, 2011, S. 109 ff.; Scholl Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 536 f.; Mesch Der Selbstbehalt für Versicherungen von Vorstandsmitgliedern gemäß § 93 II 3 AktG, 2014, S. 33. 11 Paszek Die Pflicht zur Vereinbarung eines Selbstbehalts in der D&O-Versicherung nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, 2011, S. 109 ff.; Pregler Der Selbstbehalt des Vorstands im Spannungsfeld des Aktien- und Versicherungsrechts, 2012, S. 239 f.; Scholl Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 536 f.; Mesch Der Selbstbehalt für Versicherungen von Vorstandsmitgliedern gemäß § 93 II 3 AktG, 2014, S. 33. 12 So Paszek Die Pflicht zur Vereinbarung eines Selbstbehalts in der D&O-Versicherung nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, 2011, S. 110; ähnlich Franz DB 2011, 2019, 2022. 13 So Lange D&O Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 16 Rn. 96. 14 Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 538 f.; zuvor schon kritisch Habersack NZG 2016, 321, 326; Dreher AG 2008, 429, 433; Happ/Möhrle in Festschrift E. Vetter, 2019, S. 193, 204 f.; Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 78; Koch MHdbGesR VII, 5. Aufl. 2016, § 30 Rn. 57; Fassbach BOARD 2014, 156, 158; Lansch VW 2010, 1518. 15 Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 539.

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2. Stellungnahme Die Gegenmeinung überzeugt. Aus § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG folgt im Fall eines Vergleichsabschlusses nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG keine Pflicht, einen Selbstbehalt zu vereinbaren. Insbesondere das zumeist vorgebrachte Argument der überwiegenden Auffassung, § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG müsse zum Schutz vor seiner Umgehung auch beim Abschluss eines Vergleichs anzuwenden sein, begegnet Bedenken. Allein die mögliche Umgehung einer Norm kann ihre Anwendbarkeit nicht begründen.16 Die Anwendbarkeit ist vielmehr anhand der klassischen Methodenlehre, insb. Auslegung und Analogiebildung, zu bestimmen. Nur innerhalb dieses Rahmens kann die drohende Umgehung Berücksichtigung finden.17 a) Wortlaut: offen Der Wortlaut des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG18 beantwortet die Frage, ob die Norm auch auf Vergleiche Anwendung finden soll, nicht. Er setzt keinen klaren Anwendungsbereich fest, sodass zu dessen Ermittlung die weiteren Auslegungskriterien heranzuziehen sind.19 b) Systematik: Gegen zwingenden Selbstbehalt Die Verortung des Selbstbehalts in § 93 Abs. 2 AktG und die Dispositionsfreiheit der Hauptversammlung aus § 93 Abs. 4 AktG sprechen dagegen, § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG auf Vergleichsabschlüsse anzuwenden. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG begründet die Schadensersatzpflicht des pflichtwidrig handelnden Organmitglieds. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG trifft eine Re16 Armbrüster in Münch. Komm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 134 Rn. 15; Thomas Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 24; Sieker Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 9 ff.; Teichmann Gesetzesumgehung, 1962, S. 67 ff., 100; Tacou Das Verbot von Umgehungsgeschäften und das Prinzip der Vertragsfreiheit im Verbrauchervertragsrecht, 2013, S. 168 ff.; a.A. noch früher (sog. Normanwendungstheorie) Noack Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 137 f.; Lutter/Grunewald AG 1989, 109, 110. 17 Tacou Das Verbot von Umgehungsgeschäften und das Prinzip der Vertragsfreiheit im Verbrauchervertragsrecht, 2013, S. 169 ff.; Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 92; siehe auch Flume Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, § 17 4 (S. 350); Tröger in Kölner Komm. AktG, 3. Aufl. 2017, § 134 Rn. 100; Armbrüster in Münch. Komm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 134 Rn. 15; Sieker Umgehungsgeschäfte, 2001, S. 9 ff.; Teichmann Gesetzesumgehung, 1962, S. 67 ff., 100. 18 „Schließt die Gesellschaft eine Versicherung zur Absicherung eines Vorstandsmitglieds gegen Risiken aus dessen beruflicher Tätigkeit für die Gesellschaft ab, ist ein Selbstbehalt von mindestens 10 Prozent des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen der festen jährlichen Vergütung des Vorstandsmitglieds vorzusehen.“ 19 Vgl. Canaris in Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 164 f.

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gelung zur Beweislast. Die Positionierung des Selbstbehalts in Satz 3 dieses zweiten Absatzes des § 93 AktG – unmittelbar nach der für die streitige Auseinandersetzung relevanten Beweislastregel – deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber den Selbstbehalt bewusst dem Bereich der Geltendmachung zugeordnet hat. Hätte er gewollt, dass der Selbstbehalt auch für die Fälle einer Enthaftung durch die Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 AktG gilt, hätte er den Selbstbehalt in § 93 Abs. 4 erwähnen oder in einem eigenen Absatz regeln können. Auch im Übrigen vermag es weder systematisch noch inhaltlich zu überzeugen, dass § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG den zwei Absätze später aufzufindenden § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG einschränken soll. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG gestattet der Gesellschaft (konkret: der Hauptversammlung), auf einen Organhaftungsanspruch in seinem Bestand oder auch nur auf seine Geltendmachung (Stundung/pactum de non petendo) zu verzichten.20 Die Hauptversammlung ist dabei in ihrer Entscheidung frei; ihr Beschluss ist materiell nicht überprüfbar.21 Diese vollumfängliche Dispositionsfreiheit der Hauptversammlung in § 93 Abs. 4 AktG hat der Gesetzgeber so eindeutig ausgestaltet, dass davon ausgegangen werden muss, dass die Hauptversammlung sich über § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG hinwegsetzen kann.22 Folglich ist es ihr auch dann noch möglich, das betroffene Organmitglied vollständig zu verschonen, wenn eine D&O-Versicherung besteht und mit dem Versicherer eine Vergleichszahlung ausgehandelt wurde. Für eine andere Deutung fehlen die gesetzgeberischen Anhaltspunkte: Weder ist die Anwendbarkeit im Wortlaut des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG angelegt noch deutet die systematische Stellung in Abs. 2 auf eine Anwendbarkeit auf die Fälle des Abs. 4 hin. c) Sinn und Zweck: offen Auch der von der überwiegenden Auffassung23 vorgebrachte Verweis auf eine Umgehung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG rechtfertigt keine andere Beurteilung. Nach der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses soll der Selbstbehalt die Eigenverantwortlichkeit des Vorstands aus § 76 AktG flankieren und risikoreichem Verhalten vorbeugen (sog. verhaltenssteuernde Wirkung).24 Er soll also die Eigenverantwortlichkeit und die von der damit 20 Näher zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 31 ff. 21 LG Frankfurt a.M. v. 15.12.2016 – 3-5 O 154/16, juris-, Rn. 116; Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 78; Wilsing in Festschrift Haarmann, 2015, S. 257, 269; Fleischer AG 2015, 133, 136 f.; Bayer/Scholz ZIP 2015, 149, 150. 22 Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 539; siehe auch Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 78. 23 Siehe Nachweise bei Fn. 10. 24 BT-Drs. 16/13433 S. 11; siehe auch Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 456; kritisch Dauner-Lieb/Tettinger ZIP 2009, 1555; Dreher AG 2008, 429 ff.

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zusammenhängenden Haftungsgefahr ausgehende Präventionswirkung trotz der Versicherbarkeit stützen. Verzichtet eine Gesellschaft nun im Wege eines Vergleichs auf den Selbstbehalt und verlangt nur vom D&O-Versicherer eine Zahlung, ist der Zweck des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG tangiert. Entgegen der überwiegenden Auffassung liegt darin jedoch keine Umgehung, die Sinn und Zweck der Norm derart stark einschränken würde, dass sie die Anwendbarkeit begründen könnte. Zunächst mag ein selbstbehaltsloser Vergleich die Präventionswirkung der Organhaftung zwar im Einzelfall unberücksichtigt lassen und somit für die Zukunft abschwächen. Diese Wirkung ist aber, wenn überhaupt, nur marginal. Thomas führt sogar aus, dass es zwischen der Vereinbarung eines angemessenen Selbstbehalts und einer geringeren Wahrscheinlichkeit von Haftungsfällen keine kalkulierbaren Zusammenhänge gebe.25 Jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass die bloße rechtliche Zulässigkeit, einen selbstbehaltslosen Vergleich abzuschließen, die Präventionswirkung in den Köpfen der amtierenden und zukünftigen Vorstandsmitglieder in einem tatsächlich relevanten Maße abschwächen könnte. Letztlich kann sich ein Organmitglied auch dann, wenn ein selbstbehaltsloser Vergleich theoretisch rechtlich zulässig ist, nie sicher sein, ob die Gesellschaft und der D&O-Versicherer auch in seinem Fall bereit wären, einen solchen abzuschließen. Insbesondere begründet die bloße Zulässigkeit noch lange keine Pflicht der Gesellschaft, einen selbstbehaltslosen Vergleich abzuschließen, sodass unsicher ist, ob Aufsichtsrat und Hauptversammlung einen selbstbehaltslosen Vergleich beschließen würden. Im Übrigen überzeugt es schon grundsätzlich nicht, die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG im Fall eines Vergleichs mit dem Sinn und Zweck der Norm – der Stärkung der Präventionswirkung26 – zu begründen, da die Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht an die Präventionswirkung gebunden ist. Sie kann – inhaltlich frei27 – darüber entscheiden, das Organmitglied, das sich haftbar gemacht hat, durch einen Vergleich oder Verzicht teilweise oder vollständig zu verschonen. Sie entscheidet also selbst darüber, ob sie die Präventionswirkung berücksichtigt und stärkt oder nicht. Wenn aber die Verfolgung der Präventionswirkung im Fall eines Vergleichs nicht mehr vorgeschrieben ist, sondern im freien Ermessen der Hauptversammlung liegt, kann nicht die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG auf Vergleichsabschlüsse mit einer Stärkung der Präventionswirkung begründet werden.

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Thomas Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 215; ähnlich Dauner-Lieb/Tettinger ZIP 2009, 1555; vgl. ferner Text bei Fn. 6. 26 Vgl. Nachweise bei Fn. 24. 27 Siehe Nachweise bei Fn. 21.

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Soweit im Übrigen argumentiert würde, dass § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG die Präventionswirkung praktisch stützen solle, indem er verhindert, dass Vorstand und Aufsichtsrat von der Gesellschaft finanzierte, selbstbehaltslose D&O-Versicherungen abschließen und ihre Mitglieder dadurch von jeglichem Haftungsrisiko befreien, ist auch dieser Schutz im Fall eines Vergleichsabschlusses wegen der Regelung in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht nötig. Zum einen verhindert schon die Hauptversammlungszuständigkeit, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat gegenseitig zu Lasten der Gesellschaft von der Haftung befreien.28 Zum anderen müssen das Gesellschaftsvermögen und die Präventionswirkung im Fall eines Vergleichs nicht mehr durch den Selbstbehalt nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG geschützt werden, weil die Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 AktG auf ihr Gesellschaftsvermögen verzichten und damit auch die Präventionswirkung unterordnen kann. § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG ist somit im Fall eines Vergleichsabschlusses nicht anwendbar.

III. Auch kein zwingender Selbstbehalt nach § 93 Abs. 1 AktG 1. Maßstab der Entscheidung des Aufsichtsrats Wie bereits dargestellt trifft die Hauptversammlung über den Vergleich eine freie Entscheidung.29 Sie ist rechtlich nicht gehindert, einen Vergleich ohne Selbstbehalt zu beschließen.30 Fraglich ist damit aus Sicht der Gesellschaft allerdings noch, ob der den Vergleich für die Gesellschaft abschließende und ihn der Hauptversammlung vorschlagende Aufsichtsrat pflichtwidrig handelt, wenn er keinen Selbstbehalt vereinbart. Da § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG – wie eben erörtert – nicht anwendbar ist, folgt jedenfalls aus der Verpflichtung, sich gesetzestreu zu verhalten (sog. Legalitätspflicht)31, keine Pflicht, einen Selbstbehalt zu vereinbaren. Von daher wäre die Vereinbarung eines Selbstbehalts für den Aufsichtsrat nur dann zwingend, wenn sein Handlungsermessen insoweit auf null reduziert ist, also jede andere Entscheidung ermessensfehlerhaft und damit pflichtwidrig wäre. 28 Siehe nur BGH NZG 2014, 1058, 1060 Rn. 20; Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 341. 29 Siehe Nachweise bei Fn. 21. 30 Die Hauptversammlung kann einen ihrem Willen entsprechenden Vergleich auch unabhängig von den Vorschlägen der Organe beschließen, vgl. Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 211 ff. 31 Auch wenn die Legalitätspflicht meist im Zusammenhang mit den Pflichten des Vorstands behandelt wird, gilt sie selbstverständlich auch für den Aufsichtsrat, siehe Klöhn ZGR 2012, 1, 32; Paefgen Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 17.

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Das Ermessen richtig sich beim Vergleichsabschluss und -vorschlag nach überwiegender Auffassung nach § 93 Abs. 1 AktG. Für unbefangene Organmitglieder gilt damit die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).32 Insbesondere Hasselbach vertritt in Abweichung davon zwar, auf die Vergleichsentscheidung seien die Grundsätze der ARAG/GarmenbeckRechtsprechung anzuwenden, da ein Verzicht noch weiter gehe als die Nichtgeltendmachung.33 Das ist aber abzulehnen. Die Aktionäre müssen im Fall eines Vergleichs oder Verzichts nicht mit einem strengen Ermessen vor dem Verlust ihrer Rechte aus §§ 147, 148 AktG geschützt werden, weil die Hauptversammlung selbst über den Vergleich oder Verzicht entscheidet.34 Eine weitere Auffassung – angeführt von Bayer/Scholz – vertritt, dass der Ermessensspielraum des den Vergleich abschließenden und vorschlagenden Aufsichtsrats eben wegen der Hauptversammlungszuständigkeit denkbar weit sei und sich letztlich am freien Ermessen der Hauptversammlung orientiere.35 Nach dieser Auffassung dürfte eine Pflichtverletzung wegen eines Vergleichs ohne Selbstbehalt aufgrund der inhaltlichen Freiheit der Hauptversammlung von vornherein ausgeschlossen sein. Zu untersuchen bleibt damit nur noch, ob der Abschluss eines selbstbehaltslosen Vergleichs per se pflichtwidrig ist, wenn man mit der überwiegenden Auffassung36 von einer Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausgeht. 2. Abwägung zum Wohl der Gesellschaft Aufsichtsratsmitglieder haben ihre Entscheidungen gemäß §§ 93 Abs. 1, 116 Satz 1 AktG am Wohl der Gesellschaft auszurichten.37 Die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) gewährt ihnen dabei für den Fall einer unternehmerischen Entscheidung – wie hier beim Abschluss eines Vergleichs38 – 32 Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 541; Fleischer AG 2015, 133, 135; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 503; Wilsing in Festschrift Haarmann, 2015, S. 257, 292; Schnorbus/Ganzer WM 2015, 1877, 1883; Haßler AG 2016, 388, 391; Harzenetter NZG 2016, 728, 731; Dietz-Vellmer NZG 2011, 248, 251; Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 217. 33 Hasselbach NZG 2016, 890, 891; Hasselbach DB 2010, 2037, 2040. 34 Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 539 f.; Wilsing in Festschrift Haarmann, 2015, S. 257, 277; Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 204 ff. 35 Bayer/Scholz ZIP 2015, 149 ff.; Bayer/Scholz NZG 2019, 201, 205; vgl. ferner Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 76. 36 Siehe Nachweise bei Fn. 32. 37 Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 251, 193 ff.; Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 116 Rn. 2; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rn. 47. 38 Siehe Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 16, 18 m.w.N.

Zwingender Selbstbehalt – auch beim Vergleich mit dem D&O-Versicherer?

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einen breiten unternehmerischen Ermessensspielraum.39 Erst bei schlechthin unvertretbaren Entscheidungen handeln sie pflichtwidrig, das heißt, wenn sie die aus dem Unternehmenswohl ableitbaren Grenzen in völlig unverantwortlicher Weise überschritten haben.40 Vor diesem Hintergrund ist der Abschluss eines Vergleichs ohne Selbstbehalt für den Aufsichtsrat aus zwei Gründen nicht per se pflichtwidrig. a) Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte Zunächst trifft der Aufsichtsrat eine Entscheidung, bei der die Frage des Selbstbehalts neben anderen Gesichtspunkten zu berücksichtigen und deshalb nicht allein ausschlaggebend ist. Im Vorfeld der Entscheidung für den Vergleich muss der Aufsichtsrat eine angemessene Informationsgrundlage41 schaffen und dann eine Gesamtabwägung42 anstellen. Dabei muss er die Vergleichsvereinbarung unter Berücksichtigung ihres konkreten Inhalts (insb. des angebotenen Gesamtvergleichsbetrags und des vereinbarten Selbstbehalts) gegen die bestehenden, alternativen Handlungsmöglichkeiten abwägen. Es kommt auf die Gesamtabwägung an, bei der viele Gesichtspunkte eine Rolle spielen können. Erst wenn die Entscheidung für den Vergleich insgesamt schlechthin unvertretbar ist, liegt eine Pflichtverletzung vor. Wenn die der Entscheidung zugrundeliegende Gesamtabwägung jedoch ergibt, dass der Vergleich in seiner konkreten Ausgestaltung dem Interesse der Gesellschaft entspricht, ist die Entscheidung des Aufsichtsrats für den Abschluss und den Vorschlag des Vergleichs pflichtgemäß, und zwar unabhängig davon, ob ein Selbstbehalt vereinbart wurde oder nicht.

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Die Business Judgement Rule gilt auch für den Aufsichtsrat, siehe OLG Stuttgart AG 2012, 762; Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 251; Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rn. 43; Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 116 Rn. 5; Cahn WM 2015, 1293; Huthmacher Pflichten und Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, 2015, S. 139. 40 Vgl. RegBegr. UMAG BT-Drs. 15/5092 S. 11; BGH, Urteil v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15 = NZG 2017, 117 Rn. 31; LG Heidelberg, Urteil v. 29.3.2017, 12 O 46/16 KfH S. 23; Koch in Hüffer/Koch AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 8; Habersack in Festschrift Baums, 2017, S. 531, 542; Bachmann WM 2015, 105, 106. 41 Zu den (umstrittenen) Anforderungen an die Informationsgrundlage siehe u. a. Fleischer in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rn. 45, § 93 Rn. 70 ff.; Baur/Holle AG 2017, 597, 602 ff.; Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 197; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 Rn. 21; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 102 ff.; W. Goette ZGR 2008, 436, 448; Thümmel DB 2004, 471, 472; Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 250 ff. 42 Vgl. allgemein Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 198; konkret zur Abwägung bei der Vergleichsentscheidung des Aufsichtsrats Unmuth Vergleich und Verzicht im aktienrechtlichen Organhaftungsrecht aus der Perspektive des Aufsichtsrats, 2018, S. 231 ff.

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b) Argumente für und gegen einen Selbstbehalt Außerdem kann die Ausrichtung am Wohl der Gesellschaft sowohl für als auch gegen einen Selbstbehalt sprechen. Beispielsweise die etwaige Wirkung des Vergleichs auf die amtierenden und zukünftigen Vorstandsmitglieder kann in Fällen mit gravierenden Pflichtverletzungen und sehr hohen Schadenssummen für einen Selbstbehalt, in Fällen mit lediglich leicht fahrlässigen Pflichtverletzungen aber auch gegen einen Selbstbehalt sprechen. Dies soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Allein die Tatsache, dass Argumente denkbar sind, die gegen einen Selbstbehalt sprechen, zeigt jedoch, dass das Wohl der Gesellschaft einen Selbstbehalt nicht zwingend verlangt und somit allein die Ausrichtung daran nach § 93 Abs. 1 AktG den Aufsichtsrat nicht per se verpflichtet, einen Selbstbehalt zu vereinbaren.

IV. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Vereinbarung eines Selbstbehalts in einem Vergleich mit dem D&OVersicherer ist aus rechtlicher Sicht nicht zwingend. § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG ist nicht auf Vergleichsabschlüsse anwendbar. Dafür sprechen insbesondere seine systematische Verortung in § 93 Abs. 2 AktG und die vom Gesetzgeber in § 93 Abs. 4 AktG geregelte Dispositionsfreiheit der Hauptversammlung. Wenn die Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 AktG frei und vollumfänglich auf den Organhaftungsanspruch verzichten und sich damit auch über die Präventionswirkung der Organhaftung hinwegsetzen kann, ist sie dabei auch nicht an den der Präventionswirkung dienenden § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG gebunden. 2. Die für den Abschluss des Vergleichs zuständigen Aufsichtsratsmitglieder haben ihre Entscheidung gemäß §§ 93 Abs. 1, 116 Satz 1 AktG am Wohl der Gesellschaft auszurichten. Die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) gewährt ihnen dabei einen breiten unternehmerischen Ermessensspielraum. 3. Der Abschluss eines Vergleichs ohne Selbstbehalt ist für den Aufsichtsrat nicht per se pflichtwidrig. Zum einen trifft er eine Entscheidung, bei der die Frage des Selbstbehalts neben anderen Gesichtspunkten zu berücksichtigen und daher nicht allein ausschlaggebend ist. Zum anderen kann die Ausrichtung der Entscheidung am Wohl der Gesellschaft sowohl für als auch gegen einen Selbstbehalt sprechen. Eine starre Verpflichtung des Aufsichtsrats, in den Vergleich mit dem D&O-Versicherer einen Selbstbehalt des betroffenen Vorstandsmitglieds aufzunehmen, existiert somit nicht. neue rechte Seite!

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Die Beweisbelastung ausgeschiedener Organmitglieder Die Beweisbelastung ausgeschiedener Organmitglieder Gregor Bachmann

Die Beweisbelastung ausgeschiedener Organmitglieder und ihrer Rechtsnachfolger im Haftungsprozess GREGOR BACHMANN

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Beweisbelastung des Organmitglieds (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Beweisbelastung des ausgeschiedenen Organmitglieds . . 1. Problem und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme: Kein Raum für eine teleologische Reduktion 3. Aber: Extensives Einsichtnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Beweisbelastung des Rechtsnachfolgers . . . . . . . . . . . . 1. Gläubigerwechsel (Abtretung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schuldnerwechsel (insbesondere Erbfall) . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Jubilar hat sich nicht nur in seiner Praxis vielfach mit Organhaftungsfällen beschäftigt, er ist darüber hinaus als Autor eines einschlägigen Standardwerks hervorgetreten.1 Ihm zu Ehren möchte ich deshalb ein Thema aus dem Feld der Organhaftung aufgreifen, das sowohl theoretisch als auch praktisch von Interesse ist: die Frage der Beweislastverteilung. Wie Insider wissen, entscheiden sich Haftungsprozesse – nichts anderes gilt für die Organhaftung – oftmals nicht an Rechts-, sondern an Tatsachenfragen. Dabei spielt die Frage, wer für einen unaufgeklärten oder nicht mehr aufzuklärenden Sachverhalt die Beweislast trägt, eine nicht unerhebliche Rolle. Die Gesellschaft ist hier in einer vergleichsweise komfortablen Position, denn § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG legt dem in Anspruch genommenen Vorstandsmitglied die Beweislast dafür auf, dass es bei seiner Amtsführung „die 1

Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016.

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Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt“ hat. Nach einem kurzen Blick darauf, wie diese Regelung zu verstehen ist (unten II.), will ich auf zwei Problemfälle bei ihrer Anwendung eingehen: zum einen die Beweisbelastung des ausgeschiedenen Organmitglieds (unten III.), zum anderen diejenige eines Rechtsnachfolgers (unten IV.). Während die erstgenannte Konstellation in der Praxis den Regelfall darstellt und daher besonders relevant ist, spielt die andere insbesondere dann eine Rolle, wenn das (vermeintlich) ersatzpflichtige Organmitglied verstirbt und sich der Anspruch der Gesellschaft nunmehr gegen die Erben richtet.

II. Die Beweisbelastung des Organmitglieds (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG) Ist streitig, ob ein Vorstandsmitglied die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat, so trifft die Beweislast das Vorstandsmitglied (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG). Die Gesellschaft hat im Streitfall also nur darzulegen und zu beweisen, dass der oder die in Anspruch Genommene zum fraglichen Zeitpunkt Vorstandsmitglied war, und dass ihr aus dessen Tun oder Unterlassen ein Schaden entstanden ist. Sache des Vorstandsmitglieds ist es dagegen, nachzuweisen, dass es sich sorgfaltsgemäß verhalten hat. Ihre Ratio findet diese Beweislastumkehr, die nach einhelliger Meinung auch für die GmbH gilt,2 im Gedanken der Sachnähe: Das Organmitglied könne die Umstände seines Verhaltens und die Gesichtspunkte, die für eine pflichtgemäße Amtsführung sprechen, besser überblicken als die Gesellschaft, die insoweit regelmäßig in Beweisnot geriete.3 Eine Schärfung erfährt § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG dadurch, dass die h.M. die Beweislastumkehr nicht nur auf das Verschulden, sondern auch auf die Pflichtverletzung beziehen will.4 Begründet wird dies mit der erwähnten Ratio der Norm und ihrem Bestreben, der Gesellschaft und ihren Gläubigern eine realistische Regressmöglichkeit zu verschaffen.5 Diese Ansicht ist nicht frei von Zweifeln, denn der Vergleich mit dem auf demselben Gedanken beruhenden Grundtatbestand einer Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB)6 zeigt, dass größere Sachnähe zwar AnStatt aller Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 43 Rn. 81. BGHZ 152, 280, 283; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 220; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 203. 4 Vgl. BGHZ 202, 26, 33 Rn. 33 m.w.N.; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 203; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 53; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 222. 5 Goette, ZGR 1995, 648, 682; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 222; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 204. 6 S. nur Zieglmeier, JuS 2007, 701, 702: „... beruht auf dem Gedanken, dass der Schuldner selbst am besten in der Lage ist, die Umstände darzulegen und zu beweisen, warum er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat“. 2 3

Die Beweisbelastung ausgeschiedener Organmitglieder

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lass für eine Verschuldensvermutung gibt, nicht jedoch für eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Pflichtverletzung. In vergleichbaren Konstellationen, in denen der treuhänderisch Tätige näher am Geschehen ist, wird der Treugeber daher unstreitig nicht vom Nachweis der Pflichtverletzung entbunden.7 Aus diesen und anderen Gründen ist die herrschende Lesart zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen.8 Ob sie selbst so streng verstanden werden will, wie sie bisweilen zitiert wird, ist offen.9 Dessen ungeachtet soll hier die herrschende Meinung zugrunde gelegt werden. Eine nicht unwesentliche Abmilderung erfährt sie dadurch, dass sich die Gesellschaft nicht mit dem Nachweis eines Schadens begnügen darf, sondern – so die vom BGH im Anschluss an Goette geprägte und seither verstetigte Formel – darüber hinaus darzulegen und ggfs. zu beweisen hat, dass der Schaden durch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des belangten Organmitglieds entstanden ist.10 Der Sache nach wird der Gesellschaft damit eine sekundäre Darlegungslast auferlegt, d.h. sie muss ihren Vortrag zumindest soweit substantiieren, dass ein pflichtwidriges Verhalten des Organs plausibel erscheint. Wie weit sie dabei zu gehen hat, hängt von den Umständen des jeweiligen Falles, namentlich dem konkreten Informationsstand der Beteiligten, ab.11 Man spricht insoweit von einer „dynamischen“ Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.12 7 Wach, FS Schütze, 2014, 663, 674 (unter Hinweis auf Geschäftsbesorgung und Testamentsvollstreckung). 8 So mit gewichtigen Gründen Foerster, ZHR 176 (2012), 220, 226 ff.; Wach, FS Schütze, 2014, 663 ff.; Kindler, FS Goette, 2011, 231, 234 f.; umfassend demnächst Flaßhoff, Organhaftung und Beweislast, Diss. HU Berlin 2020. 9 Goette als Protagonist der h.M. (Fn. 10) bezieht die Beweislastumkehr an anderer Stelle nur auf das Verschulden, s. Goette, ZHR 176 (2012), 588, 601 und ders., FS Hoffmann-Becking, 2013, 377, 379. 10 Vgl. BGHZ 152, 280, 284 im Anschluss an Goette, ZGR 1995, 648, 673 f. (Hervorhebung dort im Original); bestätigend u.a. BGH NZG 2011, 549, 550; BGH NJW 2009, 2598; BGH ZIP 2008, 117; BGH NZG 2008, 314, 315; aus der Lit. nur Hüffer/Koch AktG § 93 AktG Rn. 53. 11 Vgl. Goette, ZGR 1995, 648, 674: „Wie weit die Anspruchsteller bei der Darlegung eines möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens jeweils gehen müssen, läßt sich [...] nur von Fall zu Fall festzustellen. Einer Gesellschaft, die über sämtliche Informationen hinsichtlich des Verhaltens des Organs verfügt, wird ein größeres Maß an Darlegung des möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens abverlangt werden können, als dies z.B. bei einem gesellschaftsfremden Dritten der Fall ist. Ebenso wird man bei der dem Organ obliegenden Entlastung etwaige Besonderheiten seiner Situation, etwa eine Inanspruchnahme kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist nach mehreren Jahren zurückliegendem Ausscheiden, sachgerecht berücksichtigen können“. 12 Vgl. Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 53 u. 56; Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT, Band I (2014), E 9, E 34 f.; eingehend Heermann, ZIP 1998, 761, 767 ff.; s. auch Krieger, VGR 1 (1999), 111, 132: „Mit der Beweislast kann ein Geschäftsführer leben, wenn man sie im Einzelfall mit praktischer Vernunft anwendet“.

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Konsequent wendet die h.M. die beschriebene Beweislastverteilung auch auf die sog. Business Judgment Rule an.13 Will ein Organmitglied in den Genuss ihrer privilegierenden Wirkung gelangen, hat es deren Tatbestandsvoraussetzungen darzulegen, d.h., dass es aufgrund der vorliegenden Umstände vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohl der Gesellschaft zu handeln (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Kritiker monieren, dass mit dieser Beweislastverteilung die haftungsentlastende Wirkung, die der Gesetzgeber der Regel zugedacht habe, verloren gehe.14 Das mag sein, doch ergibt sich aus der negativen Formulierung („Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn ...“) sowie aus den Gesetzesmaterialien, dass der Gesetzgeber nicht von der allgemeinen Verteilung der Beweislast, wie sie die h.M. für § 93 Abs. 2 AktG vertritt, abweichen wollte.15 Wer zu einem anderen Verständnis gelangen will, müsste daher mit der h.M. brechen,16 was an dieser Stelle nicht geschehen soll (s.o.).

III. Die Beweisbelastung des ausgeschiedenen Organmitglieds 1. Problem und Meinungsstand Ein viel diskutiertes Problem ist, ob die dargestellte Beweislastverteilung auch zugunsten ausgeschiedener Vorstandsmitglieder gilt. Die h.M. bejaht das.17 Sie hat dafür den Gesetzeswortlaut und die Systematik auf ihrer Seite. Denn § 93 Abs. 2 AktG differenziert, anders als etwa § 87 Abs. 2 AktG bei der Herabsetzung der Vergütung, nicht danach, ob ein Vorstandsmitglied ausgeschieden oder noch im Amt ist. Im berühmten Siemens/Neubürger-Urteil sah das LG München I denn auch keine Veranlassung, an der Beweisbelastung des Beklagten zu zweifeln, wiewohl dieser schon Jahre zuvor aus der Gesellschaft ausgeschieden war.18 Die Richter empfanden dies nicht als unbillig, denn dem Beklagten war – so heißt es 13 Vgl. BGHZ 152, 280, 284; BGH NZG 2011, 549 Rn. 19 ff.; Seibert, FS Priester, 2007, 763, 772; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 54; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 77. 14 So insbes. Paefgen, NZG 2009, 891, 893; ders., AG 2004, 245, 258 f.; ders., AG 2014, 554, 556, 565 f.; kritisch auch Hopt/Roth in GroßKomm AktG § 93 Rn. 67. 15 Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 16 Konsequent Flaßhoff (s.o., Fn. 8). 17 Vgl. nur BGHZ 202, 26, 39 Rn. 33; BGHZ 158, 280, 285; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 224. 18 Neubürger hatte Siemens im Frühjahr 2006 verlassen, die Klage gegen ihn wurde Anfang 2010 erhoben und in den Jahren 2012 und 2013 verhandelt. Näher zu den Hintergründen Bachmann in Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, 691, 702 ff.

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im Urteil – von der Klägerin „eine Vielzahl von entsprechenden Informationen“ zur Verfügung gestellt worden.19 Ob dies zur Herstellung prozessualer Waffengleichheit genügt, wurde von Kritikern des Urteils bezweifelt.20 Diese Zweifel machte sich der Deutsche Juristentag, der sich im Folgejahr mit der Organhaftung befasste, zu eigen, und empfahl dem Gesetzgeber, die Beweislastverteilung in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG generell, wenigstens aber für ausgeschiedene Organmitglieder zu ändern.21 Während dieser Vorschlag, der im Schrifttum Unterstützung erfuhr,22 de lege ferenda erging und bislang unerhört blieb, versucht eine Mindermeinung schon nach geltendem Recht, die Beweislastverteilung zugunsten ausgeschiedener Organmitglieder zu entschärfen. Methodisch soll dies im Wege teleologischer Reduktion bewältigt werden. Die Vertreter dieser Ansicht argumentieren, dass die das Gesetz tragende Sachnähe des Organmitglieds dann nicht mehr gegeben sei, wenn das Mitglied die Gesellschaft verlassen und daher keinen direkten Zugriff auf deren Dokumente habe.23 Die dem Organmitglied von der h.M. gewährte Möglichkeit, von der Gesellschaft analog § 810 BGB die Herausgabe solcher Unterlagen zu verlangen, die es zur Verteidigung benötigt,24 wird als nicht ausreichend erachtet.

2. Stellungnahme: Kein Raum für eine teleologische Reduktion Der Mindermeinung ist zuzugeben, dass die Beweislastumkehr den ausgeschiedenen Geschäftsführer hart treffen kann, denn sie bringt ihn, wie der Jubilar treffend feststellt, „in die Nähe einer Garantiehaftung für gewinnschmälernde Geschäftsleitungsmaßnahmen“.25 Dennoch kann ihr nicht ge19

LG München I ZIP 2014, 570, 573 = juris Rn. 90. So namentlich Beckmann, ZWH 2014, 199, 200 und Faßbender WuB II A. § 93 AktG 1.14, der Neubürger ein Bestreiten mit Nichtwissen zugestehen wollte. 21 Der erste Beschluss zur Streichung der Regelung erging mit einer Mehrheit von 47:24:12, der zweite mit einer solchen von 45:23:16 (s. Verhandlungen des 70. DJT, Band II/1 (2015), Verhandlungen und Beschlüsse, N 62, 6a, b). Für Änderung auch Reichert, ZGR 2017, 671, 679; Hopt/Roth in GroßKomm AktG § 93 Rn. 427; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803. 22 Vgl. Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 805; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803; Kindler, FS Goette, 2011, 230, 233 ff.; Rieger, FS Peltzer, 2001, 339, 351; speziell zur BJR Paefgen, AG 2004, 245, 256 ff. (mit Formulierungsvorschlag, ebd. S. 261); ders., NZG 2009, 891; v. Falkenhausen, NZG 2012, 644, 651; Druey, FS Goette, 2011, 57, 67 f. 23 So z.B. Hopt/Roth in GroßKomm AktG § 93 Rn. 448; Bürgers in Bürgers/Körber AktG § 93 Rn. 29; s. ferner Rieger, FS Peltzer, 2001, 339, 351; auch noch Hüffer AktG, 9. Aufl. 2010, § 93 Rn. 17 (anders jetzt aber Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56). 24 Vgl. BGHZ 152, 280, 285; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG § 93 Rn. 147; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 212; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 224. 25 Thümmel (s.o., Fn. 1), Rn. 228. 20

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folgt werden.26 Zweifelhaft ist bereits, ob eine für die teleologische Korrektur des Gesetzes erforderliche Lücke vorliegt.27 Dass ein Ausgeschiedener in Anspruch genommen wird, ist nämlich kein Ausnahmefall, sondern durchaus die Regel,28 gilt hier doch folgende Logik: Will die Gesellschaft den Geschäftsleiter behalten (z.B. weil er im Übrigen herausragende Arbeit leistet), wird man von einer Klage absehen; will man ihn dagegen verklagen, wird man die Zusammenarbeit beenden. Da dem Gesetzgeber dieser Zusammenhang nicht verborgen geblieben sein dürfte, ist nicht anzunehmen, dass er ausgerechnet den Fall des ausgeschiedenen Geschäftsleiters übersehen hat.29 Wollte man die Beweislast zugunsten Ausgeschiedener pauschal umdrehen, führte das überdies zu fragwürdigen Ergebnissen. Da Ersatzansprüche fast immer erst nach dem Ausscheiden geltend gemacht werden und Pflichtverletzungen häufig erst den Anlass zum Ausscheiden geben, käme faktisch jedes Vorstandsmitglied in den Genuss einer Beweislastprivilegierung, auch wenn das Geschehen erst wenige Zeit zurückliegt.30 § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG würde damit weitgehend entwertet. Auch hätte der Geschäftsleiter es in der Hand, durch Niederlegung seines Amtes die Beweislast zu seinen Gunsten umdrehen zu können – ein Ergebnis, das mit Fug als „eigentümlich“ bezeichnet wird.31 Hinzu kommt, dass die Beweisnöte des Ausgeschiedenen der Rechtsprechung geläufig sind, die ihm deshalb mit einer sog. dynamischen Handhabung der Beweislastregel entgegenkommt: Ergeben sich aus dem Gegenvortrag des verklagten Organmitglieds einigermaßen plausible Anhaltspunkte dafür, dass es seinen Pflichten genügt hat, obliegt es der Gesellschaft, im Rahmen der sekundären Darlegungslast diese Plausibilität zu erschüttern.32 Äußerungen von BGH-Richtern signalisieren eine grundsätzliche Bereitschaft, die Beweisnöte des Jahre nach seinem Ausscheiden in Anspruch Genommenen sachgerecht zu berücksichtigen.33 Verschiedentlich hat der BGH 26 Ablehnend u.a. auch Meckbach, NZG 2015, 580, 594; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 224; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56; Born, FS Bergmann, 2019, 79, 82. 27 Zum Erfordernis der Lücke auch bei der teleologischen Reduktion Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 377 Fn. 24a. Allerdings fällt hier die Erkenntnis, dass eine Lücke vorliegt, mit ihrer Ausfüllung zusammen. 28 Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 719. 29 So auch Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56; zust. Born, Hdb Managerhaftung, § 14 Rn. 20; ders., FS Bergmann, 2019, 79, 83. 30 Bachmann, (s.o., Fn. 12), E 36. 31 Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56. 32 S.o., bei Fn. 11 u. 12. 33 So explizit Goette, ZGR 1995, 648, 674; Kurzwelly, Hdb Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 12 Rn. 14; s. auch Born, FS Bergmann, 2019, 79, 96 ff.; Goette, Verhandlungen des 69. DJT, Band II/2 (2013), N 136 (Diskussionsbeitrag); Bergmann, VGR Bd. 19 (2014), 1, 18 (Diskussionsbericht): Der BGH werde vom Geschäftsleiter „nichts Unmögliches verlangen“; problematisch BGH NZG 2018, 1189, 1193: „sichere(r) Nachweis“ rechtmäßigen Alternativverhaltens; dies relativierend wiederum Drescher, VGR Bd. 24 (2019), 1, 27 (Diskussionsbericht).

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daher Urteile aufgehoben, welche die primäre Darlegungslast des verklagten (ausgeschiedenen) Organmitglieds überspannt hatten.34 3. Aber: Extensives Einsichtnahmerecht Wirkt sich die gesetzlich angeordnete Beweislastumkehr in der Praxis daher auch nicht so brutal aus, wie es auf dem Papier den Anschein hat, bleibt die Lage des ausgeschiedenen Organmitglieds prekär. Denn um sich sachgerecht zu verteidigen, ist es selbst bei „dynamischer“ Verteilung der Lasten darauf angewiesen, von der Gesellschaft Dokumente zur Verfügung gestellt zu bekommen, aus denen es die für seine Verteidigung relevanten Informationen gewinnen kann. Wie gesagt, hilft die h.M. dem ausgeschiedenen Organmitglied dabei, indem sie ihm analog § 810 BGB bzw. gestützt auf die nachwirkende Treuepflicht ein entsprechendes Einsichtnahmerecht gewährt.35 Dieses Recht ist allerdings nicht nur mühsam durchzusetzen, sondern es hilft dem Ausgeschiedenen dann nicht, wenn er sich nicht mehr an konkrete Unterlagen erinnert oder diese (angeblich) nicht mehr auffindbar sind.36 Gedient wäre dem Organmitglied, wenn es alle Unterlagen beim Ausscheiden in Kopie behalten dürfte. Dies versagt ihm die Rechtsprechung aber mit dem Hinweis, die Gesellschaft habe ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Dokumente nicht bei ausgeschiedenen Organmitgliedern verstreut bleiben und in unbefugte Hände geraten können.37 Zwar mag das Vorstandsmitglied auf eine gegenteilige Regelung in der Geschäftsordnung38 oder in seinem Anstellungsvertrag dringen.39 Ob es damit Erfolg haben wird, steht auf einem anderen Blatt.40 Vorgeschlagen worden ist deshalb eine gesetzliche Regel, die dem Organmitglied entweder das Einbehalten von Kopien aller ihn betreffender Vorgänge bis zum Ablauf der Verjährungsfrist 34 Vgl. BGHZ 197, 304; BGH ZIP 2011, 766; s. auch OLG Hamm AG 2008, 711 ff.; Kurzwelly, (s.o., Fn. 33), § 12 Rn. 14 ff. 35 Vgl. BGHZ 152, 280, 285; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 224; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 212; Hopt/Roth in GroßKomm AktG § 93 Rn. 448; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG § 93 Rn. 147. 36 Kritisch daher Peltzer, VGR Bd. 19 (2014), 83 ff., der wenigstens für diesen Fall die Beweislast auf die Gesellschaft überwälzen will; zu den praktischen Mühen des Organmitglieds und den von der Gesellschaft (oder dem Insolvenzverwalter) bisweilen aufgebauten Hürden Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293. 37 Vgl. BGH ZIP 2008, 1821, 1822 – Metro (zum Aufsichtsrat). 38 Im vorgenannten BGH-Fall wurde dem ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglied entgegengehalten, dass es „der unter seiner Mitwirkung beschlossenen Geschäftsordnungsregelung“, die eine entsprechende Herausgabepflicht vorsah, zugestimmt habe, s. BGH ZIP 2008, 1821, 1822 (unter II.2.a). 39 Vgl. Meckbach, NZG 2015, 580, 584 f. 40 Vgl. Werner, GmbHR 2013, 68, 74: „in der Praxis unüblich“; skeptisch auch Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803 (unter Hinweis auf die gängige Formularpraxis).

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gestattet, oder die ihm den Zugang zu diesen garantiert.41 Diesen Vorschlag hat der Gesetzgeber bislang nicht aufgegriffen. Berater empfehlen das Anfertigen eigener Notizen, die das Organmitglied nach dem Ausscheiden behalten darf.42 Dieser Vorschlag stößt an praktische Grenzen, da dem Vorstand im anspruchsvollen Tagesgeschäft kaum Zeit bleibt, alles eventuell einmal Wichtige mit der gebotenen Akribie zu protokollieren. Um die Misere des nach seinem Ausscheiden in Anspruch genommenen Organmitglieds zu lindern, ist daher dafür zu plädieren, schon nach geltendem Recht das Einsichtsrecht extensiv zu interpretieren.43 Anerkannt ist, dass das ausgeschiedene Organmitglied nicht nur die in § 810 BGB genannten Dokumente einsehen kann, sondern alle sonstigen Geschäftsunterlagen, in denen sich die Tätigkeit des früheren Organmitglieds niederschlägt.44 Um das Einsichtsrecht nicht ausufern zu lassen, verlangt man aber, dass das Organmitglied darlegt, welche zu seiner Rechtsverteidigung geeigneten Informationen es aus den von ihm angeforderten Unterlagen glaubt gewinnen zu können.45 Dazu gehören sollen eine Konkretisierung des Inhalts der Informationen, eine Plausibilisierung der Annahme, dass diese Informationen in den angeforderten Unterlagen enthalten sind, sowie eine nachvollziehbare Erläuterung, dass und warum die Informationen für die Rechtsverteidigung hilfreich sein können.46 Ganz ausgeschlossen von der Einsichtnahme sollen Informationen zu Schaden und Kausalität sein, da das Organmitglied insoweit nicht beweisbelastet sei,47 ferner Protokolle von Mitarbeiterbefragungen und schließlich und vor allem interne Untersuchungsberichte.48 41 Vgl. Bachmann (s.o., Fn. 12), E 37; Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56 („de lege ferenda erwägenswert“); Paefgen, AG 2014, 554, 566; Rieger, FS Peltzer, 2001, 339, 352; für Ausbau des Einsichtnahmerechts auch Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803; Peltzer, VGR Bd. 19 (2014), 102 f.; Weller, LMK 2008, 271637. 42 Vgl. z.B. Heider/M. Hirte, CCZ 2009, 106, 109; ferner Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1292 f.; Finkel/Ruchatz, BB 2017, 519; Werner, GmbHR 2013, 68, 74. 43 So in der Tendenz auch Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 235 f.; Grooterhorst, AG 2011, 389, 396 (Anforderungen an das Einsichtsrecht „vergleichsweise niedrig ansetzen“); Meckbach, NZG 2015, 580, 584 („Lösung durch eine großzügigere Handhabung der Auskunfts- und Einsichtsrechte“); Ruchatz, AG 2015, 1, 2 ff.; mit grundrechtlicher Argumentation auch Hassemer, Gründe und Grenzen von Informationsrechten ehemaliger Vorstandsmitglieder gegenüber dem Aufsichtsrat, unveröffentlichtes Rechtsgutachten v. 12.7.2009, 20 ff. 44 Vgl. Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 44; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG § 93 Rn. 147; näher Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 724 (unter Zitat von RG Warneyer 1908, Nr. 465). 45 Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 44. 46 So Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 726, der dies als „Mittelweg“ bezeichnet; skeptisch Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293: „dürfte zu weit gehen“. 47 Vgl. Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 212; Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 726. 48 Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 726 f.; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Ruchatz, AG 2015, 1, 3; Born, FS Bergmann, 2019, 79, 90.

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Diese Sichtweise ist zu eng. Richtigerweise wird man die Gewichtung verkehren müssen: Das Organmitglied kann grundsätzlich Einsicht in alle Unterlagen verlangen, die zu seiner Verteidigung möglicherweise dienlich sind, es sei denn die Gesellschaft legt plausibel dar, dass und warum eine solche Einsichtnahme unnötig oder ihr nicht zuzumuten ist.49 Für diese Gewichtung spricht vor allem der Umstand, dass das Organmitglied vor seinem Ausscheiden sämtliche Unterlagen ohne Einschränkung hätte einsehen können.50 Kann aber sein – aus dem Blickwinkel der Haftung zufälliges – Ausscheiden aus dem Amt die Beweislastposition nicht einseitig zulasten der Gesellschaft kippen (so das entscheidende Argument gegen eine teleologische Reduktion51), so darf dieses umgekehrt nicht die Beweisposition einseitig und, haftungsrechtlich gesehen wiederum zufällig, zugunsten der Gesellschaft verändern.52 Dem Ausgeschiedenen sind daher mindestens diejenigen Informationen zugänglich zu machen, auf die es bei seinem Ausscheiden noch hätte zugreifen können.53 Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft stehen dem schon deshalb nicht im Wege, weil das ausgeschiedene Organmitglied unverändert der (strafbewehrten) Verschwiegenheitspflicht unterliegt.54 Untermauert wird dieses Ergebnis durch den verfassungsrechtlich fundierten Grundsatz prozessualer Waffengleichheit.55 Zwar spielt dieser vornehmlich im Strafverfahren eine Rolle, während seine Tragweite und Bedeutung im Zivilprozess (noch) nicht vollständig ausgelotet sind,56 doch muss das Prinzip auch im Streit privater Parteien zur Geltung kommen. Denn der Staat ist diesen zur sog. Justizgewährleistung verpflichtet und hat deshalb sowie aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG)57 die Beibringungslasten so zu tarieren, dass niemand allein deshalb in die Rolle des Unterlegenen gedrängt wird, weil ihm das Recht den Zugriff auf Informationen versagt, über die er ohne eigenes Verschulden nicht (mehr) verfügen kann. Daraus folgt kein Anspruch, alles zu wissen, was der Gegner weiß. Ein strukturelles InSo auch Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 235 f. (unter Anlehnung an § 166 HGB). Für Vorstandsmitglieder folgt dies daraus, dass sie unbegrenzten Zugriff auf alle Gesellschaftsdokumente haben, für Aufsichtsratsmitglieder aus ihrem umfassenden Informationsanspruch gegenüber dem Vorstand (vgl. § 90 AktG). 51 S.o., bei III.2. 52 Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 235; Grooterhorst, AG 2011, 389, 397: „Nur wegen Ausscheidens darf dem Vorstandsmitglied in seiner Rechtsverteidigung kein Nachteil erwachsen“. 53 Ruchatz, AG 2015, 1, 3; Finkel/Ruchatz, BB 2017, 519, 522; vgl. ferner Rieger, FS Peltzer, 2001, 339, 352. 54 Vgl. nur Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 31 u. § 116 Rn. 9. 55 Auf diesen verweisend auch Ruchatz, AG 2015, 1, 3. 56 Näher und m.w.N. Rauscher in MüKo ZPO Einl. Rn. 258 ff. 57 Unter Privaten gilt Art. 3 GG nur eingeschränkt (vgl. BVerfGE 148, 267 – Stadionverbot; BVerfG JZ 2019, 1003 - Udo Voigt m. Anm. Grünberger/Washington), doch geht es hier nicht um die Behandlung Privater durch andere Private, sondern um die Behandlung von Privaten durch den Staat (in seiner Rolle als Normgeber bzw. -anwender). 49 50

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formationsungleichgewicht, wie es im Verhältnis ausgeschiedenes Organmitglied – Gesellschaft typischerweise besteht, erfordert aber die Korrektur durch das Recht, und das auch schon im vorprozessualen Raum.58 Befürworter eines restriktiven Einsichtnahmerechts stellen dem den Grundsatz entgegen, dass keine Partei gehalten sei, dem Gegner das Material zu dessen Prozesssieg zu verschaffen.59 Dieser Satz darf aber schon deshalb nicht wörtlich genommen werden, weil es Normen wie § 810 BGB oder § 421 ff. ZPO, die eine Partei explizit zugunsten des Gegners in die Pflicht nehmen, sonst gar nicht geben dürfte. Schaut man sich die Fallgestaltungen an, in denen der BGH diesen Grundsatz invoziert hat, wird erkennbar, dass die Rechtsprechung damit Klagestrategien ausbremsen will, bei denen der Beklagte zur Herausgabe solcher Informationen genötigt werden soll, welche die Klage überhaupt erst schlüssig machen („Klage ins Blaue“).60 Um solche Sachverhalte geht es bei der Verteidigung gegen Organhaftungsklagen nicht. Vielmehr kommt hier der Umstand zum Tragen, dass zwischen Gesellschaft und Organ eine Treuebindung besteht, die es gestattet, der Gesellschaft eine größere Beibringungslast aufzuerlegen, als man sie den Parteien eines beliebigen Austauschverhältnisses zumuten würde. Im Ergebnis wird man dem ausgeschiedenen Organmitglied daher eine umfangreichere Einsichtnahme gestatten, als es die derzeit h.M. zulässt. Eingesehen werden dürfen danach grundsätzlich auch Unterlagen zu Punkten, für welche nicht das Organmitglied, sondern die Gesellschaft beweisbelastet ist.61 Darüber hinaus und gegen die h.M. ist auch Einsicht in die Ergebnisse einer internen Untersuchung, einschließlich der Befragungsprotokolle von Mitarbeitern, zu gewähren.62 Dies gilt jedenfalls für solche Untersuchungen, 58

Hassemer (Fn. 43), 20 ff., 25 ff., unter Hinweis auf BVerfGE 81, 242 (Handelsvertreter) und BVerfGE 89, 214 (Bürgschaft). Einen einfachrechtlichen Anknüpfungspunkt liefert § 241 Abs. 2 BGB, auf den Pflichten zum Ausgleich von Informationsasymmetrien gestützt werden, s. Bachmann in MüKo BGB, 8. Aufl. 2019, § 241 Rn. 130 ff. 59 So der zentrale Einwand von Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 726, 727, 728, 732, jeweils unter Hinweis auf BGH NJW 1990, 3151: „Keine Partei [ist] gehalten, dem Gegner für seinen Prozeßsieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt (vgl. Senat NJW 1958, 1491)“. Kriegers Argumentation übernehmend Werner, GmbHR 2013, 68, 72. S. dagegen aber Heese, JZ 2020, 178, 185: „durch die Fortentwicklung des Rechtsinstituts der sekundären Darlegungslast mit guten Gründen längst überholt“. 60 Vgl. BGH NJW 1958, 1491 (substanzlose Klage auf Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis); BGH NJW 1990, 3151 (unsubstantiiertes Behaupten einer Gewinnverlagerung). Im letztgenannten Urteil verneinte der BGH zwar eine prozessuale Aufklärungspflicht des Beklagten, legte diesem aber eine sekundäre Darlegungslast auf, denn die Kläger hatten Indizien und Anhaltspunkte dargetan, welche einen Verlagerungssachverhalt nach Ansicht des Berufungsgerichts „wahrscheinlich und plausibel“ machten. 61 So auch Ruchatz, AG 2015, 1, 2 f. 62 A.A. Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 727 f.; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Ruchatz, AG 2015, 1, 3; Born, FS Bergmann, 2019, 79, 90.

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die vor dem Ausscheiden des Betreffenden durchgeführt wurden, richtigerweise aber auch für nachträgliche, da es keinen Unterschied machen kann, ob die Untersuchung vor oder nach dem Abschied des Organmitglieds angestrengt oder abgeschlossen wurde. Das Recht zur Einsicht in derartige Dokumente trägt nicht nur dem erwähnten Grundsatz der Waffengleichheit Rechnung, sondern hält Schritt mit der rechtstatsächlichen Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Unternehmen, angespornt durch Gesetzgeber und Rechtsprechung, zunehmend groß angelegte „internal investigations“ durchführen. Da diese Untersuchungen nicht selten von den später belangten Organmitgliedern selbst angestoßen wurden,63 sie losgelöst vom konkreten Haftungsfall ohnehin durchgeführt werden und dem erklärten Ziel objektiver Wahrheitsfindung dienen,64 erscheint es nur billig, die daraus gewonnenen Erkenntnisse den in Anspruch genommenen Organmitgliedern nicht vorzuenthalten. Der Gesellschaft entsteht durch die Herausgabe eines ohnehin vorhandenen Dokuments kein unzumutbarer Aufwand, denn sie bereitet weder besondere Mühe noch bringt sie Unruhe ins Unternehmen.65 Anders mag es mit der (erneuten) Befragung von Mitarbeitern liegen. Sie belastet die betrieblichen Abläufe und die betroffenen Mitarbeiter erheblich und muss daher allenfalls gestattet werden, wenn das Organmitglied plausibel machen kann, dass und warum es aus einer neuerlichen Befragung abweichende Erkenntnisse gewinnen will.66 Das dürfte die Ausnahme bleiben. Im Übrigen ist das Recht zur Zeugenbefragung dem gerichtlichen Verfahren vorbehalten (vgl. § 397 ZPO). 4. Ergebnis Von der Gesellschaft in Anspruch genommene Organmitglieder bleiben auch nach ihrem Ausscheiden beweisbelastet, soweit es darum geht, dass sie ihre Pflichten erfüllt haben oder die Nichterfüllung schuldlos geschah. Eine teleologische Reduktion von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG kommt nicht in Betracht. Im Gegenzug ist dem ausgeschiedenen Organmitglied ein umfassendes Einsichtsrecht in die Unterlagen der Gesellschaft zu gewähren. Dieses erfasst alle Dokumente, die es zu seiner Verteidigung möglicherweise benötigt und erstreckt sich insbesondere auch auf Ergebnisse einer internen Untersuchung.

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So auch im notorischen Siemens-Fall, s. Bachmann (s. o., Fn. 18), 691. So wird es jedenfalls von den diese Ermittlungen oft anstoßenden Behörden erwartet und gegenüber Ermittlern und Öffentlichkeit auch verlautbart. 65 Anders Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293. 66 Ganz ablehnend Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 729. 64

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IV. Die Beweisbelastung des Rechtsnachfolgers Das zweite zu vertiefende Problem ist die Beweislastverteilung im Falle der Rechtsnachfolge. Während der Gläubigerwechsel die Beweislastverteilung unstreitig nicht verändert (s.u. 1.), will die ganz h.M. eine Ausnahme machen, wenn der Schuldner wechselt, insbesondere das zu belangende Organmitglied beerbt wird. Diese Ausnahme ist kritisch zu würdigen (s. u. 2.). 1. Gläubigerwechsel (Abtretung) Keine Probleme bereitet der Fall, dass die Gesellschaft ihren Ersatzanspruch gegen das Organmitglied an einen Dritten abtritt.67 Denn die Abtretung ändert nichts an der Beweislastverteilung.68 Das Organmitglied bleibt also gegenüber dem Zessionar beweisbelastet.69 Das ist sachlich gerechtfertigt, da es nach wie vor näher am Geschehen ist und der Zessionar im Zweifel über noch weniger Informationen verfügt als die Gesellschaft. Bestätigung erfährt das Ergebnis durch die Wertung des § 93 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 AktG, wonach die Beweislastumkehr auch dann gilt, wenn der Ersatzanspruch von den Gläubigern der Gesellschaft geltend gemacht wird. 2. Schuldnerwechsel (insbesondere Erbfall) a) H.M.: Keine Beweisbelastung des Rechtsnachfolgers Anders soll es liegen, wenn die Person des Schuldners wechselt: Macht die Gesellschaft den Haftungsanspruch gegen einen Rechtsnachfolger des Organmitglieds geltend, trifft sie nach fast einhelliger Auffassung die volle Darlegungs- und Beweislast.70 Begründet wird das damit, dass der für die Beweislastumkehr maßgebliche Gesichtspunkt der größeren Sachnähe bei Rechtsnachfolgern offensichtlich nicht zutreffe.71 Dem wird vereinzelt entgegengehalten, dass der Rechtsnachfolger in die Stellung des Altschuldners einrücke und diese daher so zu übernehmen habe, wie sie bei jenem be-

67 Diskutiert wird, ob eine solche Abtretung unter die Verzichtsschranken des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG fällt, also insbes. nur mit Zustimmung der Hauptversammlung zulässig ist, s. dazu nur Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 77. 68 Vgl. AG Moers K&R 2004, 499; Rosch in jurisPK-BGB § 398 Rn. 57. 69 Eingehend zur Abtretung des Organhaftungsanspruchs durch die Gesellschaft Dendl, Die Disposition über Organhaftungsansprüche in der Aktiengesellschaft und im Aktienkonzern, 2018, 211 ff. 70 Hüffer/Koch AktG § 93 Rn. 56 a.E.; Fleischer in Spindler/Stilz AktG § 93 Rn. 224; Spindler in MüKo AktG § 93 Rn. 212; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG § 93 Rn. 146. 71 Krieger, FS Schneider, 2011, 717, 719; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG § 93 Rn. 146; Fleischer/Danninger, AG 2020, 193, 196 f.

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stand.72 Das OLG Köln hat die Frage in einer jüngeren Entscheidung offengelassen.73 Praktische Relevanz entfaltet die Frage insbesondere im Erbfall. Es mag nicht häufig vorkommen, dass ein in Anspruch genommenes Vorstandsmitglied verstirbt, fernliegend ist diese Situation aber keineswegs. Zu denken ist nicht nur an tragische Fälle, in denen das verklagte Organmitglied Suizid begeht,74 sondern auch an Unfalltod, schwere Krankheit oder schlicht das natürliche Ableben vor Ablauf der Verjährungsfrist. In solchen Fällen mag es die Pietät gebieten, die Erben nicht mit einer Organhaftungsklage zu überziehen. Persönliche Rücksichtnahme genügt nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung aber nicht, um von der Durchsetzung einer Forderung abzusehen.75 Vielmehr kann der Druck zur Klageerhebung im Erbfall noch höher sein, bestehen die nach „ARAG“ ausnahmsweise die Nichtdurchsetzung rechtfertigenden Gründe (negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit u.a.) doch dann gerade nicht. Gar keinen Grund zur Rücksichtnahme gibt es, wenn der Erbe keine natürliche Person, sondern z.B. der Staat ist.76 Folgt man der h.M., fällt mit dem Erbfall die Beweislast vollständig auf die Gesellschaft zurück.77 Wie dieses Ergebnis dogmatisch zu begründen ist, lässt die h.M. offen – das Ergebnis wird wohl für selbsterklärend gehalten. Methodisch lässt es sich allein mit einer teleologischen Reduktion erzielen.78 Zu argumentieren wäre, dass der Gesetzgeber den Fall des Schuldnerwechsels, insbesondere den Erbfall, im Rahmen der Organhaftung nicht bedacht hat und der Zweck des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, den näher am Geschehen Stehenden zu belasten, im Erbfall nicht greift, weshalb der Wortlaut insoweit zu korrigieren wäre. b) Kritik und Plädoyer für eine vermittelnde Lösung Intuitiv ist die h.M. plausibel. Ihr stehen indes systematische Bedenken entgegen. Denn nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen lässt der Schuldnerwechsel die Identität der Schuld unberührt.79 Unverändert bleiben Born (s.o., Fn. 29) § 14 Rn. 21. OLG Köln NZG 2020, 110, 114 Rn. 89. 74 Der Fall Neubürger (s.o., Fn. 18) ist der prominenteste, aber (leider) nicht der einzige bekannt gewordene Fall des Freitods eines mit dem Vorwurf des Versagens konfrontierten Vorstandsmitglieds. 75 Vgl. BGHZ 135, 244, 255 f. 76 So im Fall OLG Köln NZG 2020, 110, 114 Rn. 89. 77 S.o., Fn. 70. 78 So auch OLG Köln NZG 2020, 110, 112 Rn. 72; Fleischer/Danninger, AG 2020, 193, 197. 79 BGH NJW 1972, 939: „daß […] die Schuld mit demselben Inhalt und derselben Beschaffenheit, die sie bisher hatte, auf den neuen Schuldner übergeht.“; deutlich auch Röthel 72 73

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danach nicht nur Grund und Höhe des Anspruchs, sondern auch die Bedingungen seiner Durchsetzbarkeit: Verjährungsfristen, Schiedsklauseln80, besondere Gerichtsstände und eben auch die Beweislastverteilung – sie alle treffen den Rechtsnachfolger so, wie sie den ursprünglichen Schuldner trafen.81 Mag dies im Fall der vertraglichen Übernahme (§§ 414, 415 BGB) damit gerechtfertigt werden, dass der Schuldner in sie eingewilligt hat, so wenden Rechtsprechung und Lehre dieselben Regeln doch unverändert auf die unfreiwillige Übernahme (Erbfall) an: Der Erbe übernimmt die Beweislast so, wie sie beim Erblasser bestanden hat.82 Wollte man für den Erben des verklagten Organmitglieds hierfür eine Ausnahme machen und ihn ganz von der Beweislast befreien, ergäbe sich eine Diskrepanz zum allgemeinen Schuldrecht, wo dem Erben die den Schuldner-Erblasser treffende Beweislastumkehr aus § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht abgenommen wird, obwohl das Argument fehlender Sachnähe hier genauso greift.83 Gewisse Spannungen entstünden zudem zu den strengen Wertungen des Prozessrechts, das es dem Erben des Organmitglieds zumutet, sich am Sitz der Gesellschaft oder (bei entsprechender Schiedsklausel) vor einem Schiedsgericht verklagen zu lassen, obwohl auch dies den Erben in seiner Verteidigung erheblich beschränken kann.84 Summenmäßig ist das Haftungsrisiko des Erben durch die Möglichkeit der Haftungsbegrenzung auf den Nachlass (§§ 1975 ff. BGB) begrenzt. Und bei der Ausübung des – auch hier extensiv zu verstehenden85 – Einsichtsrechts sowie der Verteidigung steht dem Erben bei Vorhandensein eines D&O-Schutzes immerhin der prozesserfahrene Versicherer zur Seite. Nicht zu verkennen ist, dass die strenge Beweisbelastung für den Erben gleichwohl unbillig sein kann, und Billigkeitserwägungen sind es denn auch wohl, welche die h.M. über die systematischen Einwände hinwegsehen lassen. Dabei darf nicht ausgeblendet bleiben, dass die Lösung der h.M. umgekehrt die Gesellschaft in eine missliche Lage bringen kann, wenn diese etwa in Erman BGB § 414 Rn. 1 „Schuldnerwechsel unter Wahrung der Identität der Schuld“; Rohe in BeckOK BGB § 414 Rn. 18: „Dabei ändert sich nur die Person des Schuldners, während die Verpflichtung inhaltlich identisch bleibt“. 80 Vgl. nur OLG München NZG 2016, 616, 662; Reichold in Thomas/Putzo ZPO § 1029 Rn. 15. 81 Leipold in MüKo BGB § 1922 Rn. 214. 82 OLG Frankfurt ZEV 2018, 484 Ls. = BeckRS 2018, 13799; Leipold in MüKo BGB § 1922 Rn. 25 „Es gelten dieselben Beweislastregeln, wie sie bei einer Geltendmachung des Anspruchs durch den Erblasser anzuwenden wären“ (mit Verweis auf BGH NJW-RR 1994, 323). 83 Zur verwandten Ratio von § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB und § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG s.o., Fn. 6. 84 Die örtliche Zuständigkeit folgt aus § 29 ZPO (Erfüllungsort), Patzina in MüKo ZPO § 29 Rn. 1; sie wird damit gerechtfertigt, dass dort im Zweifel die Beweismittel leichter zugänglich sind. 85 S.o., bei III.3.

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einen sicheren Anspruch gegen ein pflichtvergessenes Organmitglied deshalb nicht durchsetzen kann, weil ihr die erforderlichen Beweismittel fehlen, das Organmitglied verstorben ist und die Erben sich auf ein Bestreiten mit Nichtwissen zurückziehen.86 Auch ist keineswegs immer davon auszugehen, dass der Erbe in den Gesellschaftsangelegenheiten vollkommen unbedarft ist.87 Anzustreben ist daher eine vermittelnde Lösung, wie sie auch die ZPO beim Gerichtsstand der Erben anpeilt.88 Im ersten Schritt ist dem Erben daher durch eine großzügige Handhabung der sekundären Darlegungslast zu helfen.89 Die Gesellschaft muss danach tendenziell mehr vortragen, als sie es gegenüber dem Organmitglied selbst zu tun genötigt wäre. Dies allein reicht aber nicht. Denn während das Organmitglied sein Gedächtnis durch Einsichtnahme in Gesellschaftsunterlagen auffrischen kann, ist dies dem Erben in den meisten Fällen nicht möglich. Seine Beweisbelastung muss daher weiter reduziert werden. In praktisch handhabbarer wie dogmatisch tragbarer Weise kann das dadurch geschehen, dass die Beweislast hinsichtlich der Pflichtverletzung auf die Gesellschaft verlagert wird und beim Erben der Nachweis fehlenden Verschuldens verbleibt. Auf diese Weise wird der Erbe nicht besser, aber auch nicht schlechter behandelt als jeder andere Rechtsnachfolger, der sich (nur) vom Vorwurf fehlenden Verschuldens gem. § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB entlasten muss. Das Ergebnis entspricht derjenigen Sichtweise, die – mit guten Gründen – dafür streitet, den Nachweis der Pflichtverletzung ohnehin bei der Gesellschaft anzusiedeln, und die § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG insofern nicht anwendet.90 Es ist daher wenigstens nicht revolutionär. Darüber hinaus lässt es sich mit der dogmatischen Erwägung stützen, dass die korporative Treuebindung, die zwischen Organ und Gesellschaft besteht, und die es rechtfertigen mag, die Beweisbelastung auch hinsichtlich der Pflichterfüllung beim Organmitglied anzusiedeln, mit dessen Ableben endet und als quasi-höchstpersönliches Element nicht vererbt wird. Schließlich trägt es dem Grundsatz prozessualer Waffengleichheit Rechnung, indem es eine sachgerechte Verteilung der Lasten ermöglicht. Je nach Sachlage kann die sekundäre Darlegungslast dabei stärker in die eine oder andere Richtung verschoben werden. 86 Dem Organmitglied ist ein solches Bestreiten grundsätzlich verwehrt, s. dazu LG München I ZIP 2014, 570, 573 (Siemens/Neubürger); zur Kritik s.o. (Fn. 20) sowie Bachmann, ZIP 2014, 579, 582. 87 Zu denken ist etwa an einen an der Gesellschaft selbst beteiligten Familiengesellschafter. 88 Klagen wegen Nachlassverbindlichkeiten können gem. § 28 ZPO (nur) dann am Gerichtsstand der Erbschaft erhoben werden, wenn sich dort noch Nachlassgegenstände finden oder wenn die vorhandenen mehreren Erben als Gesamtschuldner haften. 89 In diese Richtung auch Born (s.o., Fn. 29), § 14 Rn. 21 („flexible Handhabung der sekundären Darlegungslast“). 90 S.o., bei Fn. 8.

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Auf andere Rechtsnachfolger als Erben ist die Lösung ebenfalls anzuwenden, soweit nicht die Auslegung der (stillschweigenden) vertraglichen Abreden ergibt, dass der Übernehmer der Schuld diese ohne Abstriche wie ein Organmitglied übernehmen wollte. 3. Ergebnis Der Gläubigerwechsel ändert an der Beweislastverteilung gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nichts. Entgegen der h.M. muss dies im Ausgangspunkt auch beim Schuldnerwechsel, namentlich beim Erbfall, gelten. Allerdings muss der neue Schuldner (Erbe) hier nur die Vermutung des Verschuldens ausräumen; den Nachweis der Pflichtwidrigkeit des Organhandelns hat die Gesellschaft zu führen, wobei beide Seiten von einer je nach Sachlage zu verschiebenden sekundären Beweislast profitieren.

V. Fazit Ausgeschiedene Organmitglieder und ihre Rechtsnachfolger (insbesondere Erben) können in Beweisnot geraten, wenn sie von der Gesellschaft in Anspruch genommen werden. Entgegen den im Schrifttum vertretenen Ansichten ist dem nicht durch eine (vollständige) teleologische Reduktion von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zu begegnen. Diese brächte umgekehrt die Gesellschaft in Beweisschwierigkeiten. Die richtige Antwort besteht zunächst in einer extensiven Handhabung des Einsichtnahmerechts (§ 810 BGB analog), das alle möglicherweise zweckdienlichen Unterlagen erfasst, einschließlich der Ergebnisse einer internen Untersuchung. Rechtsnachfolgern, insbesondere Erben, ist darüber hinaus zu helfen, indem der Gesellschaft der Nachweis des Pflichtverstoßes zugeschoben und dem Nachfolger (nur) die Entlastung vom Vorwurf des Verschuldens zugewiesen wird. Im Übrigen ist es an der Rechtsprechung, durch sachgerechte Verteilung der sekundären Darlegungslast im Einzelfall für ein level playing field zu sorgen, das dem Grundsatz prozessualer Waffengleichheit gerecht wird.

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Die Zuständigkeit von Schiedsgerichten in Investitionsstreitigkeiten Die Zuständigkeit von Schiedsgerichten in Investitionsstreitigkeiten

Bernhard Berger

Die Zuständigkeit von Schiedsgerichten in Investitionsstreitigkeiten mit Sitz in der Schweiz BERNHARD BERGER

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiedsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Einordnung als Zuständigkeitsfrage

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I. Einleitung In den letzten Jahren konnte eine Zunahme von Schiedsverfahren in Investitionsstreitigkeiten mit Sitz in der Schweiz beobachtet werden.1 Diese erfreuliche Entwicklung veranlasst, der Zuständigkeitsfrage, die sich in solchen Schiedsverfahren in besonderen Ausprägungen stellt, nachzugehen. In einem Investitionsschutz-Schiedsverfahren stehen sich ein Staat und ein ausländischer Investor gegenüber. Solche Schiedsverfahren sind damit dem Grundsatz nach international. Haben sie ihren Sitz in der Schweiz, sind die Regeln des 12. Kapitels des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) anwendbar. Art. 176 Abs. 1 IPRG bestimmt, dass das Schiedsverfahren dem 12. Kapitel untersteht, wenn beim Abschluss der Schiedsvereinbarung mindestens eine Partei ihren Wohnsitz oder Sitz nicht in der Schweiz hatte.2

II. Schiedsvereinbarung Die Schiedsgerichtsbarkeit – auch diejenige in Investitionsstreitigkeiten – beruht auf privater Abrede. Es braucht eine zwischen den Streitparteien ge1 Vgl. Matthias Scherer, Veijo Heiskanen & Sam Moss, Domestic Review of Investment Treaty Arbitrations: The Swiss Perspective, ASA Bulletin 2/2009, S. 256 ff.; Matthias Scherer & Angela Casey, Domestic Review of Investment Treaty Arbitrations: the Swiss Experience Revisited, ASA Bull. 4/2019, S. 805 ff. 2 Vgl. Urteil 1P.113/2000 vom 20. September 2000 E. 1a (Republik Polen v. Saar Papier Vertriebs GmbH).

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troffene Schiedsvereinbarung. Das Vorhandensein einer (formell und materiell) gültigen Schiedsvereinbarung ist Voraussetzung für die Zuständigkeit des Schiedsgerichts. Die meisten Investitionsschutzabkommen (hiernach „ISA“) sehen die Schiedsgerichtsbarkeit als eine von mehreren Möglichkeiten der Streiterledigung zwischen den daran beteiligten Staaten und Investoren aus den anderen Vertragsstaaten vor. Der Investor ist indes nicht Vertragspartei des Staatsvertrages. Die Schiedsklausel im jeweiligen ISA kann daher „kaum als Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien im Sinne des 12. Kapitels des IPRG betrachtet werden“.3 Die Bindung des Investors an die in dem ISA vorgesehene Streitbeilegung durch ein Schiedsgericht setzt erst ein, wenn der Investor von der entsprechenden Möglichkeit tatsächlich Gebrauch macht. Die in dem ISA enthaltene „Schiedsklausel“ kann mithin als ein (echter) Vertrag zugunsten Dritter betrachtet werden.4 Es handelt sich um ein für die Vertragsstaaten des ISA verbindliches, an Investoren aus dem anderen Vertragsstaat gerichtetes Angebot zum Abschluss einer Schiedsvereinbarung. Der Investor nimmt dieses Angebot an, indem er das Schiedsverfahren einleitet. Die Schiedsvereinbarung zwischen Staat und Investor kommt zustande, sobald der Investor das Schiedsgericht anruft. In der Regel geschieht dies durch die Einreichung der Schiedsklage (Request for Arbitration). Befindet sich der Sitz des Investitionsschutz-Schiedsgerichts in der Schweiz, ist für das Zustandekommen der Schiedsvereinbarung Art. 178 IPRG einschlägig.5 Das Formerfordernis gemäss Art. 178 Abs. 1 IPRG (Nachweis der Vereinbarung durch Text) bietet in Investitionsschiedsverfahren in der Regel keine Probleme: Die Vertragsstaaten haben sich in dem ISA schriftlich verpflichtet, Streitigkeiten mit Investoren aus dem anderen Vertragsstaat durch ein Schiedsverfahren beizulegen. Der Investor nimmt das Angebot durch schriftliche Einleitung des Schiedsverfahrens an.6 Auch die Feststellung der materiellen Gültigkeit der Schiedsvereinbarung ist in der Regel nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden: Sie bestimmt sich gemäss Art. 178 Abs. 2 IPRG alternativ nach dem von den Parteien gewählten, dem auf die Streitsache anwendbaren oder dem schweizeri-

3 Urteil 4P.114/2006 vom 7. September 2006 E. 4.1 (Tschechische Republik v. Saluka Investments B.V.). Ähnlich bereits Urteil 1P.113/2000 vom 20. September 2000 E. 1c (Republik Polen v. Saar Papier Vertriebs GmbH). 4 So u.a. Urteil 4A_34/2015 (BGE 141 III 495) vom 6. Oktober 2015 E. 3.4.2 (Ungarische Republik v. EDF International S.A.); Urteil 4P.114/2006 vom 7. September 2006 E. 4.1 (Tschechische Republik v. Saluka Investments B.V.); Urteil 1P.113/2000 vom 20. September 2000 E. 1c (Republik Polen v. Saar Papier Vertriebs GmbH). 5 Urteil 4A_34/2015 (BGE 141 III 495) vom 6. Oktober 2015 E. 3.4 (Ungarische Republik v. EDF International S.A.). 6 Id., E. 3.4.1.

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schen Recht (favor validitatis). Hat die betroffene Schiedsvereinbarung ihren Ursprung in einem ISA, führen die alternativen Anknüpfungspunkte von Art. 178 Abs. 2 IPRG zum Recht, dem das ISA unterstellt ist oder zum schweizerischen Recht.7

III. Zuständigkeitsfragen In Investitionsschiedsverfahren wird auffallend oft über Zuständigkeitsfragen gestritten.8 Dabei geht es – anders als in der kommerziellen Schiedsgerichtsbarkeit – meist nicht um unklar oder missverständlich formulierte Schiedsvereinbarungen. Der Wortlaut der Schiedsklauseln in den einschlägigen ISA ist eher selten umstritten. Die erwähnten Zuständigkeitsfragen ergeben sich meist aus anderen, materiell-rechtlichen Vorschriften des jeweiligen ISA. So etwa, wenn der eingeklagte Staat den Einwand erhebt, die klagende Partei habe gar keine von dem ISA geschützte „Investition“ getätigt. Ob die behauptete „Investition“ in den Schutzbereich des betroffenen ISA fällt oder nicht, ist eine in Anwendung dieses ISA zu beantwortende materielle Rechtsfrage. Wird sie verneint, lässt sich argumentieren, dass damit die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts (ratione materiae) gegeben sei, zumal das Schiedsgericht gemäss der Schiedsklausel in dem ISA nur Streitigkeiten, die in den Geltungsbereich des Abkommens fallen, entscheiden können soll. Falls im Rahmen der Prüfung solcher Zuständigkeitsfragen die Bestimmungen des betroffenen ISA ausgelegt werden müssen, gilt für Schiedsgerichte mit Sitz in der Schweiz das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 15. Dezember 1989 (hiernach „VRK“) als massgebende Rechtsquelle.9 Das ISA ist mithin nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen (Art. 31 Abs. 1 VRK). Die Auslegung nach Treu und Glauben gewährleistet zusammen mit der zweckgemässen (teleologischen) Auslegung den effet utile des betroffenen Staatsvertrags.10 7 Id., E. 3.4.2. Ist dem umstrittenen ISA auch die Schweiz beigetreten, bildet das schweizerische Recht zugleich die lex causae und die lex fori. 8 Am Schweizerischen Bundesgericht wurde in 10 von 13 Beschwerden gegen Schiedssprüche von Investitionsschiedsgerichten eine Zuständigkeitsrüge erhoben. Vgl. dazu die Nw. Bei Scherer et al. in Fn. 1 oben. 9 So etwa bereits das Urteil 4P.114/2006 vom 7. September 2006 E. 5.4.1 (Tschechische Republik v. Saluka Investments B.V.). Zuletzt vgl. Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezember 2018 E. 2.4.1 (Republik Indien v. Deutsche Telekom AG). 10 Urteil 4A_396/2017 (BGE 144 III 559) vom 16. Oktober 2018 E. 4.4.2 (Russische Föderation v. PJSC Ukrnafta).

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In der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts wurden u.a. folgende Streitpunkte als Zuständigkeitsfragen im oben erwähnten Sinne behandelt: 1. In den von Ukrnafta, Stabil et al. gegen die Russische Föderation nach deren Eingliederung der Halbinsel Krim angehobenen Schiedsverfahren ging es insgesamt um die Frage, ob die umstrittenen, auf der Halbinsel Krim belegenen Anlagen Investitionen im Sinne des ukrainisch-russischen Investitionsschutzabkommens von 1998 darstellten. Das Bundesgericht trat auf die von Russland gegen den (positiven) Zuständigkeitsentscheid des Schiedsgerichts erhobene Zuständigkeitsrüge (Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG) ein. Im Rahmen seiner in rechtlicher Hinsicht freien Prüfung der Zuständigkeitsrüge stellte es u.a. fest, dass ein Staatsvertrag nach Art. 29 VRK jede Vertragspartei „hinsichtlich ihres gesamten Hoheitsgebiets“ bindet. Bei nachträglichen Gebietsveränderungen sei ein Staatsvertrag nach allgemeinen Grundsätzen weiterhin auf das gesamte (nunmehr veränderte) Hoheitsgebiet anwendbar. Das Schiedsgericht habe daher zu Recht erkannt, dass die Halbinsel Krim als Territorium Russlands zu betrachten und vom räumlichen Anwendungsbereich des ISA erfasst sei.11 Weiter erwog das Bundesgericht, aus dem Wortlaut des ISA ergebe sich nicht, dass nur solche Investitionen geschützt würden, die bereits im Zeitpunkt ihrer Vornahme auf dem Gebiet des jeweils anderen Vertragsstaats getätigt wurden.12 Nach dem Schutzgedanken solcher Staatsverträge sei darauf abzustellen, ob die Investition sich im Zeitpunkt der Verletzungshandlung im Territorium des anderen Vertragsstaats befinde.13 Die von Russland vertretene gegenteilige Auffassung würde zudem, so das Bundesgericht, gegen Treu und Glauben verstossen und dem Sinn und Zweck des ISA widersprechen, weil dadurch von seinem Schutz ausgerechnet solche Investitionen ausgenommen wären, die sich im Zeitpunkt der von einer Vertragspartei selbst herbeigeführten Grenzverschiebung bereits auf dem davon betroffenen Gebiet befanden.14 Die Zuständigkeitsrüge Russlands erwies sich damit als unbegründet. 2. Die französische Recofi S.A. machte gegen die Republik Vietnam unter dem französisch-vietnamesischen Investitionsschutzabkommen von 1992 einen Anspruch geltend, der sich auf Kauf- und Tauschgeschäfte bezog, welche die Klägerin zwischen 1986 und 1998 mit verschiedenen vietnamesischen Firmen, einschliesslich staatlich kontrollierter Unternehmen, abgeschlossen hatte. Vertragsgegenstand bildeten u.a. Lebensmittel, lebensnot11 12 13 14

Id., E. 4.3.2. Id., E. 4.4.2. Id., E. 4.4.3. Id., E. 4.4.4 und 4.4.5.

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wendige Güter, landwirtschaftliche Maschinen und im Gegenzug vietnamesische Produkte wie Reis, Kaffee, Soja, etc. Das Bundesgericht trat auf die von Recofi gegen den (negativen) Zuständigkeitsentscheid des Schiedsgerichts erhobene Zuständigkeitsrüge (Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG) ein. In der Sache schützte es den Entscheid des Schiedsgerichts (und damit den Standpunkt Vietnams), wonach keine vom Anwendungsbereich des ISA geschützte Investition vorlag.15 Es erwog, dass es keine allgemein gültige, allseits anerkannte, abstrakte Definition des Begriffs „Investition“ gebe. Daher habe sich das Schiedsgericht zu Recht in erster Linie auf den Wortlaut des umstrittenen ISA konzentriert.16 Im Lichte von Art. 31 VRK habe das Schiedsgericht dabei den Akzent zutreffend auf die Fremdstaatlichkeit der Investition gelegt und dementsprechend gewöhnliche Kauf- und Tauschverträge davon ausgeschlossen.17 3. In einem Streit zwischen der Deutschen Telekom (DT) und der Republik Indien ging es u.a. um die Frage, ob die den Gegenstand der Klage von DT bildende Beteiligung von 20% an einem indischen Unternehmen, die DT im Jahr 2005 über eine Tochtergesellschaft mit Sitz in Singapur erworben hatte, vom Schutzbereich des deutsch-indischen Investitionsschutzabkommens von 1995 erfasst war. Indien machte geltend, dass das ISA nur direkte, nicht aber indirekte Investitionen schütze. Das Schiedsgericht verwarf den Einwand, erklärte sich für zuständig und bejahte eine Verletzung des ISA. Auch in diesem Fall trat das Bundesgericht auf die gegen den Schiedsentscheid erhobene Zuständigkeitsrüge ein. In der Sache hatte die Beschwerde jedoch keinen Erfolg. Das Bundesgericht kam nach eingehender Prüfung des ISA zum Schluss, diesem könne kein einschränkendes Verständnis der Begriffe „Investition“ bzw. „Investorin“ entnommen werden. Nach dem Sinn und Zweck des Abkommens von 1995 sei DT als eine deutsche Investorin zu betrachten, die in Indien investiert habe.18 4. Weiter versuchte Indien, den Zuständigkeitsentscheid des Schiedsgerichts unter Berufung auf die im ISA enthaltene Konformitätsklausel (compliance clause) anzugreifen. Gemäss einer solchen Klausel geniessen nur solche Investitionen den Schutz des Abkommens, die in Übereinstimmung mit dem Recht des Gaststaates vorgenommen wurden. Indien machte geltend, DT habe die Konformitätsklausel verletzt, was die Unzuständigkeit des Schiedsgerichts nach sich ziehe. Die Frage, ob eine Konformitätsklausel die Zuständigkeit des Schiedsgerichts oder die Begründetheit der Klage beschlägt, ist in der Literatur und 15 Urteil 4A_616/2015 vom 20. September 2016 E. 3.2 (Recofi SA v. Sozialistische Republik Vietnam). 16 Id., E. 3.4.1. 17 Id., E. 3.4.2. 18 Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezember 2018 E. 3.2.1.2 (Republik Indien v. Deutsche Telekom AG).

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Praxis umstritten. Das Bundesgericht hielt sich vor diesem Hintergrund im Rahmen seiner Überprüfung in erster Linie an das umstrittene ISA. Dessen Auslegung ergab, dass die darin enthaltene compliance clause eine Zuständigkeitsvoraussetzung aufstellt: Jeder Vertragsstaat habe nur insofern dem Verzicht auf seinen natürlichen (staatlichen) Richter zugunsten eines neutralen Schiedsgerichts zustimmen wollen als das Verfahren eine Investition betreffe, die nach seiner Gesetzgebung getätigt wurde.19 5. In einem Schiedsverfahren zwischen der französischen EDF International S.A. und der Ungarischen Republik war umstritten, ob die unter dem Vertrag über die Energiecharta vom 17. Dezember 1994 (hiernach „VEC“) geltend gemachten Ansprüche treaty claims oder contract claims darstellten. Ungarn hatte gegenüber der in Art. 10 Abs. 1 letzter Satz VEC enthaltenen Schirmklausel (umbrella clause), welche auch die vom Gaststaat eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen unter den Schutz der Energiecharta stellt, einen zulässigen Vorbehalt erklärt (Art. 26 Abs. 3 lit. c VEC). EDF hatte vor dem Schiedsgericht ausdrücklich erklärt, ihre Ansprüche ausschliesslich auf das in Art. 10 Abs. 1 VEC verankerte Gebot der fairen und gerechten Behandlung und das dort statuierte Verbot der unangemessenen Behinderung zu stützen, mithin nur treaty claims und damit keinen umbrella clause claim geltend zu machen. Das Schiedsgericht erklärte sich für zuständig; es stellte im Wesentlichen auf den entsprechenden Vortrag von EDF ab. Auf die von Ungarn dagegen erhobene Zuständigkeitsrüge trat das Bundesgericht ein. In der Sache wies es die Beschwerde ab. Es erwog, dass die allgemeinen Grundsätze zur Auslegung von Staatsverträgen gemäss VRK auch bei Vorbehaltserklärungen zu beachten seien.20 Für die Zuständigkeitsfrage sei in erster Linie auf den Inhalt und das rechtliche Fundament des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs abzustellen. Dessen Sachvortrag sei massgebend; der Beklagte könne diesen nicht ändern.21 Sodann sei, mit Blick auf den effet utile der Energiecharta, auch der Einwand Ungarns abzulehnen, wonach bereits die Tatsache, dass es einen möglichen Zusammenhang zwischen den berechtigten Erwartungen von EDF auf Schutz ihrer Investition einerseits und dem Bestand der abgeschlossenen Energielieferverträge andererseits gab, ausreichen würde, um die gestützt auf das Gebot der fairen und gerechten Behandlung und das Verbot der unangemes19 Id., E. 4.4.1. In der Sache hatte die Rüge allerdings keinen Erfolg, da sie verspätet erhoben worden war. 20 Urteil 4A_34/2015 (BGE 141 III 495) vom 6. Oktober 2015 E. 3.5.1 (Ungarische Republik v. EDF International S.A.). 21 Id., E. 3.5.3.2. Zur Massgeblichkeit des Klagefundaments zur Beurteilung der Zuständigkeitsfrage auch bereits Urteil 4P.114/2006 vom 7. September 2006 E. 6.5.4 (Tschechische Republik v. Saluka Investments B.V.).

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senen Behinderung (Art. 10 Abs. 1 VEC) erhobenen Ansprüche zu contract claims zu machen.22 6. In einem Streit zwischen Saluka Investments B.V. und der tschechischen Republik unter dem niederländisch-tschechischen Investitionsschutzabkommen von 1991 machte der beklagte Staat mit Beschwerde am Bundesgericht geltend, das Schiedsgericht habe die ihm vorgeworfene Staatsvertragsverletzung ausschliesslich im Erlass eines Regierungsbeschlusses erblickt, der zeitlich vor der Vornahme der Investition ergangen war. Das Schiedsgericht habe daher seine Zuständigkeit in zeitlicher Hinsicht (ratione temporis) zu Unrecht bejaht. Das Bundesgericht trat auf die Zuständigkeitsrüge ein. Die Zuständigkeit eines Investitionsschiedsgerichts sei – unter Hinweis auf den allgemeingültigen, auch in Art. 28 VRK verankerten Grundsatz der Nichtrückwirkung – zeitlich auf behauptete Verletzungen eines ISA beschränkt, die sich nach Vornahme der betroffenen Investition ereignet hätten.23 Dementsprechend sei die Zuständigkeitsbeschwerde eröffnet, wenn das Schiedsgericht seinen Entscheid auf eine Staatsvertragsverletzung gestützt habe, die sich in zeitlicher Hinsicht vor der Vornahme der betroffenen Investition ereignet hatte. In der Sache wies das Bundesgericht die Beschwerde ab. Es war erstellt, dass das Schiedsgericht das ISA erst durch die spätere diskriminierende Umsetzung des erwähnten Regierungsbeschlusses als verletzt erachtet hatte, was zeitlich nach Vornahme der Investition erfolgt war.24 Die vorstehend beschriebenen Fälle aus der Praxis verdeutlichen die Mannigfaltigkeit der in der Investitionsschutz-Schiedsgerichtsbarkeit auftauchenden Zuständigkeitsfragen. Das Schweizerische Bundesgericht hat es bis heute soweit ersichtlich erst einmal abgelehnt, einen als Zuständigkeitsrüge vorgetragenen Einwand als solchen zu akzeptieren: In der bereits erwähnten Streitsache gegen die Deutsche Telekom machte Indien geltend, die im ISA enthaltene national security clause (Vorbehalt zum Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen) beschlage ebenfalls die Zuständigkeit des Schiedsgerichts. Das Bundesgericht verwarf dieses Argument. Der Vorbehalt der wesentlichen Sicherheitsinteressen schliesse nicht die Zuständigkeit des Schiedsgerichts aus, sondern eröffne dem betroffenen Staat lediglich eine Verteidigung in der Sache.25

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Id., E. 3.5.4.3. Urteil 4P.114/2006 vom 7. September 2006 E. 6.4 (Tschechische Republik v. Saluka Investments B.V.). 24 Id., E. 6.5. 25 Urteil 4A_65/2018 vom 11. Dezember 2018 E. 3.2.3.3 (Republik Indien v. Deutsche Telekom AG). Hätte es sich um ein zulässiges Zuständigkeitsargument gehandelt, wäre es im Lichte von Art. 186 Abs. 2 IPRG verspätet erhoben worden. 23

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IV. Bedeutung der Einordnung als Zuständigkeitsfrage Die Subsumption als Aspekt der Zuständigkeit steht in der Regel in engem Zusammenhang mit dem Wortlaut der Schiedsklausel in dem betroffenen ISA. Diese Schiedsklauseln sind meist so formuliert, dass Streitigkeiten zwischen einer Vertragspartei und einem Investor einer anderen Vertragspartei über eine Investition des letzteren im Gebiet der ersteren, die sich auf einen behaupteten Verstoss der ersteren Vertragspartei gegen eine Verpflichtung aus dem ISA beziehen, durch ein Schiedsgericht entschieden werden sollen. Das Beispiel der national security clause im Verfahren zwischen Indien und Deutsche Telekom macht deutlich, dass bei der Frage, ob es gelingt, ein Argument als Aspekt der schiedsgerichtlichen Zuständigkeit vorzutragen, einiges auf dem Spiel steht. Wird angenommen, dass es sich um eine Zuständigkeitsfrage handelt, kann der Entscheid des Schiedsgerichts durch das Schweizerische Bundesgericht als (einzige) Rechtsmittelinstanz in rechtlicher Hinsicht frei, d.h. mit voller Kognition, überprüft werden. Das Bundesgericht kann diesfalls, wie oben gesehen, die umstrittenen Bestimmungen des betroffenen ISA selbst auslegen, mithin uneingeschränkt nachprüfen, ob die Auslegung durch das Schiedsgericht in Übereinstimmung mit den einschlägigen Auslegungsgrundsätzen der VRK erfolgt war. Kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die relevanten Bestimmungen des ISA im angefochtenen Entscheid falsch ausgelegt wurden, kann es einen reformatorischen Entscheid fällen, d.h. selbst die Zu- oder Unzuständigkeit des Schiedsgerichts feststellen. Wird hingegen angenommen, dass eine Sachfrage vorliegt, sind dem Bundesgericht als Beschwerdeinstanz die Hände gebunden. Denn die materielle (inhaltliche) Überprüfung eines unter dem 12. Kapitel des IPRG ergangenen Sachentscheids ist durch das Bundesgericht nur gestützt auf den Beschwerdegrund der Unvereinbarkeit mit dem Ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG) möglich. Der durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts entwickelte, extrem enge Anwendungsbereich des Ordre public26 schliesst eine Anfechtung in diesem Fall praktisch aus. Offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellungen oder willkürliche Rechtsanwendung fallen nicht darunter. Deshalb können Rechtsfragen, soweit sie (nur) den Sachentscheid betreffen, nicht zum Gegenstand einer zulässigen Beschwerde am Bundesgericht gemacht werden – auch dann nicht, wenn es sich um Fragen der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen eines ISA handelt. 26 Für Einzelheiten dazu vgl. Bernhard Berger/Franz Kellerhals, International and Domestic Arbitration in Switzerland, 3. Aufl., 2015, Rn. 1765 ff.

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Bei einem Investitionsschutz-Schiedsverfahren mit Sitz in der Schweiz entscheidet mithin die Einordnung als Zuständigkeits- oder Sachfrage darüber, ob gegen den Entscheid des Schiedsgerichts ein (wirksames) Rechtsmittel eröffnet ist oder nicht. Dabei ist interessant zu beobachten, dass sich materielles und formelles Recht hier mitunter überlagern. Kommt das Schiedsgericht etwa zum Schluss, die klagende Partei sei keine „Investorin“ im Sinne des ISA oder die betroffenen Vermögenswerte seien keine „Investitionen“ gemäss dem ISA, beurteilt es grundsätzlich eine materielle Rechtsfrage: Mangelt es dem eingeklagten Anspruch an den erwähnten Attributen, ist der Schutz des ISA nicht gegeben, was zugleich bedeutet, dass der behauptete Anspruch unter dem fraglichen ISA materiell-rechtlich nicht besteht. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob es überhaupt richtig ist, die erwähnten Aspekte (zugleich) als Voraussetzungen für die Zuständigkeit des Investitionsschiedsgerichts zu qualifizieren. Erklärt sich das Schiedsgericht für unzuständig, weil es z.B. zum Schluss kommt, dass keine vom ISA geschützte Investition vorliegt, bedeutet dieser Entscheid, wie gesehen, nicht nur, dass das Schiedsgericht sich zur Beurteilung der unter dem ISA geltend gemachten Forderung für unzuständig hält. Inhaltlich bedeutet dieser Entscheid zugleich, dass die behauptete Forderung unter dem fraglichen ISA materiell-rechtlich nicht existiert. Denn die letztere Frage ist mit der Feststellung des Schiedsgerichts, dass keine Investition im Sinne des ISA vorliegt, abschliessend beantwortet. Der gleiche Anspruch kann unter demselben ISA nicht (erneut) erhoben werden. Denkbar ist höchstens, dass die gleiche Klage vielleicht noch unter einem anderen ISA, dem der betreffende Staat ebenfalls beigetreten ist, geltend gemacht werden kann. Wenn nicht, bleibt dem Kläger wohl nur noch die Möglichkeit, seine Klage vor den staatlichen Gerichten des Gastlandes unter Berufung auf dessen nationales Recht zu erheben. Die vorstehenden Erläuterungen zeigen, dass Fragen wie bspw. das Vorliegen einer “Investition” oder die Qualifikation des Klägers als “Investor” nicht zwingend als Aspekte, welche die Zuständigkeit des Schiedsgerichts beschlagen, verortet werden müssten. Sie könnten ohne Schwierigkeiten auch als von der schiedsgerichtlichen Zuständigkeit erfasst betrachtet werden, mit der Folge, dass das Schiedsgericht darüber nicht vorfrageweise (im Rahmen der Prüfung seiner Zuständigkeit) sondern hauptfrageweise befinden würde. Das Schiedsgericht würde mithin, wenn es z.B. zum Schluss kommt, dass keine “Investition” im Sinne des ISA vorliegt, die Klage abweisen (anstatt sich bloss für unzuständig zu erklären). Die Einordnung als Zuständigkeitsfrage hat, wie gezeigt, zumindest in der Schweiz zur Folge, dass der Entscheid des Schiedsgerichts im Beschwerdeverfahren durch die Rechtsmittelinstanz in rechtlicher Hinsicht frei überprüft werden kann. Es fragt sich allerdings, ob dies dem Instrument des Investitionsschutzabkommens wirklich gerecht wird. War es wirklich die

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Absicht der Vertragsparteien eines solchen Abkommens, dass später einmal die staatlichen Gerichte eines unbeteiligten Drittlandes (z.B. die Schweizer Gerichte) autoritativ darüber befinden würden, wie ihr Abkommen inhaltlich auszulegen ist? Hatten diese Vertragsparteien nicht eher die Vorstellung, dass Fragen der Auslegung ihres Abkommens abschliessend durch das darin vorgesehene Schiedsgericht entschieden werden sollten? *** Mit dem vorliegenden Beitrag bedankt sich der Schreibende beim Geehrten für die inspirierende Zusammenarbeit in einem Schiedsverfahren und die ehrenvolle Einladung in den Kreis des Stuttgarter Arbitration Circle im Januar 2019. Ad multos!

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Die UNIDROIT Principles of international commercial contracts Die UNIDROIT Principles of international commercial contracts Christian Borris

Die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts in der Praxis internationaler Schiedsgerichte CHRISTIAN BORRIS

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entstehungsgeschichte der UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts („UNIDROIT Principles“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anwendung in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit 1. Ausdrückliche Vereinbarung der UNIDROIT Principles . 2. Keine oder unwirksame Rechtswahl durch die Parteien . . 3. Bewusst unbestimmte Rechtswahl . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auslegungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Roderich Thümmel gehört zu den gefragtesten Schiedsrichtern in Deutschland. Seine langjährige Erfahrung als wirtschaftsberatender Anwalt und als Parteivertreter in Schiedsverfahren und vor staatlichen Gerichten haben dafür die Grundlage geschaffen. Ein Post-Graduate-Studium in den USA hat ihm zudem die internationale und rechtsvergleichende Perspektive vermittelt, die zu den Schlüsselqualifikationen für Schiedsrichter in internationalen Schiedsverfahren gehört. All das vereint Roderich Thümmel mit exzellenter juristischer Qualifikation, kommerziellem „Judgement“ und prozessualem Führungsgeschick. Der Verfasser hatte mehrfach Gelegenheit, mit ihm als Mitglied internationaler Schiedsgerichte in unterschiedlichen Konstellationen zusammenzuarbeiten. Diese Erfahrung hat ihn angeregt, dem Jubilar einen Beitrag zu einem Thema aus der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu widmen, welches hoffentlich sein Interesse findet.

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II. Entstehungsgeschichte der UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts („UNIDROIT Principles“) Mit der fortschreitenden „Globalisierung“ der Wirtschaft, die in den zurückliegenden 70 Jahren noch einmal besonders an Dynamik gewonnen hat, ist auch der Bedarf an speziell auf grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr abgestimmten rechtlichen Rahmenbedingungen gewachsen. Die nationalen Rechtsordnungen einschließlich ihrer Kollisionsnormen werden diesem Bedarf schon deshalb nur eingeschränkt gerecht, weil sie unterschiedlich sind. Regelungsvielfalt wird im internationalen Wirtschaftsverkehr zumeist als Problem empfunden, weil sie zusätzlichen Prüfungsaufwand und schwer überschaubare Risiken erzeugt. Auf unterschiedlichen Ebenen sind deshalb Initiativen mit dem Ziel ergriffen worden, den internationalen Wirtschaftsverkehr nicht nur mit speziell abgestimmten, sondern auch möglichst einheitlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zu unterstützen: auf dem Gebiet der Schiedsgerichtsbarkeit insbesondere durch das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche von 1958 und das UNCITRALModellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (1985), auf dem Gebiet des materiellen Rechts durch die Entwicklung eines internationalen Kaufrechts (CISG) (1980) und die Vereinheitlichung des Kollisionsrechts, z. B. aufgrund der EU-Rom-Verordnungen. Die Schaffung einheitlicher materiellrechtlicher Normen hat sich allerdings als besonders schwierig erwiesen, wie etwa das Ringen um das UN-Kaufrecht (CISG) und inzwischen wieder aufgegebene Bemühungen um die Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts1 zeigen. Die Praxis hilft sich damit, dass sie im Rahmen der Freiheiten, die das dispositive Recht lässt, die Vertragsbedingungen umfassend und mit einem hohen Detailgrad ausgestaltet. Das macht einen Rückgriff auf dispositives Gesetzesrecht zunehmend entbehrlich und reduziert die sich aus der Regelungsvielfalt ergebenden Risiken. Die Verträge sind infolgedessen allerdings auch immer umfangreicher geworden. Da sie regelmäßig in Form „allgemeiner Geschäftsbedingungen“ ausgestaltet sind, ist diese Gestaltungspraxis zumindest in Deutschland mit erheblichen Rechtsunsicherheiten aufgrund der bisherigen AGB-Rechtsprechung verbunden. Hier setzen die „UNIDROIT Principles“ an. Diese unter der Ägide des International Institute for the Unification of Private Law, kurz UNIDROIT, entwickelten Grundregeln für den internationalen Handelsverkehr (Principles of International Commercial Contracts) wurden 1994 zum ersten Mal

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KOM [2011] 635 endg. vom 11.10.2011.

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veröffentlicht und 2004, 2010 und 2016 überarbeitet.2 Die Ausarbeitung der UNIDROIT Principles erfolgte über zehn Jahre in verschiedenen Arbeitsgruppen. Die erste Arbeitsgruppe wurde 1980 gegründet.3 Sie umfasste Vertreter aller bedeutenden Rechtsordnungen und wirtschaftlich-gesellschaftlicher Systeme. Ihre Mitglieder waren führende Fachleute auf den Gebieten der Rechtsvergleichung und des internationalen Handelsrechts.4 III. Zielsetzung Die UNIDROIT Principles verstehen sich als Kodifikation „neutraler Grundregeln für internationale Wirtschaftsverträge“.5 Sie sollen nicht innerstaatliches Recht vereinheitlichen, sondern Grundsätze und Lösungen abbilden, die den meisten Rechtsordnungen gemein sind oder bestmögliche Lösungen für die Besonderheiten internationaler Handelsverträge darstellen.6 Den Vertragsparteien soll damit die Möglichkeit eröffnet werden, bei einem grenzüberschreitenden Vertrag ein „neutrales“ Recht zu wählen. Der Koordinator der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der UNIDROIT Principles, Bonell, hat vier Ziele formuliert, die mit den UNIDROIT Principles verfolgt werden, nämlich: (a) Orientierung für innerstaatliche Gesetzgebung. Dies gilt insbesondere für Länder, die noch kein hinreichend entwickeltes Vertragsrecht haben. Auf internationaler Ebene können sie zur Ausarbeitung von Übereinkommen und Modellgesetzen herangezogen werden.7 (b) Hilfsmittel bei der Auslegung internationaler Übereinkommen. Wurden früher Übereinkommen, die auf internationaler Ebene beschlossen und in das innerstaatliche Rechtssystem inkorporiert wurden, nach den Grundsätzen des innerstaatlichen Rechts ausgelegt, gehen staatliche Gerichte und Schiedsgerichte mittlerweile zunehmend dazu über, internationale Übereinkommen nach autonomen und international einheitlichen Regeln auszulegen.8 (c) Leitfaden für internationale Handelsverträge (rechtliche Terminologie, regelungsbedürftige Rechtsprobleme).9 (d) Verweis auf die UNIDROIT Principles als „ius commune“/„ex mercatoria“.10 2

Zur Geschichte der UNIDROIT Principles: Brödermann, IWRZ 2019, 7, 8. Zimmermann, ZEuP 2005, 264. 4 Bonell, RabelsZ 1992, 274, 278. 5 Frick, RIW 2001, 416. 6 Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 280; Frick, RIW 2001, 416. 7 Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 283. 8 Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 284. 9 Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 286. 10 Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 287. 3

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IV. Grundlagen Die UNIDROIT Principles sind das Ergebnis einer rechtsvergleichenden Untersuchung nationaler Rechtsordnungen, internationaler Übereinkommen und nichtstaatlicher Regeln von Berufs- und Wirtschaftsverbänden.11 Insbesondere wurden Kodifikationen jüngeren Datums berücksichtigt, wie z. B. der nordamerikanische Uniform Commercial Code und das Restatement (Second) of the Law of Contracts, das Neue Bürgerliche Gesetzbuch der Niederlande, das Gesetz der Volksrepublik China von 1985 über Außenwirtschaft und der Entwurf eines neuen Zivilgesetzbuchs von Québec.12 Ebenso sind Rechtsordnungen, die aus einer Verschmelzung verschiedener Rechtskulturen hervorgegangen sind, wie etwa das algerische und ägyptische Zivilgesetzbuch und das südafrikanische Zivilrecht, das Zivilrecht von Sri Lanka und von Louisiana eingeflossen.13 Darüber hinaus war das CISG wichtiger Orientierungspunkt.14 Aber auch nichtstaatliche Regeln von Berufsverbänden und Fachverbänden der Wirtschaft, wie z. B. die Incoterms, wurden berücksichtigt.15 Wo ein weltweiter Konsens festgestellt werden konnte, hat dieser auch seinen Niederschlag in den UNIDROIT Principles gefunden: z. B. der Grundsatz, dass Unmögliches nicht gefordert werden kann (impossibilium nulla est obligatio) (Art. 7.2.2. lit. a) oder das allgemeine Verständnis, dass eine „Abtretung“ von Verträgen auch die Übernahme von Verpflichtungen beinhaltet (Art. 9.3.1). Wo Rechtsordnungen, z. B. aus den Bereichen des Common Law oder Civil Law, große Unterschiede aufweisen, versuchen die UNIDROIT Principles diese mit Kompromisslösungen zu überbrücken: z. B. mit der Regelung über die Rücknahme eines Angebots zum Vertragsabschluss (Art. 2.1.4).16

V. Anwendung in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit Internationale Schiedsgerichte sind wohl eher geneigt, die Anwendung der UNIDROIT Principles in Betracht zu ziehen als staatliche Gerichte. Das dürfte damit zusammenhängen, dass Schiedsgerichte zwar nach 11 12 13 14 15 16

Frick, RIW 2001, 416. Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 280; Frick, RIW 2001, 416. Frick, RIW 2001, 416. Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 280. Bonell, RabelsZ 56 (1992), 274, 281. Brödermann, IWRZ 2019, 7, 8; Busche, in: Müko BGB, 8. Aufl. 2018, § 145 Rn. 3.

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dem anwendbaren Recht zu entscheiden haben, in der Entscheidung über das anwendbare Recht aber freier sind als staatliche Gerichte. Während staatliche Gerichte an das für sie jeweils maßgebliche staatliche Kollisionsrecht gebunden sind, steht es Schiedsgerichten in der Regel frei, das von ihnen als maßgeblich erachtete Recht anzuwenden (vgl. Art. 28 UNCITRAL-Modellgesetz, § 1051 ZPO, näher unten 2.). Die ICC-Schiedsgerichtsordnung sieht darüber hinaus in Art. 21 Abs. 1 vor, dass (mangels ausdrücklicher Rechtswahl) das Schiedsgericht „diejenigen Rechtsregeln an[wendet], die es für geeignet erachtet“. Die Formulierung wurde mit der Überarbeitung der ICC-Regeln im Jahre 1998 bewusst aufgenommen, um klarzustellen, dass das Schiedsgericht auch Regeln heranziehen darf, die nicht Teil einer nationalen Rechtsordnung sind.17 Im Folgenden sollen die Fallgruppen skizziert werden, in denen Schiedsgerichte die Anwendung der UNIDROIT Principles typischerweise in Betracht gezogen haben. 1. Ausdrückliche Vereinbarung der UNIDROIT Principles Vorbehaltlich zwingender Eingriffsnormen steht es Vertragsparteien im internationalen Vertragsrecht nach den meisten modernen Kollisionsnormen frei, das anwendbare Recht zu wählen und das gewählte Recht im Rahmen der Dispositivität zu modifizieren. Vor diesem Hintergrund bestehen keine Bedenken, die Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles auch mit Bindungswirkung für das Schiedsgericht ausdrücklich zu vereinbaren. Das geschieht allerdings – soweit der Verfasser es übersieht – in der Praxis bislang nur sehr selten.18 Das gilt sowohl für eine Gestaltung, die ausschließlich die Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles bestimmt, wie auch für Vereinbarungen, wonach die UNIDROIT Principles lediglich ergänzend oder lückenfüllend gelten sollen. Das praktische Bedürfnis, Rechtsregeln wie die UNIDROIT Principles ausdrücklich zu vereinbaren, ist allerdings ausgeprägter, wenn eine Vertragspartei, die ihren Sitz in einem Staat mit weniger entwickeltem Wirtschaftsrecht und weniger auslegender Rechtsprechung hat, eine Verhandlungsposition hat, welche es ihr erlaubt, die Wahl eines anderen Rechts abzulehnen. Das dürfte insbesondere bei Verträgen mit Staaten oder Staatsunternehmen in Betracht kommen.

17 Redfern/Hunter, Law and Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, S. 118; Reiner/Jahnel, in: Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 2006, Art. 17 ICC Rules, para. 2, S. 90). 18 Zu den Erwägungen, die dafür sprechen könnten, vgl. Brödermann, IWRZ 2019, 7, 12.

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2. Keine oder unwirksame Rechtswahl durch die Parteien Das UNITRAL-Modellgesetz (Art. 28) und – ihm folgend – das deutsche Recht (§ 1051 ZPO) enthalten Sonderkollisionsrecht, welches dem Schiedsgericht aufgibt, eine von den Parteien getroffene Rechtswahl zu beachten. Über den Kreis der Staaten, die das UNCITRAL-Modellgesetz übernommen haben, hinaus ist dies eine universell anerkannte Kollisionsregel. Die Anwendung der UNIDROIT Principles kommt danach allenfalls zur Ausfüllung von Lücken oder als Interpretationshilfe in Betracht (siehe unten, 4.). Fehlt es an einer ausdrücklichen Rechtswahl der Parteien, so hat gemäß Art. 28 Abs. 2 UNCITRAL-Modellgesetz/§ 1051 Abs. 2 ZPO das Schiedsgericht das Recht anzuwenden, welches das von ihm für anwendbar erachtete Kollisionsrecht bestimmt. Da demgemäß Schiedsgerichte – anders als die staatlichen Gerichte – zumindest freier in der Bestimmung des anwendbaren Rechts sind, eröffnet sich hier eher die Möglichkeit, Rechtsregeln in Betracht zu ziehen, die nicht einer bestimmten Rechtsordnung zuzuordnen sind (soweit nach dem vom Schiedsgericht für anwendbar erachteten Kollisionsrecht zulässig). Bei der Entscheidung wird das Schiedsgericht zu erwägen haben, ob es dem Parteiwillen eher mit einer an dem klassischen Anknüpfungskanon des internationalen Vertragsrechts orientierten Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts oder durch Inbezugnahme davon losgelöster Rechtsregeln, wie etwa die UNIDROIT Principles, gerecht wird. 3. Bewusst unbestimmte Rechtswahl Soweit nicht ausdrücklich vereinbart, sind „geborener“ Anwendungsbereich der UNIDROIT Principles die Fälle, in denen die Vertragsparteien sich – anstelle der Wahl einer nationalen Rechtsordnung oder manchmal auch ergänzend dazu – bewusst unbestimmt auf die Anwendbarkeit „allgemeiner Rechtsprinzipien“/„general principles of law“ (mit unterschiedlichen Formulierungsvarianten) verständigt haben. Das ist relativ selten, kommt aber gelegentlich vor, wenn die Vertragsparteien sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf die Anwendbarkeit eines bestimmten Rechts verständigen können. Raten kann man dazu wegen der damit einhergehenden Rechtsunsicherheit und fehlenden Vorhersehbarkeit der Entscheidung allerdings kaum. Wenn aber eine solche Vereinbarung zu beurteilen ist, bieten die UNIDROIT Principles eine höchst willkommene und hilfreiche Orientierung. Dafür gibt es ein paar Beispiele aus der internationalen Schiedspraxis. In immerhin einem der am Streitwert orientiert größten Schiedsverfahren aller Zeiten, Andersen Consulting v. Arthur Andersen and Andersen

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Worldwide19, hat das Schiedsgericht seiner Entscheidung maßgeblich die UNIDROIT Principles zugrunde gelegt und dazu in seinem Schiedsspruch ausgeführt: „The UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts are a reliable source of international commercial law in international arbitration for they contain in essence a restatement of those «principes directeurs» that have enjoyed universial acceptance and, moreover, are the heart of those most fundamental notions which have constantly been applied in arbitral practice.“20

Ein anderer Beispielsfall ist der Schiedsspruch eines ICC-Schiedsgerichts aus dem Jahr 200621. Ihm zugrunde lag ein Streit über die Auslegung eines Finanzierungsvertrages zwischen einem südosteuropäischen Staat und einem US-amerikanischen Investor (es war aber kein investitionsschutzrechtliches Schiedsverfahren). Der Vertrag enthielt keine Rechtswahlbestimmung. Während der beteiligte Staat die Auffassung vertrat, dass auf den Vertrag insgesamt das Recht dieses Staates anzuwenden sei, berief der USamerikanische Investor sich darauf, dass die darin geregelte Finanzierungsverpflichtung eine enge Verbindung zum US-amerikanischen Recht aufweise, weshalb US-amerikanisches Recht anzuwenden sei oder sonst „general principles of international law of contract“. In Ermangelung einer von den Parteien getroffenen Rechtswahl nahm das Schiedsgericht die Regelung in Art. 17 Abs. 1 der ICC-Regeln (1998) in den Blick, wonach „the Arbitral Tribunal shall apply the rules of law which it determines to be appropriate“. Das Schiedsgericht wies darauf hin, dass diese Bestimmung mit der 1998er Revision der ICC-Schiedsregeln zu dem Zweck eingefügt worden sei, klarzustellen, dass Schiedsgerichte „rules of law“, wie z. B. die UNIDROIT Principles, anwenden können, auch wenn diese nicht Bestandteil eines nationalen Rechtssystems sind. Die dort u. a. niedergelegten Regeln zur Vertragsauslegung reflektierten einen internationalen Konsens. Während das Schiedsgericht sich darauf zwar maßgeblich stützte, hielt es zusätzlich fest, dass die danach zu ziehenden Schlussfolgerungen jedenfalls auch nicht im Widerspruch zu dem Recht des beteiligten Staates oder USamerikanischem Recht stehe. Konkret hat das Schiedsgericht sich dann bei seiner Entscheidung auf Art. 4.1 Abs. 1 der UNIDROIT Principles (Vertragsauslegung mit dem Ziel, dem übereinstimmenden Willen der Parteien Rechnung zu tragen) sowie Art. 1.7 (Treu und Glauben) gestützt. Weiter wird über den Schiedsspruch in einem ICC-Schiedsverfahren aus dem Jahr 1996 berichtet.22 Dem lag ein ähnlich gelagerter Rechtsstreit zwi19 20 21 22

ICC Case No. 9797/CK/AER/ACS vom 28. Juli 2000. Zitiert bei: Kröll/Hennecke, RabelsZ 67 (2003), 448, 492 f. ICC Case No. 13962/FM vom 20. Oktober 2006. Bonell, ASA Bulletin, 15 (1997), 600.

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schen einem US-amerikanischen Unternehmen und einem Unternehmen aus dem Nahen Osten zugrunde. Angesichts einer fehlenden Rechtswahl der Parteien erwog das Schiedsgericht die Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles, welche es als „useful source for establishing general rules for international commercial contracts” bezeichnete. Seine Entscheidung flankierte es aber mit dem Hinweis, dass die Anwendung New Yorker Rechts zu einer Lösung führt, die den allgemeinen Grundsätzen entspricht, wie sie in den UNIDROIT Principles zum Ausdruck kommen. Das Bemühen der Schiedsgerichte, die nach Maßgabe der UNIDROIT Principles entwickelte Entscheidung vorsorglich auch damit zu stützen, dass diese Entscheidung ebenfalls aus einer etwaigen Anwendbarkeit nationaler Rechtsordnungen folgt, zeigt die Vorsicht bei der Anwendung von Rechtsregeln, die ihre Grundlage letztlich nicht in einer nationalen Rechtsordnung haben. In einem weiteren Fall – ein ICC-Schiedsspruch aus dem Jahr 199523 – ging es um Kaufverträge zwischen Unternehmen aus England und der einer Regierungsbehörde eines Landes des Mittleren Ostens, die keine Rechtswahlklausel enthielten, sondern „principles of natural justice“ für anwendbar erklärten. Das Schiedsgerecht hat daraufhin in einem Teilschiedsspruch festgestellt, dass nach dem Parteiwillen die Verträge an supranationalen Rechtsgrundsätzen zu messen seien. Zu diesem Zweck hat es die UNIDROIT Principles mit der Begründung herangezogen, die UNIDROIT Principles seien heute die wichtigste Erkenntnisquelle für die Feststellung international anerkannter Grundsätzen und Regeln. 4. Auslegungshilfe Den vielleicht praktisch bedeutsamsten Nutzen stiften die UNIDROIT Principles wohl dort, wo sie zur Ausfüllung von Lücken oder als Auslegungshilfe bei Unklarheiten des vereinbarten oder sonst anwendbaren nationalen Rechts herangezogen werden. Der Spielraum dafür ist umso größer, je lückenhafter oder unklarer das nationale Recht ist. Bei den modernen Vertragsrechten mit detaillierter und öffentlich erschließbarer Rechtsprechung zur Auslegung dieses Rechts dürfte dieser Spielraum geringer sein als etwa im Falle von Rechtsordnungen, die weniger entwickelt sind. Besonders naheliegend ist die Heranziehung der UNIDROIT Principles für die ergänzende Auslegung des CISG. So hat das Schiedsgericht in einem ICC-Schiedsspruch auf die UNIDROIT Principles zur Ausfüllung einer nach seiner Auffassung bestehenden Regelungslücke in der CISG zurück gegriffen.24 Konkret ging es um die Frage des anwendbaren Zinssatzes bei 23 24

Beschrieben bei: Bonell, ASA Bulletin, 15 (1997), 600, 601 m. w. N. Bonell, ASA Bulletin, 15 (1997), 600.

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Nichtzahlung einer Geldschuld, welche Art. 78 CISG nicht regelt. Während nach in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertretener Auffassung diese Frage nach nationalem Recht zu entscheiden ist, hat das Schiedsgericht zur Schließung der „Lücke“ die Regelung der Zinsfrage in Art. 7.4.9 Abs. 2 der UNIDROIT Principles herangezogen und die daran enthaltene Bestimmung als einen allgemeinen Grundsatz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 CISG angewendet. Es ist in diesem Zusammenhang auch die Frage aufgeworfen worden, ob die UNIDROIT Principles als „Handelsbrauch“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 CISG zu qualifizieren sind.25 In Anbetracht der nach wie vor noch relativ geringen Verbreitung und belegbaren Akzeptanz der UNIDROIT Principles erscheint das derzeit indessen zweifelhaft.26 VI. Resümee Die UNIDROIT Principles sammeln, ordnen und konsolidieren Rechtsprinzipien, wie sie den meisten modernen Rechtsordnungen in der einen oder anderen Weise gemein sind. Darauf zurückgreifen zu können, ist für internationale Schiedsgerichte eine nützliche Option. In geeigneten Fällen haben sie davon in der Vergangenheit Gebrauch gemacht; das wird auch in der Zukunft der Fall sein. Ihr Nutzen für internationale Schiedsgerichte bei der Entscheidung über konkrete Rechtsstreitigkeiten wird aber nach Einschätzung des Verfassers einstweilen auf Nischenfälle beschränkt und damit überschaubar bleiben. Zum einen, weil Vertragsparteien die Anwendbarkeit der UNIDROIT Principles – soweit ersichtlich – in den allerseltensten Fällen anstelle einer nationalen Rechtsordnung oder in Ergänzung dazu vereinbaren. Zum anderen, weil ohne dahingehende Vereinbarung die Anwendung der UNIDROIT Principles nicht ohne weiteres möglich oder jedenfalls nicht naheliegend ist. Die ICC-Regeln mögen mit ihrem Verweis auf die „rules of law“ in Art. 21 Abs. 1 ICC-Regeln internationalen Schiedsgerichten mehr Freiraum hinsichtlich der Anwendung von Rechtsregeln jenseits nationaler Rechtsordnungen geben. Nach ganz überwiegender Praxis sehen sich internationale Schiedsgerichte jedoch im Regelfall berufen und gebunden, den Rechtsstreit aufgrund von Rechtsnormen zu entscheiden, die ihre Grundlage in einer nationalen Rechtsordnung finden. Zu Recht, wie der Verfasser meint, denn die Anwendung von Regeln, die ihre Grundlage nicht in einer nationalen Rechtsordnung haben und von den Parteien auch nicht ausdrücklich als anwendbar vereinbart wurden, bedingt – ungeachtet der Frage 25 Kröll/Hennecke RabelsZ 67 (2003), 448, 492; zur Rechtsnatur der UNIDROIT Principles vgl. auch Berger, Uniform Law Review 5 (2000), 153. 26 Kröll/Hennecke RabelsZ 67 (2003), 448, 492.

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der rechtlichen Zulässigkeit – Rechtsunsicherheit und damit mangelnde Vorhersehbarkeit der Entscheidung. Das aber wollen die Parteien im internationalen Wirtschaftsverkehr in aller Regel nicht. Demgemäß ist der Nutzen der UNIDROIT Principles für internationale Schiedsgerichte einstweilen darauf beschränkt, Regelungslücken zu füllen, die nicht besser durch Rückgriff auf nationale Rechtsordnungen gefüllt werden können, also insbesondere auf Fälle, in denen • die Vertragsparteien bewusst und in Kenntnis der damit verbundenen Risiken die Anwendbarkeit einer bestimmten nationalen Rechtsordnung vermeiden wollten, • die Bestimmung einer maßgeblichen nationalen Rechtsordnung zweifelhaft oder problematisch ist, oder • eine etwa vereinbarte oder anderweitig bestimmte Rechtsordnung Regelungslücken enthält und auslegungsfähig ist. Perspektivisch könnte sich das ändern, wenn und soweit die UNIDROIT Principles die Akzeptanz eines internationalen Handelsbrauchs erlangen. Das lässt sich aber wohl zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht feststellen. Ganz unabhängig davon bleibt ihr darüber hinausgehender Nutzen als Orientierung für Gesetzgeber auf der ganzen Welt.

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Zur Aufteilung des Gewinnanteils zwischen Nießbraucher und Anteilseigner

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Zur Aufteilung des Gewinnanteils zwischen Nießbraucher und Anteilseigner Matthias Bruse

Zur Aufteilung des Gewinnanteils zwischen Nießbraucher und Anteilseigner beim Nießbrauch an Gesellschaftsanteilen MATTHIAS BRUSE

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nießbrauch an Personengesellschaftsanteilen . . . . . . . . . . 1. Jährliche Gewinnentnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Beteiligung des Nießbrauchers während des gesamten Geschäftsjahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auflösung von Gewinnvorträgen und offenen Rücklagen . . 4. Auflösung stiller Reserven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nießbrauch an Kapitalgesellschaftsanteilen . . . . . . . . . . . 1. Gewinnverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Beteiligung des Nießbrauchers während des gesamten Geschäftsjahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auflösung von Gewinnvorträgen und offenen Rücklagen . . 4. Auflösung stiller Reserven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Nießbrauch begründet einen Anspruch auf die Nutzungen aus dem Gesellschaftsanteil, insbesondere den Anspruch auf den anteiligen Gewinn (§§ 1068 Abs. 2, 1030 BGB). Inhaltlich bezieht sich der Nießbrauch auch auf Surrogate, z.B. Abfindungen bei Ausscheiden oder Liquidationsquoten bei Auflösung. Neu entstehende Gesellschaftsrechte im Rahmen von Kapitalerhöhungen können ggf. auch Gegenstand der Nießbrauchsvereinbarung werden.1 Nachfolgend soll insbesondere dargestellt werden, ob die Nießbrauchsberechtigung hinsichtlich des Gewinns an einer Personen- oder Kapitalgesellschaft davon abhängt, aus welchen Quellen der Gewinn stammt und in welchem Zeitraum er erwirtschaftet wurde.

1

Vgl. statt vieler Baumbach/Hueck/Fastrich GmbHG, § 15 Rz. 54.

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II. Nießbrauch an Personengesellschaftsanteilen 1. Jährliche Gewinnentnahme Auf der Grundlage des von der Geschäftsführung aufgestellten Jahresabschlusses und dessen Feststellung durch die Gesellschafterversammlung entscheiden die Gesellschafter, in welchem Umfang der Gewinn entnahmefähig ist oder thesauriert wird. Entnahmefähige Gewinne werden grundsätzlich einem Darlehens- oder Privatkonto des Gesellschafters gutgeschrieben. Ein Guthaben auf einem Verrechnungs-, Entnahme- oder Gesellschafterdarlehenskonto (nachfolgend „Verrechnungskonto“) ist vorbehaltlich besonderer Regelungen des Gesellschaftsvertrages zur Liquiditätsschonung der Gesellschaft seitens des Gesellschafters entnehmbar. Entsprechendes gilt grundsätzlich auch für den Nießbraucher. Soweit Gewinne thesauriert werden, stehen diese nach einhelliger Auffassung dem Nießbraucher genauso wenig zur Verfügung wie dem Gesellschafter. Denn die Thesaurierung unterbindet gerade eine Fruchtziehung aus dem Gesellschaftsanteil. Daraus folgt, dass der Nießbraucher auch nicht an erwirtschafteten stillen Reserven partizipiert, solange diese nicht entnommen werden können.2 Wenn demgegenüber Gewinne auf einem Verrechnungskonto des Gesellschafters bzw. ggf. unmittelbar des Nießbrauchers gutgeschrieben werden, ist grundsätzlich (d.h. vorbehaltlich ggf. abweichender Bestimmungen in der Nießbrauchsvereinbarung) der Nießbraucher und nicht der Gesellschafter zur Entnahme berechtigt. Ertragsteuerlich wird dem Nießbraucher i.d.R. der entnahmefähige Teil des festgestellten Gewinns als Mitunternehmer zugerechnet. Der restliche Teil des steuerlichen Gewinnanteils ist in der Personengesellschaft dem Besteller als weiterem Mitunternehmer zuzurechnen.3 Die zivilrechtliche Entnahmeberechtigung des Nießbrauchers ist jedenfalls dann unstreitig, wenn es sich um den Gewinn des laufenden Geschäftsjahres handelt und der Nießbraucher während der gesamten Dauer des Geschäftsjahres nießbrauchsberechtigt ist. Demgegenüber ist zum Teil umstritten, ob der Nießbraucher auch dann entnahmeberechtigt ist, wenn • der Nießbrauch nicht während des gesamten Geschäftsjahres vereinbart ist (s.u. II.2) • ein Gewinnvortrag oder offene Rücklagen aus der Vertragszeit des Nießbrauchs oder vor dessen Vertragszeit stammen (s.u. II.3) oder 2 3

Vgl. zur GmbH Scholz/Seibt GmbHG, § 15 Rz. 214. Ludwig Schmidt/Wacker EStG, § 15 Rz. 306.

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• wenn der Gewinn aus der Auflösung stiller Reserven im laufenden Geschäftsjahr gespeist wird (s.u. II.4). 2. Keine Beteiligung des Nießbrauchers während des gesamten Geschäftsjahres Während des Bestehens des Nießbrauchs entsteht der Gewinnauszahlungsanspruch unmittelbar in der Person des Nießbrauchers auf der Grundlage des Gewinnverwendungsbeschlusses.4 Wird ein Nießbrauch z.B. unterjährig während eines Geschäftsjahres bestellt und bezieht sich der entnahmefähige Gewinn auf das gesamte Geschäftsjahr, erfolgt vorbehaltlich abweichender vertraglicher Abreden eine Gewinnaufteilung im Verhältnis zwischen Gesellschafter/Besteller einerseits und Nießbraucher andererseits entsprechend § 101 Nr. 2 BGB, nachdem zunächst der Gewinnanteil ungeteilt an den Nießbraucher ausgekehrt wird. Die Aufteilungsverantwortung ist demgegenüber beim Gesellschafter, wenn der Nießbraucher unterjährig vor Vollzug der Gewinnverwendung ausscheidet.5 3. Auflösung von Gewinnvorträgen und offenen Rücklagen In der Literatur wird zum Teil danach differenziert, ob es sich bei der Auflösung von Gewinnvorträgen oder Rücklagen um vorvertragliche oder vertragliche Rücklagen handelt. Bei der Auflösung von vertraglichen Rücklagen – d.h. Rücklagen, die aus der Zeit des Nießbrauchs stammen – soll der Nießbraucher berechtigt sein. Demgegenüber sollen die aufgelösten vorvertraglichen Rücklagen dem Gesellschafter/Besteller zugutekommen. Diese Unterscheidung ist m.E. weder dogmatisch noch praktisch nachvollziehbar. Denn bei Personengesellschaften werden nicht entnahmefähige Gewinne in der Regel dem Kapitalkonto II (Rücklagenkonto) gutgeschrieben. Wird das Kapitalkonto II oder ein Gewinnvortrag reduziert und werden durch Umbuchung ganz oder teilweise Beträge auf dem Verrechnungskonto entnahmefähig, ist i.d.R. nicht identifizierbar, ob es sich um Rücklagen oder Gewinnvorträge aus der Zeit des Nießbrauchs oder der Zeit davor handelt. Daraus ist zu folgern, dass (mittelbar) bei Umbuchung von Rücklagen oder Gewinnvorträgen auf Verrechnungskonten diese Gewinnanteile Früchte werden, die dem Nießbraucher gebühren. Dabei ist es nicht relevant, zu welchem Zeitpunkt die wirtschaftlichen Grundlagen für diese Früchte gelegt worden sind. Entscheidend ist, dass es zur Zeit des Nießbrauchs entnahmefähige Gewinnanteile gibt. 4 5

Zur GmbH vgl. Reichert/Weller MüKo GmbHG, § 15 Rz. 329. Zur GmbH vgl. Reichert/Weller MüKo GmbHG, § 15 Rz. 332.

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4. Auflösung stiller Reserven a) Relevante Sachverhalte Ein Fall der Auflösung stiller Reserven liegt insbesondere dann vor, wenn ein Wirtschaftsgut des Anlagevermögens durch die Gesellschaft, an deren Beteiligung ein Nießbrauchsrecht besteht, mit Gewinn veräußert wird. In diesem Fall wird das Wirtschaftsgut des Anlagevermögens ausgebucht und der Kassenbestand ist entsprechend erhöht bzw. es wird eine Kaufpreisforderung eingebucht. Die in der Regel dann gewonnene Liquidität kann das Unternehmen für alle unternehmerischen Zwecke verwenden, z.B. den Erwerb anderen Anlagevermögens oder Rückführung der Verschuldung. Der Liquiditätsbestand oder ein mit der Liquidität getätigtes Reinvestment können ihrerseits Gewinn produzieren, der grundsätzlich dem Nießbraucher zugutekommt, wenn er entnahmefähig wird. b) Zurechnung ausgekehrter stiller Reserven beim Gesellschafter/Besteller Die herrschende Meinung geht davon aus, dass ein Gewinn aus der Auflösung stiller Reserven nicht dem Nießbraucher, sondern dem Anteilseigner zugutekommt.6 Zum Beleg für diese Meinung werden insbesondere zwei Urteile aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs herangezogen.7 Danach beschränkt sich der Anteil des Nießbrauchers an einem GmbHGeschäftsanteil auf den gemäß Gewinnverteilungsbeschluss ausschüttungsfähigen anteiligen Gewinn. Daraus ergäbe sich bereits, dass dem Nießbraucher ein Anteil an den stillen Reserven jedenfalls bei Gegenständen des Anlagevermögens grundsätzlich nicht zustehen würde. Innerhalb des Ertrags aus dem Geschäftsanteil ließen sich nur diejenigen Nutzungen dem Nießbraucher zurechnen, die nicht auf realisierten stillen Reserven im Anlagevermögen entfallen. Einzige Begründung für diese differenzierende Behandlung ist, dass die Ausschüttung stiller Reserven eine Anteilsminderung darstelle und diese dem Anteilsinhaber gebühre. Das gelte für Personen- wie Kapitalgesellschaften. c) Zurechnung ausgekehrter stiller Reserven beim Nießbraucher Diese Begründung vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil jede Ausschüttung zu einer Anteilsminderung führt, ungeachtet dessen, ob es 6 Vgl. Schön ZHR, 1994, S. 158, S. 229, S. 245; Frank MittBayNot, 2010, Rz. 96, Rz. 100; Fricke GmbR, 2008, Rz. 739, Rz. 742; Staudinger/Heinze Anh. zu BGB § 1068 Rz. 82. 7 BFH vom 28.1.1992 – VIII R 207/85, DStR1992 S. 711; BFH vom 1.3.1994 – VIII R 35/92 DB 1994, S. 20432.

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sich um einen laufenden Gewinn, Ausschüttung von Rücklagen oder die Realisierung von stillen Reserven handelt. Die herrschende Meinung geht jedoch davon aus, dass es sich bei Realisierung stiller Reserven nicht mehr um Fruchtziehung, sondern um Substanzverzehr handele. Danach müsse der Gewinn dahingehend aufgeteilt werden, dass der laufende Gewinn von dem Gewinn aus der Auflösung stiller Reserven separiert wird. Dies macht praktisch eine getrennte Gewinnermittlung für den Nießbraucher einerseits und den Anteilseigner andererseits erforderlich. Die herrschende Meinung vermag nicht zu überzeugen. Der Gewinn aus der Auflösung stiller Reserven ist ein Gewinn, der während der vertraglichen Zeit der Einräumung des Nießbrauchs entsteht. Entscheidend ist, zu welchem Zeitpunkt die stillen Reserven realisiert werden. Eine (teilweise) Bildung stiller Reserven in einem Zeitraum vor Vereinbarung des Nießbrauchs ist unbeachtlich. Umfasst der Gewinnanteil des Nießbrauchers auch realisierte stille Reserven, steht dieser für steuerliche Zwecke der Mitunternehmerstellung des Gesellschafters/Bestellers nicht entgegen. Denn dieser behält das Recht zur Stimmrechtsausübung und partizipiert weiter an denjenigen stillen Reserven des Unternehmens, die nicht durch Verkauf oder dergleichen realisiert werden. Die nachfolgenden weiteren Erläuterungen zur Auflösung stiller Reserven bei nießbrauchbelasteten Anteilen an Kapitalgesellschaften (s.u. III.4) gelten für Personengesellschaften entsprechend.

III. Nießbrauch an Kapitalgesellschaftsanteilen 1. Gewinnverwendung Bei der GmbH wird der Jahresabschluss durch die Geschäftsführung aufgestellt. Über die Gewinnverwendung, insbesondere den Betrag der Gewinnausschüttung einerseits und etwaig zu thesaurierende Beträge andererseits, entscheidet die Gesellschafterversammlung. Bei der Aktiengesellschaft erstellt der Vorstand den Jahresabschluss, der grundsätzlich vom Aufsichtsrat gebilligt wird. Die Hauptversammlung beschließt dann über die Verwendung des Gewinns. Dabei ist sie an den festgestellten Jahresabschluss, bei dem insbesondere der Umfang der Dotation von Gewinnrücklagen und der Gewinnvortrag bestimmt werden, gebunden. Mit dem jeweiligen Gewinnverwendungsbeschluss entsteht ein Gewinnauszahlungsanspruch unmittelbar in der Person des Nießbrauchers.8 8

Reichert/Weller MüKo GmbHG, § 15 Rz. 329.

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2. Keine Beteiligung des Nießbrauchers während des gesamten Geschäftsjahres Grundsätzlich gelten die Ausführungen zu II.2 entsprechend. Entgegen einzelner z.T. vertretenen Meinungen kommt § 101 BGB jedoch nicht zur Anwendung, wenn der Nießbrauch während des gesamten Geschäftsjahres besteht und eine Gewinnausschüttung dieses Geschäftsjahres ganz oder teilweise aus Gewinnen gespeist wird, die vor Vereinbarung des Nießbrauchs erwirtschaftet wurden (siehe dazu auch nachfolgend III.3 und III.4).9 Damit bezieht sich der Nießbrauch z.B. auf eine Gewinnausschüttung in dem Jahr 2, die sich auf den Gewinn des vorangegangenen Jahres 1 bezieht, wenn der Nießbraucher jedenfalls seit dem 1. Januar des Jahres 2 (Annahme: Wirtschaftsjahr = Kalenderjahr) beteiligt ist. 3. Auflösung von Gewinnvorträgen und offenen Rücklagen Die vorstehend unter II.3 für Personengesellschaften dargestellten Grundsätze gelten für Kapitalgesellschaftsanteile entsprechend. 4. Auflösung stiller Reserven a) Keine Entscheidungszuständigkeit des Nießbrauchers Nach §§ 1036 Abs. 2 und 1039 Abs. 1 BGB hat der Nießbraucher nach den Regeln ordnungsgemäßer Wirtschaft zu verfahren. Die Partizipation an stillen Reserven, die realisiert und ausgekehrt werden, steht nicht in Widerspruch zur ordnungsgemäßen Wirtschaft (siehe bereits vorstehend zu II.4). Außerdem entscheidet der Nießbraucher grundsätzlich gerade nicht über die Frage, ob stille Reserven realisiert werden. Hier sind i.d.R. entweder die Geschäftsführung bzw. der Vorstand oder die Gesellschafterversammlung bzw. der Aufsichtsrat im Rahmen zustimmungspflichtiger Rechtsgeschäfte zuständig. In der Gesellschafterversammlung hat aber nach herrschender Meinung der Gesellschafter und nicht der Nießbraucher das Stimmrecht, es sei denn, er hat dem Nießbraucher – bezogen auf die Ausübung seiner Gesellschafterrechte – eine Vollmacht eingeräumt. Vorbehaltlich einer Vollmacht kann demnach der Gesellschafter/Besteller dabei mitwirken, in welcher Höhe eine Gewinnausschüttung erfolgen soll. Dabei ist er sogar für den umgekehrten Fall gehalten, aus der Treuepflicht des Nießbrauchsverhältnisses folgernd, bei Ausübung des Stimmrechts die Belange des Nießbrauchers angemessen zu berücksichtigen.10 Aber selbst wenn der Gesell9 10

Vgl. z.B. Michalski, Heidinger, Leible, Schmidt/Ebbing GmbHG § 15, Rz. 194. Vgl. Reichert/Schlitt/Düll GmbHR, 1998, S. 565; Fricke GmbHR, 2008, S. 739, S. 742.

Zur Aufteilung des Gewinnanteils zwischen Nießbraucher und Anteilseigner

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schafter/Besteller eine Vollmacht erteilt und der Nießbrauchsvertrag bzw. die Vollmacht keine inhaltlichen Schranken enthalten, benötigt ein Gewinnverwendungsbeschluss in der Regel mindestens eine einfache Mehrheit in der Gesellschafterversammlung, so dass ein Nießbraucher einen vermeintlich übermäßigen Fruchtziehungswunsch i.d.R. nicht eigenständig durchsetzen kann. Zudem ist der Nießbraucher auch bei dem „Legen“ von stillen Reserven grundsätzlich nicht involviert. Denn dem liegen i.d.R. Entscheidungen des Managements zugrunde, die ggf. mit Zustimmung des Gesellschafters/Bestellers gefällt werden. Eine Mitwirkung des Nießbrauchers findet nicht statt. Nur ausnahmsweise dürfte man eine Treuepflichtverletzung des Gesellschafters/Bestellers zu Lasten des Nießbrauchers feststellen können. Schließlich hängen Investitions- und Anlageentscheidungen maßgeblich von der Marktentwicklung ab, die eine Unternehmensstrategie zu einem Erfolg führen kann oder eben auch nicht. b) Zeitpunkt der Bildung stiller Reserven unmaßgeblich Zum Teil wird danach differenziert, ob stille Reserven während der Vertragszeit des Nießbrauchs oder vorher gebildet worden sind.11 Danach sollen stille Reserven dem Nießbraucher zustehen, wenn diese während der Laufzeit des Nießbrauchs zu Lasten laufender Gewinne gebildet worden sind. Anders soll es sich mit Gewinnanteilen verhalten, die aus der Auskehrung von stillen Reserven stammen, die vor Vereinbarung des Nießbrauchs gebildet wurden. Diese seien zwar an den Nießbraucher auszukehren, der Nießbraucher sei jedoch verpflichtet, diese Gewinnanteile, die als Übermaßfrüchte im Sinne von § 1039 BGB qualifizieren, nach Beendigung des Nießbrauchs an den Anteilseigner auszukehren. Im Ergebnis müssen aber auch die Vertreter dieser differenzierenden Meinung konzedieren, dass sich diese Differenzierung aus der Buchführung eines Unternehmens kaum oder nicht ablesen lassen, insbesondere wenn es um die Realisierung stiller Reserven im Umlaufvermögen geht. c) Kein Verstoß gegen eine ordnungsgemäße Wirtschaft oder übermäßige Fruchtziehung Die Auflösung stiller Reserven kann aus vielen verschiedenen wirtschaftlichen Gründen Bestandteil normalen und ordnungsgemäßen Wirtschaftens sein. Die Realisierung selbst stellt zunächst lediglich einen außerordentlichen Ertrag dar. Von einem Verstoß gegen eine ordnungsgemäße Wirtschaft oder einer übermäßigen Fruchtziehung (§§ 1036 Abs. 2, 1039 Abs. 1 BGB) 11 Vgl. Janßen/Nickel Unternehmensnießbrauch, 1998, S. 44 ff.; vgl. auch Pohlmann MüKo, § 1068 BGB Rz. 53.

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Matthias Bruse

kann allenfalls dann die Rede sein, wenn im Rahmen einer oder mehrerer Veräußerungen etc. praktisch das gesamte oder wesentliche Anlagevermögen veräußert und dann beschlossen wird, diesen Gewinn vollständig oder ganz überwiegend entnahmefähig zu stellen bzw. auszuschütten. Dies wird üblicherweise nicht der Fall sein. Denn Geschäftsführung und Gesellschafter werden vielfach das wirtschaftliche Interesse haben, das Eigenkapital der Gesellschaft zu stärken, entsprechende Thesaurierungen nach Realisierung stiller Reserven zu beschließen, um die künftige Investitionskraft des Unternehmens sicherzustellen. Dementsprechend entfallen i.d.R. auch Wertersatzansprüche nach § 1039 Abs. 1 S. 2 BGB. Auch § 1041 BGB (Erhalt des nießbrauchsbelasteten Gegenstands) ist bei Realisierung stiller Reserven nicht einschlägig. Denn der wirtschaftliche Bestand des Gesellschaftsrechts bleibt bei der einer Realisierung folgenden Gewinnentnahme- oder ausschüttung unberührt. Wirtschaftliche Veränderungen, die aber auch den Erhalt nicht betreffen dürften, treten allenfalls bei der Gesellschaft ein. Für diesbezügliche Entscheidungen sind aber primär die Geschäftsführung und eventuell die Gesellschafter, nicht aber der Nießbraucher zuständig.

IV. Zusammenfassung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass im Hinblick auf die Bestimmung des Umfangs der Gewinnberechtigung des Nießbrauchs grundsätzlich keine Veranlassung besteht, für eine Gewinnentnahme oder Ausschüttung danach zu differenzieren, ob diese aufgelöste offene Rücklagen oder realisierte stille Reserven aus der Zeit vor oder während der Zeit des Nießbrauchs enthält. Vielmehr erfolgt grundsätzlich eine Gewinnzurechnung beim Nießbraucher und nicht beim Gesellschafter/Besteller. Zur Vermeidung etwaiger verbleibender Unklarheiten sollte dennoch der Nießbrauchsvertrag klarstellende Regelungen enthalten, wonach sich der Nießbrauch stets auf den vollständigen Entnahme- bzw. Ausschüttungsbetrag bezieht.

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Schadensschätzung durch Schiedsgerichte

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Schadensschätzung durch Schiedsgerichte Daniel Busse und Sven Lange

Schadensschätzung durch Schiedsgerichte – insbesondere bei der Anwendung komplexer Schadensmodelle DANIEL BUSSE

UND

SVEN LANGE1

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgrundlagen für die Schadensschätzung von Schiedsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schadensschätzung in der Schiedspraxis – Beispielsfälle . . . . . IV. Schadensschätzungen bei Abweichungen von den Annahmen der betreffenden Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fehler bei der Schadensschätzung als Aufhebungsgrund . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Schiedsverfahren werden immer komplexer.2 Das gilt auch für die Schadensberechnung – ohne Schadensgutachter kommt kaum ein Schiedsverfahren mehr aus, bei dem Schadensersatz eingeklagt wird und die Bestimmung des Schadens nicht banal ist. Schiedsgutachter ziehen regelmäßig komplexe Modelle zur Bestimmung des Quantums heran, und diese wiederum stützen sich auf verschiedene Tatsachen, die die betreffende Partei im Verfahren vorgetragen hat. Diese Annahmen sind regelmäßig nicht voneinander abhängig – und zwischen den Parteien umstritten. Damit beruht die betreffende Schadensberechnung auf einer Reihe von Variablen, und kombiniert führt dies zu einer exponentiell steigenden Zahl an Varianten für die Schadensberechnung. Die Schadensgutachter können nicht selten nur eine Auswahl dieser Varianten abbilden. Welche Möglichkeiten haben Schiedsgerichte, wenn sie einen Sachverhalt annehmen, der in dieser Form in den Quantumgutachten nicht ausdrücklich adressiert ist, den Anspruch aber 1 Die in diesem Beitrag geäußerten Ansichten sind solche der Autoren und decken sich nicht notwendigerweise mit den Ansichten ihrer Mandanten. Die Autoren danken Irina Samodelkina und Niyati Ahuja für ihre Unterstützung bei der Recherche. 2 Vgl. dazu schon den ausgezeichneten Beitrag von Risse Arbitration International 2019, S. 1 ff.

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Daniel Busse und Sven Lange

dennoch nicht mangels hinreichender Substantiierung des Schadens abweisen wollen? Eine Option insofern ist die Schätzung des Schadens.

II. Rechtsgrundlagen für die Schadensschätzung von Schiedsgerichten Schiedsgesetze und Schiedsordnungen enthalten im Regelfall keine ausdrückliche Regelung zur Schadensschätzung. Das erfordert den Rückgriff auf Bestimmungen zur Beweiswürdigung; insofern finden sich häufig Formulierungen, nach denen das Schiedsgericht berechtigt ist, das Ergebnis einer Beweiserhebung „frei zu würdigen“,3 es „[ü]ber die Zulässigkeit, Relevanz, Wesentlichkeit und Gewichtung von Beweismitteln entscheidet“4 oder vergleichbare Befugnisse hat.5 Noch allgemeinere Regelungen enthalten die ICC-Schiedsordnung und die DIS-Schiedsordnung: nach Art. 25(1) ICCSchiedsordnung (2017) stellt „das Schiedsgericht den Sachverhalt in möglichst kurzer Zeit mit allen geeigneten Mitteln fest“, und ganz ähnlich formuliert es auch die DIS-Schiedsordnung.6 Durch all diese Vorschriften wird dem Schiedsgericht Ermessen bei der Sachverhaltsfeststellung eingeräumt, und dazu gehört auch die Feststellung von Schadenssummen mittels Schätzung. Ausdrückliche Regelungen zur Schadensschätzung finden sich hingegen mitunter für das Verfahrensrecht der betreffenden staatlichen Gerichte. Dieses ist jedoch regelmäßig nicht (auch nicht analog) auf Schiedsverfahren anwendbar. Das gilt insbesondere für § 287 ZPO.7 Denn § 287 ZPO findet sich im Abschnitt „Verfahren vor den Landgerichten“ (und damit außerhalb des 10. Buchs der ZPO). So hat beispielsweise das OLG München festgestellt, dass ICC-Schiedsgerichte den Schaden frei schätzen dürfen und § 287 ZPO Vgl. § 1042(4) S. 2 ZPO. Vgl. Art. 31(1) SCC Rules (2017). 5 In Schiedsgesetzen ist das schiedsrichterliche Recht zur freien Beweiswürdigung beispielsweise festgeschrieben in Art. 19(2) S. 2 UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (2006); § 1042(4) S. 2 ZPO (Deutschland); Section 34(1), (2)(f) Arbitration Act 1996 (England); Art. 1467 Code de procédure civile (Frankreich); § 599(1) ZPO (Österreich). Daneben geben auch zahlreiche Schiedsordnungen dem Schiedsgericht ausdrücklich das Recht zur freien Beweiswürdigung, vgl. Art. 27(4) UNCITRAL Rules (2010); Art. 31(1) SCC Rules (2017); Art. 22.2 HKIAC Rules (2018); Art. 24(2) Swiss Rules (2012); Rule 19.2 SIAC Rules (2016); Art. 22.1(vi) LCIA Rules (2014). 6 Art. 28.1 DIS-Schiedsordnung (2018). 7 Vgl. allgemein zur Nichtanwendbarkeit von Vorschriften außerhalb des 10. Buchs der ZPO in Schiedsverfahren Voit Musielak/Voit, § 1042 ZPO, Rn. 8; Haller Nedden/Herzberg, ICC-SchO DIS-SchO, 2014, § 24 DIS-SchO Rn. 7; Risse Arbitration in Germany, § 24 DIS Rules, Rn. 2; Kreindler/Schäfer/Wolff Schiedsgerichtsbarkeit: Kompendium für die Praxis, 2006, Rn. 701; Lachmann Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rn. 1277. AA OLG Köln, BeckRS 2012, 21164 (ohne Begründung); Schiedsgericht der Handelskammer Hamburg, NJW 1996, 3229, 3231 (ohne Begründung); Münch Münchener Kommentar, § 1042 ZPO Rn. 120 (ohne Begründung). 3 4

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nicht anwenden (müssen). Im konkreten Fall entschied das OLG München über die Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs, in dem ein Schiedsgericht mit Sitz in Deutschland bei seiner Schadensschätzung ausdrücklich § 287 ZPO angewandt hatte.8 Das OLG München machte unmissverständlich klar, dass das Schiedsgericht dazu nicht verpflichtet war: „Dahingestellt bleiben kann, ob sich die Schätzung noch im Rahmen des vom Schiedsgericht herangezogenen § 287 ZPO gehalten hat. Die Parteien haben die Anwendung der ICC-SGO vereinbart. Hiernach […] hat das Schiedsgericht den Sachverhalt in möglichst kurzer Zeit mit allen angemessenen Mitteln festzustellen. In diesem – weiteren – Rahmen hält sich die Sachverhaltsermittlung des Schiedsgerichts […].“9

Mitunter ist das Ergebnis der Nicht-Anwendung „nationaler“ Regelungen über die Schadensschätzung nicht zwingend, sondern nur optional – nämlich insbesondere dort, wo Schiedsgesetze oder -ordnungen zwar von der Anwendung nationaler Beweisregeln befreien, aber deren Anwendung weiter als mögliche Form der Ermessensausübung durch das Schiedsgericht erlauben. Beispielsweise bestimmt Section 34 des englischen Arbitration Act 1996, dass es dem Schiedsgericht obliegt, alle prozeduralen und beweisrechtlichen Angelegenheiten zu entscheiden – wobei hierzu ausdrücklich auch die Frage gehört, ob Beweisregeln anzuwenden sind. Eine Parallelregelung enthält Art. 22.1(vi) der LCIA Rules. Hier ist ausdrücklich geregelt, dass das Schiedsgericht Beweisregeln des anwendbaren Rechts nicht anwenden muss – was im Umkehrschluss bedeutet, dass es diese Regeln anwenden kann, wenn es dies will. Eine ähnliche Regel findet sich im Übrigen auch in Rule 19.2 SIAC Rules. Nicht ganz eindeutig ist die Lage, wenn die Regelung zur Schadensschätzung Teil des materiellen Recht (und nicht des Verfahrensrechts) ist, wie beispielsweise in der Schweiz. Dort sieht Art. 42 Abs. 2 des Obligationenrechts die Möglichkeit der Schadensschätzung vor: Nach dieser Vorschrift ist „[d]er nicht ziffernmässig nachweisbare Schaden […] nach Ermessen des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abzuschätzen.“ Die Regelung beruht auf einer ähnlichen Überlegung wie § 287 ZPO: die Rechtsdurchsetzung soll nicht daran scheitern, dass im Bereich der Schadensermittlung typischerweise Beweisschwierigkeiten auftreten.10 Allerdings hat die beweis8

OLG München SchiedsVZ 2011, 159. OLG München, SchiedsVZ 2011, 159, 166. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Unanwendbarkeit von § 287 ZPO findet sich in dem Urteil nicht; einen Aufhebungsgrund stellt der Fehler des Schiedsgerichts aber auch nicht dar. Vgl. allgemein zur Rechtsprechung hinsichtlich Schadensschätzungen durch Schiedsgerichte BGH BeckRS 2016, 2020, Rn. 30; BGH NJW-RR 2016, 892, Rn. 27. 10 Vgl. BGE 128 III 271, 275. 9

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pflichtige Partei weiterhin alle Umstände zu behaupten und zu beweisen, die für den Eintritt eines Schadens sprechen und dessen Abschätzung erlauben oder erleichtern, soweit ihr das möglich und zumutbar ist.11 Hier könnte man argumentieren, dass eine solche Regelung auch für Schiedsgerichte anwendbar ist, die das entsprechende Recht in der Sache anwenden.12 Anders wäre dies, wenn man die Regelung funktional und nicht formal qualifiziert (also als trotz ihres positivrechtlichen Standorts im Obligationenrecht als prozessrechtliche Regelung versteht). Ähnlich ist es vor amerikanischen Gerichten: Dort wird typischerweise unterschieden zwischen der Frage, ob überhaupt ein Schaden eingetreten ist, und der Schadenshöhe. Bestehen Zweifel hinsichtlich der Existenz eines Schadens, so wird dies in der Regel zur Abweisung der Klage führen. Bestehen demgegenüber lediglich Zweifel hinsichtlich der Höhe des Schadens, schließt dies ein stattgebendes Urteil (auf Basis einer Schadensschätzung) nicht aus.13 Ein wichtiger Leitgedanke mit Blick auf Fälle des entgangenen Gewinns ist insoweit, dass eine Partei, die eine Vertragsverletzung begangen hat, sich nicht dem Schadensersatz entziehen darf, nur weil es – aufgrund der Vertragsverletzung – nicht möglich ist, das Ausmaß des entgangenen Gewinns exakt zu beziffern und zu beweisen.14 Mit anderen Worten soll die vertragsverletzende Partei das Risiko hinsichtlich der Unsicherheit über die Schadenshöhe tragen.15 Auch bei US-amerikanischer lex arbitri sollten sich Schiedsgerichte von diesen Regeln lösen und nach eigenem Ermessen entscheiden. Umstritten ist die Schadensschätzung in Fällen, die nach dem CISG zu entscheiden sind. Von einer Vielzahl von Autoren wird argumentiert, dass das entscheidende Gericht schlicht seine eigenen prozessualen Regelungen zum Beweismaß – und damit auch zur Schadensschätzung – anzuwenden habe.16 Nach anderer Ansicht soll eine Zulassung unterschiedlicher nationaler Regeln zum Beweismaß jedoch die einheitliche Auslegung und Anwendung des CISG unterlaufen. Entsprechend solle das Beweismaß aus dem 11 BGE 122 III 219, 221; Frey/Müller Arbitration in Switzerland: The Practitioner's Guide, 2. Aufl. 2018, S. 1115, Rn. 294. 12 Entsprechend haben Schiedsgerichte auch schon tatsächlich Artikel 42(2) des Obligationenrechts angewandt, vgl. Seller v. Carrier, ICC Case No. 6573, 20 Yearbook Commercial Arbitration (1995), S. 110 ff.; Schweizer Bundesgericht, Urteil vom 26. März 2008, Az.: 4A.435/2007, ASA Bulletin 2/2009, S. 333, 337. 13 Vgl. nur Southwest Battery Corp. v. Owen, Texas Supreme Court, 1938, 115 S.W.2d S. 1097; Mid-America Tablewares, Inc. v. Mogi Trading Co., U.S. Court of Appeals (7th Cir.), 1996, 100 F.3d p. 1353. 14 Vgl. Southwest Battery Corp. v. Owen, a.a.O. 15 Vgl. Mid-America Tablewares, Inc. v. Mogi Trading Co., a.a.O. 16 Huber Münchener Kommentar zum BGB, Art. 74 CISG, Rn. 59; Mankowski Münchener Kommentar zum HGB, Art. 74 CISG, Rn. 47; Saenger Ferrari/Kieninger/ Mankowski u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2011, Art. 74 CISG, Rn. 18. Vgl. OLG Koblenz BeckRS 2010, 12149; OLG Düsseldorf, Urteil vom 14. Januar 1994, Az.: 17 U 146/93, CISG-Online Nr. 119.

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CISG selbst heraus entwickelt werden.17 Demnach habe der Gläubiger mit einem „vernünftigen Grad an Sicherheit“ den ihm entstandenen Verlust und entgangenen Gewinn zu beweisen – was auch eine Schätzung der Schadenshöhe erlaube.18 Letztere Ansicht überzeugt nicht. Im Ergebnis wird das Ergebnis allerdings nach beiden Ansätzen oft dasselbe sein.19 Im Ergebnis sind nationale Beweisregeln zur Schadensschätzung, wie beispielsweise § 287 ZPO, von Schiedsgerichten daher nicht anzuwenden; die Schadensschätzung erfolgt stattdessen im Rahmen des weiten Ermessens von Schiedsgerichten zur Sachverhaltsfeststellung. Das gilt auch dann, wenn die Parteien ausdrücklich auf Basis von nationalen Beweisregeln zur Schadensschätzung argumentieren: auch in solchen Fällen sollte das Schiedsgericht nicht auf nationale Beweisregeln zur Schadensschätzung zurückzugreifen.20 Das Schiedsgericht sollte den Rückgriff auch nicht als Form der Ausübung des eingeräumten weiten Ermessens rechtfertigen.21 Sofern die Parteien zu diesem Punkt keine eindeutige Rechtswahl getroffen haben, die das Schiedsgericht bindet, hat das Schiedsgericht auch im Fall übereinstimmender Heranziehung bestimmter Vorschriften durch die Parteien nur die tatsächlich anwendbaren Rechtsregeln anzuwenden (eventuell nach entsprechendem Hinweis). Auch in der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit gilt nichts strukturell Anderes. Rule 34(1) der ICSID Arbitration Rules beispielsweise bestimmt, dass das Schiedsgericht über den Beweiswert aller Beweismittel entscheidet, mithin also den Sachverhalt (und damit auch den Schaden) in freier Würdigung der Beweismittel feststellen darf. Tatsächlich berufen sich Investitionsschiedsgerichte allerdings meist nicht auf diese (oder eine vergleichbare) Regel,22 wenn sie eine Schadensschätzung vornehmen. Vielmehr führen sie

17 CISG Advisory Council Opinion No. 6, Rn. 2.1, 2.3; Schwenzer Schlechtriem/ Schwenzer/Schroeter, Kommentar zum UN-Kaufrecht (CISG), Art. 74 CISG, Rn. 65. 18 CISG Advisory Council Opinion No. 6, Rn. 2.6 ff.; Magnus Staudinger, Art. 74 CISG, Rn. 61; Schwenzer Schlechtriem/Schwenzer/Schroeter, Kommentar zum UNKaufrecht (CISG), Art. 74 CISG, Rn. 65; Brunner/Schmidt-Ahrendts/Czarnecki Brunner/Gottlieb, Commentary on the UN Sales Law (CISG), Article 74 CISG, Rn. 57. 19 Mankowski Münchener Kommentar zum HGB, Art. 74 CISG, Rn. 47. Vgl. auch BGH BeckRS 2013, 14791, Rn. 14, der die Streitfrage aufgrund Unerheblichkeit im konkreten Fall nicht entschied. 20 Anders ein Schiedsgericht in einem Schiedsspruch, der Gegenstand eines Verfahrens vor dem Schweizer Bundesgericht war und in dem das Schiedsgericht ausdrücklich auf Artikel 42(2) Obligationenrecht verwies, vgl. Schweizer Bundesgericht, Urteil vom 26. März 2008, Az.: 4A.435/2007, ASA Bulletin 2/2009, S. 333, 337. 21 So aber – aus Aufhebungs-/Vollstreckungsperspektive – OLG München, SchiedsVZ 2011, 159, 166. Vgl. hierzu auch Born International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, S. 2308. 22 Vgl. für eine Ausnahme, in der ein Schiedsgericht ausdrücklich Rule 34 der ICSID Arbitration Rules als Grundlage für die Schadensschätzung anführte, Middle East Cement

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ganz allgemein das ihnen zustehende Ermessen an.23 Teilweise zitieren Investitionsschiedsgerichte insoweit frühere Entscheidungen von internationalen Spruchkörpern (wie etwa dem IGH und dem Iran-US Claims Tribunal) als Präzedenzfälle.24 In anderen Fällen haben sich Investitionsschiedsgerichte um gar keine Herleitung mehr bemüht und schlicht erklärt, dass sie eine angemessene Schätzung vorgenommen haben,25 dass eine Schätzung aufgrund der Schwierigkeit des exakten Schadensbeweises genügen muss26 oder dass ein bestimmter Schadensbetrag in Anbetracht der Umstände fair oder vernünftig sei.27 Im Ergebnis sind somit natürlich auch Investitionsschiedsgerichte zur Schadensschätzung berechtigt – unabhängig davon, woraus genau diese Befugnis folgt.28

III. Schadensschätzung in der Schiedspraxis – Beispielsfälle Schadensschätzungen kommen zunächst in den „klassischen“ Konstellationen zur Anwendung, in denen das Schiedsgericht auf Basis der vorliegenden Beweise die konkrete Schadenshöhe nicht genau bestimmen kann. So konnte das Schiedsgericht hinsichtlich bestimmter Sacheinlagen in SeShipping and Handling Co. S.A. v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/99/6, Schiedsspruch vom 12. April 2002, Rn. 150. 23 Antoine Abou Lahoud and Leila Bounafeh-Abou Lahoud v. Democratic Republic of the Congo, ICSID Case No. ARB/10/4, Schiedsspruch vom 7. Februar 2014, Rn. 600; Gemplus S.A. et al. v. The United Mexican States und Talsud S.A. v. The United Mexican States, ICSID Cases No. ARB(AF)/04/3 und No. ARB(AF)/04/4, Schiedsspruch vom 16. Juni 2010, Rn. 12–57; Khan Resources Inc., Khan Resources B.V., and Cauc Holding Company Ltd. v. The Government of Mongolia, UNCITRAL, Schiedsspruch vom 2. März 2015, Rn. 375. Vgl. auch Quasar de Valors SICAV S.A. et al. v. The Russian Federation, SCC Case No. 24/2007, Schiedsspruch vom 20. Juli 2012, Rn. 215. 24 Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 12–57 und 12–58, mit Verweis auf Case Concerning the Factory at Chorzów, 1928 PCIJ, Series A, No. 17, p. 53–54; Starrett Housing v. Iran, Endschiedsspruch Nr. 314-24-1 vom 14. August 1987. 25 Swisslion DOO Skopje v. The Former Yugoslav Republic of Macedonia, ICSID Case No. ARB/09/16, Schiedsspruch vom 6. Juli 2012, Rn. 344. 26 Impregilo S.p.A. v. Argentine Republic, ICSID Case No. ARB/07/17, Schiedsspruch vom 21. Juni 2011, Rn. 371; Petrobart Limited v. The Kyrgyz Republic, SCC Case No. 126/2003, Schiedsspruch vom 29. März 2005, S. 83. Ähnlich auch Southern Pacific Properties (Middle East) Limited v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/84/3, Schiedsspruch vom 20. Mai 1992, Rn. 215, wonach der Umstand, dass der Schaden nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, kein Grund darstelle, keinen Schadensersatz zuzusprechen, wenn ein Verlust eingetreten ist. 27 Unglaube v. Republic of Costa Rica, ICSID Case No. ARB/09/20, Schiedsspruch vom 16. Mai 2012, Rn. 318; Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, SCC-Schiedsspruch vom 7. Juli 1998, S. 92. 28 Vgl. auch Marboe Calculation of Compensation and Damages in International Investment Law, 2. Aufl. 2017, Rn. 3.359; Ripinsky/Williams Damages in International Investment Law, 2008, S. 121 f.

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delmayer v. Russian Federation29 nicht mit Sicherheit ermitteln, welche Einlagen eingebracht worden waren und ob diese nicht teilweise vor der Enteignung durch den Staat gesichert werden konnten.30 Ebenso ließ sich nicht sicher feststellen, welchen Wert die Sacheinlagen hatten.31 Vor diesem Hintergrund sprach das das Schiedsgericht statt der beanspruchten rund USD 1,7 Millionen32 nur eine Schadensersatzsumme von USD 400,000 zu.33 Instruktiv ist auch der Fall Vivendi v. Argentina.34 Hier entschloss sich das Schiedsgericht dazu, dem Kläger die von ihm investierte Summe zu ersetzen. Allerdings hielt es die Beweise für die vom Kläger behauptete Investitionssumme für unzureichend und griff auf das Instrument der Schätzung zurück.35 Dass die Schadenshöhe nicht mit Sicherheit ermittelt werden könne, sei kein Grund dafür, keinen Schadensersatz zuzusprechen – solange überhaupt ein Schaden eingetreten sei.36 Schiedsgerichte unterscheiden somit regelmäßig zwischen der Frage, ob überhaupt ein Schaden eingetreten ist (wofür keine Beweiserleichterung gelten soll), und der Höhe dieses Schadens (wofür Schätzungen herangezogen werden können).37 Teilweise behelfen sich Schiedsgerichts auch damit, dass sie den Schaden nicht mit Blick auf den (angeblich) entgangenen Gewinn bestimmen, dafür aber den Verlust einer Geschäftschance (von geringerem Wert) kompensieren. In Gemplus v. Mexico38 beispielsweise machten die Kläger entgangenen Gewinn geltend, zu dessen Bewertung sie verschiedene sog. Discounted-Cash-Flow-Analysen (DCF-Analysen) vorlegten. Aus dem Schiedsspruch sind nicht alle Einzelheiten ersichtlich, jedoch ergab sich zumindest in einer Berechnungsvariante ein Wert von rund USD 400 Millionen.39 Das Schiedsgericht lehnte die DCF-Bewertungen ab, da der Status der Investition zum Bewertungsstichtag zu unsicher gewesen sei, 29

Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, SCC-Schiedsspruch vom 7. Juli 1998. Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, a.a.O., S. 91 f. 31 Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, a.a.O., S. 92. 32 Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, a.a.O., S. 84. 33 Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, a.a.O., S. 92. 34 Compañiá de Aguas del Aconquija S.A. and Vivendi Universal S.A. v. Argentine Republic, ICSID Case No. ARB/97/3, Schiedsspruch vom 20. August 2007. 35 Compañiá de Aguas del Aconquija S.A. and Vivendi Universal S.A. v. Argentine Republic, a.a.O., Rn. 8.3.16. 36 Compañiá de Aguas del Aconquija S.A. and Vivendi Universal S.A. v. Argentine Republic, a.a.O. Vgl. auch Técnicas Medioambientales Tecmed, S.A. v. The United Mexican States, ICSID Case No. ARB (AF)/00/2, Schiedsspruch vom 29. Mai 2003, Rn. 190. 37 Vgl. Ripinsky/Williams Damages in International Investment Law, 2008, S. 165 ff. (m.w.N.). 38 Gemplus S.A. et al. v. The United Mexican States und Talsud S.A. v. The United Mexican States, ICSID Cases No. ARB(AF)/04/3 und No. ARB(AF)/04/4, Schiedsspruch vom 16. Juni 2010. 39 Vgl. Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–16. 30

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um entgangenen Gewinn zuzusprechen.40 Laut dem Schiedsgericht bestand (auch ohne den staatlichen Eingriff) eine erhebliche Wahrscheinlichkeit des Scheiterns der Investition.41 Nach Ansicht des Schiedsgerichts schloss dies jedoch Schadensersatz nicht aus. Zwar könne kein entgangener Gewinn im klassischen Sinn zugesprochen werden, jedoch sei auch eine verlorene Geschäftschance ersatzfähig. Denn auch eine reine Geschäftschance habe im Geschäftsleben einen Marktwert.42 Die Schiedsbeklagte dürfe keinen Vorteil dadurch erlangen, dass sie durch ihre Verletzungen des BITs den Schiedsklägern die Möglichkeit genommen habe, durch die Durchführung der Investition zu beweisen, dass diese tatsächlich Gewinn abgeworfen hätte.43 Allerdings, so das Schiedsgericht in Gemplus v. Mexico weiter, sei es schwierig, der verlorenen Geschäftschance einen Geldbetrag zuzuordnen.44 Denn insbesondere das Investitionsrisiko könnte nicht sinnvollerweise in einfachen Prozentzahlen ausgedrückt werden.45 Im Ergebnis schätzte das Schiedsgericht die Summe mit Blick auf alle aufgeführten rechtlichen Prinzipien und anderen Faktoren (insbesondere die erheblichen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Risiken der Investition einerseits und Mexikos Eigeninteresse, das Projekt für eine bestimmte Zeit am Leben zu erhalten, andererseits) und sprach deutlich weniger zu als von den Klägern beansprucht.46 Ersatz für den Verlust einer Geschäftschance (an Stelle von Ersatz für entgangenen Gewinn) wurde auch in SOABI v. Senegal47 und SPP v. Egypt48 zugesprochen. In diesen Fällen stand das Vorliegen eines Schadens noch nicht fest, da unklar war, ob der Investor einen Gewinn erzielt hätte; die Schiedsgerichte maßen dennoch mittels Schätzung der verlorenen Geschäftschance einen Wert zu.49 Zur Begründung wird auch darauf verwiesen, dass das anwendbare Recht Ersatz für bloße Geschäftschancen erlaube.50 40

Vgl. Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–72. Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–76. 42 Vgl. Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–99. 43 Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–92. 44 Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–99. 45 Vgl. Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–99. 46 Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–100. 47 Société Ouest Africaine des Bétons Industriels v. Senegal, ICSID Case No. ARB/ 82/1, Schiedsspruch vom 25. Februar 1988, Rn. 7.13. 48 Southern Pacific Properties (Middle East) Limited v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/84/3, Schiedsspruch vom 20. Mai 1992, Rn. 215 ff. 49 Vgl. auch näher Ripinsky/Williams Damages in International Investment Law, 2008, S. 291; Marboe Calculation of Compensation and Damages in International Investment Law, 2. Aufl. 2017, Rn. 3.225 ff. 50 Laut den zitierten Fällen soll dies im Völkerrecht der Fall sein. Im Übrigen soll dies beispielsweise im französischen, britischen und US-amerikanischen Recht der Fall sein, vgl. Sapphire International Petroleums Ltd. v. National Iranian Oil Company, Schiedsspruch vom 15. März 1963, 35 ILR 136, 188 (1967). 41

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Diese Praxis wurde als nicht sehr präzise kritisiert und hat auch keine weitreichende Anwendung gefunden.51

IV. Schadensschätzungen bei Abweichungen von den Annahmen der betreffenden Partei Eine Schadensschätzung kommt auch in Betracht, wenn der Schiedskläger seinen Schaden auf eine Reihe von Annahmen stützt, das Schiedsgericht jedoch nicht alle dieser Annahmen für bewiesen hält. Das mag beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Schiedskläger seinen Schaden mit Blick auf verlorene zukünftige Einnahmemöglichkeiten formuliert und dabei auf komplexe DCF-Berechnungen zurückgreift. Solche Berechnungen basieren typischerweise auf einer Vielzahl verschiedener Annahmen. So werden der DCF-Analyse im Ausgangspunkt in der Regel zukünftige Verkaufs- oder Umsatzzahlen zu Grunde gelegt, welche z.B. auf Basis von Zahlen aus der Vergangenheit mit Hilfe einer angenommenen jährlichen Wachstumsrate projiziert werden.52 Gleichzeitig werden angenommene Investitionskosten, operative Kosten, Steuern und andere Abzüge berücksichtigt. Schließlich müssen die ermittelten Überschüsse (sog. freie Cash Flows) abgezinst werden. In die Ermittlung des insoweit anwendbaren Abzinsungssatzes gehen wiederum eine Vielzahl von Annahmen ein, beispielsweise hinsichtlich der sog. Länderrisikoprämie (country risk premium, einer Kennzahl des Risikos der wirtschaftlichen Tätigkeit in einem bestimmten Land).53 Wenn das Schiedsgericht nur eine der relevanten Annahme nicht teilt, wird es vom Ergebnis der Berechnung häufig nicht mehr überzeugt sein und dieses Ergebnis daher seinem Schiedsspruch nicht mehr ohne weiteres zu Grunde legen können. In manchen Fällen kann das Schiedsgericht auf der Grundlage geänderter Ausgangswerte den Schaden selbst berechnen: Das Schiedsgericht in Lahoud v. DRC beispielsweise griff auf eine Discounted-Cash-Flow-Berechnung der Kläger zurück, und zwar indem es die Ausgangszahlen der Berechnung auf Basis eigener Annahmen pauschal nach unten korrigierte und sodann die Berechnung selbst neu durchführte.54 Meist aber sind die Berechnungen so komplex, dass sie nur von Experten durchgeführt werden können. Mit anderen Worten kann das Schiedsgericht also meist nicht einfach die Annahme der Partei durch seine eigene Annahme ersetzen. Es könnte in diesem Fall den Anspruch abweisen mit Blick darauf, dass der Schiedskläger seinen 51

Marboe a.a.O., Rn. 3.231. Vgl. näher Marboe a.a.O., Rn. 5.96 ff. 53 Vgl. näher Marboe a.a.O., Rn. 4.104 ff. 54 Antoine Abou Lahoud and Leila Bounafeh-Abou Lahoud v. Democratic Republic of the Congo, ICSID Case No. ARB/10/4, Schiedsspruch vom 7. Februar 2014, Rn. 598–602. 52

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Anspruch in einem Punkt – dem Quantum – nicht hinreichend dargelegt oder bewiesen habe. Dafür könnte sprechen, dass ein Schiedskläger regelmäßig in Alternativen vortragen muss – denn er kann nicht (oder sollte nicht) davon ausgehen, dass er in allen Punkten seines Vortrags durchdringt. Dieser Ansatz aber wird nicht in allen Fällen überzeugen. Wenn beispielsweise die Schadensberechnung in acht verschiedenen Punkten Weichenstellungen berücksichtigen muss, liegt die Zahl der Varianten schon bei 256. Zudem sind nicht alle der Weichenstellungen binär: so haben etwa zukünftige Absatzzahlen oder Kostenpositionen regelmäßig Spannen, bei denen der berechnete Schaden nicht proportional zu den betreffenden Ausgangszahlen ist. In einem solchen Fall mag es nicht angemessen sein, hilfsweise Berechnungen in einer sehr hohen Zahl an Varianten zu verlangen. Natürlich gibt es verfahrensrechtliche Methoden, um das Problem in den Griff zu bekommen. Insbesondere Hinweise oder Zwischenentscheidungen des Schiedsgerichts kommen insofern in Betracht. Für den Rückgriff auf diese Methoden spricht, dass ein Schiedsgericht grundsätzlich eine weitere Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen sollte, wenn es seine Entscheidung auf einen Aspekt stützen will, zu dem noch von keiner der Parteien vorgetragen wurde.55 Die Art und Weise sowie der Zeitpunkt einer solchen Äußerung werden von Fall zu Fall verschieden sein. In manchen Fällen lässt sich durch eine geschickt gestaltete Case Management Conference vor der letzten Schriftsatzrunde oder in Vorbereitung des Hearings dergestalt Einfluss auf die Parteien nehmen, dass diese zu bestimmten bisher noch vernachlässigten Varianten Stellung nehmen (oder dafür Sorge tragen, dass ihre Gutachter dazu im Hearing „sprechfähig“ sind). Wenn sich das Schiedsgericht eine Meinung erst im Hearing bilden kann, kommt auch ein Teilschiedsspruch oder Hinweisbeschluss zu den relevanten Punkten in Betracht, mit anschließender Fortsetzung des Verfahrens.56 Diese Varianten verzögern die Erledigung des Verfahrens allerdings möglicherweise erheblich, denn die Folge wäre eine separate Verfahrensphase zur Schadenshöhe. In der Praxis von Investitionsschiedsgerichten sind Fälle bekannt, in denen eine separate Verfahrensphase zur Schadenshöhe allein zwei bis drei Jahre dauerte.57 Aus diesem Grund kann das Schiedsgericht auch eine Schätzung des Schadens in Betracht ziehen – wenn dies in Abwägung der Vor- und 55 Hanefeld/Nedden in Salger/Trittmann, Internationale Schiedsverfahren, 2019, § 20, Rn. 44; Sachs/Lörcher Arbitration Germany, § 1042, Rn. 16; Wilske/Markert BeckOK ZPO, § 1042, Rn. 10. 56 Vgl. näher Lange in Akbaba/Capurro, International Challenges in Investment Arbitration, 2019, S. 214, 230. 57 Vgl. Total S.A. v. The Argentine Republic, ICSID Case No. ARB/04/01, Schiedsspruch vom 27. November 2013, Rn. 1; Hochtief AG v. The Argentine Republic, ICSID Case No. ARB/07/31, Schiedsspruch vom 19. Dezember 2016, Rn. 6.

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Nachteile der angemessenere Weg ist. In Swiss Lion v. Macedonia58 beispielsweise bestand das Problem, dass die Klägerin keine Schadensberechnung vorgelegt hatte, die zu den rechtlichen Feststellungen des Schiedsgerichts hinsichtlich des Haftungsgrundes passte. Konkret hatte die Klägerin ihre Schadensberechnung auf Basis der Annahme erstellt, dass eine rechtswidrige Enteignung der Investition stattgefunden habe.59 Unter Anwendung der DCF-Methode hatte die Klägerin sodann einen Schaden von ca. EUR 16 Millionen berechnet,60 was dem kompletten Verlust der Investition entsprechen sollte. Das Schiedsgericht kam jedoch zu dem Schluss, dass keine rechtswidrige Enteignung erfolgt sei. Vielmehr habe lediglich eine Verletzung des FET-Gebots vorgelegen, und zwar nur im Hinblick auf sehr eng umgrenzte Aspekte.61 Daher konnte die Schiedsbeklagte nicht für den kompletten Verlust der Investition verantwortlich gemacht werden, sondern nur für eine leichte Beeinträchtigung – sodass auch nur Schadensersatz für diese leichte Beeinträchtigung geschuldet war. Vor diesem Hintergrund sah das Schiedsgericht geringen Nutzen in der Schadensberechnung der Klägerin62 und wich stattdessen auf eine Schätzung aus.63 Auch in anderen Fällen lösten Schiedsgerichte das Problem der Abweichung von den Annahmen der Parteien über Schadensschätzungen. In Gold Reserve v. Venezuela lehnte das Schiedsgericht die Länderrisikoprämien und damit die Abzinsungssätze ab, die beide Seiten in ihren jeweiligen DCF-Analysen zu Grunde gelegt hatten.64 Das Schiedsgericht schätzte dann selbst eine angemessene Länderrisikoprämie und errechnete auf dieser Basis seinen eigenen Abzinsungssatz.65 Allerdings sah sich das Schiedsgericht sodann nicht in der Lage, eine neue DCF-Analyse auf Basis dieses Abzinsungssatzes durchzuführen. Stattdessen zog das Schiedsgericht einen geschätzten Betrag von der Schadenssumme ab, die der Sachverständige des Schiedsklägers berechnet hatte, um dem angepassten Abzinsungssatz pauschal Rechnung zu tragen.66 Ähnlich orientierte sich das Schiedsgericht in Rumeli v. Kazakhstan an einer Discounted-Cash-Flow-Berechnung der Schiedskläger und korrigierte deren Ergebnis pauschal von USD 227 Mio.

58 Swisslion DOO Skopje v. The Former Yugoslav Republic of Macedonia, ICSID Case No. ARB/09/16, Schiedsspruch vom 6. Juli 2012. 59 Swisslion v. Macedonia, a.a.O., Rn. 339. 60 Swisslion v. Macedonia, a.a.O., Rn. 331. 61 Swisslion v. Macedonia, a.a.O., Rn. 259 ff., 337, 339–340. 62 Swisslion v. Macedonia, a.a.O., Rn. 339. 63 Swisslion v. Macedonia, a.a.O., Rn. 350. 64 Gold Reserve Inc. v. Bolivarian Republic of Venezuela, ICSID Case No. ARB(AF)/ 09/1, Schiedsspruch vom 22. September 2014, Rn. 841. 65 Gold Reserve Inc. v. Bolivarian Republic of Venezuela, a.a.O., Rn. 842. 66 Gold Reserve Inc. v. Bolivarian Republic of Venezuela, a.a.O.

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auf USD 125 Mio. nach unten, weil es aufgrund verschiedener Umstände das ursprüngliche Ergebnis nicht für realistisch hielt.67 Für den Weg über eine Schadensschätzung können in vielen Fällen prozessökonomische Erwägungen sprechen. So meinte beispielsweise das Schiedsgericht in Middle East Cement v. Egypt, dass es mit Blick auf den Streitwert zu zeitaufwändig und teuer wäre, weitere gutachterliche Stellungnahmen zum Schaden einzuholen, und dass daher eine Schätzung vorzuziehen sei.68 Bei einem solchen Vorgehen werden sich Schiedsgerichte in der Regel auf das Effizienzgebot berufen können, das in vielen Schiedsordnungen ausdrücklich festgehalten ist.69 Ob ein Schiedsgericht sich letztlich für eine Schätzung oder eine Fortsetzung des Verfahrens entscheidet, kann das Schiedsgericht im Rahmen des weiten schiedsrichterlichen Ermessens regelmäßig frei bestimmen. Aus praktischer Sicht spricht viel für eine Schadensschätzung, wo das Schiedsgericht nur geringfügig von den Annahmen der Parteien abweicht, der Abstand zwischen den Positionen der Parteien nicht besonders groß ist oder das Schiedsgericht anderweitig genug Informationen für eine belastbare Schadensschätzung aus dem Verfahrensstoff ableiten kann. Wo das Schiedsgericht demgegenüber keinerlei vernünftige Grundlage für eine Schadensschätzung auf Basis seiner eigenen Annahmen sieht, wird weiterer Vortrag der Parteien zur Schadenshöhe sinnvoll sein. Im Zweifel sollte das Schiedsgericht den beschwerlicheren Weg einer Zwischenentscheidung mit weiterem Vortrag und ergänzten Gutachten (sowie typischerweise einem weiteren Hearing) gehen. Niemals eine Lösung sollte hingegen das schlichte „Splitting the baby“ sein.70 Vereinzelt haben Schiedsgerichte im Rahmen einer Schadensschätzung einen Betrag zugesprochen, der genau der Mitte zwischen den Positionen der Parteien entsprach. In Santa Elena v. Costa Rica beispielsweise musste das Schiedsgericht den Wert eines enteigneten Grundstücks bestimmen.71 Die Schiedsklägerin berief sich auf eine Bewertung aus dem Jahr der Enteignung, nach der das Grundstück einen Wert von USD 6.400.000 gehabt haben soll.72 Demgegenüber stützte sich die Schiedsbeklagte auf eine Bewertung aus dem selben Jahr, nach der das Grundstück nur USD 1.900.000 wert gewesen sei.73 67

Rumeli Telekom A.S. and Telsim Mobil Telekomunikasyon Hizmetleri A.S. v. Republic of Kazakhstan, ICSID Case No. ARB/05/16, Schiedsspruch vom 29. Juli 2008, Rn. 813–814. 68 Middle East Cement Shipping and Handling Co. S.A. v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/99/6, Schiedsspruch vom 12. April 2002, Rn. 150. 69 Vgl. nur Art. 25(1) ICC-Schiedsordnung (2017); Art. 27.1 DIS-Schiedsordnung (2018); Art. 14.4(ii) LCIA Rules (2014); Rule 19.1 SIAC Rules (2016). 70 Vgl. Ripinsky/Williams Damages in International Investment Law, 2008, S. 122. 71 Compañia del Desarrollo de Santa Elena, S.A. v. The Republic of Costa Rica, ICSID Case No. ARB/96/1, Schiedsspruch vom 17. Februar 2000, Rn. 74. 72 Santa Elena, S.A. v. Costa Rica, a.a.O., Rn. 88, 90, 93. 73 Santa Elena, S.A. v. Costa Rica, a.a.O.

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Das Schiedsgericht erklärte dann sehr kurz, dass es die von den Parteien vorgelegten Beweise und die für die Bewertung relevanten Umstände berücksichtigt habe, ohne dies näher zu erläutern.74 Dann legte es den Wert ohne weitere Begründung auf USD 4.150.000 fest –75 also genau auf die Mitte zwischen den beiden von den Parteien vorgetragenen Beträgen. Andere Fällen, in denen das Schiedsgericht den Schaden auf die Mitte des Parteivortrags schätzte, sind Middle East Cement v. Egypt76 und ICC-Fall Nr. 6573.77 Gegen die Wahl eines bloßen Mittelwerts spricht schon, dass dies Anreize für den Schiedskläger schafft, die Forderungen unrealistisch hoch zu beziffern.78 Der Schiedsbeklagte kann demgegenüber den Mittelwert nur eingeschränkt beeinflussen, da er nicht behaupten kann, dass der Anspruch weniger als null betrage.79

V. Fehler bei der Schadensschätzung als Aufhebungsgrund Schiedssprüche müssen im Regelfall begründet werden, sofern nicht die Parteien auf eine Begründung verzichten.80 In der Handelsschiedsgerichtsbarkeit wird das Fehlen einer Begründung als Abweichung vom vereinbarten oder gesetzlich vorgegebenen Verfahren gesehen, was regelmäßig einen Aufhebungsgrund darstellt81 und zur Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung nach der New-York-Konvention führt.82 Für ICSID74

Santa Elena, S.A. v. Costa Rica, a.a.O., Rn. 95. Santa Elena, S.A. v. Costa Rica, a.a.O. 76 Middle East Cement Shipping and Handling Co. S.A. v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/99/6, Schiedsspruch vom 12. April 2002, Rn. 150. 77 Seller v. Carrier, ICC Case No. 6573, 20 Yearbook Commercial Arbitration (1995), S. 110 ff. 78 Vgl. zu diesem auch als „ankern“ bezeichneten Vorgehen Harbst, A Counsel's Guide to Examining and Preparing Witnesses in International Arbitration, 2015, S. 55 f. 79 Die Sonderkonstellation, dass der Beklagte im Wege einer Widerklage einen Gegenanspruch verfolgt, dessen Bestehen vom Anspruch des Klägers unabhängig ist, sei hier ausgeklammert. 80 Vgl. nur Art. 31(2) UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (2006); § 1054(2) ZPO (Deutschland); § 606(2) ZPO (Österreich); Art. 34(3) UNCITRAL Rules (2010); Art. 32(2) ICC-Schiedsordnung (2017); Art. 39.2 (ii) DIS-Schiedsordnung (2018); Art. 48(3) ICSID-Konvention und Rule 47(1) lit. i ICSID Arbitration Rules (2006); Art. 42(1) SCC Rules (2017). 81 Vgl. zu § 1059(2) Nr. 1d ZPO Münch Münchener Kommentar, § 1054 ZPO Rn. 18; Schlosser Stein/Jonas, § 1054, Rn. 17; Geimer Zöller, § 1059, Rn. 45. Vgl. zum weiteren denkbaren Aufhebungsgrund einer Verletzung des rechtlichen Gehörs bei unzureichender Auseinandersetzung mit dem Parteivortrag in der Begründung BGH BeckRS 2019, 23336 (sehr weitgehend und unverständlicherweise eine Zurückverweisung ablehnend). 82 Gemäß Art. V(1)(d) New-York-Konvention, vgl. Nacimiento in Kronke/Nacimiento/Otto/Port Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, 2010, S. 296. 75

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Schiedssprüche bestimmt die ICSID-Konvention sogar ausdrücklich, dass das Fehlen der Begründung des Schiedsspruchs ein Aufhebungsgrund ist.83 Primärer Anwendungsfall für diese Aufhebungsgründe und Anerkennungs- und Vollstreckungshindernisse ist das völlige Fehlen einer Begründung.84 Eine weitergehende Anwendung auf unzureichend begründete Schiedssprüche ist demgegenüber nur in engen Ausnahmefällen möglich. Während die genaue Umschreibung solcher Ausnahmefälle in Rechtsprechung und Literatur variiert, geht es im Ergebnis um Situationen, in denen sich die Begründung auf inhaltsleere Wendungen beschränkt, offensichtlich wiedersinnig oder so lückenhaft ist, dass sie überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist.85 Nicht gemeint sind Situationen, in denen das über die Aufhebung oder Anerkennung entscheidende Organ die Begründung für inhaltlich falsch hält oder die Begründung bloß lückenhaft, aber trotzdem noch nachvollziehbar erscheint.86 Denn andernfalls würde das Aufhebungs- oder Anerkennungsverfahren auf eine révision au fond hinauslaufen, wodurch die von den Parteien vereinbarte Entscheidungsgewalt des Schiedsgerichts in der Sache konterkariert würde.87 Schiedsgerichte machen es sich allerdings durchaus mitunter relativ einfach in ihrer Begründung. In extremen Fällen findet sich fast gar keine nachvollziehbare Begründung. So stellte beispielsweise das Schiedsgericht in Santa Elena v. Costa Rica lediglich die Positionen der Parteien dar und erklärte danach, dass nach Berücksichtigung aller Beweismittel und relevanter Faktoren (die das Schiedsgericht nicht nannte) ein bestimmter Betrag angemessen sei.88 Noch knapper fiel die Begründung in Sedelmayer v. Russian 83

Art. 52(1) lit. e ICSID-Konvention. Vgl. zur Aufhebung nach deutschem Recht Schlosser Stein/Jonas, § 1054, Rn. 17; Münch Münchener Kommentar, § 1054 ZPO Rn. 18. Vgl. zur Nichtanerkennung nach der New-York-Konvention Born International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, S. 3048. Vgl. zur Aufhebung nach der ICSID-Konvention Reed/Paulsson/Blackaby Guide to ICSID Arbitration, 2010, S. 165. 85 Vgl. zur Aufhebung nach deutschem Recht Geimer Zöller, § 1054, Rn. 8; Münch Münchener Kommentar, § 1054 ZPO Rn. 29; Voit Musielak/Voit, Rn. 4. Vgl. zur Aufhebung nach der ICSID-Konvention Maritime International Nominees Establishment (MINE) v. Republic of Guinea, ICSID Case No. ARB/84/4, Entscheidung über Guineas Antrag auf Aufhebung vom 14. Dezember 1989, Rn. 5.08 f.; Reed/Paulsson/Blackaby Guide to ICSID Arbitration, 2010, S. 165. 86 Vgl. zur Aufhebung nach deutschem Recht Voit Musielak/Voit, Rn. 4; Münch Münchener Kommentar, § 1054 ZPO Rn. 29; Schlosser Stein/Jonas, § 1054, Rn. 17. Vgl. zur Aufhebung nach der ICSID-Konvention Maritime International Nominees Establishment (MINE) v. Republic of Guinea, ICSID Case No. ARB/84/4, Entscheidung über Guineas Antrag auf Aufhebung vom 14. Dezember 1989, Rn. 5.08 f.; Wena Hotels Ltd. v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/98/4, Entscheidung über Ägyptens Antrag auf Aufhebung vom 28. Januar 2002, Rn. 77. 87 Born International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, S. 3044. 88 Compañia del Desarrollo de Santa Elena, S.A. v. The Republic of Costa Rica, ICSID Case No. ARB/96/1, Schiedsspruch vom 17. Februar 2000, Rn. 85–95. 84

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Federation aus. Das Schiedsgericht hatte den Wert konfiszierter Gegenstände zu bewerten. Vor dem Hintergrund verschiedener Beweisschwierigkeiten stellte das Schiedsgericht fest, dass der fällige Schadensersatz mit großer Vorsicht zu ermitteln sei, und hielt einen Betrag von USD 400,000 für angemessen.89 Andere Schiedsgerichte haben ihre Erwägungen demgegenüber transparenter gemacht – ohne dass dies jedoch notwendigerweise das erzielte Ergebnis wesentlich klarer gemacht hätte. So listete beispielsweise das Schiedsgericht in Gemplus v. Mexico über mehrere Seiten auf, welche rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen es bei der Schätzung berücksichtigt hatte.90 Es schloss seine Ausführungen sodann mit der Feststellung der geschätzten Schadenssumme.91 Dabei ergab sich allerdings kein klarer Zusammenhang zwischen den berücksichtigten Faktoren und der festgestellten Schadenssumme, und auf Basis der Begründung hätte eine andere Schadenssumme genauso plausibel sein können. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen einer längeren Erklärung zu den berücksichtigten Faktoren und einer dann nur eingeschränkt nachvollziehbaren Feststellung zur Schadenssumme findet sich beispielsweise auch in Petrobart v. Kyrgyz Republic92 und in Unglaube v. Costa Rica.93 Auch in Fällen sehr knapper Begründung wird eine Aufhebung oder Nichtanerkennung wegen ungenügender Begründung einer Schadensschätzung jedoch nur äußerst selten in Betracht kommen.94 Gleichwohl sollte ein Schiedsgericht die Schadensschätzung so detailliert wie möglich begründen. Durch die Begründung des Schiedsspruchs wird den Parteien deutlich gemacht, dass ihr Vortrag gehört95 und dass auf der Basis von Recht (und nicht von Willkür) entschieden wurde.96 Eine nicht sorgsam begründete Schätzung ohne klaren Bezug auf die im Verfahren diskutierten Zahlen wird auf nur wenig Akzeptanz stoßen. Idealerweise sollten Schiedsgerichte daher auch ausführen, von welchen konkret von den Parteien behaupteten oder aus Beweismitteln hervorgehenden Zahlen sie ausgehen, welche Annahmen 89

Franz Sedelmayer v. The Russian Federation, SCC-Schiedsspruch vom 7. Juli 1998,

S. 92. 90

Gemplus S.A. et al. v. The United Mexican States und Talsud S.A. v. The United Mexican States, ICSID Cases No. ARB(AF)/04/3 und No. ARB(AF)/04/4, Schiedsspruch vom 16. Juni 2010, Rn. 13–62 ff. 91 Gemplus v. Mexico, a.a.O., Rn. 13–100. 92 Petrobart Limited v. The Kyrgyz Republic, SCC Case No. 126/2003, Schiedsspruch vom 29. März 2005, S. 83 f. 93 Unglaube v. Republic of Costa Rica, ICSID Case No. ARB/09/20, Schiedsspruch vom 16. Mai 2012, Rn. 304–318. 94 Vgl. Waincymer Procedure and Evidence in International Arbitration, 2012, S. 1320 f. 95 Vgl. Born International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, S. 3042; Waincymer Procedure and Evidence in International Arbitration, 2012, S. 1318 f. 96 Vgl. Waincymer a.a.O., S. 1317.

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der Parteien sie nicht teilen, warum sich dies wie genau auf den Schadensbetrag auswirkt und warum sie es angemessen fanden, insoweit im Wege der Schadensschätzung vorzugehen.

VI. Fazit Schiedsgerichte greifen regelmäßig auf das Instrument der Schadensschätzung zurück. Insoweit können sie sich auf das ihnen eingeräumte Recht zur freien Beweiswürdigung stützen. Schadensschätzungen helfen, um über Beweisschwierigkeiten für den Schiedskläger hinwegzuhelfen – insbesondere in Fällen, in denen feststeht, dass ein Schaden eingetreten ist, dessen Höhe aber nur schwer beziffert werden kann. Das gilt auch in den Fällen, in denen der Schiedskläger nicht alle Tatsachen hat beweisen können, die seiner Schadensberechnung zu Grunde lagen. Gerade bei Fällen mit komplexem Sachverhalt und dementsprechend vielen Berechnungsvariablen muss weder eine Abweisung der Klage noch eine separate Verfahrensphase nach Zwischenentscheidung der beste Weg für das Schiedsgericht sein. Stattdessen kann eine Schadensschätzung durch das Schiedsgericht – gerade auch mit Blick auf die dadurch erzielten Effizienzvorteile – angemessen sein. Die Schätzung des Schadens kommt auch dann in Betracht, wenn die Schadensberechnung auf komplizierten Berechnungsmodellen beruht, die sich auf einer Reihe bestimmter Annahmen stützen. Wenn der Schiedskläger in solchen Fällen den vom Schiedsgericht im Ergebnis zu Grunde gelegten Sachverhalt gerade nicht als Berechnungsvariante abgedeckt hat, wird dies allenfalls im Ausnahmefall zur Klageabweisung mangels Darlegung (und Beweis) des eingetretenen Schadens führen. Vielmehr kann das Schiedsgericht in solchen Fällen entweder das Verfahren weiterführen, nachdem es die zu Grunde zu legende Sach- und Rechtslage festgestellt hat – oder eben den Schaden schätzen. Welche dieser beiden Optionen das Schiedsgericht wählt, wird von einer Reihe von Faktoren abhängen, die im Einzelfall zum Ausgleich zu bringen sind. Für eine Schätzung sprechen insbesondere die damit verbundene Zeit- und Kostenersparnis; dagegen sprechen die Ziele einer größeren „Ergebnisrichtigkeit“ und der Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Die Entscheidung zwischen beiden Wegen liegt jedoch allein im Ermessen des Schiedsgerichts und wird allenfalls in extremen Fällen Aufhebungsangriffen zugänglich sein.

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Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln

Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln Nicole Conrad unter Mitarbeit von Mareike Klappert

Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln aus Schweizer- und deutscher Sicht NICOLE CONRAD MITARBEIT MAREIKE KLAPPERT

UNTER VON

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aktuelle Rechtslage in der Schweiz 1. Testamentarische Schiedsklausel . 2. Stiftungen und Trusts . . . . . . . . 3. Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . 4. Immaterialgüterrecht . . . . . . . . III. Aktuelle Rechtslage in Deutschland 1. Letztwillige Verfügungen . . . . . . 2. Stiftungen und Gesellschaftsrecht 3. Immaterialgüterrecht . . . . . . . . IV. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Grundsatz der Privatautonomie beinhaltet für Schiedsvereinbarungen das Recht, eine bestehende oder zukünftige Streitigkeit aus einem bestimmten oder bestimmbaren Rechtsverhältnis der Zuständigkeit der staatlichen Gerichte zu entziehen und einem privaten Schiedsgericht zu überantworten. Im Gegensatz zu zweiseitigen Schiedsklauseln, wie z.B. in Kaufverträgen, bilden einseitige Schiedsklauseln den Gegenstand anhaltender Diskussionen in den unterschiedlichen Jurisdiktionen.1 Dies ist letztendlich auf die (bisher) fehlenden bzw. nicht ausreichenden gesetzlichen Grundlagen zurückzuführen, sofern man sich wie im vorliegenden Ansatz, auf Deutschland und die Schweiz konzentriert. Betrachtet man die Einsatzmöglichkeiten einseitiger Schieds1

Picht, Peter Georg, einseitige Schiedsklauseln in der Schweizer Schiedsrechtsrevision, SJZ 114 (2018), S. 205; Jane Werner/Sykora Daniel/Glatthard Nicklaus, Arbitration in matters of succession with special consideration of the Regulation (EU) No. 650/2012, bArbitra 1/2015, 45.

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Nicole Conrad unter Mitarbeit von Mareike Klappert

klauseln, wird ersichtlich, dass sich ihr Anwendungsbereich nicht auf Testamente beschränkt. Mindestens genauso wichtig und praktisch relevant sind Stiftungen und Trusts sowie das Immaterialgüter- und Gesellschaftsrecht.

II. Aktuelle Rechtslage in der Schweiz Die Schweiz zählt international zu einem der bedeutendsten Schiedsorte. Um diese Position zu erhalten, wenngleich nicht sogar auszubauen, hat die Schweiz die Neuregelung des 12. Kapitels des Internationalen Privatrechtsgesetzes beschlossen. In der dazugehörigen Botschaft heißt es, dass das neue Gesetz die Anwenderfreundlichkeit des Schiedsverfahrensrechts erhöhen möchte.2 Der Entwurf regelt neu ausdrücklich, dass die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts auch auf einer formgültig errichteten Schiedsklausel beruhen kann, die in einem einseitigen Rechtsgeschäft (z.B. letztwillige Verfügung, Stiftung, Trust, Statuten) enthalten ist, wenn dieses nach Maßgabe des darauf anwendbaren materiellen Rechts wirksam errichtet wurde. Am Beispiel einer Schiedsklausel in einem Testament wird die Umsetzung von Artikel 178 Absatz 4 E-IPRG illustriert: Gemäß Artikel 178 Absatz 2 IPRG richtet sich die Gültigkeit einer Schiedsvereinbarung (oder Schiedsklausel) nach dem von den Parteien bzw. der Partei gewählten, dem auf die Streitsache anwendbaren oder aber nach schweizerischem Recht.3 Gelangt schweizerisches Recht zur Anwendung, ist eine Schiedsklausel in einem Testament unmittelbar aufgrund von Artikel 178 Absatz 4 E-IPRG in Verbindung mit Absatz 2 zukünftig zulässig. Unter welchen Voraussetzungen einer Schiedsklausel in einem Testament Bindungswirkung zukommt, beurteilt sich sodann ebenfalls nach dem gemäß Artikel 178 Absatz 2 IPRG zu bestimmenden Recht. Handelt es sich dabei um schweizerisches Recht, so beurteilt sich die Bindungswirkung nach dem materiellen (schweizerischen) Recht. Im Fall einer testamentarischen Schiedsklausel also nach den Bestimmungen des Erbrechts. Parallel wird auch Art. 358 E-ZPO um einen identischen Absatz ergänzt, sodass ein Gleichlauf gewährleistet ist.4 Nach noch geltender Rechtslage ist eine gesetzliche Grundlage für einseitige Anordnungen eines Schiedsverfahrens dagegen weder für die Internationale Schiedsgerichtsbarkeit im IPRG, noch für die Binnenschiedsgerichtsbarkeit in der ZPO vorgesehen. Dies rief in der Vergangenheit ein großes Meinungsspektrum hinsichtlich der Zulässigkeit einseitiger Anordnungen hervor, was eine 2 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit), S. 7164. 3 Nicht Peter Georg/Chroback Lennard, Einseitige Schiedsklauseln in der Schweizer Schiedsrechtrevision, SJZ 114 (2018), S. 233. 4 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel) vom 24. Oktober 2018 S. 7189.

Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln

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für die Praxis äußerst nachteilige Rechtsunsicherheit hervorrief und den Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln jedenfalls faktisch einschränkte. 1. Testamentarische Schiedsklausel Das Bedürfnis des Erblassers eventuelle Streitigkeiten der Erben hinsichtlich des Nachlasses einem privaten Schiedsgericht zu unterstellen, ist einleuchtend, da dies nicht nur die Öffentlichkeit ausschließt, sondern auch eine schnelle und fachkompetente Lösung verspricht. Genau dies wünscht sich der Erblasser für seine Erben, welche in der Regel seine Angehörigen sind. Allerdings konnte dem Erblasser in der Praxis bisher nicht geraten werden, eine testamentarische Schiedsklausel in sein Testament aufzunehmen, ohne zu riskieren, dass diese als unzulässig angesehen wird. Es mussten vielmehr andere Wege gefunden werden, die letztendlich doch einen Konsens der Beteiligten hinsichtlich der Schiedsgerichtsbarkeit erforderten. Mit der Zulässigkeit testamentarischer Schiedsklauseln hat sich die schweizerische Rechtsprechung bisher nur sehr einschränkt beschäftigt. Namentlich gibt es zwei Entscheidungen des Zürcher Obergerichts aus den 1980er Jahren, welche im Ergebnis eine Zulässigkeit verneinen.5 Wie nicht anders zu erwarten, hat sich die Literatur mit Thema umso eingehender beschäftigt. Es werden zwei entgegenstehende Meinungen vertreten. Eine ältere damals überwiegende Meinung im Schrifttum stand der Zulässigkeit testamentarischer Schiedsklauseln ablehnend gegenüber.6 Allerdings gab es auch schon zu diesem Zeitpunkt Befürworter, welche eine Zulässigkeit jedenfalls zum Teil unterstützen.7 Heute hat sich das Bild gedreht und die überwiegende Meinung in der Literatur geht von einer Zulässigkeit testamentarischer Schiedsklauseln aus.8 So wird argumentiert, dass das Prinzip der Privatautonomie, welches der Schiedsgerichtsbarkeit zugrunde liege, (wenn auch unterschiedlich im Vertragsrecht wie im Erbrecht) mit dem Zustandekommen der Bindungswirkung zwischen den Beteiligten realisiert werde, sodass eine Gleichbehandlung geboten sei.9 5 OGer Zürich, Urteil vom 01. Oktober 1980, ZR 80/1981 S. 26 ff.; OGer Zürich, Beschluss vom 16. Februar 1987, ZR 88/1989 S. 239 f.; Weniger Schmid Renate in Neues zum Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht zum 50. Geburtstag von Peter Forstmoser, 1993 S. 353 ff. 6 Walder-Bohner Hans Ulrich Das Schweizerische Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit, 1982, Rn. 27; Riemer Hans Michael in Festschrift für Hans Ulrich Walter zum 65. Geburtstag 1994 S. 381 f. 7 Habscheid J. Walther, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Auflage 1990, Rn. 852; Wenninger Schmid Renate Schiedsklauseln S. 356 unten; SutterSomm/Hasenböhler/Leuenberger ZPO Züricher Art. 28 Rn. 25. 8 Göksu Tarkan Schiedsgerichtsbarkeit, 2014, Rn. 530; Künzle Hans Rainer in Successio 2010, S. 281 (289 f.). 9 Schlumpf Michael Testamentarische Schiedsklauseln, 2011, S. 58 ff. in Anlehnung an Haas Ulrich in ZEV 2007, S. 49(50).

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Darüber hinaus ist auch umstritten, inwiefern erbrechtliche Ansprüche objektiv schiedsfähig sind, also von der testamentarischen Schiedsklausel erfasst werden.10 Ein Teil der Literatur beschränkt die Schiedsfähigkeit auf Ansprüche, die die verfügbare Quote betreffen.11 Andere befürworten dagegen eine Erstreckung auf Pflichtteilsansprüche.12 Allerdings gibt es immer noch Vertreter, die eine Zulässigkeit testamentarischer Schiedsklauseln nach wie vor ablehnen.13 Begründet wird dies unter anderem damit, dass weder nach dem Gesetzeswortlaut des IPRG noch der ZPO eine Schiedsvereinbarung vorliege.14 Außerdem werde dem Erben die Möglichkeit der unentgeltlichen Rechtspflege mit Verweisung auf ein privates Schiedsgericht entzogen.15 Die neue Regelung des Art. 178 Absatz 4 E-IPRG wird jedenfalls hinsichtlich des erst genannten Arguments, dieser Meinung in Zukunft die Grundlage entziehen. Allerdings bleibt abzuwarten, inwiefern sie eine Rechtssicherheit hinsichtlich der objektiven Schiedsfähigkeit schaffen kann, da diese gemäß Art. 177 Absatz 1 IPRG nach wie vor auf der Grundlage des materiellen Rechts zu beurteilen ist. Der Bundesrat lässt in seiner Botschaft verlauten, dass er außer dem neu hinzugefügten Absatz keine speziell auf einseitige Schiedsklauseln zugeschnittene Regelungen erlassen, sondern die sinngemäße Auslegung und Anwendung der vorhandenen Vorschriften der Lehre und Rechtsprechung überlassen will.16 Allerdings verweist er „allgemein“ auf die Ausführungen von Gränicher, welcher eine Bindungswirkung nur dann annimmt, wenn die Schiedsklausel Ansprüche betrifft, die durch die letztwillige Verfügung begründet werden. Bei einer Änderung bestehender Rechte sei dagegen die Schiedsklausel nicht verpflichtend, da die Begünstigten ihr Recht gerade nicht vom Anordnenden

10 Weiterführend hierzu Künzle Hansjörg in Schiedsabreden in Testamenten und Erbverträgen, 1999 Band 3, S. 25 ff. 11 BSK IPRG-Gränicher Art. 178 Rn. 64; Wenninger Schmid Renate Schiedsklauseln S. 356 unten; Rüede Thomas, Hadenfeldt, Reimer Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 1993 S. 45. 12 Göksu, Tarkan Schiedsgerichtsbarkeit 2014, Rn. 530; Künzle Hans Rainer in Successio 2010, S. 281 (290) ebenso in Festschrift für Peter Breitschmid 2019, S. 403 (416 f.). 13 Sutter-Somm Thomas, Ammann Dario, Die Revision des Erbrechts, 2016 Rn. 145– 146. 14 Sutter-Somm Thomas, Ammann Dario, Die Revision des Erbrechts, 2016 Rn. 145– 146; Pestalozzi-Früh Sybille in successio 2011, 170 (171 f.). 15 Sutter-Somm Thomas/Gut Nicolas, Schiedsklauseln, 152; Seiler Benedikt Die erbrechtliche Ungültigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungen in personeller Hinsicht, 2017, Rn. 102; Wolf Stephan, Genna Gian Sandro, Schweizerisches Privatrecht Band 4 2012 S. 108 f.; a.A. Haas Ulrich, Boris Jeffrey in ZZPInt 21 (2016) S. 323 (328) mit weiteren Verweisen. 16 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetztes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel) vom 24. Oktober 2018 S. 7189.

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ableiteten, sondern mit diesem bereits kraft Gesetzes in einer Rechtsbeziehung ständen.17 Insofern würde dies für Pflichtteilsansprüche jedenfalls bedeuten, dass eine Schiedsklausel zwar zulässig wäre, die Beteiligten aber nicht wirksam binden, sondern diesen lediglich das Recht einräumen würde vor ein privates Schiedsgericht zu ziehen.18 2. Stiftungen und Trusts Auch im Bereich von Stiftungen und Trusts bietet es sich an, dass der Stifter bzw. Settlor durch einseitige Anordnung die Schiedsgerichtsbarkeit bestimmt. Allerdings ist auch hier die Zulässigkeit ohne gesetzliche Regelung strittig.19 Geht man von der Situation aus, dass Dritten durch Vertrag Recht zuerkannt werden, hat man kein Problem, denn ein Mehr an Rechten schadet dem Dritten grundsätzlich nicht. Anders sieht es dagegen aus, wenn man Dritten Pflichten auferlegen will. Ein Vertrag zu Lasten Dritter ist weder in der Schweiz noch in anderen kontinental europäischen Rechtsordnungen anerkannt.20 Die einseitige Auferlegung der Pflicht seine Rechte unter Ausschluss der staatlichen Gerichte vor einem Schiedsgericht durchzusetzen, ist dieser Situation vergleichbar. Daher war nach bisher herrschender Meinung die Schiedsanordnung in der Stiftungs-bzw. Trusturkunde allein nicht ausreichend, sondern es musste ein Konsens der Beteiligten in irgendeiner Weise feststellbar sein, damit die Begünstigten bzw. der Beneficiary gebunden waren.21 Eine Möglichkeit eine Einigung zu erzielen wurde bisher auch darin gesehen, die Annahme der Begünstigung mit der Zustimmung zu der Schiedsklausel zu verknüpfen.22 Andere Teile der Literatur stehen einer einseitigen Anordnung dagegen befürwortend gegenüber. Argumentiert wird hier vor allem mit Verweis auf das materielle Recht, namentlich das allgemeine Schuldrecht, wo ebenfalls 17 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel) vom 24. Oktober 2018 S. 7189; BSK IPRG-Gränicher Art. 178 Rn. 63 f.; Haas Ulrich, Boris Jeffrey in ZZPInt 21 (2016) S. 323 (336). 18 So auch BSK IPRG-Gränicher Art. 178 Rn. 63. 19 Weitere Darstellung unter Einbezug rechtsvergleichender Aspekte Picht Peter Georg, Chrobak Lennart in SJZ 114/2018 S. 205 (210 ff.). 20 BSK – OR Pestalozzi Art. 111 Rn. 2; MüKoBGB 8. Aufl. 2019, Gottwald § 328 Rn. 261. 21 Rüede Thomas in Blessing Marc (Hrsg.), The Arbitration Agreement - Its Multifold critical aspects, 1994, S. 142 (144); Wüstemann Tina, Huber Roman in Strong S.I (Hrsg.), Arbitration of Trust Disputes: Issues in National and International Law, 2016, S. 393 (395 f.); Dardel Daniela, Trust in Arbitration, 2019 Rn. 434. 22 Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.) ZPO 2016 Art. 357 Rn. 18; Wüstemann Tina, Huber Roman in Strong S.I (Hrsg.), Arbitration of Trust Disputes: Issues in National and International Law, 2016, S. 393(396 f.) unter Betrachtung des“concept of deemed acquiesence“ im Englischen Recht.

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Fallkonstellationen anerkannt seien, bei welchen die Rechtslage einseitig geändert werde.23 Somit ist hiernach ein Konsens der Beteiligten zur Wirksamkeit der Schiedsanordnung entbehrlich.24 Im erläuternden Bericht sowie der Botschaft zum Gesetzesentwurf des Art.178 Absatz 4 E-IPRG lässt sich lesen, dass Stiftungserrichtungsakte sowie Trusts ein Anwendungsfall für einseitige Rechtsgeschäfte sein sollen, sodass sich die Standhaftigkeit einer Anordnung der Schiedsgerichtsbarkeit durch den Stifter bzw. Settlor in Zukunft aus Art. 178 Absatz 4 iVm. Absatz 2 E-IPRG ergeben muss.25 Hinsichtlich des erläuternden Berichts wurde bereits bemängelt, dass er keine weiteren dogmatischen Erklärungen hinsichtlich der Zulässigkeit liefert und einer Darstellung der Streitstände zu Stiftungen und Trusts völlig entbehrt.26 Allerdings stellt die Botschaft nun nochmals klar, dass weder die Zulässigkeit der Klausel nach materiellem Recht noch die Frage der Bindungswirkung Gegenstand der Revision seien.27 Diese Fragen müssen demnach von den Gerichten und der Wissenschaft gelöst werden. Nichtsdestotrotz bedeutet die Anwendung des Art. 178 Absatz 4 EIPRG auch hinsichtlich Stiftungsakten und Trusts einen wichtigen Schritt in Richtung Rechtssicherheit, da jedenfalls die Zulässigkeit einseitiger Schiedsklauseln geklärt ist.28 3. Gesellschaftsrecht Auch das Gesellschaftsrecht bildet einen Anwendungsbereich für einseitige Schiedsklauseln. Die schiedsrechtliche Literatur und die Rechtsprechung betrachten gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten überwiegend als schiedsfähig und folglich statutarische Schiedsklauseln als zulässig.29 23

Göksu Tarkan Schiedsgerichtsbarkeit 2014 Rn. 530. Göksu Tarkan Schiedsgerichtsbarkeit 2014 Rn. 530. 25 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 11. Januar 2017, S. 20; Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, 7188 f. 26 So etwa Picht Peter Georg, Chrobak, Lennart in SJZ 114/2018 S. 233 (234). 27 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, S. 7190. 28 Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 11. Januar 2017, S. 20; Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, 7188 f. 29 BSK IPRG-Gränicher, Art. 178, Rn. 63; Haas Ulrich, Boris Jeffrey in ZZPInt 21 (2016) S. 323 (327); Gösch, Schiedsgerichtsbarkeit, 2014, Rn. 529; bezüglich testamentarischer Schiedsklauseln Schlumpf, Testamentarische Schiedsklauseln, 2011, Rn. 206; bezüglich Trusts: Wüstemann Tina, Huber Roman in Strong S.I (Hrsg.), Arbitration of Trust Disputes: Issues in National and International Law, 2016, S. 393(393 f.).; BSK IPRGVogt/Pannatier, Kessler, Vor Art. 149a–e, Rn. 204 ff.; Wüstemann, Arbitrating Trust Dis24

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Es gibt allerdings zwei Möglichkeiten eine Schiedsklausel zu qualifizieren. Einerseits könnte man darin eine vertragliche Klausel, also eine Schiedsvereinbarung sehen, die den Konsens der Generalversammlung bzw. des Verwaltungsrates erfordert.30 Hinsichtlich der Gesellschaftsverträge von Personengesellschaften, Genossenschaften und Vereinen, wird man wohl letzteres annehmen, da hier die Mitgliedschaft der Gesellschafter im Vordergrund steht und somit letztendlich mit der Unterschrift ein Konsens vorliegt, was auch bedeutet, dass jeder neue Gesellschafter der Klausel zustimmen muss.31 Die Zulässigkeit einer Schiedsklausel in den Statuten von Personengesellschaften ist daher unproblematisch gegeben.32 Nicht ganz so eindeutig war der Fall bislang bei der Aktiengesellschaft. Hier wurde befürchtet, dass eine echte Statutenklausel, die nach einem Mehrheitsbeschluss gegenwärtige sowie zukünftige Aktionäre und Verwaltungsräte bindet, gegen Art. 680 OR verstoßen könnte, der neben einer Liberierungspflicht eine weitere Auferlegung von Pflichten zu Lasten des Aktionärs verbietet.33 Allerdings ist die vorgeschlagene Revision des Schweizer Aktienrechts auf dieses Problem eingegangen und erklärt statutarische Schiedsklauseln nun für zulässig.34 In Verbindung mit der neuen Regelung des Art. 179 Absatz 4 E-IPRG wird demnach auch für diesen Bereich Rechtssicherheit geschaffen, sodass dieser Anwendungsbereich für die Praxis in Zukunft erweitert und die Problematik hinsichtlich neu hinzutretender Gesellschafter vermieden wird.35

putes, in: Arroyo (Hrsg.), Arbitration in Switzerland. The Practitioner’s Guide, 2013, Rn. 18 ff.; Wüstemann, Anglo-Saxon trusts and (Swiss) arbitration; alternative to trust litigation in: Trusts & Trustees, 4/2012, S. 343; anderer bezüglich Stiftungen: Liatowitsch/ Fischer, Stiftungen und Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, in: Schurr (Hrsg.), Wandel im materiellen Stiftungsrecht und grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung durch Schiedsgerichte, 2013, S. 229 ff. 30 Picht Peter Georg, Chroback Lennart in SJZ 114/2018 S. 205 (213 f.); weiter zitiert Büchler Benjamin/von der Crone Hans Caspar, in SWZ 2010 S. 258 (261). 31 Picht Peter Georg, Chrobak, Lennart in SJZ 114/2018 S. 205 (214) mit Verweis auf Büchler Benjamin/von der Crone Hans Caspar in SWZ 2010 S. 258 (261 f.).; Berger/ Kellerhals (Fn. 15) 156; Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, S. 7191 unten mit Verweis auf Mauerhofer Marc André in GesKR 1/2011, S. 21 (26). 32 So auch Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, S. 7191 mit weiterer Verweisung auf BSK IPRG-Gränicher, Art. 178 Rn. 68. 33 Mauerhofer Marc André in GesKR 1/2011, S. 21(26); Büchler Benjamin, Von der Crone Hans Caspar in SWZ 2010 S. 258 (261). 34 Siehe Art. 697n E-OR; Botschaft zur Änderung des Obligationrechts (Aktienrecht) vom 23. November 2016 S. 546 f. 35 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit) vom 24. Oktober 2018, S. 7191.

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4. Immaterialgüterrecht Auch im Immaterialgüterrecht ist die Anwendung einseitiger Schiedsklauseln von wachsender Bedeutung. In der Praxis hilft die Festlegung eines Schiedsverfahrens dabei die ohnehin komplizierten Sachverhalte, die meist Schutzrechte verschiedener Rechtsordnungen betreffen, möglichst einem Recht zu unterwerfen und damit eine einfachere und interessengerechte Lösung zu finden.36 Zwar liegen hier dem Schiedsverfahren in der Regel Schiedsvereinbarungen zugrunde, da es entweder um Lizenzverträge geht oder gar um außervertragliche Streitigkeiten. Allerdings gibt es im Bereich FRAND37Lizenzierung von standardessentiellen Patenten (SEPs) Anwendungsbedarf für einseitige Schiedsklauseln. Jene haben sich als besonders streitanfällig erwiesen, sodass großes Interesse besteht, möglichst frühzeitig eine Konfliktlösungsmöglichkeit festzulegen.38 Mit einer einseitigen Schiedsklausel im Angebot des Patentinhabers, kann dies beispielsweise schon vor Vertragsschluss erreicht werden.39 Zwar ist die objektive Schiedsfähigkeit der Ansprüche noch nicht abschließend geklärt. Die große wirtschaftliche Bedeutung dieser Streitigkeiten macht eine Auseinandersetzung mit einseitigen Schiedsklauseln als Lösungsvorschlag aber jedenfalls interessant.40 III. Aktuelle Rechtslage in Deutschland Deutschland scheint der Schweiz mit einer gesetzlichen Regelung einen Schritt voraus zu sein. § 1066 D-ZPO regelt, dass die Vorschriften für Schiedsverfahren auch auf solche Schiedsgerichte anwendbar sind, die in gesetzlich statthafter Weise durch letztwillige oder andere nicht auf Vereinbarung beruhender Verfügung angeordnet wurden.41 Damit erkennt der Gesetzgeber die Zulässigkeit einseitiger Schiedsklauseln im Grundsatz an. Allerdings bedeutet dies nicht, dass § 1066 D-ZPO eine Antwort auf die Frage liefert, unter welchen genauen Voraussetzungen die Zulässigkeit einer konkreten einseitigen Schiedsklausel bejaht werden kann. Insbesondere der Wortlaut „in gesetzlich statthafter Weise“ bereitet Auslegungsschwierigkeiten.42 Anders als es bei dem neuen Art. 179 Absatz 4 iVm Absatz 2 E-IPRG der Fall sein wird, ergibt sich 36

Picht Peter Georg in GRUR 2017 S. 679 (679 f.). FRAND = fair, reasonable and non-discriminatory. 38 Picht Peter Georg, Chrobak Lennart in SJZ 114/2018 S. 205 (215) mit Verweis auf Picht Peter Georg, „FRAND wars 2.0“ – Rechtsprechung im Anschluss an die Huawai/ ZTE-Entscheidung des EuGH, WuW 2017. 39 Picht Peter Georg, Chrobak Lennart in SJZ 114/2018 S. 205 (215). 40 So auch Picht Peter Georg, Chrobak in SJZ 114/2018 S. 205 (215). 41 https://www.gesetze-im-internet.de/zpo/__1066.html. 42 So auch Keim Christopher in NJW 2017, S. 2652 (2653). 37

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die Zulässigkeit der einseitigen Schiedsklausel nicht direkt aus § 1066 D-ZPO. Nach herrschender Meinung setzt dieser die materiell-rechtliche Wirksamkeit der Schiedsklausel nämlich lediglich voraus.43 Dies war bis vor kurzem allerdings noch unklar. Vor allem im Erbrecht war in diesem Zusammenhang umstritten, ob Pflichtteilsstreitigkeiten und solche über die Entlassung des Testamentsvollstreckers durch eine letztwillige Verfügung einem Schiedsgericht unterstellt werden können. Der BGH hat diese Fragen nun entschieden.44 Nachfolgend soll diese Rechtsprechung kurz dargestellt werden. Anders als die Schweiz hat Deutschland das Haager Trust Abkommen nicht unterzeichnet, sodass ein Anwendungsbereich hinsichtlich Trusts verschlossen ist.45 Im Folgenden steht daher neben den letztwilligen Verfügungen die Rechtslage zu Stiftungen und zum Gesellschaftsrecht im Vordergrund. Auf das Immaterialgüterrecht wird abschließend Bezug genommen. 1. Letztwillige Verfügungen Ausgangsfrage für die Zulässigkeit der testamentarischen Schiedsklausel war zunächst, ob § 1066 D-ZPO eine eigene prozessrechtliche Anordnungskompetenz darstellt, die keiner weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen bedarf.46 Oder, ob insbesondere der Wortlaut „in gesetzlich statthafter Weise“ bedeutet, dass die Anwendung des § 1066 D-ZPO die Wirksamkeit nach zugrunde liegendem materiellen Recht, also insbesondere eine Verfügungsmacht des Erblassers, voraussetzt. Dies würde eine Unzulässigkeit der Klauseln hinsichtlich des Pflichtteilsstreitigkeiten mit sich bringen, da der Pflichtteil der Verfügungsmacht des Erblassers nach §§ 2303 ff. BGB entzogen ist.47 Für die erste Variante wurde vor allem der Gedanke der Gleichwertigkeit von Schiedsgerichten und staatlichen Gerichten angeführt, den der Gesetzgeber mit der Reformierung des Schiedsverfahrens umgesetzt habe.48 Ein weiteres Argument wurde in einem Erst-Recht-Schluss gesehen, demnach, wenn das Schiedsgericht schon darüber entscheiden könne, wer Erbe sei, es erst Recht die Kompetenz haben müsse über den Pflichtteil zu MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 2; Saenger Ingo ZPO 8. Aufl. 2019 § 1066 Rn. 1; Musielak/Voit/Voit 16. Aufl. 2019 ZPO § 1066 Rn. 1; Keim Christopher in NJW 2017, S. 2652 (2653). 44 Zum Pflichtteil: BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 –, juris Rn. 24; Zur Entlassung des Testamentsvollstreckers: BGH Beschluss vom 8.11.2018 – IZB 21/18; BGH Beschluss vom 17.5.2017 – IV ZB 25/116. 45 30th Convention on the Law applicable to Trusts and their Recognition concluded 1 July 1985 (abrufbar unter https://assets.hcch.net/upload/conventions/txt30en.pdf). 46 Haas Ulrich in ZEV 2007, S. 49 (52); Pawlytta Mark in ZEV 2003, S. 89 (92). 47 So bereits Burchard Johann F. in ZEV 2017, S. 308 (310). 48 LG Heidelberg, Urteil vom 22. Oktober 2013 – 2 O 128/13 –, juris Rn. 15 (im Ergebnis aber ablehnend). 43

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entscheiden, welcher den schwächeren Teil des Rechts darstelle.49 Die Gegenmeinung, welche von der breiten Rechtsprechung, sowie auch dem überwiegenden Teil der Literatur vertreten wurde und eine materielle Wirksamkeit voraussetzt, wurde am 16.3.2017 durch zwei argumentationsgleiche Beschlüsse des BGH höchstrichterlich bestätigt und entspricht seitdem der herrschenden Meinung.50 Die Argumentation des BGH hinsichtlich der Schiedsfähigkeit von Pflichtteilsansprüchen liest sich wie folgt: Zunächst stellt der BGH klar, dass Pflichtteilsansprüche als vermögensrechtliche Ansprüche grundsätzlich nach § 1030 Absatz 1 D-ZPO objektiv schiedsfähig sind.51 Allerdings verweist er nochmals darauf, dass § 1030 Absatz 1 D-ZPO für zweiseitige Schiedsvereinbarungen konzipiert sei und deswegen für einseitige Schiedsklauseln eben nur „entsprechende“ Anwendung finden könne. Der BGH sieht in der Formulierung „gesetzlich statthafter Weise“ einen Verweis auf das zugrundeliegende materielle Recht mit der Folge, dass die materiellen Formvorschriften beachtet werden und die Anordnung in der Verfügungsmacht des Erblassers liegen müssen.52 Die Verfügungsmacht des Erblassers ergebe sich aus der Testierfreiheit, welche jedoch nach den Anordnungskompetenzen des materiellen Rechts beschränkt sei.53 Eine solche Anordnungskompetenz erstrecke sich materiell-rechtlich gerade nicht auf das Pflichtteilsrecht, da dieses wie die Testierfreiheit nach der Rechtsprechung des BVerfG Ausfluss der Erbrechtsgarantie aus Art. 14 Absatz 1 Satz 1 GG iVm. Art. 6 Absatz 1 GG sei und daher die Testierfreiheit des Erblasser eingrenze.54 Zu beachten ist hier, dass der BGH, anders als die Botschaft zum neuen IPRG, als Folge der Annahme des Verweises in das materielle Recht, in der Prüfung des § 1066 D-ZPO bereits die Bindungswirkung als subjektive Schiedsfähigkeit mit prüft und mit der Einschränkung des § 1030 Absatz 1 D-ZPO über § 1066 D-ZPO auch die objektive Schiedsfähigkeit hier49 LG Heidelberg, Urteil vom 22. Oktober 2013 – 2 O 128/13 –, juris Rn. 15 (im Ergebnis aber ablehnend); weiter zitiert Zöller , 29. Auflage 2012, § 1066, Rn. 18. 50 Rechtsprechung: LG München II Urteil vom 24.2.2017 – 13 O 5937/15 – juris, OLG München 34. Zivilsenat Beschluss vom 25.4.2016 – 34 Sch 12/15 – juris, LG Heidelberg Urteil vom 22.10.2013 – 2 O 128/13 – juris, LG München I Teilurteil vom 21.12.2011 – 10 O BeckRS 2011, 139525, BayObLG Beschluss vom 1.6.1956 – BReg. 1 21/56 BayObLGZ 1956, S. 186 ff.; Literatur: MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 2; Saenger Ingo ZPO 8. Aufl. 2019 § 1066 Rn. 1; Musielak/Voit/Voit 16. Aufl. 2019 ZPO § 1066 Rn. 1; Keim Christopher in NJW 2017, S. 2652 (2653); Lange Knut Werner in ZEV 2017, S. 1 (4), Keim Christopher in NJW 2017, S. 2652 (2653), Burchard Johann F. in ZEV 2017, S. 308 (310); BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 – juris Rn. 24. 51 BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 –, juris Rn. 15. 52 BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 –, juris Rn. 20–22. 53 BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 –, juris Rn. 23, 27. 54 BVerfGE 112, 332, 248; BGH Beschluss vom 16. März 2017 – I ZB 49/16, 50/16 –, juris Rn. 27.

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nach bestimmt.55 Auf der gleichen Prämisse basiert auch die Argumentation des BGH zu Streitigkeiten des Testamentsvollstreckers, wonach § 2227 Absatz 1 BGB keine materielle Verfügungsbefugnis des Erblassers enthält und damit solche Streitigkeiten einer einseitigen Schiedsklausel nicht wirksam unterstellt werden können.56 Zwar finden sich im Schrifttum durchaus Gegenstimmen, dies ändert aber nichts daran, dass in der Praxis die Rechtsprechung des BGH künftig bei der Formulierung einer testamentarischen Schiedsklausel berücksichtigt werden muss.57 Hinsichtlich anderer Ansprüche, die Ausfluss der Verfügungsfreiheit des Erblassers sind, was in engen Grenzen selbst im Pflichtteilsrecht der Fall ist, wird eine Schiedsfähigkeit dagegen unproblematisch bejaht werden können.58 2. Stiftungen und Gesellschaftsrecht Auch im deutschen Rechtsraum finden einseitige Schiedsklauseln in Stiftungs- und Gesellschaftsstatuten Anwendung. Die Anwendbarkeit des § 1066 D-ZPO ergibt sich aus dem nichtvertraglichen Charakter der Satzungen. Hinsichtlich Stiftungen als einseitigen Rechtsgeschäften liegt dies auf der Hand und ist insoweit unbestritten.59 Es fallen Stiftungsgeschäfte von Todes wegen sowie unter Lebenden unter § 1066 D-ZPO. Die materielle Wirksamkeit als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klausel richtet sich nach §§ 80 ff. BGB.60 Die Reichweite der Schiedsverfügung und damit auch die Bindungswirkung ergibt sich aus dem Stiftungsgeschäft selbst, was bedeutet, dass grundsätzlich jede Streitigkeit einbezogen werden kann, die sich auf den Inhalt des Stiftungsgeschäfts bezieht und sich persönlich jeder dieser Schiedsklausel unterwerfen muss, der in diesem Rahmen Ansprüche geltend macht.61 Insofern ist der Anwendungsbereich klar umrissen und schafft damit für die Praxis Rechtssicherheit. Im Gesellschaftsrecht ist dies nicht ganz so offensichtlich. Wie im Schweizer Recht stellt sich auch hier die Frage, ob es sich um eine statutarische Klausel oder eine vertragliche Klausel handelt. Im letzteren Fall hätte 55

Haas Ulrich, Boris Jeffrey in ZZPInt 21 (2016) S. 323 (339 f.). BGH Beschluss vom 17. Mai 2017 – IV ZB 25/16 Rn. 12 ebenso Beschluss vom 8.11.2018 – IZB 21/18 Rn. 21; Selzener Wilhelm in ZEV 2010, S. 285 (287); Beschluss OLG Karlsruhe vom 28.7.2009, Az. 11 Wx 94/07 – juris, zustimmend Storz Thomas in SchiedsVZ 2010, S. 200 (201). 57 Gegenstimmen siehe insbesondere Muscheler Karlheinz in ZEV 2018, 120 (121–123); teilweise kritisch Von Bary Christiane in ZEV 2019, S. 317 (317 f.). 58 Stallknecht Alexander in RNotZ 2019, S. 433 (439). 59 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 ZPO Rn. 8; BeckOK ZPO/Wolf/Eslami, 34. Ed. 1.9.2019, ZPO § 1066 Rn. 9; Stumpf Christoph in SchiedsVZ 2009, S. 266 (266). 60 Stumpf Christoph in SchiedsVZ 2009 S. 266 (266 f.). 61 Stumpf Christoph Schiedsgerichtsbarkeit in Stiftungen in SchiedsVZ 2009 S. 266 (267). 56

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dies zur Folge, dass nicht § 1066 D-ZPO, sondern § 1029 Absatz 1 D- ZPO zur Anwendung käme.62 Bei Personengesellschaften ist dies anzunehmen.63 Allerdings spricht bei juristischen Personen und nicht rechtsfähigen Vereinen gegen einen vertraglichen Charakter, dass die Mitglieder auf den Inhalt der Satzung in der Regel wenig bis keinen Einfluss haben und vielmehr mit Inkrafttreten an deren Inhalt gebunden sind. Außerdem steht vielmehr die Mitgliedschaft selbst im Vordergrund als der Vertragsgrund, welcher nur die Gründungsmitglieder binden würde.64 Demzufolge wird die Anwendbarkeit des § 1066 D-ZPO auf satzungsmäßige Schiedsklauseln mehrheitlich bejaht.65 Auch hier gilt, dass die Anordnung in „gesetzlich statthafter Weise“ erfolgen muss, also die materiell-rechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen beachtet werden müssen. Zusätzlich müssen auch die prozessualen Voraussetzungen der §§ 1029–1031 D-ZPO eingehalten werden, soweit die durch § 1066 D-ZPO angeordnete entsprechende Anwendung nicht etwas anderes gebietet.66 Die bedeutet weiterführend, dass die objektive Schiedsfähigkeit, die nach § 1030 Absatz 1 D-ZPO grundsätzlich sehr weit greift, auch hier durch § 1066 D-ZPO in dem Sinne eingeschränkt wird, als die materiellrechtliche Wirksamkeit gewährleistet sein muss.67 Eine Schiedsklausel, die Individualansprüche und damit eine persönliche Rechtsstellung umfasst, entfaltet damit keine Bindungswirkung.68 Schiedsfähig sind dagegen aber ohne weiteres solche Streitigkeiten, die Gegenstand statutarischer Bindung sind.69 Als Beispiel sind insbesondere Stimmrechte, Mitwirkungsrechte, Sonderrechte sowie Ansprüche der Mitglieder auf Gewinnbeteiligung zu nennen.70 Insoweit ist die Zulässigkeit einseitiger Schiedsklauseln auch in diesem Bereich klar umrissen und für die Praxis steht der Anwendungsbereich offen.

MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 ZPO Rn. 8 f. Saenger Ingo ZPO 8. Aufl. 2019 § 1066 Rn. 8; BeckOK ZPO/Wolf/Eslami, 34. Ed. 1.9.2019, ZPO § 1066 Rn. 8; Musielak/Voit/Voit, 16. Aufl. 2019, ZPO § 1066 Rn. 7. 64 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 8–9. 65 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 9; Musielak/Voit/Voit 16. Aufl. 2019 ZPO § 1066 Rn. 7; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 29. September 2000 – 11 Sch 5/00 –, juris Rn. 52 ff.; so auch schon De Lousanoff Oleg in Blessing Marc (Hrsg.) The Arbitration Agreement – Its Multifold critical aspects 1994, S. 89 (91 f.) zu §1047 D-ZPO a.F. 66 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 12; ablehnend hinsichtlich Formerfordernis BeckOK ZPO/Wolf/Eslami, 34. Ed. 1.9.2019, ZPO § 1066 Rn. 5. 67 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 13. 68 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 18, 19. 69 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 18; Saenger Ingo ZPO 8. Aufl. 2019 § 1066 Rn. 6; BeckOK ZPO/Wolf/Eslami, 34. Ed. 1.9.2019, ZPO § 1066 Rn. 6. 70 MüKoZPO Münch 5. Aufl. 2017 § 1066 Rn. 18 mit weiteren Anwendungsbeispielen. 62 63

Der Anwendungsbereich einseitiger Schiedsklauseln

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3. Immaterialgüterrecht Auch in Deutschland werden Streitigkeiten im Immaterialgüterrecht insbesondere im SEP/FRAND- Bereich Schiedsgerichten unterstellt.71 Es gilt das bereits genannte Prinzip des § 1066 D-ZPO wonach eine nicht vertragliche Verfügung Streitigkeiten wirksam einem Schiedsgericht unterstellen kann, soweit die betroffenen Ansprüche vermögensrechtlich und Ausfluss der Verfügungsfreiheit des Anordnenden sind, §§ 1066, 1030 Absatz 1 DZPO. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu Schweizer Rechtslage verwiesen.72

IV. Fazit und Ausblick Zusammenfassend zeigen beide Rechtsordnungen, dass sich die Anwendung einseitiger Schiedsklauseln grundsätzlich in jedem der dargestellten Bereiche mit einer positiven Tendenz etabliert und somit eine nutzbare Lösungsmöglichkeit für die Praxis darstellt. Allerdings lässt der direkte Vergleich der Regelungen erahnen, dass die neue Regelung des IPRG mehr Rechtssicherheit bringen kann als § 1066 DZPO. Im Gegensatz zu § 1066 D-ZPO verzichtet Art. 178 Absatz 4 EIPRG auf eine verwirrende Formulierung. Die Botschaft zur Gesetzesänderung stellt klar, dass eine einseitige Schiedsklausel bereits nach Art. 178 Absatz 4 iVm Absatz 2 E-IPRG statthaft ist.73 Diese Frage musste in Deutschland erst durch die Rechtsprechung entschieden werden und wurde im Ergebnis anders gelöst. Die Heranziehung des materiellen Rechts bereits auf der Ebene des § 1066 ZPO bewirkt leider eine Vermengung der Bindungswirkung und der objektiven Schiedsfähigkeit.74 Dies könnte mitunter im Kontext der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit problematisch werden, da die Schiedsfähigkeit hier keine Bindungswirkung voraussetzt und die Argumentation des BGH im Punkt Aufhebungsgründe somit leer laufen würde.75 Es bleibt abzuwarten, ob die Schweizer Schiedsrevision die versprochene Rechtssicherheit in der Praxis bringen wird. Jedenfalls ist die gesetzliche Regelung zu begrüßen und die Ausführungen in der dazugehörigen Botschaft, lassen darauf hoffen, dass ein Streit hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen wie in Deutschland, vermieden werden kann. Alles 71

Picht Peter Georg in GRUR 2019, S. 11 (11). S. 6; weiterführend zu deutschen Schiedsverfahren im SEP/FRAND Bereich siehe Picht Peter Georg in GRUR 2019, S. 11 (11 ff.). 73 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit), S. 7189 f. 74 Haas Ulrich, Boris Jeffrey in ZZPInt 21 (2016) S. 323 (339 f.). 75 Ebenso kritisch Von Bary Christiane in ZEV 2019 S. 317 (319 f.). 72

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in allem zeigt die Analyse, dass in beiden Rechtsordnungen positive Entwicklungen hinsichtlich der Rechtssicherheit und damit auch der Anwendungsfreundlichkeit für die Praxis zu verzeichnen sind und damit die Anwendung einseitiger Schiedsklauseln als Lösungsmöglichkeit in Zukunft womöglich verstärkt Beachtung finden wird.

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Gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren in Österreich Dietmar Czernich

Gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren in Österreich DIETMAR CZERNICH

I. Vorteile des Schiedsverfahrens bei Gesellschafterstreitigkeiten in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kooperatives Grundmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fachkompetenz der Schiedsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wann ist das Schiedsverfahren ungeeignet? . . . . . . . . . . . . 1. Aktiengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschaften mit vermögensschwachen Privatpersonen . . . III. Objektive Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nicht schiedsfähige Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschränkungen für Verbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formelle Gültigkeit der satzungsgebundenen Schiedsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neuabschluss der Satzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Änderung der Satzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Personelle Reichweite der Schiedsbindung . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neugesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nach Schätzungen haben 33% aller Schiedsverfahren in Deutschland einen gesellschaftsrechtlichen Hintergrund.1 Diese Größe dürfte auch für Österreich gelten.2 Die Zahl der gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren dürfte eher noch steigen, insbesondere seit dem mit der Öffnung des Vienna International Arbitral Centre am 1.1.2018 auch für Binnenverfahren ein geeignetes institutionelles Schiedsgericht zur Verfügung steht.3 Insoweit 1

Reichert Beschlussmängelstreitigkeiten und Schiedsgerichtsbarkeit – Gestaltungs- und Reaktionsmöglichkeiten, in FS Ulmer (2003), 511. 2 Kalss Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205. 3 Art. 1 Wiener Schieds- und Mediationsregeln 2018.

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ist es lohnend, das Auge auf gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren in Österreich zu lenken.

I. Vorteile des Schiedsverfahrens bei Gesellschafterstreitigkeiten in Österreich 1. Kooperatives Grundmodell Trotz der im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten geltenden abgeschwächten Inquistionsmaxime geht die österreichische Zivilprozessordnung (öZPO) in der Verfahrensgestaltung von zwei adversativen Parteien aus, die sich „bis auf die Zähne bekämpfen“.4 Dieses Grundmodell ist in erster Linie für Parteien geeignet, die einen in sich abgeschlossenen rechtlichen Konflikt haben, wie er typischerweise aus Delikten oder Zielschuldverhältnissen resultiert. Bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten sind die Parteien aber auch nach Beendigung einer rechtlichen Auseinandersetzung in einem Dauerschuldverhältnis weiter aneinander gebunden und müssen zum Wohl der Gesellschaft zusammenwirken. Dies fällt den Gesellschaftern nach einem – womöglich über längere Zeit – geführten Zivilprozess oft schwer. Ein Schiedsverfahren kann dagegen erheblich weniger adversativ geführt werden und in seinem Charakter an ein Mediationsverfahren herangeführt werden, wenn die Parteien dies wünschen. Dies kann etwa geschehen, indem die Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichten. Dadurch wird dem Verfahren erhebliches Spannungspotential genommen. Der Personalbeweis kann auch statt der Zeugeneinvernahme durch schriftliche Aussagen (witness statements) ersetzt werden. Darüber hinaus können die Parteien die Schiedsrichter auch ermächtigen, bereits nach Austausch von Schiedsklage und Klagebeantwortung einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten oder überhaupt nur nach Billigkeit (§ 603 Abs. 3 öZPO) zu entscheiden. Rechtstatsächlich ist zu beobachten, dass Schiedsgerichte in Österreich im Allgemeinen nach ausgleichenden Entscheidungen suchen und – wo möglich – nicht notwendigerweise auf vollständiges Obsiegen oder Unterliegen einer Partei entscheiden („Splitting the Baby“). Alle diese Instrumente führen dazu, dass Schiedsverfahren im Vergleich zu Verfahren vor staatlichen Gerichten weniger Kollateralschäden verursachen und daher für das Wohl der Gesellschaft vorzugswürdig sind.

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So der Schöpfer der öZPO Klein.

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2. Verfahrensdauer Während des schwebenden Prozesses ist das Unternehmen oft gelähmt, sodass es Schaden nehmen kann. Eine rasche Entscheidung des Konfliktes liegt daher nicht nur im Interesse der Parteien, sondern dient auch dem Unternehmenswohl. Ein Zivilprozess zieht sich in Österreich im Durschnitt über 18 Monate in der ersten Instanz. Je weitere Instanz können zu dieser Zeit jeweils 8 Monate addiert werden. Ein Schiedsverfahren dauert im Vergleich dazu etwa 12–14 Monate. Da es abseits einer gegenteiligen Parteienvereinbarung keine meritorische Berufungsmöglichkeit gibt, erreichen die Parteien im Schiedsverfahren eine rechtskräftige Entscheidung erheblich schneller. Die gegen einen Schiedsspruch gerichtete Aufhebungsklage ist praktisch niemals erfolgreich.5 Die Parteien können bereits in der Schiedsvereinbarung oder zu einem späteren Zeitpunkt eine Höchstdauer des Schiedsverfahrens vorgeben. Die Schiedsrichter sind durch Annahme des Schiedsrichteramtes an diese Höchstfrist gebunden und werden bei deren schuldhafter Überschreitung schadenersatzpflichtig.6 Soweit die Parteien hierbei einen realistischen Wert einsetzen (nicht unter 4 Monaten), können sie durch Einsatz dieses Instruments ein sehr rasches Verfahren erreichen und dadurch den Schaden reduzieren, der durch ein das Unternehmen lähmenden Konflikt entsteht. 3. Vertraulichkeit Häufig sind die Gegenstände des Gesellschafterstreits nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um Betriebsoder Geschäftsgeheimnisse geht. Weiter schadet es häufig der Reputation des Unternehmens, wenn an die Öffentlichkeit gelangt, dass dessen Eigentümer im Streit miteinander liegen. Im Gegensatz zum Verfahren vor dem staatlichen Gericht (§ 171 öZPO) sind Schiedsverfahren nicht öffentlich.7 In der Regel gelangt daher weder die Tatsache des Konflikts noch sein Inhalt an die Öffentlichkeit. Dies stellt sich als ganz erheblicher Vorteil des Schiedsverfahrens insbesondere bei Gesellschafterstreitigkeiten dar.8 5 Zu den formellen Aufhebungsgründen siehe § 611 öZPO. Ein Vorwegverzicht auf die Aufhebungsklage wird allgemein für nicht wirksam gehalten, siehe Musger/Lovrek in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht (2018), 16.17; für eine partielle Zulässigkeit des Vorwegverzichts Czernich, Der Vorwegverzicht auf die Aufhebung des Schiedsspruchs – zugleich ein Beitrag zur Stellung des Schiedsverfahrens im österreichischen Recht, JBl 2016, 69. 6 Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht (2018), 10.85. 7 Grundlegend Kahlert Vertraulichkeit im Schiedsverfahren (2015), 10 f. 8 M. Schröder Schiedsgerichtliche Konfliktbeilegung bei aktienrechtlichen Beschlussmängelstreitigkeiten (1999), 10.

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Zu beachten ist aber, dass die Nicht-Öffentlichkeit des Schiedsverfahrens alleine noch nicht dazu führt, dass sein Inhalt tatsächlich vertraulich bleibt: Zwar sind die Schiedsrichter zur Vertraulichkeit verpflichtet,9 dies gilt jedoch nach österreichischem Schiedsverfahrensrecht nicht für die Parteien selbst.10 Diese haben grundsätzlich durchaus die Möglichkeit, Informationen weiterzugeben, soweit sie dadurch nicht andere Verschwiegenheitsverpflichtungen verletzen.11 Zur Geheimhaltung in Schiedsverfahren sind alle Verfahrensbeteiligten nur dann verpflichtet, wenn die Schiedsvereinbarung dies vorsieht oder alle Verfahrensbeteiligten dazu im Schiedsverfahren eine Vertraulichkeitsvereinbarung abschließen.12 Allenfalls sind auch Sachverständige oder weitere Hilfspersonen (Schiedssekretäre, Protokollanten) an die Geheimhaltungsvereinbarung zu binden. 4. Fachkompetenz der Schiedsrichter Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten haben häufig sehr spezielle Tatsachen- und Rechtsfragen zum Gegenstand. Während die Lösung der Rechtsfragen in der Regel auch dem staatlichen Gericht anvertraut werden können, ist dies bei den Tatsachenfragen nicht immer so. Man denke nur an schwierige bilanzielle Fragen, Fragen der Unternehmensführung oder unternehmerische Entscheidungen. Die Beurteilung derartiger Fragen gehört nicht zum üblichen Aufgabenkreis staatlicher Richter, sodass sie häufig auf Formalentscheidungen ausweichen, ohne die Sache selbst zu entscheiden. Die Flucht in Formalentscheidungen führt in der Regel zu Klagsabweisungen selbst in Situationen, in denen der Anspruch der Sache nach gegeben ist. Dies nimmt vertraglichen Vereinbarungen ihre Effektivität. Im Schiedsverfahren haben die Parteien das von § 587 öZPO gewährte Recht, zumindest einen Schiedsrichter selbst vorzuschlagen. Die Parteien können hierbei eine Person wählen, auf deren Sachkunde sie besonders vertrauen. Der vorgeschlagene Schiedsrichter muss hierbei nicht Jurist sein, er kann auch etwa Wirtschaftsprüfer, Betriebswirt oder Techniker sein.13 Durch die Wahl einer geeigneten Person kann somit Sachkunde in das Schiedsgericht getragen werden, ohne dass sich dieses die zur Entscheidungsfindung erforderlichen Informationen durch SachverständigengutachZeiler Schiedsverfahren2 § 587 Rz. 69; Art. 16 Abs. 2 Wiener Regeln. Hausmaninger in Fasching/Konnecny, öZPO § 581 Rz. 264. 11 Rechtsvergleichend Holder Vertraulichkeit in Schiedsverfahren nach deutschem Recht: Unter Berücksichtigung der Rechtslage in England, Australien, Schweden und Neuseeland (2009); vgl die spezielle Geheimhaltung nach Art. 29.1. der Liechtensteinischen Schiedsordnung [Bindung aller Verfahrensbeteiligter an die Geheimhaltung samt Absicherung durch Pönale]. 12 Fremuth-Wolf Die Schiedsvereinbarung im Zessionsfall (2004), 186. 13 Czernich Die Bestellung des Schiedsrichters nach österreichischem Recht, SchiedsVZ 2018, 19; Hahnkamper in Torggler, Handbuch Schiedsgerichtsbarkeit2 Rz. 960. 9

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ten erst beschaffen muss. Von der Kostenersparnis abgesehen erhöht die besondere Sachkunde der Schiedsrichter auch die Entscheidungsqualität.14

II. Wann ist das Schiedsverfahren ungeeignet? 1. Aktiengesellschaften Trotz des aktienrechtlichen Gebots der Satzungsstrenge sind Schiedsvereinbarungen in Satzungen von Aktiengesellschaften zulässig.15 Ihre sachliche Reichweite ist jedoch noch insbesondere bei börsennotierten Gesellschaften nicht ausreichend rechtlich geklärt. Besondere Schwierigkeiten sind bei Beschlussmängelstreitigkeiten zu sehen: Nach § 201 öAktG sind mehrere Anfechtungsklagen zwingend zu verbinden, um widerstreitende Entscheidungen zu vermeiden. Wenn mehrere Schiedsverfahren über die Anfechtung geführt werden, gibt es keine rechtliche Möglichkeit, die Verfahrensverbindung zu erzwingen, sodass die Gefahr widerstreitender Schiedssprüche besteht. Problematisch ist weiter die Bindung des Vorstands und des Aufsichtsrats an das Ergebnis des Anfechtungsverfahrens (§ 198 öAktG): Die Mitglieder dieser Organe sind nicht Partei der Schiedsvereinbarung in der Satzung und nach allgemeinen Grundsätzen gilt der Schiedsspruch nur für die Parteien der Schiedsvereinbarung. Die Organmitglieder müssten sich daher bei Amtsantritt individuell der Schiedsvereinbarung unterwerfen. Kommt es nicht zu dieser Unterwerfung, entfaltet der Schiedsspruch keine persönliche Wirkung auf die Organmitglieder. Insgesamt kommt eine Schiedsklausel in der Satzung somit allenfalls für personalistisch geprägte Aktiengesellschaften in Betracht.16 2. Gesellschaften mit vermögensschwachen Privatpersonen Schiedsvereinbarungen mit Verbrauchern unterliegen in Österreich gem. § 617 öZPO besonderen Restriktionen, die in Österreich besonders einschneidend sind. Diese Restriktionen können auch für Schiedsvereinbarungen in Satzungen von Gesellschaften gelten. Sind sie anwendbar, kommt eine Schiedsvereinbarung – und damit ein Schiedsverfahren – nicht in Betracht. Selbst wenn die Beschränkungen des § 617 öZPO im Einzelfall nicht anwendbar sind, ist eine Schiedsvereinbarung wirtschaftlich schwachen Gesellschaftern nachteilig: In Schiedsverfahren steht das Institut der Verfahrens14

Pestalozzi in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht (2018), 4.21. OGH 7 Ob 221/98w. 16 Reich-Rohrwig, Tücken Gesellschaftsrechtlicher Schiedsklauseln in FS Toggler (2011), 985. 15

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hilfe nicht zur Verfügung. Zwar gilt auch im Schiedsverfahren der abgeschwächte Grundsatz des Kostenersatzes (§ 609 öZPO), jedoch muss jede Partei das Verfahren zunächst aus eigenen Mitteln vorfinanzieren, indem sie Kostenvorschüsse an das Schiedsgericht und das Honorar des eigenen Rechtsanwalts zu zahlen hat. Ist eine Partei zur Leistung der Kostenvorschüsse an das Schiedsgericht nicht in der Lage, so hat dies wegen der Einstandspflicht des Gegners zwar keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Konsequenzen, jedoch bleibt die nichtzahlende Partei gegenüber der zahlenden Partei aus allgemeinen Aspekten im Nachteil. Weiter bleibt die Schwierigkeit, das Honorar des eigenen Rechtsanwalts zu bezahlen, weil es im Schiedsverfahren keinen Dritten gibt, der dessen Kosten übernimmt. Aus diesen Gründen wirkt sich eine Schiedsvereinbarung mit vermögensschwachen Privatpersonen zu ihrem Nachteil aus. Diesem Personenkreis ist daher – auch im Zuge ordnungsgemäßer Belehrung durch den Notar nach § 52 Notariatsordnung (NO) – von einer Schiedsvereinbarung abzuraten. Die Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Schiedsvereinbarung wird zudem durch den Umstand erschwert, dass die Vermögenssituation eines Gesellschafters zum Zeitpunkt der Erhebung der Schiedsklage maßgeblich ist und diese zum Zeitpunkt des Abschlusses der Schiedsvereinbarung naturgemäß selten bekannt ist.

III. Objektive Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten 1. Grundregel Die objektive Schiedsfähigkeit bestimmt, welche Ansprüche einem Schiedsverfahren unterworfen und somit der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen werden können. Nach § 582 öZPO ist jeder vermögensrechtliche Anspruch objektiv schiedsfähig. Der Begriff des vermögensrechtlichen Anspruchs ist grundsätzlich weit zu ziehen und umfasst jedenfalls auf Geld oder Geldwert lautende Ansprüche,17 darüber hinaus auch alle weiteren Ansprüche, sofern sie nicht kraft gesetzlichen Anordnung (§ 582 Abs. 2 öZPO) oder ihrer Natur nach nicht schiedsfähig sind.18 Die Rechtslage in Österreich entspricht weitgehend jener in Deutschland. Für den Bereich des GmbH-Gesellschaftsrechts führt dies zu einer allgemeinen Regel, nach der grundsätzlich alle Streitigkeit aus oder in Zusammenhang mit dem Gesellschaftsverhältnis schiedsfähig sind.19 Dies gilt auch 17

Oberhammer, Entwurf, 40. Ausfühlich Schifferl, in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 7.12 ff. 19 Terlitza/Weber Zur Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten nach dem SchiedsRÄG 2006, ÖJZ 2008, 1. 18

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für die Beschlussanfechtungsklage nach §§ 41ff öGmbHG,20 für die die objektive Schiedsfähigkeit lange Zeit umstritten war21 und für die etwa in Deutschland besondere Restriktionen gelten. Für die Beurteilung der Schiedsfähigkeit kommt es immer auf den Hauptanspruch an. Insoweit ist es gleichgültig, ob vom Schiedsgericht zu beurteilende Vorfragen schiedsfähig sind oder nicht. Insoweit sind auch Ersatzansprüche gegen einen Geschäftsführer, die sich aus strafbaren Handlungen herleiten (etwa Untreue, § 153 öStGB), objektiv schiedsfähig. 2. Nicht schiedsfähige Streitigkeiten Verfahren, die öffentlichen Interessen dienen, sind nicht schiedsfähig. Deshalb sind Firmenbuchssachen (Handelsregistersachen) nicht schiedsfähig, wie etwa die Frage, ob eine bestimmte Tatsache anmeldepflichtig iS § 10 FBG ist oder nicht. Ebenso wenig ist eine Feststellungsklage, ob eine GmbH insolvent ist, nicht schiedsfähig,22 weil es hier um öffentliche Interessen geht. 3. Einschränkungen für Verbraucher Mit dem SchiedsRÄG 2006 wurden Beschränkungen für Schiedsverfahren mit Verbrauchern eingeführt. Demnach können Schiedsvereinbarungen zwischen Unternehmer und Verbraucher nur für bereits entstandene Streitigkeiten abgeschlossen werden (§ 617 Abs. 1 öZPO). Weiter ordnet § 617 Abs. 2 öZPO an, dass Schiedsvereinbarungen, an denen ein Verbraucher beteiligt ist, nur dann gültig sind, wenn sie in einem separatem Dokument enthalten sind, das nur die Schiedsabrede zum Gegenstand hat. Damit sind Schiedsvereinbarungen in Satzungen, die sich prospektiv auf zukünftige Streitigkeiten erstrecken, nicht gültig, wenn ein betroffener Gesellschafter als Verbraucher iS § 1 des Konsumentenschutzgesetzes (KSchG) zu qualifizieren ist. In diesem Bereich sind nur ad-hoc Schiedsverfahren möglich.23 Diese Beschränkungen gelten dann, wenn der Schiedsort in Österreich ist,24 unabhängig von ausländischem Sitz oder Personalstatut des „Verbrauchers“. 20

6 Ob 84/14t, Kalss Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205,

208. 21 Vgl Thöni Zur Schiedsfähigkeit des GmbH-rechtlichen Anfechtungsstreits, wbl 1994, 298. 22 Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger Schiedsverfahrensrecht I Rz 3/100. 23 Czernich Schiedsklauseln bei österreichischen Kapitalgesellschaften, SchiedsVZ 2014, 86, 89. 24 6 Ob43/13m, ÖJZ 2014, 381 (Schumacher), Nueber, wbl 2014, 194, Liebscher/Zeiler ecolex 2014, 425; abl (hinsichtlichtlich kollisionsrechtlicher Frage) Czernich RdW 2014, 251 und Hackl Verbraucher- bzw. Unternehmereigenschaft einer im Ausland ansässigen ausländischen Schiedspartei, GesRZ 2014, 193, 198.

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Zur Zeit der Verfassung dieses Festschriftbeitrags (Dezember 2019) ist eine Überarbeitung des Verbraucherschutzes in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten in Planung, die auf einen Gesetzesvorschlag des Autors (gem. mit Prof. Friedrich Rüffler) basiert. In der Beurteilung, ob ein Gesellschafter Verbraucher iS § 1 KSchG ist und ob somit die Einschränkungen des § 617 öZPO zum Tragen kommen, wendet der Oberste Gerichtshof (OGH) eine wirtschaftliche Betrachtungsweise an.25 Maßgeblich ist dabei, ob dem Gesellschafter so viel Einfluss auf die unternehmerische Tätigkeit der GmbH zukommen, dass er selbst als Unternehmer zu qualifizieren ist.26 Deshalb ist eine natürliche Person, die zu mehr als 50% an einer Gesellschaft beteiligt ist, kein Verbraucher. Dasselbe muss gelten, wenn eine natürliche Person zu weniger als 50% beteiligt ist, über Mehrstimmrechte jedoch alleine Mehrheitsbeschlüsse fassen kann. Ebenso ist ein Gesellschafter, der mehr als 25% an der GmbH hält und Geschäftsführer ist, kein Verbraucher.27 Alle Gesellschafter, die weniger als 50% halten und nicht zugleich die Geschäftsführerfunktion innehaben, sind dagegen Verbraucher.28 Bei ausländischen Gesellschaften ist eine Einzelfallanalyse durchzuführen, ob dem Gesellschafter bestimmender Einfluss auf das Unternehmen der Gesellschaft zukommt.29

IV. Formelle Gültigkeit der satzungsgebundenen Schiedsvereinbarung Nach § 583 öZPO muss die Schiedsvereinbarung in einem von den Parteien unterzeichneten Schriftstück enthalten sein. Unter dem Begriff „Unterzeichnetes Schriftstück“ ist grundsätzlich30 ein eigenhändig (§ 886 ABGB) unterzeichnetes Schriftstück zu verstehen. Das Schriftformerfordernis wird grundsätzlich in den beiden Situationen, bei denen es zur Einführung einer Schiedsklausel in der Satzung kommen kann – Neuabschluss und Änderung – erfüllt.31 25 F. Schumacher Der Gesellschafter als Unternehmer – Überlegungen zur Gesellschafterstellung und Unternehmereigenschaft, wbl 2012, 71; Haberer Verbraucher- und Unternehmerbegriff nach UGB und KSchG am Beispiel des GmbH-Gesellschafters, in FS Jud (2012), 161. 26 Arnold, Die Unternehmereigenschaft des Gesellschafters – Das KSchG im Spannungsfeld des Trennungsprinzips, GesRZ 2016, 78. 27 2 Ob 169/11h, ÖBA 2012, 612. 28 Kalss Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205, 299. 29 6 Ob 43/13m. 30 Zu den Formerleichterungen siehe Schauer in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht 5.49. 31 Einschränkend Kalss in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht (2018), 22.14, die unter Hinweis auf § 581 Abs. 2 öZPO für eine eingeschränkte Gültigkeit des Schriftformerfordernisses im Gesellschaftsrecht eintritt.

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1. Neuabschluss der Satzung Der erstmalige Abschluss der Satzung (Gesellschaftsvertrag) ist nach § 4 Abs. 2 öGmbHG an die Notariatsaktsform gebunden. Da der Notariatsakt nach § 68 Abs. 1 lit g NO von allen Parteien zu unterzeichnen ist, wird das von § 583 öZPO geforderte Schriftformerfordernis erfüllt. 2. Änderung der Satzung Eine Schiedsklausel kann in die Satzung auch nachträglich eingeführt werden, indem die Gesellschafter die Satzung nachträglich ändern. Die Satzungsänderung erfolgt durch einen Gesellschafterbeschluss, der gem. § 49 Abs. 1 öGmbHG notariell zu protokollieren ist. Das Protokoll wird nur vom Vorsitzenden unterschrieben. Die Inkorporierung des geänderten Satzungsteils – die Schiedsklausel – in die Satzung erfolgt durch den Notar (§ 51 öGmbHG). Eine Unterschrift aller Gesellschafter unter die geänderte Satzung ist nicht vorgesehen. Insoweit stellt sich die Frage, ob das Schriftformerfordernis nach § 583 öZPO bei dieser Vorgehensweise erfüllt ist. Nach § 581 Abs. 2 öZPO gelten die Vorschriften für Schiedsvereinbarungen sinngemäß, wenn diese in Statuten angeordnet werden. Aus der sinngemäßen Anordnung folgert die hM, dass das Schriftformerfordernis auch bei der notariellen Protokollierung des an sich mündlich gefassten Beschlusses erfüllt ist.32 Einer allseitigen Unterzeichnung des Protokolls durch alle Gesellschafter steht freilich nichts im Wege.

V. Personelle Reichweite der Schiedsbindung 1. Grundsätzlich Sofern die Schiedsvereinbarung bereits bei Gründung der GmbH in die Satzung aufgenommen wird, entfaltet diese für alle Gesellschafter Bindungswirkung, weil sie dieser bereits nach vertragsrechtlichen Gesichtspunkten zugestimmt haben. Durch die Belehrungspflicht des Notars beim Abschluss des Notariatsaktes (§ 52 NO) kommt es sogar zur erhöhten Gewähr, dass die Schiedsvereinbarung dem wahren Willen der Parteien entspricht. Grundsätzlich wäre es auch möglich, nur einige, aber nicht alle, Gesellschafter an die Schiedsklausel zu binden. In diesem Falle würden Streitigkei32 Kalss Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205, 211; Czernich Schiedsklauseln bei österreichischen Kapitalgesellschaften, SchiedsVZ 2014, 86, 89; Fasching/Konnecny Kommentar Rz. 309 zu § 581 öZPO.

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ten zwischen den Gesellschaftern, die der Schiedsklausel beigetreten sind, vor dem Schiedsgericht auszutragen sein. Streitigkeiten mit Gesellschaftern, die der Schiedsvereinbarung nicht beigetreten sind, müssen dagegen vom ordentlichen Gericht entschieden werden. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten mit erga omnes Wirkung (zB Beschlussmängelstreitigkeiten) sind nur dann vor dem Schiedsgericht zu entscheiden, wenn alle, und nicht nur manche, Gesellschafter an die Schiedsvereinbarung gebunden sind. Ob auch die Gesellschaft selbst an die Schiedsklausel gebunden ist, ergibt sich grundsätzlich aus dem Wortlaut der Schiedsvereinbarung.33 Die Parteien haben es in ihrer Disposition, ob die Schiedsklausel nur Streitigkeiten unter den Gesellschaftern oder alle gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten umfassen soll.34 Ist der Wortlaut der Schiedsvereinbarung unklar, wird man im Wege ergänzender Vertragsauslegung zum Ergebnis kommen, dass die Parteien auch die Gesellschaft selbst an die Schiedsvereinbarung binden wollten, weil es regelmäßig den Interessen redlicher und vernünftiger Parteien entspricht, bei Aufnahme einer Schiedsvereinbarung in die Satzung alle gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten zu erfassen, um die Myriaden von Schwierigkeiten, die sich andernfalls aus der Abgrenzung zwischen Schiedsgericht und ordentlichem Gericht ergeben, zu vermeiden. 2. Neugesellschafter a) Kapitalerhöhung Tritt eine Partei einer GmbH im Wege einer Kapitalerhöhung einer GmbH bei, deren Satzung eine Schiedsvereinbarung enthält, so erstreckt sich deren Bindungswirkung auch auf den Neugesellschafter:35 Diese Bindung kann einerseits über § 581 Abs. 2 öZPO hergeleitet werden, wonach sich die Schiedsklausel auf alle Gesellschafter erstreckt, die zum Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens Gesellschafter sind36 oder – vorzugswürdiger – auf die notarielle Beitrittserklärung des Neugesellschafters, die er anlässlich der Übernahme der neu geschaffenen Geschäftsanteile abgibt: Durch diese Beitrittserklärung erklärt der Neugesellschafter, sich allen Bestimmungen der Satzung zu unterwerfen. Dazu zählt auch die Schiedsvereinbarung, an die er somit gebunden ist, auch wenn er dieser nicht ausdrücklich und gesondert zugestimmt hat. 33 Reich-Rohrwig Tücken Gesellschaftsrechtlicher Schiedsklauseln, in FS Toggler (2011), 1003 f. 34 Reiner Schiedsverfahren und Gesellschaftsrecht, GesRZ 2007, 151. 35 Ganz allgemein vertritt Kalss in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht (2018), 22.13, dass die Schiedsklausel in der Satzung für alle Gesellschafter gilt, die der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens angehören. 36 Kalss, Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205, 209.

Gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren in Österreich

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b) Rechtsgeschäftlicher Erwerb Grundsätzlich gilt eine Schiedsklausel nur, wenn die Parteien ihr ausdrücklich zustimmen. Dieser Grundsatz gilt im Gesellschaftsrecht nach der ausdrücklichen Anordnung in § 581 Abs. 2 öZPO jedoch nur eingeschränkt: § 581 Abs. 2 öZPO erweitert die Bindungswirkung einer Schiedsvereinbarung in Statuten: Nach hM37 – einschlägige Rsp fehlt noch – bewirkt § 581 Abs. 2 öZPO, dass eine Schiedsklausel in einem Gesellschaftsstatut für alle Gesellschafter umfassend gilt, unabhängig davon, ob sie dieser anlässlich des Beitritts zugestimmt und dabei die für Schiedsvereinbarungen geltenden Formvorschriften eingehalten haben. Kalss38 spricht daher von der omnilateralen Geltung einer Schiedsklausel, die in GmbH-Statuten enthalten ist. Die Schiedsklausel gilt somit für alle Personen, die der GmbH zum Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens angehören. Auf die Zustimmung zur Schiedsklausel zwischen den Parteien des Anteilskaufvertrages kommt es nicht an, ebenso wenig darauf, ob das Schriftformerfordernis für die Schiedsklausel im Abtretungsvertrag erfüllt wird. c) Austretende Gesellschafter Ob sich die Schiedsvereinbarung auch auf bereits ausgeschiedene Gesellschafter erstreckt, ist nach der Rsp eine Frage der Auslegung der Schiedsklausel.39 Entscheidend ist, ob sie sich nur auf solche Personen erstrecken soll, die zum Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens noch Gesellschafter sind oder auch auf Personen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des streitigen Anspruchs Gesellschafter waren. Sofern die Wortlautinterpretation keinen Aufschluss gibt und auch sonst den Parteiwille nicht feststellbar ist, wird die ergänzende Auslegung (§ 914 ABGB) in der Regel dazu führen, dass sich die Schiedsklausel auch auf ausgetretene Gesellschafter erstrecken soll: Vernünftige und redliche Parteien haben Interesse daran, dass alle Ansprüche aus dem Gesellschaftsverhältnis einheitlich entweder durch ein Schiedsgericht oder durch ein ordentliches Gericht entschieden werden. Parallelverfahren führen zu zusätzlichen Schwierigkeiten, an denen redliche Parteien für gewöhnlich kein Interesse haben. Deshalb führt die ergänzende Auslegung zum Ergebnis, dass sich eine Schiedsklausel mangels gegenteiligem Auslegungsergebnis auch auf bereits ausgetretene Gesellschafter erstreckt. 37 Reiner Schiedsverfahren und Gesellschaftsrecht, GesRZ 2007, 151, 160; Nowotny Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten und Schiedsgericht, wbl 2008, 470, 471; Mayr Schiedsklauseln in Vereinsstatuten, RdW 2007, 331, 335; Terlitza/Weber Zur Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten nach dem SchiedsRÄG 2006, ÖJZ 2008, 2, 4; Czernich Schiedsklauseln bei österreichischen Kapitalgesellschaften, SchiedsVZ 2014, 86, 89. 38 Kalss Gesellschaftsrecht und Schiedsrecht in Österreich, JBl 2015, 205, 209. 39 6 Ob 47/13z.

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Der Begriff der „bauspartechnischen Gründe“ Der Begriff der „bauspartechnischen Gründe“ Hervé Edelmann

Der Begriff der „bauspartechnischen Gründe“ – Zugleich Besprechung von BGH, Urteil v. 12.11.2019, Az. XI ZR 148/19 – HERVÉ EDELMANN

I. II. III. IV. V.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12.11.2019 Zum Begriff der bauspartechnischen Gründe . . . . . . . . Einhaltung des Transparenzgebots . . . . . . . . . . . . . . . Keine unangemessene Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12.11.2019 Der Bundesgerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 12.11.2019, Az. XI ZR 148/19,1 erstmals dazu geäußert, was unter dem in der Bausparkassenbranche vielfach verwendeten Begriff der bauspartechnischen Gründe zu verstehen ist und in diesem Zusammenhang festgehalten, dass die Bausparkasse den vom Bausparer geltend gemachten Klageanspruch auf Zustimmung zur Erhöhung der Bausparsumme zu Recht unter Berufung auf das Vorliegen bauspartechnischer Gründe abgelehnt hat. Der BGH-Entscheidung lag der Fall zugrunde, bei welchem der betroffene Bausparer bei seinem vor Jahren abgeschlossenen Bausparvertrag, bei welchem noch eine hohe dreiprozentige Verzinsung des angesparten Bausparguthabens vereinbart war, zum Zwecke des längeren Erhalts der hohen Guthabenzinsen seine Bausparsumme erhöhen wollte, was die Bausparkasse unter Hinweis auf das Vorliegen bauspartechnischer Gründe sowie unter Berufung darauf, der damals vereinbarte Tarif sei geschlossen worden und werde nicht mehr angeboten, abgelehnt hatte. Die maßgeblichen Allgemeinen Bausparbedingungen (ABB) der betroffenen Bausparkasse enthielten dabei in § 12 Abs. 1 ABB folgende Regelung: Teilungen, Zusammenlegungen, Ermäßigungen oder Erhöhungen von Bausparverträgen bedürfen als Vertragsänderungen der Zustimmung der Bauspar1

Vgl. hierzu den Beitrag von Freise, jurisPR-BKR 6/2020 Anm. 3.

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kasse. Die Bausparkasse wird Vertragsänderungen nur aus bauspartechnischen Gründen (z.B. bei Gefahr unangemessen langer Wartezeiten bei der Zuteilung) ablehnen.2

Der Bundesgerichtshof hält in seiner vorstehend zitierten Entscheidung zunächst fest, dass jede Partei grundsätzlich frei entscheiden kann, ob, mit wem und zu welchen Bedingungen sie Verträge mit Dritten abschließt, was auch für die Änderung eines bestehenden Vertrages gilt. Sodann verweist der Bundesgerichtshof darauf, dass es demgemäß auch jeder Partei freisteht, ihre Vertragsabschlussfreiheit durch vertragliche Regelungen einzuschränken, was die betroffene Bausparkasse durch die Vereinbarung des § 12 Abs. 1 ABB insofern getan hat, als sie das Vertragsänderungsbegehren des Bausparers nur aus bauspartechnischen Gründen ablehnen darf (Rn. 7). Sodann hält der Bundesgerichtshof in Rn. 9 fest, dass bauspartechnische Gründe i.S. der maßgeblichen Norm des § 12 Abs. 1 ABB solche Umstände sind, die derart beschaffen und zu bewerten sind, dass ein unvoreingenommener, vernünftiger Beobachter das Verhalten der Bausparkasse für eine nachvollziehbare und der Sachlage nach angemessene Reaktion halten muss. Bei der von der betroffenen Bausparkasse erfolgten Ablehnung der vom Bausparer begehrten Erhöhung der Bausparsumme seien daher bauspartechnische Gründe vor allem solche Umstände, die den Zweck des Bausparens, Einlagen von Bausparern entgegenzunehmen und aus den angesammelten Beträgen den Bausparern für wohnungswirtschaftliche Maßnahmen Gelddarlehen zu gewähren (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 BauSparkG), gefährden können, oder die dem Geschäftsmodell der betreffenden Bausparkasse nicht mehr entsprechen. Hiervon ausgehend führt der Bundesgerichtshof sodann in Rn. 10 aus, dass eine Bausparkasse aus bauspartechnischen Gründen die Zustimmung zu einer Erhöhung der Bausparsumme dann verweigern darf, wenn der gewählte Bauspartarif so nicht mehr angeboten wird, weil die Bausparkasse ansonsten den Alttarif samt Leistungen für Altkunden auf unbestimmte Zeit vorhalten müsste und in der Folge ihre Liquidität gefährden würde. Dies gelte insbesondere für das Erhöhungsverlangen bei Bausparverträgen, bei denen nicht mehr marktgerechte Einlagezinsen vereinbart sind, was es der Bausparkasse erschwere, die Erträge zu erwirtschaften, die sie benötigt, um weiterhin für wohnungswirtschaftliche Maßnahmen Bauspardarlehen zu gewähren. Nachdem die betroffene Bausparkasse dargelegt hatte, dass sie den mit dem Bausparer bei Vertragsabschluss vereinbarten Bauspartarif im Zeitpunkt des Erhöhungsverlangens geschlossen hatte und somit nicht mehr an2 Die Allgemeinen Bausparbedingungen der Bausparkassen (ABB) einiger Bausparkassen enthalten zum Teil den Begriff der bauspartechnischen Gründe beinhaltende Klauseln. So enthält beispielsweise § 3 Abs. 2 ABB einer Bausparkasse eine die Laufzeit begrenzende Regelung, welche wie folgt lautet: „Bei Vorliegen bauspartechnischer Gründe kann die Bausparkasse die maximale Laufzeit eines Bausparvertrages in der Bonusvariante begrenzen, die jedoch 7 Jahre nicht unterschreiten darf.“

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bot und die betroffene Bausparkasse bei dem alten Tarif im Hinblick auf die langjährige Niedrig- und Negativzinsphase keine marktgerechten Einlagezinsen mehr erzielen konnte, gelangt der Bundesgerichtshof in Rn. 12 zum Ergebnis, dass die betroffene Bausparkasse ihre Zustimmung zu der vom Bausparer begehrten Erhöhung aus bauspartechnischen Gründen verweigern durfte. Dies deshalb, weil offenkundig ist, dass in der schon seit Jahren andauernden Niedrig- und Negativzinsphase ein bauspartechnischer Grund in vorstehend definiertem Sinne liegt.3 Interessant an der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist schließlich, dass der Bundesgerichtshof keinen Grund für die Zulassung der Revision sah, da die aufgeworfene Frage, ob bauspartechnische Gründe für eine Ablehnung eines Erhöhungsersuchens vorliegen, mit den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den Urteilen vom 21.2.2017, Az. XI ZR 185/16, Rn. 61, sowie vom 14.5.2019, Az. XI ZR 345/18, Rn. 46, entwickelten Leitlinien unproblematisch beantwortet werden könne. Damit hat der Bundesgerichtshof zum einen unter Hinweis auf seine Entscheidung vom 14.5.2019, Az. XI ZR 345/18, Rn. 45, zur Kündigung langfristiger Sparverträge klargestellt, dass in der langjährigen Niedrig- und Negativzinsphase nicht nur ein sachlicher Grund i.S.v. Nr. 26 AGB-Sparkassen zu sehen ist, welcher die Sparkassen berechtigt, langfristige Sparverträge zu kündigen, sondern auch ein bauspartechnischer Grund i.S.d. betroffenen ABB-Regelung, welcher es der Bausparkasse erlaubt, Änderungswünsche von Bausparern i.S. eines Erhöhungsverlangens bei einem schon längst geschlossenen Tarif abzulehnen. Darüber hinaus hat er auch anerkannt, dass Bausparverträge, bei denen nicht mehr marktgerechte Einlagezinsen vereinbart sind, die Bausparkassen nachteilig betreffen mit der Folge, dass Umstände, die den Zweck des Bausparens gefährden könnten, auch unter dem Aspekt der bauspartechnischen Gründe Bausparkassen zum Handeln veranlassen können.

II. Zum Begriff der bauspartechnischen Gründe Was den Begriff der bauspartechnischen Gründe anbelangt, so ist zunächst festzuhalten, dass dieser bereits von seinem Begriffsverständnis her solche Gründe erfasst, die sich aus den Besonderheiten des jedem Bausparvertrag 3 Zuvor hatte die Berufungsinstanz des OLG Koblenz in seinen Entscheidungen vom 2.1.2019 u. 22.2.2019, Az. 8 U 1084/18, bereits völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es für die Annahme des Vorliegens bauspartechnischer Gründe nicht darauf ankommt, ob die im Einzelfall begehrte Vertragsänderung bereits zu einer existenzbedrohenden Störung des Bausparsystems oder der Bausparkasse führen würde, sondern vielmehr, orientiert am Gedanken des Kollektivs, entscheidend ist, dass nicht einem einzelnen Bausparkunden Vorteile zuteilwerden, die sich letztlich zum Nachteil aller anderen Kunden auswirken; vgl. zur Thematik der bauspartechnischen Gründen auch Edelmann, Banken-Times SPEZIAL Bankrecht 2019, 173 f.

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immanenten kollektiven Sparens, das nur ausnahmsweise zum Zwecke des Bausparens vom KWG-Gesetzgeber zugelassen wurde, ergeben.4 Insofern ist für einen aufmerksamen und sorgfältigen Bausparer offenkundig, dass bauspartechnische Gründe nur solche Gründe sind, die mit den Besonderheiten und Eigenheiten des Bausparvertragssystems zusammenhängen und welche geeignet sind, das auf dem Solidargedanken basierende System des Bausparens zu Lasten des Kollektivs zu gefährden oder in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang wird daran erinnert, dass die Bausparer als Kollektiv eine dem Solidargedanken verpflichtete Zweckgemeinschaft bilden. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des kollektiven Bausparens und den sich hieraus ergebenden Verpflichtungen obliegt es daher der Bausparkasse, den von ihr auf die Bausparguthaben zu zahlenden Guthabenzins neben Bausparentgelten im Wesentlichen durch die Darlehenszinsen aus den dem Bausparer gewährten Bauspardarlehen zu erwirtschaften. Dies ist möglich, wenn Zinseinnahmen und Zinsausgaben eine auskömmliche Zinsspanne gewährleisten. Bedingt durch den hohen Bestand von Altverträgen mit hohem Guthabenzins führt das anhaltende Niedrig- und Negativzinsniveau insoweit zu einer erheblichen Schieflage, als sämtliche Bausparer von Bausparverträgen mit Alttarifen und hohem Guthabenzins ihre Bauspardarlehen nach deren Zuteilung nicht oder nur noch in verschwindend geringem Umfang abnehmen. Folglich stehen dem nicht mehr markgerechten Guthabenzins und den damit verbundenen Ausgaben keine ausreichenden Einnahmen gegenüber, weswegen die Tragfähigkeit des betroffenen alten Tarifs in einigen Fällen nicht mehr gegeben ist. Damit führt die aktuell lang anhaltende Niedrig- und Negativzinsphase sowie deren Auswirkungen auf das Kundenverhalten entsprechend den Ausführungen des Bundesgerichtshofs ganz offenkundig zu einer erheblichen Störung des zuvor bestehenden Gleichgewichts zwischen Leistung und Gegenleistung und damit zu einer Gefährdung der Erfüllbarkeit der Bausparverträge im Sinne und Interesse des Kollektivs und stellt damit offenkundig einen bauspartechnischen Grund dar, welcher es der Bausparkasse erlaubt, etwaige vom Bausparer gewünschte Vertragsabänderungen abzulehnen. Damit steht auch fest, dass entgegen der auch von der Revision vertretenen Auffassung bauspartechnische Gründe nicht nur dann vorliegen, wenn erhebliche, das System des Bausparens gefährdende Beeinträchtigungen vorliegen oder wenn eine so wesentliche Störung des Äquivalenzverhältnisses vorliegt, welche das Festhalten am Vertrag unzumutbar erscheinen lässt5, 4 So auch OLG Koblenz, Beschluss v. 2.1.2019, Az. 8 U 1084/18, S. 6; so im Ergebnis auch LG Koblenz, Urteil v. 23.8.2018, Az. 3 O 21/18 - beide Entscheidungen sind Entscheidungen der Vorinstanzen zum BGH-Urteil v. 12.11.2019, Az. XI ZR 148/19; vgl. hierzu auch Freise, jurisPR-BKR 6/2020 Anm. 3. 5 Wie hier die Vorinstanz des OLG Koblenz in seinen Entscheidungen vom 2.1. und 22.2.2019, Az. 8 U 1084/18 sowie Freise, jurisPR-BKR Anm. 3; ; a.A. noch AG

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sondern bereits dann, wenn die Gründe, welche die Bausparkasse zur Ablehnung der Erhöhung der Bausparsumme veranlassten, derart beschaffen und zu bewerten sind, dass ein unvoreingenommener, vernünftiger Beobachter das Verhalten der Bausparkasse für eine nachvollziehbare und der Sachlage nach angemessene Reaktion halten muss, was bei der Niedrig- und Negativzinsphase offenkundig der Fall ist6. Auch der Gesetzgeber hat in der lang andauernden Niedrig- und Negativzinsphase einen bauspartechnischen Grund gesehen. Dies lässt sich dem Regierungsentwurf des 2. Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Bausparkassen vom 19.10.2015 entnehmen. Dort heißt es nämlich: Ferner stellt das anhaltend niedrige Kapitalmarktzinsniveau die Bausparkassen vor neue Herausforderungen. Es ist derzeit nicht absehbar, wie lange das Kapitalmarktzinsniveau niedrig bleiben wird. Die aus dem Jahr 1990 stammenden und seitdem im Wesentlichen unveränderten gesetzlichen Vorgaben für Bausparkassen sind an mögliche Auswirkungen eines lang anhaltenden Niedrigzinsumfeldes nicht hinreichend angepasst. Die gesetzlichen Vorschriften sollen daher unter jeweiliger Berücksichtigung bausparspezifischer Besonderheiten und unter Wahrung der Belange der Bausparer angepasst werden, um auf die Auswirkungen reagieren zu können, die ein weiter anhaltendes Niedrigzinsumfeld mit sich bringen kann … Ohne entsprechende Änderungen bestünde insbesondere die Gefahr, dass die Bausparkassen Belastungen bei einem anhaltend niedrigen Kapitalmarktzinsniveau nicht hinreichend entgegenwirken können (BT-Drs. 18/6418 vom 19.10.2015, S. 1 f.).

Insofern ist es zentrales Anliegen einer jeden Bausparkasse und auch deren Pflicht im Sinne der Zweckgemeinschaft sicherzustellen, dass genügend Erträge erzielt werden und dass dem Bausparkollektiv genügend Mittel zur Verfügung stehen, um die Darlehensanwartschaften befriedigen zu können. Der BGH hat in dieser Entscheidung neben dem Liquiditätsinteresse der Bausparkassen zu Recht auch deren Ertragsinteresse erneut als berechtigt anerkannt. Die zeitlich unbegrenzte Zustimmung von Bausparkassen zu etwaigen Vertragsänderungswünschen von Bausparern in der Form der Erhöhung der Bausparsumme würde die Bausparkassen unverhältnismäßig belasten, weswegen auch insofern bauspartechnische Gründe vorliegen, die es zum Schutz des Kollektivs zwingend erforderlich werden lassen, dass die Bausparkassen von der ihnen in den ABB eingeräumten Ablehnungsmöglichkeit Gebrauch machen. Entsprechendes gilt in Bezug auf anderweitige Nürnberg, Urteil v. 30.5.2015, Az. 241 C 9953/15, zu der in Fußnote 1 zitierten ABBKlausel. 6 So schon BGH, Urteil v. 14.5.2019, Az. XI ZR 345/18, Rn. 44, zum Vorliegen eines sachlichen Grundes m.Anm. Edelmann, BB 2019, 2066 f.; zur Kündigung von Bausparverträgen wegen Störung der Geschäftsgrundlage im Hinblick auf die langjährige Niedrigund Negativzinsphase vgl. Edelmann/Schön, BB 2017, 329 ff.; Haertlein, BB 2018, 259 ff. u. Burghof/Schmidt/Willershausen, WM 2017, 1437 ff.

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ABB-Regelungen, welche das Ergreifen von Maßnahmen oder die Vornahme von Vertragsänderungsbefugnissen an das Vorliegen bauspartechnischer Gründe knüpfen.

III. Einhaltung des Transparenzgebots Auch wenn der Bundesgerichtshof sich anlässlich seiner Entscheidung vom 12.11.2019 nicht mit der AGB-rechtlichen Rechtswirksamkeit der betroffenen ABB-Regelung ausdrücklich auseinandergesetzt hat, ist festzuhalten, dass der Bundesgerichtshof ganz offenkundig noch nicht einmal ansatzweise Zweifel an der AGB-rechtlichen Wirksamkeit der entsprechenden ABB-Regelung und dem darin enthaltenen Begriff der bauspartechnischen Gründe hatte. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür und wurden im Verfahren auch nicht vorgetragen, wonach die Verwendung des Begriffs der bauspartechnischen Gründe gegen das Transparenzgebot oder gegen sonstige AGBRegelungen verstoßen könnte. Hierfür ist auch nichts ersichtlich.7 Der Wortlaut der angegriffenen ABB-Norm „Ablehnung von Vertragsänderungen aus bauspartechnischen Gründen“ sowie die Anknüpfung an das Vorliegen bauspartechnischer Gründe ist nämlich entsprechend den Ausführungen des Bundesgerichtshofs für den verständigen, rechtlich nicht vorgebildeten, unvoreingenommenen und redlichen Bausparer, auf dessen Sichtweise es bei der nach ihrem objektiven Inhalt vorzunehmenden Auslegung der Norm ankommt, auch unter Berücksichtigung des Begriffs der bauspartechnischen Gründe klar und unmissverständlich. So hat beispielsweise bereits das Landgericht Hannover in seinem Urteil vom 27.6.2013, Az. 3 S 16/12, zum Begriff der bauspartechnischen Gründe ausgeführt: Die Kammer ist insofern nicht der Auffassung, dass diese Formulierung nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB wegen Verstoßes gegen das Verständlichkeitsgebot und Verletzung des Bestimmtheitsgebotes unwirksam wäre. Denn was unter bauspartechnischen Gründen zu verstehen ist, lässt sich unschwer aus der Präambel der Allgemeinen Bausparbedingungen ableiten, in welcher Inhalt und Zweck des Bausparens erklärt werden. …

Dieser Sichtweise steht nicht entgegen, dass unter bauspartechnische Gründe verschiedene Umstände wie z.B. die Niedrig- und Negativzinsphase gesehen werden können. Vielmehr spricht dies dafür, dass die Auslegung dessen, was als bauspartechnische Gründe zu verstehen ist, vielfältig ist. Gerade dieser Umstand verdeutlicht aber, dass es der Bausparkasse schlicht unmöglich ist, sämtliche bauspartechnischen Gründe konkret zu benennen. Vielmehr muss es einer Bausparkasse diesbezüglich erlaubt sein, einen zulässigen unbestimmten Rechtsbegriff zu verwenden. 7

So auch Freise, jursPR-BKR 6/2020 Anm. 3.

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Mit Aufnahme des Begriffs der bauspartechnischen Gründe in ihren ABB haben die Bausparkassen somit einen Ausdruck verwendet, mit dem die Rechtssprache ganz offenkundig einen fest umrissenen Begriff verbindet. Insbesondere der Begriff der Bauspartechnik als solcher wird schon seit Jahrzehnten nicht nur von der Rechtsprechung unbeanstandet in sämtlichen ABB der Bausparkassen verwendet. Auch die Gesetz- und Verordnungsgeber verwenden den Rechtsbegriff der Bauspartechnik an unterschiedlichen Stellen des Bausparkassengesetzes sowie der Bausparkassen-Verordnung, ohne dass der Gesetz- sowie der Verordnungsgeber jemals Anlass gesehen haben, diesen unbestimmten Rechtsbegriff an irgendeiner Stelle zu definieren und ohne dass die Verwendung dieses Rechtsbegriffs jemals von der Rechtsprechung oder von der Literatur angegriffen wurde. So lässt sich sowohl dem Bausparkassengesetz als auch der Inhaltsübersicht zur BausparkassenVerordnung entnehmen, dass der Gesetzgeber nicht nur den Begriff der „bauspartechnischen Gründe“ verwendet, sondern auch den Begriff des „bauspartechnischen Simulationsmodells“ sowie der „bauspartechnischen Absicherung“, was mit den Besonderheiten des Bausparens als solchem zusammenhängt. Insofern wird der Begriff der Bauspartechnik als feststehender unbestimmter Rechtsbegriff vom Gesetzgeber sowie dem Verordnungsgeber mehrfach verwendet, wobei ganz selbstverständlich davon abgesehen wird, diesen unbestimmten Begriff zu definieren oder zu konkretisieren; dies deshalb, weil es sich für alle Beteiligten aus den Zusammenhängen des kollektiven Vertragssystems eines Bausparvertrages erschließt. Verwenden somit Bausparkassen in ihren ABB einen in der Rechtssprache und vom Gesetzgeber verwendeten unbestimmten Rechtsbegriff, dann ist in der Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass hierin ein Verstoß gegen das Transparenzgebot i.S.v. § 307 Abs. 1 BGB nicht gesehen werden kann8. Dies deshalb, weil der Versuch, unbestimmte Rechtsbegriffe zu konkretisieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wie die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 2.2.1994, Az. VIII ZR 262/92, NJW 1994, 1004, 1005 beispielhaft zeigt, wo der AGB-Verwender sich bemüht hatte, einen unbestimmten Rechtsbegriff durch Auflistung von Anwendungsfällen zu konkretisieren, was der Bundesgerichtshof als verwirrend qualifizierte. In diesem Zusammenhang führt der Bundesgerichtshof wie folgt aus: Dieser Vorbehalt muss unmissverständlich sein. Dem ist genügt, wenn mit den Worten des Gesetzes das Wiederaufleben von Minderung und Wandlung schlicht an das „Fehlschlagen der Nachbesserung“ geknüpft ist … Wird jedoch der Begriff des Fehlschlagens nicht verwendet und werden – wie hier – stattdessen Anwendungsfälle benannt, die den Begriff ausfüllen sollen und deren Angabe sich … objektiv als abschließende Aufzählung darstellt, so muss 8 vgl. hierzu statt vieler BGH-Urteil v. 8.5.2013, Az. IV ZR 84/12, NJW 2013, 2739, 2740 Rn. 14; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 307 Rn. 22 sowie Coester in Staudinger, Neubearbeitung 2013 § 307 Rn. 187; wie hier auch Freise, jursPR-BKR 6/2020 Anm. 3..

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die Bezeichnung der in Betracht kommenden Anwendungsfälle vollständig sein. Andernfalls besteht die Gefahr einer Irreführung des Klauselgegners, welche die Unwirksamkeit der Klausel zur Folge hat.

Nachdem es nahezu unmöglich ist, unbestimmte Rechtsbegriffe durch die Darstellung von Anwendungsfällen vollständig und abschließend zu definieren, muss es entsprechend der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung genügen, wenn in AGB allein der unbestimmte Rechtsbegriff verwendet wird.9 Dies gilt erst recht in Fällen der vorliegenden Art, in welchen dem Bausparer gegenüber nichts verschleiert, unterdrückt oder sonst wie verborgen, sondern Alles unmissverständlich angesprochen wird10. Die hier vertretene Auffassung entspricht in Bezug auf die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der bauspartechnischen Gründe auch der zu diesem unbestimmten Rechtsbegriff bisher ergangenen Rechtsprechung sowie der Auffassung der BaFin. So hat das Landgericht Ansbach in seiner Entscheidung vom 7.12.2010, Az. 3 O 683/10 Fin, hierzu wie folgt ausgeführt: Von einer unklaren oder nicht verständlichen Bestimmung kann hier jedoch nicht ausgegangen werden. Die Verwendung einer solchen Klausel, dem Hinweis auf bauspartechnische Gründe, ist bundesweit üblich. Sie findet sich nahezu in sämtlichen Bausparverträgen wieder …. Oberlandesgerichtliche Entscheidungen, die diese Klausel für unwirksam erklären, bestehen nicht. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9.7.1991, die sich umfassend mit allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge der Landesbausparkassen auseinandersetzt (Az. XI ZR 72/90) erfasst die streitgegenständliche Regelung nicht. Diese enthält auch keine Abweichung von den Regelungen des Bausparkassengesetzes …

Dieser Rechtsauffassung hat sich auch das OLG Nürnberg im Berufungsverfahren, Az. 14 U 2674/10, angeschlossen, woraufhin die Berufung zurückgenommen wurde.

IV. Keine unangemessene Benachteiligung Selbst wenn man entgegen vorstehender Ausführungen zum Ergebnis gelangen würde, eine den Begriff der bauspartechnischen Gründe enthaltende Klausel verstoße gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, was aufgrund vorstehender Ausführungen ausgeschlossen erscheint, dann 9 Zur zulässigen Verwendung des Begriffs „nach billigem Ermessen“ vgl. BGH, Urteil v. 25.11.2015, Az. VIII ZR 360/14, NJW 2016, 936, 937 ff.; zur zulässigen Verwendung des Begriffs „die Betriebskosten“ vgl. BGH, Urteil v. 10.2.2016, Az. XI ZR 137/15, NJW 2016, 1308, 1309; zur Verwendung eines unzulässigen „Fachbegriffs“ vgl. BGH; Urteil v. 8.5.2013, Az. IV ZR 84/12, NJW 2013, 2739. 10 vgl. hierzu BGH-Urteil v. 10.7.1990, Az. XI ZR 275/89, BGHZ 112, 115, 119.

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würde dies nicht zur Unwirksamkeit der entsprechenden Klausel führen. Denn die Unwirksamkeit wäre nur dann zu bejahen, wenn gleichzeitig eine entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessene Benachteiligung der Bausparer feststünde, was ausgeschlossen erscheint11. Eine unangemessene Benachteiligung liegt schon deswegen nicht vor, weil durch die Verwendung des Begriffs der Bauspartechnik die Bausparer nicht benachteiligt werden. Vielmehr wird es der Bausparkasse ermöglicht, im Interesse des Bausparkollektivs und somit letztlich im Interesse eines jeden Bausparers, der sich gemäß dem in der Präambel der ABB fixierten Vertragszweck verhält, auf bei Vertragsabschluss unvorhergesehene Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem System des Bausparens stehen, zu reagieren. In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass der Begriff der bauspartechnischen Gründe in der Regel auch Gegenstand der Tarifgenehmigung der BaFin ist, die gemäß § 8 Abs. 1 BauSparkG voraussetzt, dass die Erfüllbarkeit der Verträge dauerhaft gewährleistet ist. Dies bedeutet, dass die Tarife so zu gestalten sind, dass die Tragfähigkeit und Erfüllbarkeit der sich aus den Bausparverträgen für die Bausparkasse ergebenden Verpflichtungen angenommen werden können. Der durch die BaFin genehmigte Tarif stellt daher ein ausgewogenes Leistungsverhältnis dar, in dem das Individualinteresse des einzelnen Bausparers unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gegen die Interessen der Gemeinschaft der Bausparer austariert ist. Wie vorstehend ausgeführt, würde die Bejahung eines unbegrenzten Zustimmungserfordernisses der Bausparkasse auf Vertragsänderungswünsche des Bausparers dazu führen, dass Bausparer entgegen den Grundlagen sowie dem Kern der vertraglichen Vereinbarungen den von der Bausparkasse aus guten Gründen nicht mehr angebotenen Tarif nach Belieben fortsetzen könnten. Damit würden aber die Interessen des einzelnen Bausparers unter Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gegenüber der Gemeinschaft der Bausparer Vorrang eingeräumt, was zu einer nicht mehr korrigierbaren Beeinträchtigung des Kollektivinteresses der Bauspargemeinschaft führen würde, welche auch die Tragfähigkeit des Tarifs, so wie dieser von der BaFin genehmigt wurde, beseitigt bzw. vernichtet.12 11 vgl. hierzu Westphalen, NJW 2002, 12, 17; H. Schmidt, in BeckOK, Ed. 5/2016 Rn. 44 zu § 307 BGB; BGH-Urteil v. 17.3.1999, Az. IV ZR 218, 97 NJW 1999, 1865, 1866. 12 Zur zwingenden Berücksichtigung der Kollektivinteressen der Bauspargemeinschaft bei der AGB-rechtlichen Unangemessenheitsprüfung vgl. BGH Urteil v. 7.12.2010, Az. XI ZR 3/10 Rn. 48 f. „Abschlussgebührenurteil“, BGH Urteil v. 9.7.1991, Az. XI ZR 73/90, NJW 1991, 2559, 2560; BGH Urteil v. 5.11.1991, Az. XI ZR 246/90, NJW 1992, 180, 181; zur Berücksichtigung des dem Bauspargemeinschaftsgedanken sehr nahestehenden Gedankens der Risikogemeinschaft im Versicherungsrecht vgl. BGH Urteil v 12.10.2005, Az.

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Hinzu kommt vorliegend, dass die BaFin im Rahmen der Überprüfung der Genehmigungsfähigkeit und Tragfähigkeit der Tarife der Bausparkassen das betreffende Tarifwerk auch daraufhin überprüft, ob die einzelnen Bausparverträge ein angemessenes Verhältnis zwischen den Leistungen der Bausparer und denen der Bausparkasse aufweisen. Zwar hat diese Überprüfung durch die BaFin keinerlei Auswirkungen auf die AGB-rechtliche Rechtmäßigkeit einer Klausel.13 Gelangt aber die BaFin im Rahmen ihrer tariflichen Genehmigungspraxis zu dem Ergebnis, dass ein angemessenes Verhältnis zwischen den Leistungen der Bausparer sowie den Leistungen der Bausparkasse besteht, dann muss diese Erkenntnis jedenfalls im Rahmen der Unangemessenheitsprüfung berücksichtigt werden.14 Hat daher die BaFin die Aufnahme des unbestimmten Rechtsbegriffs der bauspartechnischen Gründe – wie hier – akzeptiert, dann kann darin eine unangemessene Benachteiligung des Bausparers nicht gesehen werden. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass ohne Aufnahme der den unbestimmten Rechtsbegriff der bauspartechnischen Gründe enthaltenden ABB-Norm die Bausparkassen unabhängig vom Vorliegen solcher Gründe eine vom Bausparer gewünschte Vertragsänderung hätten ablehnen können, die Aufnahme des unbestimmten Rechtsbegriffs somit zu Gunsten der Bausparer erfolgt, was einer Unangemessenheit ebenfalls entgegensteht.15

V. Ergebnis Insgesamt ist festzuhalten, dass der Begriff der bauspartechnischen Gründe auch und insbesondere aus der Sicht eines nicht vorgebildeten, verständigen und rechtlichen Durchschnittsvertragspartner nachvollziehbar und verständlich in dem Sinne ist, dass darunter solche Umstände zu verstehen sind, welche derart beschaffen und zu bewerten sind, dass ein unvoreingenommener, vernünftiger Beobachter das Verhalten der Bausparkasse für eine nachvollziehbare und der Sachlage nach angemessene Reaktion halten muss. Damit ist sowohl eine auf die langandauernde Niedrig- und Negativzinsphase gestützte Kündigung einer Sparkasse aus sachlichem Grund gem. IV ZR 162/03, NJW 2005, 3559, 3564 ff. sowie BVerfG Urteil v. 26.7.2005, Az. 1 BvR 80/ 95, VersR 2005, 1127, 1134. 13 BGH, Urteil v. 9.5.2017, Az. XI ZR 308/15, Rn. 20; BGH, Urteil v. 8.11.2016, Az. XI ZR 552/15, Rn. 22; BGH, Urteil v. 7.12.2010, Az. XI ZR 3/10, Rn. 17 f. m.w.N. 14 So auch LG Heilbronn, Urteil v. 12.3.2009, Az. 6 O 341/08 Bm, WM 2009, 603, 608 f. u.H.a. Staudinger/Coester, § 307 Rn. 13a. Ende zur Abschlussgebühr sowie LG Berlin, Urteil v. 13.7.1998, Az. 26 O 71/88, ZIP 1988, 1311, 1335 zu einer Preisabrede in den ABB einer Bausparkasse. 15 Vgl. hierzu BGH-Urteil v. 23.2.2011, Az. XII ZR 101/09 NJW-RR 2011, 1144, 1146, wonach die Bejahung einer Unangemessenheit voraussetzt, dass die Gefahr einer inhaltlichen Benachteiligung des Vertragspartners des Verwenders hinzutreten müsse.

Der Begriff der „bauspartechnischen Gründe“

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Nr. 26 AGB-Sparkassen rechtmäßig als auch die Ablehnung der Vornahme einer Vertragsänderung aus bauspartechnischen Gründen. Zudem führt die Verwendung des Begriffs der bauspartechnischen Gründe nicht zu einem Verstoß gegen das AGB-rechtliche Transparenzgebot.

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Competition between State Courts and Private Tribunals HORST EIDENMÜLLER1

Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Framework Conditions and Trends in (Alternative) Dispute Resolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Competition between Courts and Arbitral Tribunals for Cases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Taxonomy of Private Law Disputes . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Indicators for Competition with respect to High-Stakes Disputes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Success Factors in Regulatory Competition . . . . . . . . . . . 1. The Decision to Arbitrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. The Choice of an Arbitral Institution . . . . . . . . . . . . . . . IV. Evaluation of Competition and Regulatory Consequences . 1. General Considerations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. B2C Arbitral Proceedings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. B2B Arbitral Proceedings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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In this essay, I investigate the competition between state courts and private tribunals for dispute resolution. I distinguish between different market segments: B2B and B2C transactions and, in each case, small-, medium- and highstakes disputes. The analysis is informed by a survey of the dispute resolution preferences of “case placers” carried out in 2015. I find that competition between state courts and arbitral tribunals is currently most intense with respect to high-stakes B2B disputes. A significant portion of the total dispute resolution volume in this market segment goes to arbitration. If parties decide to arbitrate, they do so primarily because of the effective international enforceability of an award, the autonomy to choose competent and neutral arbitrators and the confidentiality of the proceedings. Speed and costs of the proceedings are much less relevant. Commercial arbitrations are usually administered by an arbitral institution. The choice of institution is primarily influenced by its reputation as a professional case manager and by prior positive experiences of the 1 This essay is dedicated to Roderich C. Thümmel. For insightful comments I would like to thank Conor McLaughlin and Faidon Varesis. This article originally appeared in 21 Cardozo I. Conflict Resol. (2020).

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parties. I argue that access to arbitration should be made easier with respect to B2C small- and medium-stakes disputes. The trend in the European Union of promoting conciliation/mediation for the resolution of these disputes should be reversed. Arbitration is less “dangerous” for consumers because it is a legal process governed by fundamental due process guarantees. By contrast, conciliations/mediations are not subject to these guarantees, and they are not well suited for the enforcement of mandatory consumer rights. No compelling case can be made to increase access of businesses to arbitration in medium-stakes B2B disputes. Arbitral institutions have high-powered incentives to design new and efficient procedures for these types of disputes. Technological innovations will reinforce the trend towards privatizing dispute resolution. This poses unique regulatory challenges for the protection of weaker parties, especially consumers.

Introduction Different forms of Alternative Dispute Resolution (ADR) have become key elements of the civil justice systems in many jurisdictions around the world. Arbitration by private tribunals has been with us already for a very long time.2 Mediation started to gain importance in the United States in the late 1970s, and it spread into other parts of the world, including Europe, in the 1990s.3 The latest addition to ADR methods with a significant practical relevance is conciliation. In the European Union (EU) in particular, conciliation in B2C disputes is viewed by many as the “Dispute Resolution Procedure of Choice”, promising better outcomes for the parties than court adjudication or even mediation.4 Technologically, the rise of different forms of ADR has been accompanied and supported by increasing digitization, artificial intelligence and tools of Online Dispute Resolution (ODR).5 Especially in small-stakes disputes arising from e-commerce, ODR seems to hold significant promise. This article investigates competition between state courts and private tribunals for dispute resolution. I am interested in three connected questions: Is there competition between state courts and private tribunals? If so, what are the factors and elements that determine success in such competition? 2 On the evolution of the standing of arbitration within the legal system see TIBOR VÁRADY, JOHN J. BARCELÓ III, STEFAN KRÖLL & ARTHUR T. VON MEHREN, INTERNATIONAL COMMERCIAL ARBITRATION—A TRANSNATIONAL PERSPECTIVE 63– 83 (6th ed. 2015). 3 For an overview of the evolution of the “mediation field” see ROBERT A. BARUCH BUSH AND JOSEPH P. FOLGER, THE PROMISE OF MEDIATION—THE TRANSFORMATIVE APPROACH TO CONFLICT 7-39 (rev. ed. 2005). 4 CHRISTOPHER HODGES, IRIS BENÖHR AND NAOMI CREUTZFELDT-BANDA, CONSUMER ADR IN EUROPE—CIVIL JUSTICE SYSTEMS (2012). 5 For an overview see Nicolás Lozada Piemento, AI systems and technology in dispute resolution, 24 UNIFORM L. R. 348 (2019).

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Finally, how should such competition, assuming that it does exist, be evaluated normatively, and what are the regulatory consequences that follow? My analysis is supported by an empirical investigation on competition in the arbitration market, which I conducted in 2015 with two colleagues.6 My primary focus is on forms of ADR in which a neutral third party renders a final and binding decision. Central to the analysis will be private law disputes, rather than adjudication with respect to criminal law or public law disputes. “Competition” in this essay is taken to mean competition between adjudication providers that compete based on dispute process design and/or the proper application of the law that governs the substance of a dispute. I am not concerned with investor-state arbitration as it raises a host of specific problems that are very different from arbitration of private law disputes between two private entities. I find that competition between state courts and arbitral tribunals currently exists primarily with respect to high-stakes B2B disputes. A significant portion of the total dispute resolution volume in this market segment goes to arbitration. If parties decide to arbitrate, they do so primarily because of the effective international enforceability of an award, the autonomy to choose competent and neutral arbitrators, and the confidentiality of the proceedings. Speed and costs of the proceedings are much less relevant. Commercial arbitrations, especially international commercial arbitrations, will usually be administered by an arbitral institution. The choice of institution is influenced primarily by its reputation as a professional case manager and by past positive experiences of the parties. I argue that access to arbitration should also be made easier for the resolution of small- and medium-stakes B2C disputes. The trend in the EU of promoting conciliation/mediation regarding these disputes should be reversed. Arbitration is less “dangerous” for consumers than conciliation/ mediation because it is a legal process governed by fundamental due process guarantees. By contrast, conciliations/mediations are not subject to these guarantees, and they are not well suited for the enforcement of mandatory consumer rights. The rest of this essay is organized as follows: In Section I, I provide a brief overview of the framework conditions and tendencies in dispute resolution that are relevant to the topic of the essay. In Section II, I investigate whether there is competition between state courts and private tribunals for dispute resolution. This will be followed by a section that deals with the factors that are determinative with respect to success/failure in such competition (Section III). Finally, I analyze this competition normatively and suggest some regulatory consequences that might be inferred from my analysis 6

See Section III infra.

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(Section IV). I conclude with a summary of the main results of this essay and an outlook on how new technological developments might influence the (alternative) dispute resolution market.

I. Framework Conditions and Trends in (Alternative) Dispute Resolution In order to understand the dynamics of the international “markets for adjudication” it is helpful to take note of some important framework conditions and worldwide trends in (alternative) dispute resolution. First, e-commerce is growing significantly. In 2017, retail e-commerce sales accounted for 10.4% of total retail sales worldwide.7 This share is projected to reach 22.0% in 2023, implying annual growth rates in the range from 15% to 28%.8 Second, traders and platforms have developed their own (online) dispute resolution programs. Amazon, for example, has created and uses a “Buyer Dispute Program”.9 A similar conflict management tool is used by eBay (“Resolution Center”).10 Payment services providers such as PayPal also have developed (online) dispute resolution tools.11 Instead of using self-made, proprietary tools and processes, market actors can also resort to the offerings by specialized conflict management services providers, such as Modria.12 The firm provides, inter alia, online dispute resolution tools for a wide range of applications, claiming to offer the world’s leading ODR product: “[n]o other ODR system anywhere in the world has handled millions of cases.”13 Third, the caseload of state courts handling private law disputes declines steadily, year by year, in many jurisdictions around the world. In Germany, for example, this caseload saw a reduction of 22% between 2005 and 2015.14 The average caseload reduction per year exceeds 2%. The figures for England and France show a similar picture with the exception of the Tribunaux d’instance/Tribunaux de grande instance in France, which recorded a caseload increase of 6% between 2005 and 2015, i.e. by approximately 0.6% per 7

See Andrew Lipsman, Global Ecommerce 2019, eMarketer, June 27, 2019, https:// www.emarketer.com/content/global-ecommerce-2019. 8 Id. 9 See https://pay.amazon.com/help/201212460. 10 See https://resolutioncenter.ebay.com/. 11 See https://www.paypal.com/ee/webapps/mpp/resolve-disputes-chargebacks, https://www.paypal.com/sg/webapps/mpp/buyer-dispute-resolution. 12 See https://www.tylertech.com/products/modria. 13 Id. 14 See GERHARD WAGNER, RECHTSSTANDORT DEUTSCHLAND IM WETTBEWERB 244–245 (2017) (providing data on new cases before Amtsgerichte [local courts] and Landgerichte [county courts] from 2005 to 2015).

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year.15 In the United States, the caseload of the Federal District Courts has remained stable over this period, while that of the State Courts in New York and California saw a decline of 19% and 20%, respectively.16 Fourth, the legal relevance of ADR procedures is on the rise, in Europe and beyond. In 2008, for example, the EU passed a directive on mediation in civil and commercial disputes, which had to be transposed by all Member States.17 Based on the directive, the German legislator, for one, enacted a mediation statute in 2012.18 In 2013, the European lawmaker followed up with a directive on ADR procedures and a regulation on Online Dispute Resolution (ODR).19 Again, all Member States had to transpose the directive, and the German lawmaker did so with the “Verbraucherstreitbeilegungsgesetz” in 2016.20 UNCITRAL finalized and adopted “Technical Notes on Online Dispute Resolution” at its forty-ninth session in 2016.21 This is a non-binding instrument, reflecting elements of an online dispute resolution process. The Notes will be helpful for states worldwide in establishing ODR regimes. Finally, the “United Nations Convention on International Settlement Agreements Resulting from Mediation” (the “Singapore Convention on Mediation”) was adopted on 20 December 2018, and is open for signature since 7 August 2019.22 The Convention establishes a harmonized legal framework for the right to invoke mediated settlement agreements as well as for their enforcement. It is difficult to assess empirically whether these legal developments are matched by a corresponding rise in the practical relevance of such ADR procedures. The data we have from institutional commercial arbitrations 15 Id. at 246. The negative trend is least pronounced in England for the Commercial Court. There were 981 cases in 2005, 1256 in 2009, 1331 in 2011 and 870 in 2015 (Wagner id.). The most recent data for 2016–17 and 2017–18 shows 888 and 864 cases, respectively. See Judiciary of England and Wales, The Commercial Court Report 2017–2018, available at https://www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2019/02/6.5310_Commercial-CourtsAnnual-Report_v3.pdf, at 10. It appears that the long-term trend is a gradual, albeit small, decline. The uptick in 2009/2011 probably was caused by the financial and economic crisis of 2008/2009. 16 Id. at 247. 17 Directive 2008/52/EC of 21 May 2008, OJ EU L 136/3 of 24 May 2008. 18 Mediationsgesetz (MediationsG), BGBl. 2012 I, p. 1577. 19 Directive 2013/11/EU of 21 May 2013, OJ EU L 165/63 of 18 June 2013; Regulation 524/2013 of 21 May 2013, OJ EU L 165/1 of 18 June 2013. For a critical evaluation of these two legislative instruments see Giesela Rühl, Alternative and Online Dispute Resolution for Cross-Border Consumer Contracts: a Critical Evaluation of the European Legislature’s Recent Efforts to Boost Competitiveness and Growth in the Internal Market, 38 J. CONSUM. POLICY 431 (2015). 20 BGBl. 2016 I, p. 254. 21 See http://www.uncitral.org/pdf/english/texts/odr/V1700382_English_Technical_Notes _on_ODR.pdf. 22 See https://uncitral.un.org/en/texts/mediation/conventions/international_settlement _agreements.

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do not suggest that the arbitration market experiences significant (exponential) growth rates.23 Mediation in Europe is mostly ad hoc, and that means that we do not know for sure how the market is evolving. Anecdotal evidence suggests that it is not a significant growth industry, at least not in continental Europe.24 Something different might be true with respect to conciliation in B2C disputes. The Financial Ombudsman Service in the UK, for example, handles hundreds of thousands complaints every year.25 Similar institutions exist in other Member States such as Germany where ombudsmen handle B2C disputes arising from banking and insurance transactions.26 The German Insurance Ombudsman dealt with approximately 19,000 new cases in 2018, and the German Banking Ombudsman with approximately 4,200 new cases.27

II. Competition between Courts and Arbitral Tribunals for Cases In this section, I investigate whether courts and arbitral tribunals compete for dispute resolution business, and⎯assuming that it exists⎯I attempt to assess the intensity of such competition. For these purposes, it is helpful to distinguish between different types of private law disputes. I seek to demonstrate that competition between courts and arbitral tribunals is primarily a phenomenon with respect to high-stakes B2B disputes. 1. Taxonomy of Private Law Disputes In the following, I classify disputes based on the amount in dispute and the parties to the dispute. Using a metric based on the amount in dispute is of course, to a certain extent, arbitrary. At the same time, for heuristic purposes the precise numbers do not matter that much. 23 See Section II infra and WAGNER (supra note 14) at 247 (recording new cases administered by the LCIA, the ICC and the DIS from 2005 until 2015). 24 For example, on the mediation market in Germany see KAI MASSER, BETTINA ENGEWALD, LUCIA SCHARPF & JAN ZIEKOW, EVALUIERUNG DES MEDIATIONSGESETZES, RECHTSTATSÄCHLICHE UNTERSUCHUNG IM AUFTRAG DES BUNDESMINISTERIUMS DER JUSTIZ UND FÜR VERBRAUCHERSCHUTZ 6 (2017), available at https://www. bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersuchungenFachbuecher/Evalu ationsbericht_Mediationsgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=1, reporting a “stagnating mediation market” (“Eine im Rahmen der Evaluation durchgeführte bundesweite Mediatorinnen- und Mediatoren-Befragung mit mehr als 1.000 Antwortenden hat ergeben, dass der Mediationsmarkt, d.h. die Zahl der durchgeführten Mediationsverfahren, stagniert.”). 25 See https://annualreview.financial-ombudsman.org.uk/ (388,392 new complaints were received in 2018/2019). 26 See https://bankenombudsmann.de/; https://www.versicherungsombudsmann.de/. 27 Id.

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The first category of disputes are low-stakes disputes with an amount in dispute of less than approximately Euro 100, arising primarily out of B2C transactions and doing so with high frequency. The archetypical dispute here results typically from a B2C transaction in e-commerce. These disputes usually end up neither before state courts nor before arbitral tribunals (on class actions/arbitrations see infra). Rather, effective contract design— including security rights (such as retention if title clauses) and contractual dispute resolution mechanisms—, reputational sanctions and the abovementioned ODR tools are important features of resolving low-stakes B2C disputes. Given the low amount in dispute, the high frequency of the transactions (and disputes) and the competitiveness of most markets on which the relevant goods and services are sold/provided, any conflict resolution mechanism must be very cheap and very fast. It usually would be inefficient to bring in a neutral third party to adjudicate the dispute and issue a judgment or an arbitral award following lengthy court or arbitration proceedings, taking of evidence etc. The exception to this assessment is mass disputes with similarly situated claimants if effective collective adjudication schemes (class actions or arbitrations) are available in a particular jurisdiction. However, this is not the case in the majority of European jurisdictions, for example.28 The second type of disputes are those arising from transactions in a medium range from approximately 100 to 100,000 Euros. These can be B2B but also B2C transactions, and the ADR trends that we witness differ depending on which of these two categories the dispute relates to. With respect to B2B transactions, we observe a rising relevance of ADR procedures in general, and of mediation in particular.29 Businesses seek speedy, cost-efficient dispute resolution processes that focus on their respective commercial interests and preserve (existing) business relationships. Mediation in particular serves these needs. However, mediation is costefficient only in disputes that go beyond a threshold of approximately 2,000 to 5,000 Euros.30 This is because mediation involves relatively high fixed costs: a mediator must be hired, and he or she is usually paid by the hour. Even in a dispute with a relatively low commercial value, a mediator typically will spend a couple of hours, if not (half) a day, on the case, and it

28 See generally CHRISTOPHER HODGES & STEFAAN TIVE REDRESS—NEW TECHNOLOGIES 43-143 (2018).

VOET, DELIVERING COLLEC-

29 See Baker & McKenzie, The Year Ahead—Developments in Global Litigation and Arbitration in 2020 (2020), https://bakermckenzie.turtl.co/story/the-year-ahead-2020/ page/4/2?teaser=true (“Mediation is gaining traction around the world, with increasing amounts of legislation to support and promote it.”). 30 For a cost/benefit analysis of mediation see HORST EIDENMÜLLER, VERTRAGS- UND VERFAHRENSRECHT DER WIRTSCHAFTSMEDIATION 5–7, 67–68 (2001).

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would not be efficient to pay over 1,000 Euros in fees in a 2,000 Euro dispute, for example. This is the reason why arbitration in this medium range does not have much relevance at all. The fees of a tribunal consisting of three arbitrators will usually reach a five-digit Euro figure, and will exceed or come close to the amount in dispute also if only one arbitrator is appointed.31 Further, the proceedings will last at least a couple of months even if fast-tracked. It does not make commercial sense for the parties to the dispute to arbitrate cases like this. This is even truer with respect to commercial disputes in the medium range arising from B2C transactions. In addition to the fact that arbitration will not be commercially sensible in most of these cases, there are legal hurdles. In Europe, for example, consumers are not able to agree to arbitration in an arbitration clause ex ante, i.e., in a provision of the contract that gives rise of the dispute.32 Given that it is usually extremely difficult to agree on anything—including a dispute resolution procedure—once a dispute has already arisen (ex post), this is a serious legal obstacle for the development of arbitration in B2C disputes, at least in Europe. Instead of arbitration, it is conciliation and—if the dispute is in the five-digit Euro range or higher— mediation that have become more relevant as dispute resolution procedures in practice, taking away some of the cases that formerly were handled by the state courts.33 The third segment of the dispute resolution market consists of high-stakes disputes with an amount in dispute exceeding 100,000 Euros. These disputes arise primarily out of B2B transactions, and they are relatively infrequent, at least compared to the small-stakes or medium-stakes disputes discussed above. It is in this segment of the dispute resolution market that arbitration is still very popular.34 With respect to certain sub-segments, it is probably even the case that arbitration is the leading dispute resolution process. Just think of disputes arising out of complex M&A transactions. It has been observed that “[a]rbitration has indeed emerged as the preferred method to resolve M&A related disputes […]”.35

31 In a US$ 5,000 dispute, the International Chamber of Commerce (ICC), for example, sets fees of US$ 9,000 for a tribunal of three arbitrators and of US$ 3,000 for a sole arbitrator. See the ICC cost calculator, https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbitration/ costs-and-payments/cost-calculator/. 32 See Article 10(a) ADR Directive (supra note 19). 33 See the text supra accompanying notes 23–27. 34 For data see Section III infra. 35 Bernd D. Ehle, Arbitrations as a Dispute Resolution Mechanism in Mergers and Acquisitions, COMPARATIVE LAW YEARBOOK OF INTERNATIONAL BUSINESS 287 (2005), available at https://www.lalive.law/wp-content/uploads/2019/10/beh_arbitration_as_a_ dispute.pdf.

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Other ADR methods are also gaining importance in this market segment. This includes mediation. However, as already mentioned, it is very difficult to ascertain the practical relevance of mediation given the dearth of data.36 In special sub-segments of this market, ADR procedures other than mediation are also practically relevant. This is the case, for example, with respect to the construction industry. Here, Dispute Review Boards have become a practically relevant ADR mechanism.37 The state courts try hard to maintain their market share in dispute resolution services in this segment or even reclaim lost market share. It is probably in this segment that the competition between state courts and arbitral tribunals is most stiff. A couple of indicators, to which I now turn, support this assessment. 2. Indicators for Competition with respect to High-Stakes Disputes First, state courts in many jurisdictions explicitly attempt to modernize their “services”, trying to become more efficient dispute resolution providers and more competitive in the dispute resolution market. In Germany, for example, a new legislative proposal would, if passed, introduce special chambers for international commercial disputes within the county courts (Landgerichte). Before these chambers, proceedings could be conducted in the English language.38 Further, according to another legislative proposal, the various German federal states (Länder) would be given the possibility to introduce specialized chambers for specific types of commercial disputes, and they could reduce the number of regional courts and create more concentrated court structures, thereby enhancing the specialty of the tribunals.39 These legislative developments clearly evidence the fact that the German lawmaker, for one, believes it needs to modernize its procedures in order to attract a sophisticated international clientele of case placers. Similar developments, in particular the establishment of specialized “business/commercial courts”, take place in many other jurisdictions worldwide.40 For example, the Singapore International Commercial Court was established on 5 January 2015,41 the International Chamber of the Paris Court of Appeal on 7 February 2018,42 and the Netherlands Commercial 36

See Section I supra. See, for example, Martin Engel, Hybride Verfahren, in MEDIATIONSRECHT 403, 406–407 (Horst Eidenmüller & Gerhard Wagner eds., 2015). 38 See “Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG)”, Deutscher Bundestag Drucksache 19/1717, 18 April 2018. 39 See “Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Strukturen der Landgerichte”, Deutscher Bundesrat Drucksache 322/15, 7 July 2015. 40 See, for example, WAGNER (supra note 14) at 196–198 (surveying developments in Singapore, Dubai, Qatar, Abu Dhabi, India and The Netherlands). 41 See https://www.sicc.gov.sg/. 42 See https://www.cours-appel.justice.fr/paris. 37

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Court on 1 January 2019.43 The Brussels International Business Court aims to become operational by 2020.44 In most of these courts, it is possible for the parties to use English as their language. In Europe, the goal is not only to take business away from arbitration but also to challenge the dominant position of the English courts in a post-Brexit world.45 A recent study for the European Parliament’s Committee on Legal Affairs concludes that the EU should seek to establish a “European Commercial Court”.46 Secondly, various arbitral institutions such as, for example, the American Arbitration Association (AAA), the London Court of International Arbitration (LCIA), or the International Chamber of Commerce (ICC), continually attempt to modernize their procedures or introduce new ones, trying to maintain or improve their market share in the dispute resolution market.47 In Europe, the ICC clearly is considered the market leader amongst service providers by disputing parties and their lawyers. I will present and discuss data on this issue in the next section of this essay. A final indicator for the existence of a relatively stiff competition between state courts and arbitral tribunals with respect to high-stakes disputes is the fact that parties take sophisticated decisions on the litigation/arbitration issue. For example, arbitration carve-outs are widespread in the US regarding the protection of information and IP rights.48 Parties agree to arbitration in principle, but they reserve the right to submit the above-mentioned issues to 43

See https://netherlands-commercial-court.com/. See Erik Peetermans & Philippe Lambrecht, The Brussels International Business Court: Initial Overview and Analysis, 12 ERASMUS LAW REVIEW (2019), available at http://www.erasmuslawreview.nl/tijdschrift/ELR/2019/1/ELR-D-18-00025.pdf. 45 See Horst Eidenmüller, The Rise and Fall of Regulatory Competition in Corporate Insolvency Law in the European Union, 20 EUROPEAN BUSINESS ORGANIZATION LAW REVIEW (EBOR) 547, 560–563 (2019). 46 See Giesela Rühl, Building Competence in Commercial Law in the Member States, 2018, at 58–63, available at http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2018/ 604980/IPOL_STU(2018)604980_EN.pdf. 47 Whether these “new services” introduced by arbitral institutions are leading towards an over-proceduralization or over-judicialization of arbitration, is discussed intensively in arbitration scholarship. See, for example Yves Dezalay & Bryant G. Garth, Fussing About the Forum: Categories and Definitions as Stakes in a Professional Competition, 21 L. & SOC. INQUIRY 285, 299 (1996) (arguing that such formalization and institutionalization of arbitration should be perceived as an adaptation strategy, enhancing the legitimacy of this form of dispute resolution in circumstances where it is used on a mass scale). Whether and how this is going to affect participation and participants in arbitrations is a question of empirical research for the future. See also Catherine Rogers, Is International Arbitration in a Race to the Top? (March 15, 2018), http://arbitrationblog.kluwerarbitration.com/2018/ 03/15/is-international-arbitration-in-a-race-to-the-top/ (“This competition among institutions has both prompted and been pushed by greater transparency so that the relative strengths of institutions can be assessed by parties and attorneys.”). 48 See, for example, Erin O’Hara O’Connor, Jurisdictional Competition for Dispute Resolution: Courts versus Arbitration, in REGULATORY COMPETITION IN CONTRACT LAW AND DISPUTE RESOLUTION 427 (Horst Eidenmüller ed., 2013). 44

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the state courts, for example, by asking for injunctive relief. Apparently, such parties fear that, with respect to such sensitive issues, state courts potentially do a better job than arbitral tribunals.

III. Success Factors in Regulatory Competition What then are the factors that are determinative with respect to parties’ choice for or against litigating/arbitrating a dispute? And if they decide to arbitrate, what are the factors that are determinative with respect to picking a particular arbitral institution? In the following, I attempt to answer these questions. My analysis is based on key findings from an empirical study on the arbitration market undertaken with two colleagues in 2015.49 1. The Decision to Arbitrate We found that the decision to arbitrate is driven primarily by three factors: the enforceability of awards, party autonomy with respect to the choice of the arbitrators, and confidentiality. More specifically, approximately 50% of the respondents in our survey considered the enforceability of awards to be a very important factor when deciding whether to arbitrate a case instead of litigating. Close to 45% thought that the neutrality of the arbitrators, their expertise and the free choice of the arbitrators by the parties is a very important factor. More than 40% think that the confidentiality of the proceedings is a very important factor. By contrast, speed and costs of the proceedings are much less relevant. Less than 20% of the respondents thought that a very important factor is that arbitration proceedings are faster than litigation, and only approximately 5% considered it very important that arbitration proceedings are less costly. These results confirm anecdotal evidence that many arbitration proceedings take as long as or even longer than court proceedings, and they can be as costly (or even more expensive) than litigation. 49

CASPAR BEHME, HORST EIDENMÜLLER & MARTIN FRIES, COMPETITION IN THE ARBITRATION MARKET (2016) (unpublished manuscript on file with author). The study is based on an empirical survey which was undertaken from January until March 2015. We sent out a questionnaire invitation to 8,200 individual arbitration practitioners worldwide. We received 357 completed answers. Respondents were mostly either in-house or external counsel. There is a certain bias in the survey towards German respondents: 44% of the completed answers came from German respondents, 12% from Swiss respondents, 6% from respondents based in the UK, 5% from US and 4% from French respondents. This bias and the low response rate rules out any claims to representativeness. However, our goal was to generate a significant number of responses from which one can derive hypotheses which could be investigated further. For this (limited) goal, 357 completed answers appear to be a good result.

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A specific reason to arbitrate a case in some jurisdictions is the fact that parties expect arbitral tribunals to be more faithful to upholding contractual freedom than state courts. In Germany, for example, courts also scrutinize standard terms and conditions in B2B contracts for their fairness or unfairness.50 Hence, terms and conditions in complex M&A or construction deals that are not individually negotiated might be considered unenforceable by a German court if the transaction is subject to German law. This has led German companies to seek alternatives to German law and courts with respect to significant international commercial transactions.51 Either Swiss or English law usually governs these transactions, and arbitral tribunals in Switzerland or in the UK resolve conflicts.52 The German lawmaker is aware of the problem and is considering whether the above-mentioned court control of standard terms and conditions in B2B transactions should be relaxed or even abolished.53 This is another development that supports the thesis in this essay that state courts and arbitral tribunals compete for market shares with respect to high-stakes commercial disputes. 2. The Choice of an Arbitral Institution If parties decide to arbitrate, they will usually resort to an arbitral institution to administer the case, i.e., the arbitration will be “institutional” and not “ad hoc”. Once again, three factors are primarily determinative with respect to the choice of a particular institution. More than 40% of the respondents in our survey considered the expertise of the institution and its professionalism in case management to be a very important factor. Further, more than 40% considered (their) positive experience with a certain institution and the expertise of the arbitrators on the roster of the institution to be very important factors. Hence, it is primarily the reputation of an institution as a professional case manager which builds on prior positive experiences that determines parties’ choice.

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Section 310(1) of the German Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), the Civil Code. See Horst Eidenmüller, The Transnational Law Market, Regulatory Competition, and Transnational Corporations, 18 INDIANA JOURNAL OF GLOBAL LEGAL STUDIES 707, 719–723 (2011). 52 Id. 53 See “Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD—19. Legislaturperiode”, 12 March 2018, available at https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitions vertrag_2018.pdf?file=1, at 131 (“Wir werden das AGB-Recht für Verträge zwischen Unternehmen auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, die Rechtssicherheit für innovative Geschäftsmodelle zu verbessern.”). 51

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IV. Evaluation of Competition and Regulatory Consequences In the final section of this article, I reflect on the normative evaluation of the competition discussed in the previous sections and offer thoughts on the regulatory consequences that one might wish to derive. I distinguish between certain general considerations and specific issues relating to arbitral proceedings regarding B2C disputes on the one hand and B2B disputes on the other hand. 1. General Considerations As a starting point, one can say that competition between state courts and arbitral tribunals is a positive phenomenon as long as first, the respective procedures are structurally fair—in relation to the interests of the participants and affected third parties—, and second, access to the procedures is guaranteed for everybody. Competition is to be welcomed under these conditions because it creates pressure to innovate and make the procedures more user-friendly.54 Disputing parties that are in a weaker bargaining position than their counterparties—for example, because they are less sophisticated or have fewer resources at their disposal—should be protected by initial controls on whether they are allowed to use a particular procedure and/or by process rules that seek to establish and maintain procedural fairness. If one relaxes initial controls, i.e., liberalizes the use of a particular process, more controls and checks must be established within the process to make sure that weaker parties are sufficiently protected. ADR procedures in general have been criticized because they allegedly water down behavioral incentives for disputing parties.55 If one assumes that ADR procedures such as mediation or conciliation end up with a compromise in the majority of cases, and if one further assumes that these processes are so widespread that such results influence the decision of parties when they consider, for example, whether to breach a contract or not, these parties would have the wrong incentives. They would not internalize the full anticipated costs of their behavior. At the same time, it is not at all clear whether the assumptions just mentioned are realistic. More specifically, we do not have reliable data on the frequency with which these processes are used in dispute resolution practice and on whether and to what extent human decision-makers are influenced by anticipated outcomes of dispute 54

See Eidenmüller (supra note 51) at 729–735. See Steven Shavell, Alternative Dispute Resolution: An Economic Analysis, 24 J. LEG. STUD. 1 (1995). 55

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resolution processes during contract performance. It appears quite farfetched to assume that a contracting party that considers breaching a contract is influenced by the likelihood and expected outcome of a potential ADR proceeding. 2. B2C Arbitral Proceedings Arbitration proceedings should be opened up to the greatest extent possible, including, in particular, in relation to B2C disputes. This suggestion goes against a trend that is critical of arbitration with respect to these disputes. Article 10 of the ADR Directive in Europe has already been mentioned, according to which arbitration clauses in B2C contracts are unenforceable. The case for arbitration with respect to these types of disputes rests primarily on a comparative analysis with conciliation and mediation.56 The EU in particular promotes conciliation and mediation in B2C disputes. However, these types of disputes are characterized by mandatory consumer protection regulations. Mediators and conciliators are not necessarily jurists, and they are not necessarily well qualified to enforce mandatory consumer rights.57 A better approach would be to entrust arbitral tribunals with enforcing these rights. Arbitral proceedings are “rights-based”, and arbitrators must respect fundamental due process guarantees such as the right to be heard and equal treatment of the parties.58 Tribunals could be financed by businesses or trade associations so that consumers would have free access.59 However, a nominal fee might be charged to prevent frivolous claims. Institutional safeguards should be established to secure the independence of tribunals if these are financed by businesses/trade associations.60 56 See Horst Eidenmüller, Online Dispute Resolution (ODR) und Consumer ADR: Ein Plädoyer für die Online-Verbraucher(schieds)gerichtsbarkeit, 2016 BITBURGER GESPRÄCHE JAHRBUCH 101, 110–112 (2017). 57 See Horst Eidenmüller & Martin Engel, Against False Settlement: Designing Efficient Consumer Rights Enforcement Systems in Europe, 29 OHIO ST. J. DISP. RES. 261, 287, 296 (2014); MARTIN FRIES, VERBRAUCHERRECHTSDURCHSETZUNG (2016). 58 See Article 11 of the ADR Directive (supra note 19); Article 18 of the UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (1994), available at https://www. uncitral.org/pdf/english/texts/arbitration/ml-arb/06-54671_Ebook.pdf. 59 That raises the question what incentives, financial or otherwise, businesses would have to participate in such arbitral proceedings instead of designing their own systems (for examples see Section II supra). First, more independent tribunals might be a source of higher legitimacy. Second, smaller businesses will usually lack the resources to develop inhouse solutions. 60 See Enrique Vallines Garcia, Impartiality and Independence of the Persons Entrusted with Consumer ADR, in THE ROLE OF CONSUMER ADR IN THE ADMINISTRATION OF JUSTICE 79, 87–101 (Michael Stürner, Fernando Gascón Inchausti & Remo Caponi eds., 2015).

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Mass claims and class actions/arbitrations pose particular regulatory challenges. If class arbitrations are not feasible, consumers should not be forced to arbitrate disputes individually and lose the benefit of collective action and special remedies such as punitive damages.61 However, generally upholding the barriers to arbitrate B2C conflicts and promoting access to litigation instead has, as has been shown, regressive effects: it disadvantages the potentially large subgroup of poor, uninformed, and unlikely-to-sue consumers and advantages the stronger, more informed and vigilant ones.62 3. B2B Arbitral Proceedings As discussed above in Section II 1, arbitration is not frequently employed with respect to medium-stakes disputes. Most often, it is too costly and too lengthy a dispute resolution mechanism to be efficient enough for the parties to choose in these kinds of disputes. Hence, one can consider sponsoring access by businesses to arbitration with respect to mediumstakes disputes. At the same time, arbitral institutions should have enough market-based incentives to develop new and more efficient procedures themselves.63 There is no market failure in this regard. Another problem often associated with arbitration is lack of publicity of its results, and, as a consequence, few (if any) precedents.64 Commercial actors act and transact in the “shadow of the law”.65 They figure in legal rules and regulations, including precedents, in their commercial decisions. Promoting the use of arbitrations appears to diminish the shadow of the law and, therefore, to diminish the behavioral incentives associated with it. There are two ways to address this point. First, the publicity of results of arbitral proceedings can be increased. This is easier with respect to special forms of arbitrations such as investor-state arbitrations where there is a strong political interest in the publication of results. Excerpts of ICSID 61 However, the US Supreme Court takes a different view. According to its jurisprudence, the availability of class arbitrations is not a prerequisite for enforcing an arbitration clause. See AT&T Mobility v. Concepcion, 563 U.S. 333 (2011); Epic Systems Corp. v. Lewis, 138 S. Ct. 1612 (2018). 62 Omri Ben-Shahar, Arbitration and Access to Courts: Economic Analysis, in REGULATORY COMPETITION IN CONTRACT LAW AND DISPUTE RESOLUTION 447 (Horst Eidenmüller ed., 2013). 63 An example is the London Maritime Arbitrators Association (LMAA) Small Claims Procedure 2017 which applies to disputes not exceeding USD 100,000. See http://www. lmaa.org.uk/terms-the-lmaa-small-claims-procedure.aspx. 64 See Stefan Pislevik, Precedent and development of law: Is it time for greater transparency in International Commercial Arbitration?, 34 ARBITRATION INTERNATIONAL 241 (2018). 65 See generally Robert H. Mnookin & Lewis Kornhauser, Bargaining in the Shadow of the Law: The Case of Divorce, 88 YALE L. J. 950 (1977).

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awards, for example, are published even if the parties do not consent to the publication of the award in toto.66 But even with respect to “ordinary” commercial arbitrations, the trend is towards more transparency. Under the ICC Rules of Arbitration, for example, publication—at the discretion of the ICC—is now the default position unless the parties object.67 Second, and more importantly, the concern about loss of precedent associated with arbitrations appears overstated. Not so many cases go to arbitration in specific areas that the behavioral steering function of the law would be severely compromised. After all, it is not only court decisions that make up the law, even in common law jurisdictions. Statutory provisions and regulations also play an important role, and this role is increasing. For an example, just think of the financial and economic crisis in 2007–2009 and its regulatory aftermath worldwide. Further, some case law will exist even in those areas of the law where arbitration has a strong foothold. Finally, if businesses opt out of the process of case law creation by choosing arbitration for particular transactions, it is their voluntary decision. In this sense, relevant case law is a private, not a public good.

Conclusion This essay has investigated some important aspects of competition between state courts and private tribunals. ADR procedures are on the rise worldwide, and so is competition for cases by providers of dispute resolution services. However, one needs to distinguish carefully between different market segments in this regard. The analysis in this article has been informed by an empirical investigation of the dispute resolution preferences of “case placers” undertaken in 2015. The key findings of the article can be summarized as follows: 1. Competition between state courts and arbitral tribunals currently exists primarily with respect to high-stakes B2B disputes. The amount in dispute in these cases will usually exceed 100,000 or even 1,000,000 Euros. A significant portion of the total dispute resolution volume in this market segment goes to arbitration. State courts and arbitral institutions are in stiff competition to maintain or increase their respective market shares. 66 See Article 48(4) of the ICSID Arbitration Rules: “The Centre shall not publish the award without the consent of the parties. The Centre shall, however, promptly include in its publications excerpts of the legal reasoning of the Tribunal.” 67 See ICC, Note to Parties and Arbitral Tribunals on the Conduct of the Arbitration under the ICC Rules of Arbitration, 1 January 2019, available at https://iccwbo.org/con tent/uploads/sites/3/2017/03/icc-note-to-parties-and-arbitral-tribunals-on-the-conduct-of -arbitration.pdf, at 7–8.

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2. If parties decide to arbitrate a dispute, they do so primarily because of the effective international enforceability of an award, the autonomy to choose competent and neutral arbitrators and the confidentiality of the proceedings. Speed and costs of the proceedings are much less relevant. Commercial arbitrations, especially international commercial arbitrations, will usually be administered by an arbitral institution. The choice of an arbitral institution is primarily influenced by its reputation as a professional case manager and by prior positive experiences of the parties. 3. Access to arbitration should be made easier also with respect to B2C small- and medium-stakes disputes. This means that the trend in the European Union of promoting conciliation/mediation with respect to these types of disputes should be reversed. Arbitration is less “dangerous” than conciliation/mediation in small- or medium-stakes B2C disputes because it is a legal process governed by fundamental due process guarantees. By contrast, conciliations/mediations are not subject to these guarantees, and they are not well suited to enforce mandatory consumer rights. 4. No compelling case can be made for increasing access of businesses to arbitration in medium-stakes B2B disputes. Arbitral institutions have highpowered incentives to design new and efficient procedures for these types of disputes. How will new technologies, especially AI, affect the analysis in this essay and its conclusions? It is too early to tell for sure. However, technological innovations with an application for dispute resolution are pushed primarily by private sector firms, as discussed briefly in Section II. This trend will probably continue and might even get stronger. Hence, dispute resolution will be privatized to an ever-greater degree. This development poses unique regulatory challenges for the protection of weaker parties, especially consumers.

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Disqualification of Counsel in Investment Arbitration Disqualification of Counsel in Investment Arbitration Siegfried H. Elsing

Disqualification of Counsel in Investment Arbitration SIEGFRIED H. ELSING*

I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Disqualification of counsel based on arbitral tribunal’s “inherent power” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Criteria for disqualification . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Procedure to be applied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Compromising the integrity of proceedings: Assessment of counsel’s conduct – still admissible or already inadmissible? 3. Preserving the integrity of proceedings by ordering a sanction: Balancing the parties’ interests as a corrective criterion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Example: Representation of client adverse to a former client (conflict of interest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. The arbitral tribunal’s inherent power to disqualify counsel . 2. Legal analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Final remarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction Legal practice has constantly globalized during the last few decades. Needless to say, this is particularly true for international arbitration, a playing field in which Roderich Thümmel is well-versed. When international law firms merge, or specialists and their teams transfer from one firm to another, “globalization” not only creates problems in the form of conflicts of interests for arbitrators but also for counsel. Furthermore, it can be observed in international arbitration proceedings that the accusation of instrumentalizing “guerilla tactics” by counsel is more often raised - sometimes to the surprise of opposing counsel who is of the view that he is doing everything right to protect the interests of his client. * The author thanks Margaretha Kramer for providing very valuable assistance in preparing this contribution.

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However, despite the increasing need for clarification and significant recent efforts to respond to such need there is still a considerable lack of international, unified rules stipulating legal standards for counsel conduct (including such addressing conflicts of interest) in international arbitration. Only a few examples exist that attempt to carve out a minimum standard, such as the International Bar Association (“IBA”) Guidelines on Party Representation in International Arbitration (2013) or the General Guidelines for the Parties’ Legal Representatives adopted as Annex to the “new” London Court of International Arbitration (“LCIA”) Rules (2014) – just to name two prominent examples. Furthermore, rumors have it that the International Chamber of Commerce (“ICC”) might also be working on respective guidelines or rules. Nevertheless, due to the very high-level description of proper counsel conduct in international arbitration contained in the mentioned guidelines and rules, uncertainty remains regarding the question whether a party representative’s behavior qualifies as misconduct. Naturally, culture clashes in international disputes might lead to different views as to whether a certain behavior is still admissible or already inappropriate. However, even if one concluded that a certain behavior was to be regarded as inadmissible, arbitral tribunals are usually left without guidance as to the question whether or not they have the authority to appraise and even to sanction the misconduct of a party that is not even a signatory part of the arbitration agreement. Most of the institutional rules are silent in this regard. Particularly commercial arbitration seems to be rather reluctant in acknowledging the arbitral tribunal’s respective competence to rule on those issues. It would rather seem that the discussion as to whether counsel’s conduct may be sanctioned by an arbitral tribunal is more “open” in investment arbitration. The following article, thus, focuses on the arbitral tribunal’s power and the criteria for disqualifying a party representative based on (potential) misconduct in investment arbitration under the Convention of the International Center of Settlement of Investment Disputes (“ICSID Convention”).

II. Disqualification of counsel based on arbitral tribunal’s “inherent power” Neither the ICSID Convention nor the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules explicitly grant arbitral tribunals the power to sanction counsel’s misconduct in arbitral proceedings. However, the fact that ordering a sanction for counsel’s misconduct is not expressly provided for in those provisions does not exclude an arbitral tribunal’s jurisdiction to issue a respective order.

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To the contrary - pursuant to Article 44 of the ICSID Convention “[a]ny arbitration proceeding shall be conducted in accordance with the provisions of this Section and, except as the parties otherwise agree, in accordance with the Arbitration Rules in effect on the date on which the parties consented to arbitration. If any question of procedure arises which is not covered by this Section or the Arbitration Rules or any rules agreed by the parties, the Tribunal shall decide the question. (emphasis added)

Accordingly, Article 35 of the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules provides that “[i]f any question of procedure arises which is not covered by these Rules or any rules agreed by the parties, the Tribunal shall decide the question.”

In Introductory Note D to Part D of the first ICSID Rules of Procedure for Arbitration Proceedings (Arbitration Rules) 1968, the drafters have explicitly clarified that “[…] whenever the parties do not agree on some procedural point that is also not, or only inadequately covered by these Rules, then the Tribunal has a residual power to decide the question (Article 44 of the Convention): that provision is, in fact, only declaratory of the inherent power of any arbitral tribunal to formulate its own rules of procedure in the event of a lacuna.”1 (emphasis added)

ICSID tribunals have derived such “inherent power” from their overriding duty to protect and safeguard the integrity of the arbitration proceedings and preserve the principle of fair trial.2 In one of the first ICSID decisions in which the arbitral tribunal made use of its “inherent power” to fill a gap pursuant to Article 44 of the ICSID Convention, the arbitral tribunal acknowledged that “every court has inherent powers […] when justice so requires”.3 In spite of the lack of specific provisions, it does not, thus, come as a surprise that reputable commentators understand Article 44 of the ICSID 1 See also Schreuer, The ICSID Convention: A Commentary (2nd ed., 2009), Art. 44, p. 688, para. 54. 2 The Rompetrol Group N.V. and Romania, ICSID Case No. ARB/06/3, Decision of the Tribunal on the Participation of a Counsel of 14 January 2010, para. 16; Hrvatska Elektroprivreda, d.d. v. The Republic of Slovenia, ICSID Case No. ARB/05/24, Ruling of 6 May 2008, para. 30 and 33. See for a specific justification for an arbitral tribunal’s inherent power in investment arbitration in: C. Brower and S. Schill, “Regulating counsel conduct before international arbitral tribunals,” Chapter 24 in Making Transnational Law Work in the Global Economy: Essays in Honour of Detlev Vagts (R. Dolzer et al. eds, Cambridge, 2010), pp. 488, 495 et seq. 3 Southern Pacific Properties (Middle East) Limited v. Arab Republic of Egypt, ICSID Case No. ARB/84/3, Decision on Preliminary Objections to Jurisdiction of 27 November 1985, para. 87.

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Convention (and accordingly Article 35 of the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules) as to “includ[e] the authority [of tribunals] to regulate the proceedings before them and to impose sanctions for counsel misconduct […].”4

The extensive wording of Article 44 of the ICSID Convention and Article 35 of the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules does not address any particular remedy but rather leaves it entirely to an arbitral tribunals discretion which remedial measures it finds necessary and appropriate under the circumstances of the individual case. According to ICSID tribunals, the authority to impose sanctions for counsel misconduct would, thus, even include rulings on motions to disqualify counsel in certain circumstances.5

III. Criteria for disqualification As already pointed out, neither the ICSID Convention nor the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules explicitly address the arbitral tribunal’s power to sanction counsel’s misconduct in arbitral proceedings. Consequently, these provisions also do not define any specific criteria for remedies or sanctions to be applied in case of counsel misconduct. The same is true for international guidelines, such as the IBA Guidelines on Party Representation in International Arbitration (2013) or the Annex of the LCIA Rules (2014) already mentioned which eventually refer to the arbitral tribunal’s discretion to impose sanctions in case of misconduct.6 The following chapters, thus, draw a road map for the procedure to be applied by the arbitral tribunal when counsel conduct is in dispute.

4 C. Brower and S. Schill, “Regulating counsel conduct before international arbitral tribunals,” Chapter 24 in Making Transnational Law Work in the Global Economy: Essays in Honour of Detlev Vagts (R. Dolzer et al. eds, Cambridge, 2010), pp. 488, 499. 5 Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide v. Republic of the Philippines, ICSID Case No. ARB/03/25 (Annulment Proceeding), Decision on Application for Disqualification of Counsel of 18 September 2008, para. 37; Hrvatska Elektroprivreda, d.d. v. The Republic of Slovenia, ICSID Case No. ARB/05/24, Ruling of 6 May 2008, para. 33 and 34; more reluctantly: The Rompetrol Group N.V. and Romania, ICSID Case No. ARB/06/3, Decision of the Tribunal on the Participation of a Counsel of 14 January 2010, paras. 15 et seq. 6 See IBA Guideline 26 (d) on Party Representation in International Arbitration (2013) and para. 7 of the Annex to the LCIA Rules (2014) in connection with Art. 18.6 (iii) of the LCIA Rules (2014).

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1. Procedure to be applied Consequences of an order sanctioning a party representative’s conduct will, in most cases, not only affect the party representative (if at all) but also the client directly, namely the party itself. Such orders may lead to additional costs and substantial delay of the arbitral proceedings, cause disadvantages with respect to the party’s case when negative inferences are drawn from counsel’s misconduct or - as ultima ratio - even limit the party’s fundamental right to be represented by counsel of the respective party’s own choice. Thus, it goes without saying that the first step of procedure is to give the parties to the arbitration and, if need be, the party representative adequate and sufficient opportunity to present their position before rendering any decision. An order with the said consequences will only be justified in exceptional circumstances.7 As already pointed out, the arbitral tribunal’s inherent power to render any such order is derived from its overriding duty to protect and safeguard the integrity of the arbitral proceedings and preserve the principle of fair trial. Preserving the integrity of the arbitral proceedings, thus, constitutes the benchmark for any decision to be rendered. When reviewing the parties’ submissions and assessing counsel’s conduct, the arbitral tribunal must therefore have to be satisfied that (1) the continuing representation by counsel (in the respective manner or at all) would compromise the integrity of the proceedings, and (2) the integrity of the proceedings would be preserved by sanctioning counsel’s misconduct by a specific remedy (such as disqualification). Thereby, the requirement “to be satisfied that the continuing representation by counsel would compromise the integrity of the proceedings” implies that any such allegation may not be based on mere appearances. In its Decision on Application for Disqualification of Counsel dated 18 September 2018, the ICSID Committee in the ICSID case Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide v Republic of the Philippines (“Fraport”) highlighted this important requirement: “The Committee cannot act in this regard simply on mere appearances since to prevent a party from having access to its chosen counsel cannot depend upon a nebulous foundation, but rather must flow from clear evidence of prejudice. […].”8 (emphasis added) 7 Compare The Rompetrol Group N.V. and Romania, ICSID Case No. ARB/06/3, Decision of the Tribunal on the Participation of a Counsel of 14 January 2010, para. 16: “Absent express provision, the only justification for the tribunal to award itself the power by extrapolation would be an overriding and undeniable need to safeguard the essential integrity of the entire arbitral process. It plainly follows that a control of that kind would fall to be exercised rarely, and then only in compelling circumstances.” 8 ICSID Case No. ARB/03/25 (Annulment Proceeding), para. 55.

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2. Compromising the integrity of proceedings: Assessment of counsel’s conduct – still admissible or already inadmissible? Being guided by the questions posed in the foregoing chapter, the arbitral tribunal will first have to appraise counsel’s behavior in order to decide whether such behavior is still admissible or already compromises the integrity of the proceedings. Since the ICSID Convention and the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules lack any definition of counsel misconduct, when formulating specific requirements for sanctions for counsel misconduct and thereby assessing the conduct in question, the arbitral tribunal will be guided by internationally accepted standards and general principles which are indispensable for the preservation of the integrity of proceedings and thus for a fair conduct of the proceedings. The determination of the applicable principles and standards under the specific circumstances of each individual case lies in the discretion of the arbitral tribunal. In particular, the arbitral tribunal is not bound by national or professional ethical rules. According to Schreuer, “Art. 44 creates a comprehensive and self-contained system that is insulated from national rules of procedure. In particular, the place of proceedings has no influence on procedure before an ICSID tribunal”.9

Thus, unless otherwise agreed by the parties, national or professional ethical rules are not applicable to ICSID arbitration proceedings. These rules may, however, serve as guidelines to the extent they reflect generally accepted principles. As an example, internationally accepted standards and general principles may concern certain confidentiality obligations or conflict of interest provisions (see chapter IV.).

3. Preserving the integrity of proceedings by ordering a sanction: Balancing the parties’ interests as a corrective criterion Eventually, the arbitral tribunal will have to decide which sanction is suitable to effectively inhibit or compensate counsel’s misconduct and prevent the integrity of the proceedings. In order to determine the appropriate remedy, the arbitral tribunal will be well advised to weigh the interests of both parties against each other. Accordingly, the arbitral tribunal will have to balance (1) one party’s right to fair and equitable proceedings, with (2) the other party’s right to choose its own counsel and present its case. 9

Schreuer, The ICSID Convention: A Commentary (2nd ed., 2009), Art. 44, p. 674, para. 3.

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When conducting such balancing exercise, the arbitral tribunal must account for the severity of the misconduct and the appropriateness of the chosen remedy compared to other remedies available to preserve the integrity of the proceedings (including, for example, the establishment of an ethical wall). Amongst several possible remedies, the arbitral tribunal will have to choose the “mildest” one. Being the most detrimental sanction, the disqualification of counsel must be regarded as ultima ratio. IBA Guideline 27 (f) on Party Representation in International Arbitration further suggests considering “the extent to which the Party represented by the Party Representative knew of, condoned, directed, or participated in, the Misconduct”.

IV. Example: Representation of client adverse to a former client (conflict of interest) For purposes of illustration, the following chapter shall deal with a practical example in which these abstract criteria will be applied. The example – being presented in a simplified manner – is in most aspects based on the facts underlying the Fraport arbitration matter10: Example: Respondent P to an ICSID arbitration alleges that Claimant F’s leading lawyer, when working for his former law firm, represented Respondent P in an ICC matter five years ago which was – allegedly – substantially related to the ICSID arbitration. Respondent P therefore applies for disqualification of counsel based on a conflict of interest. Respondent P further claims that Claimant F’s lawyer received confidential information on Respondent P of which he can now make use as opposing counsel. It is uncontested that Claimant F’s lawyer, when working at his former law firm, submitted a letter to the ICC confirming that his law firm will represent P in the ICC arbitration in question. It is furthermore undisputed that following such declaration his law firm received the ICC case file. Finally, it is uncontested that Claimant F’s lawyer – or rather his law firm – withdrew from representing P in the ICC arbitration only a few days after having received the case file due to a conflict of interest. Claimant F’s lawyer submits to have been tied up in a hearing on the day of the receipt of the case file and on the following days. He further claims to have had no relevant contact with Respondent P as substantial discussions were envisaged to follow upon review of the case file. Claimant F’s lawyer, thus, objects to Respondent P’s allegations claiming to have never represented P (an engagement letter did not exist) and denying that he had access to confidential information. 10 See Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide v. Republic of the Philippines, ICSID Case No. ARB/03/25 (Annulment Proceeding), Decision on Application for Disqualification of Counsel of 18 September 2008, paras. 6–29.

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1. The arbitral tribunal’s inherent power to disqualify counsel Since the ICSID Convention and the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules do not provide for any specific rules on the disqualification of counsel, the arbitral tribunal has the inherent power to render a respective decision based on Art. 44 of the ICSID Convention in connection with Art. 35 of the ICSID Arbitration (Additional Facility) Rules. Accordingly, the Fraport Committee even came to the conclusion that it had the duty to render a decision on the motion to disqualify counsel: “The Committee considers that it has the power and duty to conduct the process before it in such a way that the parties are treated fairly and with equality and that at any stage of the proceedings each party is given the opportunity to present its case. This power and duty necessarily includes the power and obligation to make sure that generally recognized principles relating to conflict of interest and the protection of the confidentiality of information imparted by clients to their lawyers are complied with. Indeed, such principles are of fundamental importance to the fairness of the Committee’s procedures, such that the Committee has the power and duty to ensure that there is no serious departure from them.”11 (emphasis added)

2. Legal analysis The legal standard to be applied in order to determine whether the arbitral tribunal should disqualify counsel would be met if the arbitral tribunal concluded that (1) the continuing representation by Claimant F’s counsel would compromise the integrity of the proceedings, and (2) the integrity of the proceedings could only be preserved by disqualifying Claimant F’s counsel from the proceedings.

a) Clear evidence that representation compromises the integrity of the proceedings In the example presented Respondent P’s main concern is that opposing counsel was in possession of confidential information (substantially related to the present ICSID arbitration) obtained in a former attorney-client relationship which the opposing counsel could use to the detriment of Respondent P in the ICSID arbitration. Such asymmetry of information and unequal treatment of the parties could, in fact, pose a real risk to the integrity of the proceedings. 11 Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide v. Republic of the Philippines, ICSID Case No. ARB/03/25 (Annulment Proceeding), Decision on Application for Disqualification of Counsel of 18 September 2008, para. 37.

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Against this background, the Fraport Committee developed the following standard for its legal analysis “[…] Where the allegation related to the representation of a former client, the issue for the Committee is whether there is a real risk that the lawyer could have received confidential information from that client, which may be of significance in the subsequent proceedings, and which may accordingly prejudice the fair trial of the second proceedings.”12 (emphasis added)

For the purpose of determining whether the continuing representation of Claimant F’s lawyer would compromise the integrity of the proceedings, it, thus, follows that the arbitral tribunal must be convinced that (1) a former client-attorney relationship between Claimant F’s lawyer and Respondent P existed; (2) Claimant F’s lawyer obtained confidential information; (3) the confidential information obtained was of significance to the ICSID arbitration, and (4) a significant risk existed that Claimant F’s lawyer could use this information to the detriment of Respondent P in the ICSID arbitration. With regard to issues (1)–(3) it requires fact finding whereas the burden of proof lies with Respondent P as the applicant for the disqualification of the opposing counsel. Issue (4) will not require any fact finding but the arbitral tribunal to assess the risk posed by facts (1)–(3) for the integrity of the proceedings. As a sanity check for the requirements (1)–(4) which were stipulated based on the circumstances of the individual case and on precedent (nonbinding) ICSID case law, the arbitral tribunal might wish to further consult general national and professional ethical rules. It is rather obvious that the arbitral tribunal might consider for example such rules that the lawyer concerned would have to abide with according to the country in which he is admitted as a lawyer and, for example, such rules applicable at the seat of the arbitration. Furthermore, after consultation with the parties, the arbitral tribunal could take guidance from the IBA Guidelines on Party Representation in International Arbitration (2013). Assuming Claimant F’s lawyer would be admitted in Germany, the applicable professional rules of ethics in Sec. 43 lit. a para. 4 of the German Federal Lawyers’ Act (Bundesrechtsanwaltsordnung) provide that “A lawyer may not represent conflicting interests.”13 12

Fraport AG Frankfurt Airport Services Worldwide v. Republic of the Philippines, ICSID Case No. ARB/03/25 (Annulment Proceeding), Decision on Application for Disqualification of Counsel of 18 September 2008, para. 42. 13 Convenience translation by the author.

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The overriding purpose of such provision is to fortify the trust in the attorney-client relationship, to ensure the independence of the lawyer and to guarantee the straightforwardness in the practice of the profession of the lawyer in the interest of the general public.14 Pursuant to legal literature this rule prohibits the lawyer from representing a party if (1) the lawyer has already had a prior involvement within the framework of his professional capacity (2) in the same matter (requiring Sachverhaltsidentität, i.e., the identity of facts and interests), and (3) his former client’s interests were adverse to his new client’s interests.15 The German Federal Lawyers’ Act seems to be less strict in respect of what is to be regarded as a conflict of interest as it requires a priorinvolvement in the “same matter”. However, what becomes apparent is that the overriding principles of these stipulations are, in essence, in accordance with the legal standard derived from the circumstances of the individual case as well as Fraport: They also require the determination of the existence of a prior involvement in a matter that must be related to the subject matter of the present ICSID arbitration, and a prior involvement that is adverse to the current involvement. The German professional rules – even though they are not per se applicable in the ICSID arbitration –, thus, confirm the legal standard established originally. In the example presented it already appears doubtful whether an attorney-client relationship between P and Claimant F’s lawyer could, in fact, be established. The letter to the ICC merely stated that Claimant F’s lawyer “will represent” P in the ICC arbitration and an engagement letter did not exist. However, would one even assume, based on the fact that Claimant F’s lawyer presented himself as attorney on behalf of Respondent P, that the existence of a former attorney-client relationship has been proved, it is difficult to conclude that Claimant F’s lawyer received confidential information, let alone that such was of significance to the respective ICSID arbitration. The case file was only received a few days before Claimant F’s lawyer withdrew from the case and, as is common practice, had to be returned as soon as possible. Claimant F’s lawyer further submitted to having been in hearings when he received the case file which he could prove easily. Furthermore, Claimant F’s lawyer argued that no relevant contact took place but that substantial discussions with P were only to follow. It is therefore unlikely that Claimant F’s lawyer did, in fact, obtain any information on the 14

Träger, in Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung: BRAO (10th ed., 2020), Sec. 43a, para. 54. 15 See Träger, in Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung: BRAO (10th ed., 2020), Sec. 43a, paras. 56 et seq.

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ICC case, let alone that such information was of significance to the present ICSID arbitration. The mere appearance of “obtaining confidential information of significance for the ICSID arbitration” will not suffice to justify the arbitral tribunal’s order disqualifying counsel.

b) Preserving the integrity of the proceedings by disqualifying counsel? Respondent P’s position is nevertheless understandable. It appears to be undisputed in the case discussed here that Claimant F’s lawyer presented himself as its attorney in a potentially related matter. Stopping the legal analysis and closing the procedural issue by rejecting the application to disqualify counsel at this point would not only be unsatisfying for Respondent P but might also lead to a disproportional outcome. In order to allay Respondent P’s concerns and to decide whether other potential remedies would have to be considered in order to preserve the integrity of the proceedings, the arbitral tribunal is well advised to, eventually, weigh Respondent P’s right to fair and equitable proceedings against Claimant F’s right to be represented by a counsel of its choice. The balancing exercise therefore serves as a corrective. On the one hand, the arbitral tribunal will have to consider the fact that Respondent P has – at least for a very short period of time – obviously been represented by Claimant F’s lawyer. Even though Respondent P did not submit any clear evidence that this lawyer obtained confidential information which he could use to the detriment of Respondent P, certain discomfort will probably remain on Respondent P’s part. On the other hand, if the arbitral tribunal ordered disqualification it would leave Claimant F without its leading lawyer. This would not only deprive Claimant F of its counsel of trust, but also lead to substantially would higher costs for Claimant F and to the delay of the proceedings. In light of the considerable consequences for Claimant F, the arbitral tribunal would probably, in most circumstances, conclude that Claimant F’s fundamental right to be represented by counsel of its own choice would overweigh Respondent P’s (unproven) concerns. The order for disqualification would, thus, be rejected. However, in addressing Respondent’s concerns the arbitral tribunal could consider ordering Claimant F’s lawyer to submit an affidavit in which he would confirm (1) not to have obtained any confidential information in the ICC arbitration, in particular (2) not to have reviewed the case file in the ICC arbitration, and (3) not to have discussed the ICC arbitration with Respondent P’s then representatives or any other person at Respondent P.

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V. Final remarks Even though the ICSID tribunal decisions in favor of the arbitral tribunal’s power to render decisions on counsel’s misconduct under the ICSID regime discussed in this brief contribution are not binding, these decisions are nonetheless landmark decisions. They are based on the fundamental principle that the arbitral tribunal has the inherent power to take the necessary steps that are required to preserve the integrity of the proceedings. This principle is reflected in Article 44 of the ICSID convention that authorizes arbitral tribunals to issue decisions in the event of a lacuna. However, as the drafters of the ICSID Convention have explicitly acknowledged, Article 44 is only declaratory of the inherent power of any arbitral tribunal. In legal literature it is further argued that arbitral tribunals under the ICSID regime are tribunals that are constituted based on an international treaty and therefore enjoy a different role and legitimacy than commercial arbitral tribunals.16 Accordingly, the ICSID tribunal in the Hrvatska Elektroprivreda, d.d. v. The Republic of Slovenia arbitration pointed out that it has an inherent power “as a judicial formation governed by public international law.”17 It may therefore be concluded that arbitral tribunals acting under the ICSID regime have, indeed, the jurisdiction to decide on the misconduct of counsel. Lacking any provisions on counsel misconduct, it will lie within the arbitral tribunal’s discretion to formulate and execute rules on counsel misconduct. Not every case is as clear as the example presented in this article. The arbitral tribunal will therefore have to take into account the specific circumstances of each individual case. The present article laid down a few criteria and procedural milestones that could serve as a road map for arbitral tribunals which have to decide motions on the disqualification of counsel. It has been established that the arbitral tribunal’s analysis will be guided by the overall objective guaranteeing a fair and equitable process and thereby to safeguard the integrity of the proceedings. The arbitral tribunal’s analysis should be structured in three main parts: The first will require that the arbitral tribunal carefully examines whether the continuing representation by counsel would compromise the integrity of the proceedings. The second part will address the question whether the integrity of the proceedings would be preserved by sanctioning counsel’s misconduct by a specific remedy (such as disqualification). Finally, in order to decide which remedy is 16 Compare C. Brower and S. Schill, “Regulating counsel conduct before international arbitral tribunals,” Chapter 24 in Making Transnational Law Work in the Global Economy: Essays in Honour of Detlev Vagts (R. Dolzer et al. eds, Cambridge, 2010), pp. 488, 495 et seq. 17 Hrvatska Elektroprivreda, d.d. v. The Republic of Slovenia, ICSID Case No. ARB/05/24, Ruling of 6 May 2008, para. 33.

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suitable and appropriate to preserve the integrity of the proceedings, the arbitral tribunal will conduct a balancing exercise by weighing one party’s right to fair and equitable proceedings against the other party’s right to choose its own counsel and to present its case.

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Die Beweislastumkehr nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG: Rechtsgeschichte – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik HOLGER FLEISCHER

I. Rechtsgeschichtliche Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . 1. Frühe Anfänge im Auftragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gescheiterte Gesetzesvorschläge im Rahmen der Aktienrechtsreform von 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kodifizierung der Beweislastumkehr im Aktiengesetz von 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfestigung im Aktiengesetz von 1965 und in jüngeren Gesetzesmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsvergleichender Rundblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vereinigte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtspolitischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktueller Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leitplanken für eine sachgerechte Lösung . . . . . . . . . . .

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Das Haftungsrecht von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern gehört zu Roderich Thümmels Lieblingsthemen. Ihm hat er einen systematischen Leitfaden gewidmet, der in der aktuellen Auflage fast schon Handbuchformat erreicht hat.1 Dort setzt er sich auch ausführlich mit der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auseinan1

Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, mit der tiefstapelnden Bemerkung im Vorwort, ihm gehe es „nicht um lückenlose Vollständigkeit, sondern um das Nachzeichnen von Entwicklungslinien und das Setzen von Schwerpunkten“.

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der2, die er – unter Hinweis auf eine frühere Veröffentlichung3 – durchaus kritisch betrachtet: Die Beweislastumkehr zulasten des Unternehmensleiters bringe die Innenhaftung in die Nähe einer Garantiehaftung für gewinnschmälernde Geschäftsleitungsmaßnahmen.4 Vor diesem Hintergrund findet eine rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Skizze zu § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG mit einem knappen rechtspolitischen Ausblick hoffentlich sein Interesse. Sie ist dem Herausgeberkollegen der Zeitschrift „Der Aufsichtsrat“ mit allen besten Wünschen zu seinem 65. Geburtstag zugeeignet.

I. Rechtsgeschichtliche Entwicklungslinien Zu kaum einem zweiten aktienrechtlichen Thema sind in jüngerer Zeit so viele Ströme Tinte vergossen worden wie zur Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern. Umso überraschter stellt man fest, dass die historischen Ursprünge der Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG bisher nicht näher aufgearbeitet wurden. Ein verdienstvoller Aufsatz von Wulf Goette, der die heutige Spruchpraxis des BGH maßgeblich beeinflusst hat, verfolgt sie immerhin bis zur frühen Rechtsprechung des RG5 und zur rechtspolitischen Debatte im Vorfeld der großen Aktienrechtsreform von 1884.6 Vollends Licht in das Dunkel bringt neuerdings eine Hamburger Doktorarbeit von Nadja Danninger7, an der sich die folgende Darstellung orientiert. 1. Frühe Anfänge im Auftragsrecht Die vorkodifikatorische Spurensuche führt zurück zur Mandatshaftung im 19. Jahrhundert und ihren römischrechtlichen Wurzeln. Als frühe Bezugsautorität lässt sich eine Entscheidung des Oberappellationsgerichts Lübeck aus dem Jahre 1845 ausmachen.8 Unter zweifelhafter Berufung auf zwei vormundschaftsrechtliche Digestenstellen9 gelangten die Richter dort zu „Verbindlichkeit eines Mandatars, seine Diligenz zu beweisen“10. Flan2 Thümmel (Fn. 1), Rn. 226 ff. mit dem Eingangssatz: „Die Verteilung der Darlegungsund Beweislast im Haftpflichtprozess kann von ganz erheblicher Bedeutung für das Prozessergebnis sein.“ 3 Vgl. Thümmel/Sparberg, DB 1995, 1013, 1015: „Im Ergebnis führt die Beweislastumkehr zu einer Art Garantiehaftung.“ 4 So Thümmel (Fn. 1), Rn. 228. 5 Beginnend mit RGZ 13, 43 aus dem Jahre 1885. 6 Goette, ZGR 1995, 648, 650 ff., 668 ff. 7 Danninger, Organhaftung und Beweislast, 2020 S. 21 ff. 8 OAG Lübeck, 8.9.1845, Sammlung Hamburg Rechtsprechung, Bd. 1, 446; auf dieses Urteil verweist etwa RGZ 20, 269. 9 D. 22, 3, 11 und D. 27, 8, 1, 13. 10 OAG Lübeck, 8.9.1845, Sammlung Hamburg Rechtsprechung, Bd. 1, 446, 457.

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kierend führten sie hierfür zwei Sachargumente ins Feld: die Rechenschaftspflicht des Mandatars, die auch einen Beweis über die eingehaltene Diligenz einschließe, und Billigkeitsgesichtspunkte, weil es um Beweistatsachen gehe, von denen „in der Regel nur der Mandatar eigene Kenntniß hat, und worüber ihm leichter Nachweisungen zu Gebote stehen“11. Das Reichsoberhandelsgericht (ROHG) begründete die Beweislast des Mandatars in der Folge allein mit dessen Rechenschaftspflicht und schmückte seine Entscheidung mit weiteren Digestenstellen.12 Das Reichsgericht reanimierte dann in seiner frühen Judikatur den Gesichtspunkt der Sach- und Beweisnähe.13 Als Brücke vom Auftrags- zum Organhaftungsrecht14 diente ihm die französisch inspirierte Mandatstheorie (théorie du mandat), nach der man das Rechtsverhältnis der Organmitglieder zur Gesellschaft als Auftrag einzuordnen pflegte.15 Der große Einfluss französischen Rechtsdenkens in jener Zeit beruhte nicht zuletzt darauf, dass Code civil und Code de commerce in den linksrheinischen Gebieten und in Baden lange in Geltung standen. Wenig bekannt ist zudem, dass der auch für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat des RG damals mit vorzüglichen Kennern des rheinisch-französischen Rechts besetzt war.16 2. Gescheiterte Gesetzesvorschläge im Rahmen der Aktienrechtsreform von 1884 Nachdem die Organhaftungsvorschriften des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs von 186117 die Beweislastfrage nicht geregelt hatten, ließen erste Kodifikationsversuche bis zur Aktienrechtsreform von 1884 auf sich warten. Auf Anregung von Levin Goldschmidt18, dem Begründer der 11

OAG Lübeck, 8.9.1845, Sammlung Hamburg Rechtsprechung, Bd. 1, 446, 458. Beginnend mit ROHGE 6, 215, 218 aus dem Jahre 1872. 13 RGZ 20, 269 aus dem Jahre 1888. 14 Vgl. etwa die Verquickung auftrags- und organhaftungsrechtlicher Urteile in RG JW 1920, 1032, 1033 unter Bezugnahme auf RGZ 13, 43 und RGZ 20, 269: „Der Vorderrichter kann sich für seinen Standpunkt auf die ständige Rechtsprechung des RG. berufen. RG. 13, 46; 20, 269; 35, 32 [….].“ 15 Vgl. anlässlich der Aktienrechtsnovelle von 1884 Begr. RegE, Drucksache zu den Verhandlungen des Bundesrathes de deutschen Reichs, 1883, Bd. II, N 74, S. 149: „Als Organe der Gesellschaft leiten Vorstand und Aufsichtsrath ihre Stellung aus deren Auftrage ab. Sie sind Mandatare der Gesellschaft […].“ Rückblickend Baums, Der Geschäftsleitervertrag, 1987, S. 9 f.; Fleischer, AG 2006, 429 f. 16 Monographisch dazu Geyer, Den Code civil „richtiger“ auslegen. Der zweite Zivilsenat des Reichsgerichts und das französische Zivilrecht, 2009, der allerdings das Gesellschaftsrecht ausklammert, weil es in seinem Untersuchungszeitraum von 1879 bis 1900 nicht mehr französischen Rechtsnormen unterlag. 17 Für den Vorstand Art. 241 Abs. 2 ADHGB. 18 Verhandlungen der Aktienrechtskommission, 10. Sitzung vom 4.4.1882, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff (Hrsg.), Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1985, S. 356. 12

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modernen Handelsrechtswissenschaft, wies der überarbeitete Reformentwurf den Organmitgliedern die Beweislast zu: „Sie haben, wenn sie in Anspruch genommen werden, die Anwendung dieser Sorgfalt zu beweisen.“19 Mit dem Argument, diese Beweislastumkehr sei nicht aktienrechtsspezifisch, sondern gelte auch im Auftragsrecht, nahm man aber kurz vor Toresschluss von ihrer gesetzlichen Festschreibung wieder Abstand.20 Dass sich hierdurch in der Sache nichts an der Beweislast der Organmitglieder änderte, hob neben Goldschmidt21 namentlich Heinrich Wiener, vormals Richter am ROHG und sodann Senatspräsident beim RG, in seiner Stellungnahme zu dem Reformentwurf hervor.22 3. Kodifizierung der Beweislastumkehr im Aktiengesetz von 1937 Nach intensiven Diskussionen zur Organhaftung im Aktienrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht tauchte die Beweislastfrage unversehens wieder auf der rechtspolitischen Agenda auf: Als sich die Ausschussmitglieder über die Ablösung der Verschuldenshaftung durch eine Erfolgshaftung entzweiten, sah der Ausschussvorsitzende Wilhelm Kißkalt, ehedem Vorstands- und seinerzeit stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Münchener Rückversicherungs AG, in der Beweislastumkehr zulasten der Organmitglieder einen tragfähigen „Mittelweg“23. Hatte der erste Entwurf des Reichsjustizministeriums von 1935 zunächst nur eine Beweislastumkehr für den Fall eines Zusammenbruchs der Gesellschaft vorgesehen, 19 Artt. 204 Abs. 1 Satz 2, 226 Abs. 1 Satz 2, und 241 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die KGaA und AG, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff (Fn. 18), S. 394, 399, 401. 20 Dazu Bericht der IX. Kommission über den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und die Aktiengesellschaften, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, 4. Bd., Anlage 128, S. 1009, 1020: „Dagegen hat die Kommission einstimmig den von der Beweislast handelnden zweiten Satz des Artikels gestrichen. Seitens der Regierungsvertreter ist hervorgehoben, daß der Satz, welcher auf Anregung der vernommenen Sachverständigen in den Entwurf aufgenommen worden, wünschenswerth, aber nicht nothwendig sei. Man habe den Satz als eine Warnung hinstellen wollen, und er entspreche, richtig verstanden, dem geltenden Recht.“, hierzu schon die Hinweise von Fleischer, AG 2014, 457, 458. 21 Goldschmidt, ZHR 30 (1885), 69, 86. 22 Wiener, Der Aktiengesetz-Entwurf, 1884, S. 98 f.: „Die Mitglieder gedachter Gesellschaftsorgane sollen […] die Anwendung dieser Sorgfalt beweisen müssen. Das sieht besonders scharf aus, ist auch bereits als unmotivierte Härte in Beurteilungen des Entwurfs bezeichnet worden. Und doch entspricht es richtiger Auffassung des schon geltenden Rechts und den natürlichen Lebensverhältnissen. Auch wenn man den Satz streicht, so mag allerdings mancher Richter […] in der Verteilung der Beweislast fehlgreifen, aber die wirkliche Geltung des Satzes wird durch die Streichung nicht beseitigt. Er beruht auf der Auskunfts- und Rechenschaftspflicht eines Verwalters fremden Vermögens.“ 23 Kißkalt, abgedruckt bei Schubert (Hrsg.), Protokolle des Ausschusses für Aktienrecht der Akademie für Deutsches Recht, 1986, S. 139.

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so verzichtete § 84 Abs. 2 AktG 1937 auf diese Einschränkung: „Vorstandsmitglieder, die ihre Obliegenheiten verletzen, sind der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet. Sie haben nachzuweisen, daß sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben.“ Kißkalt selbst gab dies in Verkennung oder Verschweigung der längst gelebten Spruchpraxis als eine erhebliche Verschärfung der Vorstandshaftung aus.24 Die Amtliche Begründung betonte demgegenüber zutreffend, dass der Entwurf insoweit einen in der Rechtsprechung schon entwickelten Gedanken gesetzlich verankert habe.25 Zugleich lehnte sie eine Erfolgshaftung der Vorstandsmitglieder mit Nachdruck ab.26 4. Verfestigung im Aktiengesetz von 1965 und in jüngeren Gesetzesmaterialien Die Aktienrechtsreform von 1965 beließ es in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG bei geringfügigen Änderungen.27 Im Jahre 1973 wurde die Beweislastumkehr auch in § 34 Abs. 2 Satz 2 GenG festgeschrieben.28 Bei der Einführung der Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG durch das UMAG von 200529 betonte die Regierungsbegründung, dass deren Tatbestandsvoraussetzungen von dem betreffenden Vorstandsmitglied zu beweisen seien.30 Schließlich vermerkte der Bericht des Finanzausschusses zum Restrukturierungsgesetz von 201031, mit dem die Verjährungsfrist der Organhaftung in börsennotierten Gesellschaften auf zehn Jahre verlängert wurde, dass ein Vorstandsmitglied nicht zur Leistung von Schadensersatz im Wege einer Kißkalt (Fn. 23), S. 432: „In § 84 hat das Gesetz, entsprechend dem Vorschlage des Ausschusses, die Haftung der Vorstandsmitglieder durch die Umkehrung der Beweislast erheblich verschärft.“ 25 So ausdrücklich Amtl. Begr. zu § 84 AktG 1937 bei Klausing, Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien nebst Einführungsgesetz und „Amtlicher Begründung“, 1937, S. 71. 26 Vgl. Amtl. Begr. zu § 84 AktG 1937 bei Klausing (Fn. 25), S. 71: „Eine Haftung des Vorstands für den Erfolg seiner Geschäftsführung ohne Rücksicht auf sein Verschulden würde nur zur Folge haben, daß die Verantwortungsfreudigkeit eines Vorstandsmitglieds erheblich herabgemindert und ihm jeder Mut zur Tat genommen wird.“ 27 Vgl. Ausschussbericht bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 123: „Für Absatz 2 Satz 2 schlagen der Rechtsausschuß und der Wirtschaftsausschuß eine Neufassung vor, durch die das Gewollte deutlicher als bisher zum Ausdruck kommt.“ 28 BGBl. I, S. 1451. 29 BGBl. I, S. 2802. 30 Vgl. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12: „Da der Haftungsfreiraum des Satzes 2 als Ausnahme und Einschränkung gegenüber Satz 1 formuliert ist, liegt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale beim betroffenen Organ.“ 31 BGBl. I, S. 1900. 24

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Beweislastentscheidung verurteilt werden könne, wenn die Gesellschaft relevante Unterlagen bereits vernichtet habe.32 5. Zwischenergebnis Wer nach den Reserven an historischer Rechtsvernunft fragt, die der Beweislastumkehr nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG innewohnen, wird auf den Gesichtspunkt der Beweisnähe und den Wertungsgleichklang mit dem Auftragsrecht verwiesen. Ersterer steht auch im Zentrum der modernen Leitentscheidung BGHZ 152, 280 aus dem Jahre 200233; letzteren34 sollte man ebenfalls nicht gänzlich aus den Augen verlieren35, auch wenn sich das deutsche Organhaftungsrecht längst von der französischen Mandatstheorie emanzipiert hat. Zudem sorgt ein tieferes Eindringen in die Vorgeschichte des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG für historische Klarheit in der lange streitigen Frage nach der Reichweite der Beweislastumkehr. Mag der ursprünglich auf einen Formulierungsvorschlag Goldschmidts zurückgehende Gesetzeswortlaut auch eine Beschränkung der Beweislastumkehr auf das Verschulden nahelegen36, so erhellt doch aus einer akribischen Fallanalyse, dass Spruchpraxis 32 Vgl. Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 17/3547, S. 12: „Der Rechtsausschuss hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, ob die neue 10-jährige Verjährungsfrist bei börsennotierten Aktiengesellschaften ausgeschiedene Organmitglieder […] insoweit vor Probleme stellen könnte, als sie wegen der in § 93 Abs. 2 Satz 3 angeordneten Beweislastumkehr auf Unterlagen der Gesellschaft angewiesen sein könnten, die dann bereits nicht mehr existieren. Diese Gefahr sieht der Rechtsausschuss nicht. Kann die Gesellschaft diese Pflicht [zur Einsichtsgewährung] gegenüber dem Organmitglied nicht erfüllen, weil sie die betreffenden Unterlagen bereits vernichtet hat, so darf dies nicht zu Lasten des Organs gehen. Eine Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz im Wege einer Beweislastentscheidung kommt nach Überzeugung des Rechtsausschusses in diesen Fällen nicht in Betracht.“ 33 BGHZ 152, 280, 283: „[…] rechtfertigt sich aus der Erwägung, dass das jeweilige Organmitglied die Umstände seines Verhaltens und damit auch die Gesichtspunkte überschauen kann, die für die Beurteilung der Pflichtmäßigkeit seines Verhaltens sprechen, während die von ihm verwaltete Korporation in diesem Punkt immer in einer Beweisnot wäre“. 34 Zum heutigen Rechtsstand statt vieler MüKoBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020, § 662 Rn. 90: „Bei Schadensersatzansprüchen des Auftraggebers muss nicht dieser nach der allgemeinen Regel die Pflichtverletzung beweisen, sondern der Beauftragte die pflichtgemäße Auftragsausführung, soweit feststeht, dass nur eine Schadensursache aus dem Gefahrenbereich des Beauftragten in Betracht kommt. Denn in diesem Bereich verfügt der Beauftragte über die weitaus besseren Kenntnisse als der Auftraggeber.“ 35 Dazu auch Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 43 Rn. 112, wonach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG „nur den allgemeinen Geschäftsführungsgrundsatz für alle Geschäftsbesorger zum Ausdruck bringt (vgl. § 666 BGB iVm § 27 III BGB, §§ 675, 681 S. 2 BGB, §§ 713, 2218 I BGB), dass der Mandatar einer Rechenschaftspflicht unterliegt“. 36 So noch in jüngerer Zeit der langjährige BGH-Richter Fleck, GmbHR 1974, 224; ders., EWiR 1985, 787; ders., GmbHR 1997, 237, 238 f.; zuletzt wieder Kindler, FS Goette, 2011, S. 231, 234 f.; Wach, FS Schütze, 2014, S. 664, 671 ff.

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und der ihr folgende historische Gesetzgeber eine möglichst weitgehende, Pflichtverletzung wie Verschulden umfassende Beweislastumkehr ins Werk setzen wollten. Dies harmoniert zudem mit dem damals wirkmächtigen Begriff der faute im französischen Zivil- und Organhaftungsrecht, in dem Pflichtverletzung und Verschulden zusammenfließen.37

II. Rechtsvergleichender Rundblick Neben der Rechtsgeschichte hilft die Rechtsvergleichung, die Sachgerechtigkeit einer Rechtsregel im Spiegel komparativer Erfahrungen zu beurteilen. Auch insoweit ist der Forschungsstand zur Beweislastverteilung bei der Organhaftung bisher dürftig.38 Hier können nur einzelne Streiflichter vorgestellt werden. Ein ausführlicheres Panorama findet sich in der schon erwähnten Doktorarbeit von Danninger.39 1. Österreich Historisch bedingt stimmen die Organhaftungsvorschriften einschließlich der Beweislastnormen in Deutschland und Österreich weithin überein. Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 öAktG können sich Vorstandsmitglieder von der Schadensersatzpflicht „durch den Gegenbeweis befreien, daß sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewendet haben“. Was sich hieraus genau ergibt, ist allerdings nicht gänzlich zweifelsfrei. Die Spruchpraxis des OGH präsentiert sich uneinheitlich40; manche sprechen gar von einem „Zick-Zack-Kurs“41. Nach herrschender Lehre werden Rechtswidrigkeit und Verschulden von der Beweislastumkehr erfasst42, was man mit der prinzipiellen Beweisnähe des Organmitglieds zu begründen pflegt. Eine variierende Literaturmeinung verlangt abschwächend, dass die Gesellschaft jedenfalls Tatsachen beweisen müsse, die nach der Lebenserfahrung zunächst den Schluss nahelegen, dass sich das Organmitglied rechts37 Rechtsvergleichend Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, Bd. II, 2. Aufl. 1986, S. 460. 38 Knappe Anmerkungen bei Hopt, FS W.H. Roth, 2015, S. 225, 234 f.; ferner punktuelle Hinweise in den Länderberichten der Studie von Gerner-Beuerle/Paech/Schuster (Hrsg.), Study on Directors’ Duties and Liability, April 2013. 39 Danninger (Fn. 7), S. 143 ff. 40 Umfassende Nachweise bei Told, in Gruber/Harrer, GmbHG, 2. Aufl. 2018, § 25 Rn. 211 mit Fn. 885. 41 Schima, FS Jud, 2012, S. 571, 584. 42 Vgl. etwa Artmann/Rüffler, Gesellschaftsrecht, 2017, Rn. 961: „weil sich beide Elemente nicht trennen lassen“; Kalss, in Kalss/Nowotny/Schauer, Österreichisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2017, Rn. 3/532; Schlosser, Die Organhaftung der Mitglieder des Vorstands der Aktiengesellschaft, 2002, S. 114.

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widrig verhalten habe und die Schadensursache aus seinem Verantwortungsbereich hervorgegangen sei.43 Diese gelegentlich als „Substantiierungspflicht“44 bezeichnete Anforderung ähnelt hierzulande der höchstrichterlichen Formel vom möglicherweise pflichtwidrigen Verhalten, wonach die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast dafür trifft, dass und inwieweit ihr durch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Geschäftsleiters ein Schaden entstanden ist.45 2. Schweiz Demgegenüber hat der schweizerische Gesetzgeber bewusst auf eine eigenständige Beweislastnorm im Organhaftungsrecht verzichtet.46 Infolgedessen obliegt der AG bei einer Verantwortlichkeitsklage nach Art. 254 Abs. 1 OR gemäß der allgemeinen Beweislastregel in Art. 8 ZGB die Beweislast für eine Pflichtverletzung des Verwaltungsratsmitglieds. Dies erscheint der schweizerischen Doktrin so selbstverständlich, dass es, wenn überhaupt, nur beiläufig Erwähnung findet.47 Heftig gestritten wird lediglich darüber, ob das Verschulden des verantwortlichen Organmitglieds vermutet wird. Wer das Verhältnis zwischen Organmitglied und Gesellschaft vertraglich oder vertragsähnlich einordnet, gelangt analog Art. 97 Abs. 1 OR zu einer Verschuldensvermutung; wer für eine deliktsrechtliche Qualifikation votiert, entscheidet gegenteilig.48 Praktische Relevanz hat dies wegen des objektivierten Verschuldensmaßstabes aber kaum.49 Die abweichende Beweislastregel des deutschen Rechts wird in der reichhaltigen Literatur 43 Vgl. Böhler, FS Krejci, 2001, S. 503, 521; Krejci, FS Doralt, 2004, S. 351, 357 f.; ähnlich Told, wbl 2012, 181, 182 ff., 190; nochmals nuancierend Kletecka/Kronthaler, in Kalss/Frotz/Schörghofer (Hrsg.), Handbuch für den Vorstand, 2017, § 44 Rn. 29: „Den Beweis für das Vorliegen der objektiven Pflichtwidrigkeit hat uE zunächst die klagende AG in Form einer Art des Prima-facie-Beweises zu erbringen, wobei aber das Beweismaß soweit herabzusetzen ist, dass es im Ergebnis bereits hinreicht, wenn ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten als wahrscheinlich anzusehen ist.“ 44 Told (Fn. 40), § 25 GmbHG Rn. 212. 45 So etwa BGHZ 152, 280, 284 (GmbH); NZG 2008, 314, Rn. 8; BGH NZG 2009, 107 Rn. 20 (AG); vorbereitend Goette, ZGR 1995, 648, 671 ff.; kritisch Bauer, NZG 2015, 549, 550. 46 Vgl. Forstmoser, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl. 1987, § 1 Rn. 133 mit Fn. 291. 47 Vgl. etwa Bärtschi, in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Enforcement im Gesellschaftsund Kapitalmarktrecht, 2015, S. 1, 19; Böckli, Schweizerisches Aktienrecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rn. 136a. 48 Näher Gericke/Waller, Basler Kommentar, OR, Bd. II, 5. Aufl. 2016, Art. 754 Rn. 35 m.w.N.; zusammenfassend auch Druey/Druey Just/Glanzmann, Gesellschafts- und Handelsrecht, 11. Aufl. 2015, § 14 Rn. 9: „Mittlerweile herrscht ein gewisser Wildwuchs der Meinungen.“ 49 So ausdrücklich Meier-Hayoz/Forstmoser/Sethe, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 12. Aufl. 2018, § 16 Rn. 820.

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zum Verantwortlichkeitsrecht kaum einmal erwähnt50 und lediglich in einer aktuellen Doktorarbeit als Vorbild empfohlen51, insbesondere wenn Aktionäre oder Gläubiger den Haftungsanspruch geltend machen52. In der schweizerischen Rechtspraxis sind Verantwortlichkeitsklagen, „solange eine Gesellschaft aufrecht steht“, äußerst selten.53 Ob dies neben einer klägerfeindlichen Streitwertregelung auch an der Beweislastverteilung liegt, wird nicht thematisiert. In der laufenden Aktienrechtsrevision soll das Organhaftungsrecht unverändert bleiben. 3. Schweden Größeren Widerhall gefunden hat das deutsche Regelungsmodell in Schweden, auch wenn es sich letztlich nicht durchzusetzen vermochte. Die einschlägige Haftungsvorschrift, 29. Kapitel § 1 Satz 1 Aktiebolagslag, enthält keine eigene Beweislastregel, so dass die Gesellschaft nach allgemeinen Grundsätzen die Pflichtverletzung des Organmitglieds beweisen muss.54 Unter ausdrücklicher Berufung auf § 84 Abs. 2 Satz 2 AktG 1937 hatte ein offizielles Expertengutachten von 1941 die Einführung einer Beweislastumkehr erwogen, aber letztlich als dem schwedischen Recht fremd verworfen.55 Ein neuerliches Expertengutachten aus dem Jahre 1995 hielt an dieser ablehnenden Haltung fest, weil es bei einer Beweislastumkehr eine fälschliche Verurteilung auch sorgfältig handelnder Organmitglieder zu unter Umständen beträchtlichen Beträgen befürchtete56 – eine Art aktienrechtliche in dubio pro reo-Erwägung.57

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Vgl. Bärtschi, Verantwortlichkeit im Aktienrecht, 2001, S. 355 f. mit der lapidaren Bemerkung: „Die deutsche Rechtsordnung erweist sich insofern zugunsten der Gesellschaft als klägerfreundlich.“ 51 Jucker, Beweisvereitelung in der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit, 2015, Rn. 200 ff. 52 Zu diesem Outsider-Problem auch von der Crone/Carbonara/Hunziker, Aktienrechtliche Verantwortlichkeit und Geschäftsführung, Beiheft 43 zur ZSR, 2006, S. 60; ferner von der Crone, SZW 2006, 2, 9. 53 Meier-Hayoz/Forstmoser/Sethe (Fn. 49), § 16 Rn. 820 mit dem Zusatz: „Im Konkurs dagegen gehören sie zur Routine, was in der publizierten Rechtsprechung nur ungenügend zum Ausdruck kommt […].“ 54 Rechtsvergleichend Zechner, in Kalss (Hrsg.), Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern, 2005, S. 695, 727 m.w.N. 55 Vgl. Statens Offentliga Utredningar (SOU) 1941:9, S. 650. 56 Vgl. SOU 1995:44, S. 244. 57 Dazu auch Danninger (Fn. 7), S. 151: „Implizit liegt dem die Wertung zugrunde, ein Fehlurteil zu Lasten des Organmitglieds wiege schwerer als eine fälschliche Klageabweisung zu Lasten der Gesellschaft. Worauf diese Gewichtung gründet, erschließt sich allerdings nicht ohne Weiteres. Aus den Zwecken der Organhaftung – Prävention und Kompensation – lässt sie sich aber wohl nicht ableiten.“

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4. Frankreich Eine in mancher Hinsicht vermittelnde Lösung hat sich im französischen (Organ-)Haftungsrecht ausgebildet. Die einschlägige Haftungsvorschrift in Art. 225–251 C. com für die monistische société anonyme und ihre beiden Schwestervorschriften für die dualistische société anonyme äußern sich nicht zur Beweislast. Nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen in Art. 9 Code de procédure civile obliegt die Beweislast für eine faute des Organmitglieds daher prinzipiell der Gesellschaft. An dieser Stelle kommt aber die allgemein-haftungsrechtliche Differenzierung zwischen bloßen Verhaltenspflichten (obligations de moyen) und erfolgsorientierten Pflichten (obligations de résultat) ins Spiel58: Bei ersteren obliegt der Gesellschaft die Beweislast für eine faute, bei letzteren wird die faute vermutet. Im gesellschaftsrechtlichen Verantwortlichkeitsrecht pflegt man die Geschäftsführung als solche (gestion) als obligation de moyen einzuordnen59; eine obligation de résultat bildet dagegen die Legalitätspflicht, also die Pflicht zur Einhaltung des Gesetzes und der Satzung.60 Hieraus ergibt sich eine ausdifferenzierte Beweislastverteilung je nach Art der angeblich verletzten Pflicht. 5. Niederlande Aus den Niederlanden ist eine prozessuale Besonderheit zu berichten, die auch für die Organhaftung nach Art. 2:9 Burgerlijk Wetboek (BW) Bedeutung erlangen kann. Im Ausgangspunkt trägt der Kläger gemäß Art. 150 Wetboek van Burgerlijk Rechtsvording die Darlegungs- und Beweislast für alle anspruchsbegründenden Tatsachen. Hiervon kann das Gericht aber abweichen, wenn redelijkheid en billijkheid eine andere Beweislastverteilung erfordern.61 Eine solche flexible Rechtsanwendung ist für das niederländische Privatrecht nicht untypisch. So zeichnet sich etwa die Spruchpraxis des profilierten handelsrechtlichen Spezialspruchkörpers, der Ondernemingskamer beim Amsterdamer Berufungsgericht, durch beträchtliche Geschmeidigkeit in materiellrechtlicher und prozessualer Hinsicht aus.62 Sie kann dabei auf den gesellschaftsrechtlichen Grundsatz der redelijkheid en billijkheid zurückgreifen, der für Gesellschaften, ihre Mitglieder und Orga58

Rechtsvergleichend Ferid/Sonnenberger (Fn. 37), S. 449 f. Vgl. etwa CA Versailles, zitiert bei Guyon, Sommaire de Jurisprudence, Rev. soc. 1993, 881, 884; Gibirila, Responsabilité civile des dirigeants de sociétés, 2014, S. 10 Rn. 4. 60 Vgl. etwa Guyon, Rev. soc. 1993, 881, 884: „La situation paraît différente en cas de violation de la loi ou des statuts. On peut alors estimer que le dirigeant a une obligation determinée (ou de résultat) de ne pas commettre ces violations. L’existence de celles-ci ferait présumer sa faute.“ 61 Eingehend dazu im Zusammenhang mit der Organhaftung Bervoets, in Kalss (Fn. 54), S. 593, 629 m.w.N. 62 Näher Fleischer/Bong/Cools, RabelsZ 81 (2017), 608, 638. 59

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ne in Art. 2:8 und Art. 2:25 Abs. 1 lit. b BW verankert ist. Eine weitergehende Beweislastumkehr, wie sie in der jüngeren Vergangenheit vereinzelt vorgeschlagen wurde, hat dagegen keinen Anklang gefunden: „Diet moet niet!“63 6. Vereinigte Staaten In Delaware, der praktisch wichtigsten Gesellschaftsrechtsordnung in den Vereinigten Staaten, gilt zwar mit der sog. preponderance of evidence ein gegenüber dem deutschen Recht deutlich abgesenktes und damit an sich klägerfreundliches Beweismaß. Allerdings schützt die Spruchpraxis des Delaware Supreme Court die Geschäftsleiter weithin vor haftungsrechtlicher Inanspruchnahme, indem sie der Business Judgment Rule eine Vermutung (presumption) für sorgfaltsgemäßes Handeln entnimmt.64 Die Widerlegung dieser Vermutung obliegt dem Kläger. Die Gründe für diese beweisrechtliche Besserstellung der Organmitglieder, wie etwa höhere Klagefrequenz oder pre-trial discovery, sind in der rechtsvergleichenden Literatur schon häufiger herausgearbeitet worden65 und hier nicht zu wiederholen. 7. Zwischenergebnis Der rechtsvergleichende Rundblick nährt Zweifel an der Selbstverständlichkeit, mit der man hierzulande seit Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Beweislastumkehr zulasten des Organmitglieds ausgeht. Viele Rechtsordnungen und auch der European Model Company Act (EMCA)66 dekretieren mit ebensolcher Selbstverständlichkeit, dass der Gesellschaft die Beweislast für das pflichtwidrige Handeln ihres Organmitglieds obliegt. Gleichwohl bietet auch die Komparatistik in dieser Hinsicht keinen klaren Kompass. Dies hängt damit zusammen, dass hier allgemeine Grundsatzfragen des Beweisrechts einschließlich des zivilprozessualen Regelbeweismaßes mit hineinspielen, die von Land zu Land unterschiedlich geregelt sind. Alternativlösungen wie eine Absenkung des Beweismaßes oder eine einzelfallbezogene Beweislastverteilung nach Billigkeitsgesichtspunkten sind daher zwar anregend, aber kaum rezeptionstauglich, weil sie eine sektorale „Insellösung“ zur Folge hätten.

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So die Überschrift der Kolumne von Timmerman, Ondernemingsrecht 2003, 599. Grundlegend Aronson v. Lewis, 473 A.2d 805, 812 (Del. 1984). 65 Näher v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, 2008, S. 913 ff.; Hopt/Roth, in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 21 f. 66 EMCA Chapter 10, sec. 1, subsec. 4: „A person challenging the conduct of a director under this Section has, in a damage action, the burden of proving a breach of the duty of care, including the inapplicability of the business judgment rule […].“ 64

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III. Rechtspolitischer Ausblick 1. Aktueller Diskussionsstand Im Zuge der rechtspolitischen Debatte um eine Reform der Organhaftung, die auf dem 70. Deutschen Juristentag 2014 in Hannover ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, sind zahlreiche Stimmen laut geworden, die für eine Streichung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG plädieren.67 Sie verweisen vor allem auf einen Wandel der Normsituation, weil die Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung alle Möglichkeiten habe, den Beweis einer Pflichtverletzung zu führen, während das Organmitglied – zumal das ausgeschiedene – in größte Schwierigkeiten komme.68 Diesem Petitum hat sich der Juristentag mehrheitlich angeschlossen.69 Es gibt allerdings auch vorsichtigere Stimmen, unter ihnen den Gutachter des Juristentages70, die darauf hinweisen, dass man bei sachgerechter Handhabung mit den bisherigen Regeln auskomme.71 2. Leitplanken für eine sachgerechte Lösung Wie dringlich eine rechtspolitische Korrektur des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zugunsten amtierender oder ausgeschiedener Organmitglieder wirklich ist72, darüber kann man trefflich streiten. Es fällt jedenfalls auf, dass man veröffentlichte Gerichtsentscheidungen, die ein Organmitglied auf der Grundlage eines Beweislasturteils zum Schadensersatz verpflichten, mit der Lupe suchen muss.73 Das war schon früher so: In den elf von Goette untersuchten Erkenntnissen des RG von 1885 bis 1940 kam es in keinem einzigen Fall zum non-liquet-Schwur.74 Dem kann man freilich entgegenhalten, dass eine 67 Vgl. etwa v. Falkenhausen, NZG 2012, 644, 650 f.; Hopt (Fn. 38), S. 225, 232 ff., 240; Reichert, ZGR 2017, 671, 678 f. 68 So ausdrücklich Hopt (Fn. 38), S. 225, 240. 69 Vgl. DJT, Beschlüsse der Abteilung Wirtschaftsrecht des 70. DJT 2014, I. 6. 70 Vgl. Bachmann, Gutachten E zum 70. DJT 2014, E 34 ff. 71 Vgl. Born, in Krieger/Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rn. 2 und 19; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rn. 53; Paefgen, AG 2014, 554, 566; Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 168 ff. 72 Vgl. die bei Bachmann (Fn. 70), E 17 f. dokumentierte Umfrage unter Vorstandsund Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Aktiengesellschaften, von denen 73% eine Änderung der Beweislastregel forderten – der höchste Wert unter allen abgefragten Reformanliegen. 73 Noch am ehesten OLG Düsseldorf ZIP 2012, 2299, 2300 f. (Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern). 74 Vgl. dazu Goette, ZGR 1995, 648, 659: „Dabei ist zu beachten, daß in keinem der genannten Fälle die Frage, ob sich der Entlastungsbeweis des Inanspruchgenommenen auch auf die objektive Pflichtwidrigkeit erstreckt, entscheidungserheblich war, weil jeweils das

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abstrakte Beweislastnorm angesichts des verbreiteten „bargaining in the shadow of the law“75 immer auch vor- und außerprozessuale Wirkungen zeitigt. Zu alledem kann hier auf gedrängtem Raum nicht abschließend Stellung genommen werden. Erlaubt sei aber wenigstens eine knappe Bemerkung zu den Grundvoraussetzungen für eine sachgerechte Lösung. Befriedigende Ergebnisse lassen sich im Organhaftungsrecht nach meiner Beobachtung nur erzielen, wenn man – mit einem Begriff von Franz Bydlinski – die Maxime beidseitiger Rechtfertigung76 beherzigt: Einerseits darf die Handhabung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG im Interesse des Vorstandsmitglieds (und der Aktionäre) keinesfalls zu einer Erfolgshaftung führen.77 Hierauf hat beizeiten schon unser Jubilar hingewiesen.78 Andererseits dürfen der Durchsetzung der Organhaftung im Interesse der Gesellschaft (sowie der Gläubiger und wiederum der Gesellschafter) aber auch keine unüberwindlichen beweisrechtlichen Hürden entgegenstehen. Dieser beweisrechtliche Balanceakt erfordert tatrichterliches Taktgefühl79 und einen prozessualen Pendelblick. Man darf mit anderen Worten „nicht statisch an der gesetzlichen Ausgangsvorschrift des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG festhalten“80, sondern muss auf ihre dynamische Handhabung hinwirken.81 Der II. Zivilsenat versucht das von seinem Standpunkt aus dadurch zu erreichen, dass die Gesellschaft die mögliche Pflichtverletzung im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu bezeichnen hat.82 Dies werden seine Mitglieder in ihren extrajudiziellen Stellungnahmen zu betonen nicht müde.83 Wer das als nicht ausreichend anpflichtwidrige Verhalten des Organs schon in den Tatsacheninstanzen festgestellt oder revisionsrechtlich als gegeben zu unterstellen war.“ 75 Begriff: Mnookin/Kornhauser, 88 Yale L.J. 950 (1979). 76 Näher F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 92 ff.: „Das Prinzip der relativen (beidseitigen) Rechtfertigung“. 77 Zu den Gründen Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rn. 60 m.w.N. 78 Vgl. Thümmel/Sparberg, DB 1995, 1013, 1015. 79 Dazu Goette, ZGR 1995, 648, 674: „Wie weit die Anspruchsteller bei der Darlegung eines möglicherweise pflichtwidrigen Verhalten jeweils gehen müssen, läßt sich […] nur von Fall zu Fall feststellen.“; aufschlussreich zum Auftragsrecht insoweit schon RGZ 20, 269, 270: „Allerdings ist schon vor Geltung der Civilprozessordnung der Maßstaß bei Beurteilung der Beweisführung des Mandatars unter billiger Beurteilung der eigenartigen Lage jedes einzelnen Falles bestimmt worden, sodaß in Fällen, wo die Rechenschaftslegung mittels der regelmäßigen Beweismittel (wegen besonderer Verhältnisse, namentlich infolge der Länge des Zeitraums zwischen der Ausführung des Auftrages und dem Vorgehen des Mandanten gegen den Mandatar) nicht beschafft werden konnte, der Mandatar zur eidlichen Erhärtung der ihn rechtfertigenden Behauptungen zugelassen worden ist.“ 80 Heermann, ZIP 1998, 761, 767. 81 So im Anschluss an Heermann auch Bachmann (Fn. 70), E 34 mit Fn. 100 und Koch (Fn. 71), § 93 AktG Rn. 53. 82 So ausdrücklich BGHZ 152, 280, 284; zuletzt BGH BeckRS 2018, 32052 Rn. 18. 83 Dazu Born (Fn. 71), § 14 Rn. 2 und 19; Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 8. Aufl. 2019, Rn. 372.

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sieht84 und die Beweislast durch Streichung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG stattdessen der Gesellschaft aufbürden will, dürfte nicht umhinkommen, dem Organmitglied je nach Lage der Dinge seinerseits eine sekundäre Darlegungslast zuzuweisen.85 Dies gilt vor allem (aber nicht nur) hinsichtlich jener Erwägungen, die für den Vorstand bei Ermessensentscheidungen im Einzelfall ausschlaggebend waren. Akzeptiert man die Notwendigkeit einer solchen beweisrechtlichen „Gleichgewichtslehre“, so liegen die unterschiedlichen rechtspolitischen Auffassungen zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Organhaftungsrecht weitaus näher beisammen, als ihre entgegengesetzten Ausgangspunkte zunächst vermuten lassen.

neue rechte Seite! 84 So etwa Reichert, ZGR 2017, 671, 678: „M.E. ist die Beweislastumkehr nicht wirklich überzeugend. Dass sie durch gewisse Anforderungen an die Darlegungslast abgefedert wird, ändert daran nichts.“ 85 So denn auch Danninger (Fn. 7), S. 184: „Nicht das Organmitglied trüge die Beweislast und die Gesellschaft nur eine sekundäre Darlegungslast; vielmehr wäre fortan die Gesellschaft – wie grundsätzlich jeder Anspruchsteller – für die Pflichtverletzung beweisbelastet und das Organmitglied müsste etwaige Informationsvorteile notfalls offenbaren. Letztlich bedürfte es nur einer Punktspiegelung der derzeitigen Darlegungs- und Beweislastverteilung.“

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Ein neues System des einstweiligen Rechtsschutzes in Europa Ein neues System des einstweiligen Rechtsschutzes in Europa Thomas Garber und Matthias Neumayr

Ein neues System des einstweiligen Rechtsschutzes in Europa Einstweilige Maßnahmen nach der Brüssel IIb-Verordnung THOMAS GARBER

UND

MATTHIAS NEUMAYR

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO . . . . . . . . . . . . . . . . III. Litispendenzregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO . . . . . . . . . . . . . . . . V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Beitrag ist Herrn Prof. Dr. Roderich C. Thümmel, LL.M. (Harvard), einem großen Kenner des Europäischen Zivilverfahrensrechts, mit den allerherzlichsten Glückwünschen zu seinem Geburtstag gewidmet.

I. Einleitung Nach umfangreichen Vorarbeiten1 wurde am 2.7.2019 die revidierte Fassung der Brüssel IIa-VO (im Folgenden: Brüssel IIb-VO2) im Amtsblatt 1 S. dazu Neumayr in Jahrbuch Europarecht 2010, 2010, 229 (233 f.); Garber/Neumayr in Jahrbuch Europarecht 2011, 2011, 255 (268 f.); Garber/Neumayr in Jahrbuch Europarecht 2012, 2012, 235 (247 f.); Garber/Neumayr in Jahrbuch Europarecht 2013, 2013, 211 (241 f.); Garber/Neumayr in Jahrbuch Europarecht 2015, 2015, 175 (194 ff.); Garber in König/Mayr, Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich, Bd. V, 2017, 109 (112 ff.). 2 Verordnung (EU) Nr. 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen, ABl. 2019 L 178/1.

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kundgemacht. Die Verordnung, die im Wesentlichen ab 1.8.2022 Anwendung findet, führt insbesondere im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes zu erheblichen Änderungen und etabliert in Art. 15 ein gänzlich neues System. In der Brüssel IIa-VO3 ist die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen und deren Anerkennung und Vollstreckung nur sehr rudimentär geregelt: Lediglich eine einzige Bestimmung – Art. 20 Brüssel IIa-VO (vormals Art. 12 Brüssel II-VO4) – betrifft explizit den einstweiligen Rechtsschutz. Nach Art. 20 I Brüssel IIa-VO können die Gerichte eines Mitgliedstaats in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen der Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache nach den Zuständigkeitsregeln der Brüssel IIa-VO ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist. Die Maßnahmen treten nach Art. 20 II Brüssel IIa-VO außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das nach der Brüssel IIaVO für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält. Art. 20 I Brüssel IIa-VO entspricht im Wesentlichen Art. 31 Brüssel I-VO5 (nunmehr Art. 35 Brüssel Ia-VO6). Wenngleich Art. 31 Brüssel I-VO im Schrifttum als „Schwachstelle“ kritisiert wurde7 und die für die Auslegung der Norm maßgeblichen Leitentscheidungen des EuGH8 als „kompliziert [und] wenig konturiert“9 gelten, enthalten alle Verordnungen zum Europäischen Zivilverfahrensrecht, die die internationale Zuständigkeit regeln, 3 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2012 L 351/1 i.d.F. ABl. 2016 L 99/34. 4 Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten, ABl. 2000 L 160/19. 5 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1 i.d.F. ABl. 2010 L 328/36. 6 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2012 L 351/1 i.d.F. ABl. 2016 L 264/43. 7 Vgl. Kropholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., 2011, Art. 1 EuGVO Rz. 1. 8 Dies gilt insbesondere für die Entscheidungen des EuGH in der Rs. C-391/95, Van Uden/Deco-Line, ECLI:EU:C:1998:543 und in der Rs. C-99/96, Mietz/Intership, ECLI:EU:C:1999:202. 9 Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., 2010, Art. 31 EuGVVO Rz. 2.

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dem Art. 31 Brüssel I-VO vergleichbare Bestimmungen.10 Wohl um der anhaltenden Kritik Rechnung zu tragen, wird der einstweilige Rechtsschutz in der Brüssel IIb-VO neu geregelt.

II. Die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO Nach Art. 20 I Brüssel IIa-VO können auch die Gerichte der Mitgliedstaaten, die nicht für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind, einstweilige Maßnahmen anordnen, sofern sie nach ihrem nationalen Recht für die Erlassung entsprechender Maßnahmen international zuständig sind. Art. 20 I Brüssel IIa-VO stellt demnach keine eigenständige Zuständigkeitsbestimmung dar, sondern verweist lediglich auf das nationale Zuständigkeitsrecht der Mitgliedstaaten (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen).11 Dadurch werden im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes die Bestimmungen der Verordnung um die Gerichtsstände des nationalen Rechts erweitert, wodurch ein System der Zweispurigkeit entsteht, nämlich (1) das unionsrechtlich autonome Zuständigkeitssystem des europäischen Hauptsachegerichts einerseits und (2) das nationale Zuständigkeitssystem der Mitgliedstaaten andererseits.12 Differenziert man nach dem Zeitpunkt, zu dem die einstweilige Maßnahme erlassen werden soll, ergibt sich nach Anhängigkeit der Hauptsache ein dreispuriges Zuständigkeitssystem, wonach einstweilige Maßnahmen (1) vom Gericht, das mit der Hauptsache tatsächlich befasst ist, (2) vom Gericht, bei dem die Hauptsache hätte anhängig gemacht werden können (fiktives Hauptsachegericht), und 10 S. etwa Art. 14 EuUntVO, Art. 19 EuErbVO, Art. 19 EuEheGüVO und Art. 19 EuPartnerGüVO. 11 EuGH 15.7.2010, Rs. C-256/09, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:437. S. dazu auch Simotta in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheKindVO Rz. 3 und 22 sowie Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 107 ff. jeweils m.w.N. 12 Simotta in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheKindVO Rz. 4; Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht, 2. Aufl., 2017, Rz. 8.60; Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/ 2003 Rz. 3; Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 1. Dazu ausführlich Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 71 f.

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(3) vom Gericht, das nach Art. 20 I Brüssel IIa-VO i.V.m. dem nationalen Recht (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen) für das einstweilige Rechtsschutzverfahren zuständig ist, erlassen werden können. Durch die Erweiterung der Gerichtsstände der Verordnung um die Gerichtsstände des nationalen Rechts soll die Partei, deren Ansprüche verletzt oder gefährdet sind und die rasch gerichtliche Hilfe in Form einstweiliger Maßnahmen benötigt, besonders geschützt werden.13 Die internationale Zuständigkeit nach Art. 20 I Brüssel IIa-VO wird mehrfach begrenzt. Neben der Voraussetzung, dass (1) die Maßnahme nur vorläufigen Charakter haben darf, (2) wird in Art. 20 I Brüssel IIa-VO ausdrücklich normiert, dass eine Kompetenz nach nationalem Recht nur in dringenden Fällen und (3) nur in Bezug auf die in dem betreffenden Staat befindlichen Personen und Vermögensgegenstände in Anspruch genommen werden darf. (4) Nach Auffassung des EuGH14 soll im Rahmen eines Verfahrens betreffend die elterliche Verantwortung über Maßnahmen, die Relevanz für die Grundrechte haben, grundsätzlich nur vom Hauptsachegericht entschieden werden, wodurch eine weitere Einschränkung des Art. 20 I Brüssel IIa-VO bewirkt wird. Obwohl Art. 20 I Brüssel IIa-VO restriktiv ausgelegt wird,15 soll nach dem Borrás-Bericht16 die entsprechende Bestimmung in dem nicht in Kraft getretenen EheGVÜ17 (Art. 12) zwar nur für Verfahren, die in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fallen, gelten; allerdings soll eine einstweilige Maßnahme, die im Rahmen eines solchen Verfahrens angeordnet wird, auch Aspekte erfassen können, die – wie etwa das Ehegüterrecht – nicht vom sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens erfasst seien. Zur Begründung wird der Wortlaut der Bestimmung angeführt, wonach eine einstweilige Maßnahme sowohl Personen als auch Güter (nunmehr: „Vermögensgegenstände“) betreffen könne. Die Auffassung führt zu einer 13 Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 4 m.w.N. 14 EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. 15 S. dazu auch EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU: C:2009:810; Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, A Rz. 214 sowie F Rz. 325. 16 Erläuternder Bericht zu dem Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen (vom Rat am 28. Mai 1998 genehmigter Text) erstellt von Prof. Dr. Alegría Borrás, Professorin für internationales Privatrecht an der Universität Barcelona, ABl. 1998 C 221/27 Rz. 59. 17 Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen, ABl. 1998 C 221/1.

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Erweiterung der Entscheidungskompetenz des nach Art. 12 EheGVÜ angerufenen Gerichts. Nach Ansicht des EuGH18 und der überwiegenden Lehre19 soll dies auch für Art. 12 Brüssel II-VO bzw. Art. 20 Brüssel IIa-VO gelten. 2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO a) Allgemeines Nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO sind auch dann, wenn das Gericht eines anderen Mitgliedstaats für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dringenden Fällen die Gerichte eines Mitgliedstaats für die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen zuständig, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen sind, (1) für ein Kind, das sich in diesem Mitgliedstaat aufhält, oder (2) Vermögen, das einem Kind gehört und sich in diesem Mitgliedstaat befindet. Die revidierte Fassung der Verordnung sieht daher weiterhin ein System der Zweispurigkeit vor. Neben dem Hauptsachegericht sind auch die Gerichte des Staats international zuständig, in dem sich das Kind aufhält oder in dem sich dem Kind gehörendes Vermögen befindet. Durch die Kumulierung der Gerichtsstände wird – wie in der Brüssel IIa-VO – gewährleistet, dass eine Person, deren Anspruch gefährdet oder verletzt ist und die daher möglichst rasch gerichtliche Hilfe in Form einstweiliger Maßnahmen benötigt, nicht gezwungen wird, sich an ein unter Umständen weit entferntes Hauptsachegericht zu wenden, mit dessen Verfahrenssprache und -bestimmungen sie nicht vertraut ist.20 Anders als Art. 20 Brüssel IIa-VO verweist Art. 15 Brüssel IIb-VO nicht mehr auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten, sondern regelt die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen unions18

EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. Fuchs/Tölg, ZfRV 2002, 95 (101 f.); Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/ Schmaranzer, Internationales Zivilverfahrensrecht, Loseblattslg. 1. Lfg., 2001, Art. 12 EheGVVO (a.F.) Rz. 2; Schlosser, EU-Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 2002, Art. 12 EuEheVO (a.F.) Rz. 1; Spellenberg in FS Beys II, 2003, 1583 (1586); a.A. Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheVO Rz. 1; Garber in Angst/Oberhammer, Kommentar zur EO, 3. Aufl., 2015, Vor § 79 Rz. 435; ders. in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 8; Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR, Bd. 4, 4. Aufl., 2015, 20 Brüssel IIa-VO Rz. 9 ff.; Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/2003 Rz. 13 ff. 20 S. zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 102 ff. 19

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rechtlich autonom.21 Im Unterschied zu Art. 20 Brüssel IIa-VO wird in Art. 15 Brüssel IIb-VO nämlich nicht mehr normiert, dass ein Gericht einstweilige Maßnahmen „ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung“ anordnen kann. Neben dem Wortlaut folgt auch aus der systematischen Stellung der Norm, dass sich die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen nunmehr unmittelbar aus Art. 15 Brüssel IIb-VO ergibt. Art. 15 Brüssel IIb-VO folgt nämlich nicht wie Art. 20 Brüssel IIa-VO erst nach den Bestimmungen über den Begriff der Anrufung eines Gerichts, über die Prüfung der Zuständigkeit und Zulässigkeit des Verfahrens sowie über die Rechtshängigkeit und abhängige Verfahren, sondern schließt unmittelbar an die Zuständigkeitsbestimmungen der Verordnung an.22 Die eigenständige Regelung der internationalen Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen ohne Rückgriff auf das nationale Recht erscheint sinnvoll.23 Dadurch wird z.B. verhindert, dass ein Mitgliedstaat die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen ausschließen kann, obwohl dessen Zuständigkeit – etwa aufgrund der Lage des Verfügungsobjekts – besonders sachnah erscheint. Da kein Rückgriff auf das (unter Umständen komplexe) nationale Zuständigkeitsrecht erforderlich ist, kann der international zuständige Mitgliedstaat einfacher ermittelt werden, wodurch die internationale Zuständigkeit für alle Parteien vorhersehbar wird. Aus der neuen Positionierung der Norm – Art. 15 Brüssel IIb-VO befindet sich in Abschnitt II des Kapitels 2, der ausschließlich Regelungen zur elterlichen Verantwortung enthält – folgt auch, dass die Bestimmung nur mehr den einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der elterlichen Verantwortung erfasst. Die Norm gilt demnach nicht für die sich in Abschnitt I des Kapitels 2 befindlichen Regelungen betreffend Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und Ungültigerklärung einer Ehe.24 Ab21 So bereits der Entwurf der Kommission (KOM[2016] 411 endg.; s. dazu Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 60; Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, F Rz. 319). 22 Aus der systematischen Stellung der Bestimmung über den einstweiligen Rechtsschutz in vergleichbaren Übereinkommen bzw. Verordnungen wurde geschlossen, dass der Norm keine eigenständige zuständigkeitsbegründende Wirkung zukomme (GA Gulmann im Verfahren EuGH Rs. C-261/90, Reichert/Dresdner Bank, ECLI:EU:C:1992:78; Stadler, JZ 1999, 1089 [1091]; vgl. auch Grundmann, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer einstweiliger Massnahmen nach IPRG und Lugano-Übereinkommen, 1996, 130: „Die Positionierung weckt Zweifel, ob es sich bei Art. 24 LugÜ wirklich um eine Norm der direkten Zuständigkeit handle, deren Zweck in der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit liegt.“). 23 S. zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 110. 24 Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, A Rz. 203.

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schnitt I des Kapitels 2 enthält keine Art. 15 Brüssel IIb-VO entsprechende Zuständigkeitsbestimmung. Da – soweit ersichtlich – die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine einstweilige Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe ermöglichen, hätte eine Art. 15 Brüssel IIb-VO entsprechende Norm nur Bedeutung, wenn sie die Erlassung einstweiliger Maßnahmen ermöglichen würde, die Aspekte betrifft, die nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst sind – wie etwa die einstweilige Regelung von güterrechtlichen Angelegenheiten.25 Aus dem Verzicht einer Parallelnorm zu Art. 15 Brüssel IIb-VO kann geschlossen werden, dass – im Unterschied zur Brüssel IIa-VO26 – hinsichtlich des Anwendungsbereichs nicht zwischen endgültigen und einstweiligen Entscheidungen zu differenzieren ist; Art. 15 Brüssel IIb-VO ermöglicht daher nicht die Erlassung einstweiliger Maßnahmen, die nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst sind. Dies erscheint sinnvoll. Dadurch werden nämlich schwierige Abgrenzungsfragen zu anderen Verordnungen des Europäischen Zivilverfahrensrechts – wie etwa zur EuEheGüVO, EuPartnerGüVO und EuUntVO – vermieden.27 Wird ein Gericht nach Art. 15 Brüssel IIb-VO angerufen, bewirkt dies keine Zuständigkeit für die Entscheidung in der Hauptsache. Nach ErwGr 31 zur Brüssel IIb-VO, dessen Inhalt allerdings keinen Niederschlag im normativen Teil der Verordnung gefunden hat, soll sich das Gericht, das lediglich für einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen zuständig ist, von Amts wegen für unzuständig erklären, wenn es mit einem Antrag betreffend die Hauptsache befasst wird. Aus dem letzten Halbsatz des ErwGr 31, wonach dies gelte, „falls ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats aufgrund dieser Verordnung in der Hauptsache zuständig ist“, kann allerdings nicht geschlossen werden, dass keine Unzuständigkeitserklärung zu erfolgen habe, wenn das Gericht eines Drittstaats für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist. b) Die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen in Kindesentführungsfällen In internationalen Kindesentführungsfällen kann, wie in Art. 27 V Brüssel IIb-VO ausdrücklich klargestellt wird, das Gericht, das die Rückgabe des Kindes anordnet, gegebenenfalls einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nach Art. 15 Brüssel IIb-VO anordnen, um das Kind vor einer schwerwiegenden Gefahr im Sinne des Art. 13 I b des Haager Über25 S. hierzu auch Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer, Internationales Zivilverfahrensrecht, Loseblattslg. 1. Lfg., 2001, Art. 12 EheGVVO (a.F.) Rz. 1. 26 S. die Nachweise in FN. 16, 18 und 19. 27 Vgl. auch Garber in König/Mayr, Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich, Bd. V, 2017, 109 (129).

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einkommens von 198028 zu schützen, sofern die Prüfung und Anordnung dieser Maßnahmen das Rückgabeverfahren nicht über Gebühr verzögern würde. Die Brüssel IIa-VO enthält keine entsprechende Regelung; in internationalen Kindesentführungsfällen gilt das allgemeine zweispurige System (s. dazu Punkt II.1.). Im Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO wird die Kompetenz des Gerichts, das nach der Verordnung nicht für die endgültige Entscheidung über die elterliche Verantwortung zuständig ist, weiter eingeschränkt: Zum einen darf eine einstweilige Maßnahme nur angeordnet werden, wenn das Kind vor der schwerwiegenden Gefahr im Sinne des Art. 13 I b des Haager Übereinkommens von 1980 geschützt werden soll, zum anderen darf durch die Prüfung und Anordnung dieser Maßnahmen das Rückgabeverfahren nicht über Gebühr verzögert werden. Durch die Kriterien sollen eine Verfestigung der aus der Kindesentführung entstandenen tatsächlichen Situation und der damit verbundenen Stärkung der Position des hierfür verantwortlichen Elternteils vermieden werden;29 eine einstweilige Maßnahme darf nicht zu einer Umgehung einer Rückführung durch Zuerkennung einer einstweiligen Obsorge an den entführenden Elternteil führen. Denkbar sind etwa vorläufige Maßnahmen hinsichtlich der Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte (vgl. § 107 II AußStrG). Die auf Art. 27 V Brüssel IIb-VO i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO beruhenden Maßnahmen können in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden, sodass der Schutz des Kindes verbessert wird (s. dazu unter Punkt IV.2.). c) Voraussetzungen aa) Anknüpfungspunkte Die internationale Zuständigkeit nach Art. 15 Brüssel IIb-VO ist gegeben, wenn (1) sich das Kind in diesem Staat aufhält, wobei nicht erforderlich ist, dass das Kind in diesem Staat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vielmehr genügt die schlichte Anwesenheit, d.h. die physische Präsenz des Kindes in diesem Mitgliedstaat, oder (2) sich das dem Kind gehörende Vermögen in diesem Staat befindet; die zweite Alternative führt zu einer Etablierung des ansonsten als exorbitant bezeichneten Vermögensgerichtsstands. 28 Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 1998/512; abrufbar unter https://assets.hcch.net/docs/ 083d01dc-c501-4242-ac2f-2932eb774bc3.pdf. 29 In diese Richtung bereits EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. S. auch OGH 2 Ob 228/11k EvBl 2012/146 (Garber) = EF-Z 2013/70 (Nademleinsky).

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Für die Begründung der Zuständigkeit ist unerheblich, ob sich der Antragsgegner im Forumsstaat befindet. Im Unterschied zu Art. 7 Brüssel IIb-VO wird in Art. 15 Brüssel IIb-VO nicht ausdrücklich normiert, dass sich das Kind im Zeitpunkt der Antragstellung in dem Mitgliedstaat befindet, dessen Gerichte mit der Rechtssache befasst werden. Aus dem abweichenden Wortlaut könnte geschlossen werden, dass sich das Kind während des gesamten Verfahrens in diesem Mitgliedstaat befinden muss30 bzw. sich das Vermögen während des gesamten Verfahrens in diesem Staat befinden muss. Bei Verlegung des Aufenthalts in einen anderen Staat bzw. bei Verbringung des Vermögens in einen anderen Staat würde auch die Zuständigkeit nach Art. 15 Brüssel IIb-VO enden. U.E. sollte der Grundsatz der perpetuatio fori auch im Anwendungsbereich des Art. 15 Brüssel IIb-VO gelten; es genügt demnach, wenn sich im Zeitpunkt der Antragstellung das Kind oder das dem Kind gehörende Vermögen in dem Staat befindet, dessen Gerichte angerufen werden. Die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen, die auf der Grundlage des Art. 15 Brüssel IIb-VO erlassen werden, ist zum einen nicht gänzlich ausgeschlossen (s. dazu unter Punkt IV.2.) – es wäre nicht überzeugend, zumindest in bestimmten Fällen die Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen, die Erlassung aber von Voraussetzungen abhängig zu machen, die den Vollzug der einstweiligen Maßnahmen nur in diesem einen Staat sicherstellen –, zum anderen kann durch die hier vertretene Auffassung eine Beeinträchtigung der Rechtsposition der gefährdeten Partei verhindert werden. Andernfalls könnte der Antragsgegner, wenn er vom einstweiligen Rechtsschutzverfahren Kenntnis erlangt, u.U. das Kind oder das Vermögen in einen anderen Staat bringen und dadurch die Erlassung einer einstweiligen Maßnahme vereiteln. Selbst wenn die einstweilige Maßnahme in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt und vollstreckt werden kann, kommt der Erlassung einer entsprechenden Maßnahme „Symbolwirkung“ zu. Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts endet bei Verlegung des Aufenthalts in einen anderen Staat bzw. bei Verbringung des Vermögens in einen anderen Staat nach der hier vertretenen Auffassung nicht. Der Umstand, dass in einem Mitgliedstaat ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren anhängig ist, hindert – wie auch Art. 20 II Brüssel IIb-VO entnommen werden kann (s. dazu unter Punkt. III.2.) – die Beantragung einer einstweiligen 30 Vgl. auch zu Art. 13 Brüssel IIa-VO (entspricht Art. 11 Brüssel IIb-VO) Fleige, Die Zuständigkeit für Sorgerechtsentscheidungen und die Rückführung von Kindern nach Entführungen nach Europäischem IZVR, 2006, 262; Pesendorfer in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 13 EuEheKindVO Rz. 21; Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 13 Brüssel IIa-VO Rz. 8.

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Maßnahme in einem anderen Mitgliedstaat nicht.31 Kann eine erlassene einstweilige Maßnahme in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt und vollstreckt werden, muss die gefährdete Partei jedenfalls die Möglichkeit haben, identische Maßnahmen gleichzeitig in mehreren Staaten beantragen zu können. Ein Bedürfnis, mehrere parallele einstweilige Rechtsschutzverfahren in verschiedenen Staaten durchzuführen, kann auch trotz Anerkennungs- und Vollstreckungsfähigkeit der einstweiligen Maßnahme bestehen,32 so etwa in jenen Fällen, in denen sich nach Einleitung des ersten Verfahrens herausstellt, dass die Erlassung der einstweiligen Maßnahme in einem Staat zu lange dauert33 oder in jenen Fällen, in denen die gefährdete Partei keine genaue Kenntnis hat, in welchem Mitgliedstaat sich das Verfügungsobjekt befindet. Dass das Interesse der gefährdeten Partei, eine einstweilige Maßnahme in mehreren Staaten erwirken zu können, zu berücksichtigen ist, folgt aus der Ratio des Art. 15 Brüssel IIb-VO, die darin liegt, den Rechtsschutz für das Kind bzw. für die Partei, deren Ansprüche gefährdet oder verletzt sind, zu erleichtern. bb) Vorläufigkeit Aus dem Wortlaut des Art. 15 Brüssel IIb-VO folgt, dass die zu erlassende Maßnahme nur einstweiligen Charakter haben darf. Der Begriff der „Einstweiligkeit“ ist im rechtlichen Sinne zu verstehen.34 Vom Anwendungsbereich des Art. 15 Brüssel IIb-VO sind daher alle Maßnahmen ausgenommen, die rechtlich endgültig sind, d.h. die strittige Rechtslage endgültig klären sollen. Ob im konkreten Verfahren die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs oder eines Rechtsmittels besteht, ist hingegen nicht maßgebend. Andernfalls wären nur solche Entscheidungen rechtlich endgültig, gegen die kein Rechtsbehelf oder Rechtsmittel eingelegt werden kann.35 Für die Qualifikation einer gerichtlichen Entscheidung als einstweilige Maßnahme ist erforderlich, dass sie weder der Einleitung eines Hauptsachever31 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO s. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 209 f. 32 Vgl. auch zur parallelen Problematik im Schiedsverfahren Schroth, Einstweiliger Rechtsschutz im deutschen Schiedsverfahren, SchiedsVZ 2003, 102 (105). 33 Zur vergleichbaren Rechtslage nach dem LGVÜ s. Grundmann, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer einstweiliger Massnahmen nach IPRG und Lugano-Übereinkommen, 1996, 123 f. Dadurch besteht die Gefahr divergierender Entscheidungen, in diesem Fall ist Art. 39 I lit. d bzw. lit. e anzuwenden. In der Regel wird das Hauptsachegericht eine einstweilige Maßnahme erlassen, sodass die anderen einstweiligen Maßnahmen nach Art. 20 II Brüssel IIb-VO ohnehin außer Kraft treten. Die Gefahr divergierender Entscheidungen wird dadurch vermieden. 34 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO s. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 126 ff. 35 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO s. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 127.

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fahrens entgegensteht noch Bindungswirkungen gegenüber dem Hauptsacheverfahren entfaltet.36 Einstweilige Maßnahmen, die nur faktisch endgültig sein können, etwa, weil die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens unterlassen wird, sind demgegenüber vom Anwendungsbereich des Art. 15 Brüssel IIb-VO erfasst. Aus der Vorläufigkeit folgt demnach nicht, dass gestützt auf Art. 15 Brüssel IIb-VO keine Maßnahmen angeordnet werden dürfen, die hinsichtlich des entscheidenden Sachverhalts nur aus tatsächlichen Gründen endgültigen Charakter haben.37 Das Kindeswohl kann es allerdings erfordern, nicht mehr rückgängig zu machende Maßnahmen – wie etwa die Ersetzung der Zustimmung für ärztliche Notmaßnahmen wie chirurgische Eingriffe – anzuordnen.38 Dies gilt immer dann, wenn dringender Handlungsbedarf besteht.39 cc) Eilbedürfnis Die Bestimmung setzt voraus, dass im konkreten Fall eine besondere Dringlichkeit für die Erlassung einer einstweiligen Maßnahme vorliegt. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines „dringenden“ Falls sind unionsrechtlich autonom zu bestimmen.40 Ein Eilbedürfnis ist immer dann anzunehmen, wenn ohne die Erlassung der einstweiligen Maßnahme der gefährdeten Partei ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstehen würde,41 weil die Maßnahme des Hauptsachegerichts zu spät käme. Als Schaden gelten alle schwerwiegenden materiellen und immateriellen Nachteile, welche die gefährdete Partei an ihren Rechtsgütern oder an ihrem Vermögen erleidet und die gegenwärtig eintreten oder zumindest unmittelbar bevorstehen. Der EuGH hat in der Rs. 523/0742 zur Brüssel IIa-VO ausgesprochen, dass ein dringender Fall vorliegt, wenn sich die Kinder in einer Situation be36 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO s. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 128. 37 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 3. 38 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Pirrung in Staudinger, BGB: EU-Verordnungen und Übereinkommen zum Schutz von Kindern, 2018, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. C 113a. 39 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 3; Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 31. 40 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. OGH 1 Ob 254/11a iFamZ 2012/158; LG Feldkirch 3 R 167/15d EFSlg 147.333; LG Feldkirch 3 R 170/05w EFSlg 147.333; Simotta in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheKindVO Rz. 33. 41 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. OGH 1 Ob 254/11a iFamZ 2012/158; Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR, Bd. 4, 4. Aufl., Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 3. 42 EuGH 2.4.2009, Rs. C-523/07, A, ECLI:EU:C:2009:225.

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finden, die geeignet ist, ihrem Wohlergehen, einschließlich ihrer Gesundheit und ihrer Entwicklung, schweren Schaden zuzufügen. In der Rs. 403/09 PPU43 hat er ergänzend festgehalten, dass sich die Dringlichkeit auch danach beurteilt, ob rechtzeitig vor dem Hauptsachegericht entsprechende Anträge gestellt bzw. von diesem Maßnahmen ergriffen werden können.44 Das Eilbedürfnis kann sich daher sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit beziehen, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem für die Hauptsache zuständigen Gericht stellen zu können.45 Ob ein Eilbedürfnis vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des EuGH46 zur Brüssel IIa-VO auch unter Berücksichtigung bereits ergangener Entscheidungen des in der Hauptsache zuständigen Gerichts zu beurteilen. Wenn das für die Hauptsache zuständige Gericht die Obsorge bereits vorläufig auf einen Elternteil übertragen hat, kann ein anderes Gericht in diesem Fall nicht mit dem Hinweis auf Dringlichkeit selbst eine einstweilige Maßnahme treffen, in der die vorläufige Entscheidung des für die Hauptsache zuständigen Gerichts dadurch konterkariert wird, dass es das Sorgerecht vorläufig auf den anderen Elternteil überträgt. Dem ist auch für den Anwendungsbereich des Art. 15 Brüssel IIb-VO zuzustimmen, andernfalls könnte die Bestimmung als Instrument zur inhaltlichen Korrektur einer (selbst vorläufigen) Entscheidung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts missbraucht werden. Anderes gilt, wenn nachträglich neue Tatsachen eintreten oder bekannt werden, die ein neuerliches Tätigwerden erfordern, wenn und weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Hauptsachegericht die erforderliche Maßnahme rechtzeitig anordnen kann.47 dd) Bezug auf das sich im Gerichtsstaat befindliche Kind bzw. das dem Kind gehörende Vermögen Art. 15 Brüssel IIb-VO setzt einen bestimmten Gebietsbezug der einstweiligen Maßnahme voraus: Die auf der Zuständigkeit nach Art. 15 I Brüssel IIbVO beruhenden einstweiligen Maßnahmen müssen nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Bestimmung nämlich für das Kind, das sich in diesem Mitgliedstaat aufhält, oder für das Vermögen, das einem Kind gehört und sich in diesem Mitgliedstaat befindet, vorgesehen sein. Auch Art. 20 Brüssel IIa-VO 43

EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. Vgl. auch Meyer-Götz/Noltemeier, FPR 2004, 296. 45 EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810; BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber); OGH 2 Ob 228/11k EvBl 2012/146 (Garber) = EF-Z 2013/70 (Nademleinsky); OGH 4 Ob 70/13t iFamZ 2013/201 (Fucik). 46 EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. 47 Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 36 m.w.N. 44

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kann ein solcher territorialer Bezug entnommen werden: Die Bestimmung ordnet an, dass die einstweilige Maßnahme „in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände“ ergehen muss. Durch die Einschränkung wird die vom EuGH48 zu Art. 24 EuGVÜ49 (entspricht Art. 31 Brüssel I-VO bzw. Art. 35 Brüssel Ia-VO50) geforderte „reale Verknüpfung“ zwischen dem Gegenstand der einstweiligen Maßnahmen und der gebietsbezogenen Zuständigkeit des Erlassstaats konkretisiert und ausdrücklich als Voraussetzung in die Norm aufgenommen. Im Ergebnis wird dadurch in der Regel eine vollstreckungsbezogene Zuständigkeit eröffnet, welche in den meisten Fällen faktisch die Notwendigkeit einer Anerkennung und Vollstreckung im Ausland (die ohnehin nur in Ausnahmefällen möglich ist, s. dazu unter Punkt IV.2.) entfallen lässt.51 Nach der Art. 20 Brüssel IIa-VO betreffenden Entscheidung des EuGH in der Rs. C-403/09 PPU52 kann eine einstweilige Maßnahme, durch die einem Elternteil die vorläufige Obsorge für ein Kind entzogen und an den anderen Elternteil übertragen werden soll, nur dann gestützt auf Art. 20 Brüssel IIa-VO in einem Mitgliedstaat, der nicht für die Hauptsache zuständig ist, erlassen werden, wenn sich sowohl das Kind als auch alle Personen, die mit der Obsorge betraut sind (im genannten Fall waren es die beiden Elternteile) in diesem Mitgliedstaat befinden. Die Einschränkung gilt mangels einer entsprechenden Regelung nicht für den Anwendungsbereich des Art. 15 Brüssel IIb-VO. Nach dieser Bestimmung ist der Gebietsbezug schon dann gegeben, wenn sich das Kind, das von der einstweiligen Entscheidung zur elterlichen Verantwortung betroffen ist, im Forumsstaat aufhält. Dies erscheint sinnvoll, weil die Rechtsprechung des EuGH zu einer weitgehenden Bedeutungslosigkeit des Art. 20 Brüssel IIa-VO führt.53 Zudem ist das Gericht dieses Staats – neben dem Hauptsachegericht – aufgrund der räumlichen Nähe zu dem Kind am besten in der Lage, eine im Interesse des Kindes liegende (vorläufige) Entscheidung zu treffen. 48

EuGH 17.11.1998 Rs. C-391/95, Van Uden/Deco-Line, ECLI:EU:C:1998:543. Übereinkommen von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1972 L 299/32 i.d.F. ABl. 1998 C 27/1. 50 Die Frage, ob die Einschränkung des EuGH auch im Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO gilt, ist umstritten (bejahend Garber in Mayr, Handbuch des europäischen Zivilverfahrensrechts, 2017, Rz. 3.853; verneinend König, ecolex 2016, 685). 51 Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/2003 Rz. 34; Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 37. 52 EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. S. auch BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber); OGH 2 Ob 228/11k EvBl 2012/146 (Garber) = EF-Z 2013/70 (Nademleinsky). 53 Krit. auch Pirrung in FS Spellenberg, 2010, 467 (474); Garber, EvBl 2012/146, 1011. 49

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ee) Weitere Einschränkungen Nach der zur Brüssel IIa-VO ergangenen Entscheidung des EuGH in der Rs. C-403/09 PPU54 soll im Rahmen eines Verfahrens betreffend die elterliche Verantwortung über Maßnahmen, die Relevanz für die Grundrechte haben, grundsätzlich nur vom Hauptsachegericht entschieden werden, wodurch es zu einer weiteren Einschränkung des Art. 20 Brüssel IIa-VO kommen kann.55 Die Einschränkung des Grundrechts des Kindes, regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen (s. Art. 24 III EuGRC) bedarf einer „ausgewogene[n] und vernünftige[n] Beurteilung aller auf dem Spiel stehenden Interessen, die auf objektiven Erwägungen hinsichtlich der Person des Kindes selbst und seiner sozialen Umgebung beruhen muss, […] [die] grundsätzlich im Rahmen eines Verfahrens vor dem Gericht vorzunehmen [ist], das nach der [Brüssel IIa-VO] für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist“. In ErwGr 19 zur Brüssel IIb-VO wird ausdrücklich auf Art. 24 III EuGRC Bezug genommen, sodass die vom EuGH vorgenommene Einschränkung wohl auch für den Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO gilt und bewirkt, dass grundrechtsbezogene einstweilige Maßnahmen nur von dem in der Hauptsache zuständigen Gericht erlassen werden dürfen. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass die nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen anordnen. Würde dies ausgeschlossen, würde die Ratio der Bestimmung, die gefährdete Partei in dringenden Fällen zu schützen, konterkariert werden. Da eine Maßnahme eines nach Art. 15 Brüssel IIb-VO ohnehin vom Hauptsachegericht überprüft und verändert werden kann (s. dazu unter Punkt II.2.g), ist die Zuständigkeit nach Art. 15 Brüssel IIb-VO im Hinblick auf die Wahrung der Grundrechte auch nicht bedenklich. d) Verhältnis zwischen Hauptsachegericht, fiktivem Hauptsachegericht und dem nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Gericht Wenngleich sich aus der Verordnung eine gewisse Vorrangstellung des Hauptsachegerichts für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen ergibt (nur diese Maßnahmen können nämlich – zumindest grundsätzlich – in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden, s. dazu unter Punkt IV.2., und nur die vom Hauptsachegericht erlassenen Maßnahmen führen zu einem Außerkrafttreten aller anderen einstweiligen Maßnahmen, s. dazu unter Punkt II.2.g), enthält die Verordnung keine allgemeine Rangordnung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.56 Die gefährdete Partei 54

EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. EuGH 23.12.2009, Rs. C-403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, ECLI:EU:C:2009:810. 56 Simotta in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheKindVO Rz. 21. 55

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kann daher zwischen dem Gericht, das tatsächlich mit der Hauptsache befasst ist, dem fiktiven Hauptsachegericht und dem nach Art. 15 Brüssel IIbVO zuständigen Gericht wählen. Es ist bedauerlich, dass das Verhältnis zwischen dem Gericht, das tatsächlich mit der Hauptsache befasst ist, und dem fiktiven Hauptsachegericht nicht geregelt wurde.57 Der Grund dürfte der sein, dass im Unterschied zur Brüssel Ia-VO in der Regel nicht mehrere Staaten für das Hauptsacheverfahren zuständig sein werden. Die Zuständigkeit mehrerer Mitgliedstaaten ist allerdings auch im Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO nicht ausgeschlossen, etwa weil das Kind in mehreren Mitgliedstaaten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. Art. 7 Brüssel IIbVO).58 Denkbar ist eine Kumulation auch im Anwendungsbereich der Restzuständigkeiten nach Art. 14 Brüssel IIb-VO. Es erscheint sinnvoll, dass das fiktive Hauptsachegericht nur bei Vorliegen der in Art. 15 Brüssel IIb-VO normierten Voraussetzungen einstweilige Maßnahmen erlassen darf; zumal die einstweiligen Maßnahmen des fiktiven Hauptsachegerichts demselben Zweck dienen wie die Maßnahmen, die auf der Grundlage des Art. 15 Brüssel IIb-VO angeordnet werden – nämlich der Unterstützung des Hauptsacheverfahrens. e) Form, Inhalt und Wirkungen der Maßnahme Form, Inhalt und Wirkung der Maßnahme bestimmen sich nach der lex fori.59 Die Bestimmung schafft daher keinen eigenständigen Typus von zu gewährenden einstweiligen Maßnahmen.60 Aus österreichischer Sicht sind etwa die im österreichischen Obsorgeverfahren vorläufige Einräumung der Obsorge und des Kontaktrechts gem. § 107 AußStrG61 als einstweilige Maßnahmen i.S.d. Art. 15 Brüssel IIb-VO zu qualifizieren.62 f) Informationspflicht Der EuGH hat zu Art. 20 Brüssel IIa-VO ausgesprochen, dass das Gericht, das nach Art. 20 Brüssel IIa-VO eine Maßnahme ergriffen hat, das für 57 Zu Vorschlägen einer entsprechenden Regelung s. etwa Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 98 ff. 58 Zur Möglichkeit des Bestehens mehrerer gewöhnlicher Aufenthalte Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 8 Brüssel IIa-VO Rz. 40. 59 EuGH 2.4.2009, Rs. C-523/97, A, ECLI:EU:C:2009:225; Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 13. 60 Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, A Rz. 205 sowie F Rz. 321. 61 Bundesgesetz über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen (Außerstreitgesetz), BGBl I 2003/111. 62 So auch zu Art. 20 Brüssel IIa-VO OGH 1 Ob 254/11a iFamZ 2012/158; LGZ Wien 48 R 326/14t EFSlg 143.665; LG Linz 15 R 190/14p EFSlg 143.656: LG Feldkirch 3 R 167/15d EFSlg 147.332; LG Feldkirch 3 R 170/05w EFSlg 147.332.

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die Hauptsache zuständige Gericht direkt oder durch Einschaltung der Zentralen Behörden zu informieren hat, soweit es den Schutz des Kindeswohls erfordert.63 In Art. 15 II Brüssel IIb-VO wird die Informationspflicht nunmehr ausdrücklich normiert. Auch das Hauptsachegericht kann – wie Art. 15 III 2 Brüssel IIb-VO explizit anordnet – „gegebenenfalls“ das Gericht, das nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO eine Maßnahme ergriffen hat, von seiner Entscheidung in Kenntnis setzen. Die Informationspflicht ist sinnvoll, um eine Abstimmung der Maßnahmen erreichen zu können, ein Außerkrafttreten einer Maßnahme zu ermitteln (s. dazu unter Punkt II.2.g) und die Zusammenarbeit der Gerichte sowie die Koordination von Maßnahmen zu verstärken.64 Sinnvoll ist eine solche Information allerdings nur dann, wenn sie unverzüglich erfolgt. Der europäische Gesetzgeber hat einem entsprechenden Abänderungsantrag des Europäischen Parlaments65 zwar nicht Folge geleistet, dennoch sollte eine Information so rasch wie möglich erfolgen. Eine Verletzung der Informationspflicht ist sanktionslos; sie bewirkt insbesondere nicht, dass eine erlassene einstweilige Maßnahme in einem anderen Staat nicht anerkannt und vollstreckt werden kann (sofern eine solche Anerkennung und Vollstreckung überhaupt möglich ist, s. dazu unter Punkt IV.2.). g) Außerkrafttreten einstweiliger Maßnahmen – Art. 15 III Brüssel IIb-VO Nach Art. 15 III 2 Brüssel IIb-VO treten – in Übereinstimmung mit Art. 20 II Brüssel IIa-VO – die nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO ergriffenen einstweiligen Maßnahmen außer Kraft, wenn das Hauptsachegericht „die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält“. Beim Hauptsachegericht handelt es sich – trotz des missverständlichen Wortlauts – nur um das tatsächlich als Hauptsachegericht angerufene Gericht;66 die Entscheidungen eines Gerichts, das seine Zuständigkeit auf eine fiktive Hauptsachezuständigkeit stützt, bewirken nicht das Außerkrafttreten der Entscheidungen, die nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO angeordnet worden sind.67 63 EuGH 2.4.2009, Rs. C-523/97, A, ECLI:EU:C:2009:225; Frank in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl., 2010, Kap. 29, Art. 20 EuEheVO Rz. 63. 64 Garber in König/Mayr, Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich, Bd. V, 2017, 109 (130). 65 2016/0190 (CNS) 7. 66 So auch zu Art. 20 Brüssel IIa-VO Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 54; Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 18. 67 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Schäuble in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 18.

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Bei der Entscheidung des Hauptsachegerichts muss es sich nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache handeln, vielmehr kann das Hauptsachegericht auch einstweilige Maßnahmen anordnen, die zu einem Außerkrafttreten der einstweiligen Maßnahme nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO führen. Trotz des insoweit abweichenden Wortlauts genügt es, dass die Maßnahmen des zuständigen Gerichts darin bestehen, die Erlassung entsprechender Maßnahmen abzulehnen.68 Sofern das Hauptsachegericht umfassende Maßnahmen erlässt bzw. ablehnt, bleiben die vom anderen Gericht angeordneten Maßnahmen auch nicht im überschießenden Teil aufrecht.69 Nach dem Wortlaut der Verordnung treten die einstweiligen Maßnahmen nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO automatisch außer Kraft. Es erscheint sinnvoll, dass das Hauptsachegericht einen deklarativen Beschluss erlässt, mit dem festgestellt wird, dass die nach Art. 15 I Brüssel IIb-VO bereits erlassenen einstweiligen Maßnahmen außer Kraft treten. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Hauptsachegericht die Erlassung einstweiliger Maßnahmen ablehnt.

III. Litispendenzregelungen 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO Die Brüssel IIa-VO regelt nicht ausdrücklich, ob und inwieweit Art. 19 Anwendung findet, wenn in einem Mitgliedstaat ein Hauptsacheverfahren und in einem anderen Mitgliedstaat ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren anhängig ist bzw. wenn in mehreren Mitgliedstaaten einstweilige Rechtsschutzverfahren eingeleitet werden. Nach Ansicht des EuGH70 entfaltet Art. 19 Brüssel IIa-VO keine Sperrwirkung, wenn das mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz befasste Gericht seine Zuständigkeit auf Art. 20 I Brüssel IIa-VO i.V.m. dem nationalen Recht (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen) stützt. Gründet die Zuständigkeit des mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz befassten Gerichts auf eine nach der Verordnung bestehende Hauptsachezuständigkeit, kann der Antrag auf Erlassung 68 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Frank in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl., 2010, Kap. 29, Art. 20 EuEheVO Rz. 63; Simotta in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5/2, 2. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheKindVO Rz. 49; Weber in Mayr, Handbuch des europäischen Zivilverfahrensrechts, 2017, Rz. 4.220. 69 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO s. Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 56; Pirrung in Staudinger, BGB: EU-Verordnungen und Übereinkommen zum Schutz von Kindern, 2018, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. C 115. 70 EuGH 9.10.2010, Rs. C-296/10, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:665.

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einer einstweiligen Maßnahme ein später eingeleitetes Hauptsacheverfahren vor einem anderen Mitgliedstaat blockieren. Der EuGH folgt daher nicht der Auffassung, wonach das einstweilige Rechtsschutzverfahren und das Hauptsacheverfahren nicht denselben Anspruch i.S.d. Art. 19 Brüssel IIaVO betreffen, weil der Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nämlich nicht der Anspruch selbst, sondern dessen einstweilige Sicherung oder Regelung darstellt.71 Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann nach Ansicht des EuGH einem Hauptsacheverfahren in den Wirkungen gleichkommen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Maßnahme die Hauptsache vorbereitet und/oder zwingend vor Einleitung des Hauptsacheverfahrens eine einstweilige Maßnahme zu beantragen ist.72 In diesem Fall blockiert ein Antrag auf einstweilige Übertragung der Obsorge in einem Mitgliedstaat ein zeitlich später eingeleitetes Hauptsacheverfahren hinsichtlich der endgültigen Entscheidung über die Obsorge in einem anderen Mitgliedstaat.73 Das als zweites angerufene Hauptsachegericht muss also für die Frage, ob Art. 19 Brüssel IIa-VO anzuwenden ist, prüfen, ob das mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beschäftigte Gericht sich in zuständigkeitsrechtlicher Hinsicht auf eine Zuständigkeit in der Hauptsache oder auf Art. 20 I Brüssel IIa-VO i.V.m. dem nationalen Recht (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen) gestützt hat.74 Kann der Zuständigkeitsgrund des zuerst angerufenen Gerichts für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen nicht ermittelt werden,75 kann das Hauptsacheverfahren vor dem später angerufenen Gericht fortgesetzt werden, sofern Gründe des Kindeswohls dies erfordern und eine angemessene Wartefrist abgelaufen ist.76 Die Rechtshängigkeit des Hauptsacheverfahrens hindert demgegenüber die Erlassung einstweiliger Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem das Hauptsacheverfahren anhängig ist, nicht.77 S. auch unter Punkt III.2. 71 So etwa zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 204 ff. m.w.N. 72 EuGH 9.10.2010, Rs. C-296/10, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:665 Rz. 74. 73 Althammer in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 19 Brüssel IIa-VO Rz. 19. 74 Dazu ausführlich Althammer in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 19 Brüssel IIa-VO Rz. 19 m.w.N. 75 Zur Ermittlung der Zuständigkeit ausführlich Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 19 VO Nr. 2201/2003 Rz. 26. 76 EuGH 9.10.2010, Rs. C-296/10, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:665 Rz. 82 ff. 77 Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht, 2019, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. 2, 18 f.

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2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO Die Brüssel IIb-VO enthält – im Unterschied zur Brüssel IIa-VO – eine ausdrückliche Regelung zur Frage der Anwendbarkeit der Rechtshängigkeitsregelungen. Nach Art. 20 II Brüssel IIb-VO setzt, sofern sich die Zuständigkeit eines der Gerichte nicht nur auf Art. 15 Brüssel IIb-VO stützt und bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist. Mit Art. 20 II Brüssel IIb-VO wollte der europäische Gesetzgeber wohl die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-296/1078 – zumindest im Grundsatz79 – kodifizieren. Stützt der zuerst angerufene Mitgliedstaat daher seine Zuständigkeit auf eine Hauptsachezuständigkeit, ist Art. 20 II anzuwenden und blockiert ein Hauptsacheverfahren in einem anderen Mitgliedstaat; dies gilt unabhängig davon, ob das zuerst angerufene Gericht eine einstweilige oder eine endgültige Maßnahme erlassen soll. Die Regelung berücksichtigt den Umstand, dass die gefährdete Partei ein Interesse daran haben kann, die einstweilige Maßnahme zwar in dem Mitgliedstaat zu beantragen, in dem sie später auch vollzogen werden soll, in dem sie aber – da die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats für die Entscheidung in der Hauptsache sachnäher erscheinen – nicht auch das Hauptsacheverfahren einleiten will, nicht ausreichend (zum Bestehen mehrerer Hauptsachegerichte s. unter Punkt II.2.d). Die gefährdete Partei muss außerdem in einem Zeitpunkt, in dem sie auf schnelle gerichtliche Hilfe angewiesen ist, zuerst prüfen, bei welchem Gericht es für sie am günstigsten wäre, das Hauptsacheverfahren einzuleiten. Diese unter Umständen zeitintensive Prüfung ist mit dem Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes nicht vereinbar.80 Da nach der Brüssel IIb-VO in der Regel nicht die Zuständigkeit mehrerer Mitgliedstaaten für die Entscheidung in der Hauptsache begründet wird, haben die oben genannten 78 EuGH 9.10.2010, Rs. C-296/10, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:665. 79 Art. 20 II Brüssel IIb-VO normiert allerdings nicht ausdrücklich, dass das Hauptsacheverfahren vor dem später angerufenen Gericht fortgesetzt werden kann, sofern Gründe des Kindeswohls dies erfordern und eine angemessene Wartefrist abgelaufen ist. Um dem Kindeswohl Rechnung zu tragen, sollte die Einschränkung auch für den Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO gelten. Im Unterschied zur Brüssel IIa-VO gilt die Regelung nicht für den konkreten Einzelfall (Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 19 VO Nr. 2201/2003 Rz. 25), sondern stellt die allgemeine Regelung dar, die jedenfalls anzuwenden ist. 80 S. zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 92.

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Einwände – im Unterschied zur Brüssel Ia-VO (s. auch unter Punkt II.2.d) – kein großes Gewicht. Beruft sich das Gericht auf Art. 15 Brüssel IIb-VO, ist die Rechtshängigkeitsregelung nicht anzuwenden. Art. 20 II Brüssel IIb-VO gilt daher nicht im Verhältnis zwischen einem in einem Mitgliedstaat eingeleiteten Hauptsacheverfahren und einem in einem anderen Mitgliedstaat früher oder später eingeleiteten einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Art. 20 II Brüssel IIbVO gilt auch nicht für parallele einstweilige Rechtsschutzverfahren, sofern (1) beide ihre Zuständigkeit auf Art. 15 Brüssel IIb-VO stützen bzw. (2) eines nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständig ist, das andere aufgrund seiner Hauptsachezuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen zuständig ist. Zum Bedürfnis, gleichzeitig mehrere einstweilige Rechtsschutzverfahren einzuleiten, s. unter Punkt II.2.c.aa. Art. 20 II Brüssel IIb-VO sollte trotz des insofern missverständlichen Wortlauts auch dann angewandt werden, wenn ein Mitgliedstaat seine Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen auf die Hauptsachezuständigkeit stützt, der andere auf seine fiktive Hauptsachezuständigkeit (zur Gleichbehandlung des fiktiven Hauptsachegerichts mit dem nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Gericht s. dazu auch unter Punkt II.2.d). Durch die Neuregelung wird sichergestellt, dass die nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Gerichte einstweilige Maßnahmen anordnen können, auch wenn die Gerichte eines anderen Staats mit der Hauptsache bereits befasst sind. Einer Partei, die zunächst keinen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Maßnahme gestellt hat, wird demnach ermöglicht, auch noch nach der Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens einstweilige Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat zu beantragen, so z.B. weil sich erst nach diesem Zeitpunkt herausstellt, dass das Hauptsacheverfahren nicht in angemessener Zeit durchgeführt werden kann oder erst nach der Anhängigkeit der Hauptsache der Anspruch gefährdet oder verletzt wird. Zudem wird effektiver einstweiliger Rechtsschutz erst durch die Möglichkeit, ein anhängiges Hauptsacheverfahren durch einstweilige Maßnahmen in anderen Mitgliedstaaten zu unterstützen und zu ergänzen, gewährleistet.81

IV. Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen 1. Rechtslage nach der Brüssel IIa-VO Die Brüssel IIa-VO regelt nicht ausdrücklich, ob einstweilige Maßnahmen nach den Bestimmungen der Verordnung in einem anderen Mitglied81 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO s. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 206 ff.

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staat anerkannt und vollstreckt werden können. Die in der Lehre umstrittene82 Frage, ob einstweilige Maßnahmen Entscheidungen i.S.d. Art. 2 Nr. 4 Brüssel IIa-VO qualifiziert werden können und daher in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden können, hat der EuGH in der Rs. C-256/0983 dahingehend entschieden, dass nur einstweilige Maßnahmen, die auf der Grundlage der Art. 20 Brüssel IIa-VO ergangen sind, von der Anerkennung und Vollstreckung ausgenommen sind. Aus der Entscheidung ergibt sich hinsichtlich der Anerkennung und Vollstreckung folgendes zweispuriges System: (1) Ordnet ein Gericht, das für die Hauptsache zuständig ist, eine einstweilige Maßnahme an, bestimmen sich die Anerkennung und Vollstreckung nach der Brüssel IIa-VO.84 (2) Erlässt ein Gericht, das nicht für die Hauptsache zuständig ist, eine einstweilige Maßnahme, ist diese Maßnahme von der Anerkennung und Vollstreckung nach den Bestimmungen der Brüssel IIa-VO ausgenommen. Die einstweilige Maßnahme kann allerdings nach innerstaatlichem Recht oder nach bi- bzw. multilateralen Übereinkommen anerkannt werden.85 Die Differenzierung führt dazu, dass bei der Anerkennung und Vollstreckung im Zweitstaat geprüft werden muss, ob das Gericht des Erststaats seine Zuständigkeit auf seine Hauptsachezuständigkeit oder auf Art. 20 Brüssel IIa-VO i.V.m. dem nationalen Recht (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen) gestützt hat.86 Führt das Gericht des Erststaats an, auf 82 Zum Meinungsstand Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 231 ff. 83 EuGH 15.7.2010, Rs. C-256/09, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI:EU:C:2010:437. 84 OLG München 12 UF 1821/14 IPRax 2010, 379 (Siehr 344); BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber); Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer, Internationales Zivilverfahrensrecht, Loseblattslg. 1. Lfg., 2001, Art. 12 EheGVVO (a.F.) Rz. 4; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., 2010, Art. 20 EuEheVO Rz. 13; Pirrung in Staudinger, BGB: EU-Verordnungen und Übereinkommen zum Schutz von Kindern, 2018, Art. 20 Brüssel IIa-VO Rz. C 113b. 85 OLG München 12 UF 1821/14 IPRax 2010, 379 (Siehr 344); Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht, 2. Aufl., 2017, Rz. 8.62. 86 EuGH 15.7.2010, Rs. C-256/09, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez, ECLI: EU:C:2010:437; BGH XII ZB 170/11 FamFR 2011, 288 (Heiß); BGH XII ZB 38/15 FamRZ 2016, 799 (Schulz) = NZFam 2016, 307 (Andrae). 86 BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber); BGH XII ZB 38/15 FamRZ 2016, 799 (Schulz) = NZFam 2016, 307 (Andrae); Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/ 2003 Rz. 43; krit. dazu Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 254 ff.

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welche Zuständigkeitsbestimmung es sich gestützt hat, ist das Gericht an die Angabe der Zuständigkeitsnorm gebunden; eine Nachprüfung ist ihm nach Art. 24 Brüssel IIa-VO untersagt. Ist zweifelhaft, worauf sich das Gericht des Erststaats bei Erlassung der einstweiligen Maßnahme gestützt hat, ist der Zweitstaat nicht gehindert, die in der Entscheidung des Ursprungsstaats enthaltenen Ausführungen zu prüfen, auf welchen Zuständigkeitstatbestand sich das Gericht stützen wollte. Art. 24 Brüssel IIa-VO steht dem nicht entgegen, weil es sich hierbei um keine Nachprüfung der Zuständigkeit handelt, sondern es soll lediglich die für die Anerkennung und Vollstreckung maßgebliche Grundlage ermittelt werden.87 Lässt sich die Zuständigkeit nicht feststellen, ist im Zweifel davon auszugehen, dass das Gericht seine Zuständigkeit nicht auf seine Hauptsachezuständigkeit gestützt hat.88 Der Zweitstaat ist keinesfalls verpflichtet, bei dem Gericht des Erststaats nachzufragen, auf welcher Grundlage die Maßnahme erlassen worden ist.89 In diesem Fall hat das Gericht zu prüfen, ob die Voraussetzungen nach Art. 20 Brüssel IIa-VO vorliegen.90 Nur in diesem Fall ist eine Anerkennung nach nationalem Recht (einschließlich bi- und multilateraler Übereinkommen) zulässig. Sind auch die Voraussetzungen nach Art. 20 Brüssel IIa-VO nicht gegeben, ist die Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahme keinesfalls möglich.91 Damit im Zweitstaat im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahme die Grundlage der Zuständigkeit ermittelt werden kann, ist es in der Praxis ratsam, dass das Gericht des Erststaats ausdrücklich den Zuständigkeitstatbestand nennt.92 Dadurch werden Auslegungsschwierigkeiten vermieden und Schwierigkeiten bei der Anerkennung und Vollstreckung der Maßnahme verhindert. Hat das für die Hauptsache zuständige Gericht eine einstweilige Maßnahme erlassen und ist daher eine grundsätzliche Anerkennung und Voll87 BGH XII ZB 170/11 FamFR 2011, 288 (Heiß) = FamRZ 2011, 959 = NJW-RR 2011, 865; OLG München 12 UF 1821/14 BeckRS. 2015, 2636; Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/2003 Rz. 47. 88 BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber). 89 BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber); Dilger in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Loseblattslg. 57. Lfg., 2019, 545 Art. 20 VO Nr. 2201/2003 Rz. 48. 90 BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber). Dazu krit. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 254 ff. 91 BGH XII ZB 182/08 BGHZ 188, 270 = FamFR 2011, 139 (Heiß) = FamRZ 2011, 542 (Helms) = LMK 2011, 317719 (Gruber). 92 In diese Richtung auch Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, F Rz. 340 sowie F Rz. 343.

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streckung der einstweiligen Maßnahme nach den Bestimmungen der Verordnung möglich, ist die Rechtsprechung des EuGH93 zu Art. 24 EuGVÜ zu beachten, wonach nur Entscheidungen, deren Erlassung ein kontradiktorisches Verfahren vorausgegangen ist oder hätte vorausgehen können, nach den Bestimmungen des Übereinkommens anerkannt und vollstreckt werden können.94 2. Rechtslage nach der Brüssel IIb-VO a) Allgemeines In Art. 2 I Unterabs. 2 lit. b Brüssel IIb-VO wird ausdrücklich angeordnet, dass einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen, die von einem Gericht, das nach dieser Verordnung in der Hauptsache zuständig ist, in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden können. Einstweilige Maßnahmen, die auf der Grundlage des Art. 15 Brüssel IIb-VO angeordnet werden, sind demgegenüber von der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung ausgenommen. Lediglich Maßnahmen, die in Fällen internationaler Kindesentführung getroffen werden und die darauf abzielen, das Kind vor einer schwerwiegenden Gefahr i.S.d. Art. 13 I lit. b des Haager Übereinkommens von 198095 zu schützen, können auch dann anerkannt werden, wenn sie nicht von dem Hauptsachegericht erlassen worden sind, sondern gem. Art. 27 V i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO angeordnet werden. b) Anerkennung und Vollstreckung von einstweiligen Maßnahmen des Hauptsachegerichts und einstweiligen Maßnahmen nach Art. 27 V i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO Wird die einstweilige Maßnahme vom Hauptsachegericht angeordnet oder beruht sie auf Art. 27 V i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO, ist die Anerkennung und Vollstreckung der Maßnahme in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich zulässig. Die Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen setzt voraus, dass der Antragsgegner gehört worden ist. Einstweilige Maßnahmen, die ohne Anhörung des Antragsgegners angeordnet wurden, sind von der Anerkennung und Vollstreckung ausgenommen, es sei 93 EuGH 21.5.1980, Rs. 125/79, Denilauler/Couchet, ECLI:EU:C:1980:130. Dazu ausführlich Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 238 ff.; krit. hierzu Neumayr in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer, Internationales Zivilverfahrensrecht, Loseblattslg. 1. Lfg., 2001, Art. 12 EheGVVO (a.F.) Rz. 3. 94 Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Aufl., 2018, A Rz. 220; Weller in Althammer, Brüssel IIa/Rom III, 2014, Art. 21 Brüssel IIa-VO Rz. 9. Dazu krit. Garber, Einstweiliger Rechtsschutz im Anwendungsbereich der EuGVVO, 2011, 238 ff. A.A. wohl AG Stuttgart 20 F 835/08 BeckRS. 2009, 18555. 95 S. FN. 25.

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denn, die die Maßnahme enthaltende Entscheidung wird dem Antragsgegner vor der Vollstreckung zugestellt. Durch diese Einschränkung kann der für den Erfolg der Maßnahme erforderliche Überraschungseffekt konterkariert werden. Um den Überraschungseffekt zu wahren, muss die einstweilige Maßnahme daher in dem Staat, in dem sie vollzogen werden soll, beantragt werden. Dies ist wiederum in jenen Fällen, in denen sich das Verfügungsobjekt in mehreren Staaten befindet, unbefriedigend, weil der Gegner der gefährdeten Partei durch den Vollzug der ersten einstweiligen Maßnahme „gewarnt“ wird und wohl mit weiteren Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes rechnen wird und Maßnahmen zur Vereitelung des Erfolgs treffen kann.96 Nach ErwGr 59 zur Brüssel IIb-VO können exparte-Maßnahmen allerdings nach Maßgabe des nationalen Rechts (einschließlich bi- und multilateraler Abkommen) anerkannt werden. Gem. Art. 35 II Brüssel IIb-VO ist im Zweitstaat „eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt“, die entsprechende Bescheinigung nach Art. 36 Brüssel IIb-VO, in der bescheinigt wird, dass die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist und dass das Ursprungsgericht in der Hauptsache zuständig ist, oder die Maßnahme gem. Art. 27 V Brüssel IIb-VO i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO angeordnet hat, und wenn die Maßnahme ohne Vorladung des Antragsgegners angeordnet wurde, den Nachweis der Zustellung der Entscheidung vorzulegen. Die Angabe des Zuständigkeitstatbestands ist für den Zweitstaat bindend und darf nicht überprüft werden. Durch die Bescheinigung wird die in der Regel aufwändige Prüfung des Zuständigkeitstatbestands, den die Gerichte des Erststaats angenommen haben, vermieden. c) Anerkennung und Vollstreckung anderer einstweiliger Maßnahmen Einstweilige Maßnahmen, die von einem nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Gericht angeordnet werden, können nicht in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden, und zwar unabhängig davon, ob dem Gegner der gefährdeten Partei rechtliches Gehör gewährt worden ist oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich für die nach Art. 27 V i.V.m. Art. 15 Brüssel IIb-VO angeordneten Maßnahmen. d) Würdigung Es erscheint sinnvoll, dass einstweilige Maßnahmen nicht grundsätzlich von der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung ausgenommen sind. Die Einschränkung, dass nur jene einstweiligen Maßnahmen, die vom Hauptsachegericht erlassen worden sind, in einem anderen Staat Wirkungen 96 Zur vergleichbaren Rechtslage nach der Brüssel I-VO bzw. Brüssel Ia-VO s. Garber, ecolex 2013, 1071 (1074).

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entfalten können, überzeugt allerdings nicht. Zum einen wird durch die eigenständige zuständigkeitsbegründende Wirkung des Art. 15 Brüssel IIbVO sichergestellt, dass nur Mitgliedstaaten, die für die Entscheidung sachnah erscheinen und deren Zuständigkeit nicht auf einem exorbitanten Gerichtsstand beruhen, einstweilige Maßnahmen anordnen, sodass eine territoriale Beschränkung nicht erforderlich ist; zum anderen kann die Einschränkung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Rechtsposition der gefährdeten Partei führen. Wenngleich Art. 15 Brüssel IIb-VO ermöglicht, dass eine einstweilige Maßnahme in dem Staat erlassen werden kann, in dem sie auch vollzogen werden soll, kann trotz des durch Art. 15 Brüssel IIb-VO entstehenden Gleichlaufs zwischen Bewilligungs- und Vollzugszuständigkeit die Vollstreckung in einem anderen Staat erforderlich werden, etwa in jenen Fällen, in denen der Gegner der gefährdeten Partei das Maßnahmenobjekt nach Erlassung der einstweiligen Maßnahme in einen anderen Mitgliedstaat bringt. Da die Erstreckung der Wirkungen der erlassenen Maßnahme auf einen anderen Mitgliedstaat grundsätzlich ausgeschlossen ist, kann sich auch die zweite, nach Durchführung eines neuen Verfahrens, erlassene Maßnahme im Ergebnis wieder als wirkungslos erweisen, wenn das Verfügungsobjekt dem Zugriff des Klägers neuerlich entzogen wird. Der Anreiz, das Verfügungsobjekt ins Ausland zu verlagern, ist ohne die Möglichkeit, dass eine bereits erlassene Maßnahme in anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden kann, größer, weil dadurch der Vollzug der Maßnahme verhindert werden kann.97 Es wäre daher sinnvoll gewesen, die im Kommissionsentwurf vorgesehene Regelung, wonach alle98 einstweiligen Maßnahmen anzuerkennen und zu vollstrecken sind, in die Brüssel IIb-VO zu übernehmen.99 Fraglich ist, ob auch jene Maßnahmen, die von einem nach Art. 15 Brüssel IIb-VO zuständigen Gericht erlassen werden, nach dem autonomen Recht der Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden können. Aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts folgt, dass die autonomen Bestimmungen der Mitgliedstaaten auch in dem Fall verdrängt werden, in denen die Anerkennung und Vollstreckung nicht nach der Brüssel IIb-VO, sondern nur nach nationalem Recht zulässig ist. Allerdings lässt ErwGr 30, wonach die auf Art. 15 Brüssel IIb-VO beruhenden Maßnahmen in keinem anderen Mitgliedstaat „gemäß dieser Verordnung“ anerkannt und vollstreckt werden, auch den gegenteiligen Schluss zu, sodass die Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahme nach nationalem Recht zulässig 97

Garber, ecolex 2013, 1071 (1073 f.). Allerdings sind einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen, die ohne Ladung des Antragsgegners angeordnet wurden, nach Art. 48 des Entwurfs von der Anerkennung und Vollstreckung nach den Bestimmungen der Verordnung ausgenommen. 99 KOM(2016)411 endg.; s. dazu auch Garber in König/Mayr, Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich, Bd. V, 2017, 109 (130). 98

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ist.100 Dadurch entsteht eine Parallele zu ex-parte-Maßnahmen, die vom Hauptsachegericht bzw. von dem nach Art. 27 i.V.m. Art. 15 Brüssel IIbVO zuständigen Gericht erlassen worden sind: Ist eine Anerkennung und Vollstreckung nach der Verordnung nicht möglich, kann sie nach nationalem Recht erfolgen. Im Ergebnis wird für den Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes das Günstigkeitsprinzip101 eingeführt.

V. Resümee Die Brüssel IIb-VO etabliert mit Art. 15 ein gänzlich neues System des einstweiligen Rechtsschutzes. Im Unterschied zur Brüssel IIa-VO und anderen Verordnungen zum Europäischen Zivilverfahrensrecht wird auch im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes auf einen Rückgriff auf das nationale Zuständigkeitssystem verzichtet und die internationale Zuständigkeit für die Erlassung einstweiliger Maßnahmen unionsrechtlich autonom geregelt, wodurch eine erhebliche Verbesserung des Rechtsschutzes bewirkt wird. Zudem wird die Effektivität des einstweiligen Rechtsschutzes erhöht. Es ist zu hoffen, dass das neue System von anderen Verordnungen zum Europäischen Zivilverfahrensrecht übernommen wird. Die Brüssel IIb-VO regelt erstmals die Frage, ob und inwieweit die Rechtshängigkeitsregeln auch dann Anwendung finden, wenn in einem Mitgliedstaat ein Hauptsacheverfahren und in einem anderen Mitgliedstaat ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren anhängig ist bzw. wenn in mehreren Mitgliedstaaten einstweilige Rechtsschutzverfahren eingeleitet werden. Die ausdrückliche Regelung führt zu einer erheblichen Rechtssicherheit. Hinsichtlich der Anerkennung und Vollstreckung einstweiliger Maßnahmen sind die Regelungen der Verordnungen allerdings zu wenig weitreichend. Es wäre sinnvoll gewesen, die Anerkennung und Vollstreckung aller einstweiligen Maßnahmen nach den Bestimmungen der Verordnung zu ermöglichen. In einem europäischen Rechtsraum muss die Anerkennung und Vollstreckung nach einheitlichen Maßstäben erfolgen. Die Entwicklungen scheinen in diesem Bereich – insbesondere im Hinblick auf den Kommissionsentwurf, wonach einstweilige Maßnahmen von der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung erfasst sind – noch nicht abgeschlossen zu sein. neue rechte Seite! 100

S. zur Brüssel IIa-VO auch EuGH 15.7.2010, Rs. C-256/09, Bianca Purrucker/ Guillermo Vallés Pérez, ECLI:EU:C:2010:437. 101 S. dazu etwa Garber in Angst/Oberhammer, Kommentar zur EO, 3. Aufl., 2015, Vor § 79 Rz. 34.

Schadensersatz bei Verletzung von Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen 197 Schadensersatz bei Verletzung von Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen Martin Gebauer

Schadensersatz bei Verletzung von Schiedsund Gerichtsstandsvereinbarungen MARTIN GEBAUER

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eckpunkte der BGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung der schadensersatzbewehrten Verpflichtung . . 2. Anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeit für die Schadensersatzklage . . . . . . . . . . . . . 4. Relevante Schadensposten und Verantwortlichkeit . . . . . . . 5. Dogmengeschichtliche Tradition der BGH-Rechtsprechung . III. Offene Fragen beim Bruch von Gerichtsstandsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen im materiellen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationale Zuständigkeit zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlussfolgerungen und parallele Erwägungen für die Verletzung von Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Anerkennung der schadensersatzbewehrten Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeit für die Schadensersatzklage . . . . . . . . . . . . . 4. Verfahrensrechtliche Grenzen eines Schadensersatzanspruchs bei abredewidriger Klage in einem mitgliedstaatlichen forum derogatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Keine verfahrensrechtlichen Grenzen eines Schadensersatzanspruchs bei abredewidriger Klage in einem drittstaatlichen forum derogatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grenzen im materiellen Recht und Maßstab der Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Relevante Schadensposten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Seit einer aufsehenerregenden Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2019 ist für das deutsche materielle Recht höchstrichterlich geklärt, dass die Verletzung einer Gerichtsstandsvereinbarung zum Ersatz des aus abredewidriger Klage entstehenden Schadens verpflichten kann.1 Vor allem bei Klagen vor drittstaatlichen Gerichten spielt diese materiellrechtliche Flankierung des derogativen Effekts von Prozessverträgen eine entscheidende Rolle.2 Das gilt etwa dann, wenn die „American rule“ der Prozesskostenverteilung dazu führt, dass die von dem Vertragsbruch betroffene Seite trotz einer Unzuständigkeitsentscheidung des derogierten Gerichts erhebliche Kosten des ausländischen Verfahrens zunächst selbst zu tragen hat,3 wie es auch in dem der BGH-Entscheidung zu Grunde liegenden Fall tatsächlich war. Die im Ergebnis begrüßenswerte und inhaltlich sorgfältig begründete Entscheidung des dritten Zivilsenats führt in das deutsche Verfahrensrecht eine materiellrechtliche Komponente ein, die in der Welt des Common Law schon fast selbstverständlich geworden ist.4 Gleichzeitig fördert sie gerade auch in deutsch-amerikanischen Streitigkeiten die Waffengleichheit zwischen den Parteien, indem sie das Druckpotenzial vermindert, das von einer (angedrohten) Prozessführung gerade vor US-amerikanischen Gerichten ausgehen kann.5 Die neue Rechtsprechungslinie des BGH wirft aber auch eine Reihe von Folgefragen auf. Diese Fragen betreffen das Verfahrensrecht wie das materielle Kollisions- und Sachrecht. Sie betreffen auch nicht nur Gerichtsstands-, sondern gleichermaßen Schiedsvereinbarungen. Denn die wesentlichen Argumente für die materiellrechtliche Flankierung von Prozessverträgen, die sich der BGH zu eigen macht, lassen sich jedenfalls zum Teil auch auf den derogativen Effekt und die Verpflichtungswirkung von Schiedsvereinbarungen übertragen. 1 BGH, 17.10.2019, III ZR 42/19, NJW 2020, 399. In ersten Anmerkungen sprach Thomas Pfeiffer von einem „Wendepunkt bei der Behandlung von Gerichtsstandsvereinbarungen“ und Peter Mankowski von einer „Sensation“: Pfeiffer, LMK 2019, 422740; Mankowski, RIW 2020, 70. 2 Pfeiffer, LMK 2019, 422740. 3 Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland, 5. Auflage 2016, Rn. 217. 4 Zum deutlichen Unterschied zwischen Common Law und Civil Law in dieser Frage siehe Takahashi, Damages for Breach of a Choice-of-Court Agreement, Yearbook of Private International Law, Volume 10 (2008), 57 (88 ff.); Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 273, 275 ff.; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 107 ff.; Mankowski, RIW 2020, 70. 5 Vgl. Mankowski, RIW 2020, 70 f.; Pfeiffer, LMK 2019, 422740; Wais, NJW 2020, 405.

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Die folgenden Zeilen sind Roderich Thümmel in dankbarer Erinnerung an die gemeinsamen Seminare seit vielen Jahren gewidmet. Dabei habe ich immer wieder geschätzt und bewundert, wofür auch der Titel dieser Festschrift steht: die dem Jubilar ganz eigene Verbindung zwischen Erfahrung, praktischem Gespür, Feinfühligkeit, Augenmaß und Freude am Durchdringen theoretischer Fragen zur Lösung konkreter Probleme, das alles gepaart mit einem echtem Interesse an Menschen. So kann es kaum überraschen, dass Roderich Thümmel nicht nur in seiner praktischen Tätigkeit und in der Wissenschaft, sondern auch in der akademischen Lehre die größte Wertschätzung genießt. Im Folgenden sollen zunächst die wesentlichen Grundlinien der Interpretation durch den dritten Senat skizziert werden (II.), um daran im Anschluss den noch offenen Folgefragen für die Verletzung von Gerichtsstandsvereinbarungen nachzugehen (III.). Vor diesem Hintergrund möchte ich sodann versuchen, einige Schlussfolgerungen für die Schadensersatzpflicht bei der Verletzung von Schiedsvereinbarungen zu ziehen (IV.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (V.).

II. Eckpunkte der BGH-Rechtsprechung 1. Anerkennung der schadensersatzbewehrten Verpflichtung Die Basis der Entscheidung des dritten Zivilsenats aus dem Jahre 2019 bildet gewiss die Anerkennung eines verpflichtenden Elements von Gerichtsstandsvereinbarungen.6 Denn dieses verpflichtende Element ist materiellrechtliche Voraussetzung für eine Pflichtverletzung nach § 280 BGB und damit für eine Schadensersatzpflicht bei Maßgeblichkeit deutschen Rechts.7 Dem verpflichtenden Element steht nach Ansicht des BGH die Rechtsnatur der Gerichtsstandsvereinbarung nicht entgegen, und zwar unabhängig davon – das stellt der Senat ausdrücklich klar, ob es sich dabei um einen materiellrechtlichen Vertrag über prozessrechtliche Beziehungen handelt (wie es der BGH selbst in ständiger Rechtsprechung annimmt), oder um einen reinen Prozessvertrag (mit daneben vereinbarten materiellrechtli6 Der erste amtliche Leitsatz der Entscheidung lautet: „Die Vereinbarung eines inländischen Gerichtsstands kann eine Verpflichtung begründen, Klagen nur an diesem Gerichtsstand zu erheben (Rn. 24 und 36).“ 7 Der zweite amtliche Leitsatz der Entscheidung lautet: „Verletzt eine Vertragspartei schuldhaft diese Verpflichtung durch die Klage vor einem US-amerikanischen Gericht, das die Klage wegen fehlender Zuständigkeit abweist und entsprechend US-amerikanischem Prozessrecht („American rule of costs“) eine Kostenerstattung nicht anordnet, ist sie gemäß § 280 Abs. 1 BGB verpflichtet, der anderen Partei die Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung zu ersetzen (Rn. 41–47).“

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chen Verpflichtungen).8 Das verpflichtende Element ist vor allem auch nicht nur dann anzunehmen, wenn sich die Parteien ausdrücklich darauf geeinigt haben.9 Vielmehr entnimmt der BGH einer Gerichtsstandsvereinbarung mit der Formulierung „Bonn shall be the place of jurisdiction“ erstens ihren ausschließlichen Charakter10 und zweitens den Inhalt, dass die Parteien „die gemäß § 280 Abs. 1 BGB sanktionierte schuldrechtliche Verpflichtung eingegangen sind, nicht an einem anderen Gerichtsstand als Bonn zu klagen.“11 Das wird ausführlich und vor allem mit dem Zweck der Vereinbarung begründet12 und läuft auf eine Zweifelsregel zu Gunsten des verpflichtenden Charakters hinaus.13 Das ist neu in der deutschen Rechtsprechung, und es entspricht auch nicht unbedingt der herrschenden Lehre in Deutschland,14 wie sie sich seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert herausgebildet hatte, als die verpflichtende Wirkung von Prozessverträgen immer mehr in Vergessenheit geriet (hierzu näher unter II.5.).15 Schließlich betont der BGH auch, dass es nicht auf die Existenz eines selbständig durchsetzbaren Hauptanspruchs auf Unterlassung ankomme; vielmehr seien auch Verstöße gegen unselbständige, nicht einklagbare Nebenpflichten gemäß § 280 Abs. 1 BGB schadensersatzbewehrt.16 Nicht zu verwechseln mit dieser erstmals im Jahre 2019 vom BGH anerkannten und schadensersatzbewehrten Verpflichtungswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen ist die Rechtsprechung des achten Zivilsenats, der seit 1972 die Auffassung vertrat,17 in einer Gerichtsstandsvereinbarung sei das „vertragliche Verbot“ zu finden, „die Aufrechnung mit einer von der Zuständigkeitsabrede betroffenen Gegenforderung vor einem anderen als dem vereinbarten Gericht geltend zu machen.“18 Abgesehen davon, dass 8

BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 26 f. BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 36. 10 Dabei wird Black’s Law Dictionary zur Interpretation des Wortes „shall“ in der englischen Sprache herangezogen, vgl. BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 38: „bezeichnet einen unbedingten Befehl“. 11 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 36; vgl. dort auch Rn. 22, 24, 33. 12 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 36 ff. 13 Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 275. 14 Umfassende Nachweise hierzu bei Mankowski, IPRax 2009, 23, 27, mit Fn. 59; Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 429 ff, 433 ff.; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 97 ff., 102 ff. 15 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 271 f. 16 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 29. 17 Zur Entwicklung dieser Zweifelsregel durch den achten Zivilsenat und zu der eigenartigen Kommunikation zwischen dem Senat und dem EuGH in dieser Frage vgl. Gebauer, IPRax 2018, 172, 173 f. 18 BGH, Urteil v. 20.12.1972 – VIII ZR 186/70, BGHZ 60, 85, 91. Der Leitsatz lautete damals: „Wer für die Streitigkeiten aus einem Vertrag mit einem ausländischen Partner des9

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sich diese, auch in der jüngeren Vergangenheit vom achten Zivilsenat noch behauptete Zweifelsregel19 nicht ohne weiteres unter dem Europäischen Zuständigkeitsrecht halten lässt,20 hatte sie doch niemals eine Schadensersatzbewehrung zur Folge gehabt, sondern allenfalls die (abzulehnende) prozessuale Konsequenz, dass das angerufene Gericht im Zweifel unzuständig war, über den Bestand der zur Aufrechnung gestellten Forderung zu entscheiden.21 Die schadensersatzbewehrte Verletzung von Gerichtsstandsvereinbarungen stellt in der deutschen Rechtsprechung also ein Novum bei den Prozessverträgen dar. 2. Anwendbares Recht Für den entschiedenen Fall gelangt der BGH zur Maßgeblichkeit deutschen Rechts. Die wirksame Rechtswahl der Parteien22 führe „dazu, dass deutsches Recht einheitlich sowohl als lex fori als auch als sogenanntes Prorogationsstatut und schließlich auch als Recht des Hauptvertrags anwendbar“ sei.23 Gerade bei kombinierten Rechtswahl- und Gerichtsstandsvereinbarungen liegt die Annahme eines intendierten Gleichlaufs zwischen forum und ius in der Tat nahe; dem typischen Willen der Parteien entspricht dann die Identität zwischen lex causae und lex fori prorogati.24 Der BGH brauchte sich nicht näher mit der Qualifikation des Schadensersatzanspruchs zu beschäftigen,25 denn alle Wege führten hier nach Bonn. Anwendung fand also deutsches Recht, sei es als lex fori, als lex causae oder als lex fori prorogati. sen Heimatgerichte als allein zuständig vereinbart hat, kann grundsätzlich auch nur vor diesen Gerichten die Aufrechnung mit einer Forderung aus dem Vertrag einwenden.“ Zu einer analogen und Schiedsvereinbarungen entnommenen Unterlassungspflicht im Hinblick auf die Aufrechnung mit einer Gegenforderung, über die das Schiedsgericht entscheiden sollte, in der Rechtsprechung des BGH seit 1962 vgl. auch Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 461. 19 Vgl. etwa BGH, 21.1.2015, IPRax 2018, 205, Rn. 18 ff. (Anmerkung Gebauer 172). 20 Gebauer, IPRax 2018, 172, 175 ff. 21 Entsprechend war in der deutschen Rechtsprechung auch das Aufrechnungsverbot, welches einer Schiedsvereinbarung entnommen wurde, lediglich „prozessual abgesichert“; vgl. hierzu Sachs/Peiffer, Schadensersatz wegen Klage vor dem staatlichen Gericht anstatt dem vereinbarten Schiedsgericht: Scharfe Waffe oder stumpfes Schwert im Arsenal schiedstreuer Parteien?, in FS Coester-Waltjen (2015), S. 713, 716. 22 Der Vertrag enthielt die kombinierte Klausel: „This Agreement shall be subject to the law of the Federal Republic of Germany. Bonn shall be the place of jurisdiction.” 23 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 21. 24 Mankowski, RIW 2020, 70, 71; Wais, NJW 2020, 405. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 387; Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 283; vgl. auch BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 37: „Interesse beider Parteien [...], Rechtsstreitigkeiten sowohl in materiell-rechtlicher als auch in prozessualer Hinsicht planbar zu machen.“ 25 Dazu etwa Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 282 f.; Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationa-

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3. Zuständigkeit für die Schadensersatzklage Recht knapp folgert der BGH die Zuständigkeit für den im Wege der Widerklage geltend gemachten Schadensersatzanspruch aus Art. 25 Brüssel IaVO, auch wenn die Vereinbarung lange vor dem Inkrafttreten der Verordnung getroffen worden war.26 Bei entsprechend weit gefasster Vereinbarung erscheint es in der Tat konsequent, die Schadensersatzklage als jedenfalls von der Prorogationskomponente erfasst anzusehen.27 Keine Veranlassung hatte der Senat zur Prüfung der Frage, ob es sich bei der Erstreckung der Zuständigkeit auf die Schadensersatzklage auch um eine ausschließliche Zuständigkeit handelt (dazu noch unter III.3.). 4. Relevante Schadensposten und Verantwortlichkeit Auch wenn der BGH betont, dass allein in der Erhebung einer Klage „grundsätzlich keine zum Schadensersatz verpflichtende Vertragsverletzung gesehen werden“ kann,28 schränkt er diesen Grundsatz insofern ein, als Risiken betroffen sind, „die der Kläger unabhängig von der etwaigen materiellrechtlichen Rechtswidrigkeit seiner Klageerhebung nach dem Prozessrecht stets zu tragen hat. Denn Risiken, die jeder Klageerhebung innewohnen, bewirken keine verfassungsrechtlich bedenkliche Einschränkung des Zugangs zu den staatlichen Gerichten.“29 Wer unter Verstoß gegen die Vereinbarung eines inländischen Gerichtsstandes ein ausländisches Gericht anrufe, müsse entsprechend nicht davor geschützt werden, die Kosten zu tragen, die er bei einem reinen Inlandssachverhalt auch unabhängig von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens im Fall des Unterliegens nach dem Prozessrecht zu tragen hätte.30 len Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 382; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 172 ff. 26 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 17. Zur intertemporalen Anwendbarkeit des Art. 25 Brüssel Ia-VO bei Klageerhebung nach dem Stichtag des Art. 66 Abs. 1 Brüssel IaVO siehe bereits BGH, 26.4.2018, NJW 2019, 76. 27 Vgl. Mankowski, RIW 2020, 70, 71; Peiffer, Schutz gegen Klagen im forum derogatum, 2013, S. 468; Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 365 ff. 28 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 44; zur Rechtfertigung der Inanspruchnahme eines gerichtlichen Verfahrens bei Geltendmachung nicht bestehender Ansprüche im autonomen deutschen Recht und zur Übertragung der Grundsätze auf die Prozesseinleitung und Prozesshandlungen im Ausland, vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, S. 472 ff., 475 ff.; vgl. auch A. Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 132 f. 29 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 45. 30 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 45. Zu den im Einzelnen in Betracht kommenden Schadensposten vgl. Kindler, Urteilsfreizügigkeit für derogationswidrige Judikate?, in FS Kronke (2020), S. 221, 229 f.

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Nicht gelten lässt der BGH auch den Vortrag, nach amerikanischem Rechtsverständnis sei es naheliegend und vertretbar gewesen, die Gerichtsstandsvereinbarung als nicht einschlägig zu erachten. Dem Einwand, dass die amerikanischen Anwälte der Widerbeklagten ein Vorgehen in den USA empfohlen hätten, begegnet das Gericht mit dem Hinweis, die Partei müsse sich ggf. das Verschulden ihrer Anwälte nach § 278 BGB zurechnen lassen.31 Ein anderes Normverständnis im forum derogatum dürfte allerdings spätestens dann im Rahmen einer Schadensersatzklage nicht mehr zu ignorieren sein, wenn sich das derogierte Gericht selbst für zuständig hielt (dazu unten III.2.). 5. Dogmengeschichtliche Tradition der BGH-Rechtsprechung In der historischen Perspektive ist die vom BGH postulierte Verpflichtungswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen keineswegs neu. Im Gemeinen Recht hatte sich immer mehr die Vorstellung durchgesetzt, dass die Bindung der Parteien auf ihrer Vereinbarung des Gerichtsstandes und weniger auf einer Unterwerfung beruhe.32 Die in der Vereinbarung versprochene Leistung sollte durchsetzbar sein,33 so dass die schadensersatzrechtliche Konsequenz im Falle der Nichterfüllung konsequent erschien und in einer Reihe von Stellungnahmen aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch ausdrücklich befürwortet wurde.34 Erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und vor allem im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich dann die Vorstellung einer auch bereits in der CPO von 1877 angelegten und heute so genannten Verfügungswirkung von Prozessverträgen durch.35 Sie ließ dann die vormals anerkannte Haftung auf das Interesse sicher auch wegen weitgehender Irrelevanz in den Hintergrund treten.36

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BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 54 f. Ausführlich zur fortschreitenden Anerkennung der Prorogation im gemeinen Recht: Adam, Die civilprozeßuale Zuständigkeits-Vereinbarung in geschichtlicher Entwicklung, 1888, S. 70 ff.; vgl. auch Endemann, Das Deutsche Civilproceßrecht, 1868, S. 235. 33 Planck, Lehrbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Erster Band, Allgemeiner Theil, 1887, S. 79. 34 Vgl. mit Nachweisen hierzu Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 270 f. 35 Dogmatisch grundlegend in Deutschland etwa Schiedermair, Vereinbarungen im Zivilprozeß, 1935, S. 40, 98 ff. Vgl. auch Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 769 ff. (770); G. Wagner, Prozessverträge, 1998, S. 557, aber siehe auch a.a.O. S. 256 f. 36 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 271 f. 32

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III. Offene Fragen beim Bruch von Gerichtsstandsvereinbarungen Einiges aus dem Fragenkomplex rund um die verpflichtende Wirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen konnte der BGH im Jahre 2019 offenlassen. Auch auf eine Vorlage an den EuGH verzichtete er mit der Begründung, dass die eigenen Erwägungen nach Überzeugung des Senats mit der nach der acte clair-Doktrin erforderlichen Gewissheit feststünden.37 Das erscheint nicht über jeden Zweifel erhaben, denn immerhin ging es um die Interpretation einer dem Europarecht unterliegenden Gerichtsstandsvereinbarung und dazu noch um eine Interpretation, die höchstrichterlich in Deutschland bislang nicht vertreten worden war und auch nicht unbedingt der in Deutschland bis dahin herrschenden Lehre entsprach. Aber der BGH betonte zwei Aspekte des Falles, die in der Tat für die Abschichtung zentral sind: Erstens handelte es sich bei dem entgegen der Gerichtsstandsvereinbarung angerufenen Gericht um ein drittstaatliches Gericht, und zweitens hatte sich dieses Gericht aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung selbst für unzuständig erklärt.38 Von einem acte clair wird man hier dennoch kaum sprechen können.39 Die künftige Rechtsentwicklung wird sich an verfahrens- und materiellrechtlichen Grenzen orientieren müssen, die einer Schadensersatzpflicht entgegenstehen können und jedenfalls zum Teil europäisch geprägt sind. Die folgenden Erwägungen gehen als Grundmodell von einer Konstellation aus, in der das prorogierte Gericht in Deutschland liegt, die Gerichtsstandsvereinbarung Art. 25 Brüssel Ia-VO unterfällt und auf eventuelle Schadensersatzansprüche deutsches Recht zur Anwendung gelangt.40 1. Verfahrensrechtliche Grenzen Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der EuGH Anstoß nehmen würde an schadensersatzrechtlichen Konsequenzen des Verstoßes gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung, die dem Europäischen Zuständigkeitsrecht unterliegt.41 Allerdings dürfte das hier im Hintergrund stehende und auch vom BGH benannte Gebot des gegenseitigen Vertrauens42 nur dann berührt sein, 37

BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 32. BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 30 f. 39 Dazu sogleich noch unter III.1.a) am Ende. 40 Zur kollisionsrechtlichen Einordnung dieser Ansprüche vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 282 f. 41 Vgl. auch Hess, JZ 2014, 538, 542: „Im Ergebnis scheidet damit ein Anspruch auf Schadensersatz aus, wenn die Gerichtsstandsklausel in den Anwendungsbereich der EuGVVO fällt.“ 42 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 30. 38

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wenn das derogierte Gericht, an dem der Gerichtsstandsvereinbarung zum Trotz Rechtsschutz gesucht wurde, im Europäischen Justizraum liegt. a) Bei Klage in einem mitgliedstaatlichem forum derogatum aa) Am problematischsten im Hinblick auf die Vereinbarkeit eines Schadensersatzanspruchs mit dem Unionsrecht ist die Konstellation, dass es sich bei dem derogierten Gericht, vor dem Klage erhoben wurde, um ein mitgliedstaatliches Gericht (bzw. um das Gericht in einem Vertragsstaat des LugÜ 2007) handelt und sich dieses Gericht darüber hinaus auch für zuständig gehalten und eine Sachentscheidung getroffen hat. Für diese Konstellation besteht im Schrifttum – auch international – weitgehend Einigkeit, dass Schadensersatzansprüche in allen anderen Mitgliedstaaten ausscheiden.43 Zwar ist die Schadensersatzverpflichtung materiellrechtlich zu qualifizieren, unterliegt einem nationalen Recht und entzieht sich insoweit auch dem Anwendungsbereich des Art. 25 Brüssel Ia-VO.44 Aber sie kann die Entscheidung des erststaatlichen Gerichts konterkarieren und muss sich deshalb an den gleichen verfahrensrechtlichen Vorgaben des Europarechts messen lassen wie ein Prozessführungsverbot.45 Allerdings sind diese Konstellationen zu einem guten Teil gebannt worden durch die Einführung des Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO.46 Wird nach dieser Norm das Gericht eines Mitgliedstaates angerufen, das gemäß einer Gerichtsstandsvereinbarung ausschließlich zuständig ist, so setzt das (derogierte) Gericht des anderen Mitgliedstaates mangels rügeloser Einlassung das Verfahren so lange aus, bis das auf der Grundlage der Vereinbarung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung nicht zuständig ist. Stellt das prorogierte Gericht hingegen seine Zuständigkeit fest, erklären sich gemäß Art. 31 Abs. 3 Brüssel Ia-VO die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten zugunsten dieses Gerichts für unzuständig. Die problematische Konstellation einer Sachentscheidung durch ein mitgliedstaatliches, derogiertes Gericht stellt sich also nur dann ein, wenn der Mechanismus des Art. 31 Abs. 2 und 3 Brüssel Ia-VO aus irgendeinem 43 Vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017 S. 628 ff., mit Fn. 78, die selbst allerdings auch in dieser Konstellation einer Ersatzfähigkeit zwar nicht des sog. materiellen, wohl aber des sog. prozessualen Schadens durchaus offen gegenübersteht, a.a.O. S. 628 ff., S 633 ff.; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 125 ff. 44 Vgl. Takahashi, Damages for Breach of a Choice-of-Court Agreement, Yearbook of Private International Law, Volume 10 (2008), 57 (67 f.); Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 282 f. 45 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 279. 46 Vgl. bereits (auf der Basis des damaligen Kommissionsvorschlags) Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 283 f.

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Grund nicht eingreift, beispielsweise bei (scheinbar) widersprüchlichen Gerichtsstandsvereinbarungen.47 bb) Wenn sich das derogierte mitgliedstaatliche Gericht aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung hingegen selbst für unzuständig erklärt hat (beispielsweise gemäß Art. 31 Abs. 3 Brüssel Ia-VO), geht mit einer späteren Schadensersatzklage wegen des ersten Verfahrens zwar kaum eine Beeinflussung des ersten Verfahrens einher. Es sind auch keine widersprechenden Entscheidungen zu befürchten, so dass die europäische Verfahrenskoordinierung auch keine Barriere für eine eventuelle Schadensersatzklage vor dem prorogierten Gericht für durch die Klage am derogierten Gericht entstandene Schäden bilden sollte.48 Aber erhaben über jeden Zweifel ist diese Konstellation nicht.49 Auch hier erschiene es denkbar, dass der EuGH aus dem Gebot des gegenseitigen Vertrauens und in Konsequenz seiner Rechtsprechung zur Verbannung von Prozessführungsverboten in Form von anti suit injunctions aus dem Europäischen Zivilprozessrecht50 eine Schadensersatzverpflichtung ausschließen würde, welche die Parteien von einer Klage am derogierten Forum abschreckt.51 In dieser Konstellation müsste auf jeden Fall eine Vorlage an den EuGH erfolgen.52 b) Bei Klage in einem drittstaatlichem forum derogatum Vergleichsweise unproblematisch ist die Konstellation, die der BGHEntscheidung aus dem Jahre 2019 zugrunde lag: Das drittstaatliche Gericht hatte sich wegen des Derogativeffektes der Gerichtsstandsvereinbarung selbst für unzuständig erklärt. Hier bestehen keine Bedenken, in einer später vor dem prorogierten Gericht angestrengten Klage Schadensersatz wegen der (auch außergerichtlichen) Prozesskosten zuzusprechen, die in Folge der Klage vor dem derogierten Gericht entstanden sind. 47

Vgl. Erwägungsgrund 22 der Brüssel Ia-VO. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 279 f. 49 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Konstellation vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 620 ff.; vgl. auch Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 123 ff. 50 Vgl. EuGH, 27.4.2004, Rs. C-159/02, EuZW 2004, 468 – Turner vs. Grovit. 51 Vgl. Mankowski, RIW 2020, 70, 71; Wais, NJW 2020, 405. 52 Auch in der vom BGH entschiedenen Konstellation handelte es sich kaum um einen acte clair, weil die Gerichtsstandsvereinbarung Art. 25 Brüssel Ia-VO unterfiel und es jedenfalls denkbar erscheint, dass der EuGH für das Europarecht kategorisch die Schadensersatzpflicht ausschließt mit der Begründung, dass der derogative Effekt einer solchen Vereinbarung mit einer materiellrechtlichen Flankierung durch Schadensersatzansprüche gleichermaßen bei Klagen in Drittstaaten und im Europäischen Justizraum relevant werden kann. Zur Kritik an der Annahme eines acte clair vgl. auch die Besprechung von Mankowski, RIW 2020, 70, 71. 48

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Prozessual unproblematisch ist auch der umgekehrte Fall, in dem sich das derogierte drittstaatliche Gericht für zuständig hielt und vielleicht sogar ein Sachurteil zum Nachteil der Partei erließ, die auf die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung vertraut hatte und in diesem Vertrauen enttäuscht wurde. Denn hier fehlt es wegen der aus inländischer Sicht wirksamen Gerichtsstandsvereinbarung an der Anerkennungszuständigkeit nach § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, so dass der fremden Entscheidung nach praktisch einhelliger Auffassung die Anerkennung im Inland versagt bleibt.53 Wegen fehlender Anerkennungsfähigkeit steht auch – selbst wenn man die Streitgegenstände für identisch hält – die fremde Rechtskraft an sich einer späteren Schadensersatzklage im Inland nicht entgegen.54 Und auch wenn das Verfahren am derogierten Forum noch im Gange ist, steht einer Schadensersatzklage am prorogierten Forum im Inland schon aufgrund negativer Anerkennungsprognose nicht der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit entgegen.55 Dennoch ist auch diese Konstellation problematisch – aus Gründen allerdings des materiellen Rechts. 2. Grenzen im materiellen Recht a) Das Prorogationsstatut als lex causae des Schadensersatzanspruchs Die entscheidende Frage in der letztgenannten Konstellation lautet, ob der lex fori derogati im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs überhaupt eine Bedeutung zukommt und wie diese Bedeutung ggf. dogmatisch zu verorten ist. Dafür kommen in Betracht die Pflichtverletzung, die Rechtswidrigkeit, das Vertretenmüssen und der ersatzfähige Schaden. Das sind Kategorien des deutschen Sachrechts, welches als unterstelltes Prorogationsstatut hier den normativen Rahmen bildet. Denn an der kollisionsrechtlichen Einordnung der Frage nach der schadensersatzbewehrten Verbindlichkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung und ihrer Anknüpfung an das Prorogationsstatut ändert sich zunächst nichts dadurch, dass der Derogativeffekt genau dieser Gerichtsstandsvereinbarung an anderem Ort auch anders beurteilt werden mag. Denkbar wäre zwar eine Sonderanknüpfung der Pflichtverletzung an die lex fori des Staates, in dem Klage erhoben wurde, also an die konkrete 53 Vgl. Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland, 5. Auflage 2016, Rn. 121; Wiecorek/ Schütze/Schütze, 4. Auflage 2015, § 328 ZPO, Rn. 34; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 255 f., mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 924. 54 Vgl. Schlosser, in: Liber amicorum Walter F. Lindacher, 2007, S. 111 (S. 123). 55 Vgl. Schütze, Die Berücksichtigung der Rechtshängigkeit eines ausländischen Verfahrens (erstmals publiziert in RabelsZ 31 (1967), 233), in: Schütze, Ausgewählte Probleme des internationalen Zivilprozessrechts, 2006, S. 124 ff. (S. 137 ff.).

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lex fori derogati.56 Dagegen spricht allerdings, dass die Unterlassungspflicht, um deren Verletzung es geht, in erster Linie geprägt ist durch die schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Parteien der Gerichtsstandsvereinbarung, erst in zweiter Linie durch eine eventuelle Zulässigkeit der Klage im Prozessrecht der lex fori derogati. Die lex causae des Schadensersatzanspruchs (unter Einschluss der Pflichtverletzung) bleibt also das Prorogationsstatut, im Beispiel deutsches Recht. Das bedeutet allerdings nicht, dass die lex fori derogati kategorisch auszublenden wäre. Als „Datum“ spielt sie im Rahmen der lex causae und damit der lex fori prorogati eine Rolle.57 Diese Überlagerung ist ungewöhnlich insofern, als sich die Maßgeblichkeit der lex fori derogati für die derogierenden und der lex fori prorogati für die prorogierenden Wirkungen58 normalerweise, nämlich bei der Zuständigkeitsprüfung,59 nur jeweils eben auf die lex fori bezieht, nicht hingegen auf fremdes Recht.60 b) Berücksichtigung der lex fori derogati im Rahmen des Sachrechts Die Berücksichtigungsfähigkeit der lex fori derogati ist weniger eine Frage der comitas oder der Rechtspolitik, als vielmehr eine rechtsdogmatische Frage nach dem Inhalt des geltenden deutschen Rechts, des Privatrechts unter Einschluss des Verfassungsrechts.61 Wenn der BGH in seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 2019 hervorhob, dass „allein in der Erhebung einer Klage oder in der sonstigen Inanspruchnahme eines staatlichen, gesetzlich geregelten Rechtspflegeverfahrens zur Durchsetzung vermeintlicher Rechte grundsätzlich keine zum Schadensersatz verpflichtende Vertragsver56 Vgl. Stacher, Die Rechtsnatur der Schiedsvereinbarung, 2007, S. 121 ff.; in Betracht gezogen auch von A. Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 129. 57 Vgl. differenzierend auch A. Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 130 f. Dogmatisch muss dies nicht notwendig mit der Datumtheorie begründet werden. Die Berücksichtigung statutfremder Normen ist kollisionsrechtlicher Alltag. Die Datumtheorie kann aber zur Transparenz der Berücksichtigung statufrender Normen beitragen. Vgl. hierzu monographisch Harms, Neuauflage der Datumtheorie im Internationalen Privatrecht, 2019. 58 Vgl. bereits Nussbaum, Deutsches Internationales Privatrecht (1932), S. 402 f.: „[...] ist Sachstatut für die prorogierenden Wirkungen die lex fori prorogati, für die derogierenden Wirkungen die lex fori derogati.“ 59 Nussbaum, Deutsches Internationales Privatrecht (1932), S. 402 f.: „Jedes beteiligte Gericht hat die Gültigkeit und die Folgen der Vereinbarung nach seinem eigenen Recht zu prüfen, ohne Rücksicht auf die Vorschriften des anderen Rechts. So insbesondere, wenn die Nichtigkeit einer Vereinbarung geltend gemacht wird, durch welche die Gerichtsbarkeit des angerufenen Gerichts ausgeschlossen wird.“ 60 Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 280 f. 61 Zum Verhältnis von comitas, Rechtspolitik und Rechtsdogmatik, mit im Ergebnis etwas anderer Einordnung, vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017, S. 481, 496 ff., 523 ff.

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letzung gesehen werden [kann], weil [...] andernfalls der freie Zugang zu staatlichen Rechtspflegeverfahren in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise eingeschränkt würde“,62 dann lässt sich das kaum nur auf ein inländisches Verfahren beschränken.63 Ganz offensichtlich bezog der BGH seine Aussage hier auch auf ein US-amerikanisches Verfahren. c) Maßstab der Pflichtverletzung Für die dogmatische Verankerung dieser Erwägungen bietet sich im deutschen Recht die Auslegung der verpflichtenden Wirkung der Gerichtsstandsvereinbarung an und damit bereits die Ebene der Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB.64 Wenn einer Gerichtsstandsvereinbarung im Zweifel nach dem Willen der Parteien eine schadensbewehrte Verpflichtung entnommen werden kann, dann wollen sich die Parteien in der Regel an eine auch prozessual wirksame Gerichtsstandsvereinbarung binden lassen. Soweit die Gerichtsstandsvereinbarung hingegen als unwirksam anzusehen ist, relativiert dies auch den Bindungswillen der Parteien. Vor allem bei unselbständigen, nicht einklagbaren aber eventuell schadensersatzbewehrten Schutzpflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB, wie sie der BGH für die konkludente Verpflichtungswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen in Betracht zieht,65 bietet sich diese Relativierung der verpflichtenden Wirkungen der Vereinbarung nach Maßgabe der Wirksamkeit am jeweils derogierten Forum an. Etwas anderes mag gelten, wenn sich die Parteien ausdrücklich auf eine Unterlassungspflicht verständigt haben, die erkennen lässt, dass die Klage an jedem anderen als dem prorogierten Forum schadensersatzbewehrt sein soll. Der Vereinbarung muss sich dann aber der Inhalt entnehmen lassen, dass nicht nur eine unzulässige, sondern auch eine zulässige Klage in einem anderen als dem prorogierten Forum zu unterlassen ist. Ob die Vereinbarung nach einer lex fori derogati als wirksam oder unwirksam zu beurteilen ist, lässt sich ex ante oft nur schwer prognostizieren, das gilt vor allem für Rechtsordnungen, in denen richterlichem Ermessen eine große Bedeutung zukommt. Hat sich das drittstaatliche Gericht aber für zuständig erklärt – und dies entspricht der hier relevanten Konstellation 62

BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 44. Vgl. auch Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017 S. 475 f., die es dann allerdings ablehnt, das fremde Zuständigkeitsrecht oder die fremde Entscheidung (aus ihrer Sicht im Rahmen der Rechtswidrigkeit) zu berücksichtigen, a.a.O. S. 476 ff, 481. 64 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 280 f.; vgl. auch für Schiedsvereinbarungen und Gerichtsstandsvereinbarungen hier überzeugend zu unterschiedlichen Ergebnissen kommend: A. Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 129 ff. Als eine Frage des Schadens dagegen eingestuft von Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 252 ff., 256. 65 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 29. 63

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der Schadensersatzklage, dann muss aus inländischer Sicht eine (nur schwer widerlegbare) Vermutung dafür gelten, dass es dies in Konformität mit der lex fori derogati getan hat.66 d) Kosten einer unilateralen Bewertung im materiellen Recht Divergieren die Maßstäbe der Beurteilung einer Gerichtsstandsvereinbarung von Ort zu Ort, so führt diese Relativität der rechtlichen Beurteilung mangels Rechtseinheit auf prozessualer Ebene notwendig zur Maßgeblichkeit der jeweiligen lex fori, sei es als lex fori prorogati, sei es als lex fori derogati. Diese Relativität des Rechts wollte Jochen Schröder auch auf die materiellrechtliche Ebene ausdehnen mit der Konsequenz, dass die jeweils eigenen Maßstäbe der lex fori prorogati auch universelle Geltung beanspruchten und auf abweichende Rechtsvorstellungen deshalb keine Rücksicht genommen werden könne.67 In der Konsequenz könnte dies zu einer schadensersatzrechtlichen Rückabwicklung ausländischer Prozesse im Sinne eines claw back führen, soweit das ausländische Gericht nur aus inländischer Sicht derogiert war und dem Schadensersatzkläger der Nachweis einer entsprechenden Differenz bei hypothetischer Klage am forum prorogatum gelingt.68 Abgesehen von allen verfassungsrechtlichen Bedenken wäre der von den Parteien zu bezahlende Preis dafür freilich hoch, wenn die „schmerzhafteste Waffe zur Durchsetzung materiellen Rechts“ zum Einsatz gelangte, ohne dass die materiellrechtlichen Voraussetzungen hierfür mindestens so hoch anzusetzen wären wie diejenigen der ordre public-Zuständigkeit.69 Sinnvoller erscheint es, in diesen Konstellationen den typischen Parteiwillen beider Seiten im Blick zu behalten und es bei dem „vergleichsweise milderen Eingriffen“70 der Nicht66 Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 280 f. 67 Jochen Schröder, The Right not to be Sued Abroad, in: FS Kegel, 1987, S. 523 (S. 534): „Infolge der Nationalität aller Kollisionsnormen des internationalen Privatrechts waltet hier unvermeidlich die schon von Pascal apostrophierte Relativität jeder rechtlichen Beurteilung: Im (wirksam) prorogierten Forum kann auf die abweichenden Rechtsvorstellungen der (unwirksam) derogierten Justiz keine Rücksicht genommen werden. Der Anspruch, nicht im Ausland verklagt zu werden, ist demnach begründet, wenn er im gewählten Gerichtsstand nach Maßgabe der lex fori prorogati besteht.“ 68 Vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017 S. 526–529; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 256, mit weiteren Nachweisen (im Ergebnis ablehnend). 69 Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 769. 70 Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, S. 769: „Stellt man das „right not to be sued abroad“ mit anderen Formen der materiellrechtlichen Indienstnahme des internationalen Zivilprozeßrechts (Nichtanerkennung nach § 328 I Nr. 4 ZPO, forum legis, ordre public-Zuständigkeit) in eine Reihe, so erscheinen letztere

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anerkennung zu belassen sowie bei der mangels Anerkennungsfähigkeit bestehenden Möglichkeit, eine parallele Klage im Inland zu erheben.71 Im Hinblick auf die fehlende Anerkennungsfähigkeit (dazu oben III.1.b)) ist zu beachten, dass es für die Anerkennungszuständigkeit nicht darauf ankommt, ob auch aus erststaatlicher Sicht eine Derogation der erststaatlichen Gerichte vorlag, sondern nur darauf, ob sie aus der Sicht des Anerkennungsstaates derogiert waren.72 3. Internationale Zuständigkeit zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Es liegt nahe, die Zuständigkeit für die Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung am forum prorogatum zu lokalisieren. Das wird fast einhellig in der deutschen und ausländischen Literatur so gesehen,73 und auch der BGH schloss sich dieser Auffassung an.74 Problematisch kann hier nur sein, ob diese Zuständigkeit eine ausschließliche ist.75 Eine Widerklagezuständigkeit am forum derogatum, soweit sie nach dortigem Recht für die Schadensersatzklage offen steht, wird man kaum ausschließen wollen.76 Dogmatisch lässt sich dies bewältigen, indem man insofern entweder die Ausschließlichkeit aufbricht,77 oder zwar von einer Ausschließlichkeit ausgeht, jedoch eine antizipierte rügelose Einlassung auf ein – widerklagehalber – eingeleitetes Verfahren am forum derogatum annimmt.78

als vergleichsweise mildere Eingriffe in den spezifisch prozessualen Gerechtigkeitsghehalt der Zuständigkeitsvorschriften.“ 71 Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 281 f. 72 Vgl. Wiecorek/Schütze/Schütze, 4. Auflage 2015, § 328 ZPO, Rn. 34. 73 Vgl. Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017 S. 367 ff.; Peiffer, Schutz gegen Klagen im forum derogatum, 2013, S. 468; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 179; Mankowski, IPRax 2009, 23, 34; Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 282 f., jeweils mit weiteren Nachweisen. 74 BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 17. 75 Vgl. hierzu bereits Takahashi, Yearbook of Private International Law, Volume 11 (2009), 73 (91 ff.). 76 Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 283; Mankowski, RIW 2020, 70, 71. 77 Mankowski, RIW 2020, 70, 71. 78 So Antomo, Schadensersatz wegen der Verletzung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung?, 2017 S. 367 f.

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IV. Schlussfolgerungen und parallele Erwägungen für die Verletzung von Schiedsvereinbarungen In der deutschen Rechtsprechung wurde ein Schutz vor Verletzung von Schiedsvereinbarungen bislang lediglich prozessual sichergestellt, ohne die Schiedseinrede durch eine schadensersatzbewehrte Verpflichtungswirkung der Schiedsvereinbarung zu flankieren,79 wie sie der BGH seit dem Jahr 2019 bei Gerichtsstandsvereinbarungen vorsieht. Das wirft die Frage auf, ob und ggf. wie weit sich die für Gerichtsstandsvereinbarungen angestellten Erwägungen zur Verpflichtungswirkung, zu ihrer Schadensersatzbewehrung sowie zu den Grenzen solcher Schadensersatzansprüche auch auf Schiedsvereinbarungen übertragen lassen. Dabei ist wiederum als paralleles Grundmodell zu unterstellen, dass der Schiedsort in Deutschland liegt, der Hauptvertrag deutschem Recht unterliegt und auf eventuelle Schadensersatzansprüche deutsches Recht zur Anwendung gelangt. 1. Grundsätzliche Anerkennung der schadensersatzbewehrten Verpflichtung Mögliche Schadensersatzverpflichtungen wegen der Verletzung von Schiedsvereinbarungen wurden in jüngerer Zeit mehrfach monographisch behandelt.80 Es liegt nahe, dass nach dem Umschwung in der Rechtsprechung des BGH für die Anerkennung einer schadensersatzbewehrten Verpflichtung im Grunde das Gleiche zu gelten hat wie für Gerichtsstandsvereinbarungen.81 Eher noch weniger als Gerichtsstandsvereinbarungen sind Schiedsvereinbarungen als bloße Kompetenzzuweisungen anzusehen,82 so dass kaum nachzuvollziehen wäre, wenn man Gerichtsstandsvereinbarungen ein verpflichtendes Element zusprechen, Schiedsvereinbarungen aber absprechen würde. Bei den Argumenten für die Schadensersatzbewehrung der aus dem Prozessvertrag folgenden Unterlassungspflicht lässt sich kaum ein Unterschied ausmachen, so dass die Rechtsprechung des BGH insoweit übertragbar erscheint. Auch das Bedürfnis für eine materiellrechtliche Flankierung der Schiedseinrede ist mindestens ebenso groß wie bei Gerichtsstandsvereinbarungen. Das Bedürfnis scheint im Vergleich zu diesen in den vergangenen Jahren so79

Vgl. Sachs/Peiffer, FS Coester-Waltjen (2015), S. 713, 716. Vgl. Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, insb. S. 111 ff., 157 ff.; Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, insb. S. 118 ff. (zum englischen und US-amerikanischen Recht) und S. 151 ff. (zum deutschen Recht); A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, insb. S. 125 ff. 81 Wieczorek/Schütze-Schütze, 5. Auflage 2020, § 1029 ZPO, Rn. 112a; Mankowski, RIW 2020, 70, 72. 82 Stein/Jonas-Schlosser, 23. Auflage 2014, § 1029 ZPO, Rn. 59. 80

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gar noch gewachsen zu sein, weil bei Schiedsvereinbarungen kein Mechanismus wie Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO zur Verfügung steht,83 der seit 2015 zur Vermeidung von Torpedoklagen im Europäischen Justizraum das zeitliche Prioritätsprinzip bei der Verfahrenskoordinierung durchbricht. Das führt dazu, dass das prorogierte Gericht trotz früherer, abredewidriger Klage an anderem Ort sofort mit dem eigenen Verfahren beginnen kann und dass das derogierte Gericht (soweit es an Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO gebunden ist) bei Klageerhebung vor dem prorogierten Gericht das eigene Verfahren auszusetzten hat. Dieser Mechanismus wertet den prozessualen Derogativeffekt von Gerichtsstandsvereinbarungen in einer Weise auf, dass im Europäischen Justizraum das Bedürfnis nach einer materiellrechtlichen Flankierung von Gerichtsstandsvereinbarungen deutlich gesunken ist (oben III.1.a)),84 stärker als bei Schiedsvereinbarungen. Zwar stellt auch § 1032 Abs. 3 ZPO bei einem Schiedsort in Deutschland sicher, dass unabhängig von einer abredewidrigen Klageerhebung vor einem staatlichen Gericht das schiedsrichterliche Verfahren eingeleitet oder fortgesetzt werden und sogar ein Schiedsspruch ergehen kann – die Klage vor dem staatlichen Gericht begründet also für das Schiedsgericht keine Rechtshängigkeitssperre.85 Aber auch umgekehrt ist das abredewidrig angerufene staatliche Gericht nicht daran gehindert, die Schiedsvereinbarung zu überprüfen und das eigene Verfahren ggf. fortzusetzen.86 Das birgt nicht nur die Gefahr divergierender Sachentscheidungen,87 sondern bedeutet im Vergleich zu Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO eben auch, dass durch die mögliche Fortsetzung des abredewidrigen Verfahrens vor dem staatlichen Gericht für die schiedstreue Partei ein größerer Schaden entstehen kann. 2. Anwendbares Recht Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts verlaufen die Kriterien weitgehend parallel. Die Frage nach dem Bestehen eines Schadensersatzanspruchs wegen abredewidriger Klage wird bei Gerichtsstandsvereinbarungen vom Prorogationsstatut beantwortet,88 bei Schiedsvereinbarungen vom 83 Hierzu Kindler, Prozessführungsverbote zwischen Brüssel Ia und Schiedsgerichtsbarkeit, in FS Geimer (2017), S. 321, 323. 84 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 283 f. 85 Zu den Hintergründen vgl. Zöller/Geimer, 33. Auflage 2020, § 1032 ZPO, Rn. 26; MünchKomm/Münch, 5. Auflage 2017, § 1032 ZPO, Rn. 31 f. 86 Vgl. hierzu Wieczorek/Schütze-Schütze, 5. Auflage 2020, § 1032 ZPO, Rn. 12 f. 87 MünchKomm/Münch, 5. Auflage 2017, § 1032 ZPO, Rn. 33. 88 Vgl. Gebauer, Gerichtsstandsvereinbarung und Pflichtverletzung, in FS Kaissis (2012), S. 267, 282 f. Offengelassen von BGH, 17.10.2019, NJW 2020, 399, Rn. 21, weil „deutsches Recht einheitlich sowohl als lex fori als auch als so genannten Prorogationssta-

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Schiedsvereinbarungsstatut.89 Während das Prorogationsstatut durch die lex fori prorogati gestellt wird,90 wird das Schiedsvereinbarungsstatut mangels eigener Rechtswahl für die Schiedsvereinbarung von der lex loci arbitri gestellt,91 nicht hingegen vom Hauptvertragsstatut. Allerdings neigt der BGH bis heute dazu, das Schiedsvereinbarungsstatut mit dem Hauptvertragsstatut gleichlaufen zu lassen.92 Folgt man dem BGH, so decken sich die Kriterien zur Bestimmung des anwendbaren Rechts bei der Verletzung von Schiedsund Gerichtsstandsvereinbarungen nicht ohne weiteres. In der hier zugrunde gelegten Konstellation würde es hingegen im Ergebnis keinen Unterschied machen, weil nicht nur der Schiedsort in Deutschland liegt, sondern auch auf den Hauptvertrag deutsches Recht zur Anwendung gelangt. 3. Zuständigkeit für die Schadensersatzklage In aller Regel wird man Schiedsvereinbarungen nach ihrer sachlichen Reichweite dahin gehend auslegen können, dass sie auch die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen ihrer eigenen Verletzung umfassen sollen.93 Nur soweit dies ausnahmsweise nicht der Fall ist, kommt eine Zuständigkeit vor staatlichen Gerichten in Betracht, dann in erster Linie am Schiedsort.94 Im Übrigen gilt aber auch hier – wie bei den Gerichtsstandsvereinbarungen – dass eine ausschließliche Zuständigkeit des Schiedstut und schließlich auch als Recht des Hauptvertrags anwendbar“ sei. Allerdings meint der BGH an gleicher Stelle, dass auf das Rechtsverhältnis aufgrund der Rechtswahl zwischen den Parteien (gemäß Art. 27 Abs. 1 EGBGB a.F.) deutsches Recht Anwendung fände. Das kann man auch verstehen im Sinne einer grundsätzlichen Maßgeblichkeit des auf den Hauptvertrag anwendbaren Rechts. Die lex causae des Hauptvertrages spielt freilich im Rahmen des Art. 25 Brüssel Ia-VO, den der BGH für anwendbar hielt, keine Rolle. 89 Vgl. Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, S. 166 f. 90 Vgl. MünchKomm ZPO-Gottwald, 5. Auflage 2017, Art. 25 Brüssel Ia-VO, Rn. 17; Gebauer, Das Prorogationsstatut im Europäischen Zivilprozessrecht, in FS v.Hoffmann, 2011, S. 577 ff. 91 Vgl. Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 251 ff.; Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, insb. S. 166 ff.; A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 59 ff., 63 f., 126 f.; Zöller/Geimer, 33. Auflage 2020, § 1029 ZPO, Rn. 17a; Geimer, Internationales Zivilprozesssrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 3788–3790; Schütze, Kollisionsrechtliche Probleme der Schiedsvereinbarung, insbesondere der Erstreckung ihrer Bindungswirkung auf Dritte, SchiedsVZ 2014, 274, 275. 92 BGH, 8.11.2018, I ZB 24/18, MDR 2019, 631, Rn. 12; zur Kritik daran m.w.N. Zöller/Geimer, 33. Auflage 2020, § 1029 ZPO, Rn. 107; Geimer, Internationales Zivilprozesssrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 3788. 93 Vgl. Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 157, 190 ff.; Ries, Der Schadensersatzanspruch wegen der Missachtung einer internationalen Gerichtsstandsvereinbarung, 2018, S. 275; Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, S. 153 ff.; A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 125. 94 Vgl. Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, S. 156 ff., dabei kommt bei Maßgeblichkeit der Brüssel Ia-VO insbesondere auch die Zuständigkeit am Erfüllungsort in Betracht; Colberg a.a.O. S. 158 f., 162.

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gerichts für die Schadensersatzklage insoweit nicht intendiert sein kann, als sich für die schiedstreue Partei die Möglichkeit ergibt, vor dem abredewidrig angegangenen, staatlichen Gericht Widerklage zu erheben, gerichtet auf Schadensersatz. Das lässt sich auch hier konstruieren über eine antizipierte rügelose Einlassung auf die Widerklage vor dem staatlichen Gericht (vgl. oben III.3). 4. Verfahrensrechtliche Grenzen eines Schadensersatzanspruchs bei abredewidriger Klage in einem mitgliedstaatlichen forum derogatum Wird ein Schadensersatzanspruch wegen abredewidriger Klage im Europäischen Justizraum und damit einhergehender Verletzung einer Schiedsvereinbarung vor einem deutschen Schiedsgericht geltend gemacht, so ist auch hier danach zu unterscheiden, ob sich das ausländische Gericht für zuständig erklärt und womöglich in der Sache entschieden hat (a)), oder ob es die Schiedseinrede berücksichtigt und die Klage daher abgewiesen hat (b)). a) Hat das schiedsabredewidrig angerufene staatliche Gericht zeitlich früher und in der Sache zu Gunsten des Klägers (zu Lasten des schiedstreuen Beklagten) entschieden, so gilt bereits in Inlandsfällen (also bei Entscheidung eines deutschen Gerichts), dass ein Schadensersatzanspruch durch das Schiedsgericht wegen der Anrufung des staatlichen Gerichts ausscheidet. Das Schiedsgericht ist zwar nicht gebunden an eine isolierte Entscheidung des Gerichts im Rahmen von § 1032 Abs. 1 ZPO über die Ungültigkeit der Schiedsvereinbarung; jedoch ist es an die Entscheidung in der Sache gebunden.95 Eine Wirkungserstreckung tritt auch bei entsprechender Verurteilung durch ein ausländisches Gericht im Europäischen Justizraum ein, wenn die Entscheidung nach der Brüssel Ia-VO bzw. nach dem Luganer Übereikommen anerkennungsfähig ist.96 Wenn demgegenüber (auch in der englischen Rechtsprechung)97 betont wurde, dass die Brüssel Ia-VO lediglich Gerichte binde, nicht aber Schiedsgerichte,98 so ist daran wohl richtig, dass 95

Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 140 f. Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 141 ff.; Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, S. 164 f.; Stein/Jonas-Schlosser, 23. Auflage 2014, § 1029 ZPO, Rn. 59. 97 Siehe insbesondere High Court of Justice, 4.4.2012, West Tankers Inc. v. Allianz S.p.A. and Another (The Front Comor), [2012] EWHC 854 (Comm) = [2012] 2 Lloyd‘s Law Reports 103, Rn. 67 f. (Q.B.D.): “The reason why the arbitrators were bound to recognise the Spanish judgment has nothing to do with any principle of European law derived from the Regulation but because of the English common law doctrine of res judicata. In my judgment, arbitration falls outside the Regulation and an arbitral tribunal is not bound to give effect to the principle of effective judicial protection. It follows that the tribunal was wrong to conclude that it did not have jurisdiction to make an award of damages for breach of the obligation to arbitrate or for an indemnity.” 98 Siehe hierzu Hess, Schiedsgerichtsbarkeit und europäisches Zivilprozessrecht, JZ 2014, 538, 542. 96

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Schiedsgerichte keine Gerichte im Sinne der Brüssel Ia-VO sind; allerdings meint Art. 2 lit. a Brüssel Ia-VO mit dem „Gericht eines Mitgliedstaates“ auch allein das Organ, von dem die anzuerkennende Entscheidung stammen muss.99 Nicht hingegen wird dadurch der Kreis derjenigen, die das mitgliedstaatliche Urteil anerkennen müssten, auf mitgliedstaatliche Gerichte beschränkt.100 Wird über die Brüssel Ia-VO ein Urteil auf den Mitgliedstaat erstreckt, in dem ein Schiedsverfahren eingeleitet wird, dann hat das Schiedsgericht entsprechend auch das Urteil zu beachten, welches zwischen denselben Parteien zuvor ergangen ist.101 Auch wenn man darauf abstellt, dass das Rechtsschutzziel des pflichtwidrig im Ausland Beklagten in dem inländischen Schadensersatzverfahren vor dem Schiedsgericht ein anderes sein mag als in dem ausländischen Gerichtsverfahren, so ist die ausländische Rechtskraft doch spätestens dann von Relevanz, wenn es darum geht zu entscheiden, wie der Streit hypothetisch durch das inländische Schiedsgericht entschieden worden wäre – hier kann das Schiedsgericht aufgrund der Bindungswirkung nicht mehr zu dem Ergebnis gelangen, dass es die Klage selbst abgewiesen hätte.102 b) Vergleichsweise unproblematisch erscheint demgegenüber die Konstellation, dass das mitgliedstaatliche Gericht die Schiedseinrede berücksichtigt und die Klage daher abgewiesen hat. Wie bei einer prorogationswidrigen Klage (vgl. oben III.1.a) bb)) steht auch hier der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs vor dem inländischen Schiedsgericht keine ausländische Rechtskraft entgegen. 5. Keine verfahrensrechtlichen Grenzen eines Schadensersatzanspruchs bei abredewidriger Klage in einem drittstaatlichen forum derogatum Ebenfalls vergleichswiese unproblematisch erscheint die schiedsabredewidrige Klage in einem drittstaatlichen Forum, und zwar zunächst wiederum in der Konstellation, dass das drittstaatliche Gericht die Schiedseinrede beachtet und die Klage deshalb abweist. Aber auch in der Konstellation, dass das drittstaatliche Gericht die Schiedseinrede nicht beachtet, sich für zuständig hält und ein der schiedstreuen Seite nachteiliges Sachurteil erlässt, tritt anders als in den innereuropäischen Konstellationen keine Bindungswirkung ein. Denn hier fehlt es wiederum an der Anerkennungszuständigkeit des drittstaatlichen Gerichts. Das ausländische Gericht war gemäß § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO aus 99 Vgl. Mankowski, Schiedsgerichte und die Verordnungen des europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, in FS v.Hoffmann, 2011, S. 1012, 1016; Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 144 f. 100 Wie vorige Note. 101 Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 145. 102 Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 145 f.

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deutscher Sicht dann nicht zuständig, wenn aus deutscher Sicht eine wirksame Schiedsvereinbarung vorliegt.103 6. Grenzen im materiellen Recht und Maßstab der Pflichtverletzung Soweit einem Schadensersatzanspruch vor einem inländischen Schiedsgericht keine verfahrensrechtlichen Gründe entgegenstehen, bleibt noch die Frage zu beantworten, ob bei Maßgeblichkeit deutschen Rechts eventuell materiellrechtliche Gründe einer Schadensersatzpflicht entgegenstehen. Oben wurden bei der Verletzung von Gerichtsstandsvereinbarungen solche Gründe im Rahmen des Tatbestandsmerkmals einer Pflichtverletzung nach § 280 Abs. 1 BGB gesehen (III.2.). Hier stellt sich nun die Frage, ob sich an der Bewertung dadurch etwas ändert, dass es um die Verletzung gerade einer Schiedsvereinbarung geht. Zu unterstellen ist also wiederum, dass nach Maßgabe der (im Rahmen des deutschen Sachrechts berücksichtigungsfähigen – hierzu oben III.2. b) und c)) lex fori derogati die Schiedsvereinbarung ungültig oder der Streitgegenstand etwa als nicht schiedsfähig einzustufen ist. Hier lässt sich argumentieren, dass Schieds- gegenüber Gerichtsstandsvereinbarungen ein aliud insofern bilden, als die Parteien einmal die Zuständigkeit innerhalb des staatlichen Zuständigkeitssystems koordinieren wollten – dann seien sie „im Zweifel gewillt, auch Zuständigkeiten zu akzeptieren, die gemäß diesem Zuständigkeitssystem trotz ihrer Vereinbarung bestehen.“104 Mit der Schiedsvereinbarung begründeten die Parteien aber eine außerhalb dieses Systems bestehende Zuständigkeit, und ihr Wille ziele gerade darauf, „die staatliche Gerichtsbarkeit vollständig auszuschließen und Streitigkeiten von dem gewählten Schiedsgericht entscheiden zu lassen“; gegen diesen Konsens verstoße „grundsätzlich auch eine Klage vor einem staatlichen Gericht, die nach dessen lex fori zulässig ist.“105 Auch wenn zuzugeben ist, dass die Argumentationslast noch insoweit verschoben sein mag, als sich die Ausschließlichkeit (und damit auch eine konkludent übernommene Schutzpflicht) bei einer Schiedsvereinbarung noch stärker aufdrängen mag als bei einer Gerichtsstandsvereinbarung, bleibt doch die Frage, ob dieser Verpflichtung nicht gleichermaßen die Vorstellung einer auch als wirksam anzusehenden Schiedsvereinbarung zugrunde liegt. Und dann widerholt sich auch hier die räumliche Relativität der Maßstäbe solcher Wirksamkeit. Deshalb lässt sich alleine aus dem unterschiedlichen Charakter der Schiedsvereinbarung wohl nicht ohne weiteres 103

Colberg, Der Schutz der Schiedsvereinbarung, 2019, S. 163 f. m.w.N. Siehe hierzu auch den Beitrag von Peter Kindler in dieser Festschrift. 104 A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 130. 105 A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 130 f.

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die konkludente Übernahme einer schadensersatzbewehrten Pflicht entnehmen, eine Klage vor einem staatlichen Gericht auch dann zu unterlassen, wenn sie nach Maßgabe der dortigen lex fori zulässig ist und die Schiedsvereinbarung dort keine Wirkung entfalten kann. 7. Relevante Schadensposten Soweit nach der lex causae eine Pflichtverletzung zu bejahen ist und auch die Zulässigkeit der Klage nach der lex fori derogati einer solchen Pflichtverletzung nicht entgegensteht, soweit ferner keine sonstigen Gründe das Vertretenmüssen106 ausschließen, ist der durch die Verletzung der Schiedsvereinbarung entstandene Schaden zu ermitteln. Hier kann neben dem Ersatz von Prozesskosten und im Unterschied zu Gerichtsstandsvereinbarungen ein weiterer Posten relevant werden, der im Einzelnen zwar sehr schwer zu beziffern,107 für die schiedstreue Seite aber von einiger Brisanz sein mag, nämlich die Nichtöffentlichkeit und ggf. auch die Vertraulichkeit108 des Schiedsverfahrens. Worauf nach dem Zweck der Schiedsvereinbarung eventuell äußerst großer Wert zu legen ist,109 lässt sich bei entsprechender Publikumswirksamkeit der preisgegebenen Informationen durch die Klage vor einem staatlichen Gericht nachhaltig zertrümmern. Das hat zunächst immateriellen Charakter; denkbar sind aber auch darüber hinausgehende materielle Konsequenzen. Die grundsätzliche Ersatzfähigkeit dieser Schadensposten bei Verletzung der entsprechenden Schutzpflicht110 erscheint auch als ein sinnvoller Steuerungseffekt der materiellrechtlichen Flankierung von Schiedsvereinbarungen zur Durchsetzung der Pflicht, vor keinem staatlichen Gericht Klage zu erheben. Es ist ein Schadensposten, der schließlich wohl wie kein anderer auch bei reinen Inlandsfällen in Betracht kommen kann,111 wenn sich also der Schiedsort in demselben Land befindet wie das abredewidrig angerufene Gericht.

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Vgl. hierzu A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 132 f. Hierzu A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 184 f. 108 Zum Unterschied zwischen Nichtöffentlichkeit und Vertraulichkeit Frohloff, Verletzung von Schiedsvereinbarungen, 2017, S. 93 f. 109 Zur Auslegung des entsprechenden Parteiwillens A. Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 174 ff. 110 Zum Charakter der Schutzpflicht (im Gegensatz zur Nebenleistungspflichtpflicht) vgl. A.Mayr, Schiedsvereinbarung und Privatrecht, 2019, S. 113 ff., 185, mit Fn. 646. 111 Zur Ausdehnung der vom BGH befürworteten Verpflichtungswirkung von Prozessverträgen auf Inlandsfälle siehe auch Mankowski, RIW 2020, 70, 71. 107

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V. Zusammenfassung 1. Gerichtsstandsvereinbarungen können eine schadensersatzbewehrte Pflicht begründen, an keinem anderen als dem prorogierten Forum Klage zu erheben. Diese vom BGH akzeptierte und in der deutschen Dogmatik des 20. Jahrhunderts vielfach in Vergessenheit geratene Verpflichtungswirkung ist ohne weiteres auf Schiedsvereinbarungen zu übertragen. 2. Der fragliche Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung des Prozessvertrags durch abredewidrige Klageerhebung unterliegt bei Gerichtsstandsvereinbarungen dem Prorogationsstatut, bei Schiedsvereinbarungen dem Schiedsvereinbarungsstatut. Mangels eigener Rechtswahl für den Prozessvertrag wird das Prorogationsstatut von der lex fori prorogati gestellt, das Schiedsvereinbarungsstatut von der lex loci arbitri, unabhängig jeweils von der lex causae des Hauptvertrags. 3. Zuständig für die Entscheidung über den Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung des Prozessvertrages ist das vereinbarte Schiedsgericht bzw. das prorogierte Gericht. Vorbehalten bleibt aber – soweit möglich – die auf Schadensersatz gerichtete Widerklage vor dem abredewidrig angerufenen Gericht. 4. Das prorogierte Gericht bzw. das Schiedsgericht ist nicht daran gehindert, das Verfahren in der Hauptsache aufzunehmen und abzuschließen, wenn zeitlich vorher im Ausland abredewidrig ein Verfahren über denselben Streitgegenstand eingeleitet wurde. Die fehlende Rechtshängigkeitssperre folgt bei deutschem Schiedsort aus § 1032 Abs. 3 ZPO, im Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO aus ihrem Art. 31 Abs. 2 und 3. Eine dem Art. 31 Abs. 2 und 3 Brüssel Ia-VO entsprechende Norm fehlt allerdings im Luganer Übereinkommen. Deshalb sperrt die gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung verstoßende Klage in einem Vertragsstaat des Luganer Übereinkommen, der nicht auch EU-Mitgliedstaat ist, die zeitlich spätere Klage am prorogierten Gericht. Eine dem Art. 31 Abs. 2 und 3 Brüssel Ia-VO entsprechende Norm fehlt auch im Schiedsverfahren. Deshalb besteht bei Schiedsvereinbarungen ein noch gesteigertes Bedürfnis für die materiellrechtliche Flankierung der Unterlassungspflicht durch Schadensersatzbewährung. 5. Der Schadensersatzanspruch wegen Verletzung des Prozessvertrags unterliegt keinen verfahrensrechtlichen Grenzen, wenn das abredewidrig angerufene Gericht den Derogativeffekt der Gerichtsstandsvereinbarung akzeptiert bzw. die Schiedseinrede berücksichtigt und deshalb nicht in der Sache entschieden hat. Das gilt für mitgliedstaatliche wie für drittstaatliche Unzuständigkeitsentscheidungen. 6. Verfahrensrechtlichen Grenzen unterliegt der Schadensersatzanspruch allerdings dann, wenn ein abredewidrig angerufenes Gericht in der Sache

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entschieden hat und die Entscheidung nach der Brüssel Ia-VO bzw. nach dem LugÜ anzuerkennen ist. Das ist unstreitig nur für die Bindung staatlicher Gerichte, die Bindungswirkung hat aber auch gegenüber Schiedsgerichten mit Schiedsort im Europäischen Justizraum zu gelten. Keinen verfahrensrechtlichen Grenzen unterliegt der Schadensersatzanspruch hingegen dann, wenn ein abredewidrig angerufenes drittstaatliches Gericht entschieden hat und die Anerkennungszuständigkeit aufgrund der aus inländischer Sicht wirksamen Schieds- bzw. Gerichtsstandsvereinbarung fehlt. 7. Materiellrechtlichen Grenzen kann der Schadensersatzanspruch wegen Verletzung des Prozessvertrages dann unterliegen, wenn nach Maßgabe der lex fori derogati die abredewirdige Klage zulässig war. Diese Berücksichtigung fremder Zulässigkeit erfolgt im Rahmen des Sachrechts, bei Maßgeblichkeit deutschen Rechts im Rahmen des Tatbestandsmerkmals die Pflichtverletzung. Eine schadensrechtliche Rückabwicklung ausländischer Entscheidungen sollte nur ausnahmsweise und nicht unter der ordre public-Schwelle in Betracht gezogen werden, nicht schon wegen jeder Missachtung eines aus inländischer Sicht wirksamen Prozessvertrags. 8. Zu den relevanten Schadenspositionen zählen insbesondere Prozesskosten, bei der Verletzung von Schiedsvereinbarungen eventuell auch die materiellen Konsequenzen der Offenbarung von Informationen, die im Schiedsverfahren geheim geblieben wären.

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Aspekte des internationalen Zwangsvollstreckungsrechts Aspekte des internationalen Zwangsvollstreckungsrechts Reinhold Geimer

Aspekte des internationalen Zwangsvollstreckungsrechts REINHOLD GEIMER

I. Gleichzeitiger Vollstreckungsdruck aus mehreren Staaten 1. Geldvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige Vollstreckungstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Vollstreckungszuständigkeit . . . . . . . . . . 1. Keine Regelung durch das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . 2. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwangsvollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vollstreckungstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exequaturerteilung als Vollstreckungstitel . . . . . . . . . . . 2. Anerkennung der Vollstreckbarkeit nach dem Recht des Ursprungsstaates bei Wegfall des Exequaturerfordernisses V. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Executio non conveniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieser kleine Problemaufriss ist dem verehrten Jubilar gewidmet und verbunden mit den besten Glückwünschen zum 65. Geburtstag. Roderich Thümmel war es, ist es und wird es stets ein Leichtes sein, ohne Atemmaske die höchsten Gipfel der juristischen Abstraktion zu erklimmen. Er verliert aber auch nicht die Orientierung in den düstersten Mondlandschaften fern jeder Dogmatik und logischen Struktur. Denn er verfügt über die Fähigkeit, auch in schier ausweglosen Situationen praktisch brauchbare und nicht selten auch noch elegante Lösungen zu finden. I. Gleichzeitiger Vollstreckungsdruck aus mehreren Staaten 1. Geldvollstreckung Bei parallelen Vollstreckungsverfahren bleiben Art. 29 Brüssel Ia-VO und Art. 27 LugÜ und die sonstigen Parallelbestimmungen des sekundären Uni-

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onsrechts außer Betracht; auch ist die analoge Anwendung des § 261 III Nr.1 ZPO ausgeschlossen, wenn der Gläubiger mit ein und demselben Titel die Geldvollstreckung gleichzeitig in mehreren EU-Mitgliedstaaten oder darüber hinaus in Drittstaaten betreiben will.1 Diese sind zur Justizgewährung, d.h. zur Bereitstellung ihres Vollstreckungsapparates, verpflichtet. Sie können sich nicht auf executio non conveniens-Argumente berufen. Auch Ausländer haben einen verfassungsrechtlich gesicherten Anspruch, dass z.B. die deutschen Zwangsvollstreckungsorgane tätig werden.2 Soweit die Vollstreckung außerhalb des Ursprungsmitgliedstaats erfolgen soll, muss der Gläubiger nach dem tradierten klassischen Modell der Art. 38 Brüssel I-VO a.F./LugU und Art. 28 Brüssel IIa-VO die Vollstreckbarerklärung seines Vollstreckungstitels in den Staaten betreiben, in denen er in das Vermögen seines Schuldners vollstrecken will. Im Anwendungsbereich der Art. 39 ff., Art. 58 ff. Brüssel Ia-VO wurde das Exequaturerfordernis abgeschafft, ebenso mit Wirkung ab 1.8.2022 im Anwendungsbereich der Art. 34 und Art. 45 Brüssel IIb-VO (= neue EuEheVO [EU] 2019/1111 vom 25.6.2019).3 Der Gläubiger benötigt lediglich eine Bescheinigung des Ursprungsmitgliedstaates, in der die Vollstreckbarkeit gemäß Art. 42 I (b) i.V.m. Art. 53 Brüssel Ia-VO bestätigt wird. Solche Bestätigungen muss der Ursprungsmitgliedstaat auf Antrag des Gläubigers beliebig oft erteilen. Denn der europäische Gesetzgeber wollte mit dem Bescheinigungserfordernis die gleichzeitige Zwangsvollstreckung in verschiedenen Mitgliedstaaten und darüber hinaus in Drittstaaten nicht erschweren oder sogar unmöglich machen. Er wollte vielmehr die Effizienz der grenzüberschreitenden Zwangsvollstreckung in der Europäischen Union verbessern.4 Verboten ist nur Überbefriedigung, nicht jedoch vielfacher Vollstreckungsdruck zur Durchsetzung des Titels. So sind nicht nur innerstaatlich gleichzeitig verschiedene Vollstreckungsarten zulässig, sondern auch Vollstreckungsdruck parallel in mehreren Staaten.5 Aus Art. 24 Nr. 5 EuGVVO bzw. Art. 22 Nr. 5 LugÜ ergeben sich keine Grenzen, dass ein Gericht außerhalb des dort definierten Vollstreckungsmit1

Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, Art. 39 EuGVVO Rz. 47 ff.; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3174x.; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl., 2020, A 1 EuGVVO Art. 8 Rz. 27, Art. 39 Rz. 436, 440, 444 und Art. 55 Rz.10 ff.; Hau, Executio non conveniens? Zum Ausschluss der Vollstreckung anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen, ZVglRWiss 116 (2017), 23, 40. 2 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 1990, 3236. 3 ABl. L Nr. 178 vom 2.7.2019, S. 1. 4 Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, Art. 39 EuGVVO Rz. 47. 5 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 400, 3235o; Ahrens, Die grenzüberschreitende Vollstreckung von Unterlassungs- und Beseitigungstiteln, in FS Schütze II, 2014, 1 (4).

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gliedstaates im Erkenntnisverfahren Ordnungsmittel oder Ersatzvornahme anordnet.6 Dies bestätigt ein Blick auf Art. 55 EuGVVO und Art. 49 LugÜ.7 2. Sonstige Vollstreckungstitel Vorstehendes gilt mutatis mutandis für die Vollstreckung von anderen Vollstreckungstiteln außerhalb der Geldvollstreckung, insbesondere wenn ein Tun oder Unterlassen erzwungen werden soll.8 Auch hier kann gleichzeitig Druck in mehreren Staaten ausgeübt werden. So kann z.B. eine familiengerichtliche Entscheidung zum Umgangsrecht der geschiedenen Eltern mit ihrem gemeinsamen Kind außerhalb des Ursprungsmitgliedstaates in den anderen Mitgliedstaaten und/oder in Drittstaaten vollstreckt werden:9 Die Vollstreckung einer von der Brüssel IIa-VO 6

Näher hierzu unten Fußn. 18. Zum Folgenden Ahrens, Die grenzüberschreitende Vollstreckung von Unterlassungsund Beseitigungstiteln, in FS Schütze II, 2014, 1 (4). Siehe auch Wiedemann, Vollstreckbarkeit – Entwicklung, Wirkungserstreckung und Qualifikation im System Brüssel 1a, 2017, 97 ff. sowie Mankowski in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl. 2016, Art. 55 Brüssel Ia-VO Rz. 12 ff. Vgl. auch unten bei Fußn. 13. 8 Die Verurteilung zur Unterlassung bzw. Beseitigung ist nicht von vorneherein auf den Urteilsstaat beschränkt, es sei denn der Titel ist klar territorial auf den Urteilsstaat beschränkt. Dies bejaht Ahrens, in FS Schütze II, 2014, 1 (2) Fußn. 2 unter Hinweis auf KG 20.12.2001 – 2 W 211/01, GRUR Int 2002, 448 (449) – Knoblauch Kapseln, wenn im Erkenntnisverfahren kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorgetragen wurde oder das Gericht keine kollisionsrechtlichen Überlegungen angestellt hat. Bei Verletzung von Schutzrechten des Unionsrechts (Unionsmarke, Gemeinschaftsdesign, Gemeinschaftssorte) befiehlt der Unterlassungstitel eines Unionsmarkengerichts (Zentralgerichts, Art. 126 UMV) im Zweifel Unterlassung bzw. Beseitigung des rechtswidrigen Zustands im gesamten Binnenmarkt der Europäischen Union, Grünberger, IPRax 2012, 500 (503), während der vom Verletzungsortsgericht (Art. 125 V UMV) erlassene Titel in seiner territorialen Reichweite auf den betreffenden Teilmarkt beschränkt ist. Bei Titeln der Zentralgerichte, die nicht im gesamten Binnenmarkt Durchsetzung erheischen, muss die Beschränkung ausdrücklich tenoriert sein, Ahrens, Die grenzüberschreitende Vollstreckung von Unterlassungs- und Beseitigungstiteln, in FS Schütze II, 2014, 1 (2) unter Hinweis auf EuGH 12.4.2011 C-235/09 – DHL Express France/Chronopost (Webshipping), Slg. 2011, I-2801 – Rz. 33 = GRUR 2011, 518 = IPRax 2012, (Grünberger 500, 503). Hierzu Wiedemann, Vollstreckbarkeit – Entwicklung, Wirkungserstreckung und Qualifikation im System Brüssel 1a, 2017, 78 f. Siehe auch Eichel, Der prozessuale Handlungsort bei internationalen Markenrechtsverletzungen im Internet, IPRax 2019, 16; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3235a. 9 Zum Folgenden BGH 27.11.2019 – XII ZB 311/19 ECLI:DE:BGH:2019:271119 BXIIZB311.19.0 = NJW-RR 2020, 130 = FamRZ 2020, 272 (Gomille). Entweder bedient sich der aus der Entscheidung Berechtigte des Verfahrens nach Art.40 I lit. a Brüssel IIaVO, bei dem die Entscheidung auf der Grundlage einer Bescheinigung nach Art. 41 II Brüssel IIa-VO anerkannt und vollstreckt wird, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf, oder er kann nach seiner freien Wahl gemäß Art. 40 II Brüssel IIa-VO die Anerkennung und Vollstreckung nach Maßgabe der Art. 21 f. Brüssel IIa-VO, d.h. mit Vollstreckbarerklärung, in den anderen Mitgliedstaaten beantragen. 7

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erfassten Entscheidung ist dabei nicht auf einen Mitgliedstaat beschränkt. Art. 19 Brüssel IIa-VO findet keine Anwendung.10 (1) Zwar wird es – wie etwa auch § 88 I FamFG dokumentiert - bei Umgangsentscheidungen häufig naheliegen, diese dort zu vollstrecken, wo das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das ist jedoch nicht zwingend. (2) Vielmehr kann die zwangsweise Einwirkung auf den das Umgangsrecht nicht gewährenden Elternteil mittels Ordnungs- und Zwangsmitteln auch an anderen Orten erfolgen. So kann etwa ein Ordnungsgeld überall dort beigetrieben werden, wo dieser Elternteil über Vermögenswerte verfügt. Auch der Vollzug einer Ordnungshaft an einem Elternteil ist nicht an den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes gebunden. (3) Unabhängig davon soll durch die EU-Verordnungen den Ursprungsmitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen werden, inländische Gerichtsentscheidungen selbst zu vollstrecken.11 Das sekundäre Unionsrecht dient vielmehr dazu, die Durchsetzung von Entscheidungen in anderen Mitgliedstaaten zu erleichtern.12 Auch Art. 55 Brüssel Ia-VO und Art. 49 LugÜ schließen eigene Zwangsmittel des Vollstreckungsstaats – neben den Zwangsmaßnahmen des Ursprungsstaates – nicht aus.13 Sie stipulieren kein Verbot für die anderen Mitgliedstaaten, in der gleichen Angelegenheit ebenfalls Zwangsgelder zu verhängen,14 d.h. Art. 55 EuGVVO schließt eigene Zwangsmittel des jeweiligen Vollstreckungsmitgliedstaats15 – neben den Zwangsmaßnahmen des Ursprungsmitgliedstaats – nicht aus.16 Der Gläubiger hat also z.B. bei der Handlungsvollstreckung die Wahl, ob er im Ursprungsmitgliedstaat die nach dem dortigen Recht vorgesehene Zwangsmaßnahmen erwirkt, oder ob er für den erststaatlichen Ausgangstitel im ersuchten Vollstreckungsmitgliedstaat (Art. 2 [e] Brüssel Ia-VO) nur die dortigen Zwangsmittel beantragt. Er kann aber auch kumulativ beide Vollstreckungssysteme (aus dem Erst- und Zweitstaat) parallel für sich einsetzen. Mithin steht es jedem Vollstreckungsmitgliedstaat (Art. 2 [e] Brüssel IaVO) frei, eigene Zwangsgelder fest- und durchzusetzen, obwohl der Ursprungsmitgliedstaat bereits solche festgesetzt hat. Anders gewendet heißt 10

Vgl. oben Fußn. 1. Siehe auch Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3291. 12 BGH 27.11.2019 – XII ZB 311/19 ECLI:DE:BGH:2019:271119BXIIZB311.19.0 = NJW-RR 2020, 130. 13 Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl., 2020, A 1 – Art. 55 EuGVVO Rz. 54. 14 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3239b. 15 Zur materiellen Rechtskraft deutscher Zwangsmittelbeschlüsse BGH 13.7.2017 – I ZR 64/16 NJW 2018, 235. 16 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3235l. 11

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dies: Der Gläubiger darf gleichzeitig Vollstreckungsdruck in mehreren Mitgliedstaaten und darüber hinaus in Nichtmitgliedstaaten ausüben. Dies gilt nicht nur für die Geldvollstreckung, sondern auch für die Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung etc.17

II. Internationale Vollstreckungszuständigkeit 1. Keine Regelung durch das Unionsrecht Von der internationalen Entscheidungszuständigkeit (jurisdiction to adjudicate) ist die internationale Vollstreckungszuständigkeit (jurisdiction to enforce) zu unterscheiden. Letztere regeln die Verordnungen des sekundären Unionsrechts nicht. Insbesondere kommt Art. 24 Nr. 5 Brüssel Ia-VO nicht in Betracht. Dieser erfasst – ebenso wie Art. 22 Nr. 5 LugÜ – nur kontradiktorisch angelegte Rechtsmittel- und sonstige Rechtsbehelfsverfahren gegen Akte der Zwangsvollstreckung.18 Für die Zuständigkeit zur Anordnung von solchen Vollstreckungsakten gilt nationales Recht.19 2. Deutsches Recht Während die internationale Zuständigkeit Deutschlands für die Pfändung von Forderungen und sonstigen Rechten (§ 857 ZPO) nach der herrschenden (mittlerweile in § 105 FamFG teilkodifizierten) Doppelfunktionstheorie20 klar gemäß § 828 II ZPO bestimmt werden kann, ist es bei den Aufgaben des Gerichtsvollzieher komplizierter, weil § 753 ZPO keine Vorschriften über die örtliche Zuständigkeiten der Gerichtsvollzieher enthält, es sei denn man greift auf § 14 GVO zurück, eine Justizverwaltungsvorschrift der Länder ohne Rechtsnormqualität.21 17

Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3239c. BayObLG 1.8.2019 – 1 AR 12/19 ZEV 2019, 635 (Leipold) = FamRZ 2020, 41; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3231, 3295; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., 2020, Art. 4 EuGVVO Rz. 26 und. Art. 24 EuGVVO Rz. 34; Hau, Executio non conveniens? Zum Ausschluss der Vollstreckung anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen, ZVglRWiss 116 (2017), 23, 30. 19 BGH 27.11.2019 – XII ZB 311/19 ECLI:DE:BGH:2019:271119BXIIZB311.19.0 = NJW-RR 2020, 130; OLG Karlsruhe in Freiburg 27.6.2019 – 18 WF 105/19 FamRZ 2019, 1882. = IPRax 2020, 145 (H. Roth 128). Siehe auch Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3235g. 20 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 946 ff. 21 Dieser Befund ist erstaunlich angesichts des Umstands, dass der Gerichtsvollzieher staatliche Zwangsgewalt (Art. 33 IV GG) ausübt nach der Devise: Unmittelbarer geht es nicht; denn der Gerichtsvollzieher ist das „Vollstreckungsorgan des direkten körperlichen Zugriffs“, Heßler in MüKO-ZPO. 5.Aufl., 2016, § 753 Rz. 7. Zur Rechtsnatur der GVO, soweit der äußere Geschäftsbetrieb geregelt ist, Zimmermann in MüKO-ZPO. 5.Aufl., 18

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Auch die Stellungnahmen in der Literatur sind – anders als bei der doppelfunktionalen Anwendung des § 802e ZPO (betreffend die Zuständigkeit des Gerichtsvollziehers zur Abnahme der Vermögensauskunft und der eidesstattlichen Versicherung)22 – zurückhaltend.23 Meist wird bereits der Terminus internationale Vollstreckungszuständigkeit (jurisdiction to enforce) ausgeblendet24 und man schaltet um auf die vom Völkergewohnheitsrecht gesetzten Grenzen für die Zwangsgewalt der Staaten.25 3. Fazit Die Zwangsgewalt der Staaten ist nach allgemeinem Völkergewohnheitsrecht zwar im Hinblick auf die Souveränität und die daraus fließende ausschließliche Hoheitsgewalt anderer Staaten territorial begrenzt.26 Positiv gewendet heißt dies aber: Jeder Staat kann durch Zwangs- bzw. Beugemaßnahmen jeder Art die Entscheidungen seiner eigenen Gerichte durchsetzen, solange er nicht die ausschließliche Hoheitssphäre eines anderen Staates verletzt. Im Rahmen seiner Justizgewährungspflicht ist er hierzu auch ver2016, § 154 GVG Rz. 4. Zur funktionalen Zuständigkeit der Gerichtsvollzieher siehe die Kommentare zu § 753 ZPO und zu § 154 GVG sowie z.B. Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Aufl., 2010, § 25 Rz. 31 ff. 22 Voit in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl., 2019, § 802e Rz. 2; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl., 2020, § 802e Rz. 3; Seibel in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 802e Rz. 6; Würdinger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2017, § 802e Rz. 7. S. auch Paulus in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl.2016, § 802e Rz. 5; Rathmann in Saenger, ZPO, 8. Aufl. 2019, § 802e Rz. 2. 23 Ohne die Doppelfunktionstheorie zu erwähnen, formuliert Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 7. Aufl., 2017, Rz. 1064: „Die internationale Zuständigkeit für die Zwangsvollstreckung in bewegliche oder unbewegliche Sachen ergibt sich aus deren Belegenheit.“ Ähnlich Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3232; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, IZPR Rz. 93; Hau, Executio non conveniens? Zum Ausschluss der Vollstreckung anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen, ZVglRWiss 116 (2017), 23, 31; Hau in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., 2018, Rz. 3a vor §§ 98 – 106 FamFG. Siehe auch BGH 3.4.2019 – VII ZB 24/17 EuZW 2019, 876 = MDR 2019, 762 = RiW 2019, 450: „Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für die Pfändung und Überweisung einer Forderung oder eines anderen Vermögensrechts setzt voraus, dass die Zwangsvollstreckung in Vermögen erfolgen soll, das sich im Inland befindet, denn nur darauf kann in völkerrechtlich zulässiger Weise staatliche Zwangsgewalt ausgeübt werden.“ 24 Ohne Erwähnung z.B. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl., 2018, § 31 Rz. 1 ff.; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Aufl., 2010, § 25 Rz. 31 ff.; Heßler in MüKO-ZPO. 5.Aufl., 2016, § 753 Rz. 9; Bittmann in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl.2016, § 753 Rz. 5; Lackmann in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl., 2019, § 753 Rz. 5; KIndl in Saenger, ZPO, 8. Aufl. 2019, § 753 Rz. 2; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl., 2020, § 753 Rz. 6; Seibel in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 753 Rz. 3. Sehr deutlich aber Hau in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., 2018, Rz. 3a vor §§ 98–106 FamFG. 25 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl., 2018, § 31 Rz.49 ff. 26 Hierzu z.B. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3200.

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pflichtet. Das Gleiche gilt für die Durchsetzung (im Inland vollstreckbarer) ausländischer Entscheidungen. Dies bedeutet konkret für den oben I 2 erwähnten (vom BGH am 27.11.2019 entschiedenen) Fall:27 Die internationale Vollstreckungszuständigkeit (jurisdiction to enforce) regeln die EU-Verordnungen nicht. Es gilt nationales Recht.28 Zur Durchsetzung einer familienrechtlichen Entscheidung kann – wie auch sonst – gleichzeitig Druck in mehreren Staaten in und außerhalb der Europäischen Union ausgeübt werden.

III. Zwangsvollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates Jeder Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung vollstreckt werden soll (Vollstreckungsmitgliedstaat, Art. 2 Nr. 6 Brüssel IIa-VO), bringt gemäß Art. 47 I Brüssel IIa-VO sein für das Vollstreckungsverfahren maßgebendes Recht zur Anwendung, wobei die Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung nach Art. 47 II Brüssel IIa-VO unter denselben Bedingungen zu erfolgen hat, die für inländische Entscheidungen gelten. Daher bestimmt § 44 I IntFamRVG, dass die Ordnungsmittel des § 89 FamFG auch für im Inland vollstreckbare ausländische Titel zur Anwendung kommen. Die jeweilige lex loci executionis regelt, ob, wann und wie vollstreckt wird.29 Sie gilt auch für den Vollstreckungsschutz.30 Das jeweilige Vollstreckungsrecht bestimmt auch die Vollstreckungsmittel und die Vollstreckungsarten sowie entscheidet darüber, welche Gegenstände des Schuldners (un)pfändbar sind31 und wie gegebenenfalls die Unpfändbarkeit geltend zu machen ist.32 Z.B. ist in Deutschland die Besitzvermutung des § 739 ZPO 27

Oben Fußn. 9. BGH 27.11.2019 – XII ZB 311/19 ECLI:DE:BGH:2019:271119BXIIZB311.19.0 = NJW-RR 2020, 130; OLG Karlsruhe in Freiburg 27.6.2019 – 18 WF 105/19 FamRZ 2019, 1882 = IPRax 2020, 145 (H. Roth 128). Siehe auch Hau in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., 2018, Rz. 3a vor §§ 98–106 FamFG. 29 Skeptisch aber Max Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung in der Europäischen Union, 2012, Rz. 1046. Siehe auch Wolber, Schuldnerschutz im Europäischen Zwangsvollstreckungsrecht, 2015, 159 ff.; Domej, Internationale Zwangsvollstreckung und Haftungsverwirklichung am Beispiel der Forderungspfändung, 2016, 284. 30 Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, IZPR Rz. 23; Seidl, Ausländische Vollstreckungstitel und inländischer Bestimmtheitsgrundsatz, 2010, 50. Zum bunten Meinungsspektrum Nachw. bei Riebold, Die Europäische Kontopfändung, 2014, 217 ff. 31 BGH 20.12.2012 – IX 130/10, WM 2013, 333 Rz. 18 = NJW-RR 2013, 880 = RiW 2013, 399 = WuB 2013, 309 = ZInsO 2013, 337 = ZIP 2013, 374 = ZVI 2013, 152. Zu den Pfändungsfreigrenzen Wolber, Schuldnerschutz im Europäischen Zwangsvollstreckungsrecht, 2015, 161 ff. – Zur Zusammenrechnung in- und ausländischer Renten analog § 850e Nr. 2 und Nr. 2a ZPO BGH 18.9.2014 IX ZB 68/13 NJW-RR 2014, 1459 = NZI 2014, 957. 32 Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl., 2013, § 19 Rz. 5. 28

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i.V.m. § 1362 BGB anzuwenden ohne Rücksicht darauf, in welchem Güterstand ausländische Eheleute leben.33 Ist der Vollstreckungsschuldner zu einer Handlung oder Unterlassung verurteilt, so bestimmt die jeweilige lex loci executionis darüber, wie der Schuldner zur Vornahme der Handlung bzw. zur Unterlassung gezwungen werden kann. Es geht dabei um die Zulässigkeit unmittelbaren Zwangs, von Beugemaßnahmen sowie der Ersatzvornahme. Das Recht des Vollstreckungsstaates befindet auch darüber, ob der Gläubiger ein Wahlrecht zwischen verschiedenen Vollstreckungsarten hat oder ob über die zu ergreifenden Maßnahmen das Gericht befindet.34 Auch bei ausländischer lex causae (der Richter hat im in- oder ausländischen Erkenntnisverfahren seiner Entscheidung ausländisches Recht zugrunde gelegt) erfolgt in Deutschland die Zwangsvollstreckung nach den Regeln des deutschen Vollstreckungsrechts.35 So divergieren beim Einsatz von Zwangsgeld die einzelnen Rechtsordnungen stark, und zwar nicht nur hinsichtlich der Auswahl der geeigneten Druckmittel, sondern auch bezüglich der Abgrenzung zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren. So wird z.B. in Frankreich bereits im Erkenntnisverfahren die Befugnis des Gläubigers zur Ersatzvornahme angeordnet, in anderen Rechtssystemen ist diese Aufgabe dem Vollstreckungsgericht übertragen.36 Hier ergeben sich nicht einfache Anpassungsprobleme. IV. Vollstreckungstitel 1. Exequaturerteilung als Vollstreckungstitel In Betracht kommen originär deutsche und für vollstreckbar erklärte ausländische Titel. Dabei ist jedoch alleinige Grundlage für die Zwangsvollstreckung im Inland die deutsche Vollstreckbarerklärung.37 Sobald der erststaat33 Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl., 2013, § 19 Rz. 12. Allerdings bedürfen §§ 740, 741 ZPO der Anpassung bzw. Substitution, wenn ein ausländischer Güterstand zu gemeinschaftlichem Eigentum (mit/ohne gemeinsame Verwaltung) der Eheleute führt, das mit den Formen des deutschen Rechts nicht (exakt) übereinstimmt, BGH 18.3.1998 – XII ZR 251/96, MDR 1998, 969 = NJW-RR 1998, 1377 = WM 1998, 1591 = FamRZ 1998, 905 = JZ 1999, 204 (Stoll) = IPRspr. 1998 Nr. 73 (Gütergemeinschaft nach niederländischem Recht); AG Menden 26.4.2006 – 3 C 518/03, FamRZ 2006, 1471 (Errungenschaftsgemeinschaft nach italienischem Recht); Mansel, Substitution im deutschen Zwangsvollstreckungsrecht, in FS W. Lorenz, 1991, 689, 709 ff.; Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl., 2013, § 19 Rz. 13. 34 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3238. 35 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3239. 36 Z.B. Remien, Rechtsverwirklichung durch Zwangsgeld, 1992, 35 ff., 123 ff.; Nelle, Anspruch, Titel und Vollstreckung im internationalen Rechtsverkehr, 2000, 9 ff. 37 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3155, 3240; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 722 Rz. 93.

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liche Titel in Deutschland für vollstreckbar erklärt ist, ist er deutschen Titeln gleichgestellt. Für die Vollstreckung der erststaatlichen Titel ist das deutsche Recht maßgebend.38 Nach dem hergebrachten Modell der Vollstreckbarklärung wird die im Ursprungsstaat dem ausländischen Titel zukommende Vollstreckbarkeit nicht anerkannt; ihre Wirkungen werden nicht auf den Vollstreckungsstaat erstreckt.39 2. Anerkennung der Vollstreckbarkeit nach dem Recht des Ursprungsstaates bei Wegfall des Exequaturerfordernisses Anders ist es aber im Anwendungsbereich derjenigen europäischen Rechtsakte, die das Exequaturerfordernis abgeschafft haben, wie Art. 39 Brüssel Ia-VO,40 Art. 34 II und Art. 45 Brüssel IIb-VO,41 Art. 17 EuUnterhVO und eine Reihe weiterer EU-Rechtsakte.42 Hier kommt den Titeln kraft Unionsrechts nicht etwa eine nicht näher definierte, gewissermaßen frei schwebende43 „europäische Vollstreckbarkeit“ zu. Vielmehr wird die dem Titel nach dem Recht des Ursprungstaates eigene Vollstreckbarkeit auf den Vollstreckungsstaat qua Anerkennung erstreckt. Die nach dem Recht des Ursprungsstaates zu beurteilende Vollstreckbarkeit muss im Vollstreckungsstaat mit Hilfe des dortigen Rechts umgesetzt werden. Dies kann bei der Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung zu viel schwierigeren und komplizierteren Verwerfungen und Spannungen führen als bei der Geldvollstreckung. Die Vollstreckungsorgane im Vollstreckungsstaat müssen den Umfang der dem ausländischen Titel in dessen Ursprungsstaat zukommenden Vollstreckbarkeit erforschen. Einerseits gilt im internationalen Anerkennungsrecht der Grundsatz, dass einer gerichtlichen Entscheidung und einem sonstigen Vollstreckungstitel im Wege der Anerkennung nicht mehr Wirkungen zukommen können als im Ursprungsstaat nach dortigem Recht vorhanden. Andererseits ist im jeweils maßgeblichen europäischen Rechtsakt klar bestimmt, dass der Titel mit den Mitteln zwangsweise durchzusetzen ist, die das Recht des Vollstreckungsstaates zur Verfügung stellt. Diese können stärker und wirkungsmächtiger sein als diejenigen, die der Ursprungsstaat bereithält. 38

Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3103, 3240. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 2824, 3100; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 722 Rz. 2. 40 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3174b ff. 41 Ab 1.8.2022. 42 Einzelheiten z.B. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3176 ff.; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, Art. 39 EuGVVO Rz. 2. 43 Weil vom spontanen Erfindungsimpetus des EuGH abhängig. 39

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V. Rechtsbehelfe Die jeweilige lex loci executionis bestimmt auch bei ausländischer lex causae die Statthaftigkeit von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln im Vollstreckungsverfahren. Inwieweit dritte Personen von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tangiert werden dürfen bzw. welche Rechtsbehelfe Dritte gegen solche Maßnahmen ergreifen können, ist ebenfalls nach dem Recht des Vollstreckungsstaates zu entscheiden.44

VI. Executio non conveniens Zwangsvollstreckungsmaßnahmen dürfen in Deutschland nicht mit der Begründung abgelehnt werden, im Ausland könne besser oder einfacher oder schneller vollstreckt werden.45 Auch darf die Vollstreckbarerklärung eines ausländischen Titels nicht im Hinblick auf (angeblich) fehlende Erfolgschancen verweigert werden. Auch wenn der Schuldner nachweisen kann, dass er im Inland kein Vermögen hat, ist der erststaatliche Titel für vollstreckbar zu erklären. § 722 II ZPO ist zu eng formuliert. Daher ist analog § 15 II und § 27 II ZPO eine Zuständigkeit in Berlin eröffnet.46 Es ist allein Sache des Gläubigers, welche Maßnahme er aufgrund der Vollstreckbarerklärung in Deutschland ergreifen will. Zumindest hat er für die Zukunft vorgesorgt: Erwirbt der Schuldner Vermögen im Inland, kann er sofort die Zwangsvollstreckung beantragen.47

VII. Schiedsgerichtsbarkeit Auch bei der Durchsetzung von Schiedssprüchen, die zur Zahlung von Geld oder zu einem Tun oder Unterlassen verurteilen, ist gleichzeitiger 44 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 1235, 3241; Grothaus, Inlandsvollstreckung mit Auslandswirkung, 2010, 182; Sonnabend, Der Einziehungsprozess nach Forderungspfändung im internationalen Rechtsverkehr, 2007, 37. 45 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 1081, 3242; Hau, Executio non conveniens? Zum Ausschluss der Vollstreckung anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen, ZVglRWiss 116 (2017), 23, 36. 46 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 1245, 1381, 3127; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 722 Rz. 45; Hau, Executio non conveniens? Zum Ausschluss der Vollstreckung anerkennungsfähiger ausländischer Entscheidungen, ZVglRWiss 116 (2017), 23, 33. Kritisch Gottwald in MüKo-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 722 Rz: 35: Ohne Stellungnahme KG 31.10.2019 – 2 AR 52/19 MDR 2020, 59. 47 Zustimmend z.B. Solomon, Internationale Zuständigkeit zur Vollstreckbarerklärung ausländischer Entscheidungen, AG 2006, 832 (839).

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Vollstreckungsdruck in mehreren Staaten möglich und zulässig.48 Die Rechtslage ist im Vergleich zu Entscheidungen der staatlichen Gerichte insofern einfacher und überschaubarer, weil im Anwendungsbereich des § 1061 ZPO stets eine Vollstreckbarerklärung notwendig ist. Für die Durchführung der Zwangsvollstreckung gilt wie bei den Entscheidungen der staatlichen Gerichte die jeweilige lex loci executionis.49

48 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., 2020, Rz. 3927; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1061 Rz. 55. 49 Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1061 Rz. 72.

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Der Arme Konrad, das Württembergische Hofgericht zu Tübingen Der Arme Konrad, das Württembergische Hofgericht zu Tübingen Klaus-A. Gerstenmaier

Der Arme Konrad, das Württembergische Hofgericht zu Tübingen und die Schiedsgerichtsbarkeit KLAUS-A. GERSTENMAIER

I. Das Württembergische Hofgericht zu Tübingen Exkurs: Der Tübinger Vertrag von 1514 . . . . . . . II. Hofgericht und Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roderich Thümmel ist der bedeutenden Stadt und der ehrwürdigen Universität Tübingen auf doppelte Weise verbunden: Dort verbachte er Studienjahre, vergnügliche, wie man als Kenner des Tübinger Studentenlebens annehmen darf, und lehrreiche. Und seit dem Jahre 2003 lehrt er an der Eberhard-KarlsUniversität internationales Wirtschaftsrecht und Schiedsgerichtsbarkeit. Eine Tübinger rechtswissenschaftliche Professur ist weder heute noch war sie in früheren Jahrhunderten auf Forschung und Lehre beschränkt. Am höchsten Appellationsgericht des Landesteils Württemberg, dem OLG Stuttgart, wirken Professoren der Universität Tübingen als Richter. Das ist jahrhundertalte Tradition: Seit der ersten Erwähnung eines württembergischen Hofgerichts durch den Grafen Ulrich im Jahre 14601 ist das höchste Gericht des Landes durch den regierenden Fürsten oder seinen Stellvertreter, den Landeshofmeister, und durch Beisitzer auf drei Bänken besetzt, der adligen, der gelehrten und der Landschaftsbank.2 Schon die erste uns erhaltene Hofgerichtsordnung von 1514 und auch die erweiterte Fassung des Jahres 1575 schreiben diese Konfiguration fest.3 Knapp4 nennt es denn auch eine „günstige Fügung“, dass fast gleichzeitig mit der Errichtung des Hofgerichts die Universität Tübingen gegründet wurde (1477), die schon seinerzeit wie auch heute dem Gericht durch abgeordnete Rechtslehrer wertvollen Sachverstand zur Verfügung stellte. 1 Sattler Geschichte des Herzogthums Würtemberg unter der Regierung der Graven, Tübingen 1777, Beilagen N 55 b, S. 259. 2 Vgl. Knapp Das Württembergische Hofgericht zu Tübingen und das württembergische Privilegium de non appellando, Tübingen, Tübinger Bll 16, 1926, S. 8. 3 Titel I. 4 A.a.O., S. 12.

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I. Das Württembergische Hofgericht zu Tübingen Gerichtstage des Hofgerichts fanden nach der im Jahre 1475 von den Grafen Ulrich und Eberhard im Bart gemeinsam erlassenen ersten Hofgerichtsordnung zunächst an verschiedenen Residenzorten Württembergs, in Urach, Stuttgart und Tübingen statt. Erst im Jahre 1514, nach der Vereinigung der beiden Grafschaften Urach und Stuttgart im Münsinger Vertrag von 1482, wurde auf Befehl Ulrichs, inzwischen zum Herzog erhoben, als ständiger Sitz des Hofgerichts Tübingen bestimmt, da die Stadt beim Aufstand des Armen Konrad ihre „Treue und Hülffe Hertzogen Ulrichen geleistet und bezeugt“ hatte.5 „Immerdar“, so das herzogliche Dekret, solle künftighin das Württembergische Hofgericht zu Tübingen gehalten „und ohn die erheblichste Ursach nicht verlegt werden“.6 Aber nicht nur die treue Unterstützung durch die Stadt Tübingen während des Aufstands des Armen Konrad veranlasste den Herzog, der Stadt das immerwährende Privileg des Sitzes des höchsten württembergischen Gerichts zuzuwenden. In der von Herzog Ludwig im Jahre 1587 überarbeitet erlassenen Hofgerichtsordnung findet sich noch ein anderer Grund, der Jahrzehnte nach Armem Konrad, dem Bauernkrieg, kaiserlicher Regentschaft, Vertreibung und Rückkehr des Herzogs Ulrich in die Landesherrschaft die Weitsicht des regierenden Herzogs und seinen Pragmatismus offenbart. Es heißt dort nämlich im siebten Titel des ersten Teils der überarbeiteten Hofgerichtsordnung, das Hofgericht werde „fürnemlich“ darum zu Tübingen gehalten, „daß die jungen angehenden Juristen bei Unser Hohenschul daselbst sich daran mit aduocieren oder auch procurieren, exercieren, und üben mögen. So soll keiner von Unser Hohenschul am Hoffgericht zu aduocieren sich unterstehen oder zugelassen werden, er habe dann zuvor drey oder vier Jar, Iura studiert und mit fleiß gehört, dessen ihme seine Praeceptores, wo von nöten, kundtschafft geben mögen.“ Eifersüchtig pochten die Tübinger auf die Einhaltung dieses ihnen mit Brief und Siegel des Herzogs zuerkannten Privilegs des permanenten Gerichtssitzes: Als nach Ulrichs Vertreibung die österreichische Regierung auf Januar 1521 wegen einer seinerzeit in Tübingen grassierenden Seuche, der „sterbenden Leuff“,7 das Hofgericht nach Stuttgart einberief, protestierte 5 Zeller Ausführliche Merkwürdigkeiten der Hochfürstlich Württembergischen Universitaet und Stadt Tübingen, Tübingen 1743, S. 121; Sattler Historische Beschreibung des Herzogthums Württemberg, Stuttgart u. Eßlingen, 1752, S. 27; Nägele Tübingen und seine Umgebung, Tübingen 1884, S. 13. 6 Vgl. Zeller a.a.O., S. 122; vgl. auch Maier-Pfullingen Die Museumstadt Tübingen, Tübingen 1904, S. 72. 7 Zeller a.a.O., S. 125; Knapp a.a.O., S. 6.

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Tübingen scharf und weigerte sich, Hofrichter und Beisitzer nach Stuttgart zu entsenden.8 Die Tübinger setzten sich auch gegen den Regenten der Römischen Kaiserlichen Majestät durch; dieser, Johannes Münsinger, war ein Sohn des gleichnamigen Vaters, der Eberhard im Barte, Württembergs „geliebten Herrn“,9 als dessen Arzt auf seiner Pilgerfahrt anno 1468 ins Heilige Land begleitet hatte. Prompt, schon am 24. Januar 1521, gab Münsinger der Tübinger Beschwerde nach und schrieb an den Rat der Stadt, der kaiserliche Stadthalter, derzeit auf dem Reichstag in Worms beim Kaiser weilend, habe die Hofgerichtssitzung in Stuttgart aufgehoben und sogleich eine Sitzung auf die kommende Fastenzeit („zukunfftig Vasten“) nach Tübingen einberufen.10 Das Hofgericht war nicht als ständiges Gericht organisiert; das war angesichts der Fallzahlen, insbesondere der Appellationen, für die es zuständig war, auch nicht erforderlich. Vielmehr sah die Gerichtsordnung schon in ihrer ersten überkommenen Fassung von 1514 vor, dass im Jahr vier Sitzungen zu halten seien, falls die Zahl der anhängigen Fälle dies erforderlich mache. Die erste Sitzung begann jeweils am Montag nach Invocavit, also dem Sonntag nach Ende der Fastnacht. Die weiteren Sitzungsperioden hatten zu beginnen an den Tagen nach Trinitatis, nach Bartholomäi und schließlich nach Martini.11 Die Sitzungen waren anstrengend, vor allem für die Richter: „Die Partheien sollen zu Winterszeitten zu siben und Sommerszeit zu sechs Uhr vor mittag vor dem Hoffgericht gewißlich zuerscheinen vertagt werden. Nach mittag sollen die Partheien wie sie jederzeit bescheiden vor dem Hoffgericht wider erscheinen.“12 Exkurs: Der Tübinger Vertrag von 151413 Der Arme Konrad, ein Aufbegehren von Bauern und Bürgern Württembergs gegen fortschreitende Entrechtung und wirtschaftliche Not, fand sein Ende im Sommer 1514. Tübingen hatte während des Aufstands fest an der Seite des Landesherrn, des Herzogs Ulrich, gestanden und ihm „500 wohlgerüstete Männer“14 zu Hilfe gesandt. Nicht nur das: Auf Anraten des Tübinger Vogts Konrad Breuning berief der Herzog auf den 26. Juni 1514 einen Landtag nach Tübingen ein, um den „uffrur“15 endgültig zu ersticken, aber auch 8

Zeller a.a.O., S. 124. Kerner Preisend mit viel schönen Reden (1818), Strophe 5, Tübinger Commersbuch, 8. Aufl. 1894, S. 404. 10 Zeller a.a.O., S. 126/127 mit Abdruck des Sendschreibens vom 24. Januar 1521. 11 Hofgerichtsordnung 1587, Der ander Theil, Titel 7, S. XLV. 12 Hofgerichtsordnung 1587, a.a.O., S. XLVI. 13 „Tübinger Vertrag“ vom 8. Juli 1514 zwischen dem Herzog Ulrich als Landesherrn und den Prälaten und der Landschaft von Württemberg als Vertreter der Landstände; im Wortlaut abgedruckt unter http://www.verfassungen.de/bw/wuerttemberg/verf1514.htm. 14 Maier-Pfullingen a.a.O., S. 72. 15 Vgl. Adriani 1514 Macht Gewalt Freiheit, Tübingen 2014, S. 155. 9

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um den als Folge von Verschwendung und unnützen Kriegshändeln drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Herzog Ulrich mit seiner Regierung und Vertreter der Amtsstädte (der „Landschaft“) und der Klöster nahmen am Landtag teil, gleichfalls eine kaiserliche Schiedskommission. Deren im Namen Kaiser Maximilians I und verschiedener Fürsten erlassener Schiedsspruch, der „Vertrag von Tübingen“, beendete den gärenden sozialpolitischen Konflikt, regelte die Staatsverschuldung und erlangte durch Gewährung bestimmter Freiheiten für die Landstände eine Art Verfassungscharakter.16 Der Vertrag von Tübingen ist gewiss nicht als pactum zweier eigenbestimmt handelnder Parteien zu sehen. Er hat die Qualität und die Wirkung eines Schiedsurteils, erlassen im Namen des Kaisers durch die auf dem Tübinger Landtag präsente kaiserliche Kommission. Wenn auch unter dem Druck der Empörung des Armen Konrad zustande gekommen, so brachte dieser kaiserliche Spruch doch nicht nur dem bürgerlichen Stand zusätzliche und dem gemeinen Mann einige Rechte; vielmehr gewann auch der in seiner Souveränität gestutzte Landesherr durch Befreiung des herzoglichen Haushalts von angehäuften Schulden.17 Eine Magna Carta Württembergs, eine erste Verfassung, die mehr erzeugt, als einen gedämpften demokratischen Grundton, eine umfassende Verbürgung allgemeiner Menschenrechte: All das ist der Tübinger Vertrag nicht, auch wenn dem Schiedsspruch ab und an solch‘ angereichertes Gewicht zugemessen wird.18 Bedeutung allerdings erlangte der Vertrag durch seine lange, bis 180519 anhaltende Wirksamkeit, die gewisse Grundfreiheiten – relative Freizügigkeit, ordentliche Gerichtsverfahren, Haushalts- und Steuermitsprache – so festigte, dass bis zur Napoleonischen Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts jeder württembergische Landesherr bei Amtsantritt den Vertrag und seine Rechteteilung zu bestätigen hatte und die vertraglichen Regelungen sich auf diese Weise zu einer rudimentären Verfassungsgrundlage für das Land verdichteten.20 Die fünf Kernabreden des Tübinger Vertrages21 enthielten allerdings keineswegs nur Zugeständnisse des Landesherrn an Landstände, Klöster und Untertanen; sie verschafften ihm auch die dringend benötigte Entlastung von horrenden Schulden, die über einen Zeitraum von 40 Jahren zu tilgen sich die Landstände verpflichteten. Im Gegenzug erhielten die Landstände eine Art Haushaltskontrolle, wie sie in modernen Verfassungen dem Parlament als „Königsrecht“ zugeschrieben ist:22 16

Vgl. Schmauder 1514 Macht Gewalt Freiheit, Tübingen 2014, S. 70. Vgl. Adriani a.a.O., S. 156. 18 Vgl. Adriani a.a.O., S. 159; Schmauder a.a.O., S. 172. 19 Am 30. Dezember 1805 zog Kurfürst Friedrich II. die Kassen und Archive der Stände gewaltsam an sich und zwang Städte und Ämter zur bedingungslosen Unterwerfung und zur Abführung aller Steuereinnahmen. Die durch den Tübinger Vertrag begründete ständische Verfasstheit Württembergs endete damit, eine Zeit absoluter Herrschaft der zu Königen erhobenen Landesherren begann (vgl. Anmerkungen zum Tübinger Vertrag, a.a.O. (Fn. 13), S. 6). 20 Vgl. auch Grube Der Tübinger Vertrag vom 8. Juli 1514, Stuttgart 1964, S. 44. 21 Es gab weitere 20 Einzelartikel, den Tübinger Nebenabschied, auf den sich gleichen Tags der Herzog und die Landschaft einigten. 22 Vgl. Homepage des Landes Baden-Württemberg, https://www.baden-wuerttemberg. de/de/unser-land/verfassungsorgane/landtag/. 17

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Die Steuererhebung war der Mitsprache der Stände geöffnet; sie erfolgte von nun an über nahezu 300 Jahre nicht durch kameralistischen Akt der herzoglichen Verwaltung, sondern durch Beschlussfassung der Landtage. Den Landständen wurden weitere grundsätzliche Mitwirkungsrechte zugestanden: Beim Kriegswesen, der Landesverteidigung und bei Eingriffen in die territoriale Integrität des Landes.23 Dem „gemain Mann“ wurde (in Art. III) durch Aufhebung der grundherrlichen Wegzugsteuer „freyer Zug“, freie Ausreise, gesichert, ein entscheidender Schritt zur Abschaffung der Leibeigenschaft.24 Die Gewährung eines „ordentlichen“ Gerichtsverfahrens allerdings war ambivalent: Sie galt zum einen nur für das „peinliche“, mit Folter verbundene Verfahren, zum anderen stand diese Justizgewährung Seit‘ an Seite mit der „Empörungsklausel“:25 Wer „ufflauf und Empörung“ gegen die Obrigkeit unternehme, der sei „niderzutrucken“ und habe bei besonderem Ungehorsam „syn lyb und leben verwürckt“.26 Ein Freiheitsbrief für den gemeinen Mann war der Tübinger Vertrag also nicht. Aber er schrieb über Jahrhunderte, bis in das Jahr 1805, die Freiheiten und gewaltenteilenden Mitwirkungsrechte vor allem der Bürgerschaft fest, die aufzugeben sich Herzog Ulrich durch Aufstand und Geldnot genötigt sah. So war der kaiserliche Schiedsspruch Grundstein kommender, auch demokratischer Verfassungen. Keine Magna Carta Württembergs zwar, aber gewiss auch kein „Schandwerk“, das eine blutige Spur durch die Landesgeschichte gezogen habe.27

*** Seinen Sitz in der Hofgerichtsstube im prächtigen Rathaus zu Tübingen, verdankt das Gericht also zuvörderst der Bereitwilligkeit der Stadt, den Herzog in den Händeln um den Armen Konrad mit Waffen zu unterstützen wie auch der Geschicklichkeit des Tübinger Vogtes Breuning, flugs die landständische Versammlung zur Beilegung des Aufruhrs durch Verhandlung des Tübinger Vertrags im Sommer 1514 in Tübingen zu organisieren. Da nun das Hofgericht zu Tübingen saß und tagte, lag es nahe, sich der dortigen fachlichen Quellen zu bedienen, die als „Doctores und Regenten“ zahlreich an der wenige Jahre zuvor gegründeten Universität versammelt waren.28 Solche Nebenpflichten der Professoren waren eine Ehre, wie der mit der Aufgabe verbundene Honorartitel „Württembergischer Rat“ bezeugt.29 Sie waren allerdings auch Last, kosteten Zeit und veranlassten den Senat der Universität schon bald, Klage beim Herzog darüber zu führen, 23 Tübinger Vertrag, Art. II, abgedruckt unter http://www.verfassungen.de/bw/ wuerttemberg/verf1514.htm. 24 Schmauder a.a.O., S. 173. 25 Adriani a.a.O., S. 157. 26 Tübinger Vertrag, Art. IV, a.a.O. 27 So aber Haasis Reutlinger Generalanzeiger v. 7.6.2014. 28 Vgl. Thümmel, Hans-Wolf Die Tübinger Universitätsverfassung im Zeitalter des Absolutismus, Contubernium Bd. 7, S. 200. 29 Vgl. Thümmel a.a.O., S. 200.

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dass die Tübinger Juristen durch richterliche Nebentätigkeiten an der ihnen obliegenden Lehrtätigkeit gehindert seien.30 Verschärft wurde die empfundene Last durch den demotivierenden Umstand, dass die Richterdienste ohne Salär zu erbringen und die Professoren obendrein noch gehindert waren, ihre Einnahmen durch Rechtsberatung zu verbessern, wenn die Gefahr zukünftiger Konflikte bestand, weil der Fall in die Zuständigkeit des Hofgerichts gelangen könnte. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts dauerte die karge Zeit. Dann erst setzte sich die Übung fest, wenigstens den gelehrten professoralen Beisitzern auf Antrag eine Zulage von zwei Eimern Tübinger Wein und zehn Scheffel Dinkel zu gewähren.31 Im 17. und 18. Jahrhundert wendete sich ohnehin manches zum Besseren: Der richterliche Dienst beim Hofgericht wurde von den Tübinger Professoren nicht mehr als unangenehme Bürde, sondern als Privileg verstanden, nicht nur, weil die zeitliche Belastung von vier auf eine jährliche Sitzungsperiode reduziert wurde, sondern auch, weil statt fünf wie vormals nun nur mehr ein oder zwei Professoren Richterdienst versahen, darunter meist der Dekan als der Senior der Fakultät.32 Auch erhielten die gelehrten Beisitzer eine Besoldung; die ungelehrten Assessoren hatten sich allerdings mit Sitzungsgeldern zu begnügen.33 1805 wurde das Hofgericht zu Tübingen durch Kurfürst Friedrich II nach mehr als drei Jahrhunderten aufgelöst und durch ein ständig tagendes Oberappellationsgericht, das „Kurfürstliche Ober-, Hof- und Appellationsgericht“ ersetzt – eine Folge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803, der auch das Ende der Geltung des Tübinger Vertrages bewirkte. Kurfürst Friedrich II, ab 1806 als Friedrich I König von Württemberg, ob seiner gewaltigen Leibesfülle der Dicke Friedrich genannt, nutzte diese Umbrüche, um mit autoritärer Hand die hergebrachte landständische Verfassung durch absolutistische Strukturen zu ersetzen. Indes: Die gelehrsame Mitwirkung Tübinger Professoren, zu denen der Jubilar zählt, an der Rechtsprechung des Obersten Württembergischen Gerichts, heute des OLG Stuttgart, hat sich bis heute als gegenseitige Befruchtung erhalten und wird wie fast seit je als „große Ehre und Anerkennung“ empfunden.34

30 Vgl. Thümmel a.a.O., m.w.N.; allerdings waren solche richterlichen Nebentätigkeiten an den Hofgerichten anderer Territorien durchaus ebenfalls üblich, vgl. Knapp a.a.O., Fn. 37.6. 31 Vgl. Knapp a.a.O., Fn. 53.1. 32 Thümmel a.a.O., S. 201. 33 Einzelheiten bei Knapp a.a.O., Fn. 53.1. 34 Vgl. Pressemitteilung der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zur Ernennung Prof. Gebauers als Richter, 2014.

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II. Hofgericht und Schiedsgerichtsbarkeit Da nun der Jubilar, Roderich Thümmel, als Schiedsrichter hervorgetreten und viel beschäftigt ist, liegt die Frage nahe, wie weit – und ob überhaupt – das Hofgericht zu Tübingen in Schiedsverfahren angegangen wurde, ob also ein Tübinger Professor vom 16. bis anfangs des 19. Jahrhunderts als Beisitzer des Hofgerichts mit Schiedsverfahren befasst sein konnte. Im ersten Teil des Allgemeinen Landrechts vom 8. Juli 1555, „vom Gerichtlichen Proceß“, findet sich nichts zur Schiedsgerichtsbarkeit, insbesondere auch nicht in dem Titel, welcher die nicht appellationsfähigen Sachen aufführt. Auch die „gemehrte Hoffgerichtsordnung“ von 1587 schweigt konsequenterweise. Anders dann im „Erneuerten Gemeinen Landrecht“ vom 10. August 1610. Dort findet sich im Titel LXX des I. Theils die Kategorie der „Sachen“, in denen „nicht möge appeliert werden“. Vor über 400 Jahren schon ist hier, im württembergischen Gemeinen Landrecht, der in § 1059 ZPO wiedergegebene Grundsatz postuliert, eine Anrufung staatlicher Gerichte gegen Entscheidungen eines Schiedsgerichts sei ausgeschlossen, es sei denn, der Appellant mache gravierendste Rechtsverstöße des Schiedsgerichts geltend: „Vom Ausspruch der erkießten Schiedsrichter soll auch kein Reduction statthaben. Es wäre denn daß jemand dardurch enormissime, und zum höchsten laedirt und vernachtheilt worden.“35

Streitig ist, ob die erwähnte Reduction eine Zurückverweisung ad arbitrium boni viri meint, oder aber das Rechtsmittel der eigentlichen Appellation.36 Von einer Appellation könne, so v. Hufnagel unter Berufung auf andere, schon deswegen keine Rede sein, weil der Schiedsrichter „keine Instanz bilde“.37 Ob Reduction oder Appellation: Zulässig und gegebenenfalls begründet ist das ausnahmsweise Rechtsmittel gegen schiedsrichterliche Entscheidungen nur bei laesiones enormissimae, bei Nichtachtung fundamentaler Rechtsgrundsätze. Dazu zählte schon im Gemeinen Landrecht, wie noch heute, die fehlende Schiedsfähigkeit der Sache, eine fehlende oder in ihren Grenzen verletzte Schiedsklausel oder ein grob ungerechtes Verhalten eines Schiedsrichters gegenüber einer Partei (wegen Bestechung und Feindschaft beispielsweise).38 35

Gemeines Landrecht Württemberg, 1610, Theil I, Titel LXX, Abs. 12. Vgl. v. Hufnagel Monatsschrift für die Justiz-Pflege in Württemberg, Ludwigsburg 1837, S. 447. 37 Vgl. v. Hufnagel a.a.O. 38 Vgl. Scheurlen Der teutsche gemeine und württembergische Civilprocess, Tübingen 1836, S. 301 m.w.N. 36

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In ebenfalls erstaunlichem Gleichklang mit dem heutigen, weitgehend auf dem UNCITRAL Model Law aufbauenden 10. Buch der ZPO gestattet das Gemeine Landrecht Württembergs seit Jahrhunderten nicht nur den Zugang zu Schiedsgerichten als gleichwertiger Rechtsschutzadresse in privatrechtlichen Angelegenheiten. Es gibt darüber hinaus die Beachtung von Mindeststandards vor, die aus heutiger Sicht Verfassungskonformität gewährleisten – ein Maßstab, der anfangs des 17. Jahrhunderts in Württemberg ansonsten allenfalls an die im Tübinger Vertrag und im Allgemeinen Landrecht rudimentär geschriebenen Freiheits- und Mitwirkungsrechte der Landstände und der Gemeinen anzulegen war. Die Freiwilligkeit des „Kompromisses“, Schiedsgerichte als Surrogat für die ordentliche Gerichtsbarkeit zu vereinbaren39 gehört zu diesem Fundamentalkatalog ebenso, wie die Unparteilichkeit der Schiedsrichter und die Beachtung fundamentaler Rechtsprinzipien des Verfahrens, die Gleichbehandlung der Parteien etwa und die Gewährung rechtlichen Gehörs. Werden diese Rechte einer Schiedspartei lädiert, und zwar enormissime, stand der verletzten Partei nach den Regeln des Gemeinen Landrechts des Herzogtums Württemberg40 ausnahmsweise der Weg zum Hofgericht als dem Obersten Appellationsgericht des Landes offen, ein Weg, der noch heute gemäß §§ 1059, 1062 ZPO offengehalten ist.

III. Zusammenfassung Der Sitz des Württembergischen Hofgerichts in Tübingen, der Aufstand des „Armen Konrad“ im Remstal, gegen die Gräfliche Obrigkeit in Stuttgart gerichtet, der Tübinger Vertrag und die von Eberhard, dem Grafen im Barte 1477 gegründete Tübinger Universität stehen in einem geschichtlichen Zusammenhang: Ausgepresst durch die maßlosen, von Herzog Ulrich zur Finanzierung großmannsüchtigen Lebenswandels und unsinniger Kriegszüge erhobenen Abgaben, gebeutelt durch mehrere Missernten und empört durch den Entzug tradierter Rechte des Einzelnen und der Kommunen formierte sich im Jahre 1513 im Remstal unter dem Namen „Armer Konrad“ ein Bündnis aus Bauern, Winzern und Bürgern württembergischer Landstädte. Der vom Armen Konrad getragene Aufruhr breitete sich rasch auf andere Landesteile aus und zwang den Herzog, dem angesichts seiner immensen Verschuldung kaum kampfbereite Söldner zur Verfügung standen, zu Zugeständnissen, die in Tübingen verhandelt und im Tübinger Vertrag niedergeschrieben wurden. In diesem Vertrag, einem ersten verfassungsähnlichen Dokument in 39 40

V. Hufnagel a.a.O., S. 448. A.a.O. (Fn. 35), Titel 70.

Der Arme Konrad, das Württembergische Hofgericht zu Tübingen

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Württemberg, wurden die Schulden des Herzogs durch die Landstände übernommen im Austausch gegen die seinerzeit revolutionäre Gewährung von Freizügigkeit für alle Untertanen, die demokratiestiftende Mitsprache der Landstände bei der Steuererhebung und die Zusicherung ordentlicher Gerichtsverfahren. Der Stadt Tübingen wiederum gewährte der Herzog das permanente Privileg, das Württembergische Hofgericht als oberstes Appellationsgericht des Landes in seinen Mauern, konkreter: in der Gerichtsstube im Rathaus, tagen zu lassen. Grund für dieses vornehme und mit wachsamem Eifer verteidigte Privileg41 war ein dreifacher: Zum einen hatten die Tübinger den Herzog mit 500 Reisigen im Kampf gegen den Armen Konrad unterstützt. Zum anderen war Tübingen unter seinem rührigen Vogt Konrad Breuning bereit, im Juni 1514 den Landtag zur Beilegung des Aufruhrs zu organisieren (und die Verhandlungen so von den überwiegend in Stuttgart versammelten, unerwünschten Vertretern des Gemeinen Mannes fernzuhalten). Und zum dritten war es Recht und Pflicht der 1477 gegründeten Eberhard-Karls-Universität, juristisch gelehrte Mitglieder des Hofgerichts zu stellen; Professor Thümmel wäre wohl, anderen bedeutenden Rechtslehrern gleich, auf die Richterbank berufen oder befohlen worden. Das Hofgericht verfuhr nach der Hofgerichtsordnung, deren vierte, ausführlich überarbeitete Fassung im Jahre 1587 erschien, und urteilte auf der Grundlage des württembergischen Gemeinen Landrechts. Schiedsgerichte waren grundsätzlich zugelassen, Rechtmittel gegen deren Urteile prinzipiell ausgeschlossen. Demnach hätte sich ein Tübinger Professor Thümmel auch im 17. Jahrhundert als Schiedsrichter bestens zurechtgefunden. Denn wie noch heute so war auch schon nach dem erneuerten Gemeinen Landrecht Württembergs von 1610 gegen Schiedsurteile ausnahmsweise der Gang zum staatlichen Gericht zugelassen, wenn durch das Schiedsgericht die grundlegenden Rechte einer Partei enormissime laediert worden waren. Die Achtung dieser grundlegenden Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit gewährleistete das Hofgericht zu Tübingen und das Württembergische Gemeine Landrecht ebenso, wie Jahrhunderte später dieser Mindeststandard an Gerechtigkeit durch das weitgehend dem Model Law der UNCITRAL entsprechende 10. Buch der ZPO von Staats wegen gesichert ist. Zu vermerken bleibt: Ein erstes, Grundrechte sicherndes und Mitwirkungsrechte der Untertanen gewährendes, rudimentäres Verfassungsdokument, der Tübinger Vertrag, entstand 1514, vor über 500 Jahren in Tübingen. Das daraufhin permanent in Tübingen ansässig gewordene Hofgericht akzeptierte die Schiedsgerichtsbarkeit als alternative Streitlösungsinstanz; seine Zuständigkeit als oberstes württembergisches Appellationsge41

Knapp a.a.O., S. 6.

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Klaus-A. Gerstenmaier

richt war in Schiedssachen aber auf Fälle ernsthaftester Verletzung grundlegender Rechte der Parteien beschränkt. Dieses historische Zuständigkeitsgefüge ist auf uns gekommen und dem modernen Juristen nicht fremd. Roderich Thümmel hätte sich als Schiedsrichter im 16. Jahrhundert ebenso wohl gefühlt wie als Richter des Hofgerichts zu Tübingen.

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Die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats Die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats Wolfgang Grobecker und Jasmin Wagner

Die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats WOLFGANG GROBECKER

UND

I. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . II. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Literatur und frühere Rechtsprechung 2. Aktuelle Rechtsprechung . . . . . . . . . III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . .

JASMIN WAGNER

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I. Ausgangspunkt Der zu Ehrende beschäftigt sich in seiner Praxis regelmäßig mit der aktienrechtlichen Vorstandshaftung und ihrer Regulierung durch D&OVersicherer. Nicht selten spielt dabei eine Rolle, inwieweit auch der Aufsichtsrat in das Vorstandshandeln oder -unterlassen eingebunden war. Bekanntlich wird eine Ersatzpflicht des Vorstands bei pflichtwidrigem Handeln nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Aufsichtsrat die Handlung gebilligt hat, § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG. Was aber gilt, wenn der Vorstand einen satzungsmäßigen Zustimmungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zugunsten des Aufsichtsrats nicht beachtet hat und in der Folge ein Schaden aus dem vom Aufsichtsrat nicht genehmigten Rechtsgeschäft entstanden ist? Kann sich der Vorstand darauf berufen, dass der Aufsichtsrat dem Geschäft zugestimmt hätte, wenn der Vorstand ihn gefragt hätte und der Schaden daher ebenso eingetreten wäre?

II. Meinungsstand 1. Literatur und frühere Rechtsprechung In der Literatur wurde die Frage, ob sich der Vorstand, wenn er einen Zustimmungsvorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG nicht beachtet hat, auf die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats berufen kann, bislang kontrovers diskutiert. Mehrheitlich wurde bisher die Ansicht vertreten, dass dies nicht möglich sei. Anderenfalls würde die Präventionsfunktion des Zustimmungsvorbe-

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Wolfgang Grobecker und Jasmin Wagner

halts vereitelt: Der Vorstand könnte bewusst das Verfahren gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG überspringen, weil er davon ausgehe oder jedenfalls hoffe, nachträglich die hypothetische Zustimmung durch den Aufsichtsrat darlegen zu können. Ferner würde der Schutzzweck des Zustimmungsvorbehalts – Überwachungserleichterung und Verhinderung von Überraschungen – unterlaufen.1 Diese Argumente, so die bislang überwiegende Ansicht, müssten umso mehr gelten, wenn dem Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung, ob er dem Vorstandshandeln zustimmen wolle oder nicht, ein Beurteilungsspielraum zukomme.2 Anderer Auffassung nach sollte sich ein Vorstand bei einem Verstoß gegen § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG auf die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats und damit den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens berufen können. Als Argument für die Zulässigkeit eines solchen Einwands wird auf das Wesen der Vorstandshaftung verwiesen: Die Vorstandshaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG sei eine Regelung des Schadensersatzrechts und keine Sanktionsnorm gegen eine Missachtung innergesellschaftlicher Kompetenzvorschriften.3 Eine „Bestrafung“ für Verstöße gegen Kompetenzregeln sei dem deutschen Schadensersatzrecht fremd.4 Darüber hinaus müsse der Vorstand beweisen, dass der entstandene Schaden auch bei Einhaltung der gesellschaftsinternen Kompetenzordnung eingetreten wäre.5 Die ältere ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung verwehrte sowohl einem Geschäftsführer als auch einem Aufsichtsratsmitglied den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens kraft hypothetischer Zustimmung, weil anderenfalls die Mitwirkungsrechte der Gesellschafter in unzulässiger Weise unterlaufen würden.6 In Urteilen aus den Jahren 2006 und 2008 wies der BGH demgegenüber darauf hin, dass ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung nicht per se zu einem Schaden der Gesellschaft führe. Daher begründe auch eine Eigengehaltsauszahlung eines Geschäftsführers nur dann einen Schadensersatzanspruch, wenn die Höhe des Gehalts ungerechtfertigt sei.7 Des Weiteren entschied der BGH im Jahr 2013 zur GmbH & Co. KG, dass eine pflichtwidrige haftungsbegründende Handlung regelmäßig nicht Krieger/Sailer-Coceani, Schmidt/Lutter, AktG, 3. Auflage 2015, § 93 Rz. 40; Mertens/ Cahn, KK-AktG, 3. Auflage 2010, § 93 Rz. 55; Spindler, MünchKomm-AktG, 5. Auflage 2019, § 93 Rz. 196; Hopt/Roth, GK-AktG, 5. Auflage 2015, § 93 Rz. 416. 2 Spindler, MünchKomm-AktG, 5. Auflage 2019, § 93 Rz. 196. 3 Haarmann, FS für R. Marsch-Barner, 2018, 183, 198. 4 Koch, Hüffer/Koch, AktG, 14. Auflage 2020, § 93 Rz. 50; Koch, FS für Köndgen 2016, 329, 340 f. 5 Fleischer, DStR 2009, 1204, 1208 f.; Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115, 2117 f. 6 BGH v. 25.2.1991 – II ZR 76/90, ZIP 1991, 509; BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653; OLG Koblenz v. 24.9.2007 - 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 02728. 7 BGH v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, ZIP 2007, 268; BGH v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818. 1

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angenommen werden könne, wenn davon auszugehen sei, dass sämtliche Gesellschafter der KG mit dem Handeln des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH einverstanden gewesen wären.8 2. Aktuelle Rechtsprechung In seinem Urteil vom 10. Juli 2018 hat der BGH entschieden, dass sich der Vorstand im Grundsatz auf den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens und damit der hypothetischen Zustimmung des Aufsichtsrats berufen kann.9 Im zugrundeliegenden Sachverhalt bedurfte der Vorstand nach der Satzung der Gesellschaft für die Ausführung von Bauten und Neuanschaffungen von über EUR 200.000 der Zustimmung des Aufsichtsrats. Die Aktiengesellschaft beabsichtigte, einen Gebäudekomplex, bestehend aus Schloss, Wirtschaftshof und Nebengebäuden, zu erwerben und nach der Renovierung zu vermarkten. Der Vorstand legte dem Aufsichtsrat einen Kostenvoranschlag für die Sanierung des Gebäudekomplexes in Höhe von ca. EUR 4 Mio. sowie ein Konzept für die Vermarktung nach Sanierung zur Zustimmung vor. Der Aufsichtsrat erteilte seine Zustimmung. Später stellte sich heraus, dass die zu erwartenden Sanierungskosten erheblich höher sein würden. Die Kosten allein für die Sanierung des Wirtschaftshofs wurden nun auf ca. EUR 6,4 Mio. geschätzt. Dessen bewusst und ohne es dem Aufsichtsrat erneut vorzulegen, schloss der Vorstand im Namen der Gesellschaft einen Erbbaurechtsvertrag auf die Dauer von 50 Jahren. In der Folgezeit wurde lediglich das Schloss saniert, eine Vermarktung des unsanierten Wirtschaftshofs gelang nicht. Sowohl das OLG Düsseldorf als auch der BGH sind davon ausgegangen, dass der Vorstand verpflichtet war, vor Abschluss des Erbbaurechtsvertrags einen neuen Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats einzuholen, nachdem der Vorstand Kenntnis von der erheblichen Kostensteigerung erlangt hatte. Anders als die Vorinstanz des OLG Düsseldorf urteilte der BGH aber, dass der Vorstand die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats als Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens geltend machen könne. Folgende Ausführungen des BGH sind dabei besonders hervorzuheben und näher zu betrachten: a) Zulässigkeit des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens Der BGH verweist in seinem Urteil aus 2018 zunächst auf seine Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Einwands pflichtgemäßen Alternativverhaltens zugunsten eines Komplementär-Geschäftsführers einer 8 9

BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712. BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923.

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Wolfgang Grobecker und Jasmin Wagner

GmbH & Co. KG und kommt zu dem Schluss, dass das nun maßgebliche Zustimmungserfordernis des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG keine Besonderheiten aufweise, die einer Übertragung auf die Konstellation in der Aktiengesellschaft entgegenstünden.10 In dem vom BGH zitieren Fall aus dem Jahr 201311 schloss ein Komplementär-Geschäftsführer im Namen der Kommanditgesellschaft mit einer Rechtsanwaltssozietät einen Vertrag über die Erbringung von Beratungsdienstleistungen sowie eine gesonderte Honorarvereinbarung. In der Honorarvereinbarung vereinbarte der Komplementär-Geschäftsführer ein Pauschalhonorar, das die gesetzlichen Gebühren überschritt. Deshalb und aus weiteren Gründen verlangte der spätere Insolvenzverwalter der Kommanditgesellschaft vom Komplementär-Geschäftsführer Schadensersatz gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG. Der BGH entschied, dass die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten, nämlich dass sämtliche Gesellschafter mit der Vergütungsgestaltung einverstanden gewesen wären, relevant und von dem Berufungsgericht zu Unrecht nicht berücksichtigt worden sei. Liege ein – auch als stillschweigend erteilt denkbares – Einverständnis aller Gesellschafter vor, stelle das Handeln des Geschäftsführers keine haftungsbegründende Pflichtverletzung im Sinne von § 43 Abs. 2 GmbHG dar, solange kein Fall des § 43 Abs. 3 GmbHG oder der Existenzvernichtung vorliege.12 Der Entscheidung des BGH lag die Erwägung zugrunde, dass der Wille der GmbH durch ihre Gesellschafter gebildet wird und ein hiermit konformes Verhalten des Geschäftsführers keine zum Schadensersatz führende Pflichtverletzung gegenüber der GmbH darstellen kann.13 Der Haftungsausschluss bei Handeln mit Einverständnis aller Gesellschafter wird darüber hinaus mit der Weisungsgebundenheit des Geschäftsführers gemäß § 37 Abs. 1 GmbHG begründet.14 Diese Argumentation überzeugt im Hinblick auf den Zustimmungsvorbehalt des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zugunsten des Aufsichtsrats jedoch nicht ohne Weiteres: Anders als die Geschäftsführung ist der Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht weisungsgebunden, sondern leitet die Aktiengesellschaft in eigener Verantwortung, § 76 AktG. Der Vorstand ist lediglich gemäß § 83 Abs. 2 AktG verpflichtet, von der Hauptversammlung beschlossene Maßnahmen zur Durchführung zu bringen; im Gegenzug ist er aufgrund des zustim10

BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 43. BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11; ZIP 2013, 1712. 12 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11 Rz. 31 ff. 13 Fleischer, MünchKomm-GmbHG, 3. Auflage 2019, § 43 Rz. 275; Beurskens, Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Auflage 2019, § 43 Rz. 33. 14 Fleischer, MünchKomm-GmbHG, 3. Auflage 2019, § 43 Rz. 275; Beurskens, Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Auflage 2019, § 43 Rz. 33. 11

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menden Hauptversammlungsbeschlusses gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG von Haftung freigestellt.15 In seinem Urteil aus dem Jahr 2018 stellt der BGH fest, dass die Handlung des Vorstands gerade deshalb nicht auf einem gesetzmäßigen Beschluss beruhe, weil es an einem förmlichen Beschluss der Hauptversammlung fehle; Meinungsäußerungen einzelner Aktionäre oder die konkludente Einwilligung der Hauptversammlung genügten für den Haftungsausschluss gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG nicht.16 Darüber hinaus stellt der BGH nicht auf die hypothetische Zustimmung der Hauptsammlung als Vermögensträger der Aktiengesellschaft, sondern auf die des Aufsichtsrats ab. Die Billigung einer Handlung durch den Aufsichtsrat reicht im Aktienrecht aber gerade nicht aus, um die Ersatzpflicht des Vorstands auszuschließen, § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG. b) Rechtmäßiges Alternativverhalten bei unternehmerischem Handlungsspielraum des Aufsichtsrats Der BGH führt in seinem Urteil vom 10. Juli 2018 weiter aus, dass der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht deshalb ausscheide, weil dem Aufsichtsrat ein unternehmerischer Handlungsspielraum zustehe, wenn er über die Erteilung der Einwilligung zu einem Geschäft entscheide. Der Aufsichtsrat könne – als Kontrollorgan des Vorstands – eine andere geschäftspolitische Auffassung als der Vorstand vertreten.17 Nur wenn sich der bestehende Handlungsspielraum zu einer Handlungspflicht verenge, sei der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zwingend zuzulassen oder von vornherein abzulehnen. Dies bedeutet: Hätte der Aufsichtsrat bei pflichtgemäßem Verhalten aus einer Ex-ante-Perspektive seine Einwilligung erteilen müssen, hafte der Vorstand nicht für den Kompetenzverstoß, weil in diesem Fall der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens stets Erfolg habe.18 Sei die Einwilligung des Aufsichtsrats dagegen aus einer Ex-antePerspektive per se pflichtwidrig (etwa wenn die zustimmungspflichtige Maßnahme gegen Gesetz oder Satzung verstoße oder zu einem vom unternehmerischen Handlungsspielraum nicht mehr gedeckten Schaden der Gesellschaft führe), könne sich der Vorstand nicht mit der hypothetischen Zustimmung des Aufsichtsrats entlasten.19 Diese Ausführungen des BGH überzeugen. So scheidet beispielsweise auch im Arzthaftungsrecht eine Ersatzpflicht des behandelnden Arztes aus, 15 Bürgers, Bürgers/Körber, AktG, 4. Auflage 2017, § 93 Rz. 32; Fleischer, Spindler/ Stilz, AktG, 3. Auflage 2015, § 93 Rz. 265. 16 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 26 ff.; ausführlich hierzu: Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 203. 17 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 50. 18 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 51. 19 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 52.

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wenn dieser nachweisen kann, dass der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Operation eingewilligt und somit derselbe Schaden eingetreten wäre, § 630h Abs. 2 Satz 2 BGB. Die bestehende Entscheidungsfreiheit des Patienten schließt in diesem Fall den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens gerade nicht aus. c) Darlegungs- und Beweislast Der BGH betont, dass dem Vorstand für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens die volle Darlegungs- und Beweislast obliege. Eine Entlastung gelinge nur, wenn der Vorstand nachweisen könne, dass der Aufsichtsrat der Maßnahme zumindest per Mehrheitsbeschluss zugestimmt hätte und der Schaden genauso eingetreten wäre. Es reiche nicht aus, nur die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Zustimmung darzulegen. Gelinge dem Vorstand jedoch der Nachweis, dass der Aufsichtsrat bei Beachtung der Vorlagepflicht zugestimmt hätte, könne dem Vorstand der in Folge des Kompetenzverstoßes eingetretene Schaden nicht zugerechnet werden.20 Für die Praxis stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie der Vorstand einen solchen Nachweis erbringen kann. Zunächst könnte ein Vorstand die bisherige Entscheidungspraxis des Aufsichtsrats heranziehen. Dies setzt voraus, dass sich im Hinblick auf die zustimmungspflichtige Maßnahme oder auf vergleichbare Maßnahmen bereits eine Entscheidungspraxis im Aufsichtsrat etabliert hat.21 Hierbei ist jedoch davon auszugehen, dass es sich bei den meisten Zustimmungsbeschlüssen um Einzelfallentscheidungen handelt, die von den konkreten Umständen abhängen und nicht ohne Weiteres beliebig auf Folgeentscheidungen übertragbar sind.22 Alternativ könnte die gerichtliche Einvernahme der Aufsichtsratsmitglieder Aufschluss darüber geben, ob die Mehrheit von ihnen eingewilligt hätte. Da der Aufsichtsrat die Gesellschaft gegenüber Vorständen gemäß § 112 Satz 1 AktG vertritt, kommt hierfür eine Vernehmung entsprechend § 445 Abs. 1 ZPO in Betracht. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Aufsichtsratsmitglieder zuverlässig zu beurteilen, dürfte für die Gerichte aber nicht leicht sein. So liegt es nahe, dass die Aufsichtsratsmitglieder in Kenntnis des eingetretenen Schadens in jedem Fall aussagen werden, dass sie der Maßnahme nicht zugestimmt hätten, wenn sie ihnen vorab vorgelegt worden wäre.23 Aus diesem Grund lehnen Stimmen in Rechtsprechung und Literatur die Vernehmung der Aufsichtsratsmitglieder von vornherein ab, weil 20 21 22 23

BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17 Rz. 45. Koch, FS für J. Köndgen, 2016, 329, 343. So auch Koch, FS für J. Köndgen, 2016, 329, 343 für kursrelevante Ereignisse. Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209; Koch, FS für J. Köndgen, 2016, 329, 343 f.

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die frühere hypothetische Entscheidungssituation für die Aufsichtsratsmitglieder bei dem nunmehr vorhandenen Wissenstand nicht mehr rekonstruierbar sei.24 Angesichts dieser Beweisschwierigkeiten wird in Literatur und Rechtsprechung vorgeschlagen, stattdessen auf das Stimmverhalten eines verantwortungsvoll handelnden Aufsichtsratsmitglieds abzustellen.25 Bei unternehmerischen Entscheidungen würde dies allerdings das Ergebnis vollständig von der Vorstellung des Richters von verantwortlich handelnden Aufsichtsratsmitgliedern abhängig machen.

III. Stellungnahme Auch wenn die Argumentation des BGH wie dargelegt nicht in sämtlichen Einzelheiten überzeugt, ist der Entscheidung im Grundsatz zuzustimmen. Die Argumente, die bislang gegen die Zulässigkeit des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens vorgebracht wurden, überzeugen nicht. Die Zulässigkeit des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens entwertet nicht den Schutzzweck des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG. Denn der Vorstand muss beweisen, dass der Aufsichtsrat auf jeden Fall seine Einwilligung zu der in Rede stehenden Maßnahme erteilt hätte. Für den Vorstand empfiehlt es sich daher, sämtliche Umstände und Tatsachen, die für die Erteilung einer Zustimmung durch den Aufsichtsrat sprechen, sorgfältig zu dokumentieren. Auch kann der Vorstand nach der neuen Rechtsprechung des BGH nicht sorglos mit Zustimmungspflichten des Aufsichtsrats umgehen. Unterlässt der Vorstand die Vorlage bewusst in der Hoffnung auf eine spätere Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten, verletzt er damit dennoch vorsätzlich die Kompetenzordnung der Gesellschaft. Eine solche Nichtbeachtung des Zustimmungsvorbehalts dürfte zumindest dazu führen, dass der Vorstand insoweit seinen Versicherungsschutz verliert. Obwohl die am Markt angebotenen D&O-Versicherungen nicht einheitlich ausgestaltet sind, ist der Versicherungsschutz bei Vorsatz in aller Regel ausgeschlossen.26 Vorsatz im vorgenannten Sinne erfordert allein das Wissen und Wollen der 24 OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03; ZIP 2006, 2087; ZIP 2007, 1320; Böttcher, NZG 2007, 481, 485. 25 OLG Oldenburg v. 22.6.2006 – 1 U 34/03; ZIP 2006, 2087; ZIP 2007, 1320; Böttcher, NZG 2007, 481, 485; Fleischer, Spindler/Stilz, AktG, 3. Auflage 2015, § 93 Rn. 216; Fleischer, DStR 2009, 1204, 1209; Koch, FS für J. Köndgen, 2016, 329, 344. 26 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Auflage 2016, Rz. 473.

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Pflichtverletzung. Der Eintritt des Schadens muss nach den gängigen Versicherungsbedingungen dagegen nicht vom Vorsatz umfasst sein.27 Vor dem Hintergrund, dass der Aufsichtsrat nur in den recht strikten Grenzen der „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung davon absehen darf, Organhaftungsansprüche zu verfolgen, geht der Vorstand ein im Zweifel erhebliches und unversichertes Haftungsrisiko ein, wenn er bewusst von einer Vorlage an den Aufsichtsrat absieht. Die vom BGH formulierten Anforderungen an die Zulässigkeit des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens eröffnen dem Vorstand daher zwar eine Verteidigungslinie, verleihen ihm aber keinen Freifahrtschein für bewusste Kompetenzverstöße.

neue rechte Seite! 27 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Auflage 2016, Rz. 473.

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Die Erstattungsfähigkeit externer Sachverständiger Die Erstattungsfähigkeit externer Sachverständiger Wilhelm Haarmann

Die Erstattungsfähigkeit der durch die Hinzuziehung externer Sachverständiger entstehenden Kosten für einzelne Mitglieder oder eine Gruppe von Mitgliedern des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft WILHELM HAARMANN

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erstattungsfähigkeit dem Grunde nach . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzliche Voraussetzungen des § 670 BGB . . . . . . . . . III. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zustimmung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anspruchsgegner und Beurteilung der Erstattungsfähigkeit 5. Annexfrage: Die Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der vom Verfasser sehr geschätzte Jubilar und Empfänger dieser Festschrift ist dem Verfasser in zwei juristischen Fachgebieten besonders aufgefallen, dem Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit sowie dem Bereich des Gesellschaftsrechts mit dem besonderen Fokus auf die Organe der Aktiengesellschaft. Auch wenn die fachliche Berührung des Verfassers mit dem Jubilar auf dem Gebiet der Schiedsgerichtsbarkeit war, hat sich der Verfasser entschieden, einen dem Jubilar gewidmeten Aufsatz aus dem Bereich des Aktienrechts zu schreiben. Konkret geht es um die Hinzuziehung von Sachverständigen durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder oder eine Gruppe von Aufsichtsratsmitgliedern. Das heißt, der Sachverständige wird nicht durch den Aufsichtsrat als Ganzes oder einen Ausschuss des Aufsichtsrats im Rahmen der ihm eingeräumten Kompetenzen hinzugezogen. Vielmehr hat ein Aufsichtsratsmitglied einen Sachverständigen hinzugezogen, oder mehrere Aufsichtsratsmitglieder haben einen Sachverständigen beauftragt.

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Wilhelm Haarmann

I. Einleitung Es ist eine zwar grundsätzlich, aber nicht im Detail vollkommen geklärte Frage, wann und unter welchen Umständen ein Aufsichtsrat oder eine Gruppe von Aufsichtsräten befugt ist, einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Dabei gilt es, den Grundsatz der höchstpersönlichen Amtswahrnehmung aus § 111 Abs. 6 AktG zu beachten. Ebenso ist die Verschwiegenheitspflicht eines jeden Aufsichtsratsmitglieds zu berücksichtigen. Der Bundesgerichtshof hat sich nur in zwei älteren Entscheidungen mit der Zulässigkeit der Hinzuziehung von Sachverständigen befasst. Das eine Urteil stammt aus dem Jahre 19751, das andere – das sog. Hertie-Urteil – aus dem Jahre 19822. Gerade das Hertie-Urteil wird bei dem Fragenkreis der Zulässigkeit der Beauftragung von externen Sachverständigen als Präzedenzfall angesehen. Die Literatur hat ihre Beurteilung infolge dieses Urteils nicht einheitlich vorgenommen. Vielmehr gibt es eine strenge Auffassung3, die eine Hinzuziehung von Sachverständigen nur in seltenen Ausnahmefällen für zulässig hält, während eine moderate Auffassung4 die Zulässigkeit anhand der Kriterien der Eigenverantwortlichkeit eines Aufsichtsratsmitglieds auf der einen und des Unternehmensinteresses auf der anderen Seite prüft. Es stellt sich auch die Frage, ob die Entwicklung des Organs des Aufsichtsrats von einem präventiven Überwachungsorgan zu einem mitverantwortlichen, mitentscheidenden und unternehmerisch handelnden Gesellschaftsorgan nicht zu einer gewissen Lockerung der Anforderungen an die Zulässigkeit der Bemühung externer Sachverständigen führt. Insbesondere in Themen, die die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern zur Folge haben können, muss die Heranziehung von Sachverständigen durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich gestattet sein, wenn die Verschwiegenheit gewährleistet ist und auf andere Art und Weise keine Sicherheit in der Entscheidungsfindung durch das Aufsichtsratsmitglied zu erreichen ist. Dieser Fragenkreis soll im Folgenden nicht weiter vertieft werden. Es soll davon ausgegangen werden, dass im konkreten Einzelfall die Hinzuziehung 1

BGH, Urteil vom 5.6.1975 – II ZR 156/73 = BGHZ 64, 325. BGH, Urteil vom 15.11.1982 – II ZR 27/82 = BGHZ 85, 293. 3 Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 113 Rn. 24; Fonk, NZG 2009, 761, 770; Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 567; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, Rn. 552; Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, § 33 Rn. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 845; Semler, in: FS Claussen, S. 381, 384. 4 Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar AktG, § 111 Rn. 63; Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 111 Rn. 749 ff.; Ulmer/Habersack, in; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 25 MitbestG Rn. 87; Köstler/Müller/Sick, Handbuch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, S. 440 Rn. 760; Schlitt, DB 2005, 2007, 2009; Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 494, 453; Säcker, in: FS Fischer S. 651 ff. 2

Die Erstattungsfähigkeit externer Sachverständiger

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eines Sachverständigen zulässig ist. Im Folgenden soll geprüft werden, wie und unter welchen Umständen die Kosten des Sachverständigen zu erstatten sind.

II. Erstattungsfähigkeit dem Grunde nach Ist die Hinzuziehung externer Sachverständiger grundsätzlich zulässig, stellt sich die Frage nach der Ersetzbarkeit der hierbei entstehenden Kosten. Systematisch sind die beiden Fragen der Zulässigkeit der Hinzuziehung und der Erstattbarkeit der Kosten voneinander getrennt: Während es bei der Zulässigkeit der Hinzuziehung darum geht, dass das Aufsichtsratsmitglied in diesen Fällen für seine eigentlich höchstpersönlichen Aufgaben entgegen der grundsätzlichen Regel Dritte hinzuziehen darf, ist es eine andere Frage, ob die Kosten hierfür von der Gesellschaft erstattet werden müssen.5 Die Kostenerstattung ist an die Zulässigkeit der Hinzuziehung gebunden.6 Es ist beispielsweise denkbar, dass die Zulässigkeit des externen Rats besteht, jedoch die Kosten außer Verhältnis zu dem zu erreichenden Ergebnis stehen. Auf eigene Kosten wird das Aufsichtsratsmitglied in einem solchen Fall den Sachverständigen bemühen dürfen. Ein Aufsichtsratsmitglied wird sein Recht auf Hinzuziehung eines externen Sachverständigen in der Regel nur dann effektiv ausüben können, wenn es sich über die Übernahme bzw. Erstattung der hierbei entstehenden Kosten durch die Gesellschaft einigermaßen sicher sein kann. Das Risiko, die Kosten selbst tragen zu müssen, oder auch nur um die Erstattung kämpfen zu müssen, bietet negative Anreize und könnte dazu führen, dass ein Aufsichtsratsmitglied Abstand von der Hinzuziehung eines Sachverständigen nimmt, sich somit nicht ausreichend informiert und seine Entscheidung dann auf einer unzureichenden Informationsgrundlage trifft.7 1. Anspruchsgrundlage Fraglich ist zunächst, welche Anspruchsgrundlage für den Ersatz der Kosten in Frage kommt. Hierbei werden in der Literatur verschiedene Ansichten vertreten. 5 Auf diese Weise differenzierend Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 845; Säcker, NJW 1979, 1521, 1526; ders., in: FS Fischer, 1979, S. 635, 641; Semler, in: FS Claussen, S. 381, 392; a.A. Mertens, in: Kölner Kommentar AktG, § 113 Rn. 10; z.T. wird die Ersetzbarkeit der Kosten und die Berechtigung auch einheitlich betrachtet, vgl. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 174 Fn. 112 m.w.N. 6 So auch Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 175. 7 Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 119.

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a) Satzungsregelung Als taugliche Anspruchsgrundlage eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds für den Ersatz von Kosten für externe Sachverständige kommt zunächst eine konkrete Regelung in der Satzung der jeweiligen Gesellschaft in Betracht. Eine solche Satzungsregelung wäre einschlägigen Rechtsnormen gegenüber grundsätzlich spezieller und somit vorrangig anzuwenden. In der Tat enthalten Satzungsregelungen über die Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern häufig den Zusatz, dass das einzelne Mitglied einen Anspruch auf Ersatz seiner Auslagen hat.8 Sofern nicht ausdrücklich geregelt, wäre eine solche Formulierung dahingehend auszulegen, dass die Auslagen angemessen und erforderlich sein müssen.9 b) § 109 Abs. 1 S. 2 AktG bzw. § 111 Abs. 2 S. 2 AktG Das Gesetz erlaubt dem Gesamtaufsichtsrat als Organ gem. § 111 Abs. 2 S. 2 AktG Sachverständige zu beauftragen bzw. nach § 109 Abs. 1 S. 2 AktG Sachverständige zur Beratung über einzelne Gegenstände hinzuzuziehen. Obwohl hier lediglich bestimmte Konstellationen geregelt werden, sind sich Rechtsprechung und Literatur darüber einig, dass die Zulässigkeit auch für sonstige Konstellationen gelten muss.10 Denn auch außerhalb der in den §§ 109 Abs. 1 S. 2, 111 Abs. 2 S. 2 AktG genannten Fälle bestehe der Bedarf nach externer Beratung. Selbst bei einem heterogen mit Fachleuten besetzten Aufsichtsrat reiche die eigene Fachkompetenz nicht immer aus.11 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Die benannten Normen regeln lediglich die Zulässigkeit der Hinzuziehung externer Sachverständiger in bestimmten Konstellationen durch den Aufsichtsrat. Die herrschende Meinung erweitert in diesem Zusammenhang lediglich den Anwendungsbereich für den Gesamtaufsichtsrat, nicht aber für einzelne Aufsichtsratsmitglieder. Die Hinzuziehung externer Berater außerhalb des direkten Anwendungsbereichs des § 111 Abs. 2 AktG sei ein Hilfsgeschäft zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des Gesamtaufsichtsrats. Für solche Hilfsgeschäfte sei der Aufsichtsrat im Sinne einer Annexkompetenz kraft Sachzusammenhang auch zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt. Ist ein Ausschuss für einen bestimmten Sachverhalt zuständig, könne auch dieser eine solche Annexkompetenz besitzen.12 8 Vgl. Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 18; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 119, Fn. 11. 9 Vgl. Fonk, NZG 2009, 761 f. 10 BGHZ 85, 293, 296 f.; Semler, in: Henze/Timm/Westermann, Gesellschaftsrecht, S. 217; Möllers, ZIP 1995, 1730; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 171. 11 Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 171. 12 Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 4, § 29 Rn. 49; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 111 Rn. 135, § 112 Rn. 4; Hopt/

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Kommt in einem solchen Fall dem Aufsichtsrat im Ganzen eine Befugnis zur Vertretung der Gesellschaft beim Abschluss des Vertrags mit einem Sachverständigen zu, stellt sich die Frage nach der Kostenerstattung nicht, da die Gesellschaft selbst Schuldnerin des Sachverständigen wird. Dies gilt aber ausschließlich für den Gesamtaufsichtsrat. Eine Vertretungsbefugnis des einzelnen Mitglieds wird in diesem Zusammenhang einheitlich abgelehnt. Eine Figur ähnlich der actio pro socio gibt es zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gesamtaufsichtsrat nicht. Folglich lässt sich aus § 109 Abs. 1 S. 2 AktG bzw. § 111 Abs. 2 S. 2 AktG auch keine Anspruchsgrundlage eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds für die Erstattung der Kosten entnehmen. c) Anspruch aus § 104 Abs. 7 S. 1 AktG analog Vereinzelt wird vertreten, dass sich der Aufwendungsersatzanspruch einzelner Aufsichtsratsmitglieder nach § 104 Abs. 7 S. 1 AktG analog richten müsse.13 Diese Norm regelt den Aufwendungsersatz für gerichtlich bestellte Aufsichtsratsmitglieder und sei daher spezieller als die Regelungen des bürgerlichen Rechts über den Ersatz von Aufwendungen.14 Argumentiert wird zudem, dass die Anforderungen an eine Analogie sowohl bei § 104 Abs. 7 S. 1 AktG, als auch bei §§ 670, 675 Abs. 1 BGB vorliegen, aufgrund der Spezialität des Aktienrechts aber keine Notwendigkeit bestehe, das Auftragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches heranzuziehen.15 Aus dem Grundsatz der Gleichstellung gerichtlich bestellter mit anderen Aufsichtsratsmitgliedern folge, dass der Gesetzgeber bei einer hypothetischen allgemeinen Regelung des Aufwendungsersatzes die gleiche Formulierung gewählt hätte. Für eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz bestünden keine Anhaltspunkte. Ferner bestehe kein Bedürfnis für die Berücksichtigung subjektiver Merkmale der Erforderlichkeit, da die Aufwendungen eines Aufsichtsratsmitglieds in der Regel nicht überraschend anfielen.16 Folgte man dieser Ansicht, ergeben sich für die Erstattung der Aufwendungen strengere Voraussetzungen als bei Anwendung der §§ 670, 675 Abs. 1 BGB. Denn § 104 Abs. 7 S. 1 AktG sieht einen objektiven Maßstab der Erforderlichkeit vor, während es gem. § 670 BGB bereits ausreicht, wenn das Aufsichtsratsmitglied die Aufwendungen den Umständen nach für erforderlich halten durfte (subjektiver Maßstab).17 Mithin ist der Meinungsstreit nicht nur von akademischer Bedeutung. Roth, in: Großkommentar AktG, § 112 Rn. 6; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 140 f.; Henning/Simon, BOARD 2012, 175 ff. 13 So Fonk, NZG 2009, 761, 762; im Ergebnis ablehnend: Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 118. 14 Vgl. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 118. 15 Fonk, NZG 2009, 761, 762. 16 Fonk, NZG 2009, 761, 762. 17 Vgl. Fonk, NZG 2009, 761, 762; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 118.

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Die analoge Anwendung des § 104 Abs. 7 S. 1 AktG überzeugt nicht. Der Gesetzgeber hat den Aufwendungsersatz ausschließlich für gerichtlich bestellte Aufsichtsratsmitglieder zu einem Zeitpunkt geregelt, als die Problematik der Kostenerstattung bereits umfangreich thematisiert und mit der Analogie zu § 675 Abs. 1 BGB gelöst wurde.18 Er hätte also ebenso gut eine einheitliche Regelung im Sinne des Gleichbehandlungsprinzips für sämtliche Aufsichtsratsmitglieder treffen können, wenn er dies hätte bezwecken wollen. Seine Untätigkeit dahingehend spricht vielmehr dafür, dass die Regelung des § 104 Abs. 7 S. 1 AktG als Ausnahme verstanden werden muss. Dies erscheint indes auch sinnvoll. Denn mit der gerichtlichen Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder wird der Hauptversammlung die Wahlfreiheit über die Bestellung der Aufsichtsratsmitglieder genommen. Dies stellt sowohl einen unternehmerischen, als auch einen hoheitlichen Eingriff durch das Gericht in die Eigentumsrechte und die Vermögenssphäre der Gesellschafter dar, der sich zumindest mittelbar auch finanziell auswirken kann. Wie bei jedem staatlichen Eingriff ist die (auch finanzielle) Belastung für die Gesellschaft daher so gering wie möglich zu halten. Dies kann zum Teil auch mit einem abweichenden (objektiven) Erforderlichkeitsmaßstab für die Erstattung von Aufwendungen erreicht werden, sodass eine Ungleichbehandlung gerichtlich bestellter Aufsichtsratsmitglieder unter diesem Aspekt gerecht erscheint. Diese gerichtlich bestellten und nicht von der Hauptversammlung gewählten Mitglieder sollen nur Aufwendungen ersetzt bekommen, die objektiv erforderlich sind, während für normale Mitglieder weiterhin der subjektive Maßstab des § 675 Abs. 1 BGB gilt. Die daraus folgende Ungleichbehandlung der Aufsichtsratsmitglieder lässt sich im Ergebnis mit dem gerichtlichen Eingriff in die Gesellschafterrechte rechtfertigen. Berger führt zudem richtigerweise an, dass schon deshalb von einer gesetzlichen Ausnahmeregelung auszugehen ist, weil die gesetzgeberische Absicht nicht mehr rekonstruierbar sei und der Wortlaut des § 104 Abs. 7 S. 1 AktG sich ausdrücklich nur auf gerichtlich bestellte Mitglieder bezieht.19 Letztlich kann auch das Argument, es bestehe kein Bedürfnis für subjektive Merkmale beim Aufwendungsersatz, entkräftet werden: gerade in Fällen, in denen die finanzielle Aufwendung der primären Erfüllung der Überwachungspflicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds dient, sollte das Mitglied sich im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit seiner Tätigkeit nicht der Gefahr gegenübersehen, dass Aufwendungen möglicherweise nicht ersetzt werden, falls seine Sichtweise nicht einer nachträglichen, objektiven Sichtweise entspricht. Andernfalls würden im Zweifelsfall für das Gesellschaftswohl notwendige Aufwendungen nicht getätigt werden, obwohl diese nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv erforderlich gewesen wären. Eine Gefährdung des Gesellschaftswohls aufgrund einer unzurei18 19

Vgl. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 117. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 118.

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chenden Information des Aufsichtsrats ließe sich nicht ausschließen.20 Dem Aufsichtsratsmitglied sollte also ein gewisser Freiraum gewährt werden, sich auf seine subjektive Sichtweise der Erforderlichkeit der Aufwendung verlassen zu dürfen. Nur so kann er seine Aufgaben eigenverantwortlich im Interesse des Unternehmenswohls erfüllen. Im Ergebnis ist daher die Ansicht abzulehnen, welche § 104 Abs. 7 S. 1 AktG analog als Anspruchsgrundlage für Aufwendungsersatz sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder betrachtet. d) Anspruch auf Aufwendungsersatz aus §§ 670, 675 BGB analog Der herrschenden Meinung der Literatur folgend ist davon auszugehen, dass einzelne Aufsichtsratsmitglieder einen Anspruch auf Aufwendungsersatz aus den §§ 675 Abs. 1, 670 BGB analog für die Kosten eines (rechtmäßig) hinzugezogenen externen Sachverständigen haben21, wenn man nicht ohnehin davon ausgeht, dass die Auftragsbestimmungen unmittelbar angewandt werden können. Gemäß § 670 BGB ist der Auftraggeber zum Ersatz verpflichtet, wenn der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrags Aufwendungen macht, die er den Umständen nach für erforderlich halten darf. Umstritten ist bei der Anwendung dieser Vorschriften auf das Amt eines Aufsichtsratsmitglieds, ob die Regelungen des Auftragsrechts direkt oder analog zur Anwendung kommen. Die herrschende Meinung geht von einer Analogie aus, da eine direkte Anwendung an dem korporationsrechtlichen Charakter des Aufsichtsratsamts scheitere.22 Im Gegensatz zum Vorstand, der neben seiner korporationsrechtlichen Bestellung auch auf der Grundlage eines schuldrechtlichen Dienstvertrags tätig wird (zweigliedriges Rechtsverhältnis), bestehe das Rechtsverhältnis des Aufsichtsrats zur Gesellschaft ausschließlich aus dem 20

Vgl. hierzu auch Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 119. Fonk, NZG 2009, 761, 762; Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 18; Habersack, Münchener Kommentar AktG, § 113 Rn. 21; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 113 Rn. 9; Bürgers/Israel, in: Heidelberger Kommentar AktG, § 113 Rn. 14; Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4 AG, § 33 Rn. 13; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 842 ff.; Semler/Wagner, in: Semler/v. Schenk, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, § 10 Rn. 22; Wißmann, in: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, § 282 Rn. 14; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit in der Aktiengesellschaft, S. 117 f.; Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 651; Thüsing/Veil, AG 2008, 359, 362; Kittner/Fuchs/Zachert, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, 2. Auflage 1982, Rn. 816. 22 Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 101 Rn. 91; a.a.O., § 113 Rn. 18; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 101 Rn. 67; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 101 Rn. 8; Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, §101 Rn. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 842; Natzel, DB 1959, 171 ff. und 201, 207; ders., DB 1964, 1143 f.; ders. DB 1965, 1429, 1432; ders., AG 1959, 93, 95 ff.; Schilling, in: FS R. Fischer, S. 679, 690 f. 21

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korporationsrechtlichen Verhältnis. Grund dafür sei, dass kein Gesellschaftsorgan für den Abschluss eines schuldrechtlichen Vertrags mit den Aufsichtsratsmitgliedern zuständig sein könne.23 Somit könne der Verweis des § 675 Abs. 1 BGB auf § 670 BGB nicht unmittelbar zur Anwendung kommen. Die Gegenauffassung beruht auf der früher häufig vertretenen Meinung, dass auch mit den Aufsichtsratsmitgliedern zumindest konkludent ein schuldrechtliches Rechtsverhältnis abgeschlossen werde.24 Das Argument der fehlenden Zuständigkeit für den Abschluss eines schuldrechtlichen Vertrages sei nicht ausreichend, einen schuldrechtlichen Vertrag zu negieren. Konkludent könne ein solcher Vertrag geschlossen werden. Es spricht aus Sicht des Verfassers durchaus viel dafür, auch bei Aufsichtsräten wie beim Vorstand von zwei Rechtsverhältnissen auszugehen. Im Ergebnis spielt die Frage, ob die §§ 675 Abs. 1, 670 BGB analog oder direkt anzuwenden sind, jedenfalls keine Rolle, da die Anspruchsvoraussetzungen in beiden Fällen gleich sind.25 Eine Mindermeinung wendet zudem die §§ 80 Abs. 3 und 108 Abs. 2 S. 3 BetrVG analog einschränkend auf den Aufwendungsersatzanspruch aus §§ 670, 675 BGB an.26 Dies ist aber richtigerweise abzulehnen.27 Als leges speciales zu § 40 BetrVG haben die §§ 80 Abs. 3 und 108 Abs. 2 S. 3 BetrVG keine Entsprechung in den aktienrechtlichen Regelungen zum Aufsichtsrat. Während der Betriebsrat einen Erstattungsanspruch im Zweifel in einem schnellen und kostenfreien arbeitsrechtlichen Beschlussverfahren klären 23 Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 101 Rn. 91; a.a.O., § 113 Rn. 18; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 101 Rn. 67; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 101 Rn. 8; Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, §101 Rn. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 842; Natzel, DB 1959, 171 ff. und 201, 207; ders., DB 1964, 1143 f.; ders. DB 1965, 1429, 1432; ders., AG 1959, 93, 95 ff.; Schilling, in: FS R. Fischer, S. 679, 690 f. 24 Für sowohl korporations- als auch schuldrechtliches Rechtsverhältnis: Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 101 Rn. 2 ff., 7; für ein gesetzliches Schuldverhältnis oder Anstellungsverhältnis, welches durch Wahl und Annahme entsteht – Mertens/Cahn, Kölner Kommentar AktG, § 101 Rn. 5 ff.; Wißmann, in: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, § 282 Rn. 14; Hoffmann-Becking, Münchener Handbuch AG, § 33 Rn. 10; Raiser, in: Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 25 Rn. 104; Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 649 Fn. 37 m.w.N.; Köstler/Müller/ Sick, Handbuch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, S. 438 Rn. 757, S. 440 Rn. 760; früher wurde neben dem korporationsrechtlichen Rechtsverhältnis ein zumindest stillschweigend oder aber durch Gesetz oder Satzung zustande gekommener Dienstvertrag angenommen, vgl. RGZ 123, 351, 354; RGZ 146, 145, 152; RGZ 152, 273, 278; Kittner/Fuchs/ Zachert, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, 1. Auflage 1977, Rn. 811 m.w.N.; offengelassen von BGH, Hinweisbeschluss vom 7.7.2008 – II ZR 71/07 = ZIP 2008, 1821 Rn. 3. 25 Vgl. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 118 f. 26 Koberski, in: Wlotzke/Wissmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Auflage 2011, § 25 MitbestG Rn. 89; Neandrup, in: Gemeinschaftskommentar MitbestG, § 25 Rn. 182 a.E. 27 Vgl. hierzu ausführlich Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 654 ff.; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 175.

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kann, existiert für das einzelne Aufsichtsratsmitglied kein vergleichbar effektives Verfahren. Wertungsmäßig können die zitierten Normen außerdem nur auf Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat angewendet werden, was jedenfalls gegen den Gleichheitsgrundsatz der Aufsichtsratsmitglieder verstieße. Letztlich ist der Aufsichtsrat schon aufgrund der Haftungsrisiken der einzelnen Mitglieder nicht mit dem Betriebsrat vergleichbar.28 e) Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß §§ 677 ff. BGB Die bisherigen Ausführungen beziehen sich auf Fälle, in denen die Beauftragung des externen Sachverständigen nicht durch das einzelne Aufsichtsratsmitglied vorab mit dem Gesamtaufsichtsrat abgesprochen wird. Nur dann kommt es wirklich darauf an, ob das Aufsichtsratsmitglied ein echtes Recht hierauf besitzt. Aus diesem Grund liegt der Gedanke nahe, dass es sich möglicherweise auch um eine Geschäftsführung ohne Auftrag im Sinne der §§ 677 ff. BGB handeln könnte. Dann dürfte sich aus den bestehenden Rechtsverhältnissen zwischen Gesellschaft und Aufsichtsratsmitglied kein Auftrag und auch kein auftragsähnliches Verhältnis herleiten lassen. Dies würde eine Geschäftsführung ohne Auftrag bereits ausschließen. Ein auftragsähnliches Verhältnis wird von der herrschenden Meinung allerdings schon bei der analogen Anwendung der §§ 670, 675 BGB angenommen. Nur so lässt sich die für die Analogie notwendige vergleichbare Interessenlage herleiten. Das Amt des Aufsichtsratsmitglieds führt aufgrund der daraus erwachsenden Pflichten, insbesondere der Pflicht zur eigenverantwortlichen Erfüllung des Amtes, zu einer auftragsähnlichen Situation, welche das Aufsichtsratsmitglied zur Erstattung von Aufwendungen berechtigt. Aufgrund dessen schließen sich die Analogie zu §§ 670, 675 BGB und die Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB gegenseitig aus. Nur wenn man entgegen der herrschenden Meinung eine Analogie zu §§ 670, 675 BGB ablehnt, könnte man über ein Recht zur Hinzuziehung externer Sachverständiger aus den Regelungen zur Geschäftsführung ohne Auftrag nachdenken. Dies könnte sich aber weder auf das Ergebnis für die allgemeine Zulässigkeit der Sachverständigenbeauftragung, noch für deren Erstattungsfähigkeit auswirken. Die Erstattungsfähigkeit richtet sich gemäß § 683 S. 1 BGB auch bei der Geschäftsführung ohne Auftrag nach den Regelungen über den Auftrag. 2. Gesetzliche Voraussetzungen des § 670 BGB Gem. § 670 BGB sind Aufwendungen, die der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrags gemacht hat, vom Auftraggeber zu ersetzen, sofern 28

Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 654 ff.

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der Beauftragte die Aufwendungen den Umständen nach für erforderlich halten durfte. Diese Voraussetzungen sind entsprechend auf den Aufwendungsersatz von Aufsichtsratsmitgliedern anzuwenden. Dabei sind die Besonderheiten des Aufsichtsratsamts, die moderne Rolle des Aufsichtsrats sowie insbesondere die zur Verhältnismäßigkeit getroffenen Feststellungen auf die Voraussetzung der Erforderlichkeit zu übertragen. In Kongruenz mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen des BGH29 zu übertragen sind Aufwendungen für eine unzulässige Hinzuziehung von Sachverständigen hingegen nicht zu erstatten. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Beurteilung der Frage von dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied selbst erwartet werden musste.30 Zunächst ist festzustellen, was unter den Voraussetzungen des § 670 BGB bei der Anwendung auf Mitglieder des Aufsichtsrats zu verstehen ist. a) Aufwendungen Unter den privatrechtlichen Begriff der Aufwendungen fallen alle freiwilligen Vermögensopfer. Dazu sollen bare Auslagen, aber auch Materialersatz sowie gem. § 257 BGB das Eingehen von Verbindlichkeiten gehören.31 In letzterem Fall bestünde ein Aufwendungsersatzanspruch des Aufsichtsratsmitglieds darin, dass die Gesellschaft das Aufsichtsratsmitglied von der eingegangenen Verbindlichkeit befreit („Befreiungsanspruch“).32 Gem. § 257 S. 2 BGB ist auch ein Anspruch auf eine Sicherheitsleistung möglich. Die Beauftragung eines Sachverständigen durch ein Aufsichtsratsmitglied würde also grundsätzlich dann eine Aufwendung darstellen, wenn das Aufsichtsratsmitglied den Sachverständigen selbst – also im eigenen Namen – beauftragt, denn nur dann läge ein freiwilliges Vermögensopfer vor. Unerheblich ist, ob bereits eine Zahlung getätigt wurde, da bereits bei der Beauftragung selbst eine Aufwendung im Sinne des Eingehens einer Verbindlichkeit vorliegen würde. Das Aufsichtsratsmitglied kann außerdem gem. § 669 BGB einen Vorschuss für seine Aufwendungen verlangen. b) Zum Zwecke der Ausführung des Auftrags Nach § 670 BGB muss die Aufwendung „zum Zwecke der Ausführung des Auftrags“ gemacht werden. Übertragen auf das Amt des Aufsichts29

Siehe oben Fn. 1 und 2. Raiser, in: Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 25 Rn. 106; vgl. zum Wirtschaftsausschuss des Betriebsrats i.V.z. § 80 Abs. 3 BetrVG: BAG, Beschluss vom 18.7.1978 – 1 ABR 34/75 = BB 1978, 1777. 31 Seiler, in: Münchener Kommentar BGB, § 670 Rn. 8, 13; Wittmann, in: Staudinger, BGB, § 670 Rn. 5 f., 23; Berger, in: Erman, BGB, § 670 Rn. 15. 32 BGH, Urteil vom 30.11.1972 – VII ZR 239/71 = BGHZ 60, 14, 22; RG, Urteil vom 6.4.1936 – VI 421/35 = RGZ 151, 93, 99; Schwab, in: Dauner-Lieb/Langen, BGB – Schuldrecht, § 670 Rn. 6; Sprau, in: Palandt, § 670 Rn. 3; Beuthien, in: Soergel, BGB, § 670 Rn. 3; Martinek, in: Staudinger, BGB, § 670 Rn 9. 30

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ratsmitglieds bedeutet dies, dass die Aufwendung zunächst zum objektiven Aufgabenbereich des Aufsichtsrats gehören und der Ausführung seines Amtes dienen muss. Zur Erfüllung dieses Kriteriums wird ein innerer Zusammenhang zur Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied vorausgesetzt.33 Die Kosten müssen Teil der Amtsführung sein und die Wahrnehmung des Aufsichtsratsmandats betreffen.34 Aufgrund von möglichen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen privaten und dienstlichen Kosten soll für die Frage, ob ein Ersatzanspruch besteht, zunächst geklärt werden, welche konkreten Aufgaben das einzelne Aufsichtsratsmitglied hat, um dann zu prüfen, ob die kostenverursachende Handlung zur Erfüllung dieser Aufgaben gehört. Hierbei sollen aufsichtsratsfremde Interessen nicht überwiegen dürfen, da die Aufwendung dann nicht ersatzfähig sei. Im Falle einer Interessenüberlagerung müsse die Aufwendung in erster Linie dem Interesse der Gesellschaft Rechnung tragen, um ersatzfähig zu sein.35 Becker weist außerdem zutreffend darauf hin, dass sich das subjektive Merkmal „für erforderlich halten darf“ (§ 670 BGB) nicht auf die Beurteilung bezieht, ob die kostenverursachende Tätigkeit zur Aufsichtsratstätigkeit gehört.36 Letzteres Merkmal ist rein objektiv zu beurteilen, da ansonsten der Aufwendungsersatz zu weit ausufern könnte. c) Für erforderlich halten darf Das Kriterium des Für-Erforderlich-Haltens beinhaltet einen objektiven Maßstab (die „Erforderlichkeit“) mit subjektivem Einschlag (das „HaltenDürfen“).37 aa) Subjektiver Einschlag Anders als beim Aufwendungsvorschuss nach § 669 BGB gilt bei § 670 BGB das sog. Vertrauensschutzprinzip: während im Falle eines Aufwendungsvorschusses der Beauftragte das Risiko der Falschprognose trägt, soll er bei § 670 BGB bessergestellt werden, weil die Norm auf dem Rechtsgedanken beruht, dass die Kosten für die Ausführung eines Geschäfts oder einer HandHopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 19; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 845; Potthoff/Trescher/Theisen, Das Aufsichtsratsmitglied, Rn. 980; Semler, FS Claussen, S. 384; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 119. 34 Semler/Wagner, in: Semler/v. Schenk, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, § 10 Rn. 63; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 113 Rn. 22; Semler, in: FS Claussen, S. 381, 384; Fonk, NZG 2009, 762. 35 Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 119 f. 36 Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 120. 37 Sprau, Palandt, § 670 Rn. 4; Schwab, in: Dauner-Lieb/Langen, BGB – Schuldrecht, § 670 Rn. 17; Schäfer, in: Münchener Kommentar BGB, § 670 Rn. 22; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 120. 33

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lung von demjenigen zu tragen sind, in dessen Interesse diese Handlung vorgenommen wurde.38 Bei der Übertragung dieser Wertung auf den Fall der Beauftragung eines Sachverständigen durch ein Aufsichtsratsmitglied ist jedoch zu beachten, dass § 669 BGB neben § 670 BGB anzuwenden ist. Die objektive Erforderlichkeit bezieht sich ausschließlich auf den Anspruch auf einen Vorschuss und erstreckt sich nicht auf § 670 BGB. Andernfalls würde sich das Aufsichtsratsmitglied einem Regressrisiko aus §§ 812 ff. BGB ausgesetzt sehen, wenn sich im Nachhinein herausstellen würde, dass die Aufwendungen nicht erforderlich waren. Dies könnte seine Entscheidung über die Hinzuziehung eines externen Beraters erheblich beeinflussen und im Zweifel dem Unternehmenswohl entgegenstehen. Dies vorausgeschickt sind die Voraussetzungen des „Für-ErforderlichHaltens“ wie folgt zu bestimmen: Eine Aufwendung darf dann für erforderlich gehalten werden, wenn sie zum Zeitpunkt der Disposition nach verständigem Ermessen zum Zweck der Erfüllung der Aufgaben des Aufsichtsratsamts geeignet ist, notwendig erscheint und in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Aufwendung für die Gesellschaft steht. Das Aufsichtsratsmitglied muss die Aufwendung nach sorgfältiger und den Umständen des Einzelfalls angemessener Prüfung getroffen haben.39 Im Hinblick auf umstrittene oder ungewisse Aufwendungen wird vertreten, dass ein Aufsichtsratsmitglied der Rechtsansicht Dritter über die Erforderlichkeit vertrauen darf und sich beispielswiese auf eine für das Aufsichtsratsmitglied günstige Literaturmeinung berufen kann, sofern diese Meinung argumentativ begründet wird.40 bb) Objektiver Maßstab Die Aufwendung eines Aufsichtsratsmitglieds ist objektiv erforderlich, wenn die Ausführung der konkreten Aufgabe die konkrete Aufwendung erfordert. Das Aufsichtsratsmitglied muss die Erforderlichkeit sorgfältig unter Berücksichtigung aller Umstände prüfen und sich am Gesellschaftsinteresse orientieren. Die Aufwendung muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Bedeutung der konkreten Aufgabe stehen.41 Die Aufgabenerfüllung und deren notwendige Folgen müssen erforderlicher Anlass für die Aufwendung 38 BGH, Beschluss vom 17.11.2011 – V ZB 34/11 = NZI 2012, 255 Tz. 17; Schäfer, in: Münchener Kommentar BGB, § 670 Rn. 22; Sprau, in: Palandt, § 670 Rn. 1. 39 BGH, Urteil vom 19.9.1985 – IX ZR 16/85 = BGHZ 95, 375, 388; BGH, Urteil vom 8.5.2012 – XI ZR 437/11 = WM 2012, 1344 Rn. 20; Schäfer, in: Münchener Kommentar BGB, § 670 Rn. 26; Wittmann, in: Staudinger BGB, § 670 Rn. 9; Sprau, in: Palandt, BGB, § 670 Rn. 4; Fischer, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 670 Rn. 11; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 120. 40 So Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 121. 41 Vgl. Hoffmann, Der Aufsichtsrat, Rn. 447; Wittmann, in: Staudinger BGB, § 670 Rn. 9; Sprau, in: Palandt, BGB, § 670 Rn. 4; Dänzer-Vanotti, BB 1985, 1635.

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sein. Als Teilaspekt der Erforderlichkeit muss die Aufwendung auch geeignet bzw. tauglich zur Erfüllung des Zwecks der effektiven Kontrolle des Vorstands sein.42 (1) Verhältnismäßigkeit Außerdem muss die Aufwendung dem Grunde nach verhältnismäßig sein.43 Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist zwar ungeschrieben, erfolgt aber aus allgemeinen Rechtsgründen, da die Rechtsausübung, die mit einem Eingriff in die Rechts- oder Vermögenssphäre anderer Rechtssubjekte verbunden ist, nicht zu einem Schaden führen darf, der zu dem beabsichtigten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.44 Dazu wird zurecht vertreten, dass vor einer Beauftragung externer Sachverständiger die übrigen Aufsichtsratsmitglieder nach einem eigenen Beratungsbedarf zu befragen sind, damit nicht jedes Mitglied einen eigenen Berater beauftragt.45 Dies kann zu unverhältnismäßig hohen und vermeidbaren Kosten für die Gesellschaft führen. Eine vorherige Rückfrage bei den anderen Aufsichtsratsmitgliedern ist ferner bereits aus dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit wünschenswert. Die vorangehende Klärung mit allen Aufsichtsratsmitgliedern kann aber dann nicht gefordert werden, wenn eine Seite des Aufsichtsrats bereits unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, dass sie keinen externen Rat einholen will. Wird die vorherige Befragung der anderen Mitglieder hingegen unterlassen, muss dies nicht zwingend zum Wegfall der Erstattungsfähigkeit führen. Es ist dann immer noch möglich, dass im Einzelfall die Hinzuziehung eines externen Beraters objektiv erforderlich war und keines der anderen Mitglieder einen Sachverständigen beauftragt hat, sodass auch keine unnötigen Kosten entstanden sind. Für den Fall der mehrfachen Inanspruchnahme von Sachverständigen hat die Nichtbefragung des Gesamtaufsichtsrats zur Folge, dass die Sachverständigenvergütung ganz oder teilweise nicht erstattet wird. Dies macht aber die Beauftragung als solche nicht rechtswidrig. Die vorherige Befragung der anderen Mitglieder eignet sich 42

Säcker, in: FS Fischer, S. 653. Vgl. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band 2 – Recht der Schuldverhältnisse, S. 541; Säcker, in: FS Fischer, S. 653; ders., BB 1966, 784 ff.; Raiser, in: Hachenburg, GmbHG, § 52 Rn. 125; Pothoff/Trescher, Das Aufsichtsratsmitglied, S. 47; Schneider, in: Scholz, GmbHG, § 52 Rn. 263; Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 121. 44 Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 653; ders., BB 1966, 784 ff.; ders., Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 134 ff. 45 Vgl. Köstler/Müller/Sick, Handbuch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, S. 440 Rn. 760; Ulmer/Habersack, in; Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 25 MitbestG Rn. 87; Raiser, in: Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 25 Rn. 104; Säcker, in: FS Fischer, S. 653. 43

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allerdings als Indiz für die Erforderlichkeit aus Sicht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds. Von der Literatur werden weitere Aspekte bei der Auslegung der Erforderlichkeit berücksichtigt, die regelmäßig Teil einer umfangreichen Verhältnismäßigkeitsprüfung sind und daher einen angemessenen Beurteilungsmaßstab bieten. Zu berücksichtigen sind Umfang, Zweck und Bedeutung der konkret zu erfüllenden Aufgabe des Aufsichtsrats.46 Diese müssen in angemessenem Verhältnis zu Umfang und Kosten der externen Beratung stehen. Im Einzelfall darf insbesondere kein krasses Missverhältnis zwischen der Bedeutung der konkreten Aufsichtsratsaufgabe und den entstandenen Kosten bestehen. Auch das Verhältnis von Kosten und Nutzen muss ausgewogen sein. Zu berücksichtigen sind insgesamt auch die Vermögensverhältnisse des Unternehmens sowie die allgemeinen Gepflogenheiten des Aufsichtsrats.47 Abzulehnen ist allerdings die nicht weiter begründete Auffassung, dass eine Beauftragung eines externen Beraters durch ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied „jedenfalls dann nicht erforderlich“ sei, wenn dies bereits durch den Gesamtaufsichtsrat geschehen ist.48 Die Eigenverantwortlichkeit des Aufsichtsratsmitglieds erfordert es im Interesse des Unternehmens, dass dieses im Falle von ernsten Zweifeln am beabsichtigten Vorgehen des Aufsichtsrats eigene Nachforschungen anstellt und notfalls eigene Sachverständige hinzuzieht. Dies kann selbstverständlich auch dann der Fall sein, wenn der Aufsichtsrat selbst auf der Grundlage eines Sachverständigenrates handeln will. Ernste Zweifel können auch an der Beurteilung eines Sachverständigen bestehen. Nicht ausreichend ist hingegen die Absicht, mit dem Sachverständigen lediglich eine zweite Meinung einzuholen oder einen eigenen Gegenvorschlag zu erarbeiten. (2) Gesellschaftsinteresse Letztlich bietet auch die Berücksichtigung des Gesellschaftsinteresses viel Raum für Interpretationsmöglichkeiten. Jedenfalls sollte sich die Handlungsmaxime des Aufsichtsrats grundsätzlich am übergeordneten Gesellschaftsinteresse orientieren. Hiervon erfasst sind (unter anderem) sowohl die Interessen der Anteilseigner als auch der Arbeitnehmer. Die Konkretisierung des Gesellschaftsinteresses muss darüber hinaus auf der Grundlage aller Umstände des konkreten Einzelfalls stattfinden.49 Schwab, in: Dauner-Lieb/Langen, BGB – Schuldrecht, § 670 Rn. 17. Berger, Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, S. 122. 48 So Seibt/Bulgrin, AG 2018, 417, 422. 49 Die Meinungen über Charakter und Rechtsnatur des Unternehmensinteresses gehen weit auseinander. Im Hinblick auf das Spannungsverhältnis der Interessen von Anteilseignern, Arbeitnehmern, Führungsorganen, Öffentlichkeit, Gläubigern und Banken stößt man beim Versuch einer Konkretisierung des Unternehmensinteresses auf Schwierigkeiten, insbesondere da sich der Begriff je nach sozialem und politischem Standpunkt unterschied46 47

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III. Verfahren Die konkrete Durchführung einer Beauftragung externer Sachverständiger durch ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied sowie die Durchsetzung der Kostenerstattung bedürfen einer näheren Betrachtung. 1. Vertragspartner Festzustellen ist zunächst, wer tauglicher Vertragspartner des Beraters werden kann. Der Aufsichtsrat im Ganzen kann die Gesellschaft gem. § 112 S. 1 AktG grundsätzlich nur gegenüber Vorstandsmitgliedern vertreten. Er ist zudem im Rahmen des § 111 Abs. 2 S. 2 und 3 sowie bei Hilfsgeschäften (auch bei der Hinzuziehung von Beratern) zur Vertretung der Gesellschaft befugt.50 Hierzu müsste aber der Aufsichtsrat zuvor im Plenum über die Hinzuziehung des Beraters entscheiden, was im Falle der Beauftragung durch ein einzelnes Mitglied gerade nicht gefordert werden soll. Einzelne Aufsichtsratsmitglieder haben grundsätzlich keine Berechtigung zur Vertretung der Gesellschaft.51 Etwas anderes gilt lediglich für vereinzelte Annexkompetenzen oder Einzelermächtigungen des Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. von Aufsichtsratsausschüssen.52 Vor dem Hintergrund, dass die herrschende Meinung für den Fall der Beratung eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds einen Erstattungsanspruch aus §§ 670, 675 Abs. 1 BGB analog annimmt, ist die einzig richtige Lösung, dass dieses Mitglied selbst Ver-

lich beurteilen lässt. Eine einzelfallbezogene Konkretisierung ist daher vorzugswürdig. Vgl. hierzu Mertens, in: Kölner Kommentar AktG, Vorb. § 95 Rn. 9; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 35; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 234; Hengeler, FS Schilling, S. 191; Mülbert, ZGR 1997, 142 f.; Westermann, ZGR 1977, 222 f.; Kittner, ZHR 1972, 208, 226; Wiedermann, FS Barz, S. 572 f. 50 Vgl. zur Vertretung der AG gegenüber einem vom Aufsichtsrat beauftragten Sachverständigen BGH, Urteil vom 20.3.2018, II ZR 359/16 = AG 2018, 436; siehe auch Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 112 Rn. 4. 51 Ob ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied Rechte des Aufsichtsrats im Wege einer actio pro socio geltend machen kann, ist zwar umstritten (vgl. v. Schenk, in: Semler, v. Schenk, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, § 7 Rn. 317), die actio pro socio wäre aber als Prozessstandschaftsrecht ohnehin nicht das geeignete Rechtsinstitut, um die Gesellschaft beim Vertragsschluss zu vertreten. Selbst für die gerichtliche Geltendmachung des Aufwendungsersatzanspruchs bedarf es keiner actio pro socio, da es sich hierbei um einen individuellen Anspruch des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds handelt. 52 Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 4, 4. Auflage 2015, § 29 Rn. 49; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 111 Rn. 135; a.a.O., § 112 Rn. 4; Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 112 Rn. 6; HoffmannBecking, ZGR 2011, 136, 140 f.; Henning/Simon, BOARD 2012, 175 ff.

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tragspartner des Beraters werden muss.53 Denn nur so lässt sich eine Aufwendung als freiwilliges Vermögensopfer einstufen. Dieses Vermögensopfer liegt dann im Eingehen der Verbindlichkeit mit dem externen Berater. Dieser muss die Beratungsleistung auch vorrangig dem jeweiligen Aufsichtsratsmitglied gegenüber als seinem individuellen Vertragspartner erbringen. Obwohl die Beratung der eigenverantwortlichen Erfüllung der Aufgaben des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds dient, kann es je nach Sachverhalt zum Wohle des Unternehmenswohls erforderlich sein, die Ergebnisse der Beratung an den Aufsichtsrat und/oder den Vorstand weiterzuleiten, etwa um das Unternehmen vor einem drohenden Schaden zu bewahren. Spätestens für die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit der Beratungskosten ist es sinnvoll und ratsam, das Ergebnis der Beratung dem gesamten Aufsichtsrat zukommen zu lassen, insbesondere, wenn dadurch die ursächlichen Zweifel des Mitglieds bestätigt werden. 2. Vorschuss Ist der Berater durch das Aufsichtsratsmitglied beauftragt worden, muss dieses nicht in Vorleistung treten, sondern kann in konsequenter entsprechender Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften über den Auftrag gem. § 669 BGB einen Vorschuss für die Kosten des Beraters verlangen.54 Die Entscheidung über die Gewährung des Vorschusses ist jedoch ausschließlich anhand objektiver Kriterien zu treffen. 3. Zustimmung des Aufsichtsrats Die Erstattungsfähigkeit der durch die Beratung entstandenen Kosten wird zum Teil nur bei Zustimmung des Gesamtaufsichtsrats angenommen.55 Diese Ansicht wird jedoch nicht weiter begründet und ist auch nicht plausibel, da ein solches Erfordernis den eigentlichen Zweck der Beratung einzelner Mitglieder konterkarieren würde. Dem Aufsichtsratsmitglied soll dieses Vorgehen im Wege seiner eigenverantwortlichen Amtswahrnehmung möglich sein. Er ist zur eigenverantwortlichen, unabhängigen Prüfung ver53 So auch Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar AktG, § 111 Rn. 128, die allerdings nur für den Fall der Zustimmung durch den Aufsichtsrat einen Erstattungsanspruch nach §§ 675, 670 BGB annehmen. 54 Koberski, in: Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Auflage 2011, § 25 MitbestG Rn. 89; Neandrup, in: Gemeinschaftskommentar MitbestG, § 25 Rn. 182; Köstler/Müller/Sick, Handbuch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, S. 442 Rn. 763. 55 Hambloch-Gesinn/Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 AktG Rn. 86; Mertens/Cahn, Kölner Kommentar AktG, § 111 Rn. 128, § 113 Rn. 12; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 111 AktG Rn. 135.

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pflichtet und darf hieran nicht durch einen Aufsichtsratsbeschluss gehindert werden.56 Würde eine Erstattung der Kosten wiederum vom Beschluss des Gesamtaufsichtsrats abhängen, wäre die Eigenverantwortlichkeit gerade nicht gesichert. Die Bewegungsfreiheit der Organmitglieder wäre durch die finanzielle Bindung an die Zustimmung des Gesamtgremiums ungebührend eingeschränkt.57 Es wäre zu befürchten, dass das Aufsichtsratsmitglied im Zweifel keine zusätzliche Beratung einholt, obwohl es berechtigte Zweifel an der Auffassung der restlichen Mitglieder haben könnte. Folglich ist für die Erstattungsfähigkeit der Kosten externer Beratung durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder weder eine vorherige Absprache, noch eine nachträgliche Zustimmung des Gesamtaufsichtsrats erforderlich.58 So ist wohl auch der BGH zu verstehen, wenn dieser eine Formulierung der Vorinstanz diesbezüglich nicht in das Hertie-Urteil übernommen hat, nach welcher das Aufsichtsratsmitglied die Absicht zur Inanspruchnahme externer Sachverständiger dem Gesamtaufsichtsrat vorher anzuzeigen und zu begründen habe, damit dieser die Berechtigung des einzelnen Mitglieds beurteilen, etwaige Bedenken mit ihm erörtern und Meinungsverschiedenheiten klären könne.59 Alleine die fehlende Abstimmung mit dem Aufsichtsrat kann also nicht zur Unzulässigkeit und damit Rechtswidrigkeit der Beauftragung des Sachverständigen führen. Allerdings trägt das Aufsichtsrat in diesem Fall das Risiko der unnötigen Mehrfachbeauftragung, welches sich auf die Erstattungsfähigkeit der Kosten für die Beauftragung auswirken kann. 4. Anspruchsgegner und Beurteilung der Erstattungsfähigkeit Unabhängig von der Frage der Zustimmung des Aufsichtsrats zu beantworten ist die Frage, wer über die Erstattungsfähigkeit der entstandenen Kosten im Einzelfall entscheidet. Hiernach richtet sich auch der Anspruchsgegner des Erstattungsanspruchs. In Betracht für die Entscheidung kommen sowohl der Aufsichtsrat als auch der Vorstand. In Teilen der Literatur wird vertreten, dass der Vorstand prüfen und entscheiden muss, ob die Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen gem. §§ 670, 675 Abs. 1 BGB vorliegen. Gegenüber Aufsichtsratsmitgliedern vertrete grundsätzlich er die Gesellschaft, da eine Zuständigkeit der Hauptversammlung unpraktikabel sei. Es sei daher zwischen 56

Vgl. Säcker, in: FS Fischer, S. 635, 652. So bereits BGH, Urteil vom 5.6.1975 – II ZR 156/73 = BGHZ 64, 325, 331. 58 So auch Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 12 Rn. 845; Ulmer/Habersack, in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, § 25 MitbestG Rn. 87; ähnlich Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 19; Köstler/Müller/Sick, Handbuch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, S. 440 Rn. 760; Raiser, in: Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 25 Rn. 104; näher Säcker, FS Fischer S. 635, 651 ff. 59 OLG Frankfurt v. 7.1.1982 – 16 U 92/81 = AG 1982, 194, 195. 57

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der Geschäftsführungszuständigkeit des Vorstands und dem Schutz des Aufsichtsrats vor Einwirkungen des Vorstands abzuwägen.60 Dieses Spannungsverhältnis wird teilweise dadurch gelöst, dass im Zweifel dem Aufsichtsrat eine Letztentscheidungsbefugnis61 oder zumindest Gelegenheit zur Stellungnahme62 zu geben sei. Als Argument wird die Existenz von § 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG aufgeführt.63 Durch diese Vorschrift wird dem Vorstand die Verantwortung für die gesetzestreue Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder übertragen. Die wohl herrschende Meinung geht zurecht davon aus, dass der Aufsichtsrat einheitlich für die Beurteilung der Erstattungsfähigkeit zuständig sein muss, weil nur auf diese Weise eine Einflussnahme des Vorstands auf den Aufsichtsrat ausgeschlossen werden könne.64 Hätte nämlich der Vorstand in letzter Instanz die Möglichkeit, über die Auslagenerstattung zu entscheiden, könnte er selbst über die Notwendigkeit einzelner Überwachungsmaßnahmen urteilen. Die Gegenauffassung führe lediglich zu einer unnötigen Verkomplizierung der Zuständigkeiten und Entscheidungswege, wenn sie etwa in Zweifelsfällen eine Bindung des Vorstands an die Entscheidung des Aufsichtsrats bzw. des Aufsichtsratsvorsitzenden vorschlägt.65 Die Entscheidungsbefugnis sollte daher nur einem einzigen Organ obliegen, was vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit der Überwachung nur der Aufsichtsrat sein kann. Auch dogmatisch ist diese Vorgehensweise unproblematisch, da der Aufsichtsrat eine Vertretungszuständigkeit für Hilfsgeschäfte entsprechend den im Rahmen des § 111 Abs. 2 S. 2 AktG geltenden Grundsätzen innehat.66 Die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit liegt letztlich beim gesamten Plenum des Aufsichtsrats, wohingegen der Vorstand den Auslagenersatz final zu leisten hat.67 60 Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 113 Rn. 9; Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 4, § 33 Rn. 16; ders. ZGR 2011, 136, 142; Fonk, NZG 2009, 761, 766; Semler, in: FS Claussen, S. 381, 402. 61 Semler, in: FS Claussen, S. 381, 402. 62 Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 4, § 33 Rn. 16; ders., ZGR 2011, 136, 142; Fonk, NZG 2009, 761, 766. 63 Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 142. 64 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 113 Rn. 2b; Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 113 Rn. 14; Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 114 Rn. 26; Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 26; Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar AktG, § 113 Rn. 13; Maser/Göttle, NZG 2013, 201, 207; Thüsing/Veil, AG 2008, 359, 365 f.; Knoll/ Zachert, AG 2011, 309, 312; Leyendecker-Langner/Huthmacher, NZG 2012, 1415, 1418 f. (auch zu den Prüfungspflichten des Vorstands); eingehend auch Theisen, FS Säcker, S. 487, 510 f. 65 Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar AktG, § 113 Rn. 13. 66 Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 26 f. 67 Vgl. Habersack, in: Münchener Kommentar AktG, § 114 Rn. 26; Hopt/Roth, in: Großkommentar AktG, § 113 Rn. 27.

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5. Annexfrage: Die Umsatzsteuer Vor dem Hintergrund, dass das einzelne Aufsichtsratsmitglied für sich den Vertrag mit dem Sachverständigen abschließt, kommt es umsatzsteuerlich zur Leistung des Sachverständigen an das Aufsichtsratsmitglied. Die ggf. anfallende Umsatzsteuer kann das Aufsichtsratsmitglied nur als Vorsteuer geltend machen, wenn es seine Aufsichtsratstätigkeit umsatzsteuerpflichtig erbringt. Wenn dies nicht der Fall ist, entsteht das Problem, dass die Kostenerstattung68 den Umsatzsteuerbetrag umfasst. Während bei unmittelbarer Erbringung der Sachverständigenleistung an das Unternehmen die Umsatzsteuer bei einem seinerseits umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen zum vollen Vorsteuerabzug führt, führt die Kostenerstattung nur zum Abzug von Betriebsausgaben, was lediglich zu einer Steuerminderung, aber nicht zur vollen Entlastung durch die Umsatzsteuer führt. Von daher ist es umsatzsteuerlich immer sinnvoll, den Aufsichtsrat darauf hinzuweisen, dass eine Beauftragung durch den Aufsichtsrat für das Unternehmen sinnvoller ist als die Beauftragung durch das Aufsichtsratsmitglied, wenn es selber nicht umsatzsteuerpflichtig ist. Von der Umsatzsteuer hängt aber nicht die Zulässigkeit der Beauftragung durch das Aufsichtsratsmitglied und die Erstattungsfähigkeit des Honorars des Sachverständigen ab. Ein selbst nicht umsatzsteuerpflichtiges Aufsichtsratsmitglied sollte nur in Ausnahmefällen einen Sachverständigen beauftragen, ohne vorher dem Unternehmen die Möglichkeit gegeben zu haben, selbst den vorgeschlagenen Sachverständigen zu bestellen.

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Aufsichtsratsvergütungen sind aufgrund jüngster Entscheidungen, jedenfalls wenn es Fixvergütungen sind, nicht umsatzsteuerbar: EuGH, U. v. 13.06.2019 – C-420/18 – in DStR 2019, 1396; BFH, U. v. 27.11.2019 – V R 23/19 – in DStR 2020, 279. Die Verwaltung hat zur Umsetzung dieser Entscheidungen noch nicht Stellung genommen.

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Zur Mitsprache der Vereinsmitglieder an Strukturmaßnahmen des Vereins MATHIAS HABERSACK

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Reichweite des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zweck des Vereins im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur Frage einer ungeschriebenen Zuständigkeit der Mitgliederversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit der „Holzmüller/Gelatine“-Rechtsprechung IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Das Vereinsrecht des BGB ist bekanntlich durch seine weitgehende Flexibilität gekennzeichnet: Es hält einen Rahmen sowohl für den kleinen Trachtenverein als auch für den Großverein mit unmittelbar oder auch mittelbar (über Tochtergesellschaften) verfolgten wirtschaftlichen Interessen bereit und hat es mithin „mit einer außerordentlichen Vielfalt von sozialen Sachverhalten zu tun.“1 Dem entspricht es, dass §§ 21 ff. BGB zu einem Gutteil dispositiver Natur sind und § 25 BGB gleichsam programmatisch und in Distanzierung von dem in § 23 Abs. 5 AktG geregelten Grundsatz der Satzungsstrenge die Satzungsautonomie betont.2 Freilich kann sich auch vereinsrechtliche Satzungsautonomie nur innerhalb des durch zwingendes Recht gesteckten und in § 40 BGB präzisierten Rahmens verwirklichen. Vor diesem Hintergrund sind, wie könnte es auch anders sein, längst nicht alle Fragen der Satzungsautonomie im Zusammenhang mit Strukturmaßnahmen eines Vereins geklärt. Zwei dieser Fragen sollen im Folgenden – verbunden mit der Hoffnung, damit auf das Interesse Roderich Thümmels zu treffen – erörtert werden, nämlich zum einen die K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 23 I 2. Zur historischen und aktuellen Bedeutung des § 25 BGB s. K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 24 III.1. mit weit. Nachw. 1 2

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Reichweite des Zweckänderungen betreffenden Einstimmigkeitserfordernisses des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB, zum anderen die aus dem Aktienrecht herrührende, indes auch den Verein betreffende Frage nach „ungeschriebenen“ Zuständigkeiten der Mitgliederversammlung. Beide Fragen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass nach § 32 Abs. 1 S. 1 BGB die Angelegenheiten des Vereins, soweit sie nicht von dem Vorstand oder einem anderen Vereinsorgan zu besorgen sind, durch Beschlussfassung in einer Versammlung der Mitglieder geordnet werden. Die Vorschrift hat allerdings, wie sich schon aus ihrem Wortlaut, aber auch aus § 40 BGB ergibt, dispositiven Charakter und gestattet es zumindest im Grundsatz, Vereinsangelegenheiten durch die Satzung der Mitgliederversammlung zu entziehen und einem anderen Organ zu übertragen.3 Der Mitgliederversammlung sind zwar in den vereinsrechtlichen Bestimmungen des BGB einige zwingende Zuständigkeiten übertragen. Hierzu zählen namentlich die Auflösung nach § 41 BGB und die Bestimmung des Anfallberechtigten nach § 45 Abs. 2 S. 2 BGB. Hingegen reiht § 40 BGB die Vorschriften des § 33 BGB explizit in die Gruppe der dispositiven Vorschriften ein. Dies gilt nicht nur für § 33 Abs. 1 S. 1 BGB, wonach Satzungsänderungen Sache der Mitglieder sind und diese hierüber mit qualifizierter Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen beschließen, sondern gleichermaßen für § 33 Abs. 1 S. 2 BGB, dem zufolge eine „Änderung des Zwecks des Vereins“ der Zustimmung aller – auch der nicht zur Versammlung erschienenen – Mitglieder bedarf. Von beiden Kompetenz- und Mehrheitsregeln kann die Satzung abweichen und beispielsweise die Zuständigkeit der Mitgliederversammlung zur Satzungsänderung auf ein anderes Vereinsorgan übertragen4 oder die Mehrheitserfordernisse abweichend von § 33 Abs. 1 BGB regeln.5

3 Vgl. dazu sowie zu den der Mitgliederversammlung kraft dispositivem Recht obliegenden Aufgaben Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 32 Rn. 4 ff. mit weit. Nachw. 4 Zur Frage, ob der Mitgliederversammlung zumindest die „Kompetenz-Kompetenz“ und damit das Recht verbleiben muss, die Satzungsänderungskompetenz wieder an sich zu ziehen, s. BeckOK BGB/Schöpflin § 33 Rn. 5; Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 32 Rn. 4, § 33 Rn. 7 f.; aA – gegen zwingende „Kompetenz-Kompetenz“ – MünchKommBGB/Leuschner 8. Aufl. 2018, § 33 Rn. 24, 26, § 33 Rn. 15, der allerdings § 33 Abs. 1 S. 2 BGB analog anwenden und die Aufgabe der Satzungsänderungskompetenz an die Zustimmung aller Mitglieder binden will. 5 Näher dazu Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 33 Rn. 6; MünchKommBGB/ Leuschner 8. Aufl. 2018, § 33 Rn. 23 ff.; speziell zu § 33 Abs. 1 S. 2 BGB Staudinger/ Schwennicke BGB, 2019, § 33 Rn. 50 ff.; s. ferner BGHZ 96, 245, 249 f.: eine allgemeine Satzungsänderungsklausel erfasst grundsätzlich nicht auch Zweckänderungen; speziell dazu Erman/Westermann BGB, 15. Aufl. 2017, § 33 Rn. 2.

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II. Zur Reichweite des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB 1. Der Zweck des Vereins im Allgemeinen a) Vereinszweck und Art und Weise der Zweckverfolgung Nach heute herrschender Meinung hat der Begriff des Vereinszwecks in §§ 21, 22, 43, 57 Abs. 1 und 33 Abs. 1 S. 2 BGB nicht durchweg dieselbe Bedeutung.6 Während es in §§ 21, 22, 43, 57 BGB vor allem um die Abgrenzung des ohne Weiteres eintragungsfähigen vom einer Konzession bedürftigen Verein gehe, komme dem Begriff des Vereinszwecks im Rahmen des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB eine mitglieder- und minderheitenschützende Funktion zu.7 Dies erhelle ohne weiteres daraus, dass die Vorschrift das Mehrheitsprinzip des § 33 Abs. 1 S. 1 BGB begrenze und die Zweckänderung nicht nur von der Zustimmung aller anwesenden Mitglieder abhängig mache, sondern darüber hinaus sogar die Zustimmung der nicht anwesenden Mitglieder verlange. Ob eine Zweckänderung im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB vorliegt, sei deshalb – dem telos der Vorschrift entsprechend – aus der Sicht und der Interessenlage des einzelnen Vereinsmitglieds zu bestimmen.8 Letzterem wird man zwar zustimmen können. Zu bezweifeln ist indes die Prämisse der herrschenden Meinung, dass nämlich § 33 Abs. 1 S. 2 BGB ein anderer Zweckbegriff zugrunde liege als etwa §§ 21, 22 BGB. Besinnt man sich nämlich der das Recht der „Wirtschaftsvereine“ und damit vor allem das Aktienrecht kennzeichnenden Unterscheidung zwischen Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand, der zufolge der Gesellschaftszweck den – bei der AG typischerweise auf Gewinnerzielung gerichteten – „finalen Sinn“ des Zusammenschlusses bezeichnet, wohingegen der Unternehmensgegenstand das zur Zweckverfolgung eingesetzte Mittel angibt,9 so erhellt, dass auch § 33 Abs. 1 S. 2 BGB nichts anderes als eben diesen „finalen Sinn“ des Zusammenwirkens der Mitglieder im Verein umschreibt.10 6 Näher dazu K. Schmidt BB 1987, 556 ff.; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002, § 24 III 4 b); ferner Erman/Westermann BGB, 15. Aufl. 2017, § 33 Rn. 1. 7 Staudinger/Schwennicke BGB, 2019, § 33 Rn. 36 f.; Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000; Erman/Westermann BGB, 15. Aufl. 2017, § 33 Rn. 1; BeckOK BGB/Schöpflin § 33 Rn. 7 f.; Häuser/van Look ZIP 1986, 749, 751 f.; K. Schmidt BB 1987, 556, 558. 8 Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 33 Rn. 8; Häuser/van Look ZIP 1986, 749, 751 f.; s. ferner OLG Hamm OLGZ 1980, 326, 328; Staudinger/Schwennicke BGB, 2019, § 33 Rn. 36 f.; Erman/Westermann BGB, 15. Aufl. 2017, § 33 Rn. 1. 9 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 23 Rn. 22 mit weit. Nachw. 10 Reuter ZGR 1987, 475, 480; so auch MünchKommBGB/Leuschner 8. Aufl. 2018, § 33 Rn. 11.

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Zweckänderung ist danach nicht schon die Änderung des Betätigungsfeldes des Vereins, sondern erst der Übergang von der ideellen zur erwerbswirtschaftlichen (sowie umgekehrt der Übergang von der erwerbswirtschaftlichen zur ideellen) Ausrichtung der Vereinstätigkeit. So gesehen steht § 33 Abs. 1 S. 2 BGB sehr wohl in engstem Zusammenhang mit §§ 21, 22 BGB, begründet doch der Übergang zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit die Gefahr der Entziehung der Rechtsfähigkeit des Vereins nach § 43 BGB (und damit nach § 54 BGB das Eingreifen der Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts). Selbst bei fundamentaler Änderung des Betätigungsfeldes unter Beibehaltung der ideellen Zwecksetzung hat es dagegen bei dem Mehrheitsprinzip des § 33 Abs. 1 S. 1 BGB zu bewenden. Den in diesem Fall erforderlichen Ausgleich für die Gefahr einer Majorisierung schafft das zwingende Austrittsrecht des § 39 BGB; verfügt der Verein über eine überragende Machtstellung oder gar über eine Monopolstellung, gelangen überdies kartellrechtliche Instrumente zur Anwendung. b) BGHZ 96, 245 Auch der BGH hat sich zwar für einen engen Anwendungsbereich des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB ausgesprochen, scheint jedoch – im Einklang mit dem dominierenden Schrifttum – auch dann eine Zweckänderung in Betracht ziehen zu wollen, wenn sich an der ideellen Ausrichtung der Vereinstätigkeit nichts ändert, vielmehr nur das Betätigungsfeld des Vereins ausgewechselt wird. So heißt es in der Leitentscheidung des II. Zivilsenats vom 11.11.1985:11 „Bei der Beantwortung der Frage, worin der Zweck eines Vereins zu sehen ist, kann nicht an der Erfahrungstatsache vorbeigegangen werden, dass Vereinssatzungen häufig nicht zwischen der eigentlichen – prinzipiell indisponbilen – Zweckbestimmung des Vereins und der – wenn auch mit qualifizierter Mehrheit – grundsätzlich disponiblen Darstellung von Aufgaben und einzuschlagenden Wegen unterscheiden, sondern den im allgemeinen Sprachgebrauch weit ausgedehnten Begriff des ‚Zweckes‘ nicht in rechtlich differenziertem Sinne verwenden. Eine weite Ausdehnung der indisponbiblen Zweckbestimmung entspricht aber in aller Regel nicht dem Interesse des Vereins und seiner Mitglieder; der Mangel klarer Abgrenzungen beruht insoweit häufig auch gar nicht auf der Vorstellung über die Tragweite einer fehlenden Unterscheidung und entspricht daher nicht dem Willen, wie er bei objektiver Beurteilung der Satzungsurkunde zu unterstellen ist. Denn jedermann weiß, dass es in einem längeren Vereinsleben nicht ausbleibt, dass sich die bei der Vereinsgründung maßgeblichen Umstände im Laufe der Zeit ändern, dass geänderte Forderungen an den Verein herantreten und sich unvorhergesehene Schwierigkeiten auftun, auf die sich ein Verein in praktikabler Weise einstellen und deretwegen er in der Lage sein muss, ohne Aufgabe der prinzipiellen Zielrichtung das Vereinsleben entsprechend abzuwandeln und dazu einzelne Teile der Satzung ohne Rücksicht auf Außenseitermeinungen sachgerecht den geänder11

BGHZ 96, 245, 251 f.

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ten Verhältnissen anzupassen. Im Zweifel ist daher nur derjenige enge Satzungsbestandteil, in dem der oberste Leitsatz für die Vereinstätigkeit zum Ausdruck gebracht wird, und mit dessen Abänderung schlechterdings kein Mitglied bei seinem Beitritt zum Verein rechnen kann, als ‚Vereinszweck‘ im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB anzusehen. … Diesen und anderen Fassungsvorschlägen ist gemein, dass als Vereinszweck in der Regel nur die große Linie angesehen werden kann, um deretwillen sich die Mitglieder zusammengeschlossen haben, und dass eine Zweckänderung nur vorliegt, wenn der ‚Charakter eines Vereins sich ändert‘.“

Zweckänderung ist danach also auch die Auswechslung der „Leitidee“ – besser: des Hauptbetätigungsfeldes – unter Beibehaltung der ideellen Zielsetzung des Vereins. Entsprechendes muss dann konsequenterweise gelten, wenn die Gewichtung zwischen mehreren „Leitideen“ verändert, neben der bisherige „Leitidee“ eine neue aufgenommen oder eine von bislang verfolgten „Leitideen“ aufgegeben werden soll.12 c) Weitere Beispielsfälle In der vorstehend zitierten Entscheidung hat der BGH zu Recht eine Zweckänderung für den Fall verneint, dass ein Verein zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und der Wirtschaftskriminalität im Interesse von Unternehmen, freiberuflich Tätigen und Verbrauchern mit Rücksicht auf die geänderten Anforderungen der Klagebefugnis nach § 13 UWG a.F. die Verbraucher aus seiner satzungsmäßigen Zielbeschreibung gestrichen hatte.13 Das RG hat hingegen eine Zweckänderung bejaht, wenn ein Verein zur Vertretung von Standesinteressen eine Wohlfahrtseinrichtung errichtet und hierfür nach Art und Höhe bisher nicht erhobene Beiträge einfordert.14 In die gleiche Richtung geht eine Entscheidung des OLG Hamm, in der es als Zweckänderung angesehen wurde, dass ein genossenschaftlicher Prüfungsverband für Kreditgenossenschaften sein satzungsmäßiges Betätigungsfeld um die Unterhaltung eines Sicherungsfonds erweitert und die Kosten hierfür durch hohe Umlagen auf die Mitglieder abwälzt.15 Sowohl die Entscheidung des RG als auch die des OLG Hamm dürften allerdings vor dem Hintergrund der jeweils im Raume stehenden Beitragserhöhungen zu sehen sein. Die Heranziehung des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB hat insoweit ersichtlich eine Lücke schließen sollen, die sich aus dem Fehlen einer vereinsrechtlichen Vorschrift nach Art des § 53 Abs. 3 GmbHG ergibt.16 Soergel/Hadding BGB, 13. Aufl. 2000, § 33 Rn. 9 mit weit. Nachw. BGHZ 96, 245, 251 ff. 14 RG JW 1931, 1450; s. ferner LG Nürnberg Rpfleger 1988, 151; AG Dortmund BB 1997, 225. 15 OLG Hamm OLGZ 1980, 326, 328; dazu Beuthien DB 1986, 6 ff. 16 Berechtigte Kritik an den referierten Entscheidungen deshalb bei MünchKommBGB/ Reuter 5. Aufl. 2006, § 33 Rn. 5. 12 13

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Soweit es an entsprechenden Beitragserhöhungen fehlt, ist die herrschende Meinung hingegen in der Annahme einer Zweckänderung zu Recht zurückhaltend. Neben dem schon erwähnten Urteil des II. Zivilsenats des BGH vom 11.11.1985 ist insoweit insbesondere17 das Urteil desselben Senats vom 14.7.1980 zu erwähnen, dem zufolge eine Zweckänderung nicht vorliegt, wenn ein Dachverband die bisherige korporative Mitgliedschaft zugunsten der unmittelbaren Mitgliedschaft der bisherigen Mitgliedsmitglieder beendet.18 Wiederum der II. Zivilsenat war es, der mit Urteil vom 19.2.2013 entschieden hat, dass die Verwirklichung des Vereinszwecks, durch sorgfältige Pflege des Sports zur körperlichen Ertüchtigung seiner Mitglieder beizutragen sowie durch den Sport Zusammengehörigkeit unter seinen Mitgliedern zu fördern, nicht voraussetzt, dass der Verein zur Ausübung einer bestimmten Sportart (in casu Rudern) eine entsprechende Abteilung unterhält; die Veräußerung des dem Betrieb dieser Sportart dienenden Grundstücks konnte deshalb auch ohne vorangehende Zweckänderung erfolgen.19 Das OLG Nürnberg hat in der Aufgabe des Schießsports durch einen Verein, der bislang die Ausübung des Schieß- und Bogensports gepflegt hat, zu Recht nur eine einfache Satzungsänderung erblickt.20 Entsprechendes muss gelten, wenn sich ein Verein für andere Sportarten öffnet.21 Eine Zweckänderung liegt dagegen vor, wenn ein bislang dem Amateursport gewidmeter Verein künftig in erster Linie Profisport betreibt und in der Folge Gefahr läuft, nach § 43 BGB seine Rechtsfähigkeit zu verlieren.22 Die Ausgliederung einer Profiabteilung durch einen Verein, der sich satzungsgemäß der Pflege des Sports widmet,23 ist dagegen mit Blick auf § 33 Abs. 1 S. 2 BGB ebenso indifferent wie der umgekehrte Vorgang, dass ein solcher Verein zusätzlich zu seinen Aktivitäten auf dem Gebiet des Amateursports und im Einklang mit dem Nebenzweckprivileg eine Profiabteilung aufbaut.

17 Informative Zusammenstellung der einschlägigen Rechtsprechung zu § 33 Abs. 1 S. 2 BGB bei Staudinger/Schwennicke BGB, 2019, § 33 Rn. 45 f. 18 BGH NJW 1980, 2707: „Der mit der Satzungsänderung angestrebte Übergang von der korporativen Mitgliedschaft der Bezirksverbände zur Einzelmitgliedschaft der Hotelbesitzer hat den Zweck des Landesverbandes unberührt gelassen.“ 19 BGH NZG 2013, 466 Rn. 17 ff., dort auch zur Frage, ob eine Satzungsänderung im Hinblick auf eine mit der Veräußerung verbundene faktische Auflösung des Vereins geboten war. 20 OLG Nürnberg npoR 2016, 65. 21 Enger MünchKommBGB/Leuschner 8. Aufl. 2018, § 33 Rn. 13: entscheidend sei, ob sich Zwecksetzung allgemein auf Förderung des Sports bezieht oder explizit eine konkrete Sportart umfasst. 22 Vgl. Leuschner NZG 2017, 1919, 1923. – Anders mag es sich verhalten, sollte es der Kita-Beschluss des BGH (NJW 2017, 1943) für die Annahme eines Idealvereins ausnahmslos genügen lassen, dass es nicht zu Gewinnausschüttungen an Mitglieder kommt. 23 Entsprechendes gilt für einen Verein, der einen im Rahmen des Nebenzweckprivilegs unterhaltenen Geschäftsbetrieb ausgliedert.

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2. Zusammenfassende Bewertung Als zutreffend erscheint es, eine Zweckänderung nicht schon bei Änderung des Betätigungsfeldes des Vereins, sondern erst bei Übergang von der ideellen zur erwerbswirtschaftlichen (sowie umgekehrt bei Übergang von der erwerbswirtschaftlichen zur ideellen) Ausrichtung der Vereinstätigkeit anzunehmen. Die herrschende, insbesondere auch vom BGH geteilte Ansicht, der zufolge eine Zweckänderung auch dann vorliegen soll, wenn sich die „Leitidee“ des Vereins – verstanden wohl im Sinne des Hauptbetätigungsfeldes – ändert, vermag weder aus vereinssystematischer Sicht (§ 33 Abs. 1 S. 2 BGB geht Hand in Hand mit §§ 21, 22, 43 BGB) noch im praktischen Ergebnis zu überzeugen. Auch soweit mit einer Veränderung des Betätigungsfeldes des Vereins Beitragserhöhungen einher gehen sollen, erfahren die überstimmten Mitglieder Schutz durch § 39 BGB, in Vereinen mit überragender Machtstellung oder gar einer Monopolstellung überdies durch kartellrechtliche Instrumente. Die Rechtsfolgen des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB sind in Fällen dieser Art überschießend. Im Übrigen – das heißt jenseits des Falles, dass sich mit einer Veränderung des Betätigungsfeldes des Vereins Beitragserhöhungen verbinden – waren höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung bislang mit der Annahme einer Zweckänderung sehr zurückhaltend. Dies mag damit zusammenhängen, dass es in den bislang entschiedenen Fällen an einer Änderung des Hauptbetätigungsfeldes des Vereins gefehlt hat. Als überzeugend erscheint es indes, in Fällen dieser Art von vornherein keine Zweckänderung, sondern einen Anwendungsfall des § 33 Abs. 1 S. 1 BGB zu erblicken.

III. Zur Frage einer ungeschriebenen Zuständigkeit der Mitgliederversammlung 1. Grundlagen Ungeachtet der weitreichenden Satzungsautonomie der Vereinsmitglieder fragt sich, ob über die gesetzlich vorgesehenen zwingenden Zuständigkeiten der Mitgliederversammlung hinaus ungeschriebene, mithin aus allgemeinen vereinsrechtlichen Erwägungen herzuleitende Mindestzuständigkeiten der Mitgliederversammlung anzuerkennen sind. Für das Aktienrecht hat der BGH mit seinen Entscheidungen in Sachen „Holzmüller“ und „Gelatine“ bekanntlich solche ungeschriebenen Zuständigkeiten bejaht, und zwar ungeachtet des weithin zwingenden Charakters des AktG und des vom Gesetzgeber an sich als abschließend gedachten Katalogs der Hauptversammlungszuständigkeiten in § 119 Abs. 1 AktG und gerade für den Fall, dass die

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in Frage stehende Maßnahme vom Wortlaut der Satzung noch gedeckt ist.24 Dies und der Umstand, dass ungeschriebene Zuständigkeiten der Gesellschafter auch im GmbH-Recht anzuerkennen und die Geschäftsführer verpflichtet sind, wesentliche Fragen „von Amts wegen“ der Gesellschafterversammlung vorzulegen,25 geben Anlass zu der Frage, ob Entsprechendes auch für das Vereinsrecht zu gelten hat. Die „Holzmüller“- und „Gelatine“-Grundsätze können hier schon aus Raumgründen nicht im Einzelnen dargestellt werden.26 Es ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass ausweislich des ersten Leitsatzes der „Gelatine“Entscheidungen ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung, die das Gesetz dem Vorstand als Leitungsaufgabe zuweist, „nur ausnahmsweise und in engen Grenzen anzuerkennen“ sind und allein dann in Betracht kommen, „wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der Gesellschaft an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.“27 Und weiter: „Außer für Fälle von Ausgliederungen“ könne diese Ausnahmezuständigkeit, so der Senat im zweiten Leitsatz der Entscheidungen, „jedenfalls für die Umstrukturierung einer Tochter- in eine Enkelgesellschaft wegen des mit ihm verbundenen weiteren Mediatisierungseffekts in Betracht kommen“.28 Zurückgeführt wird diese Erkenntnis auf den vom BGH schon in der „Holzmüller“-Entscheidung herausgearbeiteten Zweck des Zustimmungserfordernisses, der mit der jeweiligen Maßnahme verbundenen Verwässerung von Teilhabe- und Vermögensrechten der Aktionäre Rechnung zu tragen.29 In der Konsequenz dieser Herleitung liegt es sodann, die Strukturmaßnahme an einen mit qualifizierter Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Grundkapitals ergangenen Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung zu binden.30 24 BGHZ 83, 122 – Holzmüller; BGHZ 159, 30 – Gelatine I; BGH ZIP 2004, 1001 – Gelatine II; s. ferner BGH ZIP 2007, 24. 25 Näher Emmerich/Habersack/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Anh. § 318 Rn. 50 f. mit weit. Nachw. 26 Näher zu BGHZ 159, 30 – Gelatine I Arnold ZIP 2005, 1573 ff.; Bungert BB 2004, 1345; Fleischer NJW 2004, 2335; Goette AG 2006, 522; Götze NZG 2004, 585; Habersack AG 2005, 137 ff.; Koppensteiner Konzern 2004, 381; Reichert AG 2005, 150 ff.; Simon DStR 2004, 1482 und 1528; zusammenfassende Darstellung und weit. Nachw. bei Emmerich/Habersack/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Vor § 311 Rn. 33 ff. 27 BGHZ 159, 30; BGH, ZIP 2004, 1001. 28 BGHZ 159, 30; BGH, ZIP 2004, 1001. 29 BGHZ 83, 122, 131 f.; BGHZ 159, 30, 40. 30 BGHZ 159, 30, 45 f., dort auch zur Unmaßgeblichkeit einer satzungsmäßigen Konzernklausel.

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2. Übertragbarkeit der „Holzmüller/Gelatine“-Rechtsprechung a) Meinungsstand Die Rechtsprechung hatte bislang, soweit ersichtlich, keine Gelegenheit, sich mit der Frage der Übertragbarkeit der „Holzmüller“- und „Gelatine“Grundsätze auf den Idealverein zu befassen. Das Schrifttum hat sich – vor allem im Zusammenhang mit der Ausgliederung von Profifußballabteilungen des Vereins und überwiegend eher beiläufig – für die Übertragbarkeit der „Holzmüller/Gelatine“-Rechtsprechung auf das Vereinsrecht ausgesprochen.31 b) Grundsätzliche Übertragbarkeit In der Tat dürfte die Übertragbarkeit der „Holzmüller“- und „Gelatine“Grundsätze auf den Idealverein im Grundsatz nicht zu bezweifeln sein, nachdem der BGH die Grundlage ungeschriebener Mitwirkungsbefugnisse des Willensbildungsorgans nicht in der Gefährdung von Vermögensinteressen, sondern in der Verwässerung mitgliedschaftlicher Teilhaberechte erblickt hat. Die für das Aktienrecht entwickelten Grundsätze – und damit insbesondere das Erfordernis eines mit der für Satzungsänderungen erforderlichen Mehrheit ergangenen Zustimmungsbeschlusses der Mitgliederversammlung32 – müssen dann im Vereinsrecht erst Recht zur Geltung gelangen, nachdem die Zuständigkeit des Vereinsvorstands für die Geschäftsführung nicht festgelegt ist, das Vereinsrecht vielmehr in § 32 BGB von der Allzuständigkeit der Mitgliederversammlung und in §§ 27 Abs. 3, 665 BGB von der Weisungsbindung des Vorstands ausgeht und es zudem in § 26 Abs. 2 S. 2 BGB dem Satzungsgeber ermöglicht, die Vertretungsmacht des Vorstands mit Wirkung gegenüber Dritten zu beschränken. Namentlich mit einer Verlagerung von Vereinsvermögen in eine rechtlich selbständige Tochtergesellschaft geht deshalb aus Sicht der Vereinsmitglieder ein Verlust 31 Habersack in: Scherer (Hrsg.), Sportkapitalgesellschaften, 1998, S. 45, 54 f.; Kebekus Alternativen zur Rechtsform des Idealvereins im bundesdeutschen Lizenzfußball, 1991, S. 65 ff.; Lettl DB 2000, 1449, 1453 f.; Lettl Das Wertrecht der Mitgliedschaft beim IdealVerein, 1999, S. 141 ff.; Segna Vorstandskontrolle in Großvereinen, 2002, S. 151 ff.; Segna ZIP 1997, 1901, 1908 f.; Schick/Rühl Stiftung und Verein als Unternehmensträger, 1988, 49; Sprengel Vereinskonzernrecht, 1998, S. 191 ff.; im Ergebnis auch MünchKommBGB/ Leuschner, 8. Aufl. 2018, § 32 Rn. 6 (Vorlagepflichten des Vorstands gegenüber der Mitgliederversammlung); s. ferner Hopt BB 1991, 778, 785; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 24 III 4b; hinsichtlich des in BGHZ 83, 122, 134 anerkannten Klagerechts des Mitglieds auch Staudinger/Schwennicke BGB, 2019, § 33 Rn. 55; aA Hemmerich Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftlicher Betätigung von Idealvereinen, 1982, S. 158; offener sodann Hemmerich BB 1983, 26, 31. 32 S. BGHZ 159, 30, 45 f. und dazu bereits unter III.1.

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an Einflusspotential einher, der demjenigen entspricht, wie ihn auch die GmbH-Gesellschafter im Falle der Ausgliederung erleiden und wie er deren Mitsprache im Rahmen der Ausgliederung gebietet.33 Zwar ist der Grundsatz der Allzuständigkeit der Mitgliederversammlung seinerseits dispositiv, weshalb die Satzung Vereinsangelegenheiten jedenfalls im Grundsatz auch einem anderen Organ übertragen kann.34 Angesichts ihrer Satzungsänderungskompetenz35 verbleibt der Mitgliederversammlung indes zumindest eine „verhaltene“ Zuständigkeit in Vereinsangelegenheiten, um die sie durch Ausgliederungsmaßnahmen und vergleichbare Strukturmaßnahmen gebracht wird und die es rechtfertigt, auch bei Übertragung der Beschlussfassung in Vereinsangelegenheiten auf ein anderes Organ einen Mediatisierungseffekt nicht schon a priori zu leugnen, vielmehr die „Holzmüller“- und „Gelatine“-Grundsätze entsprechend heranzuziehen. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Grundsatz der Weisungsbindung des Vorstands und die Möglichkeit einer Beschränkung der Vertretungsmacht auch hinsichtlich der Wahrnehmung der mitgliedschaftlichen Befugnisse in Bezug auf die Tochtergesellschaft zur Anwendung gelangen und die Mitgliederversammlung deshalb sehr wohl Einfluss insbesondere auf die Wahrnehmung des Stimmrechts des Vereins durch den Vereinsvorstand nehmen kann.36 Denn dieses Einflusspotential der Vereinsmitglieder besteht nur im Rahmen der Organisationsverfassung der Tochtergesellschaft und bleibt deshalb insbesondere im Falle einer AG schon mit Blick auf die in §§ 111 Abs. 4 S. 1, 119 Abs. 2 AktG verankerten Geschäftsführungsverbote deutlich hinter dem in Bezug auf das Vereinsvermögen bestehenden Einflusspotential zurück. c) Wesentlichkeit der Maßnahme Während nach den „Gelatine“-Grundsätzen eine die Zuständigkeit der Hauptversammlung begründende Strukturmaßnahme nur unter der Voraussetzung vorliegt, dass rund 80% des Gesellschaftsvermögens betroffen sind,37 wird man für den Verein die Wesentlichkeitsschwelle schon mit Blick auf die größere Nähe der Mitgliederversammlung zur Geschäftsführung, wie sie insbesondere in der Weisungsbindung des Vorstands und der Mög33 OLG Karlsruhe ZIP 1990, 1572; Emmerich/Habersack/Habersack Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Anh. § 318 Rn. 49. 34 S. bereits unter I. 35 Zur Frage einer „Kompetenz-Kompetenz“ s. Fn. 4. 36 So aber MünchKommBGB/Leuschner, 8. Aufl. 2018, § 32 Rn. 6, der sich allerdings für Vorlagepflichten des Vorstands gegenüber der Mitgliederversammlung ausspricht. 37 BGHZ 159, 30, 44 f. unter Hinweis auf den Sachverhalt der „Holzmüller“-Entscheidung (BGHZ 83, 122), in dem es um die Ausgliederung eines Teilbetriebs ging, dessen Aktiva sich auf 80% der gesamten Aktiva der ausgliedernden AG beliefen, s. die Angaben im Berufungsurteil des OLG Hamburg ZIP 1980, 1000, 1005.

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lichkeit einer Beschränkung der Vertretungsmacht zum Ausdruck kommt, niedriger anzusetzen haben.38 Damit soll zwar nicht in Abrede gestellt werden, dass auch beim Verein eine ungeschriebene Zuständigkeit nur bei solchen Maßnahmen in Betracht kommt, die die Struktur des Vereins berühren und Rückwirkungen auf die mitgliedschaftlichen Befugnisse haben. Doch ist die vom BGH in „Gelatine“ adressierte „Kernkompetenz der Hauptversammlung“ beim Verein eher berührt als bei der AG. Dem sollte durch eine Herabsetzung der Wesentlichkeitsschwelle Rechnung getragen werden. Ein fester Schwellenwert dürfte sich schon mit Blick auf die Flexiblität des Vereinsrechts und die damit einhergehende Vielfalt an Vereinsverfassungen verbieten. Maßgebend sind vielmehr die Rückwirkungen der Maßnahme im konkreten Einzelfall. Mit allen Vorbehalten wird man sagen können, dass eine Zustimmungspflicht jedenfalls dann besteht, wenn von der Strukturmaßnahme mehr als 50% des Gesellschaftsvermögens betroffen sind. d) Neutralisierung des Mediatisierungseffekts Es bleibt die Frage, ob ein an sich relevanter Mediatisierungseffekt neutralisiert werden kann, insbesondere durch flankierende Satzungsregelungen, aber auch durch sonstige Umstände. Vor dem Hintergrund, dass die Grundlage des Zustimmungserfordernisses in der Verwässerung der mitgliedschaftlichen Teilhaberechte zu erblicken ist, muss diese Frage bejaht werden.39 Stellt also im Falle einer Ausgliederung die Satzung der aufnehmenden Gesellschaft oder eine Gesellschaftervereinbarung sicher, dass sich das Einflusspotential der Vereinsmitglieder durch die Einbringung nicht mindert, oder erfährt die Mitgliederversammlung des Vereins aufgrund sonstiger Umstände eine Aufwertung, so fehlt es schon an dem für das Eingreifen der „Gelatine“-Grundsätze maßgebenden Mediatisierungseffekt. Die Maßnahme wäre dann im Ergebnis einer Maßnahme horizontaler Art, also zwischen zwei Tochter- oder zwischen zwei Enkelgesellschaften (also etwa der Einbringung einer mittelbar gehaltenen Beteiligung an einer Enkelgesellschaft in eine andere Tochtergesellschaft), vergleichbar, bei der es gleichfalls an einer Mediatisierung der Rechte der Aktionäre der Obergesellschaft fehlt.40 An einem relevanten Mediatisierungseffekt würde es, um es am Beispiel der „Verenkelung“ einer Vereinstochter zu verdeutlichen,41 fehlen, 38 So im Zusammenhang mit der von ihm bejahten Vorlagepflicht des Vorstands auch MünchKommBGB/Leuschner 8. Aufl. 2018, Vor § 21 Rn. 156, 159. 39 S. für das Aktienrecht bereits Emmerich/Habersack/Habersack Aktien- und GmbHKonzernrecht, 9. Aufl. 2019, Vor § 311 Rn. 45; Arnold ZIP 2005, 1573, 1576; Bungert BB 2004, 1345, 1348. 40 Dazu Goette AG 2006, 522, 527. 41 Zur Anwendbarkeit der „Gelatine“-Grundsätze, insbesondere zum Vorliegen eines Mediatisierungseffekts s. BGHZ 159, 30, 41; Emmerich/Habersack/Habersack Aktienund GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Vor § 311 Rn. 45.

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wenn zwischen der einbringenden Gesellschaft und der (künftigen) Enkelgesellschaft eine durchgehene Kette von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen bestünde und zudem über Organverflechungen und konzernweite Zustimmungsvorbehalte sichergestellt wäre, dass der Vorstand der einbringenden Gesellschaft – und mit ihm auch das Willensbildungsorgan dieser Gesellschaft – seinen Einfluss auf die eingebrachte Gesellschaft uneingeschränkt behielte und zudem die Vermögensinteressen der einbringenden Körperschaft gewahrt blieben.42 Aber auch weniger weit reichende Maßnahmen können geeignet sein, die Folgen des mit der Strukturmaßnahme verbundenen Mediatisierungseffekts zu relativieren und im Rahmen der im Vereinsrecht unerlässlichen Einzelfallbetrachtung letztlich eine Zustimmungspflicht zu erübrigen.

IV. Fazit Die vorstehend angestellten Überlegungen haben mit Blick auf das Recht der Vereinsmitglieder zur Mitsprache an Strukturmaßnahmen des Vereins ein vermeintlich disparates Bild ergeben: Während sich auf der einen Seite der Anwendungsbereich des § 33 Abs. 1 S. 2 BGB entgegen der h.M. an §§ 21, 22, 43 BGB ausrichtet und auf den Übergang von ideeller zu erwerbswirtschaftlicher Ausrichtung (sowie den umgekehrten Vorgang) beschränkt, sind auf der anderen Seite die aktienrechtlichen „Holzmüller“und „Gelatine“-Grundsätze auch im Vereinsrecht zur Anwendung zu bringen und damit die Mitgliederversammlung an wesentlichen und die Gefahr einer Verwässerung mitgliedschaftlicher Rechte begründenden Strukturmaßnahmen zu beteiligen. In der Summe ergibt sich hieraus ein struktureller Gleichlauf von Vereins- und Kapitalgesellschaftsrecht.

neue rechte Seite! 42

Dazu Goette AG 2006, 522, 527.

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The Prague Rules – the New Contender and its Old Champion The Prague Rules – the New Contender and its Old Champion Inka Hanefeld and Dirk Wiegandt

The Prague Rules – the New Contender and its Old Champion INKA HANEFELD

AND

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I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Background, Main Objective and Scope of the Prague Rules 1. Background . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Main Objective and Scope of the Prague Rules . . . . . . . . . III. Main Features of the Prague Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Proactive Role of the Arbitral Tribunal . . . . . . . . . . . . . . 2. Restrictive Use of Document Production . . . . . . . . . . . . 3. Fact Witnesses and Experts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Iura Novit Curia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Encouragement of documents-only proceedings without a hearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Assistance in Amicable Settlement . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction A new contender has entered the arena: The Rules on the Efficient Conduct of Proceedings in International Arbitration (the “Prague Rules”) have lined up to challenge the old champion in the ring, the IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (the “IBA Rules”). And they have done so with considerable noise: Already during the drafting process, and no less so since their official launch on 14 December 2018, the Prague Rules have featured prominently at numerous arbitration conferences and have sparked a wealth of commentary. Indeed, the Prague Rules address one of the most persistent concerns surrounding international arbitrations: the time and costs involved in conducting international arbitration proceedings.1 Many practitioners attribute this concern in particular to the increased use of common law techniques in in1 On the issue see, for example, Gantenberg SchiedsVZ, 2012, 17; from an in-house counsel’s perspective, Sessler SchiedsVZ 2012, 15; see also the ICC Commission Report on Controlling Time and Costs in Arbitration, 2nd ed. 2012.

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ternational arbitration through the application of the IBA Rules.2 In line with this thinking, the initial drafts of the Prague Rules expressly mentioned the IBA Rules, which, according to the draft note from the working group, have become too associated with common law traditions.3 While the express reference to the IBA Rules (and the direct opposition voiced therewith) was dropped in the final version,4 the Prague Rules are commonly perceived as the civil law inspired counterpart to the IBA Rules.5 This article provides an overview of the background, objective and scope (II.) as well as the main features of the Prague Rules (III.). In doing so, it will also consider the IBA Rules so as to identify divergences and common ground between the two sets of rules. Professor Thümmel, to whom this article is dedicated in honour of his 65th birthday, does not only regularly sit as an arbitrator in international arbitrations. Having studied in the US and dealt with US related legal topics in his many scholarly writings, he is also well versed in the differences between what many describe as the US style “adversarial” approach and the more “inquisitorial” approach prevalent in dispute resolution in (continental) Europe. With the Prague Rules being conceived as a response to the “[c]reeping Americanization of international arbitration”,6 this topic is hoped to reflect Professor Thümmel’s interests, who himself has addressed the differences in the taking of evidence in the common law and the civil law traditions and their reception in international arbitration in earlier writings.7

II. Background, Main Objective and Scope of the Prague Rules 1. Background Soft law instruments such as the IBA Rules seek to fill gaps in existing national legislation and to harmonize divergent national traditions.8 National arbitration laws, as the lex arbitri, generally provide only for a rough framework with rudimentary rules on the conduct of the arbitral process, 2

See, for example, Khvalei Arbitration.ru 2018 Issue 4, 22; Henriques 36 ASA Bull. 2/2018, 351. 3 See the drafts of the Prague Rules of 14 February 2018 and of 11 March 2018, available at https://praguerules.com/publications/ (this link and all other links last accessed on 1 December 2019). See also Berger J Int’l Arb 2019, 295, 309 et seq. 4 See also Berger J Int’l Arb 2019, 295, 309 et seq. 5 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53. 6 Cf. the title of a debate held at the occasion of the Annual Conference of the Russian Arbitration Association (RAA) in Moscow on 20 April 2017: “Creeping Americanization of international arbitration: is it the right time to develop inquisitorial rules of evidence?”. 7 Thümmel AG 2006, 842. 8 Kaufmann-Kohler J Int’l Dispute Settlement 2010, 1, 7.

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including the taking of evidence. While all questions that arise in proceedings before state courts may, in principle, also arise in arbitral proceedings, national arbitration laws remain purposely silent on many procedural issues. In doing so, they grant the parties broad autonomy and, if the parties do not make use of that autonomy, they confer on the arbitral tribunal wideranging powers to determine the procedure.9 For instance, German arbitration law only provides a rough framework for the taking of evidence,10 which allows the arbitral process to be conducted either in a civil law or a common law fashion or to combine elements of both systems of law.11 While parties to an arbitration agreement frequently make reference to a set of arbitration rules, such as the rules of the German Arbitration Institute (DIS), the rules of the International Chamber of Commerce (ICC) or the UNCITRAL Arbitration Rules, which then supplement the lex arbitri, these rules typically do not provide for very specific or detailed rules regulating the taking of evidence either.12 Where national legislation as well as the chosen set of arbitration rules are silent on how evidence should be gathered and presented, the IBA Rules will often be brought into play. First promulgated in 1983,13 extensively revised in 199914 and again (last) revised in 2010,15 the IBA Rules assist the parties and the arbitral tribunal by providing mechanisms to fill the gaps: They set out rules on the presentation of documents, witnesses of fact and expert witnesses, as well as the conduct of evidentiary hearings, and are designed to be used in conjunction with institutional, ad hoc or other rules or procedures.16 As parties tend to import the procedural culture of their home jurisdiction into an arbitration, with the effect that opponents from different legal cultural backgrounds often come to an arbitral process with different expectations,17 the IBA Rules are aimed at striking a balance and to provide 9

Kaufmann-Kohler J Int’l Dispute Settlement 2010, 1, 7. With respect to witness evidence Sachs/Lörcher in: Arbitration in Germany, 2nd ed. 2015, § 1047 paras. 10 et seq., documentary evidence Sachs/Lörcher in: Arbitration in Germany, 2nd ed. 2015, § 1047 paras. 20 et seq. and expert evidence Sachs/Lörcher in: Arbitration in Germany, 2nd ed. 2015, § 1049. 11 Sachs/Lörcher in: Arbitration in Germany, 2nd ed. 2015, § 1042 para. 38. 12 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 54; Doudko/Golovtchouk The Ukrainian J of Business Law, October 2018, 20. 13 See, on the then named IBA Supplementary Rules Governing the Presentation and Reception of Evidence in International Commercial Arbitration (1983): D.W. Shenton Arb Int’l Vol. 1 (1985), 118. 14 The rules were re-named the IBA Rules on the Taking of Evidence in International Commercial Arbitration (1999). 15 The rules were re-named the IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration, deleting the word ‘commercial’, to reflect their use in investment treaty arbitrations. 16 IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (2010), Foreword. 17 Kaufmann-Kohler/Bärtsch SchiedsVZ 2004, 13, 14. 10

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for an acceptable middle ground between the different traditions.18 And, indeed, the IBA Rules are generally considered a great success in that they have become widely used and referenced as guidance in international arbitral proceedings throughout the world.19 This being said, many practitioners, in particular from (Eastern) Europe, perceive the IBA Rules as leaning too much towards common law traditions, which they say gives rise to inefficiencies. These practitioners maintain that the use of the IBA Rules leads to the introduction of certain litigation techniques originating from the common law tradition, such as extensive document production. While they acknowledge that the use of such “common law features in the IBA Rules” may be justified in disputes between companies from different legal cultures, they doubt that they are well-suited for disputes involving companies from civil law countries.20 The introduction of common law techniques as standard or best practice is what has been characterised as the “[c]reeping Americanization of international arbitration”.21 Another concern are weak and passive arbitrators who, for fear that their award might be challenged due to a violation of the parties’ due process rights – labelled “due process paranoia” –, grant unreasonable procedural requests, thereby prolonging the proceedings unnecessarily and increasing costs.22 It is against this background that a working group was formed with representatives from around thirty, mainly civil law countries23 in order to draft a new set of rules, the Prague Rules. 2. Main Objective and Scope of the Prague Rules In view of the aforementioned concerns and the widespread user dissatisfaction with the time and costs involved in arbitral proceedings, the main objective of the Prague Rules is to increase efficiency. This increase in efficiency shall be achieved “by encouraging a more active role of arbitral tribunals in managing proceedings (as is traditionally done in many civil law 18 Cf. IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (2010), Foreword: “The IBA Rules of Evidence reflect procedures in use in many different legal systems, and they may be particularly useful when the parties come from different legal cultures.” 19 See The IBA Arbitration Guidelines and Rules Subcommittee, Report on the reception of the IBA arbitration soft law products, September 2016, paras 19 et seq, available at www.ibanet.org/Document/Default.aspx?DocumentUid=105d29a3-6261-4437-84e2-1c 8637844beb; see also Berger J Int’l Arb 2019, 295, 303 (“global success”); Ashford The IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration: A guide, 2013, p. vii (“universally adopted”). 20 Khvalei Arbitration.ru 2018 Issue 4, 22. 21 See Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 54. 22 See Berger/Jensen Arb Int’l 2016, 415. 23 The list of the working group members is enclosed to the Prague Rules as Appendix I.

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countries).”24 The Prague Rules thus seek to implement an “inquisitorial” approach in the tradition of many civil law jurisdictions as opposed to a more “adversarial” approach of dispute resolution as it is associated with the common law tradition.25 While the Prague Rules were initially contemplated as an alternative to the IBA Rules, that is, as a set of rules for the taking of evidence, a broader concept developed during the drafting process: It was felt that the Prague Rules should deal with the procedural management of disputes more generally,26 which is reflected in the change of title from Inquisitorial Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration to The Rules on the Efficient Conduct of Proceedings in International Arbitration. In fact, the final version of the Prague Rules does not provide for very detailed provisions regarding the taking of evidence. The focus rather lies on providing and defining a framework for a proactive case management by arbitral tribunals.27 Accordingly, the Prague Rules also contain provisions which have no (direct) link to the taking of evidence, but deal with issues such as sharing preliminary views with the parties (Article 2.4), the assistance in amicable settlement (Article 9) or the allocation of costs (Article 11).28

III. Main Features of the Prague Rules 1. Proactive Role of the Arbitral Tribunal Directly following the issue of their application (Article 1), the Prague Rules address the proactive role they expect the arbitral tribunal to assume (Article 2). This reflects the great importance the Prague Rules place on proactive case management by the arbitral tribunal. Specifically, the Prague Rules provide that the arbitral tribunal shall hold a case management conference without any unjustified delay after receiving the case file, during which it shall discuss with the parties a procedural timetable and clarify their positions as regards their relief sought, the undisputed and disputed facts between the parties and the legal grounds on which they base their claims (Article 2.2). Pursuant to surely one of the most interesting and important provisions of the Prague Rules (Article 2.4), the arbitral tri24

Preamble to the Prague Rules. Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 55. 26 Cf. Khvalei Arbitration.ru 2018 Issue 4, 22, 25 (“the scope of the Prague Rules is broader: the Prague Rules are not only about evidence, they are also about managing conduct of the arbitration proceedings”); Panov Arbitration.ru 2018 Issue 4, 18, 19; Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 54 et seq. 27 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 54. 28 Amaral, Prague Rules v. IBA Rules and the Taking of Evidence in International Arbitration: Tilting at Windmills – Part I, Kluwer Arbitration Blog, 6 July 2018. 25

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bunal may, at the case management conference or at any later stage of the arbitration, indicate to the parties: a. the facts it considers to be undisputed and the facts it considers to be disputed between the parties; b. with regard to the disputed facts, the type(s) of evidence it would consider to be appropriate to prove the parties’ respective positions; c. its understanding of the legal grounds on which the parties base their positions; d. the actions which could be taken by the parties and the arbitral tribunal to ascertain the factual and legal basis of the claim and the defence; e. its preliminary views on: i. the allocation of the burden of proof between the parties; ii. the relief sought; iii. the disputed issues; and iv. the weight and relevance of evidence submitted by the parties. The proactive role of the arbitral tribunal, addressed in Article 2 more generally, is also reflected in various other provisions of the Prague Rules.29 As regards the fact finding process, Article 3 expressly encourages the arbitral tribunal to take a proactive role in establishing the facts of the case and expressly authorizes the arbitral tribunal, at its own initiative, to request any of the parties to submit relevant documentary evidence or make fact witnesses available for oral testimony at the hearing, appoint one or more experts, order site inspections, or to take any other actions which it deems appropriate (Article 3.2). Unlike the Prague Rules, the IBA Rules do not ascribe a certain role to the arbitral tribunal. The corresponding provision in Article 2.1 IBA Rules merely provides that the arbitral tribunal shall consult the parties at the earliest appropriate time in the proceedings and invite them to consult each other with a view to agreeing on an efficient, economical and fair process for the taking of evidence. The IBA Rules also encourage the arbitral tribunal to identify, as soon as it considers it appropriate, issues that it regards as relevant to the case and material to its outcome and/or for which a preliminary determination may be appropriate (Article 2.3 IBA Rules). While there is sizeable common ground, Article 2.4 of the Prague Rules is considerably wider in scope30 and goes beyond Article 2.3 of the IBA Rules in that it expressly provides for the power of the arbitral tribunal to share its preliminary views. Article 2 of the Prague Rules, in particular the express provision for the arbitral tribunal’s power to share preliminary views, generates some unease 29

Cf., for example, the provisions on fact witnesses (Article 5) and experts (Article 6) dealt with further below under III.3. 30 See also Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 55; Holder Austrian Yb Int’l Arb 2019, 157, 162.

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amongst practitioners from common law jurisdictions.31 It is feared that an arbitral tribunal pronouncing its preliminary views or directing the form and content of the evidence it wishes to see may result in (successful) challenges of subsequent awards.32 The Prague Rules attempt to allay these concerns by specifying that “[e]xpressing … preliminary views shall not by itself be considered as evidence of the arbitral tribunal’s lack of independence or impartiality, and cannot constitute grounds for disqualification” (Article 2.4 sentence 2). While an arbitral tribunal’s power to share its preliminary views is a well-accepted practice in civil-law jurisdictions such as Germany, Switzerland or Austria, with a trend even being observed towards encouraging the expression of preliminary views,33 it is not clear whether Article 2.4 of the Prague Rules will effectively immunize subsequent awards from being challenged before national courts that are not familiar with such practice.34 As regards the fact finding process, the IBA Rules do not contain one distinct provision which matches Article 3 of the Prague Rules. Still, the IBA Rules provide arbitral tribunals with equivalent powers when it comes to establishing the facts of the case: An arbitral tribunal may, on its own motion, request a party to produce documents or may itself take any step it considers appropriate to obtain documents from any person or organisation (Article 2.10 IBA Rules), it may order the appearance of a witness, even one whose testimony has not been offered by the parties (Article 4.10 IBA Rules), it may itself appoint one or more experts (Article 6 IBA Rules) or order inspections (Article 7 IBA Rules). This means that, in the end, as others have noted before,35 an arbitral tribunal operating under the IBA Rules may take on just as proactive a role in establishing the facts of the case as under the Prague Rules.

31 Cf., for example, McIlwrath The Prague Rules: The Real Cultural War Isn’t Over Civil vs Common Law, Kluwer Arbitration Blog, 12 December 2018; Javin-Fisher/ Saluzzo Prague Rules on evidence in international arbitration: a viable alternative to the IBA Rules?, Humphries Kerstetter, 25 January 2019, 1, 2; Giaretta Prague Rules OK?, The Resolver, Spring 2019, 8, 9 (“unheard of in a typical arbitration in common law countries”). 32 McIlwrath The Prague Rules: The Real Cultural War Isn’t Over Civil vs Common Law, Kluwer Arbitration Blog, 12 December 2018; Javin-Fisher/Saluzzo Prague Rules on evidence in international arbitration: a viable alternative to the IBA Rules?, Humphries Kerstetter, 25 January 2019, 1, 2. 33 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 55, referring to Article 27.4 and Annex 3 (F) of the 2018 DIS Arbitration Rules and Article 56 of the 2019 Interactive Arbitration Rules of the Japan Commercial Arbitration Association (JCAA); see also Berger J Int’l Arb 2018, 501, 506 et seq. 34 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 55. 35 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 56; Holder Austrian Yb Int’l Arb 2019, 157, 162 et seq.

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2. Restrictive Use of Document Production The Prague Rules are generally opposed to document production. Accordingly, Article 4.2 encourages the arbitral tribunal and the parties “to avoid any form of document production, including e-discovery”. Considering that many practitioners, in particular those from civil law jurisdictions, view (extensive) document production as one of the key factors that drive up time and costs in international arbitration, the hostility of the civil law-inspired Prague Rules in this regard does not come as a surprise. It is commonplace that the traditions and rules on document production differ considerably between civil law and common law jurisdictions: In civil law jurisdictions, the basic concept is that each party is responsible for producing the documents on which it relies to support its case and the parties are generally not obliged to produce documents that may be detrimental to their case. By contrast, in common law jurisdictions, the parties are typically obligated to produce all the evidence available to them that is relevant to the issues in dispute, including evidence that may adversely affect their case.36 The basic approach of the Prague Rules to document production thus very much leans towards the civil law (non-)tradition of document production. This being said, document production is not excluded under the Prague Rules: If, however, a party believes that it would need to request certain documents, it should so indicate to the arbitral tribunal already at the case management conference (Article 4.3). At a later stage of the arbitration, a party can request the arbitral tribunal to order document production “only in exceptional circumstances” and such request should be granted only if the arbitral tribunal is satisfied that the party could not have made the request at the case management conference (Article 4.4). The Prague Rules very much resemble the IBA Rules insofar as that they too37 require requested documents to be “relevant and material to the outcome of the case” (Article 4.5 (b)). However, unlike the IBA Rules, which contemplate requests for both single documents and (narrow and specific) categories of documents, the Prague Rules only provide for requests for “a specific document” (Article 4.5) and thus seem to exclude requests for ‘categories’ of documents, however narrow.38 In contrast to the Prague Rules, the IBA Rules do not generally oppose document production, but only intend to limit it to what seems appropriate in international arbitration. The drafters of the IBA Rules viewed “[e]xpansive American or English-style discovery” as “generally inappropriate”, while, at the same time, considering “some level of document production” to be “ap36 37 38

Kaufmann-Kohler/Bärtsch SchiedsVZ 2004, 13, 14 et seq. For the ‘relevant and material’ test in the IBA Rules see Article 3(3) (b) thereof. Lissner YAR July 2019, 15, 18.

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propriate in international arbitration.”39 In comparison with the rather lean provisions on document production in the Prague Rules, the IBA Rules provide for much more detailed and comprehensive provisions on the issue: Article 3 of the IBA Rules regulates in considerable detail the sequence, form and content of requests to produce, and the procedure, whereas the Prague Rules leave it to the arbitral tribunal to “decide on a procedure for document production” (Article 4.3). While it is certainly true that the IBA Rules, in comparison with the Prague Rules, allow for a much more extensive use of document production, it is worth noting that the IBA Rules grant the arbitral tribunal the power to exclude the production of a document on various grounds.40 This means that an arbitral tribunal operating under the IBA Rules is, in fact, well equipped to effectively limit the production of documents, even though these powers might not always be fully exercised in practice.41 3. Fact Witnesses and Experts The main object of the Prague Rules – i.e., to encourage arbitral tribunals to take on a proactive role in managing the proceedings – is also reflected in its provisions on fact witnesses (Article 5) and experts (Article 6). As to fact witnesses, the Prague Rules provide that it is the arbitral tribunal that decides which witnesses are to be called for examination at the hearing (Article 5.2). The arbitral tribunal may decide that witnesses shall not be called for examination if it considers their testimony to be irrelevant, immaterial, unreasonably burdensome or duplicative (Article 5.3) and it may also do so where a written witness statement has been submitted (Article 5.6) and even – although only exceptionally – where a party has insisted on calling a witness whose witness statement has been submitted by the other party (Article 5.7). Remarkably, a decision not to call a witness who has submitted a witness statement shall not limit the arbitral tribunal’s authority to give as much evidential value to the written witness statement as it deems appropriate (Article 5.8). The latter provision has received criticism: Giving evidential value to a witness statement, although the credibility of the witness’s testimony has not been tested at the hearing through examination and without the other party having had the opportunity to cross-examine the witness, has been called a “far stretch” that should be used with “extreme caution”.42 39 Commentary on the revised text of the 2010 IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration, p. 7. As Professor Thümmel has pointed out, demands from the civil law world for more restrictive rules on document production are well reflected in the IBA Rules, Thümmel AG 2006, 842, 847. 40 See Article 9.2 of the IBA Rules. 41 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 56. 42 Cf. Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 57 (“provision is a far stretch and should be used with extreme caution”).

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As regards experts, the Prague Rules, again in line with the civil law tradition,43 very much focus on tribunal-appointed experts. Article 6 starts out by providing that experts are appointed by the arbitral tribunal at the request of a party or on its own initiative (Article 6.1) and continues to set out the details as to the appointment of a tribunal-appointed expert (Article 6.2), the issuance of his or her report (Article 6.3) and the examination of the expert at the hearing (Article 6.4). It is only thereafter that the Prague Rules provide that “[t]he appointment of any expert by the arbitral tribunal does not preclude a party from submitting an expert report by any expert appointed by that party” (Article 6.5). Thus, tribunal-appointed experts are regarded as the (preferred) standard, whereas party-appointed experts are viewed as a mere addition.44 In comparison, the IBA Rules provide for much more detailed rules both on witnesses of fact (Article 4 IBA Rules) and on experts (Articles 5 and 6 IBA Rules). While the Prague Rules only touch upon written witness statements in passing and do not seem to ascribe them too much importance, the IBA Rules set out in considerable detail the required content of a witness statement (Article 4.5 IBA Rules). The same holds true for the content of an expert report (Articles 5.2 and 6.4 IBA Rules). With regard to experts, unlike the Prague Rules, the IBA Rules place party-appointed and tribunalappointed experts on an equal footing (Articles 5 and 6 IBA Rules). Again, it is important to note that arbitral tribunals operating under the IBA Rules also have effective tools at their disposal to limit or even exclude unsuitable witness testimony (cf. Articles 8.2 and 9.2 IBA Rules). The difference between the two sets of rules is hence not so much what arbitral tribunals effectively can do, but rather how the options available to them are framed: The Prague Rules, as a rule, intend for arbitral tribunals to take on an active role and to control and limit witness testimony, whereas, under the IBA Rules, as a rule, the parties are in charge of introducing witness testimony and the arbitral tribunal “merely” intervenes in case it deems it necessary to do so.45 4. Iura Novit Curia While the IBA Rules do not address the issue of ascertaining the applicable law, the Prague Rules contain a specific provision implementing the 43 Cf. Thümmel AG 2006, 842, 843, pointing out that, in the civil law tradition, not only the interrogation of witnesses but also the appointment of experts is typically conducted under the control of the court. 44 Cf. also Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 57 (“Art. 6 makes it rather clear that the tribunal-appointed expert is favoured over party experts in arbitrations conducted under the Prague Rules”); cf. also Lissner YAR July 2019, 15, 19. 45 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 57.

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principle of iura novit curia (Article 7). Specifically, the Prague Rules provide that the arbitral tribunal may apply legal provisions not pleaded by the parties (including, but not limited to, public policy rules) and rely on legal authorities not submitted by the parties, so long as the arbitral tribunal has sought the parties’ view on the legal provisions it intends to apply and afforded the parties sufficient opportunity to express their views on such legal authorities (Article 7.2). By implementing the iura novit curia maxim, the Prague Rules follow the civil law tradition according to which the national court (or judge) is assumed to know the (foreign) law and has the power to ascertain its contents on its own motion. By contrast, in many common law systems, it is for the parties to plead and prove the (foreign) law as if it were a factual matter.46 While the approach taken by national courts towards ascertaining the applicable law are generally deemed to be of limited guidance on how arbitrators should ascertain the applicable law,47 arbitration laws and rules are, by and large, silent on the issue.48 In this regard, the explicit endorsement of the iura novit curia principle in the Prague Rules may well be considered notable. While endorsing the iura novit curia maxim, the Prague Rules are, at the same time, wary of the risk that applying legal provisions and relying on legal authorities not advanced by the parties may amount to a due process violation if this comes as a “surprise” to the parties.49 This is precisely the reason why the Prague Rules specify that “the arbitral tribunal shall seek the parties’ view on the legal provisions it intends to apply” and that the parties are to be “given an opportunity to express their views in relation to such legal authorities” (Article 7.2 sentences 2 and 3). 5. Encouragement of documents-only proceedings without a hearing While the IBA Rules do not address the issue of whether a hearing should take place and simply assume that this is the case, the Prague Rules provide that the arbitral tribunal and the parties “should seek to resolve the dispute 46 For an overview on the topic, see, for example, International Law Association (ILA), Final Report on Ascertaining the Contents of the Applicable Law in International Commercial Arbitration, 2008, pp. 8 et seq. 47 See, for example, International Law Association (ILA), Final Report on Ascertaining the Contents of the Applicable Law in International Commercial Arbitration, 2008, p. 12. 48 For an exception, see, for example, Article 34(1)(2)(g) of the English Arbitration Act 1996, pursuant to which the tribunal shall have the discretion to decide “whether and to what extent the tribunal should itself take the initiative in ascertaining the facts and the law”. See also Article 22.1(iii) of the LCIA Rules (2014) which affords the tribunal the power to “itself take the initiative in identifying relevant issues and ascertaining relevant facts and the law(s) or rules of law applicable to […] the merits of the parties' dispute.” 49 See Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 58 with reference to French and Swiss case law on the matter.

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on a documents-only basis” (Article 8.1). If, however, one of the parties requests a hearing or the arbitral tribunal deems it appropriate, a hearing shall take place “in the most cost-efficient manner possible” (Article 8.2). If a hearing takes place, the Prague Rules encourage limiting the duration of the hearing and using video, electronic or telephone communication to avoid travel costs. The IBA Rules regulate the conduct of the hearing quite expansively, in particular when compared to the Prague Rules. For instance, the IBA Rules specifically address the sequence and conduct of the examination of witnesses.50 Although the Prague Rules contain separate provisions on the examination of fact witnesses,51 they provide for less formal and, in fact, rather fragmentary rules, thus leaving it to the parties and the arbitral tribunal to determine the precise conduct and organization of the hearing. It is to be seen whether the plea in the Prague Rules for a resolution of the dispute on a documents-only basis will gain much practical relevance. Parties (and their counsel) are typically reluctant to have their dispute resolved without a hearing, in particular where the stakes are high.52 Regularly, at least one of the parties will insist on having its ‘day in court’.53 6. Assistance in Amicable Settlement The Prague Rules provide that the arbitral tribunal may, unless one of the parties objects, assist the parties in reaching an amicable settlement of the dispute at any stage of the arbitration (Article 9.1). They further provide that any member of the arbitral tribunal may, upon the prior written consent of all parties, also act as a mediator to assist in the amicable settlement of the case (Article 9.2). In contrast, the IBA Rules, as a set of rules on the taking of evidence, do not contain a corresponding provision. It does not come as a surprise that the civil-law influenced Prague Rules encourage an active involvement of the arbitral tribunal in the amicable settlement of the dispute. In many civil-law jurisdictions, such as Germany, Switzerland and Austria, there is a long-standing tradition of judges and arbitrators proactively assisting the parties in negotiating and reaching an amicable settlement.54 This is also reflected, for example, in the 2018 DIS Arbitration Rules.55 By contrast, practitioners from common law jurisdic50

See, in particular, Article 8.3 of the IBA Rules. See, in particular, Article 5.9 of the Prague Rules. 52 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 58. 53 Lissner YAR July 2019, 15, 18. 54 Berger J Int’l Arb 2018, 501, 504 et seq.; Ehle in: Walking A Thin Line - What an Arbitrator Can Do, Must Do or Must Not Do, 2010, pp. 77, 79 et seq. 55 See Article 26 of the 2018 DIS Arbitration Rules, which – very similar to Article 9.1 of the Prague Rules – provides: “Unless any party objects thereto, the arbitral tribunal 51

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tions tend to view the mandate of a judge or arbitrator to be limited to the role of a ‘decision maker’ and, accordingly, regard the active involvement and promotion of an amicable settlement by the arbitral tribunal with suspicion.56 A study conducted in 2007 has also found a corresponding correlation between an arbitrator’s propensity to encourage an amicable solution of the dispute and his or her legal background.57 What is rather noteworthy, however, even from a (European) civil-law perspective, is that the Prague Rules foresee that any member of the arbitral tribunal may also act as a mediator. An arbitrator’s change of role to that of a mediator is – unlike, for example, in China58 – quite unusual in (European) civil law countries. And even if this may happen only upon the prior written consent of all parties (Article 9.2), it is often viewed with scepticism, in particular as a mediator will typically conduct ex parte discussions with the parties and may thus obtain confidential information from one party of which the other party does not know and has no opportunity to comment on.59 If the mediation does not result in a settlement, the arbitrator who acted as mediator may continue to act as arbitrator only upon the parties’ written consent. If such written consent is not obtained, the arbitrator’s mandate terminates and a new arbitrator is to be appointed (Article 9.3).

IV. Conclusion As the above “tour d’horizon” of the Prague Rules has shown, and as other authors, including members of the working group of the Prague Rules,60 have observed61 the Prague Rules are ultimately not so fundamentally different from the IBA Rules. In fact, arbitral tribunals operating under the IBA Rules could, if they make full use of the powers vested in them, take on just as proactive a role as under the Prague Rules and do under the IBA Rules what the Prague Rules (expressly) envisage. The actual difference beshall, at every stage of the arbitration, seek to encourage an amicable settlement of the dispute or of individual disputed issues.” 56 Cf., for example, Gill in: Best Practices in International Arbitration, ASA Spec. Series No. 26, July 2006, pp. 155 et seq.; on the diverging perceptions in the common law and civil law worlds see also Thümmel AG 2006, 842, 845. 57 Kaufmann-Kohler/Bonnin ICC Bull 2007, pp. 79 et seq., in their study on settlement rates in a certain number of ICC awards, Swiss and German arbitrators came out top. 58 On this topic Kaufmann-Kohler/Fan Kun J Int’l Arb 2008, 479 et seq.; this is why authors suggest that the Prague Rules may be interesting for disputes between Asian (particularly Chinese) and European parties, see Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 58. 59 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 58; Lissner YAR July 2019, 15, 17. 60 Khvalei Arbitration.ru 2018 Issue 4, 22, 25. 61 Rombach/Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 59; Amaral Prague Rules v. IBA Rules and the Taking of Evidence in International Arbitration: Tilting at Windmills – Part II, Kluwer Arbitration Blog, 6 July 2018.

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tween the two sets of rules is thus not so much what arbitral tribunals effectively can do but rather boils down to the question of what arbitral tribunals should do. As detailed above, the Prague Rules are in various respects a civil law inspired counterpart of the IBA Rules. Moreover, the Prague Rules are concerned with the case management more broadly and are not confined to issues regarding the taking of evidence. In any event, irrespective of parties actually referencing the Prague Rules, the Prague Rules must be given credit for having stimulated debate on how to increase efficiency in conducting international arbitral proceedings. Eventually, this might also have repercussions on how arbitral tribunals will assess the options available to them under the IBA Rules.

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The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal?

The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal? Richard Happ

The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal? Is it something else? An analysis of a legal chimera RICHARD HAPP

I. II. III. IV.

Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dispute Settlement under CETA . . . . . . Historical Context . . . . . . . . . . . . . . . What is the CETA Tribunal? . . . . . . . . 1. Criteria to define arbitration . . . . . . . . 2. Criteria to define an international court . 3. Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction In 1965, the Convention for the Settlement of Investment Disputes Between States and Nationals of Other States was opened for signature. It created the International Centre for the Settlement of Investment Disputes, generally known as ICSID.1 In the Preamble, the Contracting States recognized that investment disputes might arise from time to time, and that it might be appropriate to submit such disputes to international arbitration. As of 2020, 154 States have ratified the Convention.2 In the 50 years following that, States begin to insert into their bi- and multilateral investment protection treaties clauses which allowed investors to submit disputes to ICSID. Until 1996, only 2 or 3 cases were registered each year. Then an unprecedented growth started. The numbers rose to 27 in 1996 and 48 in 2016. As of June 30, 2019, ICSID had registered 728 cases in total.3 In the 21st century, the first cases against Western European states 1 Convention on the Settlement of Investment Disputes between States and Nationals of other States, 18 March 1965, 575 UNTS 159 (“ICSID Convention”). 2 A current status table is available at the ICSID website. 3 Under both the ICSID Convention and the Additional Facility Rules. See ICSID Caseload - Statistics, Issue 2019-2, p. 6, available on the ICSID website.

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were filed – first against Germany, then starting 2012 dozens of cases against the Kingdom of Spain after its cuts of solar subsidies. In 2015, in the midst of the negotiations for the Transatlantic Trade and Investment Partnership (“TTIP”), the EU Commission proposed a new “Investment Court System” for the TTIP and other trade and investment negotiations.4 Then EU Trade Commissioner Cecilia Malmström considered that „What has clearly come out of the debate is that the old, traditional form of dispute resolution suffers from a fundamental lack of trust.” 5 In a blog post of the same day, she stated she wanted to restore trust by setting up an Investment Court System “– one that is accountable, transparent and subject to democratic principles. It will be judges, not arbitrators, who sit on these cases. They must have qualifications comparable to those found in national domestic courts, or in international courts such as the International Court of Justice or the WTO Appellate Body. Also – the judges will be publically appointed in advance. And, like in courts, you won’t be able to choose which judges hear your case.”6 While the TTIP negotiations first stalled and then were finally discontinued7, the EU Commission managed to insert an Investment Tribunal System into the Comprehensive Economic and Trade Agreement.8 It no longer establishes a “court” with “judges”9, but a two-tier investment tribunal with “members”, which however, is to operate on the basis of ICSID or UNCITRAL arbitration rules and to render awards enforceable – depending on the framework chosen - under the ICSID or the New York Convention.10 Nevertheless, in an answer to an inquiry by a member of the German 4 For details see Catherine Titi, TDM vol. 14 (1), p. 1–35; Sebastian Wuschka, ZEuS 2016, 15–75; Laura Riccio/Roderick Hente, From arbitration to the investment court system: The evolution of CETA rules, EPRS (June 2017). 5 “Commission proposes new Investment Court System for TTIP and other EU trade and investment negotiations”, press release of 16 September 2015, available at http:// trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1364. The p2015 proposal is available here: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/november/tradoc_153955.pdf (last visited 30 December 2019). 6 The blog post had been published under the address https://ec.europa.eu/commission/ commissioners/2014-2019/malmstrom/blog/proposing-investment-court-system_en. With the new Commission having taken up work in 2019, this link needs to be activated via an internet archive such as the wayback-machine (archive.web.org). 7 See the description at http://www.europarl.europa.eu/legislative-train/theme-interna tional-trade-inta/file-ttip-investment-court-system-for-ttip. 8 Comprehensive Economic and Trade Agreement (“CETA”) between Canada, of the one part, and the European Union and its Member States, of the other part, OJ L 11, 14.1.2017, p. 23–1079. 9 For a review and comparison, see Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 120. 10 On the legal questions resulting from this approach, see Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 122 et seq. This paper is a more expanded and focused analysis of questions also raised there for the investment court system in general.

The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal?

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parliament, the German government stated that it considered the CETAtribunal to be a court, not an arbitration tribunal.11 This contribution looks at a very simple and very fundamental question: the EU seems to have created a legal chimera: a body which is to be a court, with “members of the Tribunal” being appointed by the States in advance like judges, but which renders awards. So what is this modern chimera? Is it a court? Is it some form of arbitration? Or really a chimera and thus a mechanism sui generis? The answer to this question has considerable practical relevance. If it is an arbitration mechanism, then the well-known and trusted framework of international arbitration applies, including the New York Convention. Awards can be enforced, but also be set aside. CETA even envisages that in Article 8.41. However, if the Tribunal is a court, then its decisions will be judgements and the arbitration framework does not apply. Its decisions would not even be enforceable outside the CETA parties.

II. Dispute Settlement under CETA It seems necessary to start by examining the dispute settlement system established by CETA in more detail. Investment dispute settlement is regulated in Chapter Eight of CETA, which regulates both protection of investments as well as dispute settlement (starting in section F. with Article 8.18). Article 8.23 provides that a dispute which has not been resolved through consultations might be submitted by an investor under the ICSID Convention, the ICSID Additional Facility Rules, the UNCITRAL Arbitration Rules or any other rules agreed on by the disputing parties (i.e. the investor and the respondent party).12 From the perspective of these rules, the provisions of Section F. from part of the arbitration agreement.13 As a matter of principle, this is not different from the mechanisms of other investment treaties such as the Energy Charter Treaty 11 BT-Drs 18/8024, answer to parliamentary query, dated 18 April 2016, question 4: „The Federal Government considers the investment tribunal in CETA to be an international court. Both in structure and organisation it differs substantially from an arbitral tribunal“ („Die Bundesregierung sieht das Investitionsgericht als internationales Gericht an. Das Investitionsgericht in CETA unterscheidet sich in seiner Organisation und Struktur wesentlich von einem Schiedsgericht.“) 12 CETA, Article 8.23 (2). It is not entirely clear how this is meant to work: whether proceedings operate on the basis of the ICSID Convention, making it ICSID convention proceedings, but raising questions as to whether mechanisms such as the Appellate Tribunal are compatible with the ICSID Convention, or whether proceedings operate on the basis of CETA and the selected arbitration rules, e.g. ICSID, are merely incorporated as party agreement. This clearly deserves further analysis which is beyond the scope of this paper. 13 See Article 8.25 (1): “in accordance with the procedures set out in this Section”. See also Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 120.

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(“ECT”), where the provisions of Article 26 ECT also become part of the arbitration agreement between the parties (although Articles 26 (1)-(7) are much less detailed). The Tribunal established under Section F. is to have fifteen members which are to be appointed by the CETA Joint Committee14. The Tribunal shall hear cases in divisions of three members, and Members of a division are appointed ad-hoc by the President of the Tribunal within 90 days of the submission of a claim.15 Proceedings shall be administered by the ICSID Secretariat which serves as Secretariat for the Tribunal and delivers support.16 Awards rendered under Section F. may be appealed against with an Appellate Tribunal which may uphold, modify or reverse a Tribunal’s awards.17 Awards rendered by a Tribunal will only be considered final if no appeal has been initiated within 90 days or an appeal has been rejected. Also, a final award by the Appellate Tribunal will be considered a final award.18 Final awards are nevertheless not yet final, in case of an award issued under the ICSID Convention the possibilities of revision and annulment remain, and in case of an award under ICSID Additional Facility Rules or UNCITRAL Arbitration Rules the possibilities to revise, set aside or annul the award. Nevertheless, a final award is considered to relate to claims arising out of a “commercial relationship or transaction for the purposes of Article I of the New York Convention”.19 Section F. of CETA is not entirely precise as to what it means when it speaks of the “Tribunal”. According to the definitions at the beginning of Chapter 8, “the Tribunal” is a tribunal established under Article 8.27 or 8.43 (consolidation). Article 8.27 regulates the establishment of the Tribunal, which consists of 15 Members, has a President and a Vice-President, hears cases in divisions of three members and may draw up its own working procedures (Article 8.27). Article 8.43 regulates the consolidation of proceedings, which would work via the establishment of a separate division of the Tribunal.20 However, CETA seems to use the term “Tribunal” sometimes referring to the full 15 member tribunal, and – it seems – sometimes to a case-specific tribunal (see, e.g. Article 8.31 (3), Articles 8.34 and 8.40). Since the Tribunal hears a case in a “division”, it would have been more appropri-

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CETA, Article 8.27 (2). CETA, Articles 8.27 (6)-(7). 16 CETA, Article 8-27 (16). 17 CETA, Article 8.28 (2). 18 CETA, Article 8.28 (9). 19 CETA, Article 8.41 (3), (5). 20 Article 8.43 (2). From a technical point of view, the references in the definitions to Art. 8.43 thus does not fully make sense. Article 8.43 already requires that the Tribunal has been set up and that a President has been appointed. Nevertheless, it differentiates between “the Tribunal” and “A Tribunal appointed under Article 8.27,7” (Article 8.43,11). 15

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ate to then speak of “a division”. It is to be assumed that this is either sloppy drafting or the attempt to make a division of the Tribunal “a tribunal” for purposes of international arbitration. In the following, we shall limit the term “Tribunal” to the full 15-member body.

III. Historical Context The CETA Tribunal is - by far - not the first international “tribunal” in the area of investment dispute settlement. It rather is the current endpoint of a development which started more than 200 years ago. The following brief overview highlights some of the key points of that development. The development from diplomatic protection to claims of individuals against States started at least with the Jay Treaty21 in 1794, which set up three compensation commissions, inter alia for claims of US nationals whose ships had been apprehended during the war. The idea behind it was summarized in the recommendation of the Chief Justice John Jay as follows: that commissioners should be appointed, who, upon due investigation, should award compensation for all American vessels and property that had been illegally captured and condemned during the existing war, „under colour“ of authority and commissions derived from the king, and for which no redress could be obtained in his majesty's courts.22

The commissioners were appointed by the two States, the Commission thus being a classical inter-state tribunal. As a side note, the reader might be interested to learn that among the questions discussed were topics still relevant today: such as whether the exhaustion of local remedies was necessary, whether the Commission could order the restitution of property and whether British laws justifying certain actions had relevance also for the Commission (which the Commission decided they did not).23 It is generally considered that the next milestone in the development of arbitration of questions of public international law – was the Alabama Arbitration (1869–1872).24 This arbitration dealt with the American claim that Great Britain had violated its duty of neutrality towards the parties of the 21

For a full description see Richard B. Lillich, 37 St. John's Law Review 1963, p. 260 et

seq. 22

William Jay, The Life of John Jay (1833), p. 326 (cited to the electronic version). See Richard B. Lillich, St. John’s Law Review 1963, p. 260, 277–279. 24 See Tom Bingham, in Wolfrum (ed.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2006), para. 11: “The Alabama arbitration has been recognized as a model for resolving international and commercial disputes according to law“, Similarly J. H. Ralston, International Arbitration From Athens to Locarno”, 197–202, who describes the Alabama Arbitration as „by far the greatest of all“; and also Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 116–117. 23

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American Civil War. In particular, the US advanced the claim that Britain had secretly built commerce raiders and delivered them to the Confederate States’ Navy. The most prominent one of these ships was the CSS Alabama, which ultimately gave the arbitration its name. The Alabama arbitration was a pure inter-state arbitration, with the two Contracting Parties delivering submitting cases of their nationals to the arbitrators (which, interestingly enough were five members with only two being appointed by the two parties).25 Nevertheless, in the absence of a compulsory dispute settlement mechanism States, all that remained for the investor was to ask his government for diplomatic protection. The home state could then espouse the investor’s claim (although it was under no legal obligation to do so) 26 and pursue it via negotiation, arbitration (if consent to such a procedure existed), or even (prior to 1945) by force. 27 It was only with the Hague Convention of 1899 (which established the Permanent Court of Arbitration in The Hague)28 and 1907 that arbitration was recognized as effective recourse and that the socalled “gunboat diplomacy”29 was ended. The participating States agreed to 25 As Bingham explains, not only direct claims (i.e. for loss of ships), but also indirect claims, e.g. for loss of value of shipping enterprises during the war, were submitted and accepted by the arbitrators. 26 This right of the state to diplomatic protection of its nationals has been summarized by the PCIJ as follows: ‘It is an elementary principle of international law that a state is entitled to protect its subjects, when injured by acts committed by another state, from which they have been unable to obtain redress though the ordinary channels. By taking up the case of one of its nationals and by resorting to diplomatic action or international judicial proceedings, a state is in reality asserting its own rights—its right to ensure, in the person of its subjects, respect for the rules of international law.’ PCIJ, The Mavrommatis Palestine Concessions (Greece v United Kingdom) , Merits, Judgment of 26 March 1925, Series A No 2, 4, 12. With the prohibition of the use of force in Article 2 (4) United Nations Charter, diplomatic protection lost its effectiveness. 27 The British government was adamant in protecting its citizens. In 1821 during the war between Spain and its former colonies, Spanish privateers seized a British merchantman. When the Spanish government offered no compensation, in 1823 a squadron was ordered to Puerto Rico to confront the governor and recover the vessel. When in 1874, a local colonel in Honduras looted property of a British railway construction company, the British battleship Niobe bombarded the colonel’s fortress until he capitulated and handed over his loot. L James, Rise and Fall of the British Empire (1997), 173–177, calling it the ‘informal empire’. 28 1899 Convention for the Pacific Settlement of International Disputes, available at: https://pca-cpa.org/en/documents/pca-conventions-and-rules/pca-founding-conventionsand-internal-rules/. The Convention was later revised in 1907. Its Artikel 16 reads as follows: “In questions of a legal nature, and especially in the interpretation or application of International Conventions, arbitration is recognized by the Signatory Powers as the most effective, and at the same time the most equitable, means of settling disputes which diplomacy has failed to settle.” 29 For a discussion of this “gunboat diplomacy”, see, e.g., Thomas Johnson/Jonathan Gimblett, Yearbook on International Investment Law & Policy 2010–2011 649, 651–653.

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refrain from using force for recovery of debts if the debtor state engaged in arbitration and complied with the result.30 The idea of using arbitration to settle disputes between States and foreign nationals gained further traction by the many so-called mixed claims commissions set up and operating in the 19th and 20th century.31 In the 19th century, these still were classical inter-state proceedings, with only States being entitled to file claims. This practice changed slowly after the First World War, with individuals sometimes being granted direct access.32 The best known example might be the Iran-US Claims Tribunal which by now has settled approx. 3900 cases. The Iran-US Claims Tribunal was set up in 1981 to settle, inter alia, claims of US nationals against Iran, and claims of Iranian nationals against the US. Its basis was the “Claims Settlement Declaration”, in which the Algerian government, which had acted as intermediary, recorded the agreement of the parties.33 The Tribunal is an interesting creature: unlike CETA, it was specifically set up as an “international arbitral tribunal” (Article II.1) with nine members, three appointed by the two States each and three appointed by the party-appointed arbitrators (Article III.1). Nationals had the right to present claims for themselves (if in excess of US$ 250,000)34, and an award should be enforceable against the two governments “in the courts of any nation”. This special nature led early on to a “more fundamental uncertainty about the proper place of the Tribunal and its work within tradition categories of international dispute resolution.” with courts taking different views.35 Investment disputes also sparked famous World court (PCIJ and ICJ) cases such as the Mavrommatis-Concessions Case36 (1924) and the Oscar Stephan Hobe, in Bungenberg/Griebel/Hobe/Reinisch, International Investment Law, p. 7, 7–13. 30 See The Hague Convention (II) Respecting Limitation of Employment of Force for Recovery of Contract Debts, Oct. 18, 1907, 187 C.T.S. 250, art. 1: “The Contracting Powers agree not to have recourse to armed force for the recovery of contract debts claimed from the Government of one country by the Government of another country as being due to its nationals. This undertaking is, however, not applicable when the debtor State refuses or neglects to reply to an offer of arbitration, or, after accepting the offer, prevents any compromis from being agreed on, or, after the arbitration, fails to submit to the award.” 31 On mixed claims commissions generally, see Rudolf Dolzer, in Wolfrum (ed), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (May 2011), available at opil.ouplaw. com. 32 Rudolf Dolzer, in Wolfrum (ed), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (May 2011), para. 17. 33 Text available at www.iusct.net. 34 David D. Caron, AJIL 1990, 104, at p. 134 places emphasis on this to argue that the claims belong to the national and not the State, i.e. that it is not a case of diplomatic protection. 35 David D. Caron, AJIL 1990, 104, 105, finally concluding the proceedings were subject to the Dutch lex arbitri (p. 56). 36 PCIJ, Mavrommatis Palestine Concessions (Greece v. United Kingdom), Merits, Judgment of 26 March 1925, Ser. A No. 2, 4 et seq.

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Chinn Case37 (1934), the Nottebohm Case38 (1955), the Barcelona Traction Case39 (1972) and the ELSI-Case40 (1989). However, where no agreement was possible to create such commissions or submit a case to international courts, States still at least exercised diplomatic pressure on other States to protect their nationals. A precondition to that, however, was the exhaustion of local remedies. To avoid the necessity to seek recourse with the local courts in the host state, investors from early on began to include arbitration clauses into their contracts with foreign states. Accordingly, the rising number of disputes in the oil sector led after the Second World War to several cases between foreign oil companies and Arabian states, e.g., the cases Aramco,41 and the famous Libyan arbitrations BP, Liamco and TopCo.42 Despite the large number of disputes settled by arbitration tribunals, however, the mechanism of international commercial arbitration had not been designed to settle such disputes. The lack of a special international legal framework sparked legal controversies, e.g. with respect to the applicable law,43 the enforcement of awards despite the sovereign immunity of states44 and the question whether the state was a party to the agreement at all.45 37 PCIJ, The Oscar Chinn Case (Belgium v. United Kingdom), Judgment of 12 December 1934, Ser. A/B No. 63 p. 4 et seq. 38 ICJ, Nottebohm Case (Lichtenstein v. Guatemala), Second Phase, Judgment of 6 April 1955, ICJ Reports 1955, p. 4 et seq. 39 ICJ, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), Second Phase, Judgment of 5 February 1970, ICJ Reports 1970, 4 et seq. 40 ICJ, The Case concerning Elettronica Sicula S.p.a. (ELSI) (United States v. Italy), Judgment of 20 July 1989, ICJ Reports 1989, 4 et seq. 41 Saudi Arabia v. Arabian American Oil Company, ILR, vol. 27, 1963, 47 et seq. 42 Lybian American Oil Corporation v. Government of the Libyan Arab Republic, ILR, vol. 62, 1982, 140 et seq.; British Petroleum Exploration Company (Libya) v. Government of the Libyan Arab Republic, ILR, vol. 53, 1979, 279 et seq.; Texaco Overseas Petroleum Company and California Asiatic Oil Company v. the Government of the Libyan Arab Republic, ILR, vol. 53, 19179, 389 et seq. These cases have been excellently described and analyzed in Christopher Greenwood, BYBIL, 1982, pp. 27–81. 43 See e.g. F. A. Mann, “The Theoretical Approach towards the Law Governing Contracts between States and Aliens”, in: F. A. Mann (ed.), Further Studies in International Law (1990), pp. 264–269; Stephen Toope, Mixed International Arbitration (1990); Esa Paasivirta, Participation of States in International Contracts (1990); Uwe Kischel, State Contracts (1992); M. Sornarajah, The Settlement of Foreign Investment Disputes (2000), pp. 223–278. 44 On the contemporary discussion then see, e.g. Christoph Schreuer, State Immunity – Some Recent Developments (1988); with special regard to investment arbitrations, see Hazel Fox, “Sovereign Immunity and Arbitration”, in: Julian Lew (ed.), Contemporary Problems in International Arbitration (1987), pp. 323–331; Albert Jan van den Berg, “The New York Arbitration Convention and State Immunity”, in: Karl-Heinz Böckstiegel (ed.), Acts of State and Arbitration (1997), pp. 41–60. 45 In cases where the investor has concluded a contract with a state enterprise, and where the state interferes with the performance of the contract, the question arises whether

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The development of the necessary legal framework for settling investment disputes by state-investor-arbitration started in 1965 with the creation of the International Centre for the Settlement of Investment Disputes (ICSID).46 By excluding recourse to diplomatic protection on the one hand and regulating questions of applicable law and enforcement of awards on the other, the ICSID was tailor-made for settling investment disputes in a neutral atmosphere. Its only major weakness, the necessity of an arbitration agreement between state and investor, was rectified by the states giving their consent in national laws on foreign investment and in investment treaties. This combination of substantive protection with a direct right of redress gave investors limited standing under international law.47 Today, some 2337 bi- and 314 multilateral investment treaties exist, most of which provide for arbitration of investment disputes.48

IV. What is the CETA Tribunal? Now that we have seen that investment dispute settlement has taken various forms over the centuries, the question is how we do assess whether the CETA Tribunal is an international court, as the German government suggests, or an international arbitration tribunal which renders “awards”? Or is it an international commercial arbitration tribunal, at least when it operates on the basis of the UNCITRAL arbitration rules? CETA envisages, after all, that awards can be set aside or annulled (cf. Art. 8.41). It is evident that the name “Tribunal” is inconclusive as such. CETA only speaks of “the Tribunal” but not of an “arbitral” tribunal. There exist international tribunals, i.e. those operating on the public international law plane, such as the International Tribunal for the Law of the Sea (ITLOS) or the former International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), which are also sometimes described as courts.49 There is even a recent monography analyzing whether the International Court of Justice, which is the state is party to the contract. On the contemporary discussion of that problem, see fundamentally Karl-Heinz Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Vertragsunternehmen (1971), the contributions of Hermann, Lalive and Cahier in: Julian Lew (ed.), Contemporary Problems in International Arbitration (1987). 46 Convention on the Settlement of Investment Disputes between States and Nationals of other States, 18 March 1965, ILM, vol. 4, 1965, 524 et seq. 47 See Hofmann, in Bungenberg/Griebel/Hobe/Reinisch, International Investment Law (2014), p. 46 et seq; Happ, Schiedsverfahren zwischen Staaten und Investoren nach Artikel 26 Energiechartavertrag (2000), p. 158–164. 48 https://investmentpolicy.unctad.org/international-investment-agreements (January 2020) 49 For the ITLOS, this is evident from its German name „Internationaler Seegerichtshof“. The ICTY describes itself as “a United Nations court of law that dealt with war crimes that took place during the conflicts in the Balkans in the 1990s.”, see www.icty.org.

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generally considered to be the epitome of an international court, is in reality an arbitral tribunal.50 It is evident that the outcome of any analysis will depend on the theoretical framework applies for the analysis. This is a difficult task. With respect to the Iran-US Claims Tribunal, it has been pointed out that “[T]he analysis of the Tribunal's nature remains incomplete, not from a lack of attention or concern, but because the positions taken tend to rest on intuition supported only by analogies.”51

A complete dogmatic analysis would be highly interesting, but is beyond the scope of this contribution. What will be done is to examine the CETA Tribunal in light of the criteria used to define arbitration proceedings and for international courts. If the result is an estimation whether it more closely resembles a court or a tribunal, then this is an approach which has been used by others52 and which seems appropriate given that international courts and arbitral tribunals share common characteristics.53

1. Criteria to define arbitration The first approach is to examine the definition of arbitration on the national law level and see whether it can be used. As it is commonly accepted under the New York Convention, “[a]n arbitral tribunal is a private panel of one or more arbitrators appointed to resolve a dispute by way of arbitration instead of state court proceedings, 50 Serena Forlati, The International Court of Justice: An Arbitral Tribunal or a Judicial Body?, 2014. 51 David D. Caron, AJIL 1990, p. 104, 107. 52 See Forlati, The International Court of Justice: An Arbitral Tribunal or a Judicial Body, 2014, p. 208: “The Court is more similar to arbitral tribunals than other international judicial bodies because of the principle of consent still underlies its contentions jurisdiction and moulds it in a particular pervasive way. Notwithstanding this fact, the ICJ’s contentions function may be deemed properly judicial, as opposed to arbitral, for a number of reasons.”. See also Jonathan Brosseau, in Biondi/Sangiuolo (eds.), Beyond TTIP: a new season for EU FTAs?, available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3273607, speaking of a “fluid spectrum”. 53 “However, judicial settlement stricto sensu, on the one hand, and arbitral settlement, on the other hand, share several characters. In both cases, i) a body composed of independent and impartial members, ii) is called to take a decision binding upon the parties to the dispute, iii) after an adversarial procedure during which the parties benefit from an equality of rights, and, iv) in both cases, the decision—usually an award in the case of arbitration, a judgment when given by a permanent body—will generally be based on exclusively legal consideration but might be founded on pure equity (→ ex aequo et bono) if the parties so agree.” Alain Pellet, Judicial Settlement of International Disputes, in Wolfrum (ed.), Max Plank Encyclopedia of Public International Law (Oxford University Press 2013), para. 25.

The CETA-Tribunal: is it a court? Is it an arbitration tribunal?

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deriving its authority from an agreement between the parties, and which is supposed to offer sufficient guarantees of independence and impartiality.”54

As all States have courts, it is relatively easy to define and identify whether a dispute settlement body is an arbitral tribunal: if the tribunal has been chosen by the parties to render a binding decision and is not a state court, then it is an arbitral tribunal. The criterion that an arbitral tribunal decides instead of a state court does not help when it comes to proceedings against other States, however. There is no national or international court with mandatory jurisdiction over States. States are sovereign and enjoy sovereign immunity. Even the International Court of Justice only has jurisdiction over States where they either have agreed to submit a specific dispute to it, or where they have accepted – voluntarily – compulsory jurisdiction for certain kinds of legal disputes (cf. Article 36 of the statute of the ICJ). Therefore, also the criterion of the arbitration agreement does not help to distinguish arbitral tribunals from courts. A State’s consent through its standing offer to arbitrate is conceptually difficult to distinguish from the consent to submit a dispute to the ICJ.55 Therefore, even though the arbitration agreement has been considered to be the “foundation stone of international arbitration”,56 it cannot help to distinguish an international court from an arbitral tribunal. While it has been convincingly argued that typical consent for an arbitral tribunal is narrow, specific and ad-hoc, and typical consent for an international court is broad, general and multilateral57, this is more a sign of typical hallmarks then of hard criteria: for the ICJ, the submission of a case by way of a compromise (i.e. an ad-hoc agreement) is provided in Art. 36 (1) of the Court’s statute, and recognition of ICJ jurisdiction as compulsory for future disputes only in Art. 36 (2). A further criterion is the appointment of arbitrators by the parties to the dispute. Parties are considered to enjoy broad party autonomy in selecting arbitrators.58 This is a criterion both used for domestic arbitration for arbitrations under public international law. According to the definition of the Advisory Committee of Jurists that assisted in the establishment of the Permanent Court of International Justice,

54 Bernd Ehle, in Wolff (ed.), The New York Convention, Article 1 para 28 (with further references). 55 Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 128 et seq. 56 Nigel Blackaby/ Constatine Partasides, Redfern and Hunter on International Commercial Arbitration, 6th ed., para. 2.01. 57 Jonathan Brosseau, in Biondi/Sangiuolo (eds.), Beyond TTIP: a new season for EU FTAs?, available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3273607, p.7. 58 Gary Born, International Arbitration (2014), p. 121.

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“arbitration is distinguished from judicial procedure in the strict sense of the word by three features: the nomination of the arbitrators by the parties concerned, the selection by the parties of the principles on which the tribunal should base its findings, and finally its character of voluntary jurisdiction.”59

The concept of a party-appointed arbitrator goes back to ancient times.60 In a typical arbitration (to start with analogies), the arbitrators are appointed by the parties and derive their authority from the agreement of the parties. They are also paid by the parties. In contrast, in a typical court case, the judges have been appointed in advance for a number of cases and the parties have no influence in the selection of the judges hearing their case. The judges are paid from public funds. If we apply this criterion of arbitrator appointments to the CETA Tribunal, we have to conclude that a CETA Tribunal most likely is not an arbitration tribunal: the investor has no say in the selection and appointment of those members of the Tribunal which are going to hear his case. The fifteen members have been appointed in advance by the CETA Joint Committee, and the investor cannot even pick one of the three Members which will hear its case: they are chosen at random (Article 8.27 (7)) and the CETA Joint Committee may “transform the retainer fee and other fees and expenses into a regular salary” (Article 8.27 (15)). It is a much more restrictive regulation than those arbitration institutions which offer a list system such as the CAS. Formally, this might still be compatible with party autonomy. It has been argued that the concept of party-appointed arbitrators is not a “right”, but rather an expresses of party autonomy which constitutes a cornerstone of arbitration: parties can choose how to participate in an arbitration, and this includes the appointment of arbitrators.61 The concept of party appointmenents has been heavily criticized recently.62 Even the New York Convention provides in Article 1 (2) that “[T]he term “arbitral awards” shall include not only awards made by arbitrators appointed for each case but also those made by permanent arbitral bodies to which the parties have submitted.” 59 Advisory Committee of Jurists, Documents Presented to the Committee Relating to Existing Plans for the Establishment of a Permanent Court of International Justice (1920), 113. 60 Sundaresh Menon, Journal of International Arbitration, 2017, pp. 347, 351. 61 Sundaresh Menon, Journal of International Arbitration, 2017, pp. 347, 362. 62 There is also a growing opinion – but still minority view - in academic literature that party appointments should be abolished in favor of appointment of the full tribunal by an arbitral institution, without that endangering the nature of the proceedings as arbitration, see, e.g., A.J. van den Berg, in: M.H. Arsanjani, J. Katz Cogan, R.D. Sloane & S. Wiessner (eds.), Looking to the Future: Essays on International Law in Honor of W. Michael Reisman pp. 821–843 (2011); J. Paulsson, ICSID Review 2010, pp. 339–355; Ch. N. Brower & Ch. B. Rosenberg, 29:7 Arb. Int’l 2013, pp. 7–44; A.J. van den Berg, Arb. Int’l 2015, pp. 381–391.

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So an argument could be made that if the investor is able to freely consent to such dispute settlement”, it is arbitration.63 From that perspective, as long as the investor is free to accept the states’ standing offer to arbitrate investment dispute in the treaties providing for the ICS, “even a semi-permanent dispute settlement institution with panel members that have been appointed by states and not by the parties to a specific dispute can qualify as arbitration.”64 With respect to the Iran-US Claims Tribunal, exactly that has been argued by UK and US Courts: the claimant still exercised a choice by filing a claim.65 That might have been a goal-oriented argument to make the Iran-US Claims Tribunal, which had been explicitly set up as an arbitral tribunal, workable. However, accepting a system where the arbitrators are appointed randomly from a body of 15 members (which themselves had been appointed by States) would clearly overstretch this criterion and deprive it of any value. There would not be any difference to submitting a case to a national or international court, such as the European Court of Human Rights, where the case is heard by judges selected according to some pre-determined procedure. The claimant, after all, still can decide whether to submit a case to that court or not.66 An interpretation of a criterion for distinguishing courts from arbitration which would no longer allow this, is useless and must be rejected. The last criterion (or hallmark) of international arbitrationis that the parties can agree on the rules to be applied by the Tribunal, both procedurally and substantive.67 That is the essence of party autonomy. It not entirely clear whether this is a criterion or rather a hallmark, but nearly every legal system and most institutional arbitration rules allow the parties to deviate 63 August Reinisch, Journal of International Economic Law 2016, p. 761, 67; see also Gabrielle Kaufmann-Kohler & Michele Potestà, Can the Mauritius Convention serve as a model for the reform of investor-State arbitration in connection with the introduction of a permanent investment tribunal or an appeal mechanism? – Analysis and roadmap, 3 June 2016, http://www.uncitral.org/pdf/english/commissionsessions/unc/unc-49/CIDS_ Research_Paper_-_Can_the_Mauritius_Convention_serve_as_a_model.pdf, para. 154, “What matters – as it clearly results also from the travaux – is the consensual basis of the adjudicator’s jurisdiction, which would be clearly met”. 64 Id., at 768. 65 See Marike Paulsson, The 1958 New York Convention in Action (2016), p. 121/122 referring to Mark Dallal v. Bank Mellat, High Court of Justice (1985), and Gould Inc., Gould Marketing, Inc. v. Hoffman Export Corporation, Gould International, Inc. v. Ministry of Defense of the Islamic Republic of Iran (9th Cir. 1989) and Abrahim Rahman Golshani v. The Government of the Islamic Republic of Iran, Bureau for International Legal Services (Court of Appeal Paris 2001). 66 And indeed it has been – and often still is – practice for lawers in Germany to review the case allocation plans (Geschäftsverteilungspläne) of courts to see in advance which chamber/division might get a case. 67 Nigel Blackaby/ Constatine Partasides, Redfern and Hunter on International Commercial Arbitration, 6th ed., para. 3.97–3.110; Gary Born, International Arbitration (2014), § 8.02.

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and tailor the proceedings to their liking. Assuming this is a criterion for an arbitration, the CETA Tribunal would not meet it. It is difficult to see how that can apply to CETA. Different from other investment treaties, Section F includes very detailed regulations about the arbitral procedure. The language of Section F CETA does not indicate that the disputing parties might be entitled to deviate from Article 8.18 to 8.43 CETA. They cannot decide not to have an Appellate Tribunal, or to exclude the role of the CETA Joint Committee, or make other such changes. These provisions are part of a multilateral treaty, and the Investment Tribunal System set up in Section F of Chapter 8 of CETA can only work if it is applied in full in every dispute submitted to it. These are thus obligations owed by one CETA party to the other CETA party. A State agreeing to deviate from it would certainly breach its obligations under CETA. The investor thus only has the chance to take the Investment Tribunal System as it stands. While it would still be possible to argue that this is compatible with party autonomy – the investor can decide whether to file a claim or not - this would deprive the idea of party autnom being constitutive for arbitration of any substantive content. With the same argument, submitting a case to a court such as the ECHR could be qualified as arbitration. It is therefore not tenable to argue that the CETA Tribunal is an arbitration tribunal. While such a formalistic conclusion could be reached, it would deprive the traditional criteria of defining arbitration of any value. 2. Criteria to define an international court The distinction between an international arbitral tribunal (meaning an tribunal operating on the basis of international law) and an international court is not easy. Both dispute settlement bodies share certain common characteristics. They are based on consent and neutral decision-makers render a binding decision. What is more, finding a workable definition for an international court is more difficult. As Chester Brown noted, “[t]here are, however, no universally accepted criteria.”68 There seems to be agreement among commentators, however, that for a body to be considered an “international court”, it must be created by treaty, must be permanent (i.e. not created for a specific case), apply international law and have pre-determined rules of procedure.69 The criterion of permanence applies also the persons deciding a dispute: 68

Chester Brown, A Common Law of International Adjudication, p. 10. See also Alain Pellet, Judicial Settlement of International Disputes, in Wolfrum (ed.), Max Plank Encyclopedia of Public International Law (Oxford University Press 2013), para. 54. 69 Chester Brown, A Common Law of International Adjudication, pages 10–11.

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permanent institutions have panel/chamber members which are appointed independently of a specific dispute, but not ad-hoc for a specific case.70 Applying these criteria to the CETA Tribunal leads to the result that it would fulfill the criteria for an international court. It is created by treaty (CETA) and it is permanent in the sense that its members have overlapping terms of service71 and not established for a specific case. Again, this also is not a rock-hard criterion. Not only does the New York Convention recognize the possibility of having permanent arbitral bodies rendering awards (see Art as the Iran-US Claims Tribunal also is permanent but has been considered an arbitral tribunal. While CETA does not have its own procedural rules – the investor can choose how to submit a claim – the procedural framework set out in Article 8.18 to 8.43 is detailed and regulates issues normally found not in investment treaties, but in procedural rules, such as applicable law (Article 8.31), claims manifestly without legal merit (Article 8.32), interim measures (Article 8.34) or discontinuance of claims (Article 8.35). Since these provisions, as part of the treaty, are non-derogable, they form an essential part of pre-determined rules of procedure. 3. Summary On the one hand, the CETA tribunal can only with great difficulty be considered an arbitration tribunal. On the other hand, it fulfills all criteria for an international court. That is not named a “court”, that the Members of the Tribunal are not designated as “judges” (as in the first TTIP drafts and in the press statements of the Commission), and that it is to render awards does not change this result. Substance should prevail over form, and the textual changes are not convincing in the light of the clear statement made in 2015.

V. Conclusion The CETA Tribunal is an international court and no arbitration tribunal. The EU Commission did want to create a court, and though it has applied 70 Alain Pellet, Judicial Settlement of International Disputes, in Wolfrum (ed.), Max Plank Encyclopedia of Public Inter-national Law (Oxford University Press 2013), para. 56; See also Jonathan Brosseau, in Biondi/Sangiuolo (eds.), Beyond TTIP: a new season for EU FTAs?, available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=3273607, p. 12. 71 While all members are appointed for a five-year term, once renewable, Art. 8.27,6 provides that 7 of the 15 first members will have a term of six years. Therefore, there will always be Members of the Tribunal active and at no time can the Tribunal have no Members.

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some cosmetic changes by calling the decisions awards, it still has created a court. That raises problems regarding the enforcement. They have been set out elsewhere in greater detail72 and can here only briefly summarized: firstly, whether a decision is an award under the New York Convention does not depend on its denomination, but on its substance.73 That CETA expressly states the contrary in Article 8.41,(5)74 has significance only for courts of the CETA parties. They will be bound by it and must apply it. Third states courts’, however, are not bound by CETA and will thus review the legal nature of the “awards” on their own. While it is possible that those courts will pay deference to CETA, as it has been the case with the Iran-US Claims Tribunal, this is not ensured. For awards formally rendered under the ICSID Arbitration Rules similar problems are possible75. CETA Article 8.41,(6) provides that a final award issued under Section F is to be considered as an ICSID award.76 Again, this provision will have legal effect only in the courts of the CETA contracting parties. In all other ICSID Member States the courts charged with enforcement will have to review whether it is an ICSID award. Given that CETA with its Appellate Tribunal deviates from fundamental principles of the ICSID Convention, at least very interesting and challenging work for lawyers is to be expected. The EU seems to have wanted to create a dispute settlement with the best out of two worlds – having an international court which operates in the arbitration framework – but failed to create the chimera it wanted. As long as no enforcement outside the EU and Canada is necessary, investment dispute settlement under CETA might work. These problems could have been avoided, but an efficient process was sacrificed on the altar of the political goal to have an “alternative” to arbitration.

neue rechte Seite! 72 See, e.g., August Reinisch, Journal of International Economic Law 2016, 761–786; Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, passim. 73 Bernd Ehle, in Wolff (ed.), The New York Convention, Article 1, paras 24–25 with further references. 74 A final award issued pursuant to this Section is an arbitral award that is deemed to relate to claims arising out of a commercial relationship or transaction for the purposes of Article I of the New York Convention. 75 See in more detail also August Reinisch, Journal of International Economic Law 2016, 761–786; Richard Happ/Sebastian Wuschka, Indian Journal of Arbitration Law, p. 113, 122 et seq. 76 “6. For greater certainty, if a claim has been submitted pursuant to Article 8.23 (2) (a), a final award issued pursuant to this Section shall qualify as an award under Section 6 of the ICSID Convention.”

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Gerichtsbarkeit, internationale Zuständigkeit und Rechtshängigkeit

Gerichtsbarkeit, internationale Zuständigkeit und Rechtshängigkeit Viktória Harsági

Gerichtsbarkeit, internationale Zuständigkeit und Rechtshängigkeit im ungarischen IPR nach der Reform 2018 VIKTÓRIA HARSÁGI

I. Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Diplomaten und Konsuln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staaten und Staatsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vollstreckungsimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die allgemeine internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . 2. Besondere internationale Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . 3. Die ausschließliche und die ausgeschlossene internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vereinbarung über die internationalen Zuständigkeit . . . . 5. Der Mangel der internationalen Zuständigkeit . . . . . . . . III. Internationale Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die wichtigsten Normen des ungarischen internationalen Zivilprozessrechts wurden bis zum 31. Dezember 2017 von der Gesetztesverordnung Nr. 13/1979 über das Internationale Privatrecht (uIPR-VO) geregelt. Diese wurde durch das Gesetz Nr. XXVIII von 2017 (uIPRG1) ersetzt, das am 1. Januar 2018 in Kraft getreten ist. Die neue ungarische ZPO (uZPO, Gesetz Nr. CXXX von 2016) trat am selben Tag in Kraft. Die beiden Kodifizierungen überschnitten sich etwas. So entwickelte sich die Struktur, die wir jetzt – hinsichtlich der Platzierung von Regelungen der IPR – erleben. Traditionell ist die Mehrheit der Regelungen der IZPR nicht in der uZPO, sondern in der uIPR-VO, bzw. uIPRG und im Zwangsvollstreckungsgesetz vom Jahre 1994 (uZwVollstrG) geregelt. Es sollte auch beachtet werden, dass immer mehr Bereiche von der europäischen Gesetzgebung abgedeckt werden. Dies beschränkt den Spielraum des Gesetzgebers sowohl im Bereich des internationalen Zivilverfahrens1 Die Übersetzung des Textes des uIPRG in diesem Bericht basiert auf folgender Ressource: Csehi: Über das neue Gesetz Ungarns betreffend das internationale Privat- und Verfahrensrecht – Eine kurze Übersicht. IPRax 2018/3, S. 306–323.

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rechts als auch im Bereich des Kollisionsrechts. Das IPR der EU stellt derzeit kein vollständiges und kohärentes System dar; die relevanten Regeln decken keines der Teilfelder vollständig ab. Der Zweck des uIPRG besteht darin, einheitliche Regelungen auf solchen Gebieten zu bieten, die (noch) nicht von europäischen (und internationalen) Rechtsquellen abgedeckt sind.2 Weil Ungarn – aufgrund seiner wirtschaftlichen Beziehungen und seiner geografischen Lage – am intensivsten mit den EU-Mitgliedstaaten verknüpft ist, sind in der Mehrheit der Verfahren mit ausländischen Bezügen weniger die internationalen Ab-, bzw. Übereinkommen, als vielmehr die Verfahrensnormen der EU-Rechtsakte anzuwenden,3 vorausgesetzt, dass es bereits eine EU-weite Regelung in diesem Bereich gibt. Die Definition von Fragen, die nicht durch das EU-Recht geregelt werden, ist jedoch nicht einfach, da in den einzelnen Verordnungen der eigene Anwendungsbereich nicht immer klar umrissen ist. In diesem Zusammenhang spielen die Aktivitäten des EuGH und seine sich ständig weiterentwickelnden Rechtsprechung eine wesentliche Rolle.4

I. Gerichtsbarkeit 1. Diplomaten und Konsuln Seit 1965 ist Ungarn Mitgliedstaat des Wiener Übereinkommens vom 18.4.1961 über diplomatische Beziehungen.5 Die Anwendung des Übereinkommens sichert die Gesetzesverordnung Nr. 7 von 1973. Gem. §§ 1–2 dieser Verordnung soll das Gericht oder die sonstige Behörde das Verfahren von Amts wegen aussetzen, wenn in Zivilverfahren oder Verwaltungssachen als Partei ein ausländischer Staat beteiligt ist oder wenn die Partei - bzw. der Angeklagte oder der Beklagte – in Zivilverfahren, Strafverfahren oder Verwaltungssachen, diplomatische oder sonstige völkerrechtliche Immunität genießt. Die Bestimmungen dieser Gesetzesverordnung gelten auch für arbeitsrechtliche Streitigkeiten. Aufgrund eines Berichts des Gerichtes oder einer sonstigen Behörde entscheidet das Aufsichtsorgan im Einvernehmen mit dem Außenminister. 2 Somssich: Az uniós tagállamok szabályozástechnikai megoldásai a nemzeti jog, valamint az uniós jog viszonyának rendezése a nemzetközi magánjog területén. In: Berke/ Nemessányi (eds.): Az új nemzetközi magánjogi törvény alapjai. Budapest, HVG-Orac, 2016, S. 44–59.; Mohai: A nemzetközi magánjogról szóló új törvényünkről. Magyar Jog, 2018/1. S. 23–24. 3 Szőcs: Nemzetközi polgári eljárásjogi szabályok. In: Varga (ed.): A polgári perrendtartás és a kapcsolódó jogszabályok kommentárja. HVG-ORAC, Budapest, 2018, S. 2045. 4 Mohai: a.a.O. (Fn. 2), S. 23. 5 BGBl. 1964 II, S. 957; in Kraft seit dem 24.10.1965, BGBl. 1966 II, S. 217; vgl. ungarischerseits die Gesetzesverordnung Nr. 22/1965, in Kraft seit dem 3.9. 1965.

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Wenn das Aufsichtsorgan die Immunität feststellt, kann das Gericht oder die sonstige Behörde wegen des Fehlens der Gerichtsbarkeit kein Verfahren einleiten oder fortsetzen bzw. gegenüber den Immunität genießenden Personen keine Maßnahmen treffen [§ 5 der Gesetzesverordnung Nr. 7 von 1973.]. Seit 1987 ist Ungarn auch Mitgliedstaat des Wiener Übereinkommens vom 24.4.1963 über die konsularischen Beziehungen6. Verfahren gegen einen ungarischen Staatsangehörigen, der im Ausland als diplomatischer Vertreter handelt oder aus anderen Gründen von der Gerichtsbarkeitbefreit ist, dürfen ausschließlich vor einem ungarischen Gericht verhandelt werden, es sei denn, der ungarische Staat oder die beschäftigende internationale Organisation hat ausdrücklich auf die Immunität verzichtet. Verfahren gegen einen ausländischen Staatsangehörigen, der in Ungarn als diplomatischer Vertreter handelt oder ansonsten von der internationalen Zuständigkeit befreit ist, dürfen vor einem ungarischen Gericht nicht verhandelt werden, es sei denn, der ausländische Staat oder die beschäftigende internationale Organisation hat ausdrücklich auf die Immunität verzichtet [§ 86 uIPRG]. 2. Staaten und Staatsunternehmen Die Beurteilung der staatlichen Immunität hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der ungarischen IPR-Literatur wesentlich geändert. Der namenhafteste ungarische internationale Privatrechtler Szászy vertritt die Konzeption der absoluten Immunität des Staates. Dieses Prinzip vertrat er in dem von ihm im Jahre 1948 gefertigten Gesetzentwurf.7 Die sozialistische Rechtsliteratur fasste die Immunität als die Erscheinungsform der staatlichen Souverenität auf und behandelte sie als internationales öffentlichrechtliches Phänomen.8 Das Prinzip der “funktional-relative“ Immunität löste die absolute staatliche Immunität erst am Ende der siebziger Jahre ab.9 Die uIPR-VO vom Jahre 1979 beruht noch auf dem Kompromiss der klassischen These mit der neueren Konzeption, also auf dem Kompromiss 6

BGBl. 1969 II, S. 1585; in Kraft seit dem 19.7.1987, BGBl. 1987 II, S. 783; vgl. ungarischerseits Gesetzesverordnung Nr. 13/1987. 7 Szászy: Magyar nemzetközi magánjog. Törvénytervezet és Indokolás. Budapest, 1948, S. 11, 89. 8 Réczei: Nemzetközi magánjog, Budapest, 1955, S. 186–141. 9 Bei Mádl erscheint zuerst der Gedanke, dass die Immunität dem Staat in dem Fall nicht zusteht, wenn sie nicht in öffentlicher-rechtlicher (iure imperii) sondern in solcher zivilrechtlichen oder handelsrechtlichen Funktion (iure gestionis) vorgeht, in der gewöhnlich Subjekte des Zivilrechts bzw. des Handelsrechts vorgehen. Mádl/Vékás: Nemzetközi magánjog és nemzetközi gazdasági kapcsolatok joga, Nemzeti Tankönyvkiadó, Budapest, 2004, S. 153. (Englischsprachige Ausgabe: dies., The Law of Conflict and Foreign Trade, Budapest 1987.)

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der absoluten Immunität und der funktional-relativen Immunität. Dadurch ist es zu erklären, dass sich der Kodex in drei verschiedenen Zusammenhängen mit der Immunität beschäftigte und unter den einzelnen Regelungen die Übereinstimmung fehlte.10 Durch die Modifizierung vom Jahre 2000 wurde die Regelung der staatlichen Immunität auf neue Grundlagen gestellt. Entsprechend dem Prinzip der relativen Immunität war die ungarische internationale Zuständigkeit im Verfahren gegen den ungarischen Staat oder ungarische staatlichen Behörden dann nicht ausschließlich, wenn der ungarische Staat auf die Immunität verzichtete, oder wenn die in der Gesetzesverordnung festgelegten zivilrechtlichen Rechtsverhältnisse des ungarischen Staates oder der ungarischen Behörde den Gegenstand des Verfahrens bildeten [§ 62/A lit. c) uIPR-VO]. Dieses Prinzip war auch maßgebend, wenn ein ausländischer Staat betroffen war. Folglich war die Gerichtsbarkeit nicht ausgeschlossen im Verfahren gegen den ausländischen Staat oder die ausländische staatliche Behörde, wenn der ausländische Staat auf die Immunität verzichtete oder – ohne Rücksicht auf seine Befreiung – die in der Gesetzesverordnung festgelegten zivilrechtlichen Rechtsverhältnisse des ausländischen Staates den Gegenstand des Verfahrens bilden Diese Rechtsverhältnisse – entsprechend dem Übereinkommen des Europarats über staatliche Immunität vom Jahre 1972 – zählte der Kodex unter § 62/E Abs. 1 auf. Bestimmungen über die Immunität wurden in der alten Gesetzesverordnung in zwei Kapiteln festgelegt, einerseits im Kapitel über die Rechtsubjekte, andererseits im Kapitel über die ausschließliche, bzw. ausgeschlossene Zuständigkeit. Die Innovation des neuen uIPRG ist, dass die Immunität nicht mehr unter dem Titel der Zuständigkeit, sondern in den verfahrensrechtlichen Bestimmungen geregelt ist.11 Nach den Erwägungen des neuen uIPRG ist die Immunität von den Zuständigkeitsregeln im Bereich des IPR zu unterscheiden, da die Immunität im Wesentlichen öffentlich-rechtlichen Charakter hat. Diese Ansicht wird auch durch die Tatsache gestützt, dass sich der Anwendungsbereich der EU-Verordnungen nicht auf die Frage der Immunität erstreckt, sondern diese vielmehr von den ungarischen Gerichten nach dem Völkerrecht, bzw. dem nationalen Recht geprüft wird. Ferner kann die Aufname der Immunität in die Zuständigkeitsregeln zu einer Auslegung dahingehend führen, dass 10 § 17 der uIPR-VO, weiterhin ihr § 55 über die ausschließliche internationale Zuständigkeit folgten der Theorie der absoluten Immunität, während ihr § 72 über die Anerkennung der ausländischen Entscheidungen der Theorie der funktionalen Immunität folgte. Letzteres besagte, dass eine ausländische Entscheidung gegen den ungarischen Staat oder ein Organ der ungarischen Staatsgewalt oder Staatsverwaltung anerkannt werden muss, wenn der ungarische Staat auf die Immunität ausdrücklich verzichtet hat oder wenn das ausländische Gericht oder eine ausländische Behörde kraft eines internationalen Vertrages oder wegen Bestehens der Gegenseitigkeit vorgehen konnte. 11 Csehi: a.a.O. (Fn. 1), S. 303.

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diese die Immunität betreffenden Regeln in der EU nicht gelten. Um dies zu vermeiden, wurden die Regeln vom Gesetzgeber getrennt von den Zuständigkeitsvorschriften in dem neuen uIPRG festgelegt.12 Die Grundlage für die Regelung des neuen uIPRG ist immer noch die alte uIPR-VO, die aber durch die Bestimmungen des New Yorker Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit vom 2.12.2004 – ergänzt wird.13 Die Begriffbestimmung des Staates in § 82 uIPRG steht im Einklang mit dem New Yorker Übereinkommen. Demnach versteht man unter dem Begriff „Staat” auch die Organe des Staates, die öffentliche Gewalt ausüben, und die Personen, die im Namen des Staates handeln (bei Ausübung ihrer Befugnisse). Wie in der alten uIPRG-VO beruht das neue Gesetz auf dem Grundsatz der absoluten Immunität : im Verfahren gegen den ungarischen Staat – mit den im IPRG vorgesehenen Ausnahmen – haben die ungarischen Gerichte Gerichtsbarkeit und ausschliessliche Zuständigkeit [§ 83 IPRG]. Dessen Spiegelbildregel findet sich in Abs. 2, wonach im Verfahren gegen einen fremden Staat – mit den im IPRG vorgesehenen Ausnahmen – die ungarischen Gerichten nicht verhandeln dürfen.14 Das neue Gesetz unterscheidet zwei Fälle: In § 84 Abs. 1. sind die Fälle des Verzichts (unabhängig vom Streitgegenstand) geregelt, während Abs. 2 Ausnahmen behandelt, in denen die Immunität auf einem Prozessgegenstand beruht. Gemäß § 84 Abs. 1 genießt der Staat keine Immunität (unabhängig von dem Streitgegenstand), a) wenn er ausdrücklich darauf verzichtet hat, b) wenn er selbst das Verfahren eingeleitet hat, oder sich daran als Intervenient beteiligt hat oder sich im Verfahren rügelos eingelassen hat oder c) im Fall einer Widerklage in einem von einem Staat eingeleiteten Verfahren, wenn sie auf dem streitigen Rechtsverhältnis beruht. Nach Abs. 2 steht dem Staat keine Immunität zu, wenn der Streitgegenstand – ein Recht oder eine Verpflichtungt des Staates aus einem privatrechtlichen Vertrag ist, es sei denn, die andere Vertragspartei hat durch einen anderen Staat oder die Vertragsparteien etwas Abweichendes vereinbart, – Recht oder eine Pflicht aus einem Arbeitsvertrag oder einem sich auf Arbeitsleistung richtenden sonstigen Rechtsverhältnis zwischen dem Staat 12

Burián/Raffai/Szabó: Nemzetközi magánjog. Pázmány Press, Budapest, 2017, S. 467. 13 Burián/Raffai/Szabó: a.a.O. (Fn. 12), S. 467–468. 14 Burián/Raffai/Szabó: a.a.O. (Fn. 12), S. 468.

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und einer natürlichen Person ist, vorausgesetzt, dass der Dienstort im Hoheitsgebiet des Forumstaates ist oder war, es sei denn, der Arbeitgeber ist Staatsangehöriger des Arbeitgeber(staat)s oder hat hoheitlicher Befugnisse ausübt, ein Anspruch gegen den Staat ist, der die Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder des Eigentums zum Gegenstand hat, vorausgesetzt, dass das schädigende Ereignis oder die schädigende Unterlassung im Hoheitsgebiet des Forumstaates eingetreten ist und die geschädigte Partei sich zu diesem Zeitpunkt in diesem Staat aufgehalten hat, das Recht, das Interesse oder der Besitz des Staates an einer Immobilie im Gebiet des Forumstaates, die Verwendung der Immobilie durch den Staat oder die sich daraus ergebenden Pflichten ist, ein Gesellschafterverhältnis, eine Beteiligung oder ein Interesse des Staates an einer in dem Forumsstaat eingetragenen oder auf dessen Gebiet über einen Sitz einen Ort der zentralen Geschäftsbesorgung verfügenden juristischen Person oder eine Rechtssubjekt ohne Rechtspersönlichkeit, bzw. ein oder eine sich daraus ergebende/s Recht oder Pflicht ist, die Erbfolge des Staates im Zusammenhang mit einem Erbfall in dem Staat, in dem das Verfahren anhängig ist, betrifft die Erteilung, den Inhalt bzw. die Aufhebung von Schutzrechten am geistigen Eigentum in dem Staat, in dem das Verfahren anhängig ist, ein dem Staat zustehendes Recht oder Interesse hinsichtlich der Verwaltung eines einem Insolvenzverfahren unterliegenden Vermögen in dem Staat, in dem das Verfahren anhängig ist, ist oder die Gültigkeit, Auslegung oder Anwendung einer vom Staat abgeschlossenen Schiedsvereinbarung zur Streitbeilegung im Zusammenhang mit einem bürgerlich-rechtlichen Vertrag, das aufgrund der Vereinbarung durchgeführte Schiedsverfahren, bzw. Ungültigerklärung des Schiedspruches ist, es sei denn, aus der Vereinbarung ergibt sich etwas Abweichendes. 3. Vollstreckungsimmunität

Der neue Kodex übernimmt auch die Immunitätsregeln des alten Kodex bezüglich des Vollstreckungsverfahrens, ergänzt sie jedoch mit anderen Mitteln (die auch im Einklang mit dem UN-Übereinkommen stehen).15 Gemäß § 85 uIPRG bedeutet der Verzicht auf die Immunität nach § 84 Abs. 1 nicht auch den Verzicht auf die Befreiung von der Vollstreckung. Bezüglich des im Inland befindlichen Vermögens eines ausländischen Staates darf keine Vollstreckung durchgeführt werden, es sei denn a) der ausländische Staat hat seine ausdrückliche Zustimmung erteilt, 15

Burián/Raffai/Szabó: a.a.O. (Fn. 12), S. 469.

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b) der ausländische Staat hat das Vermögen zur Befriedigung der gegebenen Forderung abgesondert oder c) das Vermögen dient einem Zweck außerhalb hoheitlichen Handelns (So etwa das Vermögen, das der Auslandsvertretungen des Staates dient, ferner das militärischen Zwecken dienende Vermögen, das Vermögen der Zentralbank und anderer Finanzbehörden, das zum kulturellen Erbe sowie zu den Staatsarchiven gehörende Vermögen, das nicht verkauft werden soll, die Bestandteile einer wissenschaftlichen, kulturellen oder historischen Ausstellung darstellenden Vermögensgegenstände, die nicht verkauft werden sollen.) Unter Vollstreckung ist auch die das Verfügungsrecht beschränkende einstweilige Maßnahme und die Sicherungsmaßnahme zu verstehen. Bei der Anwendung der Vorschriften über die Immunität gelten die Akte der Organe der Staatsgewalt und der Staatsverwaltung als Handlungen des Staates. Die staatlichen Wirtschaftsorgane, besonders die Staatsunternehmen, treten in zivil- und handelsrechtlichen Verhältnissen als vom Staat unabhängige juristische Personen auf.16 Staatsunternehmen genießen deshalb keine Immunität im Erkenntnis- und im Vollstreckungsverfahren. Diese Fassung bringt indirekt auch das uIPR zum Ausdruck, da die Staatsunternehmen im Gesetzestext im Zusammenhang mit der staatlichen Immunität nicht erwähnt werden.

II. Internationale Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit ist im uIPRG im Kapitel X. (§§ 88−108) geregelt. In der neuen ungarischen Zivilprozessordnung (uZPO) finden sich nur ergänzende Vorschriften (zB. § 176, § 240). 1. Die allgemeine internationale Zuständigkeit Nach dem ursprünglichen § 54 der alten uIPR-VO war ein ungarisches Gericht oder eine andere Behörde in allen Sachen zuständig, in denen diese Gesetzesverordnung die internationale Zuständigkeit des ungarischen Gerichtes oder einer anderen ungarischen Behörde nicht ausschloss. Diese Regelung, die im Jahre 1979 in den Text der Gesetzesverordnung gelangte, gab den ungarischen Gerichten und anderen Behörden eine generelle Ermächtigung zur Durchführung von Verfahren. Der ungarische Kodex – im Gegensatz zu ähnlichen Gesetzen anderer Länder17 – verlangte nicht einmal, 16

Vgl. Mádl/Vékás, a.a.O. (Fn. 9) S. 159–166. Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht. 8. Aufl., 2019, Rdn. 1101 ff.; Rechberger, Kommentar zur ZPO, 2. Aufl., 2000. S. 75–77. 17

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dass zur Entscheidung des Rechtsstreites ein zuständiges ungarisches Gericht zur Verfügung stehen muss (Die Regelung des § 54 uIPR-VO war eine der reinsten Manifestationen der Universalitätstheorie,18 worauf die ungarische internationale Kodifikation bestand, obwohl andere Länder diese Theorie schon aufgegeben hatten. Ungarn musste mit der Absicht zum Beitritt zum Lugano-Übereinkommen, die allgemeine Zuständigkeit seiner Gerichte und anderer Behörden aufgeben,19 da sie als exorbitanter (beziehungsarmer) Gerichtsstand im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten gelten würde. Aus diesem Grund wurde die zukünftige Aufrechthaltung des § 54 der alten uIPR-VO mit den zur Anwendung des Übereinkommens nötigen Mitteilungen bereits 1997 von der ungarischen Regelung ausgeschlossen.20 Die Vorschrift des § 54 der uIPR-VO änderte sich auf die Weise, dass das ungarische Gericht in allen Fällen vorgehen konnte, in denen sich der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Beklagten bzw. im Fall von juristischer Personen (Handelsgesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit) deren Sitz, im Inland befand, sofern seine internationale Zuständigkeit durch die Gesetzesverordnung nicht ausgeschlossen wurde. Dadurch wurde die allgemeine Zuständigkeit des ungarischen Zuständigkeitssystems auf das „actor sequitur forum rei”Prinzip reduziert. Im Fall einer passiven Streitgenossenschaft war das ungarische Gericht für alle Beklagten zuständig, wenn wenigstens einer der Beklagten seinen Wohnsitz (Sitz) oder gewöhnlichen Aufenthaltsort im Inland hatte, vorausgesetzt, dass ein in der uZPO geregelter Fall der Streitgenossenschaft vorlag. Im Fall der gemeinsamen Prozessführung des Hauptschuldners und des Nebenverpflichteten konnte das ungarische Gericht ohne Rücksicht auf den Wohnsitz und den üblichen Aufenthaltsort des Nebenverpflichteten vorgehen, wenn sich der Wohnsitz (Sitz) oder der übliche Aufenthaltsort des Hauptschuldners im Inland befand. Angesichts des Zusammenhangs zwischen des Klageantrags und der Widerklage erstreckte sich die internationale Zuständigkeit des ungarischen Gerichts auch auf die Widerklage (§ 54 Abs. 2–4 alte uIPR-VO). Diese Gedanken sind in einer verfeinerten Form auch in dem neuen uIPRG enthalten. Nach § 90 des neuen uIPRG kann das ungarische Gericht bei der gemeinsamen Klage gegen mehrere Beklagte gegenüber allen Beklagten tätig werden, wenn sich der Wohnsitz mindestens eines der Beklagten oder der Sitz oder der Ort der zentralen Geschäftstätigkeit der juristischen 18

Fasching, Zivilprozeßrecht. 2. Aufl. Wien, 1990. S. 46–51. S. Kengyel, Die neue Regelung des ungarischen internationalen Zivilprozessrechts. In Einheit und Vielfalt des Rechts, FS Geimer, S. 400−401.; Vékás: Die Reform des internationalen Zivilverfahrensrechts in Ungarn, IPRax, 17. Jg. (2002) S. 144.; Brávácz/Szőcs, Jogviták határok nélkül. Budapest, 2003, S. 56−57. 20 2392/1997. (XII.3.) Regierungsbeschluß über den Beitritt zum Lugano-Übereinkommen. 19

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Person, oder des Rechtssubjekts ohne Rechtspersönlichkeit (im Weiteren: Sitz) im Inland befindet, vorausgesetzt, dass zwischen den Klagen eine derart enge Beziehung besteht, dass es zweckmäßig ist, diese gemeinsam zu verhandeln und über diese zusammen zu entscheiden, um in getrennten Verfahren getroffene, widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden. Bei der gemeinsamen Klage des Hauptschuldners kann das ungarische Gericht ohne Rücksicht auf den Wohnsitz oder Sitz des Nebenschuldners tätig werden, wenn sich der Wohnsitz oder der Sitz des Hauptschuldners im Inland befindet. Wenn das ungarische Gericht hinsichtlich der Entscheidung der Klage international zuständig ist, kann es auch hinsichtlich der Widerklage tätig werden. Das neue uIPRG beinhaltet eine Begriffbestimmung, wonach in Anwendung des Gesetzes der Wohnsitz der Ort ist, an dem der Mensch ständig oder mit der Absicht der endgültigen Niederlassung wohnt [§ 3 lit. c) uIPRG]. Ein ungarisches Gericht kann in jeder vermögensrechtlichen Sachen tätig werden, wenn sich der Wohnsitz oder der Sitz des Beklagten in Ungarn befindet (§ 92 uIPRG). Gegen einen Beklagten, der im Inland über keinen Wohnsitz oder Sitz verfügt, ist das ungarische Gericht in einem vermögensgerichtlichen Verfahren zuständig, wenn der Beklagte im Inland Vermögen hat, das der Zwangsvollstreckung unterworfen werden kann. Als im Inland befindliches Vermögen des Beklagten sind auch die dem Beklagten zustehenden Forderungen anzusehen, wenn sich der Wohnsitz des Forderungsschuldners im Inland befindet oder die Forderung durch eine im Inland gelegene Sache gesichert ist (§ 97 uIPRG). Diese Regelung stammt aus der alten uIPR-VO, sie ist mit unverändertem Inhalt in dem neuen Gesetz enthalten. Sie kann als beziehungsarme (exorbitante) Zuständigkeit angesehen werden, hat aber im Verhältnis von Drittstaaten praktische Bedeutung.

2. Besondere internationale Zuständigkeiten Das neue uIPRG führt unter den Titeln “Vermögensrechtliche Sachen”, bzw. „Familienrechtliche und Personenstandssachen“ diejenigen Gerichtsstände auf, die ohne Rücksicht auf den Wohnsitz, Sitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Beklagten die Anrufung des ungarischen Gerichts ermöglichen (§ 93–108 uIPRG). In dem Fall des mit dem Vertrag zusammenhängenden Rechtsstreits ist das ungarische Gericht auch dann zuständig, wenn sich der Erfüllungsort der bestrittenen Verpflichtung im Inland befindet. In Anwendung dieser Regelung ist der Erfüllungsort jener Ort, den die Parteien im Vertrag als Erfüllungsort vereinbart haben; in Ermangelung einer solchen Vereinbarung ist dies

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a) bei Verträgen zum Zwecke des An- und Verkaufs von beweglichen Sachen der Ort, an den der Kaufgegenstand aufgrund des Vertrags befördert worden ist oder hätte befördert werden sollen; b) bei Verträgen, welche die Verrichtung irgendeiner Tätigkeit zum Gegenstand haben, der Ort, an dem die Tätigkeit vertragsgemäß zu verrichten ist; c) bei sonstigen Verträgen der Ort, den das ungarische Recht als Erfüllungsort der strittigen Forderung bestimmt (§ 93 uIPRG). Im Zusammenhang mit außervertraglichen Schuldverhältnissen ist das ungarische Gericht auch in dem Fall zuständig, in dem die das Schuldverhältnis begründende rechtliche Tatsache im Inland verwirklicht wurde oder verwirklicht werden kann oder wenn deren Ergebnis im Inland eingetreten ist oder eintreten kann. Das neue uIPRG erweitert den Regelungsbereich. Diese Regelung ist auch auf die Ansprüche aus der Verletzung von Persönlichkeitrechten entsprechend anzuwenden. Im Hinblick auf den Anspruch auf Erstattung eines durch eine Straftat verursachten Schadens, bzw. den der in einem Strafverfahren (Adhäsionsverfahren) geltend gemacht wurde, ist das ungarische Gericht zuständig, wenn die dem Verfahren zugrunde liegende Straftat der ungarischen Strafgerichtsbarkeit unterfälltIn einer Klage auf Feststellung oder Erhöhung einer Schadenersatzleistung in Form einer Rente ist auch dann das ungarische Gericht zuständig, wenn sich der Wohnsitz des Berechtigten im Inland befindet (§ 94 uIPRG). Hinsichtlich des Schutzes von Kulturgütern ist eine neue Zuständigkeit durch § 95 uIPRG eingeführt worden. In einem Verfahren, dessen Gegenstand ein dingliches Recht an einer im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens im Inland befindlichen Sache ist, kann ein ungarisches Gericht tätig werden. Im Fall eines Rechtstreites gegen ein Unternehmen mit ausländischem Sitz ist das ungarische Gericht auch dann zuständig, wenn der Unternehmer im Inland über eine Zweigniederlassung oder eine Vertretung verfügt und der Rechtsstreit mit der Tätigkeit der Zweigniederlassung oder Vertretung zusammenhängt, einschließlich des Falles, dass der Vertrag in Ungarn in der Vertretung des Unternehmens geschlossen wurde (§ 96 uIPRG). Das ungarische Gericht ist zur Durchführung einen Insolvenzverfahrens international zuständig, wenn sich der Sitz (die Zweigniederlassung oder eine andere Niederlassung) der schuldnerischen juristischen Person gemäß Gründungsurkunde im Inland befindet, wo sie eine nicht vorläufige Tätigkeit ausübt. Ist das ungarische Gericht zur Durchführung des Insolvenzverfahrens international zuständig, kann es auch in den sich aus dem Insolvenzverfahren ergebenden oder eng damit verbundenen Klagen tätig werden (§ 100 uIPRG). Im Fall eines aus erbschaftlichem Rechtsverhältnis hervorgehenden Rechtsstreites ist das ungarische Gericht auch dann zuständig, wenn der

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Erblasser zur Zeit seines Todes die ungarische Staatsbürgerschaft besaß. Im Nachlassverfahren ist der ungarische Notar zuständig, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes die ungarische Staatsbürgerschaft besaß oder der Nachlass sich im Inland befindet (§ 98 uIPRG). In dem Fall der Restzuständigkeit gemäß Art. 7 Brüssel-IIa-VO ist das ungarische Gericht in Ehesachen dann international zuständig, wenn einer der Ehegatten die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt. Für das Verfahren wegen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der Ehe ist das ungarische Gericht international zuständig, wenn eine der Parteien die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt oder sich der gewöhnliche Aufenthalt des Beklagten im Inland befindet (§ 101 uIPRG). Der gewöhnliche Aufenthalt ist in § 3 lit. b) uIPRG wie folgt bestimmt: In Anwendung des uIPRG ist der gewöhnliche Aufenthalt eines Menschen der Ort, wo – aus allen Umständen des gegebenen Rechtsverhältnisses feststellbar – sein tatsächlicher Lebensmittelpunkt ist; bei der Bestimmung dessen sind auch die auf die Absicht des Betroffenen hinweisenden Tatsachen zu berücksichtigen. Für ein Verfahren, das die persönlichen und vermögensrechtliche Verhältnisse der Ehegatten betrifft, ist das ungarische Gericht zuständig, wenn a) sich der gewöhnliche Aufenthalt des beklagten Ehegatten im Inland befindet, oder b) sich der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten im Inland befand, vorausgesetzt, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt eines Ehegatten zum Zeitpunkt der Klageerhebung weiterhin im Inland befindet oder c) beide Ehegatten die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Für das ein ehegüterrechtliches Verhältnis betreffende Verfahren ist das ungarische Gericht auch in dem Fall international zuständig, dass sich der den Gegenstand des Verfahrens darstellende Vermögensgegenstand im Inland befindet. Wird dieses Rechtsverhältnis in einem den Ehebund betreffenden Verfahren geregelt, kann das ungarische Gericht auch in dem Fall tätig werden, wenn es für dieses Verfahren international zuständig ist. Wenn das ungarische Gericht international für das ein Erbverhältnis betreffende Verfahren zuständig ist, erstreckt sich seine internationale Zuständigkeit auch auf die Entscheidung über die mit der Erbfolge verbundene ehegüterrechtlichen Rechtsfrage (§ 102 uIPRG). Für das Verfahren im Zusammenhang mit dem Bestehen, der Gültigkeit, der Beendigung, ferner den Rechtsfolgen der eingetragenen Lebenspartnerschaft ist das ungarische Gericht international zuständig, wenn a) die Partnerschaft im Inland eingegangen wurde oder b) einer der eingetragenen Lebenspartner die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt (§ 103 uIPRG).

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Bei der Feststellung der Abstammung konzentriert sich das neue Gesetz auf die Interessen des Kindes und bietet die größtmögliche Möglichkeit für die Klageerhebung bei den ungarischen Gerichten. So ist gemäß § 104 uIPRG im Verfahren wegen Feststellung der Abstammung das ungarische Gericht international zuständig, wenn a) das Kind die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, b) sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Inland befindet oder c) sich der gewöhliche Aufenthalt des Beklagten bzw. im Fall einer notwendiger Streitgenossenschaft mindestens einer der Beklagten im Inland befindet. Die alte uIPR-VO hat die Adoptionssachen in der Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten aufgelistet (basierend auf dem Staatsangehörigkeitprinzip). Das neue uIPRG hat das System verfeinert. Nunmehr spielt der gewöhnliche Aufenthalt auch eine Rolle. Nach § 105 des uIPRG ist das ungarische Gericht zuständig im Verfahren wegen Genehmigung oder Aufhebung der Adoption, wenn a) das zu adoptieren beabsichtigte Kind beziehungsweise das adoptierte Kind die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat oder b) die adoptierende Person bzw. im Falle einer Adoption durch Ehegatten mindestens einer von ihnen die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt oder sich sein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland befindet. Im Fall des Art. 14 Brüssel-IIa-VO ist das ungarische Gericht für das Verfahren, das das Sorgerecht, den persönlichen Umgang und die Vormundschaft betrifft, zuständig, wenn das Kind die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt (§ 106 uIPRG). In einem die Pflegschaft betreffenden Verfahren ist das ungarische Gericht zuständig, wenn die unter Pflegschaft stehende Person die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Dies findet auch auf die sonstigen mit Schutzmaßnahmen verbundenen Verfahren entsprechende Anwendung (§ 107 uIPRG). Das neue uIPRG hat die eine Todeserklärung betreffenden Regelungen – mit der Anknüpfung der Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt – deutlich modifiziert. In Verfahren auf Todeserklärungen oder zur Feststellung der Tatsache des Todes ist das ungarische Gericht zuständig, wenn die verschwundene Person a) ihren letzten bekannten gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte oder b) die ungarische Staatangehörigkeit besessen hat und die Todeserklärung oder die Feststellung der Tatsache des Todes wegen eines inländischen Rechtsinteresses – so insbesondere die Regelung des rechtlichen Schicksals der Ehe der verschwundenen Person mit einem Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartner mit ungarischer

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Staatsangehörigkeit oder Wohnsitz im Inland bzw. ihres Vermögens im Inland – notwendig ist (§ 108 uIPRG). 3. Die ausschließliche und die ausgeschlossene internationale Zuständigkeit Der Staat entscheidet anhand seines Interesses in einigen Rechtsverhältnissen darüber, in welchem Maße er die aus den Rechtsstreiten entstammenden Beurteilung seiner internationalen Zuständigkeit unterwirft. Nach Szászy unterwirft der Staat alle Rechtsverhältnisse, deren Inhalt seine öffentliche Ordnung oder seine maßgebenden politischen und ökonomischen Interessen direkt betreffen, ohne weitere Umstände seiner ausschließenden internationalen Zuständigkeit. Diejenigen Rechtsverhältnisse, deren Inhalt die öffentliche Ordnung des gegebenen Staates weniger betrifft und die mit den Interessen des Staates weniger verknüpft sind, unterwirft er seiner internationalen Zuständigkeit, aber nicht ausschließlich und nicht unbedingt. Zuletzt schließt er diejenigen Rechtsverhältnisse, deren Inhalt den gegebenen Staat überhaupt nicht betreffen, ohne Weiteres aus seiner internationalen Zuständigkeit aus.21 Die Modifizierung durch das uIPRG im Jahre 2018 betrifft teilweise die Fälle, die der ausschließlichen internationalen Zuständigkeit der ungarischen Gerichte oder anderer Behörden unterlagen. Gemäβ § 88 des neuen uIPRG ist die Zuständigkeit ungarischer Gerichte ausschlieβlich: a) in Verbindung mit einer im Inland gelegenen Immobilie in einem Verfahren zur Geltendmachung eines im Anwendungsbereich des Sachenrechts geltenden Rechts sowie in einem einen Miet- bzw. Pachvertrag betreffenden Verfahren; b) in einem Nachlassverfahren betreffend den inländischen Nachlass eines Erblassers mit ungarischer Staatsangehörigkeit; c) im Verfahren, die sich auf die Nichtigerklärung einer im Inland ausgestellten Urkunde oder eines Wertpapiers beziehen; d) in Verfahren hinsichtlich der Eintragung von Rechten, Tatsachen und Daten in ein im Inland geführtes, öffentlichen Glauben genießendes Register; e) in Verfahren, welche die inländische Zwangsvollstreckung betreffen. Die die ausgeschlossene internationale Zuständigkeit betreffenden Bestimmungen zeigen in der uIPRG das Spiegelbild der ausschießlichen internationalen Zuständigkeit. Gemäβ § 89 ist die Zuständigkeit ungarischer Gerichte ausgeschlossen: 21

Szászy: International Civil Procedure − A Comparative Study, 1967. S. 321–322.

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a) in Verbindung mit einer im Ausland gelegenen Immobilie in einem Verfahren zur Geltendmachung eines im Anwendungsbereich des Sachenrechts geltenden Rechts sowie in einem Verfahren betreffend eines Mietbzw. Pachtvertrags; b) in einem Nachlassverfahren betreffend den ausländischen Nachlass eines Erblassers mit nicht ungarischer Staatsangehörigkeit; c) im Verfahren, die Nichtigerklärung eines im Ausland ausgestellten Urkunde oder Wertpapier beziehen; d) im Verfahren in Verbindung mit der Erteilung, dem Umfang und der Aufhebung eines ausländischen Rechts im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes; e) in Verfahren in Verbindung mit der Gründung, bzw. Auflösung von juristischen Personen oder eines Rechtssubjekts ohne Rechtspersönlichkeit mit ausländischem Sitz, in Verfahren in Verbindung mit der Gültigkeit des als Grundlage der Eintragung dieser Person dienende Verträge oder Gründungsurkunde, bzw. in Verfahren zur Überprüfung der von den Organen der Person gefassten Beschlüsse; f) in Verfahren hinsichtlich der Eintragung von Rechten, Tatsachen und Daten in ein im Ausland geführtes, öffentlichen Glauben genießendes Register; g) in Verfahren, welche die ausländische Zwangsvollstreckung betreffen. 4. Vereinbarung über die internationalen Zuständigkeit Im Vergleich zu der früheren Regelung ermöglichten die modifizierte uIPR-VO und das neue uIPRG den Parteien im viel breiteren Umfang die Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit, was mit der Praxis der europäischen Länder und mit den Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens übereinstimmt. Die Regelungen von § 99 des neuen uIPRG sind dann anzuwenden, wenn die Parteien die Zuständigkeit von einem drittstaatlichen Gericht oder Gerichten (außerhalb der EU) vereinbaren, aber die Klage ist trotzdem bei einem ungarischen Gericht erheben. In vermögensrechtlichen Angelegenheiten (mit Ausnahme von Insolvenzverfahren) können die Parteien vereinbaren, dass ein Gericht, mehrere bestimmte Gerichte oder die Gerichte irgendeines Staates über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen. In einem solchen Fall sind dieses Gericht und die Gerichte – falls keine abweichende Bestimmung der Parteien vorliegen – ausschließlich zuständig22 (§ 99 Abs. 7 uIPRG). Eine solche Gerichtsstandvereinbarung kann geschlossen werden: 22 Haben die Parteien jedoch die internationale Zuständigkeit eines ausländischen Gericht vereinbart und stellt dieses Gericht das Fehlen seiner internationalen Zuständigkeit

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a) schriftlich, b) mündlich mit schriftlicher Bestätigung, c) in einer Form, welche den Gepflogenheiten entspricht, die zwischen den Parteien entstanden sind, d) im internationalen Handel in einer Form, die einem Handelsbrauch entspricht, den die Parteien kannten oder kennen mussten und den Parteien von Verträgen dieser Art in dem betreffenden Geschäftszweig allgemein kennen und regelmäßig beachten (§ 99 Abs. 3 uIPRG). Wenn die Vereinbarung durch einen Austausch von Mitteilungen auf einem Gerät entstanden ist, das die Willenserklärung der Parteien dauerhaft speichert, ist dies der Schriftform gleichgestellt (§ 99 Abs. 4 uIPRG). Die Vereinbarung ist nichtig, wenn die Parteien in einer Angelegenheit, die der ausschließlichen Zuständigkeit des ungarischen Gerichtes unterliegt, den Gerichtsstand eines ausländischen Gerichts oder, wenn sie in einer der ausgeschlossenen Zuständigkeit unterlegenen Angelegenheit über den Gerichtsstand eines ungarischen Gerichts vereinbaren (§ 99 Abs. 2 uIPRG). Auf das Bestehen oder die Gültigkeit der Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit ist – in den in diesem Gesetz nicht geregelten Fragen – das Recht des Staates anzuwenden, dessen Gericht oder Gerichte in der Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit vereinbart wurden. Eine Gerichtsstandsvereinbarung, die Teil eines Vertrags ist, ist – hinsichtlich deren Bestehen und Gültigkeit – als eine von den übrigen Vertragsbestimmungen unabhängige Vereinbarung zu behandeln (§ 99 Abs. 5–6 uIPRG). 5. Der Mangel der internationalen Zuständigkeit Das Bestehen der internationalen Zuständigkeit ist ein unentbehrlicher Bestandteil des Verfahrens des ungarischen Gerichts oder einer anderen Behörde. Der Mangel der internationalen Zuständigkeit hat zwei wesentliche prozessrechtliche Folgen: Vor dem Eintritt der Rechtshängigkeit weist das Gericht die Klage ab (in limine litis) [§ 176 Abs. 1. lit. a) neue uZPO], während des Verfahrens stellt das Gericht den Prozess ein [§ 240 Abs. 1 lit. a) neue uZPO] wenn feststellbar ist, dass die internationale Zuständigkeit des ungarischen Gerichts ausgeschlossen ist. Wenn die internationale Zuständigkeit des ungarischen Gerichts nicht ausgeschlossen ist, aber das Bestehen der internationale Zuständigkeit des ungarischen Gerichts nicht auf Grund einer Zuständigkeitsvorschrift festgestellt werden kann, stellt das Gericht den Prozess ein, soweit a) der Beklagte keine schriftliche Verteidigung eingereicht hat; oder b) der Beklagte den Mangel der internationalen Zuständigkeit des Gerichts geltend macht [§ 240 Abs. 1. uZPO]. fest, kann das ungarische Gericht seine internationale Zuständigkeit nach den allgemeinen Vorschriften feststellen (§ 99 Abs. 7 Satz 2 uIPRG).

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Was die rügelose Einlassung angeht, behält das neue IPRG die Bestimmungen des alten Kodex bei, beschränkt jedoch seine Anwendbarkeit auf bestimmte Rechtsverhältnisse. So sind die Regelungen im Insolvenzverfahren, im Verfahren wegen Feststellung der Abstammung, Genehmigung oder Aufhebung der Adoption, bzw. in Sachen, die das Sorgerecht, den persönlichen Umgang, die Vormundschaft, die Pflegschaft, die Todeserklärung und die Feststellung der Tatsache des Todes betreffen, nicht anzuwenden (vgl. §§ 104–108 uIPRG). Bezüglich des Wortgebrauchs wurde § 91 IPRG an die neue uZPO angepasst. Die Zuständigkeit des ungarischen Gerichts wird auch dadurch begründet, dass der Beklagte – ohne das Fehlen der internationalen Zuständigkeit zu rügen, eine Klageerwiderung einreicht (Einlassung in das Verfahren) [§ 91 uIPRG].

III. Internationale Rechtshängigkeit Ist zur Einleitung des Verfahrens ein früher eingeleitetes Verfahren vor einem ausländischen Gericht zwischen den Parteien wegen desselben Rechts, das sich aus derselben tatsächlichen Grundlage ergibt, anhängig, kann das ungarische Gericht das Verfahren – von Amts wegen oder auf Antrag – aussetzen, vorausgesetzt, dass die inländische Anerkennung der Entscheidung des ausländischen Gerichts nicht ausgeschlossen ist. Das ungarische Gericht setzt das Verfahren fort, wenn das Verfahren vor dem ausländischen Gericht ohne eine Entscheidung in der Sache eingestellt wurde. Das ungarische Gericht kann das Verfahren fortsetzen, wenn das ausländische Verfahren ausgesetzt wurde oder es der Meinung ist, dass das ausländische Verfahren nicht innerhalb einer vernünftigen Zeit beendet wird. Tritt ein die Fortsetzung des Verfahrens begründender Umstand ein, sind die Parteien verpflichtet, das Gericht unverzüglich darüber zu informieren. Das Gericht kann die Begründetheit der Aussetzung jederzeit überprüfen und die Parteien aus diesem Grund mit Fristsetzung aufrufen, sich zu den Verfahrenshandlungen vor dem ausländischen Gericht zu äußern. Dies gilt auch dann, wenn bei dem ungarischen Gericht eine mit der vor dem ausländischen Gericht erhobenen Klage zusammenhängende Klage erhoben wird. Hat das ausländische Gericht in der Hauptsache eine Entscheidung getroffen, die im Inland anerkannt werden kann, stellt das ungarische Gericht das Verfahren ein. In Anwendung des uIPRG ist das Verfahren als eingeleitet anzusehen a) zum Zeitpunkt des Einreihens des das Verfahren einleitenden Schriftstückes beim Gericht, vorausgesetzt, dass der Kläger anschließend nicht unterlässt, die für die Zustellung an den Beklagten vorgeschriebenen Maßnahmen zu treffen oder b) wenn das Schriftstück vor dem Einreichen beim Gericht zuzustellen ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem es bei der für die Zustellung zuständigen Behörde eingeht, vorausgesetzt, dass der Kläger an-

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schließend nicht unterlässt, die für das Einreichen des Schriftstückes beim Gericht vorgeschriebenen Maßnahmen zu treffen [§ 69 uIPRG]. Nach ungarischem Recht tritt die Rechtshängigkeit mit der Zustellung der Klageschrift an den Beklagten ein (§180 uZPO). Diese Vorschrift ist jedoch auf die ausländische Rechtshängigkeit nicht anwendbar, da deren Eintritt aufgrund der ausländischen lex fori festzustellen ist.23 Nimmt das ungarische Gericht bei der Prüfung der Klageschrift das Vorhandensein der ausländischen Rechtshängigkeit wahr, so wird es die Klage gemäß § 176 Abs. 1 lit. d) uZPO, ohne zu laden, abweisen. Stellt das Gericht die ausländische (oder die inländische) Rechtshängigkeit im Laufe des Prozesses fest, so wird der Prozess aufgrund § 240 Abs. 1 lit. a) uZPO von Amts wegen eingestellt.

23 Das Prinzip der Anwendung der ausländischen lex fori ist in der Rechtsliteratur umstritten. Vgl.: Geimer: Internationales Zivilprozeßrecht. 8. Aufl., 2019, Rdn. 2602 ff.

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Haftungsverteilung und Regress in der Organhaftung Haftungsverteilung und Regress in der Organhaftung Jens Haubold

Haftungsverteilung und Regress in der Organhaftung JENS HAUBOLD

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstellationen unterschiedlicher Verursachungsbeiträge . Gesamtschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maßstab der Haftungsverteilung im Innenverhältnis . . . . . 1. Auffangregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine gesetzliche oder vertragliche Bestimmung in der Organhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Subsidiäre Haftung des Aufsichtspflichtigen als gesetzliche Grundwertung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftungsteilung nach Verschuldensanteilen und Verursachungsbeiträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verteilungsmaßstäbe nach Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis Aufsichtsorgan zu Vorstand oder Geschäftsführern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis der Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer und Aufsichtsratsmitglieder untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis Vorstand und Geschäftsführer zu Arbeitnehmern der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis Organmitglieder zu externen Beratern . . . . . . .

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I. Einleitung Haftungsfälle – tatsächliche wie behauptete – bei Leitungsorganen einer Kapitalgesellschaft betreffen häufig mehrere natürliche Personen. Das kann der Fall sein, weil Vorstand oder Geschäftsführung aus mehreren Personen bestehen, weil ein Aufsichtsrat oder Beirat eingesetzt ist oder weil neben dem Handeln der Organe Pflichtverletzungen Dritter, etwa von Arbeitnehmern oder externen Beratern im Raum stehen. Haben mehrere Personen zum Eintritt eines Schadens bei der Gesellschaft beigetragen, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis dieser Schaden von den einzelnen Beteiligten zu tragen ist.1 Dabei geht es nicht um eine anteilige Haftung im Außenver1 Zu diesem Thema umfassend Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 145 ff.; zu Einzelaspekten Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichts-

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hältnis zur Gesellschaft, weil diese Haftung in aller Regel eine gesamtschuldnerische ist (dazu III.), sondern um das Innenverhältnis und gegebenenfalls den Regress unter den Betroffenen. Gleichen sich die Beiträge mehrerer in Anspruch Genommener zur Verursachung desselben Schadens, etwa weil drei Geschäftsführerinnen gemeinsam eine später fehlgeschlagene Investition veranlasst oder die Mitglieder des Aufsichtsrates einen einstimmigen Beschluss zu einer überzogenen Altersversorgung für den Vorstand gefasst haben, dann kommt im Ergebnis regelmäßig nur eine Innenverteilung in Betracht: die Haftung zu gleichen Anteilen, die auch die gesetzliche Auffangregelung bildet (§ 426 Abs. 1 S. 1 BGB). Anders sieht es aus, wenn sich die Pflichtverletzungen oder Verursachungsbeiträge der beteiligten Organmitglieder unterscheiden, insbesondere wenn der Vorwurf gegenüber den einen in einer falschen oder ermessensfehlerhaften Entscheidung liegt und gegenüber den anderen in der unzulänglichen Überwachung des Handelns der ersten. Für solche Konstellationen (dazu auch II.) reicht die Bandbreite der möglichen Lösungen von der erwähnten Auffangregel der Haftung nach Kopfteilen einerseits bis zu der Position, im Innenverhältnis zwischen dem Überwacher und dem Überwachten hafte der Überwachte voll und der Überwacher überhaupt nicht, andererseits (dazu IV.). Der Umstand, dass die meisten Unternehmen eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung für ihre Organmitglieder abschließen, bringt es mit sich, dass die Frage eines Innenausgleichs in vielen solcher Fälle keine praktische Bedeutung hat. Sobald feststeht, dass auch nur eines der versicherten Organmitglieder seine Pflichten verletzt und dadurch einen Schaden verursacht hat, wird der Haftpflichtversicherer – angesichts der Gesamtschuld der Schädiger gegenüber dem Unternehmen – im Ergebnis regelmäßig für den gesamten Schaden einstandspflichtig, und der Versicherer wird seiner Deckungsverpflichtung, trotz fehlenden Deckungsanspruchs des Unternehmens, stets durch direkte Zahlung an das Unternehmen nachkommen. Auf die Verteilung im Innenverhältnis kommt es dann nicht mehr an. Für welches oder welche der versicherten Organmitglieder der Versicherer leistet, dürfte in solchen Fällen allen Beteiligten – von emotionalen Befindlichkeiten abgesehen – gleichgültig sein. Bedeutsam wird das Innenverhältnis aber dann, wenn eine Haftpflichtversicherung – aus Sparsamkeit oder zur „Motivation“ der Führungskräfte – nicht besteht, wenn die Deckungssumme für den entstandenen Schaden nicht ausreicht, wenn einzelne Beteiligte vorsätzlich gehandelt haben und deshalb räten, 5. Aufl. 2016, Rn. 66 f.; Freund, GmbHR 2013, 785; Sebastian Fischer, ZIP 2014, 406; Guntermann, AG 2017, 606; zu Wirkungen von Einzelvergleichen ferner Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598, 1601; Bayer/Scholz, ZIP 2015, 149, 153 f.; Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1877, 1884.

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keine Versicherungsdeckung genießen, wenn – etwa bei zeitlich auseinanderliegender Inanspruchnahme – für die Organmitglieder unterschiedliche Versicherer deckungspflichtig sind, bei Selbstbehalten (§ 93 Abs. 2 S. 3 AktG) oder aber wenn neben Organmitgliedern auch – nicht versicherte – Arbeitnehmer, Beraterinnen oder Abschlussprüfer der Gesellschaft schadensersatzpflichtig sind.

II. Konstellationen unterschiedlicher Verursachungsbeiträge Die heutigen Organisationsformen der Unternehmensleitung – zusammengefasst und auf Englisch die corporate governance – basieren auf einer Aufgaben- und Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Gremien mit Mechanismen zur wechselseitigen Kontrolle von Handlungen und Entscheidungen. Handelt ein Beteiligter pflichtwidrig, weil er eine ermessensfehlerhafte Entscheidung trifft oder eine unzulässige Maßnahme vornimmt, dann steht deshalb in einigen Fällen zugleich die Pflichtverletzung anderer Beteiligter im Raum, welche das Handeln des ersten hätten prüfen oder überwachen und gegebenenfalls unterbinden müssen. Kommt es zu einem Schaden, dann sind regelmäßig beide Pflichtverletzungen für dessen Eintritt äquivalent kausal und begründen eine Haftpflicht aller auf diese Weise Beteiligter. Die typische Konstellation ist das Zusammenwirken von Vorstand oder Geschäftsführung einerseits und Aufsichtsrat oder Beirat andererseits: Stimmt der Aufsichtsrat etwa auf Grundlage eines satzungsmäßigen Zustimmungsvorbehalts einer – unterstellt ermessensfehlerhaften – Investitionsentscheidung des Vorstands zu und handelt er dabei auch selbst pflichtwidrig, dann sind sowohl die Vorstands- als auch die Aufsichtsratsmitglieder im Außenverhältnis zur Gesellschaft für einen entstehenden Schaden haftpflichtig. Dasselbe gilt, wenn der Vorstand ein zustimmungspflichtiges (und später Schaden verursachendes) Geschäft ohne Aufsichtsratsbeschluss durchführt und der Aufsichtsrat davon Kenntnis erhält, aber nichts unternimmt. Vergleichbar ist die Situation bei einer förmlichen Geschäftsverteilung für den Vorstand oder die Geschäftsführung. In diesem Fall wandelt sich nach allgemeiner Auffassung die Verpflichtung der nicht ressortführenden Organmitglieder in eine solche zur Überwachung der Tätigkeit der Ressortführerin oder des Ressortführers.2 Handelt diese oder dieser pflichtwidrig und löst das einen Schaden des Unternehmens aus, dann können die übrigen Or2 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 206; BGH, 8.7.1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55; BGH, 15.10.1996 – VI ZR 319/95, NJW 1997, 130, 132; OLG Köln, 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363, 364.

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ganmitglieder wegen Versäumens einer ausreichenden Überwachung haftbar sein. Innerhalb von Aufsichtsgremien gibt es eine Ressortaufteilung grundsätzlich nicht, nur eine Arbeitsverteilung durch Einrichtung von Ausschüssen (§ 107 Abs. 3 AktG). Die Kompetenz des Aufsichtsrates zur Festlegung seiner Arbeitsweise und inneren Organisation umfasst auch die Freiheit zur Einrichtung von Ausschüssen. Allerdings können nicht sämtliche Aufgaben an Ausschüsse delegiert werden.3 Soweit eine Delegation aber möglich ist, haben die übrigen Mitglieder des Aufsichtsrates grundsätzlich die Aufgabe, die Tätigkeit des Ausschusses zu überwachen,4 und es kann sich die Frage der Haftungsverteilung im Innenverhältnis zwischen den Ausschussmitgliedern und den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern stellen. Überwachungspflichten und andere gestufte Verantwortungskonstellationen können sich schließlich auch im Verhältnis zwischen Organmitgliedern und Dritten ergeben. Überträgt eine Geschäftsführerin oder ein Vorstandsmitglied im Sinne einer vertikalen Delegation eine Aufgabe an einen Arbeitnehmer des Unternehmens, dann bleibt das Organmitglied für die ordnungsgemäße Auswahl und die Anleitung und Überwachung dieses Arbeitnehmers zuständig.5 Handelt dieser pflichtwidrig und fügt dem Unternehmen Schaden zu, dann kann für diesen Schaden zugleich eine unzureichende Überwachung durch das delegierende Organmitglied ursächlich sein und ein Innenausgleich in Betracht kommen. Dasselbe gilt bei der Beauftragung externer Berater. Den Abschlussprüfer der Gesellschaft trifft umgekehrt als Externen eine Pflicht zur Kontrolle der Buchhaltung und Bilanzerstellung durch Vorstand oder Geschäftsführung. Verletzt er diese Pflicht, so ist er der Gesellschaft zum Schadensersatz verpflichtet (§ 323 Abs. 1 S. 3 HGB). Diese Ersatzpflicht steht neben derjenigen der fahrlässig oder gar vorsätzlich falsch bilanzierenden Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer und neben derjenigen der fahrlässig ihre parallele6 Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses verletzenden Mitglieder des Aufsichtsrates (§ 171 Abs. 1 S. 1 AktG).7 In die3 Dazu eingehend Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rn. 395 ff., 402 ff.; Habersack, in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rn. 101, 146 ff. 4 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 295; Hopt/Roth, GroßkommAktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rn. 375 f.; Mertens/Cahn, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2013, § 107 Rn. 142; Hoffmann-Becking, in MünchHdbGesR, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 32 Rn. 41. 5 Zu den Voraussetzungen und Grenzen der vertikalen Delegation etwa BGH, 15.10.1996 – VI ZR 319/95, NJW 1997, 130, 132. 6 Zum Verhältnis der Abschlussprüfungen durch Abschlussprüfer und Aufsichtsrat Ekkenga, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2015, § 171 Rn. 3; Vetter, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2018, Vor §§ 170, 171 Rn. 62 ff.; Ebke, in MünchKommHGB, 3. Aufl. 2013, § 316 Rn. 35. 7 Dazu Ekkenga, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2015, § 171 Rn. 7.

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ser Konstellation kann es, wenn der Gesellschaft im Zusammenhang mit einer fehlerhaften Prüfung ein Schaden entsteht, sogar zu Regresssituationen in einem Dreiecksverhältnis unter Einbezug von Organmitgliedern und Gesellschaftsexternen kommen.

III. Gesamtschuld Ein Innenausgleich zwischen Mitschädigern ist von vorneherein nur dann denkbar, wenn mehrere Personen im Außenverhältnis zum Geschädigten jeweils auf dasselbe Interesse haften, also keine Teilschuldnerschaft nach Verschuldensanteilen (§ 420 BGB), sondern eine Gesamtschuld vorliegt. Eine gesamtschuldnerische Haftung ist für den Bereich der Organhaftung in Kapitalgesellschaften und der Genossenschaft jeweils ausdrücklich gesetzlich angeordnet, soweit es um die Mitglieder desselben Organs geht.8 Danach haben sich die Mitglieder des Vorstands gegenüber der Aktiengesellschaft ebenso gemeinsam als Gesamtschuldner zu verantworten wie etwa die Mitglieder des Aufsichtsrates einer Genossenschaft gegenüber der Genossenschaft – selbstverständlich immer vorausgesetzt, dass sie jeweils einzeln schuldhaft Pflichten gegenüber dem Unternehmen verletzt haben. Die Organhaftung bedeutet gerade keine Kollektivhaftung für fremdes Verschulden.9 Zu einer Gesamtschuldnerschaft zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Organe oder gar zwischen Organmitgliedern und Dritten verhalten sich diese gesetzlichen Regelungen dagegen nicht. Insoweit kommt es auf die allgemeinen Voraussetzungen für das Bestehen einer Gesamtschuld an. Den Kern dieser Voraussetzungen bildet die Haftung auf dasselbe Interesse (§ 421 S. 1 BGB).10 Diese ist bei den hier untersuchten Haftungskonstellationen (oben II.) stets gegeben, weil es um einheitliche Vermögensschäden des Unternehmens geht, die mehrere Personen durch Tun oder Unterlassen 8 § 93 Abs. 2 S. 1 AktG für den Vorstand der AG; §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG für den Aufsichtsrat der AG; § 43 Abs. 2 GmbHG für den GmbH-Geschäftsführer; §§ 25 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG, 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG für den Aufsichtsrat der mitbestimmten GmbH; §§ 52 Abs. 1 GmbHG, 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG für den fakultativen Aufsichtsrat der GmbH; Art. 51 Abs. 1 SE-VO, §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG für Vorstand bzw. Aufsichtsrat der dualistisch verwalteten SE; §§ 39, 40 Abs. 8 SEAG, 93 Abs. 2 S. 1 AktG für die Direktoren und die übrigen Verwaltungsratsmitglieder der monistisch verwalteten SE; § 34 Abs. 2 S. 1 GenG für den Vorstand, §§ 41, 34 Abs. 2 S. 1 GenG für den Aufsichtsrat der eingetragenen Genossenschaft. 9 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 219. 10 Nicht unbedingt auf die identische Leistung, dazu grundlegend BGH, 1.2.1965 – GSZ 1/64, BGHZ 43, 227, 232 f.; Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 421 Rn. 18; Kreße, in BeckOGK BGB, Stand 1.12.2019, § 421 Rn. 19 ff.

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im Sinne der Äquivalenzformel verursacht haben.11 Eine Haftung auf derselben Rechtsgrundlage ist dagegen nicht erforderlich.12 Darüber hinaus verlangt die herrschende Meinung, dass die zu einer Gesamtschuld verbundenen einzelnen Schuldverhältnisse „gleichstufig“ sind und nicht der eine Schuldner der Verbindlichkeit „näher“ steht als der andere.13 Am Vorliegen dieses Kriteriums könnte man im Hinblick etwa auf die Haftung des Vorstands einerseits und des Aufsichtsrates andererseits Zweifel haben: Geht der Vorwurf beispielsweise dahin, der Vorstand habe eine Investitionsentscheidung ohne irgendeine vernünftige Informationsgrundlage und damit grob ermessensfehlerhaft getroffen und der Aufsichtsrat habe, ohne dass ein Zustimmungsvorbehalt bestehe, das Zustandekommen dieser Vorstandsentscheidung einfach fahrlässig übersehen und nicht verhindert, dann könnte man durchaus annehmen, dass die Vorstandsmitglieder der Verpflichtung zur Beachtung der Grenzen des unternehmerischen Ermessens „näher“ stehen, als die Mitglieder des Aufsichtsrates, und eine Gesamtschuld aus diesem Grund ablehnen.14 Richtigerweise sollte das Kriterium der Gleichstufigkeit oder Gleichrangigkeit15 der unterschiedlichen Schuldverhältnisse für das Bestehen einer Gesamtschuld insgesamt aufgegeben werden. Es leuchtet nicht ein, weshalb derjenige Schuldner, der einer Verpflichtung „ferner“ steht und deshalb im Innenverhältnis zum „verpflichtungsnäheren“ Schuldner privilegiert ist, nicht von den Vorteilen der Gesamtschuld, insbesondere von der Freistellungs- und Regressmöglichkeit gemäß § 426 Abs. 1 BGB profitieren, sondern auf die Zession gemäß § 255 BGB beschränkt sein soll.16 Dessen ungeachtet versteht die ganz herrschende Meinung das Gleichstufigkeitskriterium im Ergebnis derart weit, dass auch die Haftung der Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaftsorgane, namentlich von Vorstand oder Geschäftsführung und Aufsichtsrat stets als eine gesamtschuldnerische betrachtet wird.17 Auch zwischen der Haftung der Geschäftsführer auf 11

Wohl anders Freund, GmbHR 2013, 785, 786. Statt aller Gebauer, in Soergel, BGB, 13. Aufl. 2009, § 421 Rn. 6. 13 St. Rspr., BGH, 26.1.1989 – III ZR 192/87, BGHZ 106, 313, 319; BGH, 28.11. 2006 – VI ZR 136/05, NJW 2007, 1208, 1209 f. m.w.N.; Grüneberg, in Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 421 Rn. 7 ff.; Heinemeyer, in MünchKommBGB, 8. Aufl. 2019, § 421 Rn. 12 ff. 14 Dafür in der Tat Krieger/Sailer-Coceani, in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 116 Rn. 52. 15 Zu den Begrifflichkeiten Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 421 Rn. 15. 16 Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 421 Rn. 10; Looschelders, in Staudinger, BGB, 2016, § 421 Rn. 28 f.; Kreße, in BeckOGK BGB, Stand 1.12.2019, § 421 Rn. 41 ff. 17 RG, 17.12.1938 – II 100/38, RGZ 159, 86, 91; BGH, 14.3.1983 – II ZR 103/82, NJW 1983, 1856; Mertens/Cahn, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 50; Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 461; Paefgen, in GroßkommGmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rn. 198; Fleischer, in MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rn. 318; Uwe H. Schneider, in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 43 Rn. 247; Ziemons/Pöschke, in 12

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der einen und von Arbeitnehmern der Gesellschaft auf der anderen Seite wird ein Gesamtschuldverhältnis angenommen.18 Nichts anderes sollte für die Haftung von Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlussprüfer für schuldhaft fehlerhaft erstellte und nachlässig geprüfte Jahresabschlüsse einer Gesellschaft gelten.19

IV. Maßstab der Haftungsverteilung im Innenverhältnis Die gesamtschuldnerische Haftung im Außenverhältnis gegenüber der Gesellschaft stellt – jedenfalls für nicht oder nicht ausreichend haftpflichtversicherte – Organmitglieder (auch) deshalb eine erhebliche persönliche Belastung dar, weil jedes in Anspruch genommene Organmitglied unabhängig von seinem eigenen Beitrag zum Schadenseintritt das Risiko einer Insolvenz der Mithaftenden trägt. Blendet man dieses Insolvenzrisiko dagegen aus, dann hängt die persönliche Haftungslast am Ende – also nach vollständiger Durchführung des internen Ausgleichs zwischen den Mithaftenden – allein davon ab, welcher Haftungsanteil im Innenverhältnis auf das jeweilige Organmitglied entfällt. Nach welchem Maßstab dieser Haftungsanteil zu bestimmen ist, wenn mithaftende Organmitglieder in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Rollen zum Schadenseintritt beigetragen haben, ist nicht abschließend geklärt. 1. Auffangregelung Im Ausgangspunkt bestimmt § 426 Abs. 1 S. 1 BGB, dass Gesamtschuldner im Verhältnis zueinander zu gleichen Anteilen verpflichtet sind, „soweit nicht ein anderes bestimmt ist“. Diese Haftung „nach Kopfteilen“ bildet aber lediglich eine Auffang- oder subsidiäre „Hilfsregelung“,20 welche nur dann zum Tragen kommt, wenn aus keinem anderen Gesichtspunkt ein geeigneterer Verteilungsschlüssel abgeleitet werden kann. Die „andere Bestimmung“ der Haftungsverteilung im Innenverhältnis bedarf nach einhelliger Ansicht keiner ausdrücklichen gesetzlichen oder vertraglichen RegeBeckOK GmbHG, 1.11.2019, § 43 Rn. 255; Schnorbus, in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 43 Rn. 94; Freund, GmbHR 2013, 785, 786; anders Krieger/ Sailer-Coceani, in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 116 Rn. 52. 18 Spindler, in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rn. 165; Mertens/Cahn, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 51; Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 463; Schnorbus, in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 43 Rn. 94; Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 622. 19 Zu dieser Frage finden sich allerdings kaum Stellungnahmen. 20 Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 426 Rn. 17; Heinemeyer, in MünchKommBGB, 8. Aufl. 2019, § 426 Rn. 15; Kreße, in BeckOGK BGB, Stand 1.12.2019, § 421 Rn. 49; Gehrlein, in BeckOK BGB, 1.11.2019, § 426 Rn. 6.

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lung;21 nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll sie sich sogar aus den Umständen, der Natur der Sache oder aus der „besonderen Gestaltung des tatsächlichen Geschehens“ ergeben können.22 Derjenige, der sich auf eine von der Haftung nach gleichen Anteilen abweichende Bestimmung berufen will, trägt dafür zwar die Beweislast. Das gilt jedoch nur für die eine solche Bestimmung tragenden Tatsachen.23 Eine anderweitige Regelung der Haftungsverteilung im Innenverhältnis, die sich aus Normen ergibt oder aus solchen abgeleitet wird, ist von den Gerichten dagegen als Teil der Rechtsanwendung von Amts wegen zu berücksichtigen. 2. Keine gesetzliche oder vertragliche Bestimmung in der Organhaftung Gesetzliche Regelungen zur Bestimmung der Haftungsanteile, die auf einzelne einen Schaden verursachende Organmitglieder im Innenverhältnis entfallen, gibt es weder in den Normen des Gesellschaftsrechts noch in anderen Regelwerken. Verbreitet wird darauf verwiesen, dass sich die interne Haftungsverteilung aus der Satzung einer Gesellschaft oder aus vertraglichen Regelungen, etwa aus Anstellungsverträgen ergeben oder zumindest im Wege der Auslegung daraus abgeleitet werden könne.24 Praktisch ist das allerdings nur schwer vorstellbar.25 Eine ausdrückliche Regelung in der Satzung einer Aktiengesellschaft dahingehend, dass im Falle einer gesamtschuldnerischen Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat im Innenverhältnis zwischen den Organen ersterer zu 80% und letzterer zu 20% haften solle, würde nicht nur seltsam anmuten, sondern auch wegen ihrer Starrheit dem jeweiligen konkreten Haftungsfall nicht gerecht werden. Dasselbe würde für entsprechende Klauseln in Organdienstverträgen gelten. Bei diesen käme noch hinzu, dass die Regelung der Haftungsverteilung im Innenverhältnis auf diese Weise nur dann gelingen könnte, wenn sämtliche Anstellungsverträge aller potentiell betroffenen Mithaftenden identische Maßstäbe enthielten; das ist schon deshalb nicht möglich, weil die Gesellschaft mit Aufsichtsratsmitgliedern grundsätzlich keine Anstellungsverträge abschließt. Die BestimGebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 426 Rn. 30 ff.; Heinemeyer, in MünchKommBGB, 8. Aufl. 2019, § 426 Rn. 15. 22 BGH, 3.11.1958 – III ZR 139/57, NJW 1959, 334, 335; BGH, 4.7.1963 – VII ZR 41/62 BGH, NJW 1963, 2067, 2068; BGH, 17.5.1983 – IX ZR 14/82, NJW 1983, 1845, 1846; BGH, 30.9.1987 – IVb ZR 94/86, NJW 1988, 133, 134; ablehnend etwa Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 426 Rn. 17. 23 BGH, 30.9.1987 – IVb ZR 94/86, NJW 1988, 133, 1; Gehrlein, in BeckOK BGB, 1.11.2019, § 426 Rn. 6; Heinemeyer, in MünchKommBGB, 8. Aufl. 2019, § 426 Rn. 15. 24 Fleischer, in MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rn. 319; Paefgen, in GroßkommGmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rn. 200; Beurskens, in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 43 Rn. 62; Freund, GmbHR 2013, 785, 787. 25 So auch Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 466: „zweifelhaft“. 21

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mung der Haftungsverteilung im Innenverhältnis durch Satzung oder Vertrag scheidet deshalb aus praktischen Gründen aus. 3. Subsidiäre Haftung des Aufsichtspflichtigen als gesetzliche Grundwertung? Von der Haftung nach Kopfteilen abweichende Regeln zur internen Haftungsverteilung zwischen Gesamtschuldnern, die unterschiedliche Pflichtenkreise haben, finden sich außerhalb des Gesellschaftsrechts. So sind gemäß § 1833 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 BGB der Vormund und der zur Aufsicht über den Vormund bestellte sogenannte Gegenvormund (§ 1792 BGB) gegenüber dem von ihnen betreuten Mündel für Pflichtverletzungen als Gesamtschuldner verantwortlich. Im Innenverhältnis soll jedoch gemäß § 1833 Abs. 2 S. 2 BGB allein der Vormund, nicht dagegen der diesen beaufsichtigende Gegenvormund haften. In ähnlicher Weise bestimmt § 840 Abs. 2 BGB, dass im Innenverhältnis zwischen dem Verrichtungsgehilfen und dem Geschäftsherrn im Sinne von § 831 BGB sowie im Innenverhältnis zwischen dem Minderjährigen und dem Aufsichtspflichtigen im Sinne von § 832 BGB jeweils allein der Verrichtungsgehilfe und der Minderjährige haften und Geschäftsherr und Aufsichtspflichtiger damit entlastet sein sollen. Aus diesen Normen wird vom Bundesgerichtshof und der ganz herrschenden Auffassung ein allgemeiner Rechtsgrundsatz abgeleitet, nach welchem bei gesamtschuldnerischer Haftung von Überwachtem und Überwacher im Innenverhältnis ausschließlich der Überwachte haften und kein Haftungsanteil beim Überwacher verbleiben soll.26 Dieser Rechtsgrundsatz wird sodann ausdrücklich auch auf das Verhältnis von Vorstand oder Geschäftsführung zum Aufsichtsrat und auf das Verhältnis einer Ressortführerin oder eines Ressortführers zu den übrigen Vorstands- oder Geschäftsführungsmitgliedern bezogen: Hafte der Vorstand gegenüber der Gesellschaft wegen einer pflichtwidrigen Entscheidung oder Maßnahme und der Aufsichtsrat wegen unzureichender Überwachung des Vorstands bei dieser Entscheidung oder Maßnahme, dann habe der Vorstand die Aufsichtsratsmitglieder im Innenverhältnis von sämtlichen Haftungsanteilen für den eingetretenen Schaden freizustellen.27 Ausnahmen von diesem Prinzip 26 BGH, 22.4.1980 – VI ZR 134/78, NJW 1980, 2348; später ohne Bezugnahme auf § 840 Abs. 2 BGB als allgemeiner Rechtsgrundsatz bezeichnet bei BGH, 23.1.1990 – VI ZR 209/89, NJW 1990, 1361, 1363; BGH, 10.5.2005 – VI ZR 366/03, NJW 2005, 2309. 2310; BGH, 18.11.2014 − KZR 15/12, BGHZ 203, 193 Rz. 57. 27 In diesem Sinne Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 66; Drygala, in Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 116 Rn. 52; Diekmann, in MünchHdbGesR, Band 3, 5. Aufl. 2018, § 46 Rn. 22; Hölters, in ders., AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 Rn. 246 f.; Beurskens, in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl.

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sollen nur in ganz besonderen Konstellationen geboten sein, etwa wenn „im konkreten Fall aus [der] Treupflicht (etwa wegen sehenden Auges geschaffener Gefahrenlage) [eine] besonders verdichtete Überwachungspflicht“ folge,28 oder wenn der Überwacher ausnahmsweise einen „wesentlichen Verursachungsbeitrag“ zum Schadenseintritt geliefert habe.29 Diese im Grundsatz vollständige Entlastung der Überwacher im Innenverhältnis zulasten der Überwachten überzeugt aber jedenfalls für das Gesellschaftsrecht und dort im Hinblick auf das Verhältnis von Aufsichtsrat zu operativem Organ oder von Ressortführer zu übrigen Organmitgliedern als Grundregel nicht. Sie erschwert auch die nötige Differenzierung zwischen unterschiedlichen Konstellationen und Verschuldensgraden. Schon im Ausgangspunkt wird § 840 Abs. 2 BGB – im Deliktsrecht – vielfach gerade nicht als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens oder eines Grundprinzips, sondern als nicht zu verallgemeinernde Sonderregelung betrachtet.30 Auch betrifft § 840 Abs. 2 BGB mit der Haftung für Verrichtungsgehilfen (§ 831 BGB) und für Minderjährige (§ 832 BGB) Tatbestände einer Haftung für vermutetes Verschulden.31 Mit einer solchen Haftung hat die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen Verletzung von Pflichten bei der Überwachung des operativen Organs nichts zu tun. Vor allem aber weist das Gesellschaftsrecht allen Gesellschaftsorganen jeweils definierte Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu, um ein ausgewogenes System zur Verwaltung der Gesellschaft zu schaffen. In diesem System sind sämtliche Organe und deren Mitglieder gleichermaßen dazu verpflichtet, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden und Risiken zu minimieren, gerade auch die Aufsichtsorgane.32 Die intendierte Sicherung der Gesellschaft gegen Schäden beruht gerade auf dem Zusammenwirken dieser Organe, und nicht etwa allein oder auch nur vorrangig auf der Erwartung, dass der Vorstand oder die Geschäftsführer stets fehlerfrei agieren. 2019, § 43 Rn. 62; Paefgen, in GroßkommGmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rn. 200; Fleischer, in MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rn. 319; Ziemons/Pöschke, in BeckOK GmbHG, 1.11.2019, § 43 Rn. 259; Schnorbus, in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 43 Rn. 95; Freund, GmbHR 2013, 785, 788; Guntermann, AG 2017, 606, 607; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 16; Fischer, ZIP 2014, 406, 407; anders und differenzierend Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 182 ff. 28 Beurskens, in Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 43 Rn. 62. 29 Guntermann, AG 2017, 606, 607. 30 RG, 27.6.1904 – VI 425/03, RGZ 58, 335, 337; RG, 17.12.1938, II 100/38, RGZ 159, 86, 90 ff.; BGH, 9.6.1952 – III ZR 297/51, NJW 1952, 1015, 1016; Nüßgens, in RGRK, 12. Aufl. 1989, § 840 Rn. 49; Kreße, in BeckOGK BGB, Stand 1.12.2019, § 426 Rn. 50.8; eingehend Vieweg, in Staudinger, BGB, 2015, § 840 Rn. 80 f. 31 Spindler, in BeckOGK BGB, 1.10.2019, § 831 Rn. 3; Wellenhofer, in BeckOGK BGB, 1.11.2019, § 832 Rn. 2. 32 In diese Richtung auch Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 624 f., allerdings im Ergebnis doch der h.M. folgend.

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Anders formuliert ist der Aufsichtsrat nicht eingerichtet, um zu garantieren, dass der beaufsichtigte Vorstand oder die Geschäftsführung niemals Fehler begehen, sondern gerade weil Irren menschlich ist und niemand über einen längeren Zeitraum hinweg ausschließlich perfekte und fehlerlose Entscheidungen treffen kann. Dem Aufsichtsrat fällt also nicht etwa eine rein subsidiäre Hintergrundaufgabe zu. Vielmehr soll seine Tätigkeit zusammen mit der Tätigkeit des operativen Organs gewährleisten, dass die Gesellschaft bestmöglich verwaltet wird.32a Wenn nun in dieser Arbeitsteilung Mitglieder des Vorstands ihre Pflichten verletzen und der Gesellschaft dadurch Schaden zufügen, die Mitglieder des Aufsichtsrates in diesem Zusammenhang aber keine Pflichten verletzt haben, etwa, weil sie vom Handeln des Vorstands keine Kenntnis haben konnten, dann trifft die Haftung allein die Vorstandsmitglieder, und die Frage der Haftungsverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat stellt sich nicht. Wenn jedoch neben dem Vorstand auch der Aufsichtsrat Pflichten verletzt, die ihm im Interesse der Gesellschaft zugewiesen sind, namentlich seine Pflicht zur Überwachung des Vorstands, dann ist nicht recht einzusehen, weshalb ein Teil der Verantwortung dafür am Ende nicht den Mitgliedern des Aufsichtsrates zufallen und bei diesen in Form ihrer Haftung auch verbleiben sollte. Die Grundthese der Rechtsprechung, der pflichtwidrig agierende Überwachte handele treuwidrig, wenn er dem Überwacher mangelnde Überwachung vorwerfe, weil er sich vorrangig „an die eigene Nase fassen“ und für seine Fehler umfassend einstehen müsse, hat eine gewisse Intuition auf ihrer Seite. Kontraintuitiv ist allerdings die Kehrseite dieser These, die zu einer vollständigen Entlastung des Überwachers führt, obwohl dieser gleichermaßen Pflichten verletzt hat. Der Grundsatz der alleinigen Haftung des kontrollierten Organs misst dem Aufsichtsrat im Ergebnis gleichsam die Rolle eines Polizisten und Strafverfolgers für Verfehlungen des Vorstands zu. Bei einem solchen Verständnis wäre es in der Tat unangemessen, wenn der Übeltäter, der seinem Opfer Schadensersatz leisten muss, hernach eine finanzielle Beteiligung des Polizisten verlangen könnte, der ihn infolge eines Versehens, nicht schnell genug festgenommen hatte, um die Tat noch verhindern zu können. So liegen die Dinge bei der Verwaltung eines Unternehmens aber nicht. Der Aufsichtsrat sollte regelmäßig an der Seite des Vorstands stehen und Fehlentscheidungen idealerweise nicht repressiv ahnden, sondern bereits präventiv verhindern und dem Vorstand als Kooperationspartner dienen.33 Wenn man die Rolle des Aufsichtsrates aber so betrachtet, dann können und dürfen die Mitglieder des Vorstands, wenn sie nicht gerade vorsätzlich 32a

Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 185 f. Zum Wandel der Rolle des Aufsichtsrates als Unternehmensorgan etwa Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2019, § 95 Rn. 7, 11, § 111 Rn. 274 ff. 33

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ihre Pflichten verletzen, durchaus damit rechnen, dass der Aufsichtsrat etwaige Fehler ihres Tuns erkennt und rechtzeitig interveniert, um Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Wenn sie damit rechnen dürfen, dann dürfen sie sich auch gegenüber dem Aufsichtsrat und im Hinblick auf die Haftungsverteilung im Innenverhältnis darauf berufen, ohne sich dem Vorwurf der Treuwidrigkeit auszusetzen. Dieser Ansatz lässt sich im Übrigen sogar an Argumentationslinien des Bundesgerichtshofs zu Ausnahmen von der alleinigen Haftungslast des Überwachten im Verhältnis zum Überwacher anknüpfen: So sieht der Bundesgerichtshof eine Mithaftung des Überwachers dann als gerechtfertigt an, wenn der Überwachte mit seiner eigenen Beaufsichtigung und Kontrolle durch den Überwacher rechnen durfte. Das soll insbesondere dann der Fall sein, wenn sich diese Beaufsichtigung „als Haupt- oder Nebenpflicht aus einer vertraglichen Sonderverbindung“ ergebe.34 Im entschiedenen Fall bestand die Sonderverbindung in einem Vertrag über die Absicherung eines Rohrtransportes. Eine vergleichbare oder sogar noch stärkere Sonderverbindung könnte man durchaus in der durch die Satzung oder den Gesellschaftsvertrag begründeten Organstruktur einer Gesellschaft sehen. 4. Haftungsteilung nach Verschuldensanteilen und Verursachungsbeiträgen Vorzugswürdig erscheint es deshalb, für die Aufteilung der Haftung im Innenverhältnis zwischen operativem und Aufsichtsorgan oder zwischen Ressortführer und übrigen Organmitgliedern nicht eine „Alles-oder-NichtsRegel“ entsprechend § 840 Abs. 2 BGB anzuwenden, sondern – wie in anderen Konstellationen des Gesamtschuldnerausgleichs auch35 – die jeweiligen Handlungs- und Verschuldensbeiträge der einzelnen Beteiligten entsprechend § 254 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen und ins Verhältnis zu setzen.36 Dieser Ansatz bietet zugleich flexiblere und dem Einzelfall angepasste Ergebnisse, ohne dass Ausnahmen (und unter Umständen auch wieder Rückausnahmen) von der Haftungsbefreiung der Aufsichtsorgane formuliert werden müssen.37 Die Aufgabe des Grundsatzes einer vollständig subsidiären Haftung des Überwachers bedeutet auch nicht, dass stattdessen im Regelfall eine Haftung nach Kopfteilen gilt. Selbstverständlich wird sich der Umstand, dass die Mitglieder eines Aufsichtsrats schon aus Zeitgründen deutlich geringere 34

BGH, 22.4.1980 – VI ZR 134/78, NJW 1980, 2348. Gebauer, in Soergel, BGB, 2009, § 426 Rn. 30 f. 36 Dafür bereits RG, 17.12.1938, II 100/38, RGZ 159, 86, 91; ferner Habersack, in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 116 Rn. 78; Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 465; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rn. 57; § 116 Rn. 13; Mertens/ Cahn, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 50; Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 183 ff. 37 Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 465. 35

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Erkenntnismöglichkeiten zu einzelnen Vorgängen im Unternehmen haben als die Mitglieder von Vorstand oder Geschäftsführung, die diese Vorgänge unmittelbar betreuen, regelmäßig in geringeren Verschuldens- und damit Haftungsanteilen der Aufsichtsratsmitglieder im Innenverhältnis niederschlagen (dazu noch V.). Auch das Ergebnis einer vollen Haftungslast des Vorstands oder der Geschäftsführer ist durch § 254 Abs. 2 BGB nicht ausgeschlossen, wenn der Vorstand etwa vorsätzlich oder wissentlich Pflichten verletzt und die Aufsichtsratsmitglieder dies nur leicht fahrlässig übersehen. In solchen Fällen steht freilich zugleich die Frage im Raum, ob der durch den Vorstand verursachte Schaden für den Aufsichtsrat überhaupt zu verhindern war oder ob es nicht schon an einer Haftung desselben dem Grunde nach im Außenverhältnis zur Gesellschaft fehlt. Die Alleinverantwortlichkeit des Vorstands bestünde dann nicht nur infolge eines Innenausgleichs, sondern unmittelbar im Verhältnis zur Gesellschaft.

V. Verteilungsmaßstäbe nach Fallgruppen Gestützt auf eine Analyse der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge der beteiligten Organwalter lässt sich zur Aufteilung einer Schadenshaftung im Innenverhältnis Folgendes festhalten: 1. Verhältnis Aufsichtsorgan zu Vorstand oder Geschäftsführern Sind sowohl Vorstands- als auch Aufsichtsratsmitglieder an einer Schaden auslösenden Entscheidung oder Maßnahme beteiligt, ist für die Frage des auf letztere entfallenden Haftungsanteils zunächst ausschlaggebend, ob der Aufsichtsrat im Rahmen eines Zustimmungsvorbehalts aus Satzung oder Geschäftsordnung (§ 111 Abs. 4 S. 2 AktG) darüber Beschluss gefasst hat und damit selbst unternehmerisch tätig geworden ist, oder ob er die Entscheidung oder Maßnahme nur als Kontrolleur im Rahmen seiner Überwachungsaufgaben begleitet hat.37a a) Haben die Mitglieder des Aufsichtsrates nämlich selbst eine unternehmerische Entscheidung getroffen, dann haften sie für dabei begangene Pflichtverletzungen, typischerweise eine Überschreitung des ihnen zustehenden unternehmerischen Ermessens, auch nach denjenigen Stimmen, die die Haftung des Aufsichtsrates ansonsten als im Innenverhältnis subsidiär betrachten,38 gemeinsam mit den Vorstandsmitgliedern.39 Eine vollständige Haftungsverlagerung auf den Vorstand dürfte in dieser Konstellation nur 37a

Vgl. Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 183 ff. Vgl. auch Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 183 ff. Fn. 27. 39 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rn. 65; Hölters, in ders., AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 Rn. 247. 38

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ausnahmsweise in Betracht kommen, etwa wenn der Vorstand den Aufsichtsrat vorsätzlich falsch über wichtige Entscheidungsgrundlagen informiert, um ihn zu einem Zustimmungsbeschluss zu verleiten, der Aufsichtsrat die Unzulänglichkeit seiner Informationsgrundlage aber hätte erkennen können. Haben dagegen sowohl die Vorstands- als auch die Aufsichtsratsmitglieder die Grenzen ihres unternehmerischen Ermessens jeweils nur fahrlässig überschritten, dann bleibt es bei einer Mithaftung der Aufsichtsratsmitglieder im Innenverhältnis zum Vorstand. Weil die Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen der Unternehmensleitung wesentlich in den Händen des Vorstands liegen und die Befassung des Aufsichtsrates damit in aller Regel inhaltlich und zeitlich deutlich dahinter zurückbleibt, übersteigt der auf den Vorstand entfallende Haftungsanteil typischerweise denjenigen des Aufsichtsrates. Da die Haftungsverteilung im Innenverhältnis nicht von dem eher zufälligen Umstand abhängen sollte, mit wie vielen Personen Vorstand und Aufsichtsrat jeweils besetzt sind, sollte im ersten Schritt eine Aufteilung zwischen der Gesamtheit der Vorstandsmitglieder einerseits und der Gesamtheit der Aufsichtsratsmitglieder andererseits vorgenommen werden. In Abhängigkeit von der Intensität der Einbindung des Aufsichtsrates in die Entscheidungsfindung (Umfang der vorgelegten Unterlagen, Zahl der Befassung in Sitzungen, Expertise bei Aufsichtsratsmitgliedern) dürfte der auf den Aufsichtsrat insgesamt entfallende Anteil in der Regel zwischen 10% und und maximal 40%, jedenfalls aber weniger als die Hälfte betragen, sofern nicht außergewöhnliche Aktivitäten des Aufsichtsrates im Einzelfall eine höhere Quote rechtfertigen.39a Im zweiten Schritt wäre dann die jeweilige Quote auf die einzelnen Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat zu verteilen. Betrifft die fehlerhaft getroffene Entscheidung den Bereich eines Vorstandsressorts oder eines Aufsichtsratsausschusses, dann liegt eine weitere Aufteilung innerhalb der Organe nach demselben Maßstab nahe – also eine Beteiligung der Ressortführerin und der Ausschussmitglieder in einer Größenordnung zwischen 60% und 90% des jeweils auf Vorstand oder Aufsichtsrat entfallenden Anteils und der Gesamtheit übrigen Organmitglieder von entsprechend 10% bis zu 40%. Bei gleicher Art der Mitwirkung innerhalb eines Organs oder einer so gebildeten Untergruppe gilt dann im Zweifel eine Verteilung nach Kopfteilen. b) Begleitet der Aufsichtsrat eine Maßnahme des Vorstands dagegen nicht im Rahmen seiner Mitentscheidungsbefugnisse kraft Zustimmungsvorbehalts, sondern im Rahmen seiner allgemeinen Aufgabe zur Überwachung und Kontrolle des Vorstandshandelns, dann sollte der Haftungsanteil des Aufsichtsrates zwar wie dargelegt nicht generell bei Null, allerdings auch deutlich unterhalb des Haftungsanteils bei einer unternehmerischen 39a Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 189 nimmt einen Haftungsanteil des Aufsichtsrates von 1/3 an.

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Mitentscheidung liegen, weil die Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Aufsichtsrates für den eingetretenen Schaden in dieser Konstellation geringer sind. Dieser Gedanke dürfte zu auf die Gesamtheit der Aufsichtsratsmitglieder entfallenden Quoten von in der Regel höchstens 20% führen.39b c) In beiden Konstellationen dürfte gesteigertes Verschulden einzelner Organmitglieder in Form von grob fahrlässigen, wissentlichen oder direkt vorsätzlichen Pflichtverletzungen den Haftungsanteil dieser Organmitglieder gegenüber ihren Organkollegen sowie gegenüber dem jeweils anderen Organ insgesamt erhöhen. Da jedes einzelne Organmitglied nur für eigenes Verschulden haftet, darf gesteigertes Verschulden eines einzelnen allerdings nicht zu einer Erhöhung des Haftungsanteils der übrigen Mitglieder desselben Organs führen. 2. Verhältnis der Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer und Aufsichtsratsmitglieder untereinander a) Besteht in Vorstand oder Geschäftsführung eine (wirksame) Ressortverteilung oder hat der Aufsichtsrat Ausschüsse eingerichtet und betrifft die fehlgeschlagene Entscheidung oder Maßnahme den Bereich eines Ressorts oder Ausschusses, dann verschieben sich wie eben dargestellt die Haftungsanteile im Innenverhältnis zulasten der Ressortführerin oder des Ressortführers und der Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses und zugunsten der übrigen Organmitglieder.40 b) Dagegen dürfte die Position der Vorsitzenden des Vorstands, der Geschäftsführung oder des Aufsichtsrates als solche keinen Einfluss auf die Haftung der diese Ämter ausübenden Personen haben.41 Begründen ließe sich ein solchermaßen erhöhter Anteil nur dann, wenn sich gerade aus der Ausübung der jeweiligen Position ein höherer Verursachungsbeitrag oder ein größeres Verschulden ergäbe.42 Das könnte wohl nur dann der Fall sein, wenn gerade eine dem oder der Vorsitzenden obliegende Organisationaufgabe verletzt wurde, etwa diejenige der Einberufung oder Durchführung von Sitzungen oder die Protokollierung von Beschlüssen oder wenn den 39b Für alleinige Haftung des Vorstands in dieser Konstellation Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 187 f. 40 Krieger/Sailer-Coceani, in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rn. 30; Mertens/Cahn, in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 50; Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 465; Paefgen, in GroßkommGmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rn. 200; Fleischer, in MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rn. 319; Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung, Köln 2008, S. 175 ff. 41 In diese Richtung etwa Krieger/Sailer-Coceani, in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rn. 30. 42 Freund, GmbHR 2013, 785, 788.

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oder die Vorsitzende der Vorwurf eines gesteigerten Verschuldens trifft, weil er oder sie kraft ihres Amtes eine breitere Informationsgrundlage hatte oder Informationen vor den übrigen Organmitgliedern erhielt.43 c) In den übrigen Fällen bleibt es bei der Verteilung des auf das Organ insgesamt entfallenden Haftungsanteils nach Köpfen. 3. Verhältnis Vorstand und Geschäftsführer zu Arbeitnehmern der Gesellschaft Verursachen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines Unternehmens im Zusammenwirken mit dessen Organmitgliedern – typischerweise werden dies Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer sein, nicht dagegen Aufsichtsratsmitglieder – einen Schaden, dann steht neben der Haftung der Organmitglieder für diesen Schaden auf organschaftlicher Grundlage die Haftung der Arbeitnehmer gegenüber der Gesellschaft als Arbeitgeberin wegen Verletzung ihrer anstellungsvertraglichen Pflichten. Erweisen sich die Organpflicht- und die Anstellungsvertragsverletzung als äquivalent kausal für denselben Vermögensschaden, dann spricht alles für eine gesamtschuldnerische Haftung von Organmitglied und Arbeitnehmer im Verhältnis zur Gesellschaft.44 a) Für den Innenausgleich der Haftung im Verhältnis der Gesamtschuldner untereinander sollten dann im Ausgangspunkt dieselben Maßstäbe und Grundsätze gelten wie für das Innenverhältnis zwischen operativen und Kontrollorganen (oben V. 1.):45 Erledigen das Organmitglied und der Arbeitnehmer eine Aufgabe gemeinsam und handeln sie dabei pflichtwidrig, dann richtet sich die Haftungsverteilung entsprechend § 254 Abs. 2 BGB nach den jeweiligen Verschuldensanteilen. Diese verschieben sich – vorbehaltlich der Regeln der Haftungsprivilegierung (dazu sogleich unter b)) – zulasten des Arbeitnehmers und zugunsten des Organmitglieds, je stärker sich die Tätigkeit des letzteren auf die Kontrolle und Überwachung des ersteren beschränkt hat. Wie im Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand sollte aber auch in Fällen, in welchen das Organmitglied ausschließlich seine Pflichten bei der Auswahl, Anleitung und Überwachung des Mitarbeiters verletzt, die Haftung nicht ohne weiteres analog § 840 Abs. 2 BGB vollständig beim Arbeitnehmer liegen.46 Erheblich mehr noch als ein Vorstandsmitglied gegenüber dem Aufsichtsrat darf ein Arbeitnehmer, der von einem Vorstandsmitglied mit einer Aufgabe betraut wird, annehmen, dass dieses Vorstandsmitglied seine Tätigkeit, soweit 43 44 45 46

So wohl auch Hopt/Roth, in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rn. 465. Dazu oben bei Fn. 18. Im Ausgangspunkt ebenso Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 623 ff. Dafür aber Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 623 ff.

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dies im Hinblick auf Ausbildung, Qualifikation und Erfahrung notwendig ist, regelmäßig prüft und sich deshalb gegenüber dem Organmitglied auf eine etwa fehlende oder mangelhafte Prüfung berufen. Anders wird dies wiederum dann sein, wenn der Arbeitnehmer vorsätzlich gegen seine Pflichten verstößt oder dem Unternehmen gar zum eigenen Vorteil Schaden zufügt, etwa Geld veruntreut. Wenn dieser Schaden durch eine ordnungsgemäße Überwachung des Vorstandsmitglieds oder Geschäftsführers verhindert worden wäre, dann trifft auch diesen im Verhältnis zur Gesellschaft eine Haftung. Im Innenverhältnis bleibt der untreue Arbeitnehmer aber alleine verantwortlich. Umgekehrt verschiebt sich die Haftungslast in Richtung des Vorstandsmitglieds oder Geschäftsführers, wenn dieser den Mitarbeiter zu einer bestimmten Handlung angewiesen hat. Solche Weisungen beseitigen, wenn sie nicht für den Mitarbeiter erkennbar rechtswidrig sind, bereits die Haftung des Mitarbeiters dem Grunde nach, so dass ein Ausgleich im Innenverhältnis entfällt und die Haftung gegenüber der Gesellschaft allein das Organmitglied trifft. b) Diese Grundsätze zur Haftungsverteilung werden freilich zum Teil überlagert durch die Regeln der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zur privilegierten Haftung von Arbeitnehmern für die Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten: Im Verhältnis zur Gesellschaft als Arbeitgeberin haftet der Arbeitnehmer nur bei vorsätzlichem und „gröbst“ fahrlässigem Verhalten in voller Höhe, bei mittlerer Fahrlässigkeit dagegen nur in beschränktem Umfang und bei leichter Fahrlässigkeit überhaupt nicht.47 Könnte das Organmitglied nun nach den dargestellten Maßstäben von dem mitverantwortlichen Arbeitnehmer Ausgleich verlangen, dann müsste der Arbeitnehmer dies nur dann hinnehmen, wenn er auch im Verhältnis zur Gesellschaft als Arbeitgeberin in vollem Umfang haftet, mithin bei Vorsatz und gröbster Fahrlässigkeit. Dagegen würde durch einen Regress des Organmitglieds gegenüber einem leicht fahrlässig handelnden Arbeitnehmer die arbeitsrechtliche Haftungsprivilegierung ausgehebelt werden. In diesen Fällen wird ein Regress des Organmitglieds deshalb auszuschließen sein.48 Eine daran anschließende, an dieser Stelle aber nicht zu vertiefende Frage ist, ob dieser Regressausschluss nach den Regeln der sogenannten „gestörten Gesamtschuld“ dann zu einer Belastung des Organmitglieds oder aber zu einer Belastung der Gesellschaft führen soll.49

Dazu statt aller Linck, in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Aufl. 2019, § 59 Rn. 24 ff. 48 Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 628. 49 Für eine Belastung des Organmitglieds Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 626 ff. 47

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4. Verhältnis Organmitglieder zu externen Beratern Schließlich kann eine Organhaftung mit einer parallelen Haftung von Beratern der Gesellschaft wegen einer Verletzung von Beratungs- oder anderen Dienstleistungsverträgen mit der Gesellschaft zusammentreffen. So mag ein externer Rechtsanwalt den Vorstand und den Aufsichtsrat im Zusammenhang mit geplanten Kapitalmaßnahmen der Gesellschaft beraten und dabei eine falsche rechtliche Analyse erstellen, während die Organmitglieder es versäumt haben mögen, die Stellungnahme später auf Plausibilität und Vollständigkeit hin zu überprüfen. In dieser Konstellation steht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs neben der Haftung des Rechtsanwalts im Grundsatz auch eine Organhaftung von Vorstand und Aufsichtsrat im Raum.50 Auch in dieser Konstellation ist vorab zu klären, ob der Gesellschaft überhaupt mehrere Beteiligte haften: Sind dem Berater beispielsweise wegen eines Fehlers des beauftragenden Organs entscheidende Informationen unbekannt und trifft seine Beratung aus diesem Grund nicht den Punkt, dann scheidet eine Beraterhaftung aus. Kann umgekehrt das beauftragende Organ mangels dazu notwendiger Rechtskenntnisse nicht erkennen, welche Informationen dem Berater fehlen oder fehlen könnten, liegt keine schuldhafte Pflichtverletzung der Organmitglieder vor, die den Berater ja eigens zur Überbrückung ihrer fehlenden Rechtskenntnisse hinzugezogen haben und sich, sofern keine Anhaltspunkte für eine falsche Beratung vorliegen, grundsätzlich auf das Ergebnis der Beratung verlassen dürfen. Besteht jedoch eine parallele, gesamtschuldnerische Haftung von externem Berater und Organmitglied, dann ist im Hinblick auf die Haftungsverteilung im Innenverhältnis zu differenzieren: Für Berater, an welche ein Organmitglied lediglich eigene Aufgaben delegiert, wie dies auch gegenüber Arbeitnehmern geschehen könnte, gelten – unter Ausschluss des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs – dieselben Überlegungen wie bei der Delegation an Arbeitnehmer (oben V. 3. a)). Wird der externe Berater dagegen – wie im ISION-Beispielsfall der Rechtsanwalt – gerade deshalb hinzugezogen, weil es unter den Organmitgliedern der Gesellschaft an entsprechender eigener Expertise fehlt, dann muss bei beiderseitiger Fahrlässigkeit51 die Haftung im Innenverhältnis auf den Berater entfallen, nicht auf die Organmitglieder. Zwar mag die Position des beauftragenden Organmitglieds, welches nach dem Bundesgerichtshof zur Plausibilisierung des Beratungsergebnisses verpflichtet ist, der oben dargestellten Konstellation zwischen 50

Vgl. BGH, 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2001, 2097 – Ision. Die bewusste Einholung eines falschen Gutachtens durch die Gesellschaftsorgane, etwa um eine Maßnahme mit dem Anschein der vorherigen sorgfältigen Prüfung zu versehen, würde das Bild natürlich ändern. 51

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überwachendem und überwachtem Organmitglied ähneln. Anders als der vom Aufsichtsrat überwachte Vorstand oder Geschäftsführer kann sich der externe Experte aber nicht darauf berufen, dass er zusammen mit dem beauftragenden Organmitglied zu einer auf ein System wechselseitiger Kontrolle ausgerichteten Unternehmensorganisation gehört und ihm daher die durch das Organmitglied geschuldeten Kontrollen gleichermaßen zugute kommen, wie den Mitgliedern des Vorstands die Kontrolle des Aufsichtsrates.52

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Oben IV. 3., S. 340 ff.

350 vakat

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Schadenszurechnung bei Verstößen gegen Zustimmungsvorbehalte Jörg Henzler

Schadenszurechnung bei Verstößen gegen Zustimmungsvorbehalte JÖRG HENZLER

I. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Schloss-Eller-Entscheidung des BGH . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung der allgemeinen schadensrechtlichen Regeln . . . 1. Ausgangspunkt einer Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzzweck von Zustimmungsvorbehalten als Rechtfertigungsgrund für eine Kausalitätsfiktion? . . . . . . . . 3. Modifikation der Zurechnungsregeln anhand des Schutzzwecks von Zustimmungsvorbehalten . . . . . . . . . . . 4. Anforderungen an den Nachweis einer hypothetisch erteilten Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besondere Grenzen des Einwands einer hypothetisch erteilten Zustimmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ausgangspunkt Schließt ein Geschäftsleiter ein Geschäft ohne die hierfür erforderliche Zustimmung eines Aufsichtsgremiums ab, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ihm ein möglicher Schaden zuzurechnen ist, der sich aus dem Abschluss dieses Geschäfts für die Gesellschaft ergibt. Diskutiert wird diese Zurechnungsfrage in Literatur und Rechtsprechung ganz überwiegend unter dem Aspekt, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sich der Geschäftsleiter in diesem Fall erfolgreich auf den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens berufen kann.1 In der Literatur wird bislang wohl überwiegend angenommen, dass der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei einem Verstoß gegen Zu1

Vgl. z.B. Wilsing/von der Linden NZG 2018, 1416, 1416 ff.; Grobecker/Wagner ZIP 2019, 694, 694 ff.; Freund NZG 2015, 1419, 1423 f.; Fleischer DB 2018, 2619, 2623; sowie die sogleich ausführlicher diskutierte Schloss-Eller-Entscheidung des BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1189 ff.

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stimmungsvorbehalte oder andere Verfahrens- und Kompetenznormen generell unzulässig sei.2 Begründet wird dies insbesondere damit, dass anderenfalls der Schutzzweck dieser Normen weitgehend leerlaufen würde. Demgegenüber hat der BGH in einem jüngeren Urteil aus dem Jahr 2018 entschieden, dass sich ein Vorstand gegenüber der Schadensersatzklage einer Aktiengesellschaft, die mit einem Verstoß gegen einen zugunsten des Aufsichtsrats eingerichteten Zustimmungsvorbehalt begründet wird, auf rechtmäßiges Alternativverhalten berufen darf und einwenden kann, dass der Aufsichtsrat der von ihm durchgeführten Maßnahme zugestimmt hätte.3 Dieses Urteil soll Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sein.

II. Die Schloss-Eller-Entscheidung des BGH In dem vom BGH entschiedenen Fall wurde dem Vorstand einer städtischen Aktiengesellschaft vorgeworfen, ein im Ergebnis wirtschaftlich nachteiliges Geschäft – konkret ging es um die Übernahme und Sanierung eines aus einem Schloss, Wirtschaftshof und Nebengebäuden bestehenden Gebäudekomplexes („Projekt Schloss Eller“) –, das nach der Satzung zustimmungsbedürftig war, abgeschlossen zu haben, ohne es erneut dem Aufsichtsrat vorgelegt zu haben, obwohl sich die mit dem Geschäft verbundenen Sanierungskosten zwischenzeitlich ganz erheblich erhöht hatten. Gegen die Klage verteidigte sich der Vorstand u.a. mit dem Argument, der Aufsichtsrat hätte dem Geschäft auch zu den geänderten Konditionen mit erheblich höheren Sanierungskosten zugestimmt. Der BGH stellte in seinem Urteil zunächst fest, dass der Vorstand den Aufsichtsrat wegen der erheblichen Steigerung der zu erwartenden Kosten nochmals mit der Sache hätte befassen müssen, und bejahte dementsprechend das Vorliegen einer Pflichtverletzung des Vorstands.4 Allerdings sei der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens grundsätzlich beachtlich. 2 So z.B. Spindler Münchner Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 93 Rn. 196; Mertens/ Cahn Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. (2010), § 93 Rn. 54 f.; Paefgen Großkommentar GmbHG, 2. Aufl. (2013), § 43 Rn. 195; Hopt Großkommentar AktG, 4. Aufl. (1999), § 93 Rn. 267; Krieger/Sailer-Coceani Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. (2015), § 93 Rn. 40; anders schon vor der Schloss-Eller-Entscheidung des BGH z.B. Fleischer DStR 2009, 1204, 1208 f.; Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2117. 3 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1189 ff.; der BGH verweist dort (Rn. 43) auf frühere Entscheidungen zum GmbH-Recht, in denen er dem Geschäftsführer einer GmbH den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Verstößen gegen die gesellschaftsrechtliche Kompetenzordnung ebenfalls zugebilligt hat (Verweis auf BGH vom 11.12.2006, NZG 2007, 185, 185 ff.; BGH vom 21.7.2008, NZG 2008, 783, 783 ff.; BGH vom 18.6.2013 NZG 2013, 1021, 1021 ff.). In diesen Entscheidungen ging es jedoch nicht um die Verletzung von Zustimmungsvorbehalten und hat sich der BGH auch nicht explizit mit den Argumenten der abweichenden Literaturauffassung auseinandergesetzt. 4 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1190 f. (Rn. 14 ff.).

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Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Aufsichtsrat dem Geschäft auch zu den geänderten Konditionen zugestimmt hätte, treffe allerdings den Vorstand. Damit die Entlastung gelinge, müsse der sichere Nachweis erbracht werden, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre. 5 Dass der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens für den Vorstand entgegen der oben dargestellten Literaturmeinung nicht von vornherein ausgeschlossen ist, will der BGH mit einem Verweis auf die hierzu entwickelten allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätze begründen. Es sei kein rechtfertigender Grund dafür ersichtlich, diese allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätze bei der Verletzung von Zustimmungsvorbehalten oder anderen Verfahrens- oder Kompetenzregeln nicht anzuwenden. Im Einzelnen führt er dazu aus: „Diejenigen, die den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Kompetenzverstößen ablehnen, überdehnen den Schutzzweck des § 93 Abs. (2) AktG. Die Norm ist kein Sanktionsinstrument für die Verletzung innergesellschaftlicher Kompetenzvorschriften, sondern begründet einen Ersatzanspruch, der sich in allgemeine schadensrechtliche Grundsätze einfügen muss. § 93 Abs. (2) AktG verfolgt den Zweck, die Schäden der Gesellschaft auszugleichen, die durch die Pflichtverletzung ihrer Vorstandsmitglieder entstanden sind, und bereits der Entstehung solcher Schäden durch eine Steuerung des Verhaltens der Vorstandsmitglieder vorzubeugen. Dieser Schutzzweck betrifft aber sämtliche Arten von Pflichtverletzungen gleichermaßen und wird bei Verstößen gegen Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensregeln nicht um einen besonderen Sanktionszweck erweitert. Wollte man dies anders sehen, führte dies dazu, bei Verstößen gegen Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensregeln in den Fällen rechtmäßigen Alternativverhaltens einen in § 93 Abs. (2) AktG nicht angelegten Strafschadensersatz zu konstruieren. Denn in diesem Fall würde allein ein der Norm nicht zukommender besonderer Sanktionscharakter zur Entstehung eines Schadensersatzanspruchs der Gesellschaft gegen das Vorstandsmitglied führen, obwohl nach zivilrechtlichen Haftungsgrundsätzen aufgrund des Einwands des rechtmäßigen Alternativverhaltens ein solcher Schadensersatzanspruch abzulehnen wäre. Die Sanktionierung von Fehlverhalten des Vorstands ist in solchen Fällen vielmehr Gegenstand der Personalkompetenz des Aufsichtsrats“ [Zitat unter Auslassung der vom BGH in Bezug genommenen Literaturnachweise].6

Der Ansatz des BGH, sich auf die allgemeinen schadensrechtlichen Zurechnungsregeln zurückzubesinnen, ist zu begrüßen. Diese Zurechnungsregeln und ihre Anwendung auf Fälle fehlender Zustimmungserteilung sollen daher im Folgenden genauer untersucht werden.

5 6

BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1194 (Rn. 45). BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1193 (Rn. 44).

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III. Anwendung der allgemeinen schadensrechtlichen Regeln Grundlegendes Element der Schadenszurechnung ist nach der maßgeblichen Differenzhypothese von § 249 Abs. (1) BGB die Kausalität des ersatzbegründenden Umstands (hier der Pflichtverletzung) für den eingetretenen Schaden.7 Diese Kausalitätsfrage wird aber weder vom BGH in seinem SchlossEller-Urteil diskutiert, noch setzen sich die Vertreter derjenigen Auffassung mit ihr auseinander, die den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens bei der Missachtung von Zustimmungserfordernissen für unzulässig halten.8 Vielmehr wird im Ergebnis unterstellt, dass Kausalität gegeben sei.9 In Bezug auf den BGH mag dies seinen Grund darin haben, dass die Feststellung der Vorinstanz der klagenden Gesellschaft sei durch den Kompetenzverstoß ein kausal verursachter Schaden entstanden, durch die Revision offenbar nicht angegriffen wurde und damit revisionsrechtlich nicht zur Überprüfung stand.10 Richtigerweise darf die Kausalitätsfrage aber nicht unberücksichtigt bleiben, sondern muss vielmehr Ausgangspunkt der schadensrechtlichen Zurechnungsüberlegungen sein. So wird für das Verhältnis der Kausalitätsfrage einerseits zum Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens andererseits verbreitet angenommen, dass erstere letzterem vorgelagert sei. 11 Danach kommt es auf den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens nur und erst dann an, wenn zuvor ein für den eingetretenen Schaden kausal gewordenes Verhalten des Schädigers festgestellt worden und die Haftung damit grundsätzlich gegeben ist.12 Die Annahme eines solchen Stufenverhältnisses leuchtet für den Grundfall ein, bei dem in Rede steht, ob ein positives Tun kausal für einen bestimmten Schaden war, und sich der Schädiger damit verteidigt, dass der Schaden auch dann entstanden wäre, wenn er sich pflichtgemäß verhalten 7 Vgl. statt aller z.B. Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 249 Rn. 8; Oetker Münchener Kommentar BGB, 8. Aufl. (2019), § 249 Rn. 109 ff.; Ekkenga/Kuntz Soergel BGB, 13. Aufl. (2014), Vor 249 Rn. 121 ff. 8 Vgl. Spindler Münchener Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 93 Rn. 196; Mertens/ Cahn Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. (2010), § 93 Rn. 54 f.; Paefgen Großkommentar GmbHG, § 43 Rn. 195; Krieger/Sailer-Coceani Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. (2015), § 93 Rn. 40. 9 Zutreffend angemerkt wird dies von Holle/Mörsdorf NJW 2018, 3555, 3556 f. 10 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1190 (Rn. 14). 11 BGH vom 7.2.2012, NJW 2012, 850, 850 f. für den Fall der pflichtwidrig unterbliebenen Aufklärung einer Patientin durch einen Arzt; allgemein Oetker Münchner Kommentar BGB, 8. Aufl. (2019), § 249 Rn. 217. 12 BGH vom 7.2.2012, NJW 2012, 850, 851 (Rn. 13 ff.); BGH vom 24.10.1995, NJW 1996, 311, 312; ebenso Schütz/Dorpheide VersR 2009, 475, 475.

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hätte.13 Hier ist auf einer ersten Ebene zu prüfen, ob das tatsächliche Verhalten im Sinne der Conditio-sine-qua-non-Formel kausal für den Schaden war, und auf der zweiten Ebene, ob derselbe Schaden auch bei hypothetisch angenommenem pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. In dem hier interessierenden Fall aber, in welchem der Vorwurf gegenüber dem Geschäftsleiter ausschließlich darin besteht, die für die Vornahme eines bestimmten Geschäfts erforderliche Zustimmung nicht eingeholt zu haben, und sich der Geschäftsleiter damit verteidigt, dass diese Zustimmung bei Befragung des entsprechenden Gremiums erteilt worden wäre, dürften diese beiden Ebenen zusammenfallen. Es geht sowohl unter dem Blickwinkel der Kausalität als auch unter dem Blickwinkel des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens übereinstimmend um die Betrachtung desjenigen hypothetischen Kausalverlaufs, der sich bei Befragung des entsprechenden Gremiums ergeben hätte.14 Die Zurechnungsfrage, zu wessen Lasten etwaige Unsicherheiten hinsichtlich dieses hypothetischen Kausalverlaufs gehen (wer diesen also nachzuweisen hat), kann unter beiden Blickwinkeln nur einheitlich beantwortet werden (siehe näher dazu sogleich unter Ziff. III. 1 u. 3). Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ganz konsequent, dass der BGH in seiner Schloss-Eller-Entscheidung nicht auf die Kausalitätsfrage eingeht, sondern sich darauf zurückziehen will, dass das Kausalitätserfordernis revisionsrechtlich nicht angegriffen worden sei. Geht es bei der Schadenszurechnung allein um die Frage, ob ein Gremium seine erforderliche Zustimmung bei entsprechender Befassung erteilt hätte, gibt es keine dem Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens vorgelagerte Kausalitätsfrage, über die revisionsrechtlich bereits entschieden worden sein könnte. Vielmehr sind beide Fragen nicht voneinander trennbar, weil unter beiden Blickwinkeln dieselbe Wertung erforderlich ist (siehe wiederum sogleich unter Ziff. III. 1 u. 3). Dieses Spezifikum des Schloss-Eller-Urteils soll aber nicht weiter beleuchtet, sondern stattdessen untersucht werden, welche Zurechnungsregeln bei Verstößen von Geschäftsleitern gegen Zustimmungsvorbehalte allgemein gelten. Dabei sind zunächst die grundsätzlich anwendbaren Regeln für 13

Beispielsfall nach BGH vom 25.9.1957, BGHSt 11, 1, 1 ff.: Ein Lkw überholt einen betrunkenen Radfahrer in zu dichtem Abstand, der Radfahrer gerät unter den Anhänger und wird verletzt; derselbe Unfall wäre möglicherweise auch geschehen, wenn der LkwFahrer den vorschriftsgemäßen Abstand eingehalten hätte; ausführliche Besprechung dieser Entscheidung bei Hanau Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit (1971), S. 60 ff. 14 Vgl. Wagner Münchner Kommentar BGB, 7. Aufl. (2017), § 823 Rn. 92, der darauf hinweist, dass die Differenzierung zwischen Kausalitätsnachweis und Nachweis rechtmäßigen Alternativverhaltens „bei genauerem Hinsehen verschwimmen“ könne; siehe auch Gebauer Hypothetische Kausalität und Haftungsgrund (2007), S. 6, nach dem der Unterscheidung zwischen hypothetischer Kausalität im Allgemeinen und rechtmäßigem Alternativverhalten im Besonderen eine geringere Bedeutung zukommt, als dies üblicherweise angenommen wird.

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die Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen in den Blick zu nehmen, bevor geprüft werden soll, ob und inwieweit eine Korrektur dieser grundsätzlich anwendbaren Regeln angezeigt erscheint. 1. Ausgangspunkt einer Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen Bei dem Vorwurf, eine erforderliche Zustimmung nicht eingeholt zu haben, handelt es sich im Ausgangspunkt um einen Unterlassensvorwurf.15 Dies dürfte jedenfalls für diejenigen Fälle anzunehmen sein, in denen die Pflichtverletzung des Geschäftsleiters allein in der Missachtung des Zustimmungserfordernisses besteht und die schadenstiftende Maßnahme nicht zusätzlich in weiterer Hinsicht pflichtwidrig war. Ein typisches Beispiel hierfür wäre eine unternehmerische Entscheidung des Geschäftsleiters, die zwar den Vorgaben der Business Judgment Rule von § 93 Abs. (1) Satz 2 AktG entspricht (Handeln auf angemessener Informationsgrundlage und „zum Wohle der Gesellschaft“), aber ohne die gebotene vorherige Befassung des Zustimmungsgremiums getroffen wurde. Wie oben bereits angedeutet, kann bei der Kausalitätsprüfung eines pflichtwidrigen Unterlassens – anders als bei einem Kausalurteil über ein positives Tun – nicht an das tatsächliche Geschehen angeknüpft werden, sondern ist auf denjenigen hypothetischen Kausalverlauf abzustellen, der sich bei pflichtgemäßem Handeln ergeben hätte.16 Dabei nimmt die Rechtsprechung im Ausgangspunkt an, dass Kausalität in Unterlassensfällen nur dann vorliegt, wenn der Geschädigte nachweist, dass der Schaden bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.17 Die bloße Möglichkeit oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit würden danach nicht genügen.18 So hat der BGH etwa in einem Fall, in dem einem Arzt vorgeworfen wurde, die Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden pflichtwidrig unterlassen zu haben, eine Schadenszurechnung verneint, weil der Geschädigte nicht nachgewiesen habe, dass der Schaden bei erfolgter Aufklärung mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ vermieden worden wäre.19 Dieser Nachweis ist darauf gerichtet, dass sich der geschädigte Pati15 Siehe zur Überlegung, ob der Vorwurf auch als Verstoß gegen ein Gebot (positives Tun) eingeordnet werden kann, unter Ziff. III. 3. 16 vgl. Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 249 Rn. 9 f. 17 BGH vom 19.2.1975, NJW 1975, 824, 825; OLG Dresden vom 6.11.2019, BeckRS 2019, 32232 (Rn. 10); siehe auch die finanzgerichtliche Entscheidung des BFH vom 17.11.1992, NJW-RR 1994, 102, 103. 18 BGH vom 7.2.2012, NJW 2012, 850, 851 (Rn. 10); BGH vom 19.2.1975, NJW 1975, 824, 825. 19 BGH vom 7.2.2012, NJW 2012, 850, 851 (Rn. 12).

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ent bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die alternative Behandlungsmethode für diese entschieden hätte (bzw. in dem vom BGH entschiedenen Fall die Mutter des geschädigten Kleinkinds). In jüngeren Entscheidungen aus dem Jahr 2019 haben das OLG Frankfurt20 und das OLG Dresden21 in ähnlich gelagerten Fällen, bei denen dem jeweils behandelnden Arzt vorgeworfen wurde, die Aufklärung über mögliche Behandlungsalternativen pflichtwidrig unterlassen zu haben, ebenso geurteilt. Der geschädigte Patient müsse darlegen und beweisen, dass der durch den jeweiligen Eingriff eingetretene Schaden bei pflichtgemäßer Aufklärung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre.22 Dabei wird sowohl in dem BGH-Urteil als auch in den beiden OLG-Entscheidungen ausdrücklich darauf verwiesen, dass sich dieses Ergebnis aus den allgemeinen Grundsätzen über den hypothetischen Kausalverlauf ergebe.23 Würde man bei diesem Ausgangspunkt stehen bleiben und ihn auf die hier interessierenden Fälle übertragen wollen, müsste die geschädigte Gesellschaft darlegen und beweisen, dass der Schaden bei ordnungsgemäßer Befassung des Aufsichtsgremiums, zu dessen Gunsten der Zustimmungsvorbehalt eingerichtet ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Dann würden also andere – für den Geschäftsleiter deutlich günstigere – Regeln gelten, als sie der BGH in seinem Schloss-Eller-Urteil formuliert und sie in der Literatur für richtig gehalten werden.24 Ob für die Schadenszurechnung in Fällen der Verletzung von Zustimmungsvorbehalten tatsächlich die soeben dargestellte Grundregel zur Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen maßgeblich sein kann oder eine Modifikation dieser Grundregel zu erfolgen hat, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei ist die Hürde für die Rechtfertigung einer solchen Modifikation der Grundregel geringer, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn die Grundregel – die in den oben zitierten BGH- und OLG-Entscheidungen, wie soeben gezeigt, als Anwendung der allgemeinen Grundsätze über den hypothetischen Kausalverlauf bezeichnet wird – beruht ihrerseits auf Wer20

OLG Frankfurt vom 26.3.2019, BeckRS 2019, 5865. OLG Dresden vom 30.9.2019 (Hinweisbeschluss), Beck RS 2019, 32232. 22 OLG Frankfurt vom 26.3.2019, BeckRS 2019, 5865 (Rn. 66); OLG Dresden vom 30.9.2019 (Hinweisbeschluss), BeckRS 2019, 32232 (Rn. 10). 23 BGH vom 7.2.2012, NJW 2012, 850, 851 (Rn. 14); OLG Dresden vom 30.9.2019 (Hinweisbeschluss), BeckRS 2019, 32232 (Rn. 10); OLG Frankfurt vom 26.3.2019, BeckRS 2019, 5865 (Rn. 66). 24 Von denjenigen Vertretern in der Literatur, die den Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung zulassen wollen, will – soweit ersichtlich – keiner der Gesellschaft den Nachweis dafür aufbürden, dass ihr Aufsichtsgremium die erforderliche Zustimmung verweigert hätte, vgl. z.B. Fleischer Münchener Kommentar GmbHG, 3. Aufl. (2019), § 43 Rn. 266; Schnorbus Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG, 6. Aufl. (2017), § 43 Rn. 72; Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2117. 21

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tungen und ergibt sich nicht bereits aus einer Anwendung gleichsam naturgesetzlicher Regeln. Anders als bei der Kausalitätsprüfung eines pflichtwidrigen Tuns kann bei einem Unterlassen nicht mithilfe der Conditio-sinequa-non-Formel dieses eine pflichtwidrige Element aus der Kausalkette des tatsächlichen Geschehens herausgenommen und dann festgestellt werden, ob der Schaden dann entfallen oder ebenfalls eingetreten wäre. Vielmehr muss ein hypothetisches Geschehen unterstellt werden, dessen Verlauf in den meisten Fällen unsicher sein wird. Welche Regeln dabei für den Umgang mit dieser Unsicherheit gelten sollen, kann aber ohne entsprechende Wertungen nicht entschieden werden.25 Es ist also nicht so, dass auf einer ersten Kausalitätsebene „qua Mechanik“ ein Zurechnungsergebnis geliefert würde, bei dem auf einer zweiten Stufe zu prüfen wäre, ob es wertungsmäßig zu korrigieren ist. Vielmehr handelt es sich um eine aufgrund von Wertungen zu entscheidende Zurechnungsfrage, die sich am Schutzzweck der verletzten Norm zu orientieren hat.26 Der mit Zustimmungsvorbehalten verfolgte Schutzzweck könnte es möglicherweise sogar rechtfertigen, einem Geschäftsleiter den negativen Ausgang eines ohne Einholung der erforderlichen Gremienzustimmung durchgeführten Geschäfts immer als Schaden zuzurechnen, ohne ihm eine Entlastung durch den Nachweis zu gestatten, dass das Gremium seine Zustimmung im Falle seiner Befragung erteilt hätte (dazu sogleich unter Ziff. 2). Dies entspräche im Ergebnis der bislang wohl überwiegenden Literaturmeinung. Auf Kausalitätserwägungen im eigentlichen Sinne käme es dann nicht mehr an, vielmehr würde die an sich erforderliche Kausalität bei dieser Ansicht der Sache nach fingiert und der Geschäftsleiter für alle Schäden haften, die sich aus dem ohne die erforderliche Zustimmung abgeschlossenen Geschäft ergeben. Lehnt man eine solche Kausalitätsfiktion ab, wäre anhand des mit Zustimmungsvorbehalten verfolgten Schutzzwecks zu beantworten, ob die Darlegungs- und Beweislast für den hypothetischen Kausalverlauf, der sich bei Befragung des pflichtwidrig übergangenen Gremiums ergeben hätte, entsprechend der Grundregel zur Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen Vgl. Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 249 Rn. 9, nach dem die Kausalitätsbetrachtung stets ein erstes wertendes Element erhält, wenn die Schadensfolge auf einem Unterlassen beruht; Teichmann Jauernig BGB, 17. Auf. (2017), Vor §§ 249–254 Rn. 47 f. 26 Vgl. zum Wertungsproblem der hypothetischen Kausalität Gebauer Hypothetische Kausalität und Haftungsgrund (2007), S. 8 ff.; zur Schutzzwecklehre Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 49 Rn. 27 ff.; Oetker Münchener Kommentar BGB, 8. Aufl. (2019), § 249 Rn. 116 ff.; ähnlich wie hier Hanau Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit (1971), S. 138 ff. und Teichmann Jauernig BGB, 17. Auf. (2017), Vor §§ 249–254 Rn. 48, nach dem es sich bei der Frage nach der Berücksichtigung des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens methodisch um eine Frage nach dem Schutzbereich der verletzten Norm handelt. 25

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bei der Gesellschaft liegen soll oder sie dem Geschäftsleiter aufzuerlegen ist (dazu unter Ziff. 3). Zu beantworten wäre weiter, welches Beweismaß für einen entsprechenden Nachweis erforderlich ist (dazu unter Ziff. 4). 2. Schutzzweck von Zustimmungsvorbehalten als Rechtfertigungsgrund für eine Kausalitätsfiktion? Die Literaturmeinung, nach der es dem Geschäftsleiter bei der Verletzung von Zustimmungsvorbehalten generell verwehrt sein soll, sich auf eine im hypothetischen Fall einer Gremienbefassung erteilte Zustimmung zu berufen, argumentiert – wie bereits erwähnt – mit deren Schutzzweck.27 Ohne die Sanktionierung durch eine Schadensersatzpflicht drohe dieser Schutzzweck leerzulaufen und werde die von diesen Vorschriften bezweckte Abschreckungswirkung unangemessen vermindert.28 Zustimmungsvorbehalte sollen dem Gremium, zu dessen Gunsten es besteht, in erster Linie ein Kontrollinstrument an die Hand geben. In der Aktiengesellschaft ist die Begründung und Ausübung von Zustimmungsvorbehalten für den Aufsichtsrat ein zentrales Instrument, um seiner Hauptaufgabe und Kernpflicht zur Überwachung und Kontrolle der Geschäftsleitung aus § 111 Abs. (1) AktG gerecht zu werden.29 Dabei ist der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. (4) Satz 2 AktG sogar dazu verpflichtet, Zustimmungsvorbehalte zu seinen eigenen Gunsten zu begründen, wenn nicht bereits in der Satzung entsprechende Reglungen vorgesehen sind.30 Diese über Zustimmungsvorbehalte wahrzunehmende Kontrolle des Aufsichtsrats ist nicht auf eine Überprüfung des Vorstandshandelns auf Rechtmäßigkeit beschränkt. Vielmehr hat der Aufsichtsrat in den Fällen, in denen es um die Zustimmung zu einer (rechtlich zulässigen) Geschäftsführungsmaßnahme geht, eine eigene unternehmerische Entscheidung zu treffen. Entsprechend den Vorgaben der analog anzuwendenden Business Judgment Rule von § 93 Abs. (1) Satz 2 AktG hat er – auf angemessener Informationsgrundlage und ohne sich von außerhalb der Gesellschaft liegenden Sonderinteressen leiten 27 Spindler Münchner Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 93 Rn. 196; Mertens/Cahn Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. (2010), § 93 Rn. 54 f.; Paefgen Großkommentar GmbHG, 2. Aufl. (2013), § 43 Rn. 195; Hopt Großkommentar AktG, 4. Aufl. (1999), § 93 Rn. 267; Krieger/Sailer-Coceani Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. (2015), § 93 Rn. 40; ZiemonsMichalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. (2017) § 43 Rn. 444. 28 Spindler Münchner Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 93 Rn. 196; Mertens/Cahn Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. (2010), § 93 Rn. 54 f. 29 Ausführlich zu den Überwachungspflichten des Aufsichtsrats Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. (2016), Rn. 245 ff.; Habersack Münchener Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 111 Rn. 18 ff. 30 Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. (2016), Rn. 264; Habersack Münchener Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019) § 111 Rn. 114 ff.; Spindler Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. (2019), § 111 Rn. 63.

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zu lassen – zu entscheiden, ob er der ihm zur Zustimmung vorgelegten Geschäftsführungsmaßnahme zustimmen will oder nicht.31 Auch in der GmbH sind Zustimmungsvorbehalte für die Gesellschafterversammlung – bzw. für den Aufsichtsrat oder Beirat, wenn ein solcher eingerichtet und diesem die Überwachungsaufgabe zugewiesen ist – ein zentrales Element für die Kontrolle der Geschäftsführung. Angesichts der hohen Bedeutung von Zustimmungsvorbehalten für das Kompetenzgefüge von Kapitalgesellschaften gilt es in der Tat zu verhindern, dass diese im Ergebnis leerlaufen. Um ein solches Leerlaufen zu verhindern, erscheint es aber nicht angezeigt, eine von jedweden Kausalitätserwägungen losgelöste Schadensersatzverpflichtung Platz greifen zu lassen. Die Etablierung einer Schadensersatzverpflichtung zu reinen Sanktionszwecken ist dem deutschen Schadensrecht grundsätzlich fremd32 und wäre als ultima ratio allenfalls dann denkbar, wenn der Verfahrensverstoß nicht auf andere Weise sanktionierbar wäre. Dies ist aber nicht der Fall: Zum einen kann dasjenige Organ, dem die Personalkompetenz in Bezug auf den Geschäftsleiter zusteht (in der Aktiengesellschaft der Aufsichtsrat und in der GmbH bei Fehlen einer abweichenden Satzungsbestimmung die Gesellschafterversammlung), den Geschäftsleiter durch entsprechende Personalmaßnahmen sanktionieren, worauf auch der BGH in seinem SchlossEller-Urteil zu Recht hinweist.33 Dabei dürften jedenfalls vorsätzliche oder grobe Kompetenzverstöße sowohl für eine vorzeitige Abberufung eines Vorstands aus wichtigem Grund nach § 84 Abs. (3) AktG als auch für eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrages nach § 626 Abs. (1) BGB ausreichend sein.34 Zum anderen ist mit der Entscheidung, den Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung grundsätzlich zuzulassen, noch nicht entschieden, unter welchen Voraussetzungen dies der Fall sein soll. Um zu vermeiden, dass dem Geschäftsleiter ein „Freibrief“ für Kompetenzverstöße erteilt wird, ist es nicht erforderlich, den Einwand als generell unbeachtlich einzuordnen. Wie sogleich näher zu zeigen ist, kann dem Gedanken, dass der 31 Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. (2016), Rn. 265, 185 ff.; Spindler Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. (2019) § 111 Rn. 72. 32 Vgl. Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 249 Rn. 105; auch der BGH verweist in seiner Schloss-Eller-Entscheidung darauf, dass durch einen generellen Ausschluss des Einwands einer hypothetisch erteilten Zustimmung „ein in § 93 Abs. (2) AktG nicht angelegter Strafschadensersatz“ konstruiert würde, vgl. BGH vom 10.7.2018 NZG 2018, 1189, 1193 (Rn. 44). 33 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1193 (Rn. 44). 34 Vgl. OLG Stuttgart vom 28.5.2013, BeckRS 2013, 12075; ebenso Spindler Münchner Kommentar AktG, 5. Aufl. (2019), § 84 Rn. 134; siehe zudem Fleischer DB 2018, 2619, 2623, der darüber hinaus auf die Möglichkeit verweist, dass sich der Aufsichtsrat bei Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts durch einen Vorstand auch mit der allgemeinen Feststellungsklage zur Wehr setzen könne.

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mit Zustimmungsvorbehalten verfolgte Schutzzweck nicht unterlaufen werden darf, auch dadurch Rechnung getragen werden, dass die Voraussetzungen für die Erheblichkeit dieses Einwands entsprechend festgelegt werden.

3. Modifikation der Zurechnungsregeln anhand des Schutzzwecks von Zustimmungsvorbehalten Bei der Festlegung der Voraussetzungen der Erheblichkeit des Einwands einer hypothetisch erteilten Zustimmung können die Grundsätze der Rechtsprechung zur Kausalitätsprüfung in Unterlassensfällen – nach denen der Geschädigte nachzuweisen hat, dass der Schaden bei Vornahme der gebotenen Handlung vermieden worden wäre – nicht ignoriert werden, sondern müssen Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen sein. Bereits oben wurde allerdings gezeigt, dass die Hürden für eine mit dem Schutzzweckgedanken begründete Abweichung von diesem Grundsatz schon mit Blick darauf nicht allzu hoch sind, dass über die Zurechnung ohnehin nicht ohne Vornahme einer Wertung entschieden werden kann, die sich ihrerseits am Schutzzweck der verletzten Norm zu orientieren hat. Unterstrichen wird dieser Befund durch eine weitere Überlegung: Der Sache nach könnten Zustimmungsvorbehalte nämlich auch als Gebot an den Geschäftsleiter eingeordnet werden, ein zustimmungspflichtiges Geschäft nicht ohne vorherige Befassung des Zustimmungsorgans abzuschließen. Wollte man nun in die Conditio-sine-qua-non-Formel nicht mehr die unterbliebene Einholung der Zustimmung (Unterlassen), sondern die Verletzung dieses Gebots durch Abschluss des Geschäfts ohne Einholung einer vorherigen Zustimmung (positives Tun) als pflichtwidrige Handlung einsetzen, wäre diese Verletzung als kausal für den aus dem verbotswidrig abgeschlossenen Geschäft resultierenden Schaden einzuordnen. Denn ohne Verletzung des Gebots (kein Geschäftsabschluss ohne vorherige Zustimmung des zu befragenden Gremiums) wäre es zum Abschluss des Geschäfts und dem hieraus im Ergebnis erwachsenen Vermögensnachteil nicht gekommen. Bei strenger Anwendung der Kausalitätsregeln wäre diese Betrachtung wohl deshalb nicht richtig, weil sie mehrere Teilaspekte/ Schritte zugleich und damit ein zu „großes Stück“ aus der Kausalkette „herausschneiden“ würde. Besteht die Pflichtverletzung des Geschäftsleiters allein darin, die erforderliche Zustimmung nicht eingeholt zu haben, und ist der Geschäftsabschluss im Übrigen nicht zu beanstanden, darf wohl auch nur diese unterbliebene Handlung (fehlende Einholung der Zustimmung) aus der Kausalkette „hinweggedacht“ werden. Diese Überlegung zeigt aber, dass die Zurechnungsfrage nicht von einer schematischen Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel abhängen kann, sondern sich die Regeln für

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die Schadenszurechnung aus dem mit Zustimmungsvorbehalten verfolgten Schutzzweck ergeben.35 Wie erwähnt, sind Zustimmungsvorbehalte ein zentrales Instrument für die Überwachung der Geschäftsleitung. Die Kontroll- und Mitwirkungsrechte des Gremiums, zu dessen Gunsten sie eingerichtet sind, sollen durch sie so weit wie möglich gesichert werden. Daher erscheint es sachgerecht, Zustimmungsvorbehalte wertungsmäßig als Gebote an den Geschäftsleiter einzuordnen, Geschäfte nicht ohne Einholung der erforderlichen Zustimmung abzuschließen. Solange sich die Zustimmungsschranke nicht geöffnet hat, soll der Geschäftsleiter zum Abschluss des zustimmungsbedürftigen Geschäfts nicht berechtigt sein. Missachtet er dieses Gebot, erscheint es angemessen, ihm denjenigen Schaden zuzurechnen, der aus dem ohne die erforderliche Zustimmung abgeschlossenen Geschäft entsteht. Das Risiko, dass das von ihm pflichtwidrig abgeschlossene Geschäft zu einem Vermögensnachteil der Gesellschaft führt, soll also im Ausgangspunkt der Geschäftsleiter tragen. Eine Schadenszurechnung scheidet aber aus, wenn der Schaden auch ohne Verstoß gegen das Gebot eingetreten wäre, ein Geschäft nicht ohne vorherige Einholung der hierfür erforderlichen Zustimmung abzuschließen. Der Geschäftsleiter kann sich durch den Nachweis entlasten, dass das entsprechende Gremium die erforderliche Zustimmung erteilt hätte. 4. Anforderungen an den Nachweis einer hypothetisch erteilten Zustimmung Für den Nachweis einer hypothetisch erteilten Zustimmung soll es nach dem Schloss-Eller-Urteil des BGH erforderlich sein, dass vom Geschäftsleiter der „sichere Nachweis“ erbracht wird, „dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre“.36 Die bloße Möglichkeit oder auch Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre, soll hingegen nicht genügen.37 Richtig erscheint es, dem Geschäftsleiter den Vollbeweis dafür aufzuerlegen, dass die erforderliche Zustimmung bei entsprechender Gremienbefassung erteilt worden wäre. Hinsichtlich des Beweismaßes für die Erbringung dieses Vollbeweises sind dann allerdings diejenigen Regeln anzuwenden, die auch sonst gelten (Grundsatz der freien Beweiswürdigung von § 286 ZPO; 35 Vgl. Schiemann Staudinger BGB (Neubearbeitung 2017), § 249 Rn. 27 ff.; Teichmann Jauernig BGB, 17. Aufl. (2017), Vor §§ 249–254 Rn. 48; Kuckuk Erman BGB, 11. Aufl. (2004), Vor §§ 249–253 Rn. 36 ff. 36 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1193 (Rn. 44). 37 Einen sicheren Nachweis verlangen auch Schnorbus Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 6. Aufl. (2017) § 43 Rn. 72; Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2117; Grobecker/Wagner ZIP 2019, 694, 696; anders wohl Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555, 3557.

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volle Überzeugung des Richters).38 Nach der vom BGH in ständiger Rechtsprechung verwendeten Formel ist danach gerade keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und ausdrücklich auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich, sondern nur „ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet ohne sie völlig auszuschließen“.39 Als Indiz für das hypothetische Abstimmungsverhalten kommt die bisherige Entscheidungspraxis des übergangenen Zustimmungsorgans in Betracht. So wäre etwa der Einwand, das Aufsichtsgremium habe bisher zu allen ihm vorgelegten Geschäften seine Zustimmung erteilt – oder dies nur in ganz wenigen Fällen nicht getan, die anders als der Verstoß-Fall gelagert seien – durchaus als Indiz zu berücksichtigen, sofern er sachlich zutrifft. Allgemein dürfte die Indizwirkung umso stärker sein, je eher der in Rede stehende Verstoß-Fall mit den dem Gremium vorgelegten Fällen vergleichbar ist, in denen das Aufsichtsgremium seine Zustimmung erteilt hat. Als weitere Nachweismöglichkeit kommen auch Zeugenaussagen der Mitglieder des übergangenen Zustimmungsgremiums zu ihrem hypothetischen Stimmverhalten in Betracht. Dabei mag deren Aussageverhalten dadurch beeinflusst werden, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Aussage den negativen Ausgang des zustimmungsbedürftigen Geschäfts bereits kennen, und einem Rückschaufehler (hindsight bias) unterliegen könnten, wenn sie angeben, sie hätten dem Geschäft nicht zugestimmt. Dies macht die Gremiumsmitglieder aber entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht nicht zu untauglichen Beweismitteln,40 sondern ist lediglich ein im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu berücksichtigender Umstand. Der Vorschlag der Vertreter dieser Ansicht, statt einer Befragung der Gremiumsmitglieder zu ihrem Abstimmungsverhalten darauf abzustellen, wie ein „verantwortungsvoll handelndes“ Aufsichtsgremium entschieden hätte,41 erscheint nicht zielführend. Dafür spricht schon, dass als Ergebnis eines „verantwortungsvollen Handelns“ in den meisten Fällen sowohl eine Zustimmungserteilung als auch eine Zustimmungsverweigerung in Betracht 38 ausführlich zu den grundsätzlichen Anforderungen an das Beweismaß Ahrens Wieczorek/Schütze ZPO, 4. Aufl. (2013), § 286 Rn. 34 f.; Leipold Stein/Jonas, ZPO 22. Aufl. (2008), § 286 Rn. 5 ff. 39 Vgl. BGH vom 28.1.2003, NJW 2003, 1116, 1117; BGH vom 9.5.1989, NJW 1989, 2948, 2949; Wilsing/von der Linden NZG 2018, 1416, 1417 gehen davon aus, dass der BGH hiervon in seinem Schloss-Eller-Urteil trotz Verwendung des Begriffs „sicherer Nachweis“ gar nicht abweichen wollte. 40 So aber OLG Oldenburg vom 22.6.2006, NZG 2007, 434, 438 und Böttcher NZG 2007, 481, 485 mit dem Argument, dass die damalige Entscheidungssituation für die Aufsichtsratsmitglieder bei dem nunmehr vorhandenen Wissensstand nicht mehr rekonstruierbar sei. 41 OLG Oldenburg vom 22.6.2006, NZG 2007, 434, 438; Böttcher NZG 2007, 481, 485; ebenso Fleischer Münchener Kommentar GmbHG, 3. Aufl. (2019) § 43 Rn. 266.

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kommt. Wie oben gezeigt, steht dem Aufsichtsgremium bei der Entscheidung über die Zustimmungserteilung unternehmerisches Ermessen zu. Danach sind die Gremiumsmitglieder zwar verpflichtet, sich angemessen zu informieren und bei ihrer Entscheidung nicht von Sonderinteressen leiten zu lassen, ein bestimmtes Entscheidungsergebnis ist damit aber in aller Regel nicht vorgegeben.42 Nicht ganz einleuchtend wäre zudem, weswegen der Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung nicht durchgreifen soll, wenn feststeht, dass die Zustimmung erteilt worden wäre, diese Entscheidung (zwar vom unternehmerischen Ermessen gedeckt) aber als nicht „verantwortungsvoll“ im Sinne dieser Auffassung zu qualifizieren wäre. Dass dem Zustimmungsgremium bei seiner Entscheidung Ermessen zusteht, macht zugleich deutlich, dass es dem Geschäftsleiter häufig sehr schwer fallen wird, eine hypothetisch erteilte Zustimmung nachzuweisen.

IV. Besondere Grenzen des Einwands einer hypothetisch erteilten Zustimmung? Zum Abschluss dieses Beitrags soll noch kurz auf zwei „äußere Grenzen“ eingegangen werden, die der BGH im Hinblick auf den Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung in seinem Schloss-Eller-Urteil erkannt haben will. Eine erste Grenze – die aber nicht die Möglichkeit des Geschäftsleiters begrenzt, sich auf den Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung zu berufen, sondern im Gegenteil die Möglichkeit der Gesellschaft einschränkt, sich gegen diesen Einwand zu wehren – sieht der BGH dann erreicht, wenn die Aufsichtsratsmitglieder bei pflichtgemäßem Verhalten aus damaliger Sicht in das vom Vorstand zur Zustimmung vorgelegte Geschäft hätten einwilligen müssen.43 Dies erscheint zutreffend, wird aber – wie soeben dargestellt und auch vom BGH betont – wegen des dem Aufsichtsrat zustehenden unternehmerischen Ermessens kaum je der Fall sein. Eine zweite Grenze – die nun für den Geschäftsleiter gilt – sieht der BGH dann erreicht, wenn die Aufsichtsratsmitglieder ihre Zustimmung zu dem vorgelegten Geschäft hätten versagen müssen, weil die Einwilligung des Aufsichtsrats ex ante betrachtet pflichtwidrig gewesen wäre.44 In diesem Fall 42 Die rechtliche Kontrolle unternehmerischer Entscheidungen nach den Vorgaben von § 93 Abs. (1) Satz 2 AktG besteht im Wesentlichen in einer Überprüfung des Entscheidungsverfahrens, während eine Inhaltskontrolle nur sehr beschränkt stattfindet; ausführlich Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. (2016), Rn. 245 ff.; Holle AG 2011, 778, 785; Henzler Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. (2013), AVBAVG 2011/2013 Anh. Ziff. 1, Rn. 19 ff. 43 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1194 (Rn. 51). 44 BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1194 (Rn. 51 f.).

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wird der Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung in der Tat unbeachtlich sein. Dies folgt aber nicht aus einer für den Einwand einer hypothetisch erteilten Zustimmung spezifisch zu etablierenden Grenze. Wie der BGH selbst zutreffend ausführt, ist ein Verbot der Zustimmungserteilung wohl nur in solchen Fällen denkbar, bei denen die entsprechende Geschäftsführungsmaßnahme rechtswidrig wäre,45 z.B. weil sie gegen gesetzliche Vorgaben verstößt oder keine hinreichende, auf angemessener Information beruhende Entscheidungsgrundlage geschaffen wurde. Dann aber leidet die Geschäftsführungsmaßnahme (neben der nicht erteilten Zustimmung) an einem weiteren Mangel, der auch im Falle einer hypothetisch erteilten Zustimmung fortwirken würde und als „Zurechnungsbrücke“ zu dem aus der Geschäftsführungsmaßnahme resultierenden Schaden in jedem Fall erhalten bliebe. Eine rechtswidrige Geschäftsführungsmaßnahme kann in der Aktiengesellschaft weder durch eine hypothetische noch durch eine tatsächlich erteilte Zustimmung des Aufsichtsrats geheilt werden.46

V. Fazit Die Schloss-Eller-Entscheidung erscheint – abgesehen davon, dass die für den vom Geschäftsleiter zu erbringenden Nachweis einer hypothetisch erteilten Zustimmung formulierten Hürden etwas zu hoch angesetzt werden – im Ergebnis überzeugend. Anders als der BGH dort meint, ergeben sich diese Zurechnungsregeln aber nicht aus einer Anwendung der allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätze, sondern weichen von den durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen über den Nachweis eines hypothetischen Kausalverlaufs in Unterlassensfällen erheblich ab. Bei deren Anwendung ergäbe sich nämlich, dass die Darlegungs- und Beweislast für den hypothetischen Kausalverlauf bei der geschädigten Gesellschaft und nicht beim Geschäftsleiter liegt. Die tatsächlich maßgeblichen Zurechnungsregeln, wie sie auch vom BGH in seiner Schloss-Eller-Entscheidung formuliert 45

BGH vom 10.7.2018, NZG 2018, 1189, 1194 (Rn. 52). In der GmbH ist die Situation zwar insoweit anders, als dort die Zustimmung der Gesellschafterversammlung zu einer rechtswidrigen Geschäftsführungsmaßnahme die Haftung des Geschäftsführers beseitigen kann. Für eine Enthaftung ist jedoch richtigerweise jedenfalls irgendeine – auch konkludent mögliche – Erklärung gegenüber dem Geschäftsführer erforderlich, während es nicht genügt, dass diese Erklärung lediglich hätte abgegeben werden können. Auch in der GmbH kann eine hypothetisch erteilte Zustimmung somit im Ergebnis nur dann haftungsbefreiend wirken, wenn die Pflichtwidrigkeit der schadenstiftenden Geschäftsführungsmaßnahme allein in der nicht eingeholten Zustimmung lag und diese im Übrigen pflichtgemäß war; vgl. zur Enthaftung durch (stillschweigendes) Einverständnis der Gesellschafterversammlung Paefgen Großkommentar GmbHG, 2. Aufl. (2013), § 43 Rn. 218; Henzler Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. (2013), AVB-AVG 2011/2013 Anh. Ziff. 1, Rn. 47 f. 46

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werden, ergeben sich richtigerweise aus einer am Schutzzweck von Zustimmungsvorbehalten orientierten Modifikation der sonst für Unterlassensfälle geltenden Grundsätze.

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Privatstiftungen und Schiedsverfahren in Österreich

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Privatstiftungen und Schiedsverfahren in Österreich Günther Horvath, Désirée Prantl und Brian S. Oiwoh

Privatstiftungen und Schiedsverfahren in Österreich GÜNTHER HORVATH, DÉSIRÉE PRANTL UND BRIAN S. OIWOH

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite der Schiedsklausel in Stiftungen und Mehrparteienverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verbraucherschutz in Schiedsverfahren mit Privatstiftungen und Begünstigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vorschlag einer Schiedsklausel in Stiftungserklärungen . . . .

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I. Einführung Stiftungen werden aus unterschiedlichen Beweggründen errichtet. Neben steuerrechtlichen Überlegungen sprechen vor allem Vermögenserhaltung und -bündelung für die Gründung einer Stiftung. In Österreich ist die Familienstiftung beliebt, um eine auf Grund der Erbfolge drohende Zersplitterung und Teilung von Familienunternehmen zu verhindern. In Familienstiftungen beziehen die Beteiligten oft ihren Lebensunterhalt von der Stiftung und sind fortwährend aneinander gebunden.1 Solche Stiftungen sind daher für Konflikte besonders anfällig.2 Bei der Wahl des Streitbeilegungsmechanismus sollte auf die langfristige Erhaltung der Beziehungen in der Stiftung besonders geachtet werden.3 Vor diesem Hintergrund bietet der weniger konfrontative Charakter der Schiedsgerichtsbarkeit für Privatstiftungen eine Alternative zur staatlichen Gerichtsbarkeit. Der im Rahmen eines vertraulichen – iSv. nicht öffentlichen – Schiedsverfahrens gefällte Schiedsspruch kann wie ein gerichtliches Urteil vollstreckt werden.4 Die Zulässigkeit von Schiedsklauseln in Stiftungserklärungen ist weitgehend anerkannt.5 Von der Zulässigkeit zu unterscheiden, ist die Reich1

Horvath ZUS 2012, 68, 70. Kodek PSR 2013, 152. 3 Horvath ZUS 2012, 70. 4 Vgl. Nueber in Nueber/Gass Konfliktlösung in Privatstiftungen, 2019, Rz. 291; auch Horvath ZUS 2012, 70 und Kodek PSR 2013, 153. 5 Nueber in Nueber/Gass Konfliktlösung in Privatstiftungen, 2019, Rz. 293 mwN. 2

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weite von Schiedsklauseln in Stiftungserklärungen.6 Hier können sich vor allem Fragen hinsichtlich des erfassten Personenkreises ergeben, die wiederum zu Problemen betreffend die damit in Zusammenhang stehende Mehrparteienschiedsgerichtsbarkeit führen können (dazu unter II.). Zudem sind bei einer Schiedsklauseln bzw. Schiedsvereinbarung hinsichtlich stiftungsrechtlicher Streitigkeiten ggf. verbraucherschutzrechtliche Wirksamkeitserfordernisse zu beachten (dazu unter III.). Um die im Beitrag angesprochenen Probleme und Risiken einer letztlich ungültigen Schiedsklausel zu vermeiden, wird abschließend eine mögliche Schiedsklausel vorgestellt (dazu unter IV.).

II. Reichweite der Schiedsklausel in Stiftungen und Mehrparteienverfahren Im Allgemeinen ergibt sich innerhalb einer Privatstiftung eine Vielzahl an Rechtsbeziehungen, die allesamt ein gewisses Konfliktpotential mit sich bringen. So können beispielsweise Streitigkeiten unter Beteiligung der Stiftungsbegünstigten und der Privatstiftung entstehen, vor allem im Zusammenhang mit Zuwendungen der Privatstiftung an die Stiftungsbegünstigten.7 Auch Auskunfts- und Informationsrechte gegenüber der Privatstiftung können sensible Streitpunkte darstellen.8 Ferner sind Stifter vor allfälligen die Privatstiftung betreffenden Streitigkeiten nicht gefeit. Im Einzelfall kann es beispielsweise zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich wechselseitiger Rücksichts- und Treuepflichten der Stifter untereinander kommen.9 Schließlich können auch die Stiftungsorgane bzw. deren Mitglieder in Streitigkeiten involviert sein. So bestehen etwa in Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit der pflichtgemäßen Erfüllung der übertragenen Aufgaben oder der Vergütung potentielle Konfliktherde.10 Der Vertragserrichter hat regelmäßig das Interesse, möglichst alle Streitigkeiten zwischen potentiellen Betroffenen dem gewählten Streitbeilegungsmechanismus zu unterwerfen. Wenn über Streitigkeiten im Zuge eines Schiedsverfahrens entschieden werden soll, stellt der Abschluss einer gültigen Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien eine Grundvoraussetzung 6

Kodek PSR 2013, 155. Arnold PSG3 § 40 Rz. 7; Bruckner/Fries/Fries Familienstiftung, 2010, S. 56 f.; Briem in Gassner/Göth/Gröhs/Lang Privatstiftungen, 2000, S. 90; Größ in Doralt/Kalss Aktuelle Fragen des Privatstiftungsrechts, 2001, S. 233. 8 Horvath ZUS 2012, 68; vgl. zuletzt OGH 16.6.2011, 6 Ob 82/11v, PSR 2011, 117 (Hoffmann). 9 Arnold PSG3 § 40 Rz. 7; vgl. auch OGH, 9.3.2006, 6 Ob 166/05p, JBl 2006, 521 (Torggler). 10 Horvath ZUS 2012, 69. 7

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dar.11 Für Angelegenheiten, die das innere Stiftungsverhältnis betreffen, wird in der Praxis die Schiedsvereinbarung regelmäßig in Form einer Schiedsklausel in der Stiftungserklärung selbst oder einem separaten Schiedsvertrag abgeschlossen.12 Allerdings wirft die im Vergleich zu den Körperschaften besondere Struktur der Privatstiftung einige Probleme hinsichtlich der Reichweite der Schiedsvereinbarung auf.13 Denn der Privatstiftung mangelt es an personaler Struktur. Sie ist eine Sondervermögensmasse, die weder Eigentümer noch Mitglieder hat. Dieser Umstand erschwert es, jenen Personenkreis festzulegen, der von einer Schiedsklausel erfasst sein kann. Die im Zusammenhang mit gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten entwickelten Grundsätze sind nicht ohne Weiteres auf das Stiftungsrecht übertragbar.14 Die Reichweite der Schiedsklalusel möglichst umfassend zu gestalten, stellt in der Praxis somit regelmäßig eine große Herausforderung dar. Gestaltungsspielraum kommt dabei primär dem Stifter zu.15 Freilich liegt die Reichweite der Schiedsklausel aber nicht gänzlich in der freien Disposition des Stifters. Dazu sei erwähnt, dass im streitigen Verfahren zu entscheidende Angelegenheiten jedenfalls schiedsfähig und Außerstreitangelegenheiten differenzierend schiedsfähig sind. Der Maßstab für die nach § 582 Abs. 1 ZPO zu beurteilende objektive Schiedsfähigkeit bildet die vermögensrechtliche bzw. vergleichsfähige Natur der einzelnen Streitigkeiten.16 Die wohl überwiegenden stiftungsrechtlichen Streitigkeiten, wie etwa Leistungsklagen der Begünstigten gegen die Privatstiftung, sind vermögensrechtlicher Natur und damit schiedsfähig.17 Für gewisse Angelegenheiten besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse, das der Schiedsfähigkeit entgegensteht, so etwa Firmenbuchverfahren ieS.18 Vor diesem Hintergrund steckt der Stifter mit der Schiedsklausel lediglich den äußersten möglichen Rahmen dafür ab,

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Horvath ZUS 2012, 71. Horvath ZUS 2012, 71. 13 Cerha/Eiselsberg/Kirschner/Knirsch Privatstiftungsgesetz, ecolex spezial 1993, 15; Horvath in Eiselsberg Jahrbuch Stiftungsrecht, 2008, S. 129; Hausmaninger in Fasching/ Konecny3 IV/2 § 582 ZPO Rz. 46/2. 14 Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 ZPO Rz. 46/2. 15 Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger Schiedsverfahrensrecht I, 2011, Rz. 3/ 38. 16 Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 ZPO Rz. 46/2. 17 Beispiele für nicht-schiedsfähige Streitigkeiten sind nach wohl hA etwa Firmenbucheintragungen, siehe Kodek PSR 2013, 160 ff. mwN; Kalss in Kalss/Nowotny/Schauer Österreichisches Gesellschaftsrecht2, 2017, Rz. 7/48. Auch die Abberufung von Organen im Anwendungsfall des § 27 Abs. 2 PSG kann einem Schiedsgericht nach hM unter keinen Umständen übertragen werden, siehe Arnold PSG3 § 40 Rz. 4; Kodek PSR 2013, 162 mwN. 18 Kodek PSR 2013, 155; auch Horvath ZUS 2012, 70. 12

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schiedsfähige Streitigkeiten in den festgelegten Rechtsbeziehungen der Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen.19 In der Literatur wird für eine möglichst umfassende Schiedsklausel dieser bzw. ein ähnlicher Wortlaut empfohlen: Alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Stiftung sind unter Ausschluss der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch ein aus drei Schiedsrichtern gebildetes Schiedsgericht abschließend zu entscheiden. Der Sitz des Schiedsgerichts ist am Sitz der Stiftung. Der Zuständigkeit dieses Schiedsgerichts unterliegen insbesondere auch Streitigkeiten zwischen Mitgliedern von Stiftungsorganen und diesem Organ, mit anderen Organen oder mit der Stiftung selbst. Darüber hinaus ist dieses Schiedsgericht auch für Streitigkeiten zwischen der Stiftung, deren Organen, den Stiftern und den Begünstigten zuständig. Zuwendungen durch die Stiftung sind daher mit der Unterwerfung unter diese Schiedsklausel bedingt.20

Alternativ lässt auch folgender Wortlaut eine möglichst große Reichweite der Schiedsklausel erkennen: Soweit gesetzlich zulässig, werden alle Streitigkeiten der Stifter, der Begünstigten, der Stiftungsorgane, der Stiftungsorganmitglieder und der Privatstiftung, welche die Stiftungszusatzurkunde, die Stiftungsurkunde, das Stiftungsverhältnis oder die Privatstiftung betreffen, unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs nach der Schiedsordnung […] endgültig entschieden.

Allerdings ist strittig, ob selbst eine weitgefasste Schiedsklausel in der Stiftungserklärung genügt, um eine Bindung der genannten Beteiligten zu erreichen. Weitgehend unbestritten ist, dass die Privatstiftung selbst durch die Schiedsklausel gebunden ist. Denn ihre Existenz ist auf den Willen der Stifter zurückzuführen. Sie kann sich somit der Bindung an eine Schiedsklausel nicht verwehren, sofern dies dem Stifterwillen entspricht.21 Ob eine einseitige Schiedsklausel für die Bindung der Stiftungsbegünstigten ausreicht, ist in der Literatur hingegen strittig. Diese Frage hat insbesondere dann praktische Bedeutung, wenn die Stiftungserklärung selbst schon dem Stiftungsbegünstigten einen klagbaren Anspruch zubilligt.22

19 Kodek PSR 2013, 155; vgl. OGH 22.5.1986, 7 Ob 544/86, RdW 1986, 273; OGH 29.8.2002, 6 Ob 155/02s, wbl 2003, 92. 20 Nueber in Nueber/Gass Konfliktlösung in Privatstiftungen, 2019, Rz. 349 (Hervorhebung hinzugefügt). 21 Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger Schiedsverfahrensrecht I, 2011, Rz. 3/ 358; siehe zur deutschen Rechtslage Beckmann Statutarische Schiedsklauseln, S. 96, Fn. 457; Stumpf, SchiedsVZ 2009, 268. 22 Vgl. Stumpf SchiedsVZ 2009, 268.

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Die hA.23 bejaht in diesem Fall die Bindung des Stiftungsbegünstigten, ohne dass es eines weiteren Aktes, etwa einer gesonderten Unterwerfungserklärung, bedarf. Als Grundlage wird der Vertrag zugunsten Dritter herangezogen. Der Stiftungsbegünstigte habe demnach die Rechtsstellung so anzunehmen, wie sie sich mit all ihren Eigenschaften ergibt. Dabei seien das eingeräumte Recht und das Verfahren zur Geltendmachung dieses Rechts nicht teilbar. So könne der Begünstigte nicht einfach die Zuwendungen annehmen, aber die Schiedsklausel ausschlagen. Ein Teil der Literatur24 erachtet eine einseitige Schiedsklausel zur Bindung von Stiftungsbegünstigten jedoch als nicht ausreichend. Da es sich bei einer Schiedsvereinbarung um einen zweiseitigen Vertrag handle, müsse ein Stiftungsbegünstigter zustimmen. Um sich in Hinblick auf zukünftige Streitigkeiten der Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen, bedürfe es daher in der Praxis einer schriftlichen Unterwerfungserklärung. Aus kautelarjuristischer Sicht ist jedenfalls die Einholung einer schriftlichen Unterwerfungserklärung von den Stiftungsbegünstigten zu empfehlen. Dies minimiert das Risiko einer potentiellen Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung aus verbraucherschutzrechtlichen Gesichtspunkten. Denn durch eine gesonderte Unterwerfungserklärung kann insbesondere den Vorgaben nach § 617 Abs. 2 ZPO entsprochen werden, sofern die Stiftungsbegünstigten im Einzelfall als Verbraucher zu qualifizieren sind (vgl. dazu III.). Nach ganz einhelliger Auffassung ist auch für die Bindungswirkung der Stiftungsorganmitglieder an die Schiedsklausel eine gesonderte Unterwerfungserklärung notwendig.25 Gerade im Zusammenhang mit Schadenersatzansprüchen gegen Organmitglieder erstreckt sich die Bindungswirkung der Schiedsklausel in einer Stiftungserklärung nicht auf diese, da es sich sonst um eine unzulässige Vereinbarung zu Lasten Dritter handeln würde.26 23 Arnold PSG3 § 40 Rz. 4; Briem in Gassner/Göth/Gröhs/Lang Privatstiftungen, 2000, S. 90; Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 581 ZPO Rz. 301 und § 582 Rz. 46/2; Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger Schiedsverfahrensrecht I, 2011, Rz. 3/358; Kodek in FS Jud, S. 351 ff.; Kodek PSR 2013, 155; Reiner GesRZ 2007, 159, Fn. 72. 24 Horvath in Eiselsberg Jahrbuch Stiftungsrecht, 2008, S. 331; Horvath ZUS 2012, 71. 25 Kodek PSR 2013, 159; Reiner GesRZ 2007, 153; Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 Rz. 46/2; Arnold PSG3 § 40 Rz. 4; Nowotny in Gassner/Göth/Gröhs/Lang Privatstiftungen, 2000, S. 154; differenzierend Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger, Schiedsverfahrensrecht I, 2011, Rz. 3/358. 26 Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 Rz. 46/2; Arnold PSG3 § 40 Rz. 4; Nowotny in Gassner/Göth/Gröhs/Lang Privatstiftungen 2000, S. 154; differenzierend etwa Koller in Liebscher/Oberhammer/Rechberger Schiedsverfahrensrecht I, 2011, Rz. 3/ 358, der in Zusammenhang mit Schadenersatzansprüchen Begünstigter gegen Organmitglieder sowie Streitigkeiten zwischen einzelnen Organen einer Privatstiftung vorschlägt, die Bindung der Organmitglieder bereits aus ihrer Organstellung ableiten zu lassen.

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In der Praxis führt eine große personelle Reichweite der Schiedsklausel häufig zu Mehrparteienschiedsverfahren, insbesondere in Zusammenhang mit Beschlussmängelstreitigkeiten. Bei solchen Streitigkeiten sind wichtige, von der Rechtsprechung entwickelte Grundsätze zu beachten. Im gesellschaftsrechtlichen Kontext müssen bei Beschlussmängelstreitigkeiten nach hA die von der Rechtskrafterstreckung betroffenen Personen, bei sonstiger fehlender Schiedsfähigkeit, an der Schiedsvereinbarung beteiligt sein. Dies ist der Fall, wenn die Schiedsklausel in der Satzung der Gesellschaft enthalten ist.27 Die gesellschaftsrechtliche Rechtslage kann nicht undifferenziert auf das Stiftungsrecht übertragen werden, da das Stiftungsrecht einerseits keine gesetzlich normierte Anfechtungsklage und andererseits keine gesetzlich angeordnete bzw. analog anzuwendende Rechtskrafterstreckung iSd § 42 Abs. 6 GmbHG kennt. Fehlerhafte Beschlüsse von Stiftungsorganen können vielmehr nur über eine Feststellungsklage gemäß § 879 ABGB bekämpft werden, und zwar von jedermann ohne zeitliche Begrenzung.28 Dennoch können die für gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten aufgestellten Grundsätze auch im Stiftungsrecht relevant sein, und zwar insbesondere bei Streitigkeiten in denen der Bestand eines Beschlusses die Hauptfrage bildet. Klagen auf Feststellung der Unwirksamkeit von Beschlüssen bilden den typischen Hauptanwendungsfall.29 Die zu Personengesellschaften entwickelte Rechtsprechung verlangt in diesem Zusammenhang die Beteiligung sämtlicher Gesellschafter am Verfahren, bei sonstigem Fehlen eines rechtlichen Interesses.30 Dies wird damit begründet, dass alle Gesellschafter ein Interesse an einheitlicher Klärung der Wirksamkeit des Beschlusses haben.31 Auf das Stiftungsrecht übertragen, müssen somit bei Beschlussmängelstreitigkeiten grundsätzlich alle vom jeweiligen Beschluss betroffenen Parteien auch Partei derselben Schiedsvereinbarung und am Schiedsverfahren beteiligt sein und ggf. an der Bestellung der Schiedsrichter mitwirken können.32 Wird diesen Vorgaben nicht entsprochen, besteht das Risiko einer unzulässigen Klage bzw. einer fehlenden umfassenden Bindungswirkung eines allfälligen erlassenen Schiedsspruchs. Folgendes Beispiel dient zur Veranschaulichung dieser Problematik: Nach Ableben eines Vollbegünstigten werden dessen Kinder durch den hierzu ermächtigten Stiftungsvorstand als Begünstigte mit gleichen Begünstigtenanteilen festgestellt. Einer der Begünstigten ist der Meinung, die Feststellung 27 OGH 10.12.1998, 7 Ob 221/98w, RdW 1999, 206; Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 ZPO Rz. 41. 28 Kodek PSR 2013, 157. 29 Arnold PSG3 § 40 Rz. 7. 30 OGH 26.3.2009, 6 Ob 258/08x = GesRZ 2009, 288 (Schörghofer). 31 Kodek PSR 2013, 158. 32 Kodek PSR 2013, 158.

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eines anderen Begünstigten sei unrechtmäßig. Er erhebt Schiedsklage gegen die Privatstiftung und begehrt die Feststellung der Nichtigkeit des Stiftungsvorstandsbeschlusses zur Begünstigtenfeststellung.

Mangels Einbindung aller betroffenen Begünstigten in das Verfahren ergibt sich als Konsequenz im Ausgangsfall, dass die Schiedsklage vom Schiedsgericht mangels Vorliegen eines rechtlichen Interesses zurückzuweisen wäre. Selbst bei Erlassung eines Schiedsspruchs durch das Schiedsgericht würde es dem Schiedsspruch an hinreichender materieller Rechtskraft bzw. Bindungswirkung gegenüber den am Verfahren nicht beteiligten Begünstigten mangeln. Vor dem Hintergrund dieser mit gesellschaftsrechtlichen Mehrparteienverfahren einhergehenden Risiken hat die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) spezielle „Ergänzende Regeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten“ (DIS-ERGeS) erstellt. Diese sollen mit detaillierten Regelungen die Einbeziehung der Betroffenen in das Schiedsverfahren, sowie die Bestellung der Schiedsrichter, die Vermeidung von Parallelverfahren und die Wirkungserstreckung des Schiedsspruchs sicherstellen.33 Im Allgemeinen verlangt die österreichische Rechtsprechung keineswegs, dass eine Schiedsklausel zusätzlich zur bloßen Beteiligungsmöglichkeit der Betroffenen bzw. der Vertragspartner auch für alle denkbaren Streitigkeiten im Einzelnen bestimmen muss, welche Personen dem Verfahren beizuziehen sind.34 Ein Verweis auf detaillierte Regelungen wie in den DIS-ERGeS oder eine individuell verfasste Schiedsklausel ist daher für deren Wirksamkeit nicht notwendig, jedoch dringend zu empfehlen, um das Risiko unwirksamer Schiedssprüche weitestgehend zu minimieren. Eine beispielhafte Schiedsklausel, die den Problematiken des Mehrparteienverfahrens Rechnung trägt und mit möglichst großer Reichweite innerhalb der Privatstiftung gestaltet ist, wird am Ende dieses Beitrages dargestellt (vgl. dazu IV.).

III. Verbraucherschutz in Schiedsverfahren mit Privatstiftungen und Begünstigten In stiftungsrechtlichen Streitigkeiten sind uU. die in Österreich für Schiedsverfahren mit Verbrauchern geltenden gesetzlichen Schutzbestimmungen zu berücksichtigen. Der mit dem ZivRäg 2004 eingeführte § 6 Abs. 2 Z 7 KSchG bestimmt, dass mit Verbrauchern abgeschlossene Schiedsvereinbarungen nur wirksam 33

Reiner in FS Doralt, S. 102. OGH 22.10.2010, 7 Ob 103/10p, ecolex 2011, 135; vgl. auch Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 582 ZPO Rz. 41; Hausmaninger/Thun-Hohenstein ecolex 2011, 625 ff. 34

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sind, wenn diese im Einzelnen ausgehandelt wurden. Die Beweislast trifft den Unternehmer. Diese Bestimmung zielt darauf ab, bei der Unterwerfung unter eine Schiedsklausel absolute Freiwilligkeit sicherzustellen.35 Der dieser Bestimmung zugrundeliegende Verbraucherbegriff erfasst nach der Entscheidung des OGH in 6 Ob 240/11d36 zur RL 93/13/EWG nur natürliche Personen.37 Somit ist die Privastiftung selbst als juristische Person im Sinne einer richtlinienkonformen Interpretation der Bestimmung nicht als Verbraucherin zu qualifizieren. Diese Beurteilung lässt sich nicht auf § 617 ZPO, eine mit dem SchiedsRÄG 2006 geschaffene Schutzbestimmungen für Verbraucher bei Schiedsverfahren mit Sitz in Österreich, übertragen. Nach § 617 Abs. 1 ZPO kann eine Schiedsvereinbarung zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher nur für bereits entstandene Streitigkeiten wirksam abgeschlossen werden.38 Zudem verlangt § 617 Abs. 2 ZPO als besondere Formvorschrift eine eigenhändig unterzeichnete Schiedsvereinbarung in einem separaten Dokument, das nicht Bestandteil des Hauptvertrages ist.39 Darüber hinaus hat der Unternehmer den Verbraucher nach § 617 Abs. 3 ZPO über die wesentlichen Unterschiede zwischen einem Schieds- und einem Gerichtsverfahren zu belehren. Hinsichtlich des Sitzes des Schiedsgerichts sowie des Verhandlungsortes sind nach § 617 Abs. 4 und 5 ZPO geografische Anforderungen zu beachten. Schließlich bestehen nach § 617 Abs. 6 ZPO in Schiedsverfahren mit Verbraucherbeteiligung zusätzliche Aufhebungsgründe zu jenen des § 611 ZPO.40 Schiedsverfahren ohne Beteiligung von Verbrauchern (B2B-Bereich) fallen somit nicht in den Anwendungsbereich von § 617 ZPO. In einem Unternehmer-Verbraucher-Verhältnis (B2C-Bereich) besteht bei Nichteinhaltung des § 617 Abs. 1 ZPO die Gefahr einer (teilweise) unwirksamen Schiedsvereinbarung. Für § 617 Abs. 2 ZPO gilt dies bereits bei Beteiligung eines Verbrauchers, und zwar unabhängig davon, ob der/die Vertragspartner Verbraucher oder Unternehmer ist/sind.41 Vor dem Hintergrund der geschilderten Rechtslage ist für Schiedsverfahren mit österreichischen Privatstiftungen die Frage des Vorliegens der Verbrauchereigenschaft bei den Stiftern, den Stiftungsorganen, der Privatstiftung selbst sowie den Stiftungsbegünstigten äußerst relevant. 35

ErlRV. 173 BlgNR. 22. GP 21. OGH 16.11.2012, 6 Ob 240/11d. 37 RL 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Abl. L 2013/95, 29–34, Art. 2 lit. b: „Verbraucher: eine natürliche Person, die […].“ 38 Es handelt sich nicht um eine Beschränkung der objektiven Schiedsfähigkeit, vgl. etwa OGH 16.12.2013, 6 Ob 43/13m, Erw. 3.1 mwN; auch Öhlberger ÖJZ 2010, 189. 39 Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 617 ZPO Rz. 24, 26; siehe auch Nueber in Nueber/Gass Konfliktlösung in Privatstiftungen, 2019, Rz. 323 f. 40 Vgl. Nueber GesRz 2012, 339. 41 Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 617 ZPO Rz. 21. 36

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Der Verbraucherbegriff in § 617 ZPO richtet sich nach § 1 KSchG.42 Die Verbrauchereigenschaft wird in § 1 Abs. 1 KSchG negativ definiert. Während Unternehmer jemand ist, „für den das Geschäft zum Betrieb seines Unternehmens gehört“ (Z. 1), ist Verbraucher „jemand, für den dies nicht zutrifft“ (Z. 2). In Österreich können – im Unterschied zu der mit § 13 BGB auf natürliche Personen beschränkten Verbrauchereigenschaft – auch juristische Personen Verbraucher sein. Bei den Stiftern wird es sich meist um mehrere natürliche Personen handeln, die in der Regel Verbraucher sind. Denn der Stiftungsakt gehört regelmäßig nicht zu dem Betrieb ihres Unternehmens. Für die Beziehung zwischen ihnen kommen § 617 Abs. 1 ZPO und § 6 Abs. 2 Z 7 KSchG daher nicht zur Anwendung, weil es sich um Geschäfte zwischen Nichtunternehmer handelt.43 Beachtlich bleibt aber vor allem die Bestimmung des § 617 Abs 2 ZPO. Auf Organmitglieder, wie den Stiftungsvorstand, finden die Verbraucher- bzw Arbeitnehmerschutzbestimmungen gemäß §§ 617 iVm 618 ZPO keine Anwendung, wenn diese als Führungskräfte zu qualifizieren sind. Hinsichtlich § 618 ZPO stellt sich die Frage der Anwendbarkeit gar nicht, sofern die Arbeitnehmereigenschaft – wie im Regelfall bei Vorstandsmitgliedern der AG – verneint wird.44 In Einklang mit der stRsp. zu Fremdgeschäftsführern der GmbH kommt auch eine Verbraucherqualifikation nach § 617 ZPO hier grundsätzlich nicht in Frage. Hingegen kann die Privatstiftung als juristische Person in Österreich als Verbraucherin qualifiziert werden. Privatstiftungen sind in Österreich gemäß § 2 UGB keine Unternehmerinnen kraft Rechtsform.45 Die Verbrauchereigenschaft hängt bei Privatstiftungen von ihrer konkreten Tätigkeit ab.46 Dabei ist zu berücksichtigen, dass österreichischen Privatstiftungen gemäß § 1 Abs. 2 Z. 1 PSG gewerbsmäßige Tätigkeiten verboten sind, die über eine bloße Nebentätigkeit hinausgehen. Folglich können Privatstiftungen nur im Rahmen ihrer gewerbsmäßigen Nebentätigkeit als Unternehmerinnen auftreten.47 Die Rolle, in der eine Privatstiftung auftritt, ist daher im Einzelfall zu prüfen. Wird die Privatstiftung nicht als Unternehmerin qualifiziert, können die in § 617 ZPO verankerten Wirksamkeits- und Formerfordernisse hinsichtlich Schiedsklauseln in Stiftungserklärungen zu Problemen führen. Denn Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 617 ZPO Rz. 22. Nueber/Konzett in Deixler-Hübner/Schauer Vermögensplanung national und international, 2019, S. 115. 44 Müller/Melzer in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 2018, Rz. 24.77. 45 Nueber GesRz 2012, 339; vgl. Kalss in Kalss/Nowotny/Schauer Österreichisches Gesellschaftsrecht2, 2017, Rz. 7/48. 46 Kalss in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 2018, Rz. 22.30; vgl. Riegler ecolex 2011, 884: „Entscheidend ist, ob sie [Privatstiftung] Beteiligungen hält bzw regelmäßig veräußert und erwirbt.“ 47 Nueber in Nueber/Gass Konfliktlösung in Privatstiftungen, 2019, Rz. 317. 42 43

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Schiedsklauseln werden regelmäßig in den Stiftungserklärungen aufgenommen und für zukünftige Streitigkeiten und damit gerade nicht „für bereits entstandene Streitigkeiten“ iSd § 617 Abs. 1 ZPO abgeschlossen. In Stifungserklärungen aufgenommen erfüllen sie aber ebenso wenig das gemäß § 617 Abs. 2 ZPO bestehende Erfordernis einer separaten Vereinbarung. In der Literatur wird für das Stiftungsrecht eine – in Anlehnung an die für GmbH-Gesellschafter erfolgte – teleologische Reduktion des § 617 ZPO gefordert. Nach Nueber ist § 617 ZPO hinsichtlich der Privatstiftung teleologisch zu reduzieren, denn eine teleologische Reduktion müsse angesichts der dafür sprechenden Gründe bei GmbH-Gesellschaftern als natürliche Personen gerade noch mehr für die Privatstiftung als juristische Person gelten.48 Auch Kraus spricht sich unter Heranziehung des Normzwecks des § 617 ZPO für eine teleologische Reduktion aus. Der mit § 617 ZPO verfolgte Schutz von Verbrauchern, die unternehmerischen Vertragspartnern an wirtschaftlicher Erfahrung und Rechtskenntnis unterlegen seien, erscheine bei der Privatstiftung als nicht sachgerecht. Privatstiftungen würden schließlich gemäß den Materialen zum UGB nach der Wertung des Gesetzgebers professionell geführt.49 Dem folgte der OGH offensichtlich nicht, wenn er sich für eine strikte Anwendung des § 617 ZPO auf sämtliche Schiedsverfahren mit Sitz in Österreich ausspricht.50 So ist § 617 ZPO auch auf Schiedsvereinbarungen über gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten anwendbar, wobei es auf eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ankommt.51 In der wegweisenden und gleichzeitig umstrittenen Entscheidung 6 Ob 43/13m hat der OGH eine (nicht österreichische) Privatstiftung als Unternehmerin qualifiziert.52 In einer jüngeren Entscheidung ließ er diese Frage (leider) offen.53 Für die Beurteilung der Verbrauchereigenschaft bei der Privatstiftung ist daher wohl auf eine einzelfallbezogene54, wirtschaftliche Betrachtungsweise55 abzustellen. In Bezug auf die Anwendbarkeit des § 617 ZPO auf Stiftungsbegünstigte wird angesichts ihrer rein begünstigten Position und dem somit mangelnden Schutzbedürfnis auch eine teleologische Reduktion des § 617 ZPO gefordert. Nueber argumentiert die Nicht-Anwendung des § 617 ZPO mit 48

Vgl. Nueber GesRz 2012, 343. Kraus in FS Torggler, S. 659 f. 50 Hackl GesRz 2014, 199. 51 OGH 16.12.2013, 6 Ob 43/13m, Erw. 8.1. 52 OGH 16.12.2013, 6 Ob 43/13m, Erw. 10.5 und 11. 53 OGH 21.5.2015, 1 Ob 82/15p. 54 Vgl. zur Einzelfallbezogenheit der Prüfung der Verbrauchereigenschaft Müller/ Melzer in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 2018, Rz. 24.15 mwN; Klauser/Binder in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 2018, Rz. 20.31 f. 55 Nueber/Konzett in Deixler-Hübner/Schauer Vermögensplanung national und international, 2019, S. 115. 49

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dem im gesellschaftsrechtlichen Innenverhältnis mangelnden Vorliegen eines Unternehmer-Verbraucher-Verhältnisses, was auf die Privatstiftung übertragbar sei.56 Die in der Literatur geforderte teleologische Reduktion vermag die Ungewissheit bei der Frage nach der Unternehmereigenschaft der Begünstigten aber nicht zu beseitigen. Zudem ist eine Entwicklung der Rechtsprechung dahingehend, dass bloße Vermögensverwaltung als Qualifikation für die Unternehmereigenschaft ausreicht, nicht gesichert. Damit handeln Stiftungsbegünstigte eher nicht in dem Sinne als Unternehmer, dass ihre Beziehungen zur Privatstiftung zum Betrieb ihres Unternehmens gehören. Betreffend Streitigkeiten zwischen Begünstigten im Rahmen eines Schiedsverfahrens ist der bereits angesprochene Abschluss einer gesonderten Unterwerfungserklärung zur Erfüllung des Formerfordernisses gemäß § 617 Abs. 2 ZPO zweckmäßig.57 Abschließend bleibt zu überlegen, ob die Anwendung des § 617 ZPO durch die Wahl eines ausländischen Schiedsortes ausgeschlossen werden könnte.58 Bereits in seiner ersten Entscheidung zu § 617 ZPO stellte der OGH klar, dass nach § 577 Abs. 2 ZPO für Entscheidungen ausländischer Schiedsgerichte § 617 ZPO nicht gelte. Nach dem OGH könne § 617 ZPO auch nicht für im Ausland durchgeführte Schiedsverfahren über ordre public relevant werden, denn die Vereinbarung eines Schiedsgerichts mit einem Verbraucher verstoße per se nicht gegen die Grundwertungen des österreichischen Rechts.59 Als attraktiver „Ausweichschiedsort“ hat sich neben der Schweiz und Deutschland vor allem Liechtenstein60 erwiesen. Diese Rechtsordnungen sehen – wie viele andere – im Vergleich zu Österreich einen weniger weitgehenden Verbraucherschutz vor.61 Sofern in einer bestehenden Satzung der Schiedsort geändert werden soll, ist zu bedenken, dass alle Parteien einer Neufestlegung zustimmen müssen. 56

Vgl. Nueber GesRz 2012, 344. Horvath Kathrein-Stiftungsletter 2006/8, 14; Horvath in Eiselsberg Jahrbuch Stiftungsrecht, 2008, S. 133. 58 Kalss in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsrecht, 2018, Rz. 22.28. 59 OGH 22.7.2009, 3 Ob 144/09m; siehe dazu Öhlberger ÖJZ 2010, 188; Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 617 ZPO Rz. 19. 60 In Liechtenstein wurde durch das LGBl. 2017 Nr. 170 die Bestimmung § 634 liZPO, das ursprüngliche Pendant zu § 617 ZPO, auf „Schiedsvereinbarung zwischen Unternehmern und natürlichen Personen“ eingeschränkt; somit erfolgte für Schiedsvereinbarungen mit natürlichen Personen in Satzungen von Gesellschaften eine Freistellung der besonderen Beschränkungen für Verbraucher; vgl. Czernich ecolex 2018, 239; Gasser/Nueber in Klausegger/Klein/Kremslehner/Petsche/Pitkowitz/Welser/Zeiler Austrian Yearbook on International Arbitration 2018, S. 29 f., 36; Czernich LJZ 2018, 17; Erläuterung des § 634 flZPO neu und Hinweis, dass kein Pendant zu § 6 Abs. 2 Z 7 KSchG in Liechtenstein besteht in Nueber/Konzett in Deixler-Hübner/Schauer Vermögensplanung national und international, 2019, S. 114, 116 f. 61 Reiner GesRz 2019, 104. 57

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Ob in einem ausländischen Schiedsverfahren die Anwendung des § 617 ZPO tatsächlich ausgeschlossen werden kann, gilt jedoch zu hinterfragen. Die Auffassung, mit einem Ausweichschiedsort die Nicht-Anwendung des österreichischen Rechts zu erreichen, unterstellt nämlich die Akzessorietät der Verbrauchereigenschaft zu dem auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Recht; das wäre mangels gültiger Rechtswahl eben das Recht des Schiedsortes. Persönliche Eigenschaften sind aber nicht dem Vertragsstatut zu unterstellen, sondern selbstständig anzuknüpfen und zwar an das Recht des Wohnsitzes.62 Nach diesem Ansatz hätte ein ausländisches Schiedsgericht bei Beteiligung eines Verbrauchers mit Wohnsitz in Österreich § 617 ZPO anzuwenden. Dies würde wohl ebenso für Privatstiftungen mit Sitz in Österreich gelten. Im Ergebnis bleibt Unsicherheit hinsichtlich der Anwendung österreichischen Verbraucherschutzes auf stiftungsrechtliche Streitigkeiten bestehen.63 Aus Vorsichtsgründen ist wohl von der Geltung des § 617 ZPO auszugehen. Ausblickend sei erwähnt, dass der Schiedsort Österreich von einer bereits in Diskussion stehenden Neuregelung des § 617 ZPO, die das Gesellschaftsrecht einschließlich Verträge über den Erwerb oder die Veräußerung von Anteilen an Gesellschaften von den Beschränkungen des § 617 ZPO ausnimmt, profitieren würde. Nach dem Reformvorschlag unterliegen natürliche Personen, die formal als Verbraucher, funktional als Unternehmer tätig werden, in dem sie sich an einer Personen- oder Kapitalgesellschaft beteiligen, nicht mehr den besonderen Schutzbestimmungen des § 617 ZPO.

IV. Vorschlag einer Schiedsklausel in Stiftungserklärungen Um die in der Praxis angesprochenen Probleme und Risiken zu vermeiden, wird abschließend eine Muster-Schiedsklausel angeführt. Die dargestellte Schiedsklausel verfolgt eine große Reichweite innerhalb der Privatstiftung. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass zur weitest möglichen Wirksamkeit der dargestellten Schiedsklausel und aus verbraucherschutzrechtlichen Gesichtspunkten zusätzlich von sämtlichen potentiell Betroffenen – etwa Stifter, Stiftungsorganen und Stiftungsbegünstigte – die Einholung einer gesonderten Unterwerfungserklärung zweckmäßig ist. X.1 Personen können nur dann als Vollbegünstigte festgestellt, zu Teilbegünstigten bestimmt oder als Stiftungsvorstand oder Stiftungsbeirat bestellt werden, wenn sie sich der nachfolgenden Schiedsvereinbarung unterworfen haben. Macht ein Begünstigter (Vollbegünstigter, Teilbegünstigter) die Ungül62 Czernich RdW 2014, 251 ff.; Mankowski in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer Handbuch Schiedsverfahren, Rz. 6.45. 63 Arnold PSG3 § 40 Rz 4.

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tigkeit der Schiedsvereinbarung geltend oder ist er trotz fehlender Unterwerfung unter die Schiedsvereinbarung als Begünstigter festgestellt oder zu einem Teilbegünstigten bestimmt worden, bildet dies einen jederzeit wahrnehmbaren Ausschlussgrund. Jede Person, die als Vollbegünstigter festgestellt oder als Teilbegünstigter bestimmt oder als Stiftungsvorstand oder Stiftungsbeirat bestellt worden ist, ist verpflichtet, binnen 14 Tagen ab Feststellung als Vollbegünstigter, Bestimmung als Teilbegünstigter oder Bestellung als Stiftungsvorstand oder Stiftungsbeirat, der Privatstiftung zu Handen des Stiftungsvorstands eine aktuelle Zustelladresse oder einen Zustellungsbevollmächtigten bekanntzugeben. X.2 Soweit gesetzlich zulässig, werden alle Streitigkeiten der Stifter, der Begünstigten, der Stiftungsorgane, der Stiftungsorganmitglieder und der Privatstiftung, welche die Stiftungszusatzurkunde, die Stiftungsurkunde, das Stiftungsverhältnis oder die Privatstiftung betreffen, in jedem Fall Streitigkeiten nach X.4 a) bis x), unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs nach der Schiedsordnung […] endgültig entschieden. X.3 Für sonstige Streitigkeiten, der Stifter, der Begünstigten, der Stiftungsorgane, der Stiftungsorganmitglieder und der Privatstiftung, welche die Stiftungszusatzurkunde, die Stiftungsurkunde, das Stiftungsverhältnis oder die Privatstiftung betreffen, und für welche die Entscheidung durch ein Schiedsgericht gemäß X.2 gesetzlich unzulässig ist, in jedem Fall für solche Streitigkeiten, in denen von zumindest einem der Streitteile keine wirksame Unterwerfungserklärung nach X.1 abgegeben wurde, sind die für Handelssachen zuständigen Gerichte in […] ausschließlich zuständig. 8.4

In Streitigkeiten nach Absatz X.2, über64

a) die Aufhebung oder Feststellung der Unwirksamkeit von Beschlüssen von Stiftungsorganen (Beschlussmängelstreitigkeiten), oder (…) x)

(…)

ist die Klage, bei sonstiger Zurückweisung, gegen die Privatstiftung als beklagte Partei zu richten; es gilt die Schiedsordnung […] in Bezug auf die Einleitung des Schiedsverfahrens mit folgender Maßgabe: (i) Die Privatstiftung ist verpflichtet innerhalb von […] Tagen nach Zugang der Klage sämtliche Stiftungsorgane, den Stiftungsvorstand, den Stiftungsbeirat sowie sämtliche Begünstigte und sämtliche Stifter als von der Streitigkeit betroffene Personen zu benennen („Benannte Betroffene“) und das Sekretariat der [Schiedsinstitution] aufzufordern, die Klage den Benannten Betroffenen zuzustellen. Das Sekretariat der [Schiedsinstitution] stellt den Benannten Betroffenen die Klage zu und fordert diese auf, dem Sekretariat gegenüber innerhalb von […] Tagen nach Zugang der Klage schriftlich zu erklären, ob sie dem Schiedsverfahren auf Kläger- oder Beklagtenseite als Partei 64 Unter diesem Punkt sollten jene Streitigkeiten aufgezählt werden, die typischerweise in einer Mehrparteienschiedsgerichtsbarkeit münden.

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beitreten. Über erfolgte Beitritte unterrichtet das Sekretariat der [Schiedsinstitution] die Parteien und alle Benannten Betroffenen. (ii) Durch die Unterwerfung unter die Schiedsvereinbarung gemäß X.1 verpflichten sich die Benannten Betroffenen, die Wirkungen des Schiedsspruches anzuerkennen und für und gegen sich gelten zu lassen. (iii) Treten Benannte Betroffene dem Schiedsverfahren fristgerecht als Partei bei, werden sie mit Zugang der Erklärung bei dem Sekretariat der [Schiedsinstitution] Partei des Schiedsverfahrens mit allen Rechten und Pflichten. Verweigert ein Benannter Betroffener den Beitritt oder erklärt diesen nicht fristgerecht, gilt dies als Verzicht auf die Teilnahme am Schiedsverfahren. (iv) Das Schiedsgericht unterrichtet die dem Schiedsverfahren nicht beigetretenen Benannten Betroffenen über den Fortgang des Schiedsverfahrens unter anderem durch Übersendung von Kopien von Schriftsätzen der Parteien sowie schiedsgerichtlichen Entscheidungen und Verfügungen an die offiziellen oder letztbekannten Anschriften der Benannten Betroffenen, soweit diese auf eine solche Unterrichtung nicht ausdrücklich in schriftlicher Form verzichtet haben. (v) Benannte Betroffene, die auf die Teilnahme am schiedsrichterlichen Verfahren verzichtet haben, können dem Verfahren im Weiteren jederzeit beitreten, wenn sie keine Einwendungen gegen die Zusammensetzung des Schiedsgerichts erheben, das Verfahren in der Lage annehmen, in der es sich zur Zeit des Beitritts befindet, und auf eine Wiederholung des Verfahrens, insbesondere Beweiswiederholung, verzichten, oder das Schiedsgericht den Beitritt nach seinem freien Ermessen zulässt. In jedem Fall entscheidet das Schiedsgericht nach seinem freien Ermessen über die Art der Teilnahme der beitretenden Benannten Betroffenen unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände. (vi) Bei widerstreitenden Rechtshandlungen von Streitgenossen gelten die Bestimmungen der österreichischen Zivilprozessordnung über die Streitgenossenschaft sinngemäß. (vii) Abweichend von Artikel […] muss die Klage nicht die Benennung eines Schiedsrichters enthalten; eine gleichwohl erfolgte Benennung gilt lediglich als Vorschlag. Innerhalb von […] Tagen nach Zugang der Klage bei der Privatstiftung bzw. im Falle zumindest eines zulässigen Beitritts eines Benannten Betroffenen auf Kläger- oder Beklagtenseite innerhalb von […] Tagen nach Zugang der Klage bei der Privatstiftung haben die Parteien auf Kläger- und Beklagtenseite jeweils einen Schiedsrichter gegenüber dem Sekretariat der [Schiedsinstitution] zu benennen. Für Zwecke der Bestellung von Schiedsrichtern bilden mehrere Kläger bzw. mehrere Beklagte eine Streitpartei. (viii) Sollte das Präsidium der [Schiedsinstitution] die Durchführung des Verfahrens ablehnen oder die [Schiedsinstitution] zur Durchführung des Verfahrens nicht in der Lage sein, ist das Verfahren als ad-hoc Verfahren nach Maßgabe dieser Streitbeilegungsklausel sowie der österreichischen Zivilprozessordnung (§§ 577 ff ZPO) zu führen. Die Aufgaben des Sekretariats der [Schiedsinstitution] im Sinne dieser Streitbeilegungsvereinbarung werden von der klagenden Partei sinngemäß erledigt.

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Die sachliche Reichweite der Schiedsvereinbarung Peter Kindler

Die sachliche Reichweite der Schiedsvereinbarung in Fällen der Anspruchskonkurrenz – Eine internationale Fallstudie aus Sicht des deutschen Exequaturrichters PETER KINDLER

I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nichtbeachtung der Schiedsvereinbarungen durch das indonesische Erstgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtbeachtung einer Schiedsvereinbarung als Zuständigkeitsmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entscheidung des Erstgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die objektive Reichweite der Schiedsvereinbarung nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutsches Recht als Schiedsvereinbarungsstatut im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Reichweite der Schiedsklausel nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die objektive Reichweite der Schiedsvereinbarung nach malaysischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Malaysisches Recht als Schiedsvereinbarungsstatut im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektive Reichweite der Schiedsklausel nach malaysischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Problemstellung Es kommt vor, dass sich ein ausländisches staatliches Gericht über eine Schiedsvereinbarung hinwegsetzt und ein Sachurteil erlässt. Handelt es sich dabei um das Gericht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, so soll nach h.M. die Anerkennung einer solchen Hauptsacheentscheidung nach

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der Brüssel Ia-VO dennoch geboten sein.1 Anders liegt es womöglich, wenn die Anerkennung nach autonomem Recht (§ 328 ZPO) zu beurteilen ist. Von einer solchen Konstellation handelt die nachfolgende kleine Fallstudie, die Roderich Thümmel in fachlicher und persönlicher Hochschätzung gewidmet ist. Im Blickpunkt stehen das deutsche Zivilprozess- und Schiedsrecht, ferner das Recht eines ostasiatischen Staates, welches eine gewisse Nähe zum englischen Recht aufweist. Schon seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterhält TSP ein Büro in Singapur, so mögen denn die folgenden Zeilen auf das Interesse des Jubilars treffen. Es geht um einen internationalen Sachverhalt mit Berührung zu drei Staaten: Deutschland, Indonesien und Malaysia. Ein deutsches Unternehmen und dessen malaysische Tochtergesellschaft – im Folgenden: die Urteilsschuldnerinnen 1 und 2 – wurden im Ursprungsverfahren durch ein indonesisches Gericht rechtskräftig zur Zahlung eines relevanten Geldbetrags verurteilt. In diesem Ursprungsverfahren waren die Urteilsschuldnerinnen von der späteren Urteilsgläubigerin, einer Gesellschaft des indonesischen Rechts, erfolgreich auf Schadensersatz aus Vertrag und Delikt verklagt worden. Das Urteil wurde in sämtlichen indonesischen Rechtsmittelinstanzen bestätigt. Damit stellt sich die Frage, ob die Urteilsgläubigerin nunmehr die Vollstreckung aus diesem Urteil in Deutschland betreiben kann. Die Urteilsgläubigerin hatte die Klage auf die Verletzung von Kaufverträgen gestützt, die zwischen den Parteien geschlossen worden waren, sowie auf den Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung. Mit den genannten Verträgen wurden Geräte zur Herstellung elektronischer Ausweise an die Urteilsgläubigerin verkauft. Die Urteilsschuldnerin 1 verfügt über patentierte Produktions- und Personalisierungstechnologien für elektronische Ausweise. Dabei unterlag der Vertrag der Urteilsschuldnerin 1 mit der Urteilsgläubigerin kraft Rechtswahl dem deutschen Recht unter Ausschluss des CISG; der Vertrag der Urteilsschuldnerin 2 mit der Urteilsgläubigerin unterlag kraft Rechtswahl dem malaysischen Recht wiederum unter Ausschluss des CISG. Nach Behauptung der Urteilsgläubigerin hätten sich die Urteilsschuldnerinnen in der Folge mit einem Drittunternehmen P und der indonesischen Regierung „verschworen“, um den Großauftrag zur Personalisierung von Elektronischen Personalausweisen, welcher ursprünglich der Urteilsgläubigerin erteilt worden war, auf P zu übertragen. Hieraus sei der Urteilsgläubigerin ein Schaden (entgangener Gewinn u.a.) entstanden. Mit ihrer Klage machte die Urteilsgläubigerin in der Hauptsache u.a. gegen beide Urteilsschuldnerinnen einen Anspruch auf Schadensersatz („material loss“; entgangener Gewinn) in Millionenhöhe geltend. 1 Hiergegen zuletzt Kindler in FS Geimer, 2017, S. 321, 330 ff.: Missachtung einer eindeutig wirksamen Schiedsvereinbarung als ordre public-Verstoß.

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Neben diversen Einwänden in der Sache wandten die Urteilsschuldnerinnen zur Zulässigkeit der Klage ein, dass der South Jakarta District Court nicht zuständig sei, da die Parteien vertraglich für alle Streitigkeiten aus und in Zusammenhang mit den Verträgen die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts in Genf in der Schweiz gemäß den Regeln der Internationalen Handelskammer vereinbart hatten. Damit sei für die Beurteilung und Entscheidung des Sachverhalts alleine das Schiedsgericht in Genf zuständig, nicht der South Jakarta District Court. Grundlage der von der Urteilsschuldnerin 1 erhobenen Schiedseinrede ist folgende Schiedsklausel im Kaufvertrag: „In the event there is a dispute arising from the contract […] between the parties, both parties agree to settle the dispute by arbitration using the ICC rules. The location of arbitration is Geneve in Switzerland. The result of arbitration is final and can not be appealed. The party that lost in arbitration will cover the arbitration costs.“2

Eine gleichlautende Schiedsklausel findet sich im Kaufvertrag der Urteilsschuldnerin 2 mit der Urteilsgläubigerin . In einem Zwischenurteil („Interlocutory Judgment“) stellte der South Jakarta District Court zunächst seine Zuständigkeit fest und verwarf die von den Urteilsschuldnerinnen erhobenen Schiedseinreden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die indonesische Klägerin ihre Ansprüche auch auf den Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung gestützt habe. Über die Klage wurde demgemäß in der Folge vom South Jakarta District Court durch Sachurteil entschieden. Der Einwand der fehlenden Zuständigkeit wurde zurückgewiesen und die Urteilsschuldnerin 1 neben der Urteilsschuldnerin 2 gesamtschuldnerisch wegen unerlaubter Handlung zu Schadensersatz verurteilt. Dieses Urteil wurde vom Jakarta High Court und vom Supreme Court der Republik Indonesien bestätigt. Damit stellt sich die Frage, welche Gründe einer Anerkennung und Vollstreckung des Urteils des South Jakarta District Court in Deutschland entgegenstehen könnten. II. Prüfungsmaßstab Nach § 722 Abs. 1 ZPO findet aus dem Urteil eines ausländischen Gerichts die Zwangsvollstreckung nur statt, wenn ihre Zulässigkeit durch ein Vollstreckungsurteil ausgesprochen ist. Diese Vorschrift findet hier in Er2 Zu deutsch: „Für den Fall, dass aus dem Vertrag […] eine Streitigkeit zwischen den Parteien entstehen sollte, sind sich die Parteien darüber einig, diese Streitigkeit durch ein Schiedsverfahren nach den Regeln der internationalen Handelskammer (ICC) beizulegen. Sitz des Schiedsgerichts ist Genf in der Schweiz. Das Ergebnis des Schiedsverfahrens ist endgültig und unterliegt keinem Rechtsmittel. Die im Schiedsverfahren unterliegende Partei trägt die Kosten des Schiedsverfahrens.“

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mangelung einer staatsvertraglichen Regelung über die Anerkennung und Vollstreckung von Zivilurteilen im Verhältnis zur Republik Indonesien Anwendung.3 Die Urteilsgläubigerin müsste demnach vor dem zuständigen deutschen Gericht Klage auf Erlass eines solchen Vollstreckungsurteils erheben, § 722 Abs. 2 ZPO. Nach § 723 Abs. 2 Satz 1 ZPO muss das ausländische Urteil rechtskräftig sein, was sich allein nach dem ausländischen Recht beurteilt. Maßgeblich ist die formelle Rechtskraft oder eine dieser entsprechende Wirkung des ausländischen Rechts, die der Kläger darzulegen hat, § 293 ZPO. Für diese Fallstudie ist davon auszugehen, dass das Urteil des South Jakarta District Court nach indonesischem Recht formell rechtskräftig ist. Nach § 723 Abs. 1 ZPO darf keine Prüfung der „Gesetzmäßigkeit“ der ausländischen Entscheidung, ihrer Übereinstimmung mit dem deutschen Recht erfolgen. Das Gericht der Vollstreckbarerklärung darf nicht prüfen, ob das fremde Gericht die Tatsachen richtig festgestellt und aus- oder inländisches Recht richtig angewendet hat (Verbot der révision au fond).4 Nach § 723 Abs. 2 Satz 1 ZPO sind inzident allerdings die Anerkennungsvoraussetzungen und Anerkennungsversagungsgründe nach § 328 ZPO zu untersuchen. Im vorliegenden Fall betrifft dies u.a. die Nichtbeachtung der Schiedsvereinbarung durch das indonesische Erstgericht.

III. Nichtbeachtung der Schiedsvereinbarungen durch das indonesische Erstgericht 1. Nichtbeachtung einer Schiedsvereinbarung als Zuständigkeitsmangel Nach § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts ausgeschlossen, wenn die Gerichte des Staates, dem das ausländische Gericht angehört, nach den deutschen Gesetzen nicht zuständig sind. Das ausländische Erstgericht muss nach deutschem Recht unzuständig sein. Damit folgt das deutsche Recht dem „Spiegelbildprinzip“. Danach ist die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts zu bejahen, wenn es bei einer entsprechenden Anwendung der inländischen Regeln zuständig wäre (sog. Anerkennungszuständigkeit). Dies bedeutet, dass für diese hypothetische Prüfung zunächst die zuständigkeitsrelevanten Elemente des Sachverhaltes ggf. vom Urteilsstaat ins Inland gedanklich zu verlegen sind und umgekehrt. 3

Vgl. zu den für die BRepD anwendbaren Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen sowie EU-rechtlichen Vorgaben Jayme/Hausmann, Textausgabe Int. Privat- und Verfahrensrecht, 19. Aufl. 2018, Nr. 180–191a. 4 MüKoZPO/Gottwald, 5. Aufl. 2016, § 723 ZPO Rn. 2.

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In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob sich auch unter Zugrundelegen deutschen Zuständigkeitsrechts eine Zuständigkeit ergäbe.5 Ignoriert ein ausländisches staatliches Gericht eine Schiedsvereinbarung, so führt dies analog § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zur Nichtanerkennung, wenn sich der Beklagte – wie hier (oben I.) – im ausländischen Verfahren erfolglos auf die Schiedsvereinbarung berufen hat.6 Zu prüfen ist daher hypothetisch, ob ein deutsches Gericht die von der Klägerin erhobene Klage nach § 1032 Abs. 1 ZPO als unzulässig abgewiesen hätte. Dies wäre der Fall, wenn ein deutsches Gericht die Schiedsvereinbarung als wirksam und den bei ihm anhängigen Streitgegenstand als von der Schiedsvereinbarung erfasst angesehen hätte. 2. Die Entscheidung des Erstgerichts Das Erstgericht äußert sich nicht zur etwaigen Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung in den beiden Kaufverträgen. In der Tat bietet der Sachverhalt hierfür keine Anhaltspunkte. Dieser Aspekt ist daher hier nicht weiter zu vertiefen. Das Erstgericht begründet seine Zuständigkeit trotz der Schiedsvereinbarungen damit, dass die Klage auf Vertrag und Delikt gestützt sei und dass deshalb die Schiedsvereinbarungen nicht anwendbar seien (oben I.). Dies ist ein Problem der objektiven Reichweite der Schiedsvereinbarungen. Dabei ist zwischen den Schiedsvereinbarungen im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 1 (nachfolgend unter IV.) und Urteilsschuldnerin 2 (nachfolgend unter V.) zu unterscheiden.

IV. Die objektive Reichweite der Schiedsvereinbarung nach deutschem Recht 1. Deutsches Recht als Schiedsvereinbarungsstatut im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 1 Die objektive Reichweite einer Schiedsvereinbarung beurteilt sich nach der Rechtsordnung, der die Schiedsvereinbarung unterliegt (Schiedsvereinbarungsstatut), zu unterscheiden von weiteren eigenständigen Statuten wie dem Statut des Hauptvertrages (Rom I-VO bzw. § 1051 ZPO) und dem Schiedsverfahrensstatut (Sitz des Schiedsgerichts).7 Das Schiedsvereinba5

Zur Methodik Musielak/Voit/Stadler, 16. Aufl. 2019, ZPO Voit/Rn. 2. Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 328 Rn. 133 m.w.N., 148; ebenso im Ergebnis Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1032 Rn. 50. 7 Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1029 Rn. 77, 107. 6

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rungsstatut ist laut BGH regelmäßig identisch mit dem Statut des Hauptvertrages (Gleichlaufprinzip).8 Hauptvertrag ist hier der Vertrag zwischen der Urteilsschuldnerin 1 und der Urteilsgläubigerin vom 26.5.2011. Nach der Rechtswahlklausel (oben I.) unterliegt der Vertrag dem deutschen Recht. Legt man die BGH-Rechtsprechung zugrunde, so ist das deutsche Recht folglich nicht nur für die materielle Vertragsbeziehung zwischen der Urteilsschuldnerin 1 und der Urteilsgläubigerin, sondern auch für die Schiedsvereinbarung maßgeblich. 2. Objektive Reichweite der Schiedsklausel nach deutschem Recht a) Grundsatz: BGHZ 102, 199 Nach deutschem Recht gilt seit jeher die Auslegungsregel, dass Schiedsvereinbarungen sachlich weit auszulegen sind (in favorem juridictionis arbitri).9 Diese Regel beruht auf dem mutmaßlichen Parteiwillen, dass das Schiedsgericht über alle Streitigkeiten im Umfeld eines Vertragsabschlusses und sämtliche Vertragsabwicklungsschwierigkeiten entscheiden soll.10 Ausnahmen von dieser Regel sind eng auszulegen.11 Tendenziell erfasst die objektive Reichweite einer Schiedsvereinbarung daher auch Ansprüche aus einer (behaupteten) unerlaubten Handlung, die in Ausführung des Vertrages oder bei Gelegenheit seiner Ausführung geschieht.12 Geradezu eine Blaupause für die Beurteilung der im hiesigen Fall vorliegenden Schiedsklauseln liefert das Urteil BGHZ 102, 199. Dort hatte der Klä8 BGH NZG 2011, 468 Rn. 30 = IPRax 2011, 499: „Zustandekommen und Wirksamkeit einer Schiedsvereinbarung bemessen sich im Kollisionsfall nach den Regeln des deutschen internationalen Privatrechts (BGHZ 40, 320, 322 f.; 49, 384, 386). Die danach im Streitfall zeitlich noch anwendbaren Art. 27 ff. EGBGB a.F. (BGH, Beschl. v. 21.9.2005 – III ZB 18/05, WM 2005, 2201, 2203) führen zur Geltung des Statuts des Hauptvertrages, mit dem die Schiedsvereinbarung regelmäßig die engste Verbindung i.S.v. Art. 28 Abs. 1 EGBGB a.F. aufweist (vgl. BGH, Beschl. v. 21.9.2005 – III ZB 18/05, WM 2005, 2201, 2203), wenn eine ausdrückliche auf sie bezogene Rechtswahl fehlt.“; ebenso zur Reichweite BGH BeckRS 2018, 40831 Rn. 10 ff.; dazu Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1029 Rn. 107. 9 BGHZ 40, 320 = NJW 1964, 591; BGH NJW-RR 2002, 387; ZIP 2004, 1616, 1618; BGH EWiR 2019, 317 = NJoZ 2020, 234, Rn. 11; OLG München SchiedsVZ 2014, 262, 264 = IPRax 2016, 66; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1029 Rn. 78. Stein/Jonas/ Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1029 Rn. 35; M. Weller, IPRax 2016, 48, 49. 10 So Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1029 Rn. 36, welcher ergänzt: „Die Parteien wollen so gut wie immer, dass ein einheitlicher Spruchkörper über die Rechtsfolgen aus einem einheitlichen Sachverhalt befindet.“ 11 Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1029 Rn. 36. 12 Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1029 Rn. 38 mit Verweis auf BGH NJW 1965, 300; OLG Hamburg RIW 1989, 574 = EWiR 1989, 933 mit Kurzkomm. Bredow; RGZ 159, 254, 256.

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ger die Beklagte auf Zahlung von eingezogenen, aber nicht weitergeleiteten Versicherungsbeiträgen in Anspruch genommen. Zur Begründung zog er vertragliche wie auch deliktische Anspruchsgrundlagen heran. Die Beklagte hat der Klage die Einrede des Schiedsvertrages entgegengesetzt; sie beruft sich auf einen zwischen dem Kläger und ihr geschlossenen Schiedsvertrag, wonach „[…] für Streitigkeiten, die sich aus dem unter den Parteien geschlossenen Provisionsvertrag ergeben, nachstehender Schiedsvertrag geschlossen [wird]”. Zu dieser im Hinblick auf die objektive Reichweite der Schiedsklausel mit dem hiesigen Fall nahezu identischen Formulierung führt der BGH in den Urteilsgründen unter I.1 b aus (Hervorhebung durch Verf.): „[D]ie Auffassung des BerGer., daß die Schiedsvereinbarung sich auch auf die geltend gemachten Ansprüche erstreckt, soweit sie sich aus den Vorschriften über unerlaubte Handlungen ergeben, hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand. Entscheidend für die Frage, ob es sich um eine Streitigkeit “aus dem Provisionsvertrag” handelt, ist der behauptete Sachverhalt, nicht die zivilrechtliche Grundlage des daraus hergeleiteten Anspruchs. Die Parteien gehen bei der Schiedsabrede davon aus, daß Tatbestände, die Vertragsverletzungen darstellen, im ganzen vom Schiedsgericht und nicht vom ordentlichen Gericht beurteilt werden sollen. Diese vereinbarte Zuständigkeit läßt sich nicht dadurch umgehen, daß der Kl. eine Vertragsverletzung seines Partners - zu Recht oder zu Unrecht - als unerlaubte Handlung qualifiziert (BGH, NJW 1965, 300). Etwas anderes würde allerdings gelten, wenn die unerlaubte Handlung, aus der der Kl. seinen Anspruch herleitet, sich nicht mit einer Vertragsverletzung deckt, wenn also mindestens ein Teil der Ausführungsakte der unerlaubten Handlung nicht zugleich eine Vertragsverletzung darstellt (RG, JW 1918, 263 f.).“13

Demnach soll es nicht in der Hand des Klägers liegen, durch Wahl der Anspruchsgrundlage im Nachhinein einseitig über die Anwendbarkeit der Schiedsvereinbarung zu bestimmen.14 Genau dies hat die Urteilsgläubigerin 13 BGH NJW 1988, 1215 = BGHZ 102, 199 (Hervorhebungen durch Verf.); die dort zitierte Entscheidung BGH NJW 1965, 300 besagt nach ihrem Leitsatz: „Ist ein Schiedsvertrag über künftige Rechtsstreitigkeiten aus einem bestimmten Vertragsverhältnis geschlossen worden, so ist das Schiedsgericht auch für Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung zuständig, wenn sich die behauptete unerlaubte Handlung tatbestandlich mit einer Vertragsverletzung deckt.“ 14 OLG München SchiedsVZ 2014, 262, 264 = IPRax 2016, 66: „Der klagende Vertragspartner soll es nämlich nicht in der Hand haben, die Zuständigkeit des staatlichen Gerichts dadurch herbeizuführen, dass er bei einer Vertragsstörung statt der vertraglichen die deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage heranzieht.“; so schon BGH NJW 1965, 300: „[D]ie Parteien gehen bei der Schiedsabrede davon aus, daß Tatbestände, die Vertragsstörungen darstellen, im ganzen vom Schiedsgericht und nicht vom ordentlichen Gericht beurteilt werden sollen. Diese vereinbarte Zuständigkeit läßt sich im Streitfall nicht dadurch umgehen, daß die klagende Partei eine Vertragsverletzung ihres Partners rechtlich – ob mit oder ohne Grund - als unerlaubte Handlung qualifiziert.“; zusammenfassend M. Weller IPRax 2016, 48, 49.

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in unserer Fallstudie indessen versucht, indem sie ihre vermeintlichen Ansprüche auch auf den Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung gestützt hat.15 Deliktische Ansprüche unterliegen aber der – wie hier – in einem Vertrag enthaltenen Schiedsvereinbarung, „soweit die schädigende Handlung in einem einheitlichen Lebensvorgang mit einer Vertragsverletzung steht.“16 Ein solcher einheitlicher Lebensvorgang war nach dem indonesischen Zwischenurteil gegeben. Denn in unserer Fallstudie liegt der dogmatische Kern der Anspruchskonkurrenz darin, dass – vom klägerischen Standpunkt aus – die behauptete illoyale Zusammenarbeit der Urteilsschuldnerinnen mit bestimmten Dritten („conspiracy“) nichts anderes darstellt als eine vorsätzliche Erfüllungsverweigerung der zwischen den Prozessparteien bestehenden Verträge,17 oder zumindest eine Verletzung vertraglicher Nebenpflichten. b) Abgrenzung zu BGH WM 1991, 384 Nach der vereinzelten Entscheidung BGH WM 1991, 38418 soll die Einbeziehung deliktischer Ansprüche zwar voraussetzen, dass dies klar und eindeutig in der Schiedsklausel zum Ausdruck kommt.19 Dieses obiter dictum lässt sich auf den hiesigen Fall indessen nicht übertragen und ist auch mit dem Grundsatzurteil BGHZ 102, 19920 nicht vergleichbar, weil der Kläger in BGH WM 1991, 384 seine Ansprüche ausschließlich auf Delikt gestützt hatte.21 Zudem begründete der BGH seine restriktive Auslegung der Schiedsklausel ausdrücklich damit, dass es sich bei der Beklagten um eine Publikumsgesellschaft handelte und bei den (potenziellen) Klägern um 715 geschädigte 15

Vgl. nochmals die Begründung im Zwischenurteil zur Zuständigkeit („Interlocutory Judgment“), die die von der Klägerin wahlweise angeführten Anspruchsgrundlagen deutlich herausstellt und aus der möglichen alternativen Anwendung des Deliktsrechts die Unanwendbarkeit der Schiedsvereinbarung ableitet: „despite the breach of contract lawsuit, the Plaintiff also submits its lawsuit based on unlawful act, …“ (deutsch oben I.). 16 Musielak/Voit/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 1029 Rn. 23. 17 So deutlich M. Weller, IPRax 2016, 48, 49 zu OLG München SchiedsVZ 2014, 262 = IPRax 2016, 66. 18 BGH WM 1991, 384, 386 = IPRax 1992, 240 = NJW-RR 1991, 423. 19 Ablehnend Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1029 Rn. 38 Fn. 116: „Die abweichende Entscheidung BGH WM 1991, 384, 386 ist Einzelfall geblieben, zu Recht.“; kritisch auch Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1029 Rn. 80 („zu eng“); Raeschke-Kessler/Berger, Recht und Praxis des Schiedsverfahrens, 3. Aufl. 1999, Rn. 289 f. 20 Dazu soeben unter a. 21 BGH WM 1991, 384 = NJW-RR 1991, 423, 424: „Vielmehr findet das Begehren nach dem Klagevortrag seine Grundlage ausschließlich darin, daß der Korrespondentreeder D in kollusivem Zusammenwirken mit der Bekl. die Rechtsvorgänger des Kl. […] getäuscht und sie zu einer Beteiligung bewogen hat, die zwangsläufig zum Verlust des Anlagekapitals führen mußte.“

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Kapitalanleger.22 Auch insoweit ist der Fall mit der hiesigen Konstellation nicht vergleichbar. Die indonesische Klägerin und heutige Urteilsgläubigerin ist keine einem Kapitalanleger vergleichbare – und damit tendenziell schutzbedürftige – Vertragspartei. Und schließlich hat das Urteil BGH WM 1991, 384 sich auch nicht von BGHZ 102, 199 distanziert, so dass die dort aufgestellte Regel nach wie vor Geltung beansprucht. c) Abgrenzung zu BGH NZG 2012, 311 Auch die nachfolgende Entscheidung BGH NZG 2012, 311 steht der hier aus BGHZ 102, 19923 abgeleiteten weiten Auslegung der Schiedsvereinbarungen nicht entgegen. Wie auch BGH WM 1991, 386 distanziert sich dieses Urteil nicht von dem in BGHZ 102, 199 aufgestellten Grundsatz der Maßgeblichkeit des Sachverhalts (und nicht der vom Kläger angeführten Rechtsgrundlagen). Im Fall BGH NZG 2012, 311 hatte der Kläger über den beklagten Broker Optionsgeschäfte getätigt und dabei Verluste erlitten. Vermittelt wurden diese Geschäfte durch einen deutschen Vermittler G. Zwischen G und dem Kunden bestand ein Geschäftsbesorgungsvertrag, der in AGB eine Schiedsvereinbarung enthielt, welche auch für Ansprüche gegen Erfüllungsgehilfen des G und sonstige auf dessen Seite eingeschaltete Dritte gelten. Nach dem Klagevortrag hatte G den Kunden im Sinne von § 826 BGB vorsätzlich sittenwidrig geschädigt und der beklagte Broker hatte hierzu Beihilfe geleistet. Unter Anwendung der für die Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen etablierten Grundsätze verwarf der BGH die Schiedseinrede des Brokers: dieser sei weder ein Erfüllungsgehilfe des G noch ein auf dessen Seite eingeschalteter Dritter. Damit war die Schiedseinrede nicht begründet, da keine Schiedsvereinbarung zugunsten des Brokers vorlag.24 Die entscheidende Passage in BGH NZG 2012, 311 lautet:25 „Der Kl. nimmt die Bekl. auch nicht im Zusammenhang bzw. aus Anlass seines Vertrags mit G in Anspruch. Er macht vielmehr geltend, die Bekl. habe sich vorsätzlich an seiner sittenwidrigen Schädigung durch G beteiligt. Die tatsächlichen Voraussetzungen eines hierauf gestützten Anspruchs stehen im Zusammenhang mit dem tatsächlichen Verhalten der Bekl. und der G, ihrer Geschäftsbeziehung und dem zwischen ihnen geschlossenen Rahmenvertrag vom 18.3.1998, nicht aber mit dem Vertrag zwischen dem Kl. und G.“ 22 BGH NJW-RR 1991, 423, 424: „Da die 715 Partenreeder aus der Bundesrepublik oder Nachbarländern stammen und ihre Werbung aus diesem Bereich von vornherein vorgesehen war, wäre die Erstreckung der Schiedsklausel auf sämtliche den Anlegern persönlich zustehenden Ansprüche eine ungewöhnliche Regelung, die in dem Vertrag klar und eindeutig hätte zum Ausdruck kommen müssen.“ 23 Dazu soeben unter a. 24 Vgl. die Urteilanalyse bei Zarth, GWR 2011, 166. 25 BGH NZG 2012, 311 Rn. 24.

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Hieraus wird deutlich, dass – wie im Fall BGH WM 1991, 384 – die Klage allein auf unerlaubte Handlung gestützt war. Zudem war die vom Beklagten eingewandte Schiedsvereinbarung gerade nicht zwischen den Prozessparteien abgeschlossen worden, sondern zwischen dem Kläger und einem Dritten. Auch insofern unterscheidet sich dieser Fall vom hier zu untersuchten Fall. Und schließlich fehlt es vorliegend am AGB-Charakter der Schiedsklausel.

V. Die objektive Reichweite der Schiedsvereinbarung nach malaysischem Recht 1. Malaysisches Recht als Schiedsvereinbarungsstatut im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 2 Wie oben unter IV. 1. ausgeführt, beurteilt sich die objektive Reichweite einer Schiedsvereinbarung nach dem Schiedsvereinbarungsstatut. Damit ist im Regelfall diejenige Rechtsordnung zur Anwendung berufen, der auch der Hauptvertrag unterliegt (oben IV. 1.). Hauptvertrag ist hier der Vertrag zwischen der Urteilsschuldnerin 2 und der Urteilsgläubigerin. Kraft Rechtswahl unterliegt dieser Vertrag dem malaysischen Recht unter Ausschluss des CISG (oben I.). Malaysisches Recht ist daher zugleich Schiedsvereinbarungsstatut im Verhältnis der Urteilsgläubigerin zur Urteilsschuldnerin 2. 2. Objektive Reichweite der Schiedsklausel nach malaysischem Recht Das malaysische Schiedsverfahrensrecht ist im Arbitration Act 2005 geregelt.26 Dieses Gesetz folgt in Anlehnung an die englische Rechtsprechung dem Grundsatz der weiten Auslegung von Schiedsgerichtsvereinbarungen.27 26 Klötzel, in: Conrad et al. (Hrsg.), Int’l Commercial Arbitration, § 13 Malaysia, 2013, S. 643 ff., 645; Geimer/Schütze/Schütze, Int. Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Länderbericht Malaysia, EL 32, S. 1086-8. 27 “Malaysia takes an expansive approach to the interpretation of arbitration agreements. The Fiona Trust single-forum presumption – that 'rational businessmen are likely to have intended any dispute arising out of the relationship into which they have entered or purported to enter to be decided by the same tribunal'26 [Fn. 26: Fiona Trust & Holding Corporation and Others v. Privalov and Others [2007] 4 All ER 951, at 957; Deutsche Zusammenfassung Vorpeil RIW 2007, 45: „Der Court of Appeal hat ein Urteil gefällt, mit dem ein neues Zeitalter für die Auslegung einer Gerichtsstandsklausel (jurisdiction clause) und einer Schiedsgerichtsklausel in internationalen wirtschaftlichen Verträgen begonnen hat. […] Gerichtsstands- und Schiedsgerichtsklauseln in internationalen wirtschaftlichen Verträgen sollten freizügig ausgelegt werden. Die Worte "arising out of" würden jegliche Streitigkeit außer der Meinungsverschiedenheit erfassen, ob überhaupt ein Vertrag vorliege. Obwohl in der Vergangenheit die Worte „arising under the contract“ gelegentlich enger ausgelegt worden seien, solle dies nicht länger der Fall sein.”] – has been approved and followed in Malaysia.27 [Fn. 27: KNM Process Systems Sdn Bhd v. Mission

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Nach der auch in Malaysia geltenden englischen „Fiona Trust“-Regel liegt der Auslegung einer Gerichtsstands- oder Schiedsklausel die Annahme zugrunde, dass die Parteien als rational denkende Geschäftsleute beabsichtigt haben, dass sämtliche Rechtsstreitigkeiten aus ihrer Rechtsbeziehung vor demselben Gericht entschieden werden sollten („single-forum presumption“).28 Daher folgt aus der „Fiona Trust“-Regel unter anderem, dass Schiedsvereinbarungen über vertragliche Streitigkeiten im Zweifel konkurrierende gesetzliche Ansprüche zwischen den Vertragsparteien einschließen.29 Dies hat auch der englische „Commercial Court“ mit Urteil vom 24.4.2018 unter Berufung auf die – u.a. von Malaysia übernommene – „Fiona Trust“-Regel bestätigt, und zwar zu einer der hiesigen Schiedsklausel ganz ähnlichen Klausel.30 Dort verwarf das Englische Handelsgericht die Rechtsmittel, welche Dreymoor Fertilisers Overseas PTE Ltd. (“Dreymoor“) nach Art. 67 und Art. 32 des englischen „Arbitration Act 1996“ eingelegt hatte.31 Biofuels Sdn Bhd [2013] 1 CLJ 993. See also PLB-KH Bina Sdn Bhd v. Hunza Trading Sdn Bhd [2014] 1 LNS 1074.].” https://thelawreviews.co.uk/edition/the-internationalarbitration-review-edition-9/1171752/malaysia - footnote-039. Quelle: Avinash Pradhan, Rajah & Tann Singapore LLP, Malaysia, in: The International Arbitration Review – Edition 9, Published: August 2018, abrufbar unter: https://thelawreviews.co.uk/edition/the-international-arbitration-review-edition-9/117 1752/malaysia Zu deutsch: „Malaysia verfolgt bei der Auslegung von Schiedsvereinbarungen einen weiten Ansatz. Die Zuständigkeitsvermutung zugunsten eines einzigen Forums nach Maßgabe des Urteils „Fiona Trust” – dass 'vernünftige Geschäftsleute vermutlich die Absicht hatten, jegliche Streitigkeit, welche aus einer Beziehung entsteht, welche sie eingegangen sind oder eingehen wollten, durch dasselbe Gericht entscheiden zu lassen'26 [Fn. 26: Fiona Trust & Holding Corporation and Others v. Privalov and Others [2007] 4 All ER 951, at 957.] – wurde in Malaysia gebilligt und übernommen.27 [Fn. 27: KNM Process Systems Sdn Bhd v. Mission Biofuels Sdn Bhd [2013] 1 CLJ 993. Siehe auch PLB-KH Bina Sdn Bhd v. Hunza Trading Sdn Bhd [2014] 1 LNS 1074.].“ https://thelawreviews.co.uk/edition/theinternational-arbitration-review-edition-9/1171752/malaysia - footnote-039. 28 So zur „Fiona Trust”-Regel Vorpeil, RIW 2010, 763, 776; Stein/Jonas/Schlosser, a.a.O., § 1029 ZPO Rn. 35 m.w.N. („Weltweit als Leitentscheidung wird das Urteil des House of Lords „Fiona Trust“ empfunden“). 29 So mit Bezug auf die „Fiona Trust“-Entscheidung G. Wagner, ZVglRW 2015, 494, 507 m.w.N. („[...] entspricht es allgemeiner Mei nung im nationalen und internationalen Schiedsverfahrensrecht, dass Schiedsvereinbarungen weit auszulegen sind und insbesondere auch deliktische Ansprüche erfassen, die mit dem Vertrag in Zusammenhang stehen…“). 30 Volltext unter: https://www.casemine.com/judgement/uk/5b2897e12c94e06b9e19c c7b. 31 Näher Nick Peacock u.a., am 18.5.2018 im Blog „Arbitration Notes“ von HSF London, abrufbar unter: https://hsfnotes.com/arbitration/2018/05/18/english-court-holds-that-arbitrationclauses-in-individual-sales-contracts-govern-the-disputes-arising-from-corruptarrangement-to-induce-the-contracts-when-an-umbrella-agent-agreement-is-silent-a/ #more-9511.

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Der Fall betraf die Auslegung und Anwendung von Schiedsgerichtsklauseln auf Streitigkeiten aus einer komplizierten Geschäftsstruktur mit zahlreichen Verträgen zwischen Eurochem Trading GMBH (“ECTG“), einem Hersteller von Düngemitteln, und Dreymoor, einer internationalen Handelsgesellschaft. Dreymoor griff die Zuständigkeit von Schiedsgerichten an, die in zwei Schiedsverfahren gebildet worden waren (ein LCIA-Schiedsgericht and ein ICC-Schiedsgericht), welche von ECTG gegen [Deymoor] eingeleitet worden waren, und zwar unter Berufung auf (1) eine enge Auslegung einer LCIA-Schiedsklausel im Sinne eines Ausschlusses außervertraglicher Ansprüche, welche von ECTG gegen sie erhoben wurden; und (2) darauf, dass keine Schiedsvereinbarung zwischen ECTG und Dreymoor im Hinblick auf das ICC-Verfahren bestand. Das Handelsgericht folgte der großzügigen Auslegung gemäß dem Urteil im Fall Fiona Trust & Holding Corporation v Privalov [2007] UKHL 40. Die LCIA-Schiedsklausel deckte „jegliche Streitigkeit oder Anspruch [ab], welche bzw. welcher aus diesem Vertrag entsteht“ ab. Diese Formulierung war weit genug, um die außervertraglichen Streitigkeiten zu erfassen, die ECTG vor dem LCIA-Schiedsgericht anhängig gemacht hatte, und der Rechtsbehelf nach Art. 67 wurde verworfen. Auch im Hinblick auf das ICC-Schiedsverfahren betonte das Gericht, dass der Wortlaut der Schiedsklausel sehr weit war und ausreichte, die Streitigkeiten mit Dreymoor zu erfassen, welche [in diesem Verfahren] anhängig gemacht wurden. Die auf Art. 32 gestützte Klage scheiterte daher ebenso. Die Entscheidung ergibt für die Auslegung der hier zu beurteilenden Schiedsklausel, dass sich diese auf konkurrierende gesetzliche Ansprüche zwischen Urteilsschuldnerin 2 und der Urteilsgläubigerin erstreckt. Es gibt keine Anhaltspunkte, weshalb derartige Ansprüche von der Zuständigkeit des Schiedsgerichts ausgenommen sein sollten. Insbesondere wurde das Fehlen eines Zusatzes nach Art einer Formulierung wie „oder im Zusammenhang mit diesem Vertrag“/“or in connection with this contract“ in der LCIA-Klausel nicht als Hinweis auf den Ausschluss außervertraglicher Anspüche gewertet. Dieser im Zweifel weiten Auslegung der Schiedsvereinbarung in Übereinstimmung mit der englischen „Fiona Trust“-Entscheidung entspricht auch die deutsche Rechtsprechung,32 weshalb sich insoweit feststellen lässt, dass das deutsche und das malaysische Recht denselben Grundsätzen folgen. Beide Rechtsordnungen liegen insoweit auf einer Linie mit dem „Fiona Trust“-Urteil des englischen House of Lords. 32 Weitbrecht, Schiedsklauseln und Kartellschadensersatz, SchiedsVZ 2018, 159, 160 („Zu den etablierten Grundsätzen der Auslegung vertraglich vereinbarter Schiedsklauseln nach §§ 133, 157 BGB gehört der Grundsatz der schiedsfreundlichen Auslegung. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz vor allem im Hinblick auf enge Schiedsklauseln entwickelt, denen auf diese Weise ein weiterer Anwendungsbereich eröffnet wurde.“ (mit Verweis auf „Fiona Trust“).

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VI. Fazit Die sachliche Reichweite einer Schiedsvereinbarung für aus dem Vertrag entstehende Streitigkeiten („dispute arising from the contract“) erstreckt sich nach § 1029 Abs. 1 ZPO auch auf konkurrierende außervertragliche Ansprüche zwischen den Parteien, soweit die schädigende Handlung in einem einheitlichen Lebensvorgang mit einer Vertragsverletzung steht. Der selben Leitlinie folgen auch das englische und das malaysische Recht. Im hiesigen Fallbeispiel (oben I.) besteht im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 1 wie auch im Verhältnis zur Urteilsschuldnerin 2 ein Anerkennungsversagungsgrund nach § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, da das indonesische Erstgericht die Klage wegen der Schiedsvereinbarung aus den beiden Verträgen zwischen der Urteilsgläubigerin und den beiden Urteilsschuldnerinnen hätte abweisen müssen. Wegen der zwischen den Parteien bestehenden Schiedsvereinbarungen waren die indonesischen Gerichte zum Erlass des Urteils international nicht zuständig (§ 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Eine etwaige Vollstreckungsklage (§ 722 ZPO) auf Basis des im indonesischen Ursprungsverfahrens ergangenen Urteils wäre unbegründet.

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Justitiae dilatio est quaedam negatio Justitiae dilatio est quaedam negatio Thomas R. Klötzel

Justitiae dilatio est quaedam negatio – Considerations on expedited arbitral procedures – THOMAS R. KLÖTZEL

I. II. III. IV.

Introduction . . . . . . . . Institutional Framework Issues . . . . . . . . . . . . . Conclusion . . . . . . . . .

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A fairly new tool in modern arbitration was the introduction by arbitration institutions all over the world of special rules for expedited procedures.1 The reason for adopting these new provisions was to offer users who were dissatisfied with long arbitration procedures and the resulting increase of costs („time is money“) an option to expedite the resolution of their disputes.2 The old dictum of “justice delayed is justice denied” articulates in a drastic manner the underlying rationale of these efforts. The following article will take a closer look to some aspects of expedited arbitration proceedings administered by the German Arbitration Institute („DIS“), the International Chamber of Commerce („ICC“) and the Singapore International Arbitration Centre („SIAC“) from the perspective of German law. The selection of these institutions may be considered somewhat arbitrary but it gives due regard to Roderich Thümmel’s abundant experience as an arbitrator sitting under the rules of arbitration of the ICC and DIS as well his always strong and valuable support of Thümmel, Schütze & Partner’s office in Singapore.

1 The earlier buzzword „fast track arbitration“ seems to have been phased out; as one of the major institutions worldwide, the Asian International Arbitration Centre („AIAC“) provides for stand-alone Fast Track Arbitration Rules, cf. https://www.aiac.world/wpcontent/arbitration/AIAC-Fast-Track-Arbitration-Rules-v3.pdf . 2 This is no particular modern trend. Expedited dispute resolution processes with brief procedures were already known in Venice between the 12th and 16th century in which decisions were rendered within very short time frames, cf. Blackaby/Partasides/Redfern/Hunter, in Redfern and Hunter “On International Arbitration”, 6th edition, 2015, para. 6.26.

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I. Introduction After presenting the regulatory framework and briefly analyzing the various options DIS, ICC and SIAC offer for expedited arbitral procedures (infra at II.), potential issues in connection with the recognition and enforcement of a final award rendered in an expedited arbitral process that may come up will be addressed with a focus on the protection of party autonomy and standard contract terms law mainly from the perspective of a German lex arbitri and German law being the proper law of the agreement to arbitrate (infra at III.). Finally, a conclusion will be made (infra at IV.). My starting point is a brief summary of the current state of the deliberations and decisions of Working Group II (Dispute Settlement) which was mandated by UNCITRAL to take up work on expedited arbitration.3 On 21st November 2019, and subsequent to the 70th Session (23rd–27th September 2019) of the Working Group prior to which a first draft had been circulated, an advance copy with an update of draft provisions on expedited arbitration was published.4 A further Note by the UNCITRAL Secretariat circulated on 22nd November 2019 illustrates how the draft provisions on expedited arbitration would be presented and should be read in conjunction with the commentary therein and presenting the provisions (i) as an appendix to the UNCITRAL Arbitration Rules and (ii) a stand-alone UNCITRAL text, following the structure of the UNCITRAL Arbitration Rules and their numbering.5 Prior to issuing these Notes, on 26th April 2019, the UNCITRAL Secretariat had circulated a questionnaire to arbitration institutions and related organizations from around the world. Responses were received from 23 institutions by the end of September 2019 including DIS and SIAC.6 The ICC is not in the list of institutions that have replied. Expedited arbitration is described as a streamlined and simplified procedure with a shortened time frame and the aim to reach a final resolution of the dispute in a cost- and time effective manner. Other procedures such as the emergency arbitrator and adjudication are not yet under consideration 3

Resolution adopted by the General Assembly on 20th December 2018, A/RES/73/197, sub 7, available in the internet at https://undocs.org/en/A/RES/73/197 . 4 A/CN.9/WG.II/WP.212 in the internet available at https://uncitral.un.org/sites/ uncitral.un.org/files/media-documents/uncitral/en/wp-212_for_website.pdf . 5 A/CN.9/WG.II/WP.212/Add.1, in the internet available at https://undocs.org/A/ CN.9/WG.II/WP.212/ADD.1 . 6 Responses to the UNCITRAL questionnaire on expedited arbitration, available in the internet at https://uncitral.un.org/sites/uncitral.un.org/files/media-docu ments/uncitral/en/responses_to_questionnaire_27_september.pdf .

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by the Working Group.7 In the deliberations, the preservation of due process and fairness were considered as being of crucial importance. The proposed provisions therefore must strike a balance between the efficiency of the arbitral proceedings and the rights of the parties to due process and fair treatment.8 A final determination as to how the applicability of the expedited arbitration provisions should be achieved has not yet been made. Making the expedited arbitration provisions an appendix to the existing UNCITRAL Arbitration Rules would do away with the need of the parties to explicitly consent to the applicability of the expedited arbitration provisions. The need to ensure user-friendliness may lead to the incorporation of the expedited arbitration provisions as an appendix to the UNCITRAL Arbitration Rules.9 From the various features of expedited arbitration, the Working Group proposed that the expedited proceedings should be conducted by a sole arbitrator considering that this permits costs savings, makes it easier for the arbitrator to handle the proceedings in a time efficient manner and removes scheduling difficulties that could arise in three-member tribunals. In spite of views that a sole arbitrator should be mandatory, the Working Group was of the opinion that expedited arbitration with more than one arbitrator did not create difficulties in conducting a speedier process. In particular, the Note proposes that an appointing authority should not have any role in determining the number of arbitrators.10 Apart from the constitution of the arbitral tribunal and the appointment process, well known and practised procedural tools such as the case management conference and the provisional timetable as well as time frames including admission of counterclaims and additional claims, the evidentiary process and the holding of oral hearings in expedited proceedings or alternatively taking a decision based on documents and other materials only are carefully analysed with the overall consideration to maintain party autonomy. The Working Group rejected the assumption that it is a characteristic feature of expedited proceedings that no hearing is held.11

II. Institutional Framework The issue that lies at the heart of any arbitral process is the constitution of the arbitral tribunal. The right of a party to participate in the constitution and composition of a panel is one of the most important advantages of arbi7

Cf. above fn. 5, para. 3, 5. Cf. above fn. 5, para. 12. 9 Cf. above fn. 5, para. 8, 11. 10 Cf. above fn. 5, para. 38 et seq. 11 Cf. above fn. 5, para. 92 et seq. 8

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tration.12 In a cross border context, it allows the parties to select a suitable impartial arbitrator who has the skills and expertise to deal with the demands of the relevant cultural and legal environment.13 Surrendering this freedom and delegating such power to an arbitral institution is an act that requires an informed decision. (1) DIS Effective as of 1st March 2018, the DIS Arbitration Rules 2018 came into force („DIS Rules“). Article 1.3 DIS Rules makes reference to its Annex 4 – Expedited Proceedings – which constitutes an integral part of the DIS Rules. Annex 4 substitutes the earlier Supplementary Rules for Expedited Proceedings which prior to the recent reform of the DIS Rules provided an independent regulatory framework distinguished from the DIS Arbitration Rules and had no practical relevance.14 Under the heading „Efficient Conduct of the Proceedings“, Article 27.4 DIS Rules requires the Arbitral Tribunal to discuss with the parties and with a view to increasing procedural efficiency inter alia the provisions of Annex 4 (Expedited Proceedings) in order to determine whether they should be applied. The respective provisions read as follows: Article 27 – Efficient Conduct of the Proceedings 27.4 During the case management conference, the arbitral tribunal shall discuss with the parties the procedural rules to be applied in the proceedings pursuant to Article 21, as well as the procedural timetable. With a view to increasing procedural efficiency, the arbitral tribunal shall specifically discuss the following with the parties: … (ii) the provisions of Annex 4 (Expedited Proceedings) in order to determine whether they should be applied; 12

Cf. the increasing criticism of the party nominated arbitrator – cf. e.g. Sundaresh Menon, “Judicator, Advocate or something in between? – Coming to Terms with the Role of the Party-appointed arbitrator – available in the internet at https://www.supremecourt. gov.sg/Data/Editor/Documents/CJ%20speech%20at%20CIArb%20Presidential%20Lect ure%202016.pdf [accessed 30th December 2019] must be rejected in the field of commercial arbitration. These concerns put the party nominated arbitrator under an unjustified general suspicion of „partiality“ and not only ignores the „balance of powers“ created by the right of the other party to nominate an arbitrator but also the role of the presiding arbitrator. 13 Cf. Blackaby/Partasides/Redfern/Hunter, op. cit. (fn. 2), para. 1.72 et seq. 14 Cf. Theune in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3rd ed. 2018, DISSchiedsgerichtsordnung, Art. 1 para. 15.

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Annex 4 – Expedited Proceedings Article 1 The final award shall be made at the latest six months after conclusion of the case management conference held pursuant to Article 27.2. Article 2 When establishing the procedure for the arbitration, and in particular when setting time limits, the arbitral tribunal shall at all times take into account the parties’ specific interest in accelerating the proceedings. Article 3 In addition to the Request pursuant to Article 5.1 of the Rules and the Answer pursuant to Article 7.2 of the Rules, each party may file only one further written Submission. In the case of a counterclaim pursuant to Article 7.5, one further written Submission in reply to the counterclaim may be filed. Article 4 The arbitral tribunal shall hold only one oral hearing, including for the taking of evidence. An oral hearing may be dispensed with if all parties so agree. Article 5 If the final award cannot be made within the time limit set in Article 1 of this Annex, the arbitral tribunal shall inform the parties and the DIS in writing of the reasons therefor. If such time limit is exceeded, the arbitral tribunal shall not for that reason cease to have jurisdiction, and the final award shall be made as soon as possible.

As follows from the response by DIS to the UNCITRAL-Questionnaire, the above approach is a compromise between the opt-in and the opt-out option for expedited proceedings. The aim was to avoid that proceedings are not expedited due to lack of choice by the parties at the time of making the agreement to arbitrate. No specific criteria such as a threshold value of the amount in dispute for application of the expedited proceedings or the number of arbitrators has been set.15 The DIS Statistics for the year 2018 show a total number of DIS proceedings of 162 cases. Out of that number, 102 proceedings were governed by the 2018 DIS Rules, 6 of which were Expedited Proceedings and further 3 proceedings were under the Expedited Proceedings and the Supplementary Rules for Corporate Disputes giving a total number of 9 expedited processes.16 The DIS Rules do not provide for a particular mechanism designed to deal with expedited proceedings. There is neither a threshold as regards the amount in dispute nor is there any compulsory provision allowing a party to invoke that its case be tried before a sole arbitrator. In the event 15

Cf. above fn. 6, p. 9, 27. Cf. http://www.disarb.org/upload/statistics/DIS-Statistics%202018.pdf . 16

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that the agreement to arbitrate does not determine the number of arbitrators, both parties may submit a request to the DIS that the arbitral tribunal be comprised of a sole arbitrator which will be decided by the DIS Arbitration Council after consultation with the other party. If no request for the appointment of a sole arbitrator has been made, or if a request was not granted, the arbitral tribunal shall be comprised of three arbitrators.17 There is no published or established practice giving guidance as to when the DIS Arbitration Council will grant a motion in favour of a sole arbitrator. A low amount in dispute or a simple subject matter of the controversy may be governing factors for the decision of the DIS Arbitration Council. Yet, in the event that the respondent after having been consulted by DIS on the claimant’s request objects to a sole arbitrator being appointed, then the default regulation that a panel of three arbitrators will hear the case shall apply.18 This is in conformity with § 1034 (1) German Civil Proceedings Act (“ZPO”) which codifies the principle of a three members panel in the event that the parties have not agreed the number of arbitrators.19 In particular in a cross border context and also considering the finality of an award, the collegial decision-making will normally provide the parties with a higher standard of correctness in establishing and evaluating the matrix of facts of a case and the resulting legal consequences under the applicable law.20 Unless otherwise agreed, the decision to adopt an expedited process under the DIS Rules therefore lies exclusively with the parties and the arbitral tribunal that has already been constituted. Neither DIS nor the claimant have means to speed up the arbitration proceedings once a dispute has become ripe for litigation by way of arbitration. It depends on the cooperation of the respondent. An arbitral tribunal will follow what the parties agree in that regard but has an inherent duty to propose to and encourage the parties to adopt measures to control time and costs of the arbitration proceedings. Yet, the principle of party autonomy is maintained under all circumstances. It requires a user to implement into the agreement to arbitrate means to speed up the proceedings such as a threshold amount for a dispute being tried in an expedited manner and/or being conducted before a sole arbitrator combined with the express incorporation by way of reference of Annex 4 to the DIS Rules into the arbitration agreement.

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Cf. Art. 10.2 DIS Rules. Cf. Theune, op. cit. (fn. 14), Art. 10 para. 3. 19 § 1034 (1) ZPO reads as follows: “The parties are free to determine the number of arbitrators. Failing such determination, the number of arbitrators shall be three.” 20 Cf. Theune, op. cit. (fn. 14), Art. 10 para. 6 et seq. 18

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(2) ICC A first element of expedited procedures was included in the 1998 ICC Arbitration Rules. Pursuant to the then Article 32 (1) the parties could agree to shorten the various time limits set out in the Rules.21 Thereafter, in 2002, the ICC Secretariat issued a practical „Note on Expedited ICC Arbitration Procedure“.22 The most recent amendment to the ICC Arbitration Rules effective as of 1st March 2017 („ICC Rules“), introduced an expedited procedure providing for a streamlined arbitration. The main characteristics thereof are (i) an automatic application to cases where the amount in dispute does not exceed USD 2 Mio. should the parties not have decided to opt out and (ii) the compulsory appointment of a sole arbitrator notwithstanding any contrary provision in the agreement to arbitrate. The respective provisions read as follows: Article 30 – Expedited Procedure (1) By agreeing to arbitration under the Rules, the parties agree that this Article 30 and the Expedited Procedure Rules set forth in Appendix VI (collectively the “Expedited Procedure Provisions”) shall take precedence over any contrary terms of the arbitration agreement. (2) The Expedited Procedure Rules set forth in Appendix VI shall apply if: (a) the amount in dispute does not exceed the limit set out in Article 1(2) of Appendix VI at the time of the communication referred to in Article 1(3) of that Appendix; or (b) the parties so agree. (3) The Expedited Procedure Provisions shall not apply if: (a) the arbitration agreement under the Rules was concluded before the date on which the Expedited Procedure Provisions came into force; (b) the parties have agreed to opt out of the Expedited Procedure Provisions; or (c) the Court, upon the request of a party before the constitution of the arbitral tribunal or on its own motion, determines that it is inappropriate in the circumstances to apply the Expedited Procedure Provisions. ICC Arbitration Rules Appendix VI – Expedited Procedure Rules Article 1 – Application of the Expedited Procedure Rules (1) Insofar as Article 30 of the Rules of Arbitration of the ICC (the “Rules”) and this Appendix VI do not provide otherwise, the Rules shall apply to an arbitration under the Expedited Procedure Rules. 21

Cf. Derains/Schwartz, A Guide to the New ICC Rules of Arbitration, 1998, p. 345 et seq. 22 Cf. Bühler/Heitzmann, The 2017 ICC Expedited Rules: From Softball to Hardball?, Journal of International Arbitration 34, No. 2 (2017), p. 121 et seq. (122).

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(2) The amount referred to in Article 30(2), subparagraph (a), of the Rules is US$ 2,000,000. (3) Upon receipt of the Answer to the Request pursuant to Article 5 of the Rules, or upon expiry of the time limit for the Answer or at any relevant time thereafter and subject to Article 30(3) of the Rules, the Secretariat will inform the parties that the Expedited Procedure Provisions shall apply in the case. (4) The Court may, at any time during the arbitral proceedings, on its own motion or upon the request of a party, and after consultation with the arbitral tribunal and the parties, decide that the Expedited Procedure Provisions shall no longer apply to the case. In such case, unless the Court considers that it is appropriate to replace and/or reconstitute the arbitral tribunal, the arbitral tribunal shall remain in place. Article 2 – Constitution of the Arbitral Tribunal (1) The Court may, notwithstanding any contrary provision of the arbitration agreement, appoint a sole arbitrator. (2) The parties may nominate the sole arbitrator within a time limit to be fixed by the Secretariat. In the absence of such nomination, the sole arbitrator shall be appointed by the Court within as short a time as possible. Article 3 – Proceedings (1) Article 23 of the Rules shall not apply to an arbitration under the Expedited Procedure Rules. (2) After the arbitral tribunal has been constituted, no party shall make new claims, unless it has been authorized to do so by the arbitral tribunal, which shall consider the nature of such new claims, the stage of the arbitration, any cost implications and any other relevant circumstances. (3) The case management conference convened pursuant to Article 24 of the Rules shall take place no later than 15 days after the date on which the file was transmitted to the arbitral tribunal. The Court may extend this time limit pursuant to a reasoned request from the arbitral tribunal or on its own initiative if it decides it is necessary to do so. (4) The arbitral tribunal shall have discretion to adopt such procedural measures as it considers appropriate. In particular, the arbitral tribunal may, after consultation with the parties, decide not to allow requests for document production or to limit the number, length and scope of written submissions and written witness evidence (both fact witnesses and experts). (5) The arbitral tribunal may, after consulting the parties, decide the dispute solely on the basis of the documents submitted by the parties, with no hearing and no examination of witnesses or experts. When a hearing is to be held, the arbitral tribunal may conduct it by videoconference, telephone or similar means of communication.

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Article 4 – Award (1) The time limit within which the arbitral tribunal must render its final award is six months from the date of the case management conference. The Court may extend the time limit pursuant to Article 31(2) of the Rules. (2) The fees of the arbitral tribunal shall be fixed according to the scales of administrative expenses and arbitrator’s fees for the expedited procedure set out in Appendix III. Article 5 – General Rule In all matters concerning the expedited procedure not expressly provided for in this Appendix, the Court and the arbitral tribunal shall act in the spirit of the Rules and this Appendix.

As follows from the ICC Dispute Resolution 2018 Statistics, out of the 842 new registered cases 96 opt-in requests were submitted in 2018 of which 22 were agreed to by the other party. In 2018, the expedited procedure with an arbitration agreement concluded after 1st March 2017 was applied in 19 cases. As of 1st April 2019, 70 cases have been or are being conducted under the expedited procedure provisions.23 With the introduction of Expedited Procedure, the ICC presumes in an abstract manner that if the amount in dispute does not exceed USD 2 Mio, a case is in principle eligible for an expedited process and that the parties have an interest in a speedy resolution.24 The Expedited Procedure Provisions (“EPP”) have no retroactive effect but do apply only to agreements to arbitrate made and entered into after 1st March 2017 (Art. 30 (3) (a) ICC Rules). As follows from Art. 30 (1) ICC Rules, the EPP shall take precedence over any contrary terms of the agreement to arbitrate unless the parties have opted out of the EPP in the arbitration agreement or at any time thereafter. An agreement to opt out should express in specific terms the parties’ intention not to subject themselves to the EPP. From the perspective of the ICC the mere reference of the parties in their agreement to arbitrate that a threemember arbitral tribunal should decide their dispute is not sufficient to exclude the appointment of a sole arbitrator under the EPP.25 Prior to the constitution of the arbitral tribunal, the ICC Court on its own motion or upon the request of a party may determine that under the given circumstances the application of the EPP may be inappropriate (Art. 30 (3) (c) ICC Rules). 23 Cf. ICC Dispute Resolution 2018 Statistics, p. 14, available for download at https:// iccwbo.org/media-wall/news-speeches/icc-arbitration-figures-reveal-new-record-casesawards-2018/ . 24 Schütt, Fast-track Arbitration: das neue beschleunigte Verfahren der ICC, SchiedsVZ 2017, p. 81 et seq. (83); see also Stretz, Das beschleunigte Verfahren unter Geltung der neuen ICC-Schiedsgerichtsordnung, GWR 2017, p. 89 et seq. 25 Cf. Note to the Parties and Arbitral Tribunals on the Conduct of the Arbitration under the ICC Rules of Arbitration as of 1st January 2019 (“Note”), para. 94, available for download at https://iccwbo.org/content/uploads/sites/3/2017/03/icc-note-to-parties-andarbitral-tribunals-on-the-conduct-of-arbitration.pdf .

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Art. 2 (1) of Appendix VI to the ICC Rules vests power and authority to the ICC Court to appoint a sole arbitrator notwithstanding any contrary provision of the arbitration agreement. It means that the parties by agreeing to the ICC Rules without any individual stipulation in their agreement to arbitrate have implicitly agreed that disputes having a value of USD 2 Mio or less shall be decided by a sole arbitrator.26 This provision has been criticised to ignore the express will of the parties in case a three-members panel having been stipulated which may therefore be qualified as a violation of the principle of party autonomy giving rise to the risk that a party may bring an action for setting aside an award under § 1059 (2) No. 2 (d) ZPO or may resist recognition and enforcement under § 1061 (1) ZPO read in conjunction with Art. V (1) (d) of the 1958 New York Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards.27 In the determination of the amount in dispute all quantified claims, counterclaims, cross-claims and claims will be taken into account. Claims relating to interest and costs will not be considered as well as non-monetary or declaratory claims the value of which cannot be estimated.28 A defense by way of set-off shall not be taken into account for the determination of the amount in dispute, but may – in exceptional circumstances – be accepted by the ICC Court if the application of the Expedited Procedure is considered not appropriate.29 Moreover, it should be noted that any decision made by the Secretariat or by the Court as to the amount in dispute in the context of the EPP does not bind the arbitral tribunal when deciding the merits of the case. The ICC also encourages the arbitral tribunal to take into account, in assessing costs pursuant to Art. 38 (5) ICC Rules, whether by artificially inflating its claims, a party has prevented the EPP from applying.30 One of the special features of ICC arbitration, viz. the establishment of the terms of reference under Art. 23 ICC Rules, does not apply in the Expedited Procedure. Art. 3 of Appendix VI to the ICC Rules requires a case management conference being held within 15 days after transmission of the file to the arbitral tribunal which may after consultation with the parties adopt suitable procedural measures such as the exclusion of a document production phase or limitations to the length and scope of written submission and testimony of witnesses and experts. An oral hearing is not mandatory even if a party makes a request to that effect nor must the arbitral tribunal hear witness or experts and the arbitral tribunal 26 Cf. Reiner/Petkutei/Kern in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3rd ed. 2018, ICC-Schiedsgerichtsordnung, Art. 30 para. 17. 27 Schütt, op. cit. (fn. 24), p. 84; Stretz, op. cit. (fn. 24), p. 91; see also infra at III. (3). 28 Cf. Note (fn. 25) at para. 97 et seq. 29 Cf. Reiner/Petkutei/Kern, op.cit. (fn. 26), Art. 30 para. 6. 30 Cf. Note (fn. 25) at para. 97 et seq. para. 103, 104.

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may decide the dispute on the basis of documents only.31 An award should be rendered within an extendable period of 6 months from the date of the 1st case management conference. The Expedited Procedure under the ICC Rules provides an efficient toolbox for the informed user who understands the mechanics and features of the arbitral process. Yet, for a party not experienced in arbitration it may be considered as an intrusion into the principle of party autonomy if an express agreement in a contract providing for a three-member panel is overruled by an institutional arbitration regime.32 The argument that the unmodified acceptance of the ICC Rules shows the will of the parties to accept the ICC Rules as they are which therefore take precedence over an agreement of the parties in their agreement to arbitrate as regards the number of arbitrators presupposes an informed user who has read and understood the ICC Rules. This position will have to be tested against the proper law of the agreement to arbitrate as well any compulsory provision of the curial law governing the arbitral proceedings as such. It seems that the drafters of the ICC Rules assumed a level playing field of parties who agreed to adopt an ICC arbitration. This may often not be the case. There is an element of surprise that an express agreement in writing is overruled by a regulation appearing in an appendix to an institutional framework for the conduct of arbitration proceedings. So far there is no reported case yet where a state court had to deal with an action to set aside or deny enforcement of an ICC award33 rendered under the Expedited Procedure on the ground that the EPP violated the rights of a party in connection with the constitution of the arbitral tribunal or the denial of the right to an oral hearing. Users are well advised to carefully consider suitable adjustments to the standard arbitration clause as recommended by the ICC34 taking into account a careful risk analysis of potential sce31 Cf. Reiner/Petkutei/Kern, op.cit. (fn. 26), Art. 30 para. 28; under a German lex arbitri a party may always compel the arbitral tribunal to hold an oral hearing unless the parties have agreed to a “documents only arbitration”, cf. Schütze in Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 11, 5th ed. 2020, § 1047 para. 9. The need to consult the parties under Art. 3 (5) of Appendix VI to the ICC Rules prior to a decision of the arbitral tribunal in that regard should be construed as a matter of precaution not as waiver of the right to “its day in court”. 32 Although not expressly addressed in the ICC Rules, the ICC Court is well advised to adopt as a matter of standing practice to hear the parties on the question whether a sole arbitrator or a three-member tribunal as agreed in the agreement to arbitrate should hear and decide the case, cf. Baumann in Weigand/Baumann, Practitioner’s Handbook on International Commercial Arbitration, 3rd ed. 2019, Country Report 16, Rules of Arbitration of the ICC, para. 16.798. 33 For a SIAC award see infra at III. (3). 34 Cf. The ICC Arbitration and Mediation Rules, pages 76/77, available for download in the internet at https://iccwbo.org/content/uploads/sites/3/2017/01/ICC-2017Arbitration-and-2014-Mediation-Rules-english-version.pdf.pdf .

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narios of controversies and disputes that may occur after the conclusion of a contract during performance and thereafter.35 (3) SIAC In 2010, SIAC introduced for the first time with the 2010 and 2013 SIAC Arbitration Rules provisions designed to achieve expedition and cost efficiency in all cases providing a screening role performed by the SIAC President who had authority and discretion to determine as to whether the SIAC expedited procedure should apply.36 Since 1st August 2016, the 6th edition of 2016 SIAC Arbitration Rules (“SIAC Rules”) are in force which provide in their Rule 5 for an Expedited Procedure. Key characteristics of the SIAC expedited procedure are the threshold of SGD 6 Mio. (= approx. EUR 4 Mio.) representing the aggregate of the claim, counterclaim and any defense of set-off37 and the authority of the SIAC President to take decisions concerning expedited procedure including the number of arbitrators. The respective Rule reads as follows: Rule 5: Expedited Procedure 5.1 Prior to the constitution of the Tribunal, a party may file an application with the Registrar for the arbitral proceedings to be conducted in accordance with the Expedited Procedure under this Rule, provided that any of the following criteria is satisfied: a. the amount in dispute does not exceed the equivalent amount of S$6,000,000, representing the aggregate of the claim, counterclaim and any defence of set-off; b. the parties so agree; or c. in cases of exceptional urgency. The party applying for the arbitral proceedings to be conducted in accordance with the Expedited Procedure under this Rule 5.1 shall, at the same time as it files an application for the proceedings to be conducted in accordance with the Expedited Procedure with the Registrar, send a copy of the application to the other party and shall notify the Registrar that it has done so, specifying the mode of service employed and the date of service. 5.2 Where a party has filed an application with the Registrar under Rule 5.1, and where the President determines, after considering the views of the parties, and having regard to the circumstances of the case, that the arbitral proceedings shall be conducted in accordance with the Expedited Procedure, the following procedure shall apply: 35

Cf. the helpful suggestions of Schütt, op. cit. (fn. 24), p. 89 et seq. Mangan/Reed/Choong, A Guide to the SIAC Arbitration Rules, 1st edition 2014, para. 6.03, 6.05. 37 Cf. Hirth in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3rd ed. 2018, Schiedsordnung Singapore (SIAC), Rule 5 para. 43, who emphasizes potential problems resulting from adding the value of a counterclaim and/or a set-off defense to the amount of the claim. 36

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a. the Registrar may abbreviate any time limits under these Rules; b. the case shall be referred to a sole arbitrator, unless the President determines otherwise; c. the Tribunal may, in consultation with the parties, decide if the dispute is to be decided on the basis of documentary evidence only, or if a hearing is required for the examination of any witness and expert witness as well as for any oral argument; d. the final Award shall be made within six months from the date when the Tribunal is constituted unless, in exceptional circumstances, the Registrar extends the time for making such final Award; and e. the Tribunal may state the reasons upon which the final Award is based in summary form, unless the parties have agreed that no reasons are to be given. 5.3 By agreeing to arbitration under these Rules, the parties agree that, where arbitral proceedings are conducted in accordance with the Expedited Procedure under this Rule 5, the rules and procedures set forth in Rule 5.2 shall apply even in cases where the arbitration agreement contains contrary terms. 5.4 Upon application by a party, and after giving the parties the opportunity to be heard, the Tribunal may, having regard to any further information as may subsequently become available, and in consultation with the Registrar, order that the arbitral proceedings shall no longer be conducted in accordance with the Expedited Procedure. Where the Tribunal decides to grant an application under this Rule 5.4, the arbitration shall continue to be conducted by the same Tribunal that was constituted to conduct the arbitration in accordance with the Expedited Procedure.

SIAC decided to incorporate the expedited procedure provisions into the SIAC Rules in order to provide to all parties in SIAC cases an option of utilizing these provisions in the event of a dispute. Since the inception of the SIAC expedited procedures in 2010 up to 31st May 2019 SIAC received 499 applications for expedited procedure out of which 291 applications have been accepted.38 Of 400 new cases handled by SIAC in 2018, 59 applications for expedited procedures were made of which 32 were accepted.39 Rule 5 SIAC Rules for the Expedited Procedure is not applied automatically. It requires an application of a party with the SIAC Registrar which has to be filed prior to the constitution of the arbitral tribunal. Normally, it will form part of the Notice of Arbitration which may include the Statement of Claim (Rule 3.2 SIAC Rules) or, if made by the respondent together with the Response to the Notice of Arbitration which may also include the Statement of Defence and a Statement of Counterclaim 38

Cf. above at fn. 6, p. 8, 18. Cf. SIAC Annual Report 2018, p. 14, available for download at https://www. siac.org.sg/images/stories/articles/annual_report/SIAC_AR2018-Complete-Web.pdf . 39

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(Rule 4.2 SIAC Rules). Upon receipt of an application for conducting the arbitration as expedited procedure, SIAC usually allows the other party to respond on such application within 14 days. The applicant for expedited procedure will then be invited to respond to any objections raised within 7 days.40 On the basis of the reasons submitted in support of the application including compliance with the general requirements stipulated in Rule 5.1 SIAC Rules and considering objections by the other party, if any, the SIAC President will determine whether the arbitral proceedings shall be conducted in accordance with the expedited procedure. Rule 5.2 (b) SIAC Rules provides for a determination by a sole arbitrator unless the SIAC President determines otherwise. In an unreported case administered by SIAC with an amount in dispute of some EUR 400,000 (= approx. SGD 600,000) and squarely within the threshold of SGD 6 Mio, the agreement to arbitrate provided for a three member tribunal unless the parties had agreed that the matter be tried before a sole arbitrator. Prior to the commencement of the arbitration proceedings, efforts of the claimant to agree on a sole arbitrator were unsuccessful. After service of the Notice of Arbitration cum Statement of Claim and Application for Expedited Procedure, the respondent remained silent on SIAC’s invitation to comment on the application for expedited procedure and also chose not to file a Response to the Notice of Arbitration. Within one month after the commencement of the arbitration proceedings, the SIAC President decided to appoint a sole arbitrator to hear the case.41 There is little guidance as to cases of „exceptional urgency“ mentioned in Rule 5.1 (c) SIAC Rules. Considering that the usual time frame for rendering a final award under the expedited procedure is six months from the date of constitution of the arbitral tribunal (Rule 5.2 (d) SIAC Rules) a prospective claimant may have difficulties to make consistent submissions in support of an „exceptional urgency“.42 The more appropriate mechanism normally seems to be an application for the appointment of an emergency arbitrator43 or an application for granting provisional relief to a competent state court. As far as the question of an oral hearing is concerned, Rule 5.2 (c) SIAC Rules requires the arbitral tribunal to hold a hearing for the examination of any witnesses/experts and oral argument unless the parties agree to 40

Mangan/Reed/Chong, op. cit. (fn. 36), para. 6.08. The case ended some four months later with a final award by consent in conformity with Rule 32.10 SIAC Rules. 42 Cf. Hirth, op. cit. (fn. 37) Rule 5 para. 45; see also Mangan/Reed/Choong, op. cit. (fn. 36), para. 6.14 et seq. 43 Cf. Chooh/Tan, Paper presented at the Inaugural SIAC Academy 2017 on Expedited Procedure, see at https://www.siac.org.sg/images/stories/photos/events/SIAC_Academy_ 2017/SIAC%20Academy%20Newsletter.pdf p. 8. 41

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have their dispute decided on the basis of documentary evidence only. In the event that a party insists on an oral hearing being held after consultation, the arbitral tribunal has to hold one even if this may be in conflict with the arbitral tribunal’s duty to ensure an expeditious and economical resolution of the dispute.44 In order to settle potential conflicts stemming from the stipulations of the arbitration agreement, Rule 5.3 SIAC Rules now states that the rules and procedures set forth in Rule 5.2 SIAC Rules including reference of the case to a sole arbitrator shall take precedence over the parties’ agreement of a three member arbitral tribunal stipulated in the agreement to arbitrate.45 Similarly to the ICC Rules, the expedited procedure under the SIAC Rules may therefore conflict with the principle of party autonomy by giving precedence of the SIAC Rules over an express agreement of the parties in their agreement to arbitrate. Users will therefore have to duly consider suitable additions to the SIAC Model Clause as suggested by SIAC. As opposed to the ICC, SIAC does not give any particular recommendations.

III. Issues In the following, one isolated issue shall be analyzed in form of a tour d’horizon from the perspective of German law i.e. the qualification of institutional rules of arbitration as standard terms in b2b-commercial contracts (infra at (1)) as well as the hierarchy of contractual stipulations in a contract which incorporates institutional arbitration rules by way of reference (infra at (2)). Thereafter, two cases from Singapore dealing with recourse against awards rendered in expedited proceedings, i.e. AQZ v. ARA46 and BXS v. BXT47 will be analysed. Finally, the conflicting decision of the Shanghai No. 1 Intermediate People’s Court in Noble Resources International Pte Ltd v Shanghai Good Credit International Trade Co., Ltd.(“the Noble-case”)48 shall be reported whereby the enforcement of a SIAC arbitral award issued by a sole arbitrator under the expedited procedure when the arbitration agreement provided for three arbitrators was refused (infra at (3)). (1) Standard Contract Terms Legislation Institutional rules of arbitration do only apply if the parties have agreed that they should govern their legal relationship. They are qualified as a pri44 45 46 47 48

Cf. Mangan/Reed/Choong, op. cit. (fn. 36), para. 6.27. Cf. Hirth, op. cit. (fn. 37), Rule 5, para. 53. [2015] SGHC 49. [2019] SGHC (I) 10. Decision dated 11th August 2017 in (2016) Hu 01 Xie Wai Ren No. 1.

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vate contract with procedural effects (“Prozessvertrag”).49 It is well settled in German law that procedural contracts also are subject to judicial control under the German standard contract terms legislation which is codified in §§ 305 et seq. German Civil Code (“BGB”).50 The procedural character of institutional arbitration rules does not exclude them from judicial review.51 This rule also applies in b2b-relationships.52 Two issues have to be distinguished, viz. the question whether the rules of arbitration of a particular institution have been validly incorporated into the contract and, if so, whether the institutional arbitration rules themselves are in compliance with the requirements under standard contract terms legislation.53 Case law has recognized that in b2b-contracts an agreement to arbitrate stipulated in standard terms does not – as a matter of principle – unreasonably disadvantage the other party under § 307 (1) BGB.54 In this judgment, the Federal Supreme Court held that in the given case access to the arbitral tribunal, the process of appointing the arbitrators as well as the arbitral proceedings have been settled in a fair manner.55 In a decision of the Munich Court of Appeal, it was held in a b2b-contract that the chosen arbitration rules of DIS did not contain any surprising or unusual rules shaping the arbitral process.56 A preliminary issue is the question which party has presented (“gestellt”) the standard terms according to § 305 (1) BGB i.e. the arbitration rules of a particular institution. According to the case law of the Federal Supreme Court, it is not required that the party presenting the standard terms has drafted these terms. It is sufficient that these standard terms on the initiative of a party or its agent have been introduced into the negotiations and that their application has been requested.57 The unilateral exploitation or usurpation of the freedom to contract by the party presenting the standard terms cannot be successfully argued in the event that their incorporation was the result of a free decision of the party who was confronted 49 Cf. Spohnheimer, Gestaltungsfreiheit bei antezipierten Legalanerkenntnis des Schiedsspruchs, 2010, p.104/105; Schütze, op.cit. (fn. 31) § 1025 para. 70. 50 MünchKomm/Basedow, Vol. 2, 8th edition 2019, § 305 para. 9; Palandt/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 79th edition 2020, § 305 para. 3. 51 Cf. Hau in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 6. Auflage 2013, Klauseln(S) para. S 3; Daniel Rodi in Staudinger, Buch 2, Anhang zu §§ 305–310, Neubearbeitung 2019, M23 et seq. 52 Schmidt in Ulmer/Brandner/Hansen, AGB-Recht, 12th edition 2016, (40) para 3; BGH NJW 1992,575 et seq.(576). 53 Cf. Hanefeld/Wittinghofer, Schiedsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, SchiedsVZ 2005, p. 217 et seq. (218). 54 Cf. BGH NJW 2005, p. 1125 et seq. (1126). 55 BGH (fn. 54), p. 1127. 56 Cf. Munich Court of Appeal – 34 SchH 10/13 dated 10 September 2013 at para. 58, available in the internet at https://openjur.de/u/645421.html . 57 BGH NJW 2016, 1230 et seq. (1231).

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with the proposal to include these terms. In that respect it is necessary that the addressee is free to select available standard terms and had the opportunity to introduce any proposal with the effective possibility of its successful inclusion into the agreement.58 For practical purposes, it seems that for example a negotiation and discussion of the parties as to which arbitral institution should administer a future dispute is sufficient to successfully submit that the set of institutional rules as finally recorded and agreed in the contract excludes a presentation (“Stellen”) by one party of such standard terms and that accordingly these terms will be outside the application of German standard contract terms law.59 The Federal Supreme Court in a recent judgment has recognized that in cross border contracts, arbitration clauses are common practice.60 Otherwise, from a German perspective, judicial control of the institutional arbitration rules may be exercised in subsequent proceedings. A term whereby the right to an oral hearing is waived may be qualified as “red light-clause” and be invalid.61 Likewise, where in connection with the constitution of an arbitral tribunal, small print stipulations (“Kleingedrucktes”) override the express agreement of the parties to a three-member tribunal by vesting authority to the arbitral institution to appoint a sole arbitrator under certain circumstances may affect the enforceability of an award.62 Arbitration rules must meet the standard set in § 307 (2) No. 1 BGB pursuant to which a standard term which is not compatible with essential principles of the statutory provisions from which it deviates is deemed to unreasonably disadvantage the other party.63 The duty of the court to give due regard in b2b-contracts to the practices and customs that apply in business dealings (§ 310 (1) Sentence 2 BGB) is setting a high benchmark to match as it requires to show a continuous, uniform and voluntary practice for comparable business transactions on the basis of a joint mutual understanding of the business participants.64 (2) The Will of the Parties and Hierarchy of Stipulations A further issue which has to be carefully analyzed is the potential conflict of an agreement of the parties that their dispute should be decided by three arbitrators when the expedited rules provide for the appointment of 58

BGH (fn. 57) p. 1231. See also Berger in FS Graf v. Westphalen, 2010, Schiedsgerichtsbarkeit und AGBRecht, p. 13 et seq.(22/23). 60 Order dated 9th May 2018 – I ZB 77/17 at para. 29. 61 Cf. Hanefeld/Wittinghofer, op. cit. (fn. 53), p. 228. 62 See above at fn. 10 the concerns of the UNCITRAL Working Group as regards a determination of the number of arbitrators by an appointing authority. 63 Hau, op. cit. (fn. 51) at para. S11. 64 Basedow, op. cit. (fn. 50), § 310 para. 20. 59

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a sole arbitrator as provided for in the ICC and SIAC expedited procedure rules. In general, it can be argued that institutional arbitration rules are leges speciales which take precedence over a conflicting general rule in the agreement to arbitrate stipulated in the contract. Yet, the will of the parties when they have entered into the agreement to arbitrate is the determining element for the interpretation of a particular stipulation. The Standard ICC Arbitration Clause provides for final settlement of a dispute “by one or more arbitrators appointed in accordance with the said rules”.65 In a situation where the parties have expressly agreed the appointment of three arbitrators in connection with an ICC arbitration, it is arguable that the agreement to a three-member tribunal is not only made for a regular ICC arbitration but also for the expedited procedure.66 The express deviation from the Standard ICC Arbitration Clause may be considered as a general limitation of the powers of the ICC in connection with the constitution of the arbitral tribunal. The SIAC Model arbitration clause does not provide for a number of arbitrators. Rule 9.1 SIAC Rules stipulates that in the absence of an agreement between the parties on the number of arbitrators, the default position is that a sole arbitrator will be appointed.67 It means that the express agreement on a three-member tribunal is the clear expression of the will of the parties that at the time of entering into their contract they were of the joint opinion that the dispute be decided by three arbitrators. This understanding must be balanced against Rule 5.3 SIAC Rules giving precedence to the rules and procedures set forth in Rule 5.2 SIAC Rules allowing a determination of the SIAC President to refer the case to a sole arbitrator. In a situation, where a party insists on a three-member arbitral tribunal being appointed as agreed, the SIAC President is well advised after having heard the parties and looked into the circumstances of the case to adopt a cautious approach and to carefully scrutinize the arguments raised by the party objecting against the appointment of a sole arbitrator. A further aspect must also be taken into consideration: Typically, crossborder contracts consist not only of one single document with an arbitration clause. Annexes, Schedules, Exhibits, ancillary agreements and the like form part of the contractual relationship of the parties. Practice shows that the main contract which often records the arbitration agree65

Cf. fn. 34, p. 76. Cf. Stretz (fn. 24), p. 91, who proposes that the agreement of three arbitrators may be qualified as a general agreement disconnected from a regular ICC arbitration or an expedited procedure and that the agreement of a three-member panel should be construed in such manner that it only applies in regular ICC proceedings and that the expedited procedure via Appendix VI to the ICC rules is a separate agreement in favour of a sole arbitrator. 67 Mangan/Reed/Choong, (fn. 36) para 7.02. 66

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ment of the parties also contains a stipulation as regards the priority of the contractual stipulations as set out in different documents. Typically, in case of conflicting provisions, the main contract takes precedence over any attachment to it. This agreement may also take effect to any conflicting provisions contained in institutional arbitration rules incorporated into the contract by reference. For practical purposes it will therefore be necessary to show that the parties were aware of the various features of a particular set of institutional arbitration rules including special mechanisms for an expedited procedure including the appointment of a sole arbitrator which may override the agreement to have a three-member panel hearing and deciding their dispute. The crucial question („Gretchen-Frage“) therefore is, as always, what was the will of the parties when entering into their agreement. Answering this question depends on the circumstances of each individual case. The argument that arbitration conducted before a sole arbitrator is less expensive and quicker than the resolution of the dispute before a three-member tribunal has weight. Yet, the parties could have agreed in their agreement to arbitrate individual thresholds taking into account the circumstances of the case. The thresholds of USD 2.0 Mio (ICC) and SGD 6.0 Mio (SIAC) represent substantial amounts of money. Users on both sides of the negotiating table in particular in a cross-border context should be aware that they eventually surrender their right to participate in the composition of an arbitral tribunal which shall decide a dispute that may have considerable impact on the business of either party. They should also duly consider the risk that an award may be attacked by the unsuccessful party if an arbitral process was conducted speedily and efficiently by a sole arbitrator eventually even without an oral hearing because a success before the arbitral tribunal may turn into a bitter defeat before a state court. (3) Reality Test From the perspective of a German lex arbitri an award has amongst the parties the effect of a final and conclusive judgment (§ 1055 ZPO). Yet, an award becomes a worthless but often expensive work product in the event that it is successfully set aside or the award debtor successfully resists recognition and enforcement of the award. No matter how efficient, fast and economical the arbitration proceedings may have been conducted by the parties and the arbitral tribunal, the reality shows that an unsuccessful party who is dissatisfied with the outcome of the arbitration proceedings may seek recourse against the award and breach its obligation to carry out any award once it has been issued and served.68 Any procedure adopted 68

Cf. Article 35 (6) Sentence 2 ICC Rules; Rule 32.11 Sentence 1 SIAC Rules.

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for streamlining the arbitral process will therefore have to be measured against the legal reality practiced by the state courts at the seat of the arbitration proceedings which have curial supervision over the arbitration conducted within their jurisdiction or any future enforcement court which has to deal with an award debtor resisting recognition and enforcement of an award. Two cases from Singapore and one case from China have rendered conflicting decisions in that regard, all in connection with arbitration proceedings administered by SIAC. (a) The Singapore Cases Subject matter of AQZ v. ARA69 were two supply contracts regarding the sale and purchase of Indonesian coal. Supplier was a Singapore company and buyer was the Singapore subsidiary of an Indian conglomerate. The contracts included an arbitration clause to the effect that „… the dispute shall be finally settled by arbitration upon the written request of either party hereto in accordance with the Rules of Conciliation and Arbitration of the Singapore International Arbitration Centre (SIAC) by three arbitrators (my emphasis) in English language“. The buyer started arbitration proceedings and applied for the arbitration to be conducted under the expedited procedure. The supplier challenged the existence of an arbitration agreement and objected to the expedited procedure. After having heard the parties, the SIAC President finally appointed a sole arbitrator to conduct an expedited procedure. An award was rendered and the supplier made an application to have the award reversed and/or wholly set aside based on two grounds viz. a jurisdictional challenge and a second challenge to the expedited procedure and the appointment of one arbitrator instead of three. In a thoroughly reasoned judgment the High Court (Judith Prakash J. as she then was) in interpreting the SIAC Rules 2010 together with the rest of the contract purposively decided as regards the second challenge: „I am of the view that „express assent“ … is not necessary for the expedited procedure provision to override the parties’ agreement for arbitration before three arbitrators.“ 70 … 69 Rule 39 SIAC Rules stipulates confidentiality of the arbitral process. Sect. 22, 23 of the Singapore International Arbitration Act maintain the confidentiality of arbitration proceedings in supporting proceedings before the state courts such as enforcement proceedings and do also restrict the reporting on cases including the identity of any party to the proceedings. 70 Fn. 46, at para. 132.

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„In the present case the supplier objected to the arbitration being heard pursuant to the expedited procedure provision. However, it only objected on the grounds that the parties had not agreed to the application of this procedure and that there was no exceptional urgency requiring the matter to be heard on an expedited basis.“71 … „Even if the supplier is correct in its submission that the arbitration should not have been conducted before a sole arbitrator, the supplier has not discharged its burden of explaining the materiality or the seriousness of the breach nor has it demonstrated that is suffered any prejudice as a result of the arbitral procedure that was adopted.“72

The second case in BXS v. BXT was a dispute under a share purchase agreement („SPA“) between a Thai listed company and a Mauritius registered investment company. The matter was transferred from the High Court to the Singapore International Commercial Court („SICC“)73. Subject matter was an application to set aside a final award on three different grounds one of which was a complaint that the award was made by a sole arbitrator instead of by a tribunal of three arbitrators contrary to the arbitration agreement. The Thai plaintiff had commenced arbitration under the auspices of SIAC in conformity with the agreement to arbitrate which stated that a dispute „… shall be exclusively and definitely settled by arbitration pursuant to the Rules of the Singapore International Arbitration Centre (the Rules), by three arbitrators (my emphasis) appointed according to the Rules.“ On application of the defendant, the SIAC President appointed a sole arbitrator who after inter alia hearing the parties’ experts on Thai law dismissed the claim and ordered the unsuccessful plaintiff to the pay the defendant the costs of arbitration including SIAC’s costs, i.e. the sole arbitrator’s fees and SIAC’s administrative expenses. In support of its complaint that a sole arbitrator decided instead of a panel of three arbitrators the plaintiff argued inter alia that at least one arbitrator should have had knowledge of Thai law and that the sole arbitrator misapplied Thai law. The SICC did not allow that argument considering that the 2016 SIAC Rules were incorporated by reference into the arbitration agreement as stipulated in the SPA. In the words of Anselmo Reyes, International Judge: 71

Fn. 46, at para. 134. Fn. 46, at para. 136. 73 Since 1st November 2018 the SICC has jurisdiction to hear all cases in connection with international commercial arbitration (Sec. 18D Supreme Court of Judicature Act, cf. Klötzel/Vieweger Länderbericht Singapur, RIW 2019, 649 et seq. (656). 72

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„By Rule 5.3 (SIAC Rules, my addition) the parties accepted that, where arbitral proceedings are conducted in accordance with the expedited procedure, Rule 5.2 (which allows the SIAC President to direct that an arbitration use the expedited procedure under a sole arbitrator) will be applicable even in cases where the arbitration agreement contains contrary terms (such as that the tribunal is to consist of three persons). Thus, the fact that the arbitration was heard by a sole arbitrator under the expedited procedure did not contravene the parties’ arbitration agreement.74

Looking at the language of the stipulation for three arbitrators and addressing the argument of the plaintiff that the SIAC Rules … „cannot retrospectively amend the substantive right of the parties (to have three arbitrators under the arbitration agreement“ the SICC held: „In my view the words are insufficient to override Rule 5.3. If parties wish to insist on three arbitrators whatever later additions of the SIAC Rules may provide, they have to signal such intention much more clearly (my emphasis). That might be done (for instance) by expressly stating that the parties agree that in all instances a panel of three arbitrators is to be appointed and, subject to that overriding mandatory requirement, the parties agree to abide by the SIAC Rules. In other words, to avoid a chicken-andegg-debate as to whether an arbitration agreement trumps or is trumped by a contrary provision (such as Rule 5.3) in some present or future version of the SIAC Rules, parties need to make it explicit that they are adopting only those provisions of any current or future version of the SIAC Rules that do not contradict a mandatory requirement stipulated in the parties’ arbitration agreement. In using the looser formulation of words in Clause 19 (of the SPA, my addition) the plaintiff must be taken to have accepted to be bound by whatever modifications might be made to the SIAC Rules following the date of the SPA including the introduction of Rule 5.3 to the 2016 Rules.75

When referred to the Noble-Case, where the Shanghai Enforcement Court refused to enforce a SIAC award which had been decided by a sole arbitrator under SIAC’s expedited procedure because the parties’ arbitration agreement expressly provided for three arbitrators, the SICC was of the opinion that the Noble-Case was on the 2013 SIAC Rules which did not include what is now Rule 5.3 SIAC Rules. A possible earlier ambiguity has been settled with the 2016 SIAC Rules introducing Rule 5.3 SIAC Rules which expressly has the effect of overriding a stipulation for three arbitrators when the SIAC President directs the expedited procedure and appoints a sole arbitrator.76 These two decisions of the Singapore courts demonstrate the arbitration friendly environment in Singapore. Whilst in AQZ v. ARA the 74 75 76

Fn. 47, at para. 12. Fn. 47, at para. 13. Fn. 47, at para. 14.

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subsequent behavior of a party in the course of the arbitration proceedings had considerable weight, in BXS v. BXT the SICC adopted a lex specialis argument by giving precedence to the SIAC Rules over a contrary provision in the agreement to arbitrate whereby the SIAC Rules were incorporated into the legal relationship of the parties. (b) The Noble-Case Subject matter of the Noble-Case was a supply contract entered into between Noble Resources International Pte. Ltd. („Noble“) as seller and Shanghai Xintai International Trade Company („Xintai“) as buyer for the sale and purchase of iron ore.77 The supply agreement had a dispute resolution clause incorporating the SIAC Rules of Arbitration then in force (i.e. the 2013 SIAC Rules) and also included a stipulation that the tribunal shall be composed of three arbitrators. A dispute arose. Noble started arbitration proceedings and applied for the expedited procedure under Rule 5 of the 2013 SIAC Rules. The application was granted and when the parties did not agree on a mutual appointment of the sole arbitrator, SIAC made an appointment. Thereafter, Xintai did no longer participate in the arbitration. A final award was issued ordering Xintai to pay some USD 1.6 Mio. plus interest and costs. Xintai did not honor the award and Noble started an application for recognition and enforcement at the Shanghai No. 1 Intermediate People’s Court. The Shanghai Court accepted the case and formed a collegial panel to review the matter. On 11th August 2017 the enforcement court refused recognition and enforcement of the award subsequent to the internal review process under which an intermediate People’s Court intending to refuse recognition and enforcement of a foreign arbitral award must prior to its decision report such intention to the Supreme People’s Court.78 Therefore, it is fair to say that the Noble-Case reflects the view of China’s highest court on the relevant issue. Looking into the reasons of the Shanghai Court, it was accepted that the reference in the arbitration agreement validly incorporated the 2013 SIAC Rules and that in view of the threshold of then SGD 5 Mio. the 77 I am grateful to Shi Hong and Liu Yang of Fangda Partners, Shanghai, for sharing with me an internal English translation of a note on the Noble-Case. An English translation of the judgment in the Noble-Case is not available. Dr. Yedan Li of the China Desk of Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart, was kind enough to go with me through the reasoning of the Shanghai Court in the Noble-Case. 78 Notice of the Supreme People’s Court on the Handling of Issues Concerning Foreign-related Arbitration and Foreign Arbitration by People’ Courts, FaFa [1995] No. 18; see also Stricker-Kellerer/Peter Yuen in Conrad/Münch/Black-Branch, International Commercial Arbitration, Standard Clauses and Forms, 2013, Country Report China at para. 7.6.

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parties “had not opted out” the expedited procedure and that Nobel’s written request for an expedited procedure therefore was in conformity with the arbitration agreement. The Shanghai Court then addressed the question whether the composition of the tribunal was in accordance with the agreement of the parties. The Enforcement Court was of the opinion that SIAC’s decision to refer the case to a sole arbitrator was contrary to the agreement of the parties because the 2013 SIAC Rules did not exclude the possibility to have a tribunal under the expedited procedure constituted other than in form of a sole arbitrator. Secondly, the 2013 SIAC Rules did not empower SIAC to appoint a sole arbitrator notwithstanding the agreement of the parties stipulating otherwise. The language of Rule 5.2 (b) 2013 SIAC Rules which authorizes the SIAC President to determine otherwise cannot be construed as empowering the SIAC President to have discretionary authority as to the constitution of the arbitral tribunal. In exercising the powers as regards the constitution of the arbitral tribunal, SIAC as the institution should defer to the parties’ consensus in that regard in order to safeguard party autonomy. On these grounds, recognition and enforcement of the SIAC was refused under Article V (1) (d) of the New York Convention because the composition of the arbitral tribunal was not in accordance with the agreement of the parties. Looking at the reasons of the Noble-Case, the decision might have been different if Rule 5.3 SIAC Rules had already been part of the governing institutional arbitration regime. The aspect of safeguarding party autonomy as expressed by the parties in the arbitration clause and its construction remains the decisive issue. Yet, incorporating the SIAC Rules which stipulate priority over contrary terms in the agreement to arbitrate is an act of party autonomy also. The question that has to be decided on a case-to-case basis is what has priority in case of a dispute.

IV. Conclusion In modern times, the dictum of “in judicando criminosa est celeritas” („in judging speed is a crime“) certainly can no longer be maintained. Yet, in arbitration proceedings where the arbitral tribunal is the one and only instance to decide the merits of the case and the curial supervision does not allow a révision au fond, the dictum of deliberandum est diu quod statuendum est semel („what has to decided once and forever should be deliberated in sufficient time“) still has considerable value. Nowadays where quality control is at the order of the day, good, fast and cheap dispute resolution may

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indeed “appear to be like the search for the Holy Grail”.79 Looking at the present state of the discussions and negotiations at UNICTRAL it seems that a more cautious approach should be adopted to balance the principle of party autonomy against the interest of the users to have an efficient and economical mechanism for the resolution of their disputes. The future will show whether SIAC and the ICC with their robust approach have struck the right balance.

79

Cf. Bühler/Heitzmann, op. cit. (fn. 22), p. 146.

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Wechselseitige Rücksichtnahmepflichten der Versicherer

Wechselseitige Rücksichtnahmepflichten der Versicherer Robert Koch

Wechselseitige Rücksichtnahmepflichten der Versicherer in der Exzedentenversicherung ROBERT KOCH

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirkungsweise der Exzedentenversicherung im Schadensfall 1. Beispielhafte Vertragskonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inanspruchnahme im Deckungsumfang der Grundversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inanspruchnahme überschreitet Deckungsumfang der Grundversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anknüpfungspunkte für Rücksichtnahmepflichten des Grundversicherers gegenüber dem Exzedenten . . . . . . . . . 1. Mehrfachversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verteilungsverfahren gem. § 109 VVG . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesellschaft bürgerlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorvertragliches Schuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Einbeziehung des Exzedenten in den Grundversicherungsvertrag nach den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Jubiliar ist in seinem Beitrag in der Festschrift Schütze II zur Organhaftung und D&O-Versicherung in der schiedsgerichtlichen Praxis auch auf die Exzedentenversicherung eingegangen.1 Bei der Exzedentenversicherung handelt es sich um eine besondere Form der mehrfachen Versicherung, bei der ein und dasselbe Interesse des Versicherungsnehmers und/oder einer versicherten Person gegen dieselbe Gefahr durch mehrere Versicherer versichert ist. Im Unterschied zur klassischen (horizontalen) Mitversicherung, bei der sich mehrere Versicherer einvernehmlich quotal an einer Gesamtversicherungssumme beteiligen und im Schadensfall entsprechend ihres Anteils nebeneinander haften, sind die Versicherer bei der Exzedentenversicherung 1

Thümmel in FS Schütze II (2015), S. 633, 639.

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auf der Grundlage der Grundversicherungsbedingungen („following form“) jeweils erst nach Ausschöpfung der Versicherungssumme des vorangehenden Versicherers („attachment point“) einstandspflichtig.2 An einem solchen gestaffelten Versicherungsschutz ist neben dem Grund-/ Primärversicherer mindestens ein weiterer Versicherer (Exzedent) beteiligt. In Abhängigkeit von der Höhe der vom Versicherungsnehmer gewünschten Gesamtversicherungssumme kann eine Exzedentenversicherung aus einer Vielzahl von Versicherern bestehen, bildlich gesprochen besteht ein Versicherungsturm, der aus mehreren Schichten besteht („Layers“). Vielfach beteiligen sich mehrere Versicherer an einem „Layer“, so dass eine klassische Mitversicherung vorliegt, bei der die an dem „Layer“ beteiligten Versicherer anteilig für den Betrag haften, der die Deckungssumme des vorangehenden Versicherers übersteigt.3 Die Organisation eines Exzedentenversicherungsprogramms obliegt dem Makler.4 Im Unterschied zur horizontalen Mitversicherung gibt es typischerweise keine Abreden über eine „layer“-übergreifende Führung des Programms (vertikale Führungsklausel).5 Ob die Beteiligung am Turm als Grundversicherer und/oder Exzedent wechselseitige Rücksichtnahmepflichten im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB begründet, ist unklar.6 Der Jubiliar hat sich in seinem Festschriftbeitrag vorsichtig dafür ausgesprochen.7 Die Frage ist nicht nur von Bedeutung, wenn die Haftpflichtansprüche eines einzelnen Geschädigten oder bei Kostenanrechnung die Haftpflichtansprüche zusammen mit den Kosten der Anspruchsabwehr über die Grundversicherungssumme hinausgehen; sie stellt sich auch dann, wenn es bei mehreren Geschädigten zu einem Kürzungs- und Verteilungsverfahren gemäß § 109 VVG kommt. Betroffen ist auch die D&OVersicherung, weil es im Fall der Inanspruchnahme mehrerer versicherter Personen, die nicht als Gesamtschuldner haften, zu einem Kürzungs- und Verteilungsverfahren nach den Grundsätzen des § 109 VVG entweder im Wege der Analogie oder als Ergebnis ergänzender Vertragsauslegung kommt.8 2 Zur Ausgestaltung der Exzedentenversicherung s. Henning Grundlagen der Exzedentenversicherung, 2020, S. 35 ff.; Knöfel VersR 2018, 513; ders. ZIP 2018, 1814 ff.; Schaloske PHi 2012, 166 ff.; Thürmann in FS 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e. V., 2016, S. 505 ff.; Drave VP 6/2017, 35 ff.; Herdter VP 2012, 201 ff.; Lange D&O-Versicherung und Managerhaftung, 2014, § 4 Rn. 29 ff. 3 Henning (Fußn. 2) S. 35; Thürmann (Fußn. 2) S. 506; Schaloske PHi 2012, 166, 167. 4 Henning (Fußn. 2) S. 56; vgl. Drave VP 6/2017, 35, 37; Schneider RuS 2012, 417; Wiegels ZfV 2010, 252, 253. 5 Thürmann (Fußn. 2) S. 510. 6 Bejahend Knöfel ZIP 2018, 1818 (aus einem „Näheverhältnis eigener Art“); zweifelnd Langheid in Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 77 Rn. 7. 7 Thümmel (Fußn. 1), S. 639. 8 Knöfel ZIP 2018, 1814, 1822; R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 109 Rn. 33 ff.; ders. VersR 2016, 1469 ff.

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Sollten Rücksichtnahmepflichten bestehen, stellt sich die Folgefrage, welchen Inhalt sie haben. Bevor diesen Fragen nachgegangen wird, wird die Wirkungsweise der Exzedentenversicherung im Schadensfall näher aufgezeigt. Aus Vereinfachungsgründen beschränkt sich die Darstellung auf die Grunddeckung und einen darüber liegenden „Layer“.

II. Wirkungsweise der Exzedentenversicherung im Schadensfall 1. Beispielhafte Vertragskonstellation Im Rahmen eines Produkthaftpflicht-Exzedenten-Versicherungsprogramms in Höhe von insgesamt 40 Mio. EUR beläuft sich die Versicherungssumme des Grundversicherers auf 20 Mio. EUR je Versicherungsfall und je Versicherungsperiode. Darauf folgt der Exzedent in Höhe von ebenfalls 20 Mio. EUR im Anschluss an die 20 Mio. EUR der Grundversicherung (20 Mio. EUR xs. 20 Mio. EUR). In dem Versicherungsvertrag mit dem Exzedenten ist „following form“ vereinbart. Zudem trifft die Versicherungsnehmerin die Obliegenheit, dem Exzedenten jeden Versicherungsfall anzuzeigen, selbst wenn die Höhe der Inanspruchnahme die Grunddeckung nicht übersteigt. Es existiert keine Führungsklausel zugunsten des Grundversicherers. Jedoch sehen die Versicherungsverträge mit dem Exzedenten vor, dass er der Auslegung des Grundversicherers folgt, soweit es um Fragen der Deckung geht.9 2. Inanspruchnahme im Deckungsumfang der Grundversicherung a) Summendifferenzdeckung aa) Grundversicherer entscheidet sich für Freistellung der Versicherungsnehmerin Wird die Versicherungsnehmerin von einem Geschädigten innerhalb der Grunddeckung in Anspruch genommen, prüft der Grundversicherer die Begründetheit des Haftpflichtanspruchs und entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob er den Haftpflichtanspruch abwehrt oder befriedigt.10 Haftet der Exzedent nur innerhalb der Haftungsstrecke (Summendifferenzdeckung), wird er durch Entscheidungen des Grundversicherers nicht berührt. Wird die Versicherungsnehmerin innerhalb derselben Versicherungs9 Zur Bedeutung der Vereinbarung einer Auslegungsfolgepflicht s. Henning (Fußn. 2) S. 105 f. 10 Grundlegend R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 100 Rn. 85 ff.

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periode ein weiteres Mal in Anspruch genommen, ist der Exzedent nur dann eintrittspflichtig, wenn die zweite Inanspruchnahme den Betrag der Grundversicherungssumme übersteigt.11 bb) Grundversicherer entscheidet sich für Abwehr des Haftpflichtanspruchs Die Entscheidung für die Anspruchsabwehr berührt die Eintrittspflicht des Exzedenten grundsätzlich nicht, weil der Grundversicherer nach § 101 Abs. 2 S. 1 VVG die Kosten der Anspruchsabwehr trägt. Anders liegt der Fall, wenn sich die Haftung der Versicherungsnehmerin gegenüber dem Anspruchssteller aufgrund des Regulierungsverhaltens des Grundversicherers im Rahmen der Anspruchsabwehr erhöht und der Haftpflichtanspruch deshalb die Grundversicherungssumme übersteigt.12 Ein zögerliches oder kleinliches Regulierungsverhalten wirkt nach der Rechtsprechung dann schmerzensgelderhöhend, wenn es sich um ein vorwerfbares oder jedenfalls nicht nachvollziehbares Verhalten handelt, das geeignet ist, das gem. § 253 BGB geschützte Interesse des Gläubigers zu beeinträchtigen, etwa weil die Haftung dem Grunde nach unstreitig ist.13 Macht der Versicherer trotz klarer Haftungslage einen Schmerzensgeldanspruch von einem Abfindungsvergleich für sämtliche, auch zukünftige Forderungen abhängig, kann dieses Verhalten ebenfalls zu einer Erhöhung der Bemessung des Schmerzensgeldes führen.14 Gleiches gilt für das Zurückhalten einer Zahlung durch den Versicherer trotz rechtskräftiger Verurteilung des Schädigers.15 Hier ist der Exzedent gegenüber der Versicherungsnehmerin verpflichtet, den nunmehr über die Grundversicherungssumme hinausgehenden Haftpflichtanspruch zu befriedigen und insoweit die Kosten der Anspruchsabwehr zu tragen. cc) Kostenanrechnung Ist abweichend von § 101 Abs. 2 S. 1 VVG Kostenanrechnung vereinbart,16 ist der Exzedent eintrittspflichtig, wenn die Kosten der (erfolglosen) Anspruchsabwehr zusammen mit dem Betrag, der der Befriedigung des Geschädigten dient, oder allein die Abwehrkosten die Grundversicherungs11

Henning (Fußn. 2), S. 60 f.; Schaloske PHi 2012, 166, 170. R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG Vor §§ 100–112 Rn. 82. 13 Vgl. nur OLG Saarbrücken NJW 2011, 933, 936; OLG Nürnberg, NZV 2007, 301, 303; OLG Rostock BeckRS 2009 17810; OLG Naumburg NZV 2002, 459; OLG Karlsruhe NJW 1972, 814, 815; vgl. auch OLG Köln BeckRS 2012 14534; offengelassen von BGH, RuS 2005, 528, 530 bei zögerlichem Regulierungsverhalten. 14 Vgl. OLG Naumburg NZV 2002, 459 (Revision nicht angenommen von BGH 18.6.2002, VI ZR 380/01); LG Berlin NJW 2006, 702 f. 15 Vgl. OLG Naumburg NJW-RR 2008, 693, 694; OLG Frankfurt/M. NJW 1999, 2447, 2247 f. 16 Hierzu s. R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 101 Rn. 67 ff.; Werber VersR 2014, 1159 ff. 12

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summe übersteigen. In dieser Konstellation hat das Regulierungsverhalten des Grundversicherers ebenfalls Auswirkungen auf die Eintrittspflicht des Exzedenten. dd) Mehrere Geschädigte Ist die Versicherungsnehmerin gegenüber mehreren Dritten verantwortlich und übersteigen deren Ansprüche die Versicherungssumme, hat der Grundversicherer diese Ansprüche gem. § 109 S. 1 VVG nach dem Verhältnis ihrer Beträge zu erfüllen. Machen im Ausgangsfall drei durch dasselbe Schadenereignis Geschädigte (A, B und C) jeweils begründete Ansprüche in Höhe von 10 Mio. EUR geltend, entfallen somit auf jeden Geschädigten 6,66 Mio. EUR. Hier hat der Exzedent die Versicherungsnehmerin von den verbleibenden Haftpflichtansprüchen von A, B und C in Höhe von jeweils 3,34 Mio. EUR freizustellen(s. Abbildung 1).17 Gleiches gilt, wenn es sich um mehrere Versicherungsfälle handelt, die aufgrund einer Serienschadenklausel (z. B. Ziff. 6.3 AHB) zusammengefasst werden. Diese Konstellationen sind mit dem Fall zu vergleichen, dass die Haftpflichtansprüche eines einzelnen Geschädigten die Grundversicherungssumme übersteigen, worauf sogleich einzugehen ist. Zu beachten ist, dass der Grundversicherer und der Exzedent selbständig die Begründetheit der Haftpflichtansprüche prüfen und jeder für sich selbst eine Entscheidung über Abwehr oder Befriedigung dieses Anspruchs trifft.18 Da dem Haftpflichtversicherer bei der Prüfung der Haftpflicht der Versicherungsnehmerin ein begrenzter Beurteilungsspielraum zusteht,19 müssen diese Entscheidungen nicht einheitlich ausfallen. Es kann durchaus sein, dass der Grundversicherer sich für Anspruchsabwehr und der Exzedent sich für die Befriedigung der Haftpflichtansprüche der Geschädigten entscheidet. Gelingt dem Grundversicherer die Abwehr des Anspruchs im Haftpflichtprozess in toto, kann der Exzedent von den Geschädigten die geleisteten Zahlungen gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB zurückfordern.20 Gelingt dem Grundversicherer die Abwehr nur teilweise, kommt es für die Rückforderung dem Grund und der Höhe nach darauf an, ob und inwieweit der rechtskräftig festgestellte Haftpflichtanspruch noch immer über die Grundversicherungssumme hinausgeht. 17 Zum Streit darüber, wann in der D&O-Versicherung die Verteilung durchzuführen ist, s. Knöfel ZIP 2018, 1814, 1822 f. (erst wenn die Summe der Haftpflichtansprüche die Kapazität des gesamten Deckungsturmes übersteigt); Peppersack Das Kürzungs- und Verteilungsverfahren in der D&O-Versicherung (2017), S. 177–179 (bei Überschreiten der jeweiligen Haftungsstrecken). 18 Vgl. Thürmann (Fußn. 2), S. 508; Knöfel ZIP 2018, 1814, 1816 f. 19 R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 100 Rn. 102. 20 Vgl. BGHZ 113, 62, 68 ff.; BGH RuS 2000, 264; grundlegend R. Koch in: Bruck/ Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 100 Rn. 167 ff.

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Hält der Grundversicherer den Anspruch des Geschädigten C für unbegründet, ist er wegen § 109 S. 2 VVG berechtigt, bis zur abschließenden Klärung Rückstellungen in der für das Verteilungsverfahren maßgeblichen Höhe zu bilden, so dass der Exzedent vorläufig eintrittspflichtig bleibt.21 Erweist sich der Haftpflichtanspruch des C als unbegründet, findet eine Neuverteilung statt.22 Da die Grundversicherungssumme in Höhe von 20 Mio. EUR nunmehr ausreicht, die Ansprüche der Geschädigten A und B zu befriedigen, ist der Exzedent gegenüber der Versicherungsnehmerin nicht mehr eintrittspflichtig. Hat er die Ansprüche von A und B bereits in Höhe von jeweils 3,34 Mio. EUR befriedigt, hat der Exzedent die Versicherungsnehmerin in dieser Höhe ohne Rechtsgrund von der Haftpflichtschuld gegenüber A und B befreit und ist insoweit gem. §§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, 818 Abs. 2 BGB zum Wertersatz berechtigt.23 Die Versicherungsnehmerin kann ihrerseits gem. § 100 VVG in Verbindung mit Ziff. 5.1 AHB von dem Grundversicherer Auflösung der Rückstellung und Auszahlung an den Exzedenten verlangen.

Abbildung 1

b) Summenausschöpfungsdeckung Ist im Exzedentenversicherungsvertrag Summenausschöpfung vereinbart, haben Entscheidungen des Grundversicherers, Haftpflichtansprüche des 21 Vgl. R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 109 Rn. 9 f.; Littbarski in: Langheid/Wandt, 2. Aufl. 2017, VVG § 109 Rn. 23; Langheid in: Langheid/Rixecker 6. Aufl. 2019, VVG § 109 Rn. 4; Retter in: Schwintowski/Brömmelmeyer, 3. Aufl. 2017, VVG § 109 Rn. 5. 22 Langheid in: Langheid/Rixecker, 6. Aufl. 2019, VVG § 109 Rn. 10. 23 R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 109 Rn. 26; Langheid in: Langheid/ Rixecker, 6. Aufl. 2019, VVG § 109 Rn. 12.

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Geschädigten zu befriedigen, die die Grundversicherungssumme nicht überschreiten, Auswirkungen auf die Eintrittspflicht des Exzedenten in späteren Versicherungsfällen, die innerhalb derselben Versicherungsperiode eintreten. Die Vereinbarung der Summenausschöpfung hat nämlich zur Folge, dass der Exzedent Deckung für spätere Versicherungsfälle nicht erst dann zu gewähren hat, wenn die daraus resultierenden Haftpflichtansprüche die Grundversicherungssumme übersteigen, sondern bereits dann, wenn die Haftpflichtansprüche die nach dem ersten Versicherungsfall noch verbliebene Restgrundversicherungssumme übersteigen („drop down“) (s. Abbildung 2).24 Ist Kostenanrechnung vorgesehen, hat somit auch die Entscheidung des Grundversicherers für die Anspruchsabwehr Auswirkungen auf die Eintrittspflicht des Exzedenten in späteren Versicherungsfällen.

Abbildung 2

3. Inanspruchnahme überschreitet Deckungsumfang der Grundversicherung Wird die Versicherungsnehmerin von einem einzelnen Geschädigten auf Schadensersatz in einer den Deckungsumfang der Grundversicherung übersteigenden Höhe in Anspruch genommen, so gilt auch hier, dass Grundversicherer und Exzedent selbständig die Begründetheit des Haftpflichtanspruchs prüfen und eine Entscheidung über Abwehr oder Befriedigung dieses Anspruchs treffen.

24

Henning (Fußn. 2) S. 61 f.; Schaloske PHi 2012, 166, 170.

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a) Vergleich über die Haftung oberhalb der Grundversicherungssumme Hält der Exzedent den Haftpflichtanspruch allenfalls in Höhe der Grunddeckung für begründet und lehnt deshalb die Befriedigung ab, ist er an einen zwischen dem Grundversicherer und dem Geschädigten getroffenen Vergleich über die Haftung, der über die Grunddeckung hinausgeht, nicht gebunden. Seine Rechtsstellung wird nur insoweit berührt, als sich der Freistellungsanspruch der Versicherungsnehmerin in einen Zahlungsanspruch umwandelt,25 so dass dem Exzedenten die Möglichkeit der Anspruchsabwehr genommen wird. Hieraus kann der Exzedent jedoch keine Rechte gegen den Grundversicherer herleiten, weil die Versicherungsnehmerin nach § 105 VVG zum Vergleich berechtigt ist und der Grundversicherer den Vergleich für die Versicherungsnehmerin im Rahmen seiner Regulierungsvollmacht schließt. Die Versicherungsnehmerin, die aufgrund der Regulierungsvollmacht des Grundversicherers (Ziff. 5.2 AHB) an den Vergleich gebunden ist, kann den Grundversicherer wegen Überschreitens seiner Vollmacht gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB auf Schadensersatz in Anspruch nehmen.26 Dieser Anspruch ist auf Freistellung der Versicherungsnehmerin von ihrer Verpflichtung gegenüber dem Geschädigten zur Zahlung des Vergleichsbetrags gerichtet, soweit der Betrag die Grundversicherungssumme übersteigt. Hierbei trifft den Grundversicherer die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Haftpflichtanspruch auch ohne den Vergleich bestanden hätte.27 Daneben kann die Versicherungsnehmerin auch den Exzedenten aus dem Versicherungsvertrag auf Zahlung (Ziff. 5.1 S. 3 AHB) in Anspruch nehmen. Hier trifft jedoch die Versicherungsnehmerin die Darlegungs-und Beweislast dafür, dass der Haftpflichtanspruch auch ohne den Vergleich bestanden hätte. Grundversicherer und Exzedent haften für die Deckungsstrecke des Exzedentenversicherers der Versicherungsnehmerin gegenüber somit als Gesamtschuldner (§ 421 BGB). Im Innenverhältnis zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten haftet jedoch letzterer aufgrund des Exzedentenversicherungsvertrags mit der Versicherungsnehmerin allein. Anknüpfungspunkt für den Innenausgleich ist die vertragliche Deckungspflicht des Exzedenten gegenüber der Versicherungsnehmerin, bei der es sich um eine abweichende Bestimmung i.S.v. § 426 Abs. 1 S. 1 BGB handelt, die zugunsten des Grundversicherers wirkt (§ 328 BGB).28

R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 100 Rn. 113. R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 100 Rn. 101, Ziff. 5 AHB 2012 Rn. 11; Langheid in: Langheid/Rixecker, 6. Aufl. 2019, VVG § 109 Rn. 9. 27 Vgl. R. Koch in: Bruck/Möller, 9. Aufl. 2013, VVG § 105 Rn. 6. 28 Vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 2011, 17445. 25 26

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b) Vergleich über die Haftung innerhalb der Grundversicherungssumme Ein Vergleich über die Haftung innerhalb der Grundversicherungssumme hat keine Auswirkungen auf die Eintrittspflicht des Exzedenten, wenn Summendifferenzdeckung vereinbart ist. Dies gilt auch für den Fall, dass Summenausschöpfung mit dem Exzedenten vereinbart ist. War der Exzedent am Vergleichsschluss nicht beteiligt und sind hierzu im Vertrag mit dem Exzedenten keine Regelungen getroffen, muss er den Verbrauch der Grundversicherungssumme nur in der Höhe gegen sich gelten lassen, in der der Haftpflichtanspruch im ersten Versicherungsfall auch ohne den Vergleich bestanden hätte (Verbot des Vertrages zu Lasten Dritter).

III. Anknüpfungspunkte für Rücksichtnahmepflichten des Grundversicherers gegenüber dem Exzedenten Das Verhältnis zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten ist dadurch gekennzeichnet, dass zwischen ihnen in der Regel keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen im Sinne von § 311 Abs. 1 BGB bestehen. Rücksichtnahmepflichten setzen jedoch eine vertragliche oder gesetzliche Sonderverbindung voraus.29 Nachstehend werden mögliche Anknüpfungspunkte für eine Sonderverbindung in den Blick genommen. 1. Mehrfachversicherung Die Regeln zur Mehrfachversicherung vermögen keine (gesetzliche) Sonderverbindung zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten zu begründen. Zwar handelt es sich bei der Exzedentenversicherung um einen Fall der mehrfachen Versicherung. Jedoch sind die §§ 77 ff. VVG auf gleichrangige (ggf. quotale) Haftung der Versicherer zugeschnitten. Der Exzedent haftet jedoch nur nachrangig, weshalb weder für eine direkte noch für eine analoge Anwendung der §§ 77 ff. VVG Raum besteht.30 Ohne entsprechende vertragliche Vereinbarung besteht keine Pflicht der Versicherungsnehmerin, den Grundversicherer über den Abschluss eines Exzedentenversicherungsvertrages zu informieren.

29 Vgl. MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2019, § 242 Rn. 88; MüKoBGB/Bachmann, 8. Aufl. 2019, § 241 Rn. 9. 30 Wie hier Henning (Fußn. 2) S. 80 ff.; a. A. Schaloske PHI 2012, 164, 167; Knöfel ZIP 2018, 1814, 1815; ders. VersR 2018, 513, 520 f.; Thürmann (Fußn. 2) S. 508 f., die sich für eine analoge Anwendung von § 77 VVG ausspricht.

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2. Verteilungsverfahren gem. § 109 VVG Ein Verteilungsverfahren gem. § 109 S. 1 VVG begründet kein (gesetzliches) Schuldverhältnis zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten. Zwar hat die Verteilung der Versicherungssumme wie zuvor aufgezeigt unmittelbare Auswirkungen auf den Exzedenten, weil sich der „attachment point“ verschiebt und er vor Erreichen der Grundversicherungssumme eintrittspflichtig wird. Jedoch beschränkt sich das Verteilungsverfahren jeweils auf den Layer, bei dem die Versicherungssumme nicht ausreicht, die Haftpflichtansprüche aller Geschädigten zu befriedigen. Zudem macht § 109 S. 2 VVG deutlich, dass das Verteilungsverfahren nach § 109 S. 1 VVG allein ein gesetzliches Schuldverhältnis zwischen dem Versicherer und den einzelnen Geschädigten begründet, denen das Risiko der Erschöpfung der Versicherungssumme gleichmäßig aufgebürdet werden soll.31 3. Gesellschaft bürgerlichen Rechts Ebenso wenig liegt eine (Innen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten vor.32 Es fehlt an dem gemeinsamen Zweck als konstituierendes Element einer jeden Gesellschaft. Abweichend von der klassischen (horizontalen) Mitversicherung liegt nicht einmal eine einverständliche Risikoteilung zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten vor.33 Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts kommt auch nicht durch eine „following form“-Abrede in den Versicherungsverträgen mit den Exzedenten zustande, da sie nur bezweckt, auf allen Ebenen einen einheitlichen Versicherungsschutz auf der Basis der Grunddeckung sicherzustellen.34 Ausnahmsweise getroffene Abreden über eine „layer“übergreifende Führung zwischen dem Grundversicherer und den Exzedentenversicherern begründen ebenfalls keine Gesellschaft, weil solche Abreden lediglich der vereinfachten Abwicklung des Versicherungsvertrages dienen.35 Letzteres gilt auch für Vereinbarungen, die den Exzedenten verpflichten, bei Streitigkeiten über die Auslegung des Grundversicherungsvertrages der Auslegung des Grundversicherers zu folgen. Solche Auslegungsfolgepflichtvereinbarungen entfalten nur Wirkung im Verhältnis des Exzedenten zu der Versicherungsnehmerin.36 31

BGH VersR 1985, 1054, 1055. Zu den Schutz- und Treuepflichten gegenüber den Mitgesellschaftern vgl. MüKoBGB/Schäfer, 7. Aufl. 2017, BGB § 705 Rn. 229. 33 Schaloske PHI 2012, 167, 168. 34 S. hierzu Schaloske PHI 2012, 167, 168; Knöfel VersR 2018, 531, 515. 35 Vgl. BGH NJW-RR 2002, 20, 21. 36 Vgl. Henning (Fußn. 2) S. 105 f. 32

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4. Vorvertragliches Schuldverhältnis a) Vorüberlegungen Der Umstand, dass zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen bestehen, schließt nicht aus, dass sie einander zur Rücksichtnahme gem. § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet sind. Nach § 311 Abs. 2 BGB entsteht ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB nämlich auch durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen (Nr. 1), die Vertragsanbahnung (Nr. 2) oder ähnliche geschäftliche Kontakte (Nr. 3). Sofern die Voraussetzungen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten vorliegen, ist zu beachten, dass die Pflichten, die die Versicherer aus dem Versicherungsvertrag gegenüber der Versicherungsnehmerin treffen, Vorrang haben vor den Rücksichtnahmepflichten untereinander aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis. Dieser Vorrang folgt daraus, dass die Haftpflichtversicherer die Interessen der Versicherungsnehmerin so zu wahren haben, „wie das ein von diese[r] beauftragter Anwalt tun würde“.37 Ist eine Kollision zwischen den Interessen der Versicherungsnehmerin und denen des Versicherers nicht zu vermeiden, muss der Versicherer seine eigenen Interessen hintanstellen.38 Für die Exzedentenversicherung hat dieser Vorrang zur Folge, dass ein gegenüber der Versicherungsnehmerin pflichtgemäßes Verhalten des Grundversicherers im Grundsatz keine Pflichtverletzung gegenüber dem Exzedenten darstellt und damit auch keine Haftung diesem gegenüber begründen kann. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn mehrere Alternativen für ein pflichtgemäßes Verhalten des Grundversicherers bestehen und dieser Kenntnis von der Exzedentenversicherung hat. In diesem Fall muss er aus Rücksicht gegenüber dem Exzedenten die Alternative wählen, die dessen Vermögensinteressen am wenigsten beeinträchtigt. Von dieser Ausnahme abgesehen kommt eine Haftung des Grundversicherers somit nur dann in Betracht, wenn er durch sein Verhalten, das die Pflichtverletzung begründet, zugleich (auch) eine Pflicht gegenüber der Versicherungsnehmerin verletzt. b) Beteiligung an dem Abschluss eines Vergleiches über die Haftung Bei der Exzedentenversicherung treten der Grundversicherer und der Exzedent weder vor noch nach Abschluss des Exzedentenversicherungsvertrages in Vertragsverhandlungen oder nehmen untereinander Kontakt mit dem Ziel auf, die Möglichkeit eines Vertragsschlusses auszuloten. Erst nach Ein37 38

BGH VersR 2001, 1150, 1151. BGH VersR 2001, 1150, 1151; vgl. auch Henning (Fußn. 2) S. 119.

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tritt des Versicherungsfalles wird der Exzedent Kontakt mit dem Grundversicherer aufnehmen, wenn der Haftpflichtanspruch die Grundversicherungssumme übersteigt oder die Gefahr besteht, dass es dazu kommen wird, z. B. weil Kostenanrechnung vereinbart worden ist. Ein Vergleich über die Haftung, den Grundversicherer und Exzedent in Ausübung der ihnen eingeräumten Vollmacht für die Versicherungsnehmerin gemeinsam schließen, fällt nicht unter die Fallgestaltungen des § 311 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 BGB, weil Grundversicherer und Exzedent nicht Vertragsparteien des Vergleichs sind und auch nicht werden wollen.39 c) Gemeinsame Verteidigungsstrategie/Beteiligung an Verhandlungen über Haftungsvergleich Es käme allenfalls ein „ähnlicher geschäftlicher Kontakt“ im Sinne von § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB in Betracht. So hat der BGH vor der Reform des Schuldrechts ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis bejaht, wenn mehrere Personen zusammenkommen, um in einem mit einem Dritten abzuschließenden Vertrag gemeinschaftlich einen Vermögensgegenstand zu verkaufen. Es handele sich zwar nicht um Vertragsverhandlungen im Verhältnis der Verkäufer untereinander. Die Sach- und Rechtslage sei aber ganz ähnlich. Die Personen müssten, so der BGH, hierbei auch untereinander darauf vertrauen können, dass jeder die Voraussetzungen mitbringt, die sie instand setzen, die Verpflichtung zu erfüllen, die sie dem Käufer gegenüber zu übernehmen gedenken, und dass jeder die erforderlichen Auskünfte, von deren Richtigkeit und Vollständigkeit die Verkaufsentscheidung abhängt, so korrekt erteilt, dass keine zusätzlichen Vermögensrisiken auf der Verkäuferseite entstehen.40 Lässt man es für den ähnlichen geschäftlichen Kontakt genügen, dass mehrere Parteien als Bevollmächtigte auf der gleichen Verhandlungsseite stehen, kann ein Schuldverhältnis zwischen dem Grundversicherer und dem Exzedenten bestehen, wenn beide Kontakt zwecks Austausches über die Rechtslage und Abstimmung einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie aufnehmen, was vor allem in der Situation angezeigt ist, in der der Schadensersatzanspruch die gesamte Deckungsstrecke erreicht oder übersteigt. Die aus der Teilnahme an Verhandlungen über einen Vergleich oder Absprachen über eine gemeinsame Verteidigungsstrategie resultierenden Rücksichtnahmepflichten würden sich jedoch auf Aufklärung und Information sowie loyales Verhalten beschränken.41 So liegt der Fall, wenn der Grundversicherer nur ihm zugängliche Informationen verschweigt, die für den Exzedenten im Hinblick auf den angestrebten Haftungsvergleich von Bedeutung sind. Zu Zu diesem Erfordernis s. Staudinger/Feldmann (2018) BGB § 311 Rn. 118. BGH NJW 1980, 2464 f. 41 Vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2016, 441 f.; BeckOGK/Herresthal, 1.6.2019, BGB § 311 Rn. 316; MüKoBGB/Bachmann, 8. Aufl. 2019, § 241 Rn. 93, 101 ff., 108. 39 40

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denken ist hierbei an Tatsachen, die die Höhe der Haftung der Versicherungsnehmerin betreffen, soweit sie in die Deckungsstrecke des Exzedenten hineinreicht. Macht der Geschädigte z. B. einen Haftpflichtanspruch geltend, der die Versicherungssumme der Grund- und Exzedentenversicherung ausschöpft und hat nur der Grundversicherer Kenntnis von Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass der Haftpflichtanspruch maximal den Betrag der Grundversicherungssumme betragen kann, muss er den Exzedenten darüber informieren, wenn dieser in die Vergleichsverhandlungen über die Haftung eingebunden ist. Auf der anderen Seite trifft den Exzedenten nicht die Pflicht, sich bei einem Vergleich des Grundversicherers über die Haftung auf einen Betrag unterhalb der Eintrittsschwelle an der Vergleichszahlung anteilig zu beteiligen. Ebenso wenig ist er verpflichtet bei einem Vergleich über die Haftung, der die Exzedentenversicherungssumme nicht voll ausschöpft, (Ausgleichs-)Zahlungen an den Grundversicherer zu leisten. d) Beteiligung an einem Vergleich über die Deckung Ist die Deckung zwischen der Versicherungsnehmerin und dem Grundversicherer und dem Exzedenten streitig und führen die Versicherer deshalb mit der Versicherungsnehmerin Verhandlungen über einen Deckungsvergleich, besteht zwischen den an den Verhandlungen beteiligten Versicherern ein Schuldverhältnis im Sinne von § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB, aus dem die vorgenannten Pflichten resultieren. Verweigert der an den Verhandlungen beteiligte Grundversicherer zu (Un-)Recht die Deckung und steigt deshalb aus den Verhandlungen aus, begründet dies keine Verletzung der Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber dem Exzedenten, weil dieser nur entweder bei Überschreiten der Grundversicherungssumme (Summendifferenzdeckung) oder nach der Ausschöpfung, d.h. dem Verbrauch der Versicherungssumme aus dem vorangehenden Vertrag, eintrittspflichtig ist (Summenausschöpfungsdeckung). Nimmt die Versicherungsnehmerin die Deckungsverweigerung des Grundversicherers zum Anlass, den Haftpflichtanspruch in Höhe der Grundversicherungssumme anzuerkennen, lässt das die Rechtsstellung des Exzedenten selbst bei Summenausschöpfungsvereinbarung unberührt, weil er bei einem späteren Versicherungsfall den anerkenntnisbedingten Verbrauch der Grundversicherungssumme nur in der Höhe gegen sich gelten lassen muss, in der der Haftpflichtanspruch im ersten Versicherungsfall auch ohne das Anerkenntnis bestanden hätte. 5. Einbeziehung des Exzedenten in den Grundversicherungsvertrag nach den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Der obige Befund, dass eine Haftung des Grundversicherers gegenüber dem Exzedenten grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn sein

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pflichtwidriges Verhalten zugleich (auch) eine Pflicht gegenüber der Versicherungsnehmerin verletzt, lässt die Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter in den Fokus treten und gibt Anlass zu der Frage, ob der Exzedent in den Schutzbereich des Grundversicherungsvertrages einbezogen ist und deshalb den Grundversicherer gegenüber dem Exzedenten die gleichen Rücksichtnahmepflichten treffen, die er gegenüber der Versicherungsnehmerin hat. Dieser Frage soll am Beispiel der Verletzung des pflichtgemäßen Ermessens des Versicherers bei der Wahl zwischen Abwehr oder Befriedigung des Haftpflichtanspruchs nachgegangen werden. Versucht der Grundversicherer erfolglos, einen offensichtlich begründeten Haftpflichtanspruch abzuwehren (z. B. weil er auf einen günstigen Vergleich mit dem Geschädigten hoffte), haftet er gegenüber der Versicherungsnehmerin nach §§ 280, 241 Abs. 2 BGB oder – soweit man darin eine leistungsbezogene Nebenpflichtverletzung sieht – nach §§ 280, 241 Abs. 1 BGB für den ihr dadurch entstandenen Schaden. Die Drittschutzwirkung kann insoweit auch von Leistungspflichten ausgehen.42 Besteht der Schaden darin, dass der Haftpflichtanspruch infolge der Anspruchsabwehr höher ausfällt, kann die Versicherungsnehmerin nach § 249 Abs. 1 BGB Wiederauffüllung der Grundversicherungssumme in Höhe des Differenzbetrages verlangen. Gleiches gilt, wenn Kostenanrechnung vereinbart worden ist. Überschreitet der Haftpflichtanspruch die Grundversicherungssumme oder überschreiten bei Kostenanrechnung der als Schadensersatz zu leistende Betrag zusammen mit den Kosten die Grundversicherungssumme, kann die Versicherungsnehmerin von dem Grundversicherer nicht nur Wiederauffüllung der Grundversicherungssumme, sondern auch der Exzedentenversicherungssumme verlangen, weil ihr durch den Verbrauch der Versicherungssumme auf den Exzedentenebene ebenfalls ein Schaden entstanden ist. Zu klären ist, ob der Exzedent einen eigenen Schadensersatzanspruch gegen den Grundversicherer hat, der auf Ausgleich des an den Geschädigten gezahlten Betrages gerichtet ist. a) Leistungsnähe des Exzedenten Erste Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch gegen den Grundversicherer gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ist, dass der Exzedent mit der (Haupt-)Leistung des Grundversicherers bestimmungsgemäß in Berührung gekommen und den Gefahren einer (Schutz-) Pflichtverletzung in gleicher Weise wie die Versicherungsnehmerin ausgesetzt ist.43 Wie zuvor aufgezeigt kann die pflichtwidrige Entcheidung des Vgl. Staudinger/Schwarze (2019) BGB § 280 B 22. St. Rspr., BGH NJW 2010, 3152 Rn. 19 m. w. N.; BGH NJW 2008, 2245, 2247 Rn. 27. 42 43

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Grundversicherers, den Haftpflichtanspruch zu befriedigen oder abzuwehren, nicht nur die Versicherungsnehmerin, sondern auch den Exzedenten nachteilig berühren. Dies gilt sowohl bei Vereinbarung der Summendifferenzdeckung als auch bei Vereinbarung der Summenausschöpfungsdeckung, weil die Exzedenten durch den Verbrauch der Versicherungssumme in der Grundversicherung, bei Eintritt eines weiteren Versicherungsfalls bereits eintrittspflichtig sind, wenn der Haftpflichtanspruch die noch unverbrauchte Versicherungssumme überschreitet. Im Ergebnis ist deshalb Leistungsnähe des Exzedenten zu bejahen. b) Einbeziehungsinteresse Weiterhin ist erforderlich, dass die Versicherungsnehmerin als Gläubigerin der verletzten Pflicht ein berechtigtes Interesse an der Einbeziehung des Exzedenten in den Schutzbereich des Grundversicherungsvertrages hat. Dafür ist keine Nähebeziehung zwischen der Versicherungsnehmerin und dem Exzedenten erforderlich. Es genügt, wenn die Versicherungsnehmerin an der Einbeziehung des Exzedenten ein besonderes Interesse hat und der Vertrag dahingehend ausgelegt werden kann.44 Ein solches Interesse dürfte zu bejahen sein, wenn die pflichtwidrige Entscheidung des Grundversicherers zum Verbrauch der Grundversicherungssumme führt und deshalb der Exzedentenvertrag belastet wird. c) Erkennbarkeit Für den Grundversicherer muss die Einbeziehung des Exzedenten und das Interesse der Versicherungsnehmerin an dessen Einbeziehung erkennbar sein.45 Diese Voraussetzung liegt jedenfalls dann vor, wenn der Grundversicherer Kenntnis davon hat, dass es sich um ein Exzedentenversicherungsprogramm handelt. Zahl und Namen der in den Schutzbereich einbezogenen Exzedenten müssen dem Grundversicherer nicht bekannt sein.46 Entscheidend für die Erkennbarkeit ist der Zeitpunkt der (Schutz-)Pflichtverletzung. d) Schutzbedürftigkeit Schließlich setzt die Einbeziehung des Exzedenten in den Schutzbereich des Grundversicherungsvertrages ein Schutzbedürfnis des Exzedenten voraus.47 Daran fehlt es, wenn dem Exzedenten gleichwertige vertragliche An44 St. Rspr., BGH NJW 2010, 3152 Rn. 19 m. w. N.; BGH NJW 2008, 2245, 2247 Rn. 27. 45 BGH NZG 2011, 1384 Rn. 16 m.w.N. 46 BGH NJW 1995, 392. 47 Vgl. BGH NZBau 2018, 286 Rn. 18; BGH NZM 2017 299 Rn. 17 f.; Leyens JuS 2018, 217, 220 f.

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sprüche gegen den Grundversicherer zustehen. Wie ausgeführt hat der Exzedent keinen eigenen vertraglichen Anspruch gegen den Grundversicherer auf Wiederauffüllung der verbrauchten Exzedentenversicherungssumme, so dass man auf den ersten Blick geneigt sein könnte, auch diese Voraussetzung für einen Anspruch nach den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu bejahen. Dies wäre jedoch vorschnell, wie ein Blick auf § 86 Abs. 1 S. 1 VVG zeigt. Nach dieser Vorschrift geht ein Ersatzanspruch gegen einen Dritten, der der Versicherungsnehmerin zusteht, auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt. Es ist anerkannt in der obergerichtlichen Judikatur, dass in der Rechtsschutzversicherung der Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers auf Erstattung von Prozesskosten, die ihm gegen seinen Prozessbevollmächtigten wegen Schlechterfüllung des Anwaltsvertrages zustehen, auf den Rechtsschutzversicherer übergehen.48 Diese Rechtsprechung lässt sich ohne weiteres auf Schadensersatzansprüche übertragen, die der Versicherungsnehmerin gegen den Grundversicherer wegen pflichtwidriger Ausübung seines Ermessens zwischen Abwehr und Befriedigung des Haftpflichtanspruchs zustehen. Mit der Befriedigung des Geschädigten durch den Exzedenten geht der Schadensersatzanspruch der Versicherungsnehmerin gegen den Grundversicherer, soweit er auf die Wiederauffüllung der Exzedentenversicherung gerichtet ist, nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf den Exzedenten über.49 Er ist somit nicht schutzbedürftig50 und es kommt im Übrigen auch nicht mehr darauf an, ob der Grundversicherer Kenntnis von der Existenz des Exzedenten hat.

IV. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass zwischen den Beteiligten eines Exzedentenversicherungsprogramms nur in Ausnahmefällen wechselseitige Rücksichtnahmepflichten bestehen, die im Übrigen auf Aufklärung und Information sowie loyales Verhalten beschränkt sind. Ohne entsprechende Abreden (z. B. vertikale Führungsklausel) sind die nachgehenden Exzedenten gegenüber den vorangehenden Exzedenten und dem Grundversicherer insbesondere nicht dazu verpflichtet, ihr Regulierungsverhalten untereinander abzustimmen, sich auf eine einheitliche Abwehrstrategie zu verständigen oder sich an Zahlungen an den Geschädigten unterhalb der vereinbarten Eintrittsschwelle zu beteiligen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen es zu einem Verteilungsverfahren gem. § 109 VVG kommt. 48

Vgl. OLG Köln BeckRS 2019, 12614; KG NJW 2014, 397, 398; OLG Koblenz NJW 2006, 3150, 3151. 49 Henning (Fußn. 2), S. 104. 50 Henning (Fußn. 2), S. 104.

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Beruht die Eintrittspflicht der nachgehenden Exzedenten auf dem Regulierungsverhalten eines vorangehenden Exzedenten und/oder des Grundversicherers, bestehen keine eigenen Schadensansprüche der nachgehenden Exzedenten. Schadensersatzansprüche bestehen nur aus übergegangenem Recht der Versicherungsnehmerin und stehen deshalb unter dem Vorbehalt, dass das Regulierungsverhalten der vorangehenden Exzedenten und/oder des Grundversicherers gegenüber der Versicherungsnehmerin schuldhaft pflichtwidrig war.

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Beweiserhebung in-camera? Geschäftsgeheimnisschutz in IP-Schiedsverfahren 439 Beweiserhebung in-camera? Geschäftsgeheimnisschutz in IP-Schiedsverfahren Markus Köhler

Beweiserhebung in-camera? Geschäftsgeheimnisschutz in IP-Schiedsverfahren MARKUS KÖHLER

I. IP-Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kein Schutz nach dem GeschGehG . . . . . . . . . . . . . III. Das Düsseldorfer Besichtigungsverfahren in Patentstreitsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Geschäftsgeheimnisschutz im deutschen Zivilprozess . V. In-camera-Verfahren und Schiedsverfahren . . . . . . . 1. Schiedsverfahren mit Schiedsort in Deutschland . . . . 2. Regelungen in den wichtigsten Schiedsordnungen . . . 3. World Intellectual Property Organization Arbitration Rules 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Confidentiality Advisor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Schutz von Geschäftsgeheimnissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der gewerbliche Rechtschutz war lange kein klassisches Anwendungsgebiet von Schiedsverfahren. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass Schiedsverfahren einer vertraglichen Grundlage in Form einer vereinbarten Schiedsklausel bedürfen, eine Konstellation, die im klassischen Szenario der Verletzung geistigen Eigentums eher selten vorkommt. Zum anderen liegt wegen der Bedeutung des einstweiligen Rechtschutzes der über § 1033 ZPO vorgezeichnete Weg zu den ordentlichen Gerichten näher.

I. IP-Schiedsverfahren Gerade die Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens hat aber in jüngster Zeit die Zahl der IP-Schiedsverfahren nicht nur bei der Berechnung von FRAND-Lizenzen bei standardessentiellen Patenten (SEP) ansteigen lassen. Haben die Parteien miteinander einen Lizenzvertrag abgeschlossen, kann es zum Streit darüber kommen, ob eine bestimmte neuartige Produktkategorie unter die Definition der „Vertragsschutzrechte“ des Lizenzvertrags fällt.

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Enthält der Lizenzvertrag eine Schiedsklausel, ist für die Klärung der Meinungsverschiedenheit ebenfalls ein Schiedsgericht zuständig. Der Schutz des vermeintlich verletzten geistigen Eigentums, aber auch der Schutz des Know-how der angegriffenen Partei muss dabei auch verfahrensrechtlich gewährleistet werden, weil die Verfahrensbeteiligten ansonsten vor die Wahl gestellt werden, ihr geistiges Eigentum zu schützen und den Prozessverlust in Kauf zu nehmen, oder sich den Prozesserfolg mit der Offenbarung (und damit mit dem Verlust) ihres geistigen Eigentums erkaufen zu müssen. Doch wie kann der Schutz von Geschäftsgeheimnissen in Schiedsverfahren gewährleistet werden?

II. Kein Schutz nach dem GeschGehG Nachdem der Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen im Rahmen der Umsetzung der Geschäftsgeheimnis-Richtlinie1 auch verfahrensrechtlich in den Blickpunkt allgemeinen Interesses gerückt ist, fragt sich, ob Art. 9 der Richtlinie fruchtbar gemacht werden kann. Dieser verlangt von den Mitgliedsstaaten, dass der Geschäftsgeheimnisschutz im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu gewährleisten und der Zugang zu Geschäftsgeheimnissen insoweit zu beschränken ist. Zu einem in-Camera-Verfahren konnte sich der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht nicht durchringen. Von einem solchen spricht man, wenn verfahrensrelevante Fakten unter Ausschluss mindestens einer der Parteien von dem Gericht mit der sie vortragenden Partei und/oder mit einem Sachverständigen verhandelt werden. Auch der Kommissionsentwurf für die Geschäftsgeheimnis-Richtlinie2 sah die Möglichkeit vor, nur den „gesetzlichen Vertretern“ der Gegenpartei Zugang zu Geschäftsgeheimnissen zu geben. Die hiergegen gerichteten Bedenken des Europäischen Parlaments3 fanden in der endgültigen Fassung der Richtlinie Niederschlag, die das in camera-Verhandeln gänzlich ausschließt, dafür aber eine Zugangsbeschränkung zu Geschäftsgeheimnissen auf eine natürliche Person je Partei gestattet. 1 Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 8.6.2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertrauliche Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtwidrigem Erwerb sowie rechtwidriger Nutzung und Offenlegung, ABl. L 157 vom 15.6.2016, S. 1 ff. 2 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz vertraulichen Know-Hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtwidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung vom 28.11.2013, COM(2013)813 final. 3 Standpunkt des Europäischen Parlaments, vom 14.4.2016, S. 36; Schregle GRUR 2019, 912, 914.

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Entsprechend wurde die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Der Anwendungsbereich des deutschen Umsetzungsgesetzes4 ist allerdings ausgesprochen eng ausgefallen. Nur für Geschäftsgeheimnisstreitsachen, also Prozesse, in denen von dem Kläger Ansprüche nach dem Geschäftsgeheimnisschutzgesetz (GeschGehG) geltend gemacht werden, regelt § 19 Abs. 1 S. 1, 3 GeschGehG, dass der Zugang zu Geschäftsgeheimnissen für die Gegenpartei beschränkt werden kann. Der Begriff der Geschäftsgeheimnisstreitsache richtet sich hierbei nach dem geltend gemachten Anspruch des Klägers. Außerhalb der Geschäftsgeheimnisstreitsachen findet die Norm keine Anwendung für andere, nach der ZPO zu führende Streitigkeiten, also etwa Patentstreitigkeiten oder vertragliche Auseinandersetzungen. 5 Damit ist der Zugewinn der Norm für den verfahrensrechtlichen Geschäftsgeheimnisschutz sehr begrenzt. Von Schiedsverfahren ist in dem Gesetz – wie auch in der Richtlinie – keine Rede. Soweit die Richtlinie Geheimnisschutz in Gerichtsverfahren fordert, erfasst dies nur Verfahren vor den staatlichen Gerichten.6 Eine direkte Anwendung der Geschäftsgeheimnis-Richtlinie für den verfahrensrechtlichen Schutz von Geschäftsgeheimnissen kommt damit für Schiedsverfahren mit Schiedsort in Deutschland nicht in Betracht.

III. Das Düsseldorfer Besichtigungsverfahren in Patentstreitsachen Jenseits der Geschäftsgeheimnisstreitsachen gibt es einen Bereich, in welchem seit vielen Jahren erfolgreich verfahrensrechtlicher Geschäftsgeheimnisschutz praktiziert wird: Das patentrechtliche Besichtigungsverfahren (sogenanntes Düsseldorfer Verfahren)7 tariert die Interessen der Beteiligten jenseits der Alternativen Prozessverlust einerseits oder Geheimnisschutz andererseits unter Beschränkung des rechtlichen Gehörs für die beantragende Partei aus. Es ist – bis zu seiner letzten Stufe – ein in-camera-Verfahren, also ein Verfahren, das den antragstellenden Prozessgegner zunächst von der Kenntnisnahme des Geschäftsgeheimnisses ausschließt. Auf einen entsprechenden Antrag eröffnet das Gericht ein selbstständiges Beweisverfahren und 4 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung vom 16.4.2019, BGBl. I, vom 25.4.2019, S. 466 ff. 5 Hierzu Schregle GRUR 2019, 912 ff., 917; Kalbfus WRP 2019, 692, 698. 6 Erwägungsgrund 24 der Richtlinie spricht von „Gerichtsverfahren“. In Erwägungsgrund 25 ist von „vertraulichem Teil von Gerichtsentscheidungen“ und von „Gerichtsbediensteten“ die Rede. Beide Formulierungen sind ersichtlich auf Verfahren vor den staatlichen Gerichten zugeschnitten. 7 OLG Düsseldorf, InstGE 9, 41 Rn. 14 f. z.n. juris. Wegen Einzelheiten vgl. Kühnen Mitt. 2009, 211, 215; Winzer Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Zivilprozess, Köln 2018, Rn. 368 ff.

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beschließt die Beweisaufnahme durch ein Sachverständigengutachten. Zeitgleich ordnet das Gericht per einstweiliger Verfügung ex parte gegenüber dem Prozessgegner die Duldung der Begutachtung durch den Sachverständigen an. Ihm wird lediglich gestattet, innerhalb von zwei Stunden einen Rechtsbeistand beizuziehen. Der Geheimnisschutz (des Antragsgegners) wird dadurch gewährleistet, dass der Antragsteller selbst auf die Teilnahme an der Besichtigung verzichten muss und seine an der Besichtigung teilnehmenden Prozessvertreter gegenüber dem Antragsteller zur Geheimhaltung verpflichtet werden (attorney’s eyes only). Auf die Bekanntmachung des Gutachtens muss er zunächst ebenfalls verzichten, soweit Geschäftsgeheimnisse des Antragsgegners behandelt sind.8 Über die Mitteilung des Gutachtens wird im weiteren Verlauf des Prozesses vor dem Gericht verhandelt. Das Prinzip des Düsseldorfer Verfahren beruht also auf einem „Geben und Nehmen“: Der Antragsteller erhält effektiven Rechtschutz durch Zugang zu einem vermeintlich patentverletzenden Geschäftsgeheimnis des Gegners, muss hierfür aber Einschränkungen seiner Teilhabe an dem Verfahrens zustimmen. Für das Schiedsverfahren erscheint dieses, subtil effektiven Rechtschutz und Geschäftsgeheimnisschutz austarierende Verfahren allerdings ungeeignet. Einem Schiedsverfahren wohnt üblicherweise ohnehin kein Überraschungseffekt inne. Wollte eine Schiedsverfahrenspartei einen Antrag auf Durchführung des Düsseldorfer Besichtigungsverfahrens im einstweiligen Rechtschutz stellen, wäre dieser außerdem wegen § 1033 ZPO nicht an das Schiedsgericht zu richten9, weiter wäre die Vollziehbarkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§ 1041 Abs. 2, § 1062 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vom zuständigen Oberlandesgericht anzuordnen.10 Für die nach § 140c PatG zu erlassenden Maßnahmen der Duldung wäre im Rahmen des Besichtigungsverfahrens nach § 1062 Abs. 4 ZPO die Unterstützung des Amtsgerichts in Anspruch zu nehmen, in dessen Bezirk die patentrechtlich zu besichtigende Sache belegen ist. Eine für alle Beteiligten wenig einladende Vorstellung, zumal keine sofortige Beschwerdemöglichkeit eröffnet ist.

IV. Geschäftsgeheimnisschutz im deutschen Zivilprozess Sucht man im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach Wegweisung für den Umgang mit Geschäftsgeheimnissen, ist das Ergebnis dünn, wenn 8

Hierzu ausführlich Winzer a.a.O., Rn. 383 ff. Ob es sich bei § 1033 ZPO um eine dispositive Regelung handelt, ist umstritten. Für die Abdingbarkeit bspw. Schütze Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 6. Aufl. 2016, Rn. 619; Geimer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 1033 ZPO; dagegen: MüKoZPO/Münch 5. Aufl. 2017, § 1033 ZPO, Rn. 18; Lachmann Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rn. 2853. 10 Schütze Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 6. Aufl. 2016, Rn. 620. 9

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man nach gesetzlichen Regelungen schaut. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz kennt keinen wirksamen Geschäftsgeheimnisschutz.11 §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 GVG befassen sich nur mit nach Ausschluss der Öffentlichkeit noch „anwesenden Personen“, denen durch Gerichtsbeschluss die Geheimhaltung von „Tatsachen“ zur „Pflicht“ gemacht werden kann. Damit regelt das deutsche Verfahrensrecht bisher nur ausgesprochen rudimentär und ineffektiv die wohl wichtigste Form des Geschäftsgeheimnisschutzes, nämlich des Schutzes vor dem Prozessgegner. Statt eines allgemeinen „attorney’s only“-Prinzips oder gar eines in-camera-Verfahrens legt es allen für den Prozessgegner in der mündlichen Verhandlung erschienen Personen nach Ermessen des Gerichts eine Geheimhaltungspflicht auf. Außerhalb der mündlichen Verhandlung, also beispielsweise im Rahmen von Begutachtungen, greift die Vorschrift nicht. Schriftsätzlichen Vortrag erwähnt das Gesetz ebenfalls nicht. Seine Kenntnisnahme durch den Prozessgegner kann durch die Vorschriften des GVG nicht beschränkt werden. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist mit ergänzenden, verfassungsrechtlich zu begründenden Maßnahmen zurückhaltend. Sie löst den Zielkonflikt zwischen dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und dem auf den Art. 12, 14, 2 Abs. 1 GG beruhenden Anspruch auf Schutz von Geschäftsgeheimnissen weitgehend zugunsten des Anspruchs auf rechtliches Gehör. So hat der Bundesgerichtshof beispielsweise12 hervorgehoben, dass ein Parteigutachten, dessen Grundlagen bei einer Partei erhoben, aber weder der anderen Partei noch dem Gericht zur Kenntnis gegeben und auch im Gutachten nicht offengelegt werden, unverwertbar ist.13 In der Entscheidung Anonymisierte Mitgliederliste hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass das deutsche Zivilverfahrensrecht in der Regel nicht zulasse, die von einer Partei im Prozess gegenüber der anderen Partei und dem Gericht geheim gehaltenen Tatsachen zu deren Gunsten zu verwerten.14 Eine abweichende Beurteilung, so der BGH, könne nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn die darlegungs- und beweisbelastete Partei ein erhebliches rechtliches Interesse an der Geheimhaltung bestimmter innerbetrieblicher Informationen hat und dem Prozessgegner aus der Verwertung der geheim gehaltenen Tatsachen keine unzumutbaren Nachteile erwachsen. Was auf den ersten Blick wie die Öffnung des Zivilprozesses in Richtung des Geschäftsgeheimnisschutzes aussieht, ist indes bisher nie 11 Siehe hierzu Schregle GRUR 2019, 912; Kalbfus WRP 2019, 692 ff.; McGuire GRUR 2015, 424 ff. 12 BGH, NJW 1992, 1817, 1819 – Amtsanzeiger. 13 BGH LM § 144 ZPO Nr. 4; NJW 1992, 817, Rn. 32, z.n. juris – Amtsanzeiger. 14 BGH JZ 1996, 736, 737 – Anonymisierte Mitgliederliste, Rn. 14, z.n. juris unter Verweis auf BVerfG, NJW 1995, 40 ff., Rn. 25, z.n. juris; BGHZ 93, 191, 211 – Druckbalken.

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Gegenstand einer veröffentlichten Entscheidung geworden.15 Insbesondere kann die Entscheidung nicht dahin verstanden werden, dass das Gericht Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde legen darf, deren Feststellung es nicht selbst vorgenommen hat. Auch die Einschaltung von Sachverständigen, die gegenüber einer oder beiden Parteien, oder gar auch gegenüber dem Gericht, zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, trifft beim Bundesgerichtshof auf Skepsis: Nachdem auch das Bundesverfassungsgericht in der Telekom-Entscheidung16 darauf hingewiesen hatte, dass die Einschränkung rechtlichen Gehörs eines Verfahrensbeteiligten zu Gunsten des Geschäftsgeheimnisschutzes nur hingenommen werden könnte, wenn die Tatsachenbeurteilung weiterhin durch den Richter erfolge, hat der Bundesgerichtshof noch im Jahr 200617 die Beweisführung durch einen neutralen, gegenüber dem Gericht und dem Prozessgegner zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen abgelehnt.18 Damit kommt ein Geschäftsgeheimnisschutz gegenüber dem Gericht im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens nicht in Betracht. Wenig Abstriche erlaubt der Bundesgerichtshof auch betreffend das rechtliche Gehör der Gegenpartei im Hauptsacheverfahren: In der Entscheidung Umweltengel für Tragetasche19 bestätigte er zwar die Möglichkeit, einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, der vom Gericht ausdrücklich zur Verschwiegenheit auch gegenüber der ihn benennenden Prozesspartei verpflichtet ist, zu beauftragen. Indes sei den Parteien und ihren Prozessvertretern eine Teilnahme an der Begutachtung zu ermöglichen. Abstriche von dieser Linie erlaubt der Bundesgerichtshof nur außerhalb des Hauptsacheverfahrens, also beispielsweise für eine Besichtigung oder ein selbstständiges Beweisverfahren. In der Entscheidung Lichtbogenschnürung, die letztlich das Düsseldorfer Besichtigungsverfahren bestätigt,20 hat er darauf hingewiesen, dass der absolute Vorrang des rechtlichen Gehörs für das Besichtigungsverfahren nicht hochgehalten werden müsse, weil es sich nicht um eine Entscheidung über den Streitstoff in der Hauptsache handele.21 Diese Prinzipien sind auch auf andere Bereiche des Schutzes geistigen Eigentums übertragbar. Auch für Urheberrechtsstreitsachen hat sich der Bundesgerichtshof22 dafür ausgesprochen, den im Patentrecht entwickelten prozessualen Geheimnisschutz eines attorney’s-eyes-only-Prinzips unter 15 16 17 18 19 20 21 22

Winzer Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Zivilprozess, Rn. 531. BVerfG MMR 2006, 375 ff. – Telekom, Rn. 109, z.n. juris. BGH GRUR 2006, 962, 967 – Restschadstoffentfernung. BGH, GRUR 2006, 962, 967 – Restschadstoffentfernung, Rn. 42, z.n. juris. BGH, GRUR 2014, 578, 580, – Umweltengel für Tragetasche, Rn. 27, z.n. juris. BGH, GRUR 2010, 318 ff. – Lichtbogenschnürung, Rn. 23. BGH, GRUR 2010, 318, 321 – Lichtbogenschnürung, Rn. 32. BGH, BeckRS 2013, 07556, Rn. 27, 28 – Safe.TV.

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Hinzuziehung eines sachverständigen Parteivertreters und einer Verpflichtung der Beteiligten zur Geheimhaltung zu gewährleisten. Er hat sogar die Anwendung der Grundätze der Entscheidung „Lichtbogenschnürung“ für ein (urheberrechtliches) Hauptsacheverfahren nicht beanstandet. Diese kurze Analyse belegt, dass die Rechtsprechung nur mit äußerster Zurückhaltung bereit ist, den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zugunsten des Geschäftsgeheimnisschutzes aufzuweichen. Einem in-camera-Verfahren, also einer von dem Gericht oder wenigstens der anderen Prozesspartei nicht überprüfbaren Beweisaufnahme, weil diese von selbiger vollkommen ausgeschlossen war, erteilt die Rechtsprechung bis heute mit Hinweis auf den Grundsatz rechtlichen Gehörs eine Absage. Im Folgenden soll nun geprüft werden, welche Folgen diese Erkenntnisse auf den Geschäftsgeheimnisschutz in Schiedsverfahren haben:

V. In-camera-Verfahren und Schiedsverfahren Verfahren mit dem Schiedsort in Deutschland wenden nach der lex loci arbitri zwingendes deutsches Recht an. Dann gilt Art. 103 GG sowie dessen spezialgesetzliche Konkretisierung in § 1042 Abs. 1 S. 2 ZPO sowie § 1047 Abs. 3 ZPO. Jegliche Kommunikation einer Partei mit dem Schiedsgericht muss hiernach der anderen Partei ebenso vorgelegt werden, wie Beweismittel und Gutachten, auf die sich das Schiedsgericht in seiner Entscheidung stützen kann. Betrachtet man den im gerichtlichen Verfahren schon sehr zurückhaltenden Umgang der Rechtsprechung mit dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor dem Hintergrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör, scheint sich für das Schiedsverfahren auf Basis der zitierten Vorschriften kein anderes Ergebnis darstellen zu lassen. Über § 1042 Abs. 1 S. 2 ZPO findet Art. 103 GG Eingang in Schiedsverfahren mit dem Schiedsort in Deutschland. In der Literatur wird hieraus gefolgert, dass Schiedsgerichte rechtliches Gehör in gleichem Umfang wie staatliche Gerichte zu gewähren haben.23 Dann wären die oben festgestellten, sehr begrenzten Möglichkeiten des prozessualen Geheimnisschutzes auf Schiedsverfahren übertragbar. Zunächst soll im Folgenden betrachtet werden, wie die Schiedsregeln international mit der Frage des Geschäftsgeheimnisschutzes umgehen. Alsdann soll auf Basis des zwingenden deutschen Rechts erörtert werden, inwieweit Geschäftsgeheimnisschutz vor dem Hintergrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör schiedsverfahrensrechtlich realisierbar ist.

23

Theune in: Schütze (Herausgeber), 3. Aufl. 2018, S. 305.

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1. Schiedsverfahren mit Schiedsort in Deutschland § 1047 Abs. 3 ZPO verlangt, dass alle Dokumente, die dem Schiedsgericht von einer Partei vorgelegt werden, der anderen Partei ebenfalls zur Kenntnis gebracht werden. Die Vorschrift wiederholt Art. 24 Abs. 3 UNCITRAL Modellgesetz.24 Ob „zur Kenntnis zu bringen“ den direkten Zugang zu der Information verlangt oder auch eine Zusammenfassung oder Wahrnehmung eines Dritten erlaubt, ist umstritten.25 Gegen die Möglichkeit einer Zusammenfassung durch Dritte spricht, dass diese letztlich nicht authentisch, sondern wertend ist und gerade die wenig verlässliche Abwägung verlangt, welcher Teil einer Information noch unter den Geschäftsgeheimnisschutz gefasst werden muss. Zudem sind die Parteien eines Schiedsverfahrens mangels Instanzenzug besonders schutzwürdig gegenüber wertenden Verkürzungen ihrer Verfahrensrechte.26 Damit würde schon § 1047 Abs. 3 ZPO jeden Geschäftsgeheimnisschutz im Schiedsverfahren ausschließen.

2. Regelungen in den wichtigsten Schiedsordnungen In Bezug auf Geschäftsgeheimnisse enthält die DIS-Schiedsgerichtsordnung keine ausdrückliche Regelung. Art. 21 Abs. 1 S. 2 DIS-Schiedsgerichtsordnung 2018 regelt vielmehr nur den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Nach Art. 22 Abs. 3 ICC Rules 2017 kann das Schiedsgericht auf Antrag einer Partei Maßnahmen erlassen, die dem Schutz der Vertraulichkeit von Geschäftsgeheimnissen oder von sonstigen vertraulichen Informationen dient. Hierbei muss das Schiedsgericht nach Art. 22 Abs. 4 der ICC Rules stets darauf achten, dass jede Partei „a reasonable opportunity to present its case“ erhält. Ebenso wenig finden sich in den Rules der AAA/ICDR, der SCC oder der SIAG Ansätze für den Geschäftsgeheimnisschutz. Entsprechendes gilt für. auch für die CIETAC Arbitration Rules und die LCIA Rules. Art. 3 Abs. 13 und Art. 9 Abs. 4 der IBA Rules 2010 legen den Schutz von Geschäftsgeheimnissen ohne nähere Wegweisung in die Hand des Schiedsgerichts. Art. 9.2 (g) IBA Rules 2010 implementiert ergänzend den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, was als Hinweis auf die notwendige Abwägung von legitimen Geheimnisschutzinteressen und rechtlichem Gehör verstanden werden kann. Nach seiner systematischen Stellung betrifft Art. 9.2 (g) IBA Rules 2010 zwar nur Art. 9.2 IBA Rules 2010, also die Frage, ob das 24

BT Drucksache 13/5274, S. 49 rechte Spalte. Vgl. Sawang Geheimhaltung und rechtliches Gehör im Schiedsverfahren nach deutschem Recht, Tübingen 2010, S. 253; MK/Münch ZPO, 3. Aufl. 2008, § 1047, Rn. 7. 26 Trittmann/Schroeder SchiedsVZ 2005, 71, 75; Sawang S. 253. 25

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Schiedsgericht ein Beweismittel ausschließen muss. In der Literatur wird jedoch vertreten, dass die Vorschrift auch gerade bei der Anordnung von Maßnahmen zum Zwecke des Geheimnisschutzes (Art. 9.4 IBA Rules 2010) berücksichtigt werden muss. Folgt man dem, so stellt man fest, dass in einem nach den IBA Rules geführten Verfahren weder das Recht auf Geheimnisschutz noch das Recht auf rechtliches Gehör absolut gelten können, es mithin vielmehr auf einen verhältnismäßigen Ausgleich dieser Rechte ankommt. Welche Folgen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Möglichkeit eines in-camera Beweisaufnahme hat, ergibt sich hieraus aber auch nicht. 3.World Intellectual Property Organization Arbitration Rules 2014 Am weitest gehenden sind die WIPO Arbitration Rules, die zwar ebenfalls keine Vertraulichkeitsverpflichtungen für Anwälte, Zeugen und Sachverständige kennen. Gleichwohl gibt es besondere, in anderen Schiedsordnungen nicht zu findende Regelungen: Art. 76b der WIPO Arbitration Rules verlangt von Zeugen und Sachverständigen, dass diese das Schiedsverfahren und seinen Inhalt vertraulich behandeln. Die jeweilige sie benennende Partei ist hierfür verantwortlich. Vertraulichkeit gegenüber der Gegenpartei und ihren Anwälten sieht die Vorschrift aber ebenfalls nicht vor. Damit befasst sich Art. 54 der WIPO Rules 2014. Die Vorschrift, die 1994 Eingang in die Regelungen der WIPO Rules gefunden hat, verfolgt den Zweck, vertrauliche Informationen nicht nur vor Dritten, sondern auch vor der Gegenpartei und selbst dem Schiedsgericht zu schützen.27 Hintergrund der Regelung ist, dass die WIPO den Geschäftsgeheimnisschutz dem jeweiligen Schiedsgericht von Fall zu Fall überlassen wollte einschließlich der Option, den Geschäftsgeheimnisschutz in den Terms of Reference zu regeln.28 Es liegt auf der Hand, dass hierdurch kaum Geschäftsgeheimnisschutz gewährleistet werden kann: Eine Gegenpartei muss sich nämlich gerade nicht auf ein entsprechendes Ansinnen des Prozessgegners oder des Schiedsgerichts einlassen. Übt das Schiedsgericht über Verfahrensverfügungen Druck aus, riskiert es die Aufhebung des Schiedsspruchs. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass keine der international führenden Schiedsordnungen in irgendeiner Form belastbare Bestimmungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen gegenüber der Gegenpartei und weiteren Beteiligten des Schiedsverfahrens vorsieht. Ein In-camera-Verfahren wird in keiner Verfahrensordnung ermöglicht.

27 28

Landolt/Garcia Commentary on WIPO Arbitration Rules, S. 67. Derains/Schwarz A Guide to the ICC Rules of Arbitration, 2nd edition, 2005, 285.

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4. Confidentiality Advisor Artikel 54 lit. d der WIPO Rules sieht vor, dass das Schiedsgericht einen sogenannten Confidentiality Advisor ernennen kann, der entscheidet, ob eine Information ein Geschäftsgeheimnis ist und, wenn ja, unter welchen Umständen sie ganz oder teilweise der anderen Partei mitgeteilt werden darf. Der Confidentiality Advisor selbst ist durch eine Geheimhaltungsvereinbarung zur Vertraulichkeit verpflichtet. Die Regelung stand Pate für Artikel 3 Abs. 8 der IBA Rules on Taking Evidence. Die Regelung erweckt den Eindruck, als könnte das Schiedsgericht eine Beurteilung der geheim zu haltenden Information auf einen unabhängigen Dritten, den Confidentiality Advisor, übertragen. Vor dieser – unzutreffenden – Interpretation wird in der Literatur29 zu Recht gewarnt. Dem Schiedsgericht ist durch die Ernennung die persönliche und nicht übertragbare Entscheidungsbefugnis über einen Sachverhalt eingeräumt worden. Diese Befugnis kann nicht auf Dritte delegiert werden. Ob vor diesem Hintergrund die Einschaltung eines Confidentiality Advisors ohne Zustimmung beider Parteien rechtsstaatlichen Anforderungen genügt, erscheint zweifelhaft. Insofern verwundert es auch nicht, dass sich in der Literatur 30 der Hinweis findet, dass bis dato kein Schiedsgericht jemals unter den WIPO Arbitration Rules von der Einschaltung eines Confidentiality Advisors Gebrauch gemacht habe.

VI. Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Schutz von Geschäftsgeheimnissen? Eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf einen dritten Sachverständigen kommt nach den obigen Feststellungen der Rechtsprechung zum staatlichen Verfahren sowie der Analyse der Schiedsordnungen nicht, jedenfalls nicht ohne ausdrückliche Zustimmung der Parteien, in Betracht. Für die Beantwortung der Frage, ob das Schiedsgericht angemessene Maßnahmen zur Vertraulichkeit von Prozessstoff unter Ausschluss einer Verfahrenspartei treffen darf, finden sich in den gängigen Schiedsordnungen keine hilfreichen Ansätze. Damit bleibt der zu gewährende Geschäftsgeheimnisschutz dem Ermessen des Schiedsgerichts überlassen. Dieses muss jede von ihm angeordnete Einschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör am Maßstab des § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. d ZPO messen. Verstößt ein Schiedsspruch gegen diese Vorschrift, ist er auf Antrag aufzuheben, bzw. nach §§ 1060 Abs.2, 1061 Abs. 1 ZPO nicht vollstreckbar. Ein Aufhebungsantrag hat dabei schon dann Aus29 30

Landolt/Garcia a.a.O., Rn. 54.9. Landolt/Garcia a.a.O., Rn. 54.10.

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sicht auf Erfolg, wenn dem Schiedsgericht ein Verstoß gegen den grundgesetzlich flankierten Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 1042 ZPO nachgewiesen werden kann. Es ist also zu fragen, ob die roten Linien, die die Rechtsprechung für die Gewährung rechtlichen Gehörs im staatlichen Verfahren gezogen hat, auch im Rahmen der §§ 1059, 1042 ZPO gelten. § 1042 Abs. 1 S. 2 ZPO stellt klar, dass nach deutschem Recht eine Schiedspartei Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Sie entspricht Art. 103 Abs. 1 GG, auch wenn bei letzterer zunächst nur von „Gericht“, nicht aber von „Schiedsgericht“ die Rede ist. Der Bundesgerichtshof hat dieses Argument indes nicht gelten lassen. Auch wenn ausgehend vom Reichsgericht31 der Maßstab rechtlichen Gehörs im Schiedsverfahren zunächst weniger streng als im staatlichen Verfahren angelegt wurde, hat der Bundesgerichtshof Artikel 103 Abs. 1 S. 1 GG später als „Grundpfeiler des heutigen Schiedsgerichtsverfahrens“ bezeichnet32. Schiedsgerichte hätten rechtliches Gehör in wesentlich gleichem Umfang wie staatliche Gerichte zu gewähren. Dies umfasse das Recht, zu allen Tatsachen und Beweismitteln Stellung zu nehmen und Erklärungen der Gegenpartei zu kennen. Das Gericht müsse den gesamten Vortrag in seine Bewertungen einbeziehen33. Auch wenn diese Auffassung in der Literatur kritisiert wurde34, lässt sich konstatieren: Die rote Linie des Anspruchs auf rechtliches Gehör, die dem verfahrensmäßigen Geschäftsgeheimnisschutz im Zivilprozess vor den staatlichen Gerichten engste Grenzen setzt, gilt auch im Schiedsverfahren – jedenfalls soweit der Schiedsort in Deutschland gelegen ist. Der Bundesgerichtshof fordert ins Besondere, dass die Parteien eines Schiedsverfahrens Gelegenheit haben müssen, zu allen Tatsachen und Beweismitteln Stellung zu nehmen, die das Schiedsgericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt35. Das schließt jegliche Form des in-cameraVerfahrens denklogisch aus. Es bleibt zu überlegen, ob andere Maßnahmen denkbar sind, ohne den Schiedsspruch angreifbar zu machen. Die Leitplanken hierzu hat der Bundesgerichtshof vorgegeben: Das Niveau des rechtlichen Gehörs, das im schiedsgerichtlichen Verfahren zu gewähren ist, dem Niveau im Verfahren vor den staatlichen Gerichten gleich.36 Damit lässt sich jedenfalls sagen, dass

31 RGZ 47, 424 ff., 426; Sawang Geheimhaltung und rechtliches Gehör im Schiedsverfahren nach deutschem Recht, S. 256. 32 BGH NJW 1983, 867; NJW 1986, 1436. 33 BGH NJW 1986, 1436 ff. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zitiert bei Sawang S. 257, Fn. 145. 34 Siehe hierzu die Ausführungen von Sawang a.a.O., S. 258. 35 BGHZ 85, 288, 291; NJW-RR 1993, 444, weitere Nachweise bei Sawang Geheimhaltung und rechtliches Gehör im Schiedsverfahren nach deutschem Recht, S. 257. 36 BGH NJW 1986, 1436 ff. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zitiert bei Sawang S. 257, Fn. 145.

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gesetzliche Einschränkungen des rechtlichen Gehörs, die für das Verfahren vor den staatlichen Gerichten akzeptiert sind, jedenfalls nicht zu einer Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör führen können. Insofern rückt hier wieder die Geschäftsgeheimnis-Richtlinie der EU und ihre Umsetzung ins deutsche Recht durch das Geschäftsgeheimnisschutzgesetz in den Blickpunkt. § 19 GeschGehG gilt nur für Geschäftsgeheimnisstreitsachen vor den staatlichen Gerichten. Dort ist eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs durch eine Beschränkung des Zugangs einer Partei zu Geschäftsgeheimnissen bis auf eine zuverlässige und zur Vertraulichkeit verpflichtete Person möglich. Diese Schutzmaßnahme steht unter dem Vorbehalt einer Güterabwägung und erfasst nicht Prozessvertreter. Sie geht auf Art. 9 Abs. 2 der Geschäftsgeheimnis-Richtlinie zurück. Sie steht nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie ebenfalls unter einem Güterabwägungsvorbehalt. Die Geschäftsgeheimnis-Richtlinie schafft insoweit einen Mindeststandard, der von den Mitgliedsstaaten entsprechend umzusetzen war. Spielräume hatte die Bundesrepublik Deutschland bei der Umsetzung insofern nicht. Wenn aber der Anspruch auf rechtliches Gehör vor den staatlichen Gerichten gemäß den Regelungen der Geschäftsgeheimnis-Richtlinie einerseits und des GeschGehG andererseits eingeschränkt werden darf, ist naheliegend, diese Wertentscheidung des Gesetzgebers auch bei der Auslegung von § 1042 ZPO heranzuziehen. Eine Schutzmaßnahme für Geschäftsgeheimnisse, die im staatlichen Verfahren keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit sich bringt, verletzt auch nicht § 1042 ZPO. Zu § 19 Abs. 1 S. 2 GeschGehG wird sich eine differenzierte Rechtsprechung bilden, die die Auslegung der Norm strukturieren kann. Auf sie kann dann von den Schiedsgerichten zurückgegriffen werden. Die Tatsache, dass die Geschäftsgeheimnis-Richtlinie und das GeschGehG die Abwägung der sich entgegenstehenden Rechtsgüter des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen verlangt, lässt es jedenfalls nicht zu, dass ein Schiedsgericht lapidar auf den Anspruch auf rechtliches Gehör verweist. Es ist zu einer – schwierigen und mit Blick auf § 1059 ZPO auch riskanten – Abwägung gezwungen. Es kann dabei zudem den Begriff der „zuverlässigen Person“ (siehe § 19 Abs. 1Satz 1 GeschGehG) betonen oder von seinem ihm nach § 19 Abs.1 Satz 3 GeschGehG eingeräumten Ermessen, weitere Anordnungen zum Zwecke des Geschäftsgeheimnisschutzes zu erlassen, Gebrauch machen.

VII. Fazit Der Geschäftsgeheimnisschutz im Schiedsverfahren ist derzeit noch nicht entwickelt. Die gängigen Schiedsordnungen enthalten hierzu keine, jeden-

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falls keine konkreten Regelungen. Das Schiedsgericht darf – jedenfalls bei einem Schiedsort in Deutschland – die Beurteilung des Streitstoffs nicht auf Dritte übertragen. Jede Maßnahme des Schiedsgerichts zum Schutz der Vertraulichkeit findet seine Grenze am Maßstab der §§ 1059, 1042 ZPO. In jedem Fall darf das Schiedsgericht die in § 19 GeschGehG angesprochenen Maßnahmen erlassen, ohne eine Aufhebung des Schiedsspruch zu riskieren.

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Some Cross-Cultural Reflections On The Notion Of “Due Process Paranoia” 453 Some Cross-Cultural Reflections On The Notion Of “Due Process Paranoia” Richard Kreindler

Some Cross-Cultural Reflections On The Notion Of “Due Process Paranoia” RICHARD KREINDLER

I. What Is Due Process Paranoia and What Forms May It Take? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Why Does the Notion of Due Process Paranoia Exist, and Perhaps Even Grow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Why Does the Notion of Due Process Paranoia Matter? . . . .

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In recent years, both in Germany and elsewhere, practitioners and commentators have raised the specter of so-called “due process paranoia.” The phrase and the concept behind it have meant somewhat different things to different observers. At the same time, generally speaking what has been meant to be addressed is a purported trend whereby arbitral tribunals display excessive trepidation about making decisions, particularly relating to procedure, which might be vulnerable to later attack on the grounds of violation of due process or the right to be heard. Such attacks could be in the form of a petition to annul the award at the seat (or, in the case of ICSID Convention arbitrations, by an ICSID annulment committee) or an opposition to attempts to recognize and enforce at the seat or elsewhere under applicable conventions and laws. They could also be in the form of petitions to the arbitral institution, if any is involved, and to the national courts. For example, the petition might equate the alleged due process violation with a lack of requisite impartiality which justifies removal of one or more tribunal members. The “paranoia” identified by some practitioners and commentators is seen as leading to increasingly generous, even lax treatment of applications, requests for leave, and ultimately admission of new evidence as a means to forestall attacks based on due process violations. These attacks, depending on the circumstances, could undo the privacy or confidentiality attaching to many international arbitration proceedings and decisions.

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I. What Is Due Process Paranoia and What Forms May It Take? The very fact that a purported trend has been identified toward more generous and even lax treatment of procedural requests and objections suggests that patterns of conduct, with a certain repetition and even predictability, have arisen in international arbitration practice over time. Whether and how much this is even true is difficult to gauge. Ultimately, each arbitration observer is dependent upon his or her own experience and on the study of necessarily incomplete reporting of arbitral proceedings and conduct as well as post-award developments. The more extensive such experience and reporting are and the more they are shared in a reasonably complete and empirical manner, the more reliable the identification of “trends” in a particular direction. At the same time, the percentage of such proceedings and developments which are reported comprehensively, if at all, is still likely to be only a fraction of the actual total. A notable exception is that the lion’s share of investment treaty arbitrations and post-award activity, particularly under the ICSID Convention, are more transparent and visible than many commercial disputes. On the other hand, due process paranoia is by definition a purported mindset of arbitrators which also affects their decision-making conduct in unspoken ways. Furthermore, the application of such paranoia is said to reduce the frequency of post-award attacks based on due process violations. For those two reasons, the “presence” or “proliferation” of due process paranoia are actually marked just as much by the absence of postaward proceedings as by their existence. Assuming that the experienced counsel or arbitrator does have a basis in practice to perceive a rise in due process paranoia, and to report on it to the relevant arbitration community, the question arises of what forms such paranoia may take – which allow for observation of a trend in the first place. Answering this question is not as easy or factual as might first appear, for a number of reasons. One such reason is that one arbitrator’s paranoia is another’s meticulousness. A second reason is that one arbitrator’s generosity is another’s flexibility. A third reason is that one arbitrator’s intentional laxness is another’s unintended lack of attentiveness. Each of these attitudes may be made known to the parties on the one hand or wholly concealed from them on the other. And each might be triggered by various kinds of conduct on the part of counsel. These include, among others, insistence respecting (i) the length or the number of prehearing written submissions; (ii) the submission or not of written witness statements; (iii) the holding of documents-only proceedings or of oral hearings; (iv) the number of hearing days or weeks; (v) the number of oral witness or expert examinations and the method of allocating time; (v) division

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of the proceedings into multiple phases to address, e.g., jurisdiction, admissibility, liability or damages; (vi) providing for and regulating orders of production or non-production of requested documents, including on the basis of e.g., burden of proof, confidentiality or privilege; (vii) admission or nonadmission of “new evidence” during the oral hearing; (viii) the length or the number of post-hearing written submissions, including “new evidence” or “new developments” alleged to have public policy implications; and (ix) the reopening of the evidentiary proceedings for similar reasons notwithstanding a formal Schließung des Erkenntnisverfahrens or clôture de la procedure. The foregoing is only a partial list of possible conduct or pleas which may be couched in terms of “due process” or “right to be heard.” Everything is in the eye of the beholder: one observer may see each of these examples as judicious and indeed indispensable for purposes of zealous advocacy and truth-seeking, while another observer may see the same example as wasteful, gratuitous, overzealous and even what has been called “guerilla tactics.” Not one size fits all, and often both characterizations can be partially and simultaneously true. For example, the counsel’s plea is overzealous, but the measure insisted upon may in fact contribute materially and productively to the tribunal’s rendering of a more complete and legitimated decision than if the measure were rejected. This may be particularly the case where, including in Germany, recent case law on annulment petitions has grappled with the extent to which the written award adequately demonstrates that the arbitral tribunal sufficiently engaged with a core subject matter in dispute before it. Not every “sufficient engagement” with a core subject matter in dispute requires the generous granting of the kinds of examples in (i) through (ix) above. One simple reason is that even if the arbitral tribunal “generously” permits one or more of these examples, this does not necessarily mean that all of the additional submissions or evidence allowed in are, in whole or in part, relevant or material from the arbitrator’s perspective. At the same time, the more comprehensive and complex the written and oral proceedings preceding the award, the more likely it is that the arbitral tribunal will see fit to have commensurate engagement with the issues which the parties took pains to put before it. These will likely include at least some issues which the arbitral tribunal deems not to have been material or relevant. It is not entirely coincidental that most of the foregoing examples (i) through (ix) overlap with the useful, but not always sufficiently heeded issues which have been listed as being worthy of consultation since 2010 in Article 2(2) of the IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration and since 2018 in Annex 3 of the 2018 DIS Rules of Arbitration. Both sets of rules address such examples partly in the context of promoting efficiency, economy and conservation of resources. This fact highlights the potential tension between promoting efficiency on the one hand and accommodating party insistence on certain measures prone

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to lengthen, complicate or otherwise burden the proceedings and thereby the task of the tribunal. In short, where an arbitral tribunal accedes to a request corresponding to one of the examples (i) through (ix) above, the “accommodation” may often make the tribunal’s overall task of fact-finding and decision-making more difficult, more inefficient, more uneconomical and more resource-intensiveness. This is by no means always the case, but often so.

II. Why Does the Notion of Due Process Paranoia Exist, and Perhaps Even Grow The perceived phenomenon of due process paranoia is inseparable from the inalienable mandate of “opportunity to be heard,” also known as “the right to an adversarial proceeding.” For that reason, it is essential to consider this perceived phenomenon. This is all the more true when one considers that different arbitrators exhibit different understandings and approaches to due process, including its nature, scope and limits. These different understandings and approaches are a direct result of disparities in how the right to be heard by one party is balanced with the opposing party’s right to be heard, as well as balanced with the right of the arbitrator to investigate the facts and law with all appropriate means. In essence, the right of one party is weighed against the right of another, also in the sense of “equal treatment” and “equality of arms.” And the rights of both parties to be heard are then weighed against the entitlement of the arbitral tribunal to run the proceedings in its own best understanding. The potential clash of understandings will be informed by different legal and cultural backgrounds. It will also be informed by the application of the respective lex arbitri (apart from ICSID Convention arbitrations, which have no juridical seat). In this regard, one need look no further than a comparison of the UNCITRAL Model Law, the ICC Rules of Arbitration and other leading rules and arbitration laws (both Model Law-based and otherwise) to see that when it comes to codification of the basic mandate of right to be heard, “equal opportunity” exists alongside “reasonable opportunity” and “full opportunity.” On that basis alone, it is not surprising that decisions of arbitral tribunals as to what constitutes due process fall along a relatively broad sliding scale. This scale widens even further when one takes into account the respective background of an arbitrator, and then the attempt to accommodate the views of three different arbitrators in one and the same decision. If any kind of “paranoia” is said to exist, particularly in international arbitrations involving a multiplicity of players and legal cultures, then precisely this multiplicity can often lead to hybrid or blended discussions and deci-

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sions on procedural and evidentiary disputes. By contrast, if a discussion and decision are instead made in a domestic arbitration in which the parties, counsel and arbitrators are all of one and the same legal culture, that decision could be considerably different, even while involving the exact same procedural or evidentiary point as in the international arbitration. Disputes about the examples (i) through (ix) listed above can easily take on a different character and “risk profile” when not all of the participants speak “the same language” in terms of the rights of the parties versus the rights of the arbitrators. This is not always the case, but increasingly so. And with the increasing frequency of international arbitration involving multiple legal cultures, the absence of a “single language” in the proceedings and in the hearing room has only increased. To be sure, “soft law” efforts at harmonization and even codification which might facilitate the acceptance of a common language respecting due process have abounded in recent years. This has occurred precisely as a result of the growth of cross-border dispute resolution. The aforementioned IBA Rules of Evidence are a prominent example of such efforts, but by no means the only one. The increasing willingness to agree to use or consider the IBA Rules “by inspiration” has helped to form a common language in terms of so-called “best practices.” However, that common language has by no means eliminated the desire and need to plead different approaches to due process. On the contrary, even the acceptance – often begrudging – of such best practices has led to good- and bad-faith disagreements as to the how far such best practices go in particular cases. Thus the mutually accepted soft law and best practice are marshalled by parties to contend that the right to be heard extends farther – or less far – than might otherwise be assumed without reference to them. It seems beyond debate that the aforementioned phenomena of “soft law” and “best practices” have grown in importance and acceptance in the last decade or two. The question then arises of whether their growth has also fueled a rise in the notion of due process paranoia. The answer is probably yes, at least based on my own experience as both counsel and arbitrator in a range of domestic German and international commercial and investment arbitration matters. On the international front, the increasing appeal to soft law and best practices has surely fed a rise in multidisciplinary arguments as to the scope of a party’s right to be heard. These arguments draw on a hybrid pool of domestic, transnational and international procedural and public policy sources. Even on the domestic front, soft law and best practices have been used to “inform” the foundation of a due process argument. They are often referenced to invoke the unique nature of arbitration as being divorced from conventional state court procedures and being governed by its own separate set of procedural rules and statutes. At the same time, both internationally and domestically, the prior tendency toward appointment of

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arbitrators with professorial or judicial background has yielded to a more diverse range of arbitrator backgrounds, training and experience, even when confined to one and the same country. As a result of the foregoing developments, on the one hand the participants in both international and domestic arbitrations are more likely to speak “the same language.” On the other hand, even where they do so, the very existence of that lingua franca may sometimes lead not only to creative comparativist pleas by counsel about the scope of due process, but also to creative comparativist decisions by tribunals about that scope. Such pleas and decisions need not necessarily be considered extreme or “paranoid,” but it is fair to say that the more hybrid and multi-rooted the participants in the process, the more likely the desire of the tribunal to render a decision which is compromising, conciliatory, salomonic and mutually pleasing in nature. The correlation is by no means guaranteed, but certainly observable. This is all the more so in international cases. The proverbial “split the baby” phenomenon, which is in fact a largely undeserved criticism of arbitration awards generally, can indeed be observed with some frequency in interlocutory decisions on procedure and evidence in which due process concerns are at play. If it true that such compromise and conciliation in decision making on due process matters has become more frequent, it should still be asked whether such greater frequency is to be equated with due process “paranoia.” The notion of “paranoia” suggests that arbitral tribunals are not only seeking to accommodate conflicting procedural and evidentiary understandings of warring parties. In addition, “paranoia” suggests that tribunals are bending over backwards out of exaggerated prudence, or even fear, to err on the side of a wider and greater opportunity to be heard. And the notion suggests further that such generosity is not necessarily merit-based, but born of a desire to shore up the interim decision and the resulting award against an express or implied threat to oppose enforceability of the award, or even already of the interlocutory decision, in the courts of competent jurisdiction. The desire to insulate arbitral conduct sometimes arises out of an overt complaint. Oftentimes, there is a “reservation of rights,” also for the purposes of forestalling a waiver of the right of objection. Alternatively, sometimes there is an implied or veiled complaint that a failure to grant the requested relief – e.g., more time, admission or exclusion of evidence, etc. – will infringe procedural or substantive rights either at the seat (if any) or at a likely place or places of enforcement later on. Sometimes such complaints are substantiated by specific discussion of due process or public policy considerations under the lex arbitri or some other law or laws; more often, the complaint is made without such discussion. Sometimes, the members of the arbitral tribunal are expert or at least experienced in the law said to apply to the complaint; more often, they are not conversant with that law, or in any event not at home in that legal system.

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There is also an unevenness of access to arbitration proceedings taking place in commercial and investment treaty disputes: some are confidential, others are not, some are forever secret, others are extensively covered in the media and commentary. Accordingly, it is impossible to reliably observe, beyond one’s own experiences, whether or not the above-mentioned conduct has truly increased in recent years. Within the arbitral proceedings, my own experience does suggest that with increasing stakes and greater institutionalization of arbitral practices within large global law firms, some parties are increasingly eager to assert their rights and couch them in terms of a potential due process “violation.” This eagerness has been coupled with an increasing Anglo-Americanization of the international, and even domestic, arbitral process in civil law-based countries such as Germany and Switzerland. The effect can be that counsel are entitled and expected to play an ever greater “adversarial” role while arbitrators are expected to play an ever less “inquisitorial” one. It is then only one small step from such a development to note that arbitrators, in a given case, are confronted with increasingly zealous and complex arguments about the scope of due process rights. Again, this is more of an anecdotal observation than an empirical verification. An empirical verification is probably more easily made as to the growth, if any, in public state court proceedings to annul and oppose enforcement of arbitral awards on the basis of an alleged due process violation. The simple reason for easier verification is that such proceedings – whether in the context of national arbitration law, the New York Convention, the ICSID Convention or other bases – are far more likely to see the light of day and be reported on than is the case for conduct in the underlying arbitral proceedings themselves. This is certainly true for annulment proceedings under the ICSID Convention, annulment proceedings in state courts under national law, and enforcement proceedings in state courts under the New York Convention. Here, there has surely been a generally steady and indeed constant trend of annulment petitions under the ICSID Convention. Annulment proceedings and opposition to enforcement proceedings under national law will of course depend on the country, with certain jurisdictions spawning a constant stream of such actions and almost no such activity in others. In the case of Germany and Switzerland, there would appear to be a discernible but not dramatic increase in such proceedings over the last decade or so. Whether any such increase is attributable to greater zeal and even vexatiousness in asserting due process rights is impossible to say, although it cannot be excluded. It is just as likely to be attributable to the simple fact that especially in international proceedings, multicultural differences in the understanding of “due process” can give rise to honest differences in belief as to the scope of the protection. And as mentioned above, paradoxically the true exercise of a preemptive due process paranoia would likely lead to a reduction in such post-award proceedings, and not vice versa.

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III. Why Does the Notion of Due Process Paranoia Matter? As of this writing in early 2020, from both a party’s and arbitrator’s perspective due process may be considered to be alive and well, even while it is not subject to one single definition or standard. It cannot and should not be reduced to a plain-vanilla least common denominator. The same applies to the notion of public policy, even where there is a debate as to whether a “transnational” or “international” public policy exists. The identification of transnational or public policy norms or standards does not prevent the continued existence of certain national, domestic or local standards in parallel. Having said this, while we do not find ourselves in a period of having to “Make Due Process Great Again,” we may in fact be at somewhat of a crossroads – hence the choice of this subject at this time. What is the crossroads? Due process paranoia surely exists and is surely not on the decline. Spirited generosity in accommodating good-faith requests to be heard is often appropriate and indeed useful to completing the tribunal’s task efficiently and judiciously. Indeed an expansive approach to the right to be heard can be seen as sometimes reducing the likelihood of arbitral disregard or even error. It can do so by shining a broader light on the facts which the tribunal should consider, and cutting off at the pass post-award court proceedings based on alleged violation of due process. Some of those court proceedings, but by no means all of them, therefore never occur because they are deprived of their basis. Avoiding such proceedings in the first place is often a good thing, since they are often impossible to adjudge fairly, they undermine the originally agreed confidentiality of the proceedings, and they congest the courts unproductively. In short, not all requests to be “heard further” are made in good faith. Not all invocations of alleged public policy-based rights under a law other than the lex arbitri and lex causae are actually correct, let alone relevant. Not all due process arguments based upon an alleged burden or standard of proof are correct or relevant either. This is especially so if the arbitral tribunal – as is unfortunately frequently the case – has not consulted internally or with the parties at an appropriate early stage as to what specifically the burden or standard of proof should be. In short, the arbitral tribunal, especially in an international case, is under increasing pressure and need to consider complex and even conflicting questions under the lex arbitri, the lex causae and other laws which may be outside of its ken, unexpertly plead and indeed irrelevant. The uncertainties that go with this challenge can well lead to a decision to compromise, to give and take, to allow for more time and ultimately cost. That kind of decision, whether “paranoid” or not, can lead to greater inefficiency, higher costs for the parties, and an ineffectual dispute

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resolution mechanism when compared to state court litigation. In the spirit of “Make Due Process Great Again,” that kind of decision can also reward bad-faith conduct, guerilla tactics and simple advocacy-by-bullying. Such bullying, today more than ever before, should disturb any friend of civilized contentious discourse. There is no single or easy answer to what is ultimately a balancing act. That balancing act is simultaneously exacerbated and enriched by the fact that there is no uniform standard of due process – and therefore no uniform due process paranoia. Here too, the answer to the question, “Who’s arbitration is it anyway, the parties’ or the arbitrators’?” is “both” – but surely with a slight leaning toward the parties, owing to the whole notion of arbitration and party autonomy. At the same time, it is probably wrong to assume that when in doubt an arbitral tribunal should invariably err on the side of applying a more generous scope to due process simply out of fear of annulment. Not only are annulment petitions generally routinely unsuccessful, at least in such countries as Germany, Switzerland and France, but the mere publicity of having one’s award be subject to annulment scrutiny should not be feared, and should not lead to excessive generosity. While the comparison is not perfect, it is fair to say that the frequently trod path to bringing an annulment petition in publicly monitored ICSID arbitrations has not necessarily undermined the reputation of various wellregarded investment arbitrators implicated by such petitions. Nor has the frequent path to annulment petitions in ICSID arbitrations necessarily materially improved the quality or consistency of the underlying jurisprudence in many cases. By contrast, in commercial arbitration due process decisions of the arbitrator are subject to less pre-award public scrutiny and less public second-guessing. That does not mean that commercial arbitrators should revel in the freedom given them by privacy. But it also does not mean that the risk of reputational harm coming from an annulment petition, let alone a successful petition, should lead to exaggerated fear on part of the arbitrator. Admittedly, the ICSID arbitrator has a more confined corset within which to make procedural decisions and the ICSID annulment committee a more uniform and repetitive set of standards than apply in commercial arbitration. At the same time, the commercial arbitrator, even without having expert knowledge of the annulment standards at some far-flung and even exotic seat, should be confident of his or her craft without feeling the need to compromise. If due process calls for compromise, so be it. If it does not necessarily do so, then even the best-grounded due process decisions cannot prevent each and every conceivable attack at the seat or elsewhere in any event. At the end of the day, even the ICC Rules and LCIA Rules in their most recent iterations are not fully aligned as to the scope of duty of the ar-

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bitrator to ensure that his or her award is legally recognized and enforceable at the seat, beyond the seat or both. ooOOoo Ultimately, due process paranoia, if and when it exists, should not be an undue concern for an arbitrator or a counsel who combines in one person the best local and international experience and practice of an advocate, an arbitrator, a scholar and a possessor of civility and common sense. Over several decades now, Roderich Thümmel has possessed precisely this rare and desired combination of traits and skills. He has thereby made a material, graceful and thankful contribution to the quality and evenhandedness of arbitration practice in and related to Germany.

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Wissentlichkeitsausschluss, Bindungs- und Infektionswirkung

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Wissentlichkeitsausschluss, Bindungs- und Infektionswirkung Oliver Lange

Wissentlichkeitsausschluss, Bindungs- und Infektionswirkung im D&O-Deckungsprozess OLIVER LANGE

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wissentlichkeitsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zusammenspiel von Wissentlichkeitsausschluss und Bindungswirkung im Deckungsprozess . . . . . . . . . . . 1. Anknüpfungsgegenstand der Bindungswirkung . . . . . 2. Einführung einer im Haftungsurteil nicht benannten Pflichtverletzung in den Deckungsprozess . . . . . . . . . 3. Einführung des Wissentlichkeitsausschlusses in den Deckungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der Wissentlichkeitsausschluss gehört seit jeher zu den Standardausschlüssen in den AVB einer D&O-Versicherung.1 Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind hiernach Haftpflichtansprüche, die auf wissentlicher Pflichtverletzung eines Versicherten beruhen (dazu II.). Bei der Beurteilung der Verwirklichung des Wissentlichkeitsausschlusses im Deckungsprozess hat das Gericht die „Bindungswirkung“ des rechtkräftigen Haftungsurteils2 1

Lange, DStR 2002, 1674, 1676; Seibt/Saame, AG 2006, 901, 908. In der Regel wird von der Bindungswirkung „des Ergebnisses des Haftungsprozesses“ (etwa von Grau, DStR 2019, 1486, 1487) oder „der rechtskräftigen Entscheidung des Haftpflichtprozesses“ (etwa von Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 100 Rn. 33 und Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 103) gesprochen; der Einfachheit halber wird dies im Folgenden mit dem praktisch häufigsten Ende eines Haftungsprozesses, nämlich dem rechtskräftigen Haftungsurteil, gleichgesetzt (so auch BGH VersR 2001, 1103; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 538; Harsdorf-Gebhardt, Bindungswirkung des Haftpflichturteils und prozessuale Besonderheiten im Direktprozess, in: Dörner/Ehlers/Pohlmann/Schulze Schwienhorst, Workshop zur Haftpflichtversicherung der Münsterischen Forschungsstelle für Versicherungswesen, (Münsteraner Reihe Band 113), 2010, S. 25). Der BGH spricht bisweilen auch von der „Bindungswirkung des vorangegangenen Haftpflichtprozesses für 2

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für den Deckungsprozess zu berücksichtigen (dazu III.).3 Der Frage, was das eigentlich genau bedeutet, geht der Verfasser nach (dazu IV.), um hierdurch – sehr gerne – den Jubilar zu ehren, der als einer der Ersten die D&OVersicherung in Deutschland zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht hat4 und seither in der Praxis ständig begleitet. Vorab enthüllt sei die spannende Erkenntnis, dass eine nicht wissentliche Pflichtverletzung durch eine (andere) wissentliche Pflichtverletzung mit dem Wissentlichkeitsausschluss „infiziert“ werden kann; das ist mit der in der Überschrift erwähnten „Infektionswirkung“ gemeint.5 II. Der Wissentlichkeitsausschluss Zum Inhalt des Wissentlichkeitsausschlusses kann man sich kurz fassen und ergänzend auf andere Publikationen6 und Rechtsprechung7 verweisen.8 Ausgeschlossen sind, wie der Wortlaut schon sagt, wissentliche Pflichtverletzungen, wobei die Formulierungen unterschiedlicher AVB im Detail voneinander abweichen können. Um den „Kern“ einer wissentlichen Pflichtverletzung herum können bspw. auch weitere Ausschlüsse vereinbart sein, etwa ein Ausschluss für vorsätzlich verursachte Schäden.9 Außerdem den Deckungsprozeß“ (BGH NJW 1992, 1509, 1510). Zur (umstrittenen) Bindungswirkung von Schiedsurteilen siehe Tehrani, VersR 2018, 1166, 1167; zur (nicht bestehenden) Bindungswirkung von Strafurteilen siehe BGH NJW-RR 2018, 1534 Rn. 8 ff.; BAG NJW 2015, 651 Rn. 26 ff.; OLG Zweibrücken Urt. v. 1.7.2010 – 4 U 7/10 (BeckRS 2010, 21764); Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, § 103 Rn. 63. 3 Das gilt allerdings nicht im Direktprozess, den der Geschädigte gegen den Versicherer führt, nachdem der Versicherte seinen versicherungsvertraglichen Freistellungsanspruch an den Geschädigten abgetreten hat; denn wo keine Trennung zwischen Haftungs- und Deckungsprozess besteht, gibt es auch keine Bindungswirkung (siehe BGH NJW-RR 2007, 827 Rn. 8, wonach die Bindungswirkung nicht weiter geht, als sie wegen der prozessualen Trennung von Haftungs- und Deckungsprozess geboten ist und BGH VersR 1992, 1504 [unter Verweis auf BGH VersR 92, 568 unter 3 a bis d]: „Bindungswirkung kann allerdings immer nur dort entstehen, wo das Trennungsprinzip gilt.“). 4 Siehe insb. Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016 (Erstauflage 1996). 5 Zu Einzelheiten siehe IV. 3. a. 6 Bspw. Dilling, VersR 2018, 332; Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343 ff.; Kordes, r+s 2019, 307; Lange, DStR 2002, 1674, 1676 ff. 7 Bspw. BGH NZI 2015, 271 Rn. 15; VersR 2006, 106, 108; OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 70; OLG München r+s 2016, 123 Rn. 9. 8 Gleiches gilt für die Wirksamkeit des Ausschlusses (hierzu siehe BGH VersR 1991, 176; OLG Düsseldorf, VersR 2019, 537, 539; OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 Rn. 49; OLG München DStRE 2016, 761 Rn. 9). 9 Die Formulierungen unterscheiden sich im Detail, siehe bspw. A-7.1 der AVB D&O des GDV (Stand: Mai 2019): „Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind Haftpflicht-

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kann der Wissentlichkeitsausschluss mit Wiedereinschlüssen versehen sein, bspw. für wissentliche Pflichtverletzungen, die der Versicherte in dem guten Glauben begeht, im besten Interesse des Unternehmens zu handeln10 oder für vorläufigen Rechtsschutz bis zur rechtkräftigen Feststellung der Wissentlichkeit.11 Solche Erweiterungen und Einschränkungen des Wissentlichkeitsausschlusses sind für die folgenden Überlegungen nicht weiter relevant. Hierfür genügt zu wissen, dass Wissentlichkeit „direkter Vorsatz“ im Sinne des dolus directus 2. Grades bedeutet,12 also „das sichere Wissen, dass das eigene Handeln pflichtwidrig ist.“13 Verwirklicht ist der Ausschluss deshalb, wenn ein Versicherter eine Pflichtverletzung in dem Bewusstsein der Pflicht14 und dem Bewusstsein, sich nicht pflichtgemäß zu verhalten,15 begangen hat. Notwendig sind hiernach ein Pflichtbewusstsein und ein Pflichtverletzungsbewusstsein, jeweils zur Zeit des pflichtwidrigen Verhaltens.16 Nicht erforderlich ist ein Schädigungsbewusstsein oder gar ein Schädigungsvorsatz.17 Nicht ausreichend ist demgegenüber dolus eventualis18 ansprüche wegen vorsätzlicher Schadenverursachung oder durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Beschluss, Vollmacht oder Weisung oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“; hierzu siehe Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 6 ff. 10 Siehe Dreher, VersR 2015, 781, 784 und Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&OVersicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 35. 11 Hierzu siehe Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, VersicherungsrechtsHandbuch, 3. Aufl. 2015, § 28 D&O-Versicherung, Rn. 121; Finkel/Seitz, in: Seitz/ Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 27 ff.; Ihlas, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, 320. D&O-Versicherung, Rn. 612 f.; Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016 Rn. 473a. 12 OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539; Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 345 f.; Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 13. 13 OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 Rn. 49; ähnlich OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539: „Der Handelnde muss (…) die jeweilige Pflicht positiv kennen; es reicht also nicht aus, wenn er die Pflicht nur für möglich erachtet hat.“ 14 BGH NZI 2015, 271 Rn. 15 f.; VersR 1987, 174, 175; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539; OLG Karlsruhe r+s 2018, 17 Rn. 47; OLG Hamm r+s 2007, 279 f. 15 OLG Koblenz VersR 2011, 1042, 1044; LG Bad Kreuznach Urt. v. 6.5.2014 – 4 O 124/11 (BeckRS 2015, 01891); LG Köln r+s 2007, 288, 289 f. 16 OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 66; Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 28 D&O-Versicherung, Rn. 118; Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 14. 17 OLG Karlsruhe r+s 2018, 17 Rn. 47; OLG Saarbrücken Urt. v. 31.10.2007 – 5 U 510/06 (BeckRS 2008, 06461); OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539; Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 15; Jüngel, NZI 2015, 272; Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016 Rn. 473.

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oder irgendeine Fahrlässigkeit des Versicherten, noch nicht einmal grobe Fahrlässigkeit oder sogar Leichtfertigkeit.19

III. Die Bindungswirkung Die primäre Darlegungslast20 und die Beweislast21 für die Tatsachen, aus denen sich die Verwirklichung des Wissentlichkeitsausschlusses ergeben soll, trägt der Versicherer; den Versicherten trifft insoweit eine sekundäre Darlegungslast.22 Darlegung und Beweis sind allerdings überflüssig, soweit im Deckungsprozess eine Bindung an die im rechtskräftigen Haftungsurteil getroffenen Tatsachenfeststellungen besteht. Die „Bindungswirkung des rechtskräftigen Haftungsurteils für den Deckungsprozess“ besagt vor diesem Hintergrund, dass diejenigen das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachenfeststellungen,23 die gleichermaßen für die Beurteilung der 18 BGH NZI 2015, 271 Rn. 15; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539; OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 Rn. 49; OLG Düsseldorf r+s 2005, 155, 156 f. 19 BGH NZI 2015, 271 Rn. 24 f.; OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 70; Felsch, r+s 2018, 265, 268; nicht ausreichend daher auch: „Blauäugigkeit“, „Unbedarftheit“ oder „Leichtgläubigkeit“. 20 Primäre Darlegungslast bedeutet nach BGH NZI 2015, 271 Rn. 20 f.: „[20] (…) Aus der grundsätzlichen Darlegungs- und Beweislast des Versicherers folgt (…), dass dieser zunächst einen Sachverhalt vorzutragen hat, der auf eine Wissentlichkeit der Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers zumindest hindeutet. Dabei wird der Vortrag weiterer zusätzlicher Indizien dann entbehrlich sein, wenn es sich um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handelt, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann (…). [21] Jenseits der Fälle der Verletzung von beruflichen Kardinalpflichten, in denen vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge geschlossen werden kann, ist es aber Aufgabe des beweispflichtigen Versicherers, Anknüpfungstatsachen vorzutragen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können.“ 21 Hierzu (und zum Verhältnis zwischen Darlegungs- und Beweislast) siehe Muthorst, Jus 2014, 686 f.; Schmidt, Jus 2003, 1007, 1008 f.; Stein, Jus 2016, 896, 897. Folge der Beweislast des Versicherers ist, dass sich die Nichterweislichkeit eines bewußten Pflichtverstoßes im Deckungsprozess zu seinem Nachteil auswirkt (OLG Köln r+s 1998, 59). 22 Sekundäre Darlegungslast bedeutet (im Anschluss an Fußnote 20) nach BGH NZI 2015, 271 Rn. 21: „(…) Erst wenn dieses geschehen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Umstände aufzuzeigen, warum die vorgetragenen Indizien den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung nicht zulassen.“ und nach OLG Köln r+s 2012, 172: „Man muss in diesem Zusammenhang vom Versicherungsnehmer (...) verlangen (sekundäre Darlegungslast), dass er (…) plausibel macht und darlegt, aus welchen Gründen es zum Verstoß gekommen ist (...)“; die sekundäre Darlegungslast trifft auch einen Rechtsnachfolger des Versicherten, bspw. den Geschädigten, der den Freistellungsanspruch durch Abtretung oder Pfändung erlangt hat (OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 539). 23 Hierzu siehe sogleich unter IV. 1.

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Haftung wie der Deckung erheblich sind,24 im Deckungsprozess nicht in Frage gestellt werden können, sondern bei der Urteilsfindung des Gerichts als bindend vorgegeben berücksichtigt werden müssen,25 gleichgültig, ob sich das zum Vor- oder Nachteil des Versicherten oder des Versicherers auswirkt.26 Hieraus folgt im Umkehrschluss: Ein rechtskräftiges Haftungsurteil, das einen Organhaftungsprozess abschließt, entfaltet grundsätzlich keine Bindungswirkung hinsichtlich des ausgeurteilten Verschuldensgrades, gleichgültig, ob ausdrücklich Fahrlässigkeit, bedingter Vorsatz oder Wissentlichkeit festgestellt wird. 27 Wie gesagt, entfalten nämlich nur tragende Feststellungen des Haftungsurteils Bindungswirkung; der Verschuldensgrad ist aber grundsätzlich28 keine tragende (sondern eine „überschießende“ 29) Feststellung im Organhaftungsprozess, weil die Innen- und Außenhaftung eines Geschäftsleiters oder Aufsichtsratsmitglieds nur von irgendeinem Verschulden, nicht aber von einem bestimmten Verschuldensgrad und schon 24 Sog. „Voraussetzungsidentität“ (BGH NJW-RR 2001, 1311, 1312; VersR 1992, 1504; OLG Hamm Beschl. v. 19.8.2019 – 8 W 6/19 (BeckRS 2019, 19580) Rn. 11; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 538; Felsch, r+s 2018, 265, 268; Finkel/Seitz, in: Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, AVB-AVG Ziff. 5 Rn. 32 f.; Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 70; Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 100 Rn. 38; Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 107; Lücke in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 60; Tehrani, VersR 2018, 1166, 1168). 25 BGH NJW-RR 2001, 1311, 1312; VersR 1992, 1504; OLG Hamm Beschl. v. 19.8.2019 – 8 W 6/19 (BeckRS 2019, 19580) Rn. 11; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 538; Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 66; Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 107. 26 Anders ist es in der Rechtsschutzversicherung; dort besteht keine Bindungswirkung, siehe BGH NJW 1992, 1509: „Für die Parteien eines Rechtsschutzversicherungsvertrages sind auch in Fällen sogenannter Voraussetzungsidentität die Tatsachenfeststellungen nicht bindend, die in dem Verfahren getroffen werden, für dessen Durchführung Deckungsschutz vom Versicherer verlangt wird.“ 27 Anders bei Innenhaftungsurteilen, die leitende Angestellte betreffen, da es sich um Arbeitnehmer handelt und die Arbeitnehmerhaftung vom Verschuldensgrad abhängt; insoweit sind Feststellungen zum Verschuldensgrad tragend und entfalten deshalb Bindungswirkung. 28 Eine Ausnahme gilt bspw. in Haftungsfällen gem. § 826 BGB oder im Rahmen einer Außenhaftung auf Schmerzensgeld (siehe BGH VersR 1992, 1504, wonach sich die Bindungswirkung einer im Haftungsprozess für die Höhe des Schmerzensgeldes relevanten Tatsache – hier: kein Vorsatz des Versicherten – im Deckungsprozess auf den Vorsatzausschluss erstreckt). 29 Zu einem Fall „überschießender“ Feststellung von Wissentlichkeit in einem Außenhaftungsurteil (betreffend die Steuerhaftung eines Geschäftsführers gem. §§ 34, 69 AO) siehe FG Rheinland-Pfalz DStRE 2015, 434, 436: „(…) ist er damit bewusst das Haftungsrisiko des § 69 AO eingegangen (…) Nimmt der Geschäftsführer die gebotene Lohnkürzung nicht vor, geht er damit bewusst ein Haftungsrisiko ein, so dass ihn die Haftungsfolgen des § 69 AO auch bei unerwartetem Ausbleiben der Kreditmittel oder bei einem unerwarteten Eintritt der Zahlungsunfähigkeit treffen (…).“

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gar nicht vom Verschuldensgrad der Wissentlichkeit abhängt.30 Dessen ungeachtet sind allerdings die Tatsachenfeststellungen, aus denen im Haftungsurteil auf Verschulden oder auf eine andere Haftungsvoraussetzung geschlossen wird, tragend und damit für den Deckungsprozess bindend.31 Im Übrigen ist relevant: Der Zweck der Bindungswirkung besteht darin, widersprüchliche Feststellungen – und darauf beruhende widersprüchliche Entscheidungen – im Haftungs- und Deckungsprozess zu vermeiden.32 Daraus folgt zugleich: Was im rechtskräftigen Haftungsurteil nicht festgestellt ist, bindet auch nicht, selbst dann nicht, wenn es im Prozess zur Sprache gekommen ist.33 Weiterhin relevant: Rechtsgrundlage der Bindungswirkung ist der Versicherungsvertrag; ihm wird sie im Wege der Auslegung des Leistungsversprechens, das der Versicherer dem Versicherten gegeben hat, entnommen.34 Ihre äußerste Grenze findet die Bindungswirkung im Rechtsmissbrauch (§ 242 BGB); deshalb entfalten Tatsachen, die Geschädigter und Versicherter im Haftungsprozess wahrheitswidrig behauptet oder unstreitig gestellt haben, um zunächst ein dem Grunde oder der Höhe nach unzutreffendes Haftungsurteil und sodann Freistellung vom Versicherer zu erschleichen, keine Bindungswirkung zulasten des Versicherers.35 Die Darlegungs30 Siehe bspw. (zu § 64 GmbHG) OLG Düsseldorf r+s 2018, 534 Rn. 60 ff. Anders, wenn die Innenhaftung eines Geschäftsleiters dem Grunde oder der Höhe nach vom Verschuldensgrad der Wissentlichkeit abhängt, weil eine Haftung für einen geringeren Verschuldensgrad wirksam vertraglich ausgeschlossen oder auf einen Höchstbetrag begrenzt wurde (ähnlich Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 110 für den Fall einer vereinbarten Haftungsbegrenzung auf Vorsatz). 31 Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 70. 32 BGH NZI 2015, 271 Rn. 11; NJW 2011, 610; VersR 2001, 1103; 1992, 568, 569; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 538; Grau, DStR 2019, 1486, 1487; Langheid, in: Langheid/ Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 100 Rn. 33; Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 103; Tehrani, VersR 2018, 1166. 33 Siehe ausdrücklich OLG Düsseldorf r+s 2005, 155, 156 f.: „Der Wertung (…) zu Grunde zu legen sind (…) die Feststellungen des Haftpflichtgerichts, soweit diese nicht überschießend, also für die seinerzeit zu treffende Entscheidung erheblich waren. Es kann also in diesem Rahmen nicht auf sein Vorbringen in den Schadenersatzverfahren ankommen, sondern nur auf den Inhalt der Urteile.“ 34 BGH VersR 2001, 1103; 1969, 413; OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 52; Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 66; Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 100 Rn. 33; Littbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 104; Lücke in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 59; Tehrani, VersR 2018, 1166, 1169. 35 Außerdem kann sich der Versicherer wegen Obliegenheitsverletzung des Versicherten auf Leistungsfreiheit berufen (BGH VersR 2001, 1103; VersR 1978, 1105; OLG Hamm VersR 1987, 88; 1980, 1061; OLG Koblenz VersR 1995, 1298; Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 72; Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 100 Rn. 37; Lemcke VersR 1995, 989 ff.; Litt-

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und Beweislast für kollusives Verhalten der Parteien des Haftungsprozesses trägt allerdings der Versicherer.36

IV. Das Zusammenspiel von Wissentlichkeitsausschluss und Bindungswirkung im Deckungsprozess Das zuvor zur Bindungswirkung Gesagte ist weitgehend unstreitig und in der Praxis eingeübt. Im Detail bestehen allerdings noch Unsicherheiten bei der praktischen Handhabung, vor allem, wenn im Deckungsprozess der Wissentlichkeitsausschluss auf die Bindungswirkung trifft und mehrere teils wissentliche, teils unwissentliche Pflichtverletzungen des Versicherten im Raum stehen. In einer solchen Gemengelage geht es im Deckungsprozess vor allem darum, die im rechtskräftigen Haftungsurteil zur Pflichtverletzung des Versicherten getroffenen Aussagen darauf zu untersuchen, ob sie den Vortrag weiterer Tatsachen im Deckungsprozess zulassen, die dem Schluss auf Wissentlichkeit entweder entgegenstehen (solche Tatsachen würde der Versicherte vortragen) oder ihn ermöglichen (solche Tatsachen würde der Versicherer vortragen). Die im Haftungsurteil zu findenden Aussagen können zum einen Tatsachenfeststellungen sein, aus denen das Haftungsgericht geschlussfolgert hat, ob eine Pflichtverletzung anzunehmen ist oder nicht;37 zum anderen kann es sich um diese Schlussfolgerung selbst handeln, also die rechtliche Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens einer Pflichtverletzung.38 1. Anknüpfungsgegenstand der Bindungswirkung Bindungswirkung entfalten, wie gesagt, nur (tragende) Tatsachenfeststellungen, nicht hingegen rechtliche Schlussfolgerungen des Haftungsgerichts.39 Allerdings knüpft die Beantwortung der im Deckungsprozess interessierenden Frage, ob der Versicherer aufgrund des Wissentlichkeitsbarski, in: Langheid/Wandt, MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, Vorbem. zu §§ 100 bis 112, Rn. 115; Lücke in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 67 ff.; Tehrani, VersR 2018, 1166, 1172). Zu der Frage, ob die deckungsrechtliche Beurteilung einer Obliegenheitsverletzung der Bindungswirkung unterliegt, siehe Tehrani, VersR 2018, 1166, 1170 f. 36 Tehrani, VersR 2018, 1166, 1172. 37 Bsp.: Festgestellt wird, dass der Beklagte als Geschäftsführer nichts unternommen hat, um Unterschlagungen durch Mitarbeiter zu verhindern, zu erschweren und zu entdecken. Weiteres Bsp.: Festgestellt wird, dass der Beklagte als Geschäftsführer einen Zustimmungsvorbehalt der Gesellschafterversammlung missachtet hat. 38 Bsp.: Geschlussfolgert wird, dass der Beklagte als Geschäftsführer seine Organisations- und Überwachungspflicht verletzt hat. Weiteres Bsp.: Geschlussfolgert wird, dass der Beklagte als Geschäftsführer seine Pflicht, die Kompetenzen der Gesellschafterversammlung zu achten, verletzt hat. 39 Siehe unter III.; dies folgt im Umkehrschluss auch aus der bereits zitierten Rechtsprechung des BGH zur Rechtsschutzversicherung (siehe Fußnote 26).

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ausschlusses leistungsfrei ist, gedanklich an die im rechtskräftigen Haftungsurteil genannte Pflichtverletzung an. Denn (nur) um deren „Deckung“ durch den Versicherer geht es im Deckungsprozess. Die Benennung einer bestimmten Pflichtverletzung enthält aber keine Tatsachenfeststellung, sondern eine auf Tatsachenfeststellungen beruhende rechtliche Schlussfolgerung. Angesichts dessen ist zunächst einmal zu betonen, dass von der im Haftungsurteil genannten Pflichtverletzung als solcher keine Bindungswirkung ausgeht.40 Von scheinbar anders lautenden Formulierungen des BGH darf man sich nicht verwirren lassen.41 Wenn es etwa heißt, im Deckungsprozess bestehe eine „Bindung an eine im Haftpflichtprozess festgestellte schadenverursachende Pflichtverletzung“,42 oder „dass hinsichtlich der zum Schadensersatzanspruch führenden Pflichtverletzung Bindungswirkung an das Haftpflichturteil und die dort getroffenen Feststellungen besteht“,43 ist damit nicht gemeint, dass die im rechtskräftigen Haftungsurteil festgestellte Pflichtverletzung Bindungswirkung habe, sondern wird lediglich auf gedanklich abgekürztem Weg mitgeteilt, dass die Tatsachen, aus denen im Haftungsprozess auf eine bestimmte Pflichtverletzung geschlossen worden ist, bindende Grundlage auch des Deckungsprozesses sind, weshalb dort von derselben Pflichtverletzung auszugehen ist.44 Wenn aber die Bindungswirkung nicht von der im rechtskräftigen Haftungsurteil genannten Pflichtverletzung, sondern von den diese Pflichtverletzung tragenden Tatsachen40 So ausdrücklich BGH VersR 2011, 203 Rn. 13, wonach „der für den Deckungsprozess bindende Haftungstatbestand lediglich die vom Tatrichter des Haftpflichtprozesses festgestellten und seiner Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Elemente umfasst (…). Maßgeblich ist der äußere Tatbestand der Pflichtwidrigkeit, nicht dessen rechtliche Einordnung“; ebenso OLG Düsseldorf r+s 2018, 534 Rn. 58 f.: „Die Bindungswirkung des Haftpflichturteils führt dazu, dass lediglich die vom Tatrichter des Haftpflichtprozesses festgestellten und seiner Entscheidung zu Grunde gelegten tatsächlichen Elemente für den Deckungsprozess maßgeblich sind, wobei allerdings die rechtliche Einordnung ohne Belang ist (…)“; ebenso Harsdorf-Gebhardt, in: Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AHB § 5 Rn. 70; Lücke, in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 62; Tehrani, VersR 2018, 1166, 1169 (wonach „es nicht auf das Subsumtionsergebnis des festgestellten Sachverhalts ankommt, sondern auf die festgestellten Haftungselemente“). 41 Auch Tehrani, VersR 2018, 1166, 1169 konstatiert, die Rechtsprechung des BGH sorge „für einige Verwirrung“. 42 BGH VersR 2011, 203 Rn. 12. 43 BGH NZI 2015, 271 Rn. 11. 44 So ausdrücklich BGH NZI 2015, 271 Rn. 12: „(…) Im Deckungsprozess ist es nicht mehr möglich, eine andere schadenverursachende Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers zu Grunde zu legen als dies im Haftpflichtprozess geschehen ist (…). Dabei ist allein auf die im Haftpflichtprozess festgestellten tatsächlichen Elemente der Pflichtwidrigkeit abzustellen (…).“; ebenso BGH VersR 2011, 203 Rn. 14; ferner OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 538 f.: „Aus alledem folgt, dass der für den Deckungsprozess bindende Haftungstatbestand die vom Tatrichter des Haftpflichtprozesses festgestellten und seiner Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Elemente umfasst. Maßgeblich ist der äußere Tatbestand der Pflichtwidrigkeit, nicht dessen rechtliche Einordnung.“; ebenso Lücke in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 62.

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feststellungen ausgeht, kann für die deckungsrechtliche Prüfung ohne weiteres an eine andere Pflichtverletzung angeknüpft werden. Voraussetzung ist lediglich, dass auch die andere Pflichtverletzung sich aus den tragenden Tatsachenfeststellungen herleiten lässt. Dies führt dann zu der (möglicherweise etwas verblüffenden) Erkenntnis, dass es in einem Deckungsprozess, der auf den ersten Blick lediglich der deckungsrechtlichen Überprüfung der im rechtskräftigen Haftungsurteil ausgeurteilten Pflichtverletzung dient, um eine viel weiterreichende Deckungsprüfung, nämlich auch diejenige einer anderen Pflichtverletzung gehen kann. 2. Einführung einer im Haftungsurteil nicht benannten Pflichtverletzung in den Deckungsprozess Das kann sich ebenso zugunsten des Versicherers wie zugunsten des Versicherten auswirken. Letzterer profitiert bspw., wenn er zwar wegen einer Pflichtverletzung in nicht versicherter Eigenschaft – in der D&O-Versicherung bspw. als Gesellschafter oder als Privatperson – rechtskräftig verurteilt worden ist, die das Urteil tragenden Tatsachen aber zugleich eine Verurteilung wegen einer Pflichtverletzung in versicherter Eigenschaft – in der D&O-Versicherung also hauptsächlich als Geschäftsführer, Vorstand, Aufsichtsratsmitglied oder leitender Angestellter – ermöglicht hätten.45 Eine solche Konstellation kann namentlich bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer vorkommen. Wird ein Versicherter etwa wegen Verletzung einer Gesellschafterpflicht, bspw. der Pflicht, sich als Gesellschafter einer GmbH die Einlage nicht zurückgewähren zu lassen (§ 30 Abs. 1 S. 1 GmbHG46), rechtskräftig verurteilt (hier: gem. § 31 Abs. 1 GmbHG47) und würden die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen auch eine Verurteilung wegen Verletzung einer Geschäftsführerpflicht (hier: der auch an den Geschäftsführer der GmbH adressierten Pflicht aus § 30 Abs. 1 S. 1 GmbHG, bei deren Verletzung er der Gesellschaft aus § 43 Abs. 3 S. 1 GmbHG48 haftet) tragen, entfalten die Tatsachenfeststellungen Bindungswirkung für den Deckungsprozess. Insoweit bedürfen sie weder erneuter Darlegung noch erneuten Beweises und können auch nicht durch Darlegung und Beweis anderer Tatsachen im Deckungsprozess der Urteilsfindung des Deckungsgerichts entzogen werden. Hinsichtlich der rechtlichen Schlussfolgerungen, die das 45

BGH VersR 2011, 203 Rn. 6 ff.; Tehrani, VersR 2018, 1166, 1169. Die Vorschrift lautet: „Das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft darf an die Gesellschafter nicht ausgezahlt werden.“ 47 Die Vorschrift lautet: „Zahlungen, welche den Vorschriften des § 30 zuwider geleistet sind, müssen der Gesellschaft erstattet werden.“ 48 Die Vorschrift lautet: „Insbesondere sind sie zum Ersatze verpflichtet, wenn den Bestimmungen des § 30 zuwider Zahlungen aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen der Gesellschaft gemacht (…) worden sind.“ 46

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Gericht aus den durch das Haftungsurteil bindend vorgegebenen tragenden Tatsachen ziehen will, ist es hingegen frei. Das gilt ohne weiteres, wenn das Haftungsgericht die Frage der Haftung auch als Geschäftsführer im Hinblick auf die von ihm bereits bejahte Haftung als Gesellschafter hat dahinstehen lassen; dann fehlt es insoweit ohnehin an irgendeiner schlussfolgernden rechtlichen Festlegung des Haftungsgerichts, die das Deckungsgericht binden könnte. Das gilt aber auch, wenn das Haftungsgericht die Geschäftsführerhaftung erwogen und unter dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung verneint hat; denn rechtliche Schlussfolgerungen entfalten, wie gesagt, keine Bindungswirkung. Infolge dessen kann in beiden Konstellationen in einem nachfolgenden Deckungsprozess über die Frage gestritten werden, ob der Versicherer dem nur als Gesellschafter haftungsrechtlich verurteilten Versicherten dennoch Deckung aus der D&O-Versicherung für eine (mit der Haftung als Gesellschafter schadengleiche) Haftung als Geschäftsführer schuldet.49 Nicht nur der Versicherte, sondern auch der Versicherer kann sich in einem nachfolgenden Deckungsprozess auf die Bindungswirkung tragender Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Haftungsurteils berufen, etwa wenn der Versicherte wegen einer Pflichtverletzung verurteilt worden ist, für die der Versicherungsvertrag keinen Risikoausschluss vorsieht, die das Urteil tragenden Tatsachen aber zugleich eine Verurteilung wegen einer anderen – und vom Versicherungsschutz ausgeschlossenen – Pflichtverletzung ermöglicht hätten. Eine solche Konstellation kann in der D&O-Versicherung vor allem mit Blick auf den Wissentlichkeitsausschluss vorkommen. In der Praxis wird sie bisweilen übersehen, weil irrtümlich angenommen wird, dass nicht nur die das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachen, sondern auch die im Urteil genannte Pflichtverletzung Bindungswirkung entfalte.50 Infolge dieses Irrtums unterbleibt dann eine Untersuchung der das 49 Ebenso Lücke, in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 Rn. 63 (wonach es für die Deckung nicht darauf ankommen könne, „auf welchen Vorwurf der Richter – für die Parteien letztlich zufällig – die Entscheidung stützt.“). 50 Siehe bspw. OLG Hamm Beschl. v. 19.8.2019 – 8 W 6/19 (BeckRS 2019, 19580) Rn. 11: „(…) Ist (…) im Haftpflichturteil ein (…) schadensverursachender Pflichtverstoß des (…) Versicherten festgestellt, kann sich der Versicherer im Deckungsprozess zur Begründung eines Ausschlusstatbestandes gegen seine Einstandspflicht (z.B. Schadensverursachung durch wissentliche Pflichtverletzung) nicht mehr auf eine andere schadensverursachende Pflichtwidrigkeit berufen. Es besteht, jedenfalls solange die Voraussetzungen des Haftungsanspruchs mit denen des Deckungsanspruchs übereinstimmen, eine Bindungswirkung des Haftpflichturteils (…).“; ferner OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 52 und 90: „[52] Es ist daher im Deckungsprozess nicht mehr möglich, eine andere schadenverursachende Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers zugrunde zu legen, als dies im Haftpflichtprozess geschehen ist (…) [90] Die Bindungswirkung an eine im Haftpflichtprozess festgestellte schadenverursachende Pflichtverletzung ist auch dann gegeben, wenn daneben noch andere Pflichtverletzungen bestehen mögen. Das Haftpflichturteil konkretisiert den schadenverursachenden Pflichtenverstoß

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Urteil tragenden Tatsachen darauf, ob sie auf eine weitere (vom Versicherungsschutz ausgeschlossene) Pflichtverletzung schließen lassen. Hieraus kann bspw. das Fehlurteil resultieren, dass der Versicherer sich gegenüber einem Versicherten, der rechtskräftig wegen (jedenfalls fahrlässiger) Verletzung des Zahlungsverbots aus § 64 GmbHG51 verurteilt wurde, nicht auf den Wissentlichkeitsausschluss berufen könne, selbst wenn der Versicherer im Deckungsprozess in der Lage war, darzulegen und zu beweisen, dass der Versicherte auch seine Pflicht zur rechtzeitigen Stellung des Insolvenzantrags (§ 15 a Abs. 1 S. 1 InsO)52 – und diese wissentlich53 – verletzt hat. Ein derartiges Urteil wäre fehlerhaft, weil die Tatsachen, die festgestellt sein müssen, um den Schluss auf die Haftung aus § 64 GmbHG zu ziehen (nämlich insb.: Geschäftsführereigenschaft des Anspruchsgegners, Insolvenzreife der Gesellschaft, nach Insolvenzreife geleistete Zahlungen usw.), regelmäßig zugleich den Schluss auf die Verletzung der Pflicht aus § 15 a Abs. 1 S. 1 InsO zulassen. Wenn aber die Tatsachen, welche die rechtskräftige Verurteilung des Versicherten aus § 64 GmbHG tragen, zugleich den Schluss zulassen, dass der Versicherte auch seine Insolvenzantragspflicht aus § 15 a Abs. 1 S. 1 InsO verletzt hat, kann auch diese Pflichtverletzung vom Versicherer (wie vom Versicherten54) zum Gegenstand des Deckungsdes Versicherungsnehmers. Dabei kann aber nur ein im Haftpflichtprozess festgestellter Pflichtverstoß die Grundlage für den Risikoausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung (…) bilden. Dem Haftpflichtversicherer ist es nach ständiger Rechtsprechung des BGH verwehrt, sich im Deckungsprozess zur Begründung dieses Ausschlusstatbestandes auf eine andere als die festgestellte Pflichtverletzung zu berufen (…).“ 51 Die Vorschrift lautet: „Die Geschäftsführer sind der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden. Dies gilt nicht von Zahlungen, die auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind. Die gleiche Verpflichtung trifft die Geschäftsführer für Zahlungen an Gesellschafter, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten, es sei denn, dies war auch bei Beachtung der in Satz 2 bezeichneten Sorgfalt nicht erkennbar. Auf den Ersatzanspruch finden die Bestimmungen in § 43 Abs. 3 und 4 entsprechende Anwendung.“ 52 Die Vorschrift lautet: „Wird eine juristische Person zahlungsunfähig oder überschuldet, haben die Mitglieder des Vertretungsorgans oder die Abwickler ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, einen Eröffnungsantrag zu stellen.“ 53 Nach einem Urteil des LG München I handelt es sich bei der Insolvenzantragspflicht um eine Kardinalpflicht eines Geschäftsleiters mit der Folge, dass im Falle einer Pflichtverletzung von Wissentlichkeit auszugehen ist, wenn nicht der Geschäftsleiter im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast – hierzu siehe Fußnote 22 – überzeugende Gründe vorträgt, warum er nicht wissentlich pflichtwidrig gehandelt haben will (LG München I Urt. v. 22.5.2015 – 14 HK O 867/14 (BeckRS 2015, 10365). 54 Der das in dieser Situation aber nicht tun wird, weil er hier keinen prozessualen Vorteil davon hat, im Deckungsprozess geltend zu machen, dass er zusätzlich zu dem Verbot des § 64 GmbHG auch noch das Gebot des § 15 a Abs. 1 S. 1 InsO verletzt hat.

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prozesses gemacht werden, ohne dass die Bindungswirkung dem entgegensteht. Gleiches gilt für eine weitere, im Vorfeld eines Verstoßes gegen § 64 GmbHG häufig55 festzustellende Vortat, nämlich die Verletzung der in § 43 Abs. 1 GmbHG – wonach ein Geschäftsführer die „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ schuldet – wurzelnden Pflicht, „die wirtschaftliche Lage des Unternehmens laufend zu beobachten“ und „für eine Organisation (zu) sorgen, die (…) die erforderliche Übersicht über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft jederzeit ermöglicht“.56 Zweck dieser Pflicht ist es insbesondere, die Voraussetzungen für die rechtzeitige Stellung eines Insolvenzantrags zu schaffen57 und dadurch wiederum eine Schmälerung der Insolvenzmasse entgegen dem Verbot des § 64 GmbHG zu verhindern. Wenn nun die Tatsachen, welche die rechtskräftige Verurteilung des Versicherten aus § 64 GmbHG tragen, zugleich den Schluss zulassen, dass der Versicherte auch seine Pflicht aus § 43 Abs. 1 GmbHG verletzt hat, was sich insbesondere aus den Tatsachen ergeben kann, aus denen das Haftungsgericht die für die Haftung aus § 64 GmbHG erforderliche schuldhafte Unkenntnis der Insolvenzreife abgeleitet hat,58 bspw. aus dem Nichteinholen externer Beratung zur Insolvenzreife, 59 kann auch diese Pflichtverlet55

Auch Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 356, weist darauf hin, dass diese Konstellation „in der Praxis durchaus häufig ist“. 56 BGH NJW-RR 1995, 669 f.; bestätigt durch BGH NZG 2012, 940 Rn. 11: „Wie das BerGer. (…) zu Recht angenommen hat, wird von dem Geschäftsführer einer GmbH erwartet, dass er sich über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft stets vergewissert. Hierzu gehört insbesondere die Prüfung der Insolvenzreife. Bei Anzeichen einer Krise hat er sich durch Aufstellung eines Vermögensstatus einen Überblick über den Vermögensstand zu verschaffen. Der Geschäftsführer handelt fahrlässig, wenn er sich nicht rechtzeitig die erforderlichen Informationen und die Kenntnisse verschafft, die er für die Prüfung benötigt, ob er pflichtgemäß Insolvenzantrag stellen muss. Sofern er nicht über ausreichende persönliche Kenntnisse verfügt, muss er sich gegebenenfalls fachkundig beraten lassen (…).“ 57 So BGH NZG 2012, 940 Rn. 11; NJW-RR 1995, 669. 58 Hierzu siehe BGH NZG 2012, 940 Rn. 10 ff. 59 Hierzu siehe LG Köln Urt. v. 20.4.2017 – 24 O 153/16: „Selbst wenn man annehmen wollte, dass dem Zeugen die Pflichten des Vorstandsvorsitzenden in der Insolvenz nicht bekannt waren, so hatten sich die Anzeichen, die auf die Insolvenz der (…) AG hindeuteten, im Herbst 2009 dermaßen verdichtet, dass der Zeuge unbedingt gehalten war, kompetenten Rat einzuholen. Wenn er dies nicht tat, verschloss er bewusst die Augen vor einer sich aufdrängenden Erkenntnis, was ebenfalls bewusst pflichtwidrig wäre und den streitgegenständlichen Schaden mitverursacht haben würde. (…) so dass nur der Schluss bleibt, dass wenn der Zeuge (…) tatsächlich keine Kenntnis von der Rechtslage hatte, er bewusst davon abgesehen hat, sich zu informieren, um sein Projekt nicht zu gefährden.“ Auch nach jüngerer Rechtsprechung des BGH zur Untreue kann das Nichteinholen fachkundiger Auskunft trotz sich aufdrängender Ungewissheit einer Rechtslage ein Indiz für eine bewusste Pflichtverletzung sein (siehe BGH NZG 2018, 73 Rn. 75).

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zung vom Versicherer (wie vom Versicherten60) zum Gegenstand des Deckungsprozesses gemacht werden, ohne dass die Bindungswirkung dem entgegensteht.61 3. Einführung des Wissentlichkeitsausschlusses in den Deckungsprozess Lässt sich aus den das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachenfeststellungen neben der ausgeurteilten Pflichtverletzung auf eine weitere Pflichtverletzung des Versicherten schließen, so dass diese nach dem zuvor Gesagten Gegenstand eines nachfolgenden Deckungsprozesses sein kann, ist für den Versicherer unmittelbar nichts gewonnen. Ganz im Gegenteil: Erst einmal verbessern sich nur die Prozessaussichten des Versicherten, der seinen Deckungsanspruch nun auf zwei (statt auf nur eine) Pflichtverletzungen stützen kann; die Aussichten des Versicherers verschlechtern sich hingegen eigentlich, weil er nun darlegen und beweisen muss, dass er Deckungseinwendungen gegen beide Pflichtverletzungen hat. Dennoch gibt es einen Weg, auf dem der Versicherer den Wissentlichkeitsausschluss mit Erfolg in einen Deckungsprozess einführen kann, der mehrere – dabei teilweise nicht wissentliche – Pflichtverletzungen eines Versicherten zum Gegenstand hat. Grundlage ist ein jüngerer Beschluss des BGH zur Auslegung des Wissentlichkeitsausschlusses (dazu a.). Dieser Beschluss gilt auch für Fälle, in denen es dem Versicherer nicht (mehr) möglich ist, im Laufe der Schadenbearbeitung ermittelte Tatsachen zu einer anderen als der im Haftungsprozess diskutierten Pflichtverletzung des Versicherten zur Grundlage des rechtskräftigen Haftungsurteils zu machen, so dass er sie erst im nachfolgenden Deckungsprozess vorbringen kann (dazu b.).

60 Der das in dieser Situation aber nicht tun wird, weil er hier keinen prozessualen Vorteil davon hat, im Deckungsprozess geltend zu machen, dass er zusätzlich zu dem Verbot des § 64 GmbHG auch noch das Gebot des § 43 Abs. 1 GmbHG verletzt hat. 61 Zur typischerweise anzunehmenden Wissentlichkeit einer solchen Pflichtverletzung siehe LG Duisburg Urt. v. 11.1.2007 – 12 O 55/04, wonach ein Insolvenzverwalter sich wissentlich pflichtwidrig verhalten hat, wenn er ,,während der Betriebsfortführung jegliche Kontrolle unterlassen (hat), so dass es ihm nicht auffiel, dass die Masse zur Abführung der Lohnsteuer und Krankenkassenbeiträge für die Arbeitnehmer nicht mehr ausreichend in der Lage war“; ferner Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 356 f.; siehe auch OLG Köln NJW-RR 2009, 994, 995 (zur wissentlichen Pflichtverletzung einer Rechtsanwältin, die sich zeitweise nicht um ihre Kanzlei und Prozesse ihrer Mandanten gekümmert hat).

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a) Infektion einer nicht wissentlichen durch eine wissentliche Pflichtverletzung Ausgangspunkt ist ein Beschluss des BGH vom 27.5.2015,62 in dem auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, dass ein versicherungsvertraglich vereinbarter Deckungsausschluss, der unmittelbar nur eine Pflichtverletzung betrifft, dahin auszulegen sein kann, dass er den Versicherer auch von der Haftung für eine andere Pflichtverletzung befreit. Der Beschluss betraf die Auslegung eines Wissentlichkeitsausschlusses und kam zu dem Auslegungsergebnis, dass der Ausschluss nicht nur eingreift, wenn der Versicherte einen Schaden durch eine (wissentliche) Pflichtverletzung verursacht hat, sondern auch, wenn er ihn durch mehrere Pflichtverletzungen verursacht hat, von denen nur eine wissentlich begangen wurde.63 Mit dieser (weiten64) Auslegung hat der BGH sich ausdrücklich gegen die (enge) Auslegung durch die Vorinstanz OLG Celle,65 das OLG Düsseldorf66 und das OLG Koblenz67 gewandt, die jeweils vertreten hatten, dass der Wissentlichkeitsausschluss bei mehreren schadenursächlichen Pflichtverletzungen nur verwirklicht sei, wenn jede wissentlich begangen worden ist. Da die Auslegung des BGH für sich selbst spricht, sei der Beschluss auszugsweise wörtlich zitiert: „Der Deckungsausschluss für Schadenverursachung durch wissentliche Pflichtverletzung greift auch dann, wenn derselbe Schaden nicht nur durch eine wissentliche Pflichtverletzung, sondern (möglicherweise) auch durch weitere, nicht wissentliche Pflichtverletzungen mitverursacht worden ist. Das ergibt die Auslegung des Leistungsausschlusses aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers. Aus Wortlaut sowie dem erkennbaren Sinn und Zweck der Deckungsausschlussklausel erschließt sich diesem ohne Weiteres, dass der Versicherer nicht bereit ist, für Versicherungsfälle einzustehen, deren Schäden durch eine wissentliche Pflichtverletzung verursacht werden. Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherer gleichwohl Deckungsschutz 62

BGH r+s 2015, 386. Irgendein nachvollziehbarer Grund, warum der zu einer Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung ergangene Beschluss für die D&O-Versicherung nicht gelten soll (so Ihlas in Langheid/Wandt, MüKo VVG, Bd. 3, 2. Aufl. 2017, D&O Rn. 894; Nazaruk VW 11/2015, 30, 31), ist nicht ersichtlich (ebenso Langheid, VersR 2017, 1365, 1367; Looschelders, VersR 2018, 1413, 1417). 64 Das ist erwähnenswert, weil im Allgemeinen der Grundsatz gilt, dass Risikoausschlüsse eng auszulegen sind (BGH r+s 2016, 74; 2013, 382; Wendt, r+s 2010, 221, 227); insoweit ist ganz besonders zu betonen, dass für die Auslegung nicht nur der Wortlaut, sondern auch der erkennbare Sinn und Zweck des Versicherungsvertrags und des Ausschlusses in den Blick zu nehmen sind; zur dementsprechend weiten Auslegung eines Risikoausschlusses siehe auch BGH VersR 2007, 939 Rn. 11 ff. 65 OLG Celle Beschl. v. 7.8.2014 – 8 U 84/14. 66 OLG Düsseldorf r+s 2002, 148, 149 f.; im Ergebnis auch OLG Düsseldorf r+s 2005, 155, 156 f. 67 OLG Koblenz VersR 1979, 830. 63

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gewähren wolle, wenn zu einer solchen Pflichtverletzung weitere, nicht wissentlich verübte ebenfalls schadenursächliche Verstöße hinzutreten, gibt die Klausel nicht. Auch wenn Leistungsausschlussklauseln in der Regel eng auszulegen sind, erkennt der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass der Leistungsausschluss nicht darauf abzielt, Versicherungsnehmer zu privilegieren, die einen Schaden mittels mehrerer, teils wissentlicher, teils unbewusster Pflichtverstöße herbeiführen. Er wird den Leistungsausschluss deshalb dahin verstehen, dass er schon dann Versicherungsleistungen ausschließt, wenn ein Schaden durch eine wissentliche Pflichtverletzung mitverursacht ist. Anderenfalls könnte sich der Versicherungsnehmer dadurch entlasten und den Versicherungsschutz erhalten, dass er darauf verweist, neben der wissentlichen Pflichtverletzung zusätzlich und nicht wissentlich gegen weitere Pflichten verstoßen und den Schaden auch dadurch mitverursacht zu haben. Ihn wegen einer solchen gesteigerten Sorglosigkeit gegenüber demjenigen Versicherungsnehmer besser zu stellen, der sich lediglich eine wissentliche Pflichtverletzung zuschulden kommen lässt, wäre erkennbar sinnwidrig“.

Hiernach „infiziert“ eine wissentliche Pflichtverletzung eines Versicherten jede andere für denselben Schaden mitursächliche Pflichtverletzung desselben68 Versicherten mit dem Wissentlichkeitsausschluss, selbst wenn die andere Pflichtverletzung nur fahrlässig begangen worden ist.69 Die der Auslegung des BGH zugrunde liegende Wertung, dass ein Versicherter, der einen Schaden durch mehrere Pflichtverletzungen, davon eine wissentliche, verursacht hat, nicht besser stehen könne als ein Versicherter, der überhaupt nur eine (wissentliche) Pflichtverletzung begangen hat, ist gut nachvollziehbar. Außerdem ist sie selbst in Ansehung der – ebenfalls auf einer Auslegung des Versicherungsvertrags beruhenden70 – Bindungswirkung vertretbar. Beide Auslegungen kommen sich in der Konstellation „mehrere aus tragenden Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Haftungsurteils folgende Pflichtverletzungen eines Versicherten, davon eine wissentlich begangen“ nämlich nicht in die Quere.71 68 Unrichtig insoweit Langheid, VersR 2017, 1465, 1370, der den Beschluss des BGH auch auf Pflichtverletzungen verschiedener Versicherter anwenden und so die Wissentlichkeit eines Versicherten einem anderen zurechnen will (hiergegen zu Recht Kordes, r+s 2019, 307, 310 f.; Looschelders, VersR 2018, 1413, 1417 ff.; Segger, VersR 2018, 329, 332). 69 So schon OLG Saarbrücken Urt. v. 31.10.2007 – 5 U 510/06 (BeckRS 2008, 6461) Rn. 53; LG Köln Urt. v. 28.6.2012 - 24 O 53/12 (BeckRS 2012, 211015) Rn. 50 f.; diesen und dem BGH zustimmend OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 Rn. 66; Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 352 f. 70 Siehe II. 71 Anders als in der sogleich unter IV. 3. b. besprochenen Konstellation, dass die wissentliche Pflichtverletzung sich nicht aus tragenden Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Haftungsurteils, sondern nur aus im nachfolgenden Deckungsprozess neu vorgebrachten Tatsachen ableiten lässt.

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Wendet man den Wissentlichkeitsausschluss in dieser Auslegung bspw. auf den Fall einer ausgeurteilten Pflichtverletzung gem. § 64 GmbHG und einer sich aus den das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachen ergebenden weiteren Pflichtverletzung gem. § 15 a Abs. 1 S. 1 InsO an, ergibt sich: Selbst eine nur fahrlässige Verletzung der Pflicht aus § 64 GmbHG72 würde durch eine wissentliche Verletzung der Pflicht aus § 15 a Abs. 1 S. 1 VVG mit dem Wissentlichkeitsausschluss „infiziert“, so dass der Versicherer bezüglich beider Pflichtverletzungen leistungsfrei wäre. Vor diesem Hintergrund nützt es einem Versicherten, der rechtskräftig aus § 64 GmbHG verurteilt worden ist, nichts, sich gegenüber dem Versicherer darauf zu berufen, der Wissentlichkeitsausschluss greife nicht ein, weil er (der Versicherte) nicht gewusst habe, dass oder inwieweit ein Geschäftsführer nach Insolvenzreife einem Zahlungsverbot unterliege. Einem solchen Vortrag kann der Versicherer – auf der Grundlage der bindend festgestellten tragenden Tatsachen des Haftungsurteils – entgegen halten, dass der Versicherte auch die Insolvenzantragspflicht aus § 15 a Abs. 1 S. 1 InsO verletzt habe und – auf der Grundlage des BGH-Beschlusses vom 27.5.2015 – dass die Verwirklichung des Wissentlichkeitsausschlusses durch Verletzung der Insolvenzantragspflicht auch die Verletzung der Pflicht aus § 64 GmbHG erfasse. Angesichts dessen muss der Versicherte, um im Deckungsprozess Erfolg zu haben, verhindern, dass das Gericht zu der Überzeugung einer wissentlichen Verletzung der Insolvenzantragspflicht gelangt.73 Entsprechendes gilt, wenn der gem. § 64 GmbHG rechtskräftig verurteilte Versicherte nach den das Urteil tragenden Tatsachen auch seine Pflicht aus § 43 Abs. 1 GmbHG, sich über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft stets zu vergewissern,74 verletzt hat und es dem Versicherer gelingt, das Gericht davon überzeugen, dass der Versicherte jedenfalls bzgl. § 43 Abs. 1 72 Das LG Köln nimmt grundsätzlich Wissentlichkeit bei Verletzung des § 64 GmbHG (bzw. des § 92 Abs. 2 AktG) in Kenntnis der Insolvenzreife an, siehe LG Köln Urt. v. 20.4.2017 – 24 O 153/16: „Der Zeuge (…) hat wissentlich gegen die Pflicht des Vorstandes einer Aktiengesellschaft aus § 92 Abs. 2 AktG verstoßen, nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit keine Zahlungen mehr zu leisten. (…) Dem Zeugen (…) waren die tatsächlichen Umstände, die die Zahlungsunfähigkeit der (…) AG ausmachten, bekannt. (…) Es steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Zeuge (…) sich auch der rechtlichen Konsequenzen bewusst war, dass er in dieser Lage keine Zahlungen mehr vornehmen durfte. Die Pflichten eines Vorstands bei Zahlungsunfähigkeit stellen sog. „Kardinalpflichten“ dar, bei deren Verletzung regelmäßig auf einen bewussten Verstoß geschlossen werden kann. Es handelt sich um Pflichten, deren rechtliche Wertung für einen am Wirtschaftsleben Beteiligten auch ohne Weiteres einleuchtend sind. Wenn eine Aktiengesellschaft nicht in der Lage ist, die fälligen Forderungen ihrer Gläubiger zu bedienen, sie gleichwohl Zahlungen an einige Gläubiger vornimmt, so entzieht sie dieses Geld dem Zugriff der übrigen Gläubiger.“ 73 Zu einem Fall, in dem das dem Versicherten gelungen ist, siehe OLG Düsseldorf r+s 2018, 534 Rn. 60 ff. 74 Siehe IV. 2.

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GmbHG wissentlich gehandelt hat.75 Auch dann würde die nicht wissentliche Verletzung des Verbots aus § 64 GmbHG durch die wissentliche Verletzung des Gebots aus § 43 Abs. 1 GmbHG mit dem Wissentlichkeitsausschluss „infiziert“, so dass der Versicherer bezüglich beider Pflichtverletzungen leistungsfrei wäre. b) Infektionswirkung neuen Tatsachenvortrags im Deckungsprozess Nun zu einer Konstellation, in der sich ein gewisser Widerspruch zwischen der Auslegung des Versicherungsvertrags im Hinblick auf die Bindungswirkung einerseits und den Wissentlichkeitsausschluss andererseits zeigt. Gemeint ist der Fall, dass die das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachen zwar nicht auf eine andere als die ausgeurteilte Pflichtverletzung schließen lassen, der Versicherer im nachfolgenden Deckungsprozess aber neue Tatsachen darlegen und beweisen kann, aus denen sich (erstens) eine weitere für den ausgeurteilten Schaden mitursächliche Pflichtverletzung des Versicherten und (zweitens) dessen Wissentlichkeit ableiten lässt. Unter solchen Vorzeichen erscheint es auf den ersten Blick widersprüchlich, den Versicherungsvertrag einerseits – unter dem Gesichtspunkt der Bindungswirkung – dahin auszulegen, dass die weitere Pflichtverletzung nicht Gegenstand des Deckungsprozesses sein könne (weil sie sich nicht aus den das rechtskräftige Haftungsurteil tragenden Tatsachen ergibt) und andererseits – unter dem Gesichtspunkt des Wissentlichkeitsausschlusses – dahin, dass die Wissentlichkeit der auf neuen Tatsachen beruhenden weiteren Pflichtverletzung dennoch die ausgeurteilte (unwissentliche) Pflichtverletzung mit dem Wissentlichkeitsausschluss infiziere. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die vom BGH vorgenommene weite Auslegung des Wissentlichkeitsausschlusses einer Korrektur bedarf. Raum für diese Überlegung besteht, weil der BGH-Beschluss vom 27.05.2015 unmittelbar (im entschiedenen Fall) keine Relativierung der Bindungswirkung, sondern deren Bestätigung zum Ausdruck gebracht hat. Dem Versicherten wurde es nämlich gerade verwehrt, zur Verteidigung gegen den Wissentlichkeitsausschluss eine andere – nicht wissentliche und damit versicherte – Pflichtverletzung als diejenige (wissentliche) Pflichtverletzung in den Deckungsprozess einzuführen, die im Haftungsurteil rechtskräftig festgestellt worden war. Über den umgekehrten Fall einer ausgeurteilten nicht wissentlichen Pflichtverletzung und einer vom Versicherer in Erfahrung gebrachten schadenmitursächlichen wissentlichen anderen Pflichtverletzung hat der BGH genau genommen also gar nicht entschieden. Damit hat er auch nicht über die Frage entschieden, ob der Versicherer berechtigt ist, neue Tatsachen, die er außer75 Hierzu siehe Jüngel, NZI 2015, 272, 273, wonach „Organmitgliedern, die gleichermaßen „blind in die Krise segeln“, (…) ein erhebliches Risiko im Hinblick auf den Versicherungsschutz zu konstatieren“ ist.

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halb des Haftungsprozesses ihm Rahmen der Aufarbeitung eines Versicherungsfalls ermittelt und aus denen sich ergibt, dass der Versicherte den ausgeurteilten Schaden auch durch eine wissentliche Pflichtverletzung mitverursacht hat, in einem nachfolgenden Deckungsprozess mit leistungsbefreiender Wirkung geltend zu machen. Die aufgeworfene Frage ist aus mehreren Gründen zu bejahen, zunächst im Hinblick auf den Schutzzweck der Bindungswirkung und die Schutzbedürftigkeit des Versicherten. Die Bindungswirkung bezweckt nämlich zwar den Schutz des Versicherten davor, dass der Versicherer ihm trotz rechtskräftiger Verurteilung im Haftungsprozess die gem. § 100 VVG geschuldete Freistellung mit dem Argument verwehrt, der Freistellungsanspruch setze Haftung und Deckung voraus und an der Haftung fehle es, das Haftungsurteil sei insoweit falsch. Der Schutzbereich der Bindungswirkung – und damit die Bindungswirkung selbst – kann aber nicht weiter gehen als die Schutzwürdigkeit des Versicherten, denn ein nicht schutzwürdiger Versicherter muss sich den Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) entgegenhalten lassen, wenn er sich auf die Bindungswirkung beruft. Ein wissentlich pflichtwidrig handelnder Versicherter ist wiederum nicht schutzwürdig in einem (etwaigen) Vertrauen darauf, für einen wissentlich pflichtwidrig verursachten Schaden irgendeine Versicherungsleistung in Anspruch nehmen zu können. Das hat der BGH in seinem Beschluss vom 27.5.2015 zu Recht festgestellt.76 Auch die Auslegung des Wissentlichkeitsausschlusses aus Sicht des Versicherten führt zu dem Ergebnis, dass der Anwendungsbereich des Ausschlusses durch die Bindungswirkung nicht eingeschränkt sein kann.77 Denn für die Auslegung von AVB-Klauseln gilt die Regel, dass vom Verständnishorizont eines durchschnittlichen Versicherten ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse auszugehen ist.78 Einem solchen Versicherten ist die Bindungswirkung als Rechtsinstitut aber gar nicht bekannt, weshalb er sie auch nicht in sein Verständnis des Wissentlichkeitsausschlusses einbeziehen wird. Außerdem ist zu bedenken, dass der Versicherer andere Deckungseinwendungen (insb. Ausschlüsse und Obliegenheitsverletzun76

Siehe IV. 3. a. Eine derartige Beschränkung wird auch von anderen Rezensenten des BGHBeschlusses vom 27.5.2015 (statt aller bspw. Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 352 f.; Kordes, r+s 2019, 307) nicht angenommen; sie wurde auch weder in – dem BGHBeschluss vorangegangenen – Entscheidungen des OLG Saarbrücken Urt. v. 31.10.2007 – 5 U 510/06 (BeckRS 2008, 6461) Rn. 53 und des LG Köln Urt. v. 28.6.2012 - 24 O 53/12 (BeckRS 2012, 211015) Rn. 50 f. vertreten noch in der dem BGH-Beschluss nachfolgenden Entscheidung des OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 Rn. 66. 78 BGH Urt. v. 6.3.2019 – IV ZR 72/18 (BeckRS 2019, 3685) Rn. 15 f.; NJW-RR 2015, 801 Rn. 22. 77

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gen) im Deckungsprozess ohne weiteres auf der Grundlage neuen Tatsachenvortrags geltend machen darf;79 für den Wissentlichkeitsausschluss kann deshalb nichts grundlegend anderes gelten. Im Übrigen besteht nach dem BGH-Beschluss vom 27.5.2015 ohnehin eine dem Schutz des Versicherten dienende Restriktion der grundsätzlich weiten Auslegung des Wissentlichkeitsausschlusses darin, dass eine wissentliche Pflichtverletzung, die auf im Deckungsprozess neu vorgetragenen Tatsachen beruht, nur dann zur „Infektion“ der im rechtskräftigen Haftungsurteil ausgeurteilten nicht wissentlichen Pflichtverletzung mit dem Wissentlichkeitsausschluss führt, wenn beide Pflichtverletzungen mitursächlich für denselben Schaden sind.80 Die Bindungswirkung des rechtskräftigen Haftungsurteils für den nachfolgenden Deckungsprozess ist also selbst im Falle einer weiten Auslegung des Wissentlichkeitsausschlusses nicht bis auf Null reduziert, sondern lediglich auf den ausgeurteilten Schaden begrenzt, was aber, wie gesagt, durch die mangelnde Schutzwürdigkeit des den Schaden wissentlich pflichtwidrig verursachenden Versicherten gerechtfertigt wird. Praktisch ergibt sich aus alledem folgendes: Der Versicherer, der nach einer Schadenmeldung beginnt, den haftungs- und deckungsrelevanten Sachverhalt zu ermitteln, kann Tatsachen, die auf eine wissentliche Pflichtverletzung des Versicherten schließen lassen, zwar nicht gegen den Willen des Versicherten in den Haftungsprozess einführen und damit zum Inhalt des rechtskräftigen Haftungsurteils machen. Denn er ist nach der Rechtsprechung des BGH verpflichtet, sich im Haftungsprozess wie ein Anwalt des Versicherten zu verhalten und eigene Interessen hintanzustellen.81 Dies hindert den Versicherer jedoch nicht daran, nach rechtskräftigem Abschluss des Haftungsprozesses in einem nachfolgenden Deckungsprozess die zu dem ausgeurteilten Schadenersatzanspruch ermittelten deckungsschädlichen Tatsachen vorzutragen. Denn im Deckungsprozess darf er sein bislang hintangestelltes eigenes Interesse in den Vordergrund rücken, ohne dem Versicherten noch irgendwie verpflichtet zu sein.82 Dabei darf er, wie gesagt, neue Tatsachen vortragen, die auf eine weitere schadenursächliche Pflichtverletzung und deren Wissentlichkeit schließen lassen.83 Eine praktisch relevante Lücke, in: Prölss/Martin, VVG, 3. Aufl. 2018, § 100 Rn. 65. Siehe IV. 3. a. 81 BGH r+s 2010, 504 Rn. 12 ff.; 1992, 406, 407 f.; Lemcke, VersR 1995, 989; van Bühren, r+s 2019, 6, 7; Wendt, r+s 2012, 209, 211, 220 f. 82 Siehe Felsch, Das Trennungsprinzip: seine Ursprünge und sein Telos, in: Dörner/ Ehlers/Pohlmann/Schulze Schwienhorst, Workshop zur Haftpflichtversicherung der Münsterischen Forschungsstelle für Versicherungswesen, (Münsteraner Reihe Band 113), 2010, S. 1, 2 (wonach der Versicherer im Direktprozess des Geschädigten – aus abgetretenem Recht des Versicherten – „in der Rolle des selbst angegriffenen Beklagten wahrscheinlich sogar von allen Loyalitätsfesseln seines Leistungsversprechens befreit“ ist). 83 Unrichtig insoweit OLG Köln Urt. v. 9.1.2018 – 9 U 33/17 (BeckRS 2018, 43719) Rn. 89 f.: „[89] Diese weiteren Pflichtverletzungen, die nicht Gegenstand des vorangegan79 80

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Sachverhaltskonstellation dieser Art besteht darin, dass ein Versicherter wegen einer nicht durch die Business Judgment Rule und auch sonst nicht gerechtfertigten kaufmännischen Fehlentscheidung und „jedenfalls Fahrlässigkeit“ rechtskräftig zu Schadenersatz verurteilt wird und der Versicherer im Rahmen der vorgerichtlichen oder den Haftungsprozess begleitenden Sachverhaltsaufarbeitung Tatsachen ermittelt hat, aus denen sich ergibt, dass der Versicherte seine Fehlentscheidung auch unter wissentlicher Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats oder der Gesellschafterversammlung getroffen hat.84 Dann ist der Versicherer ohne weiteres berechtigt, sein Ermittlungsergebnis in einen nachfolgenden Deckungsprozess einzuführen und sich insgesamt (auch wegen der im rechtskräftigen Haftungsurteil festgestellten nicht wissentlichen Pflichtverletzung) auf Leistungsfreiheit aufgrund des Wissentlichkeitsausschlusses zu berufen. Ein anderer typischer Praxisfall ist der, dass der Versicherer im Rahmen seiner Schadenaufarbeitung Tatsachen ermittelt, wonach der wegen Verletzung einer Geschäftsführerpflicht auf Schadenersatz in Anspruch genommene und letztlich rechtskräftig verurteilte Versicherte von vornherein (oder ab einem bestimmten Zeitpunkt) nicht willens oder nicht in der Lage war, seine Geschäftsführerpflichten zu erfüllen. Die in der Übernahme oder Fortführung des Geschäftsführeramts nur zum Schein liegende wissentliche85 Pflichtvergenen Haftpflichtprozesses vor dem LG Stade bzw. dem OLG Celle waren und dort nicht als schadensbegründende Pflichtverletzung der Klägerin festgestellt worden waren, sind im vorliegenden Deckungsprozess entgegen der Ansicht der Beklagten nach der Rechtsprechung des BGH nicht zu berücksichtigen. Dies gilt unabhängig davon, ab welchem Zeitpunkt die Beklagte von diesen Pflichtverletzungen Kenntnis erlangt hat. [90] Die Bindungswirkung an eine im Haftpflichtprozess festgestellte schadenverursachende Pflichtverletzung ist auch dann gegeben, wenn daneben noch andere Pflichtverletzungen‚ bestehen mögen. Das Haftpflichturteil konkretisiert den schadenverursachenden Pflichtenverstoß des Versicherungsnehmers. Dabei kann aber nur ein im Haftpflichtprozess festgestellter Pflichtverstoß die Grundlage für den Risikoausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung (hier nach Teil 1, Ziff. 4.5 AVB) bilden. Dem Haftpflichtversicherer ist es nach ständiger Rechtsprechung des BGH verwehrt, sich im Deckungsprozess zur Begründung dieses Ausschlusstatbestandes auf eine andere als die festgestellte Pflichtverletzung zu berufen (…).“ 84 Diese Fallkonstellation schildert auch Fiedler, Der Risikoausschluss bei Vorsatz und wissentlicher Pflichtverletzung in der D&O-Versicherung, in: Koch/Werber/Winter, Der Forschung – der Lehre – der Bildung, 100 Jahre Hamburger Seminar für Versicherungswissenschaft und Versicherungswissenschaftlicher Verein in Hamburg e.V., 2016, S. 343, 352. 85 Zur Wissentlichkeit der nur scheinbaren Ausübung eines Amtes siehe OLG Frankfurt a. M. VersR 2019, 878, 880 f. (betreffend eine untätig gebliebene Geldwäschebeauftragte): „Wer ein Amt und eine Position, die von Gesetzes wegen angelegt ist, übernimmt und den ihm dadurch übertragenen Pflichten nicht nachkommt und damit nicht in der Lage ist, die ihm von Gesetzes wegen übertragenen Aufgaben zu erfüllen, handelt, wenn er dies, wie die Betroffene, weiß und trotzdem nicht tut, vorsätzlich. Schlägt dann in der Folge das durch vorsätzliches Nichthandeln angelegte Problem durch und wird in Kenntnis der vorangegangenen Defizite, wie hier, weiter nicht gehandelt, ist dies kein leichtfertiges Unter-

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letzung86 infiziert dann zwangsläufig alle eventuellen nachfolgenden weiteren Pflichtverletzungen mit dem Wissentlichkeitsausschluss, bspw. einen späteren nicht wissentlichen Verstoß gegen § 64 GmbHG. Der Versicherer ist ohne weiteres berechtigt, die von ihm ermittelten Tatsachen, aus denen sich die wissentliche Scheingeschäftsführung ergibt, in einen nachfolgenden Deckungsprozess einzuführen und sich insgesamt (auch wegen der im rechtskräftigen Haftungsurteil festgestellten nicht wissentlichen Pflichtverletzung gem. § 64 GmbHG) auf Leistungsfreiheit aufgrund des Wissentlichkeitsausschlusses zu berufen.87 Der Versicherte wird durch diese Sicht der Dinge keineswegs unangemessen benachteiligt, wie der BGH im Rahmen der AGB-rechtlichen Überprüfung eines Wissentlichkeitsausschlusses schon vor Jahrzehnten geurteilt hat: „Der VN wird nicht dadurch entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt, daß er für die Inanspruchnahme wegen eines Schadens keinen Haftpflichtversicherungsschutz erhält, sofern der Schaden das Endglied einer Kausalkette ist, die mit einer wissentlichen Pflichtverletzung in Gang gesetzt worden ist . . .“88

lassen mehr, sondern vertieft wiederum vorsätzlich den bereits vorsätzlich verursachten Schaden.“ und OLG Köln NJW-RR 2009, 994, 995 (betreffend eine untätig gebliebene Rechtsanwältin): „(…) läge eine Pflichtverletzung (…) darin, dass sie (…) über mehrere Wochen völlig untätig geblieben wäre, also sich um die Geschäfte ihrer Kanzlei nicht gekümmert hätte, was sich ebenfalls nur mit unbedingtem Vorsatz erklären ließe. (…) Das allerdings deutet (…) auf eine Rechtsanwältin, der ihre Kanzlei und ihre Mandanten gleichgültig waren, möglicherweise verursacht durch gravierende wirtschaftliche und/oder persönliche Probleme, gibt aber keinen Anhaltspunkt für ein Verhalten, das nicht „wissentlich” erfolgt sei.“ 86 Zur Pflichtwidrigkeit der „Scheingeschäftsführung“ (auch als „Strohmanngeschäftsführung“ bezeichnet) siehe BGH Beschl. v. 21.5.2019 – II ZR 337/17 (BeckRS 2019, 12184) Rn. 19; BGH NStZ 2017, 149; BFH NJW 2004, 3061, 3062; OLG Frankfurt Urt. v. 16.4.2008 - 1 U 136/05 (BeckRS 2008, 12856); Weiler NJOZ 2017, 1066, 1067. 87 Ebenso OLG Düsseldorf r+s 2005, 155, 156 f. (zum Fall eines Notars, der das Amt eines Treuhänders nur zum Schein übernommen und dadurch wissentlich gegen seine Amtspflichten verstoßen hat): „Für die Frage, ob der Ausschluss des § 4 Nr. 3 AVB Notare durchgreift, (…) steht - bindend - fest, dass es ohne Übernahme des Treuhandamtes gar nicht zu den Beteiligungen und Schäden der Nutzungsrechtserwerber gekommen wäre. Somit ist diese als wissentlich begangen zu qualifizierende Pflichtverletzung die Ursache für alle weiteren Verstöße im Rahmen der verbotenen Amtstätigkeit, die ihrerseits nicht ebenfalls und wiederum wissentliche Pflichtwidrigkeiten darstellen müssen, um den Ausschlusstatbestand zu erfüllen. Ursprungsursache für die Schäden ist die Übernahme des Treuhandamtes, alles weitere ist Folge dieses Verstoßes, und ohne Treuhandtätigkeit würde es zu den anderen Pflichtwidrigkeiten nicht gekommen sein. (…) Mithin ist der Ausschlusstatbestand des § 4 Nr. 3 AVB Notare erfüllt, weil die pflichtwidrige Amtsübernahme nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Schaden entfiele.“ 88 BGH VersR 1991, 176.

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V. Zusammenfassung 1. Von allen Inhalten eines rechtskräftigen Haftungsurteils entfalten nur die das Urteil tragenden tatsächlichen Feststellungen Bindungswirkung für einen nachfolgenden Deckungsprozess; keine Bindungswirkung entfalten rechtliche Schlussfolgerungen des Haftungsgerichts. 2. Die im rechtskräftigen Haftungsurteil geschilderten Tatsachen, aus denen das Haftungsgericht auf eine Pflichtverletzung geschlossen hat, entfalten als tragende tatsächliche Feststellungen Bindungswirkung; die im Urteil bezeichnete Pflichtverletzung ist hingegen keine tatsächliche Feststellung, sondern eine rechtliche Schlussfolgerung; deshalb entfaltet sie keine Bindungswirkung. 3. Ermöglichen die tragenden tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Haftungsurteils den Schluss auf eine andere Pflichtverletzung als die vom Haftungsgericht angenommene, kann die andere Pflichtverletzung ohne weiteres Gegenstand eines nachfolgenden Deckungsprozesses sein; sowohl der Versicherte als auch der Versicherer kann sich im Deckungsprozess auf die andere Pflichtverletzung berufen. 4. Beruft sich eine Partei, namentlich der Versicherte, im Deckungsprozess auf die andere Pflichtverletzung und erweist sich diese als versichert, obsiegt der Versicherte (vorbehaltlich durchgreifender Deckungseinwendungen) selbst dann, wenn für die vom Haftungsgericht angenommene Pflichtverletzung kein Versicherungsschutz besteht; erweist sie sich als nicht versichert, obsiegt der Versicherte (ebenfalls vorbehaltlich durchgreifender Deckungseinwendungen) dennoch, wenn für die vom Haftungsgericht angenommene Pflichtverletzung Versicherungsschutz besteht 5. Beruft sich eine Partei, namentlich der Versicherer, im Deckungsprozess auf die andere Pflichtverletzung und erweist sich diese als nicht versichert, weil sie durch den Wissentlichkeitsausschluss vom Versicherungsschutz ausgenommen ist, unterliegt der Versicherte selbst dann, wenn die vom Haftungsgericht angenommene Pflichtverletzung den Wissentlichkeitsausschluss nicht verwirklicht. Die nicht ausgeurteilte wissentliche Pflichtverletzung „infiziert“ also die ausgeurteilte nicht wissentliche Pflichtverletzung mit dem Wissentlichkeitsausschluss, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass beide Pflichtverletzungen den ausgeurteilten Schaden mitverursacht haben. Hieraus folgt bspw.: Wird ein Versicherter rechtskräftig gem. § 64 GmbHG verurteilt, ist der Versicherer leistungsfrei, wenn er darlegen (und ggf. beweisen) kann, dass der Versicherte das Zahlungsverbot kannte und bewusst missachtet hat; gleiches gilt, wenn der Versicherer jedenfalls darlegen (und ggf. beweisen) kann, dass der Versicherte • die Insolvenzreife der Gesellschaft und die Insolvenzantragspflicht kannte und bewusst missachtet hat,

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• seine aus § 43 Abs. 1 GmbHG folgende Pflicht, die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft jederzeit im Blick zu haben, kannte und bewusst missachtet hat oder • nur (noch) zum Schein als Geschäftsführer bestellt war, also seine gesetzlichen Pflichten generell bewusst missachtet hat, so dass es auf den Nachweis der Kenntnis und bewussten Missachtung einer ganz bestimmten Einzelpflicht nicht ankommt.

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„Schiedsfähigkeit“ personengesellschaftsrechtl. Beschlussmängelstreitigkeiten Thomas Liebscher

„Schiedsfähigkeit“ personengesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten THOMAS LIEBSCHER

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die „Schiedsfähigkeit“-Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Chronologie von Schiedsfähigkeit I und II . . . . . . . . . . 2. Gleichsetzung der personengesellschaftsrechtlichen Beschlussanfechtung durch Schiedsfähigkeit III . . . . . . . . . 3. Rezeption durch das Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Öffnungsklausel in Schiedsfähigkeit III . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präzisierung des „Rechtsstaatsprinzips“ bei Schiedsklauseln . 2. Rechtsstaatlich gebotene Beteiligungsmöglichkeit . . . . . . . . 3. Rechtsfortbildungskompetenz zur Wahrung des Justizgewährungsanspruchs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schiedsklauseln im Personengesellschaftsvertrag: Quo vadis? . 1. Doppelklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Implementierung der DIS-ERGeS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anpassung der Schiedsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung in Thesenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Jubilar ist ein – wie man in unserer Generation sagt – versierter Prozessanwalt. In der Sache hart, in der Form korrekt. Ein Kollege, mit dem man nach geschlagener Schlacht gerne gemeinsam ausgeht. Dem man seinen eigenen Mandanten anvertrauen würde, wenn man selbst an der Übernahme eines Mandats gehindert ist. Kurz gewendet – bzw. auf neudeutsch: Ein Litigator/Arbitrator des alten Schlages. Was liegt daher näher, als diesen zu seinem Jubiläum mit einem prozess- bzw. schiedsrechtlichen Thema zu ehren:

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I. Einleitung Das Verhältnis von Rechtsanwender und Gesetzgeber ist seit jeher ein Zankapfel der wissenschaftlichen Debatte. Während Rüthers1 bekanntlich das Verhältnis mit der Beziehung von Diener zu Herr gleichsetzt, hat der ehemalige BGH-Präsident Hirsch2 das Bild von Pianist und Komponist für treffender erachtet. Ein Lehrstück für die Interpretation von Hirsch ist die „Schiedsfähigkeit-Trilogie“3, in welcher sich zunächst der II. Zivilsenat und jüngst auch der I. Zivilsenat als geradezu virtuose Pianisten geriert haben. Dieser Beitrag soll aufzeigen, dass der rechtsfortbildende Esprit insbesondere des I. Zivilsenats in „Schiedsfähigkeit III“ über das Ziel hinausschießt. Gleichzeitig appelliert der Beitrag an den Gesetzgeber, seinem Regelungsauftrag nachzukommen und das Trauerspiel, zu dem die SchiedsfähigkeitsTrilogie geworden ist, zu beenden.

II. Die „Schiedsfähigkeit“-Trilogie Vorab eine terminologische Klarstellung: Mit der „Schiedsfähigkeit“ nach § 1030 ZPO hat die Problematik, ob eine schiedsrichterliche Beilegung gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten möglich ist, herzlich wenig zu tun. Mit der Bezeichnung hat es folgende Bewandtnis: Nach dem früheren § 1025 ZPO a.F. war die Schiedsfähigkeit eines Streitgegenstands an die Vergleichsbefugnis der Parteien geknüpft. Die Vergleichsbefugnis bei gesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelstreitigkeiten war in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten.4 Spätestens seit der Schiedsrechtsnovelle des Jahres 1998 sind aus § 1025 a.F. resultierende Bedenken indes überholt.5 Dennoch hat sich die hergebrachte Problemumschreibung anhand des Begriffs der „Schiedsfähigkeit“ gehalten. Im Kern drehen sich die „Schiedsfähigkeit“-Judikate darum, inwiefern auch ein Schiedsspruch eine Drittwirkung entfalten kann, wie sie das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht in § 248 Abs. 1 AktG vorsieht (dazu 1.). Obwohl sich vergleichbare Komplikationen unter dem personengesellschaftsrechtlichen Beschlussanfechtungsregime nicht stellen – zur Erinne1

Vgl. Rüthers NJW 2011, 434; Rüthers NJW 2005, 2759, 2761; Rüthers JZ 2002, 365, 366. Hirsch JZ 2007, 853, 858; Hirsch ZRP 2006, 161. 3 Vgl. zur Terminologie Borris NZG 2017, 761, 762; krit. auch K. Schmidt NZG 2018, 121, 123. 4 Siehe näher dazu K. Schmidt VGR 2009, 97, 102 f.; K. Schmidt NZG 2018, 121, 123. 5 K. Schmidt NZG 2018, 121, 123; von Unger/Gummert in MAHdb. Personengesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2019, § 12 Rn. 60; Münch in MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1030 Rn. 36. 2

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rung: eine erga omnes-Wirkung existiert dort nicht –, hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung Schiedsfähigkeit III die im kapitalgesellschaftsrechtlichen Kontext entwickelten Kriterien auf personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten übertragen (dazu 2.). 1. Die Chronologie von Schiedsfähigkeit I und II Die Grundsätze der ersten beiden „Schiedsfähigkeit“-Entscheidungen dürften bekannt sein. Der Vollständigkeit halber nur so viel: Im Jahr 1996 erfolgte der Auftakt der „Schiedsfähigkeit-Trilogie“ durch eine Entscheidung im GmbH-rechtlichen Kontext.6 Kategorisch schloss der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Entscheidungsbefugnis von Schiedsgerichten im Beschlussmängelrecht aus. Dafür war nicht etwa die Schiedsfähigkeit tragendes Argument,7 sondern die erga omnes-Wirkung des gerichtlichen Gestaltungsurteils (§§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG). Die entscheidende Frage ist nämlich, wann auch ein grundsätzlich auf Relativität ausgelegter Schiedsspruch die Drittwirkung der §§ 248, 249 AktG entfalten kann und darf.8 Der II. Zivilsenat schloss eine solche Wirkung grundsätzlich aus. Der Bundesgerichtshof appellierte expressis verbis an den Gesetzgeber, den Problemkreis zu regeln. Dieser spielte den Ball unvermittelt zurück: Im Rahmen der Schiedsrechtsnovelle des Jahres 1998 wurde mit explizitem Verweis auf die Rechtsfortbildungskompetenz der Gerichte von einer gesetzlichen Lösung abgesehen.9 Im Jahr 2009 setzte sich die Rechtsprechungsentwicklung mit der Entscheidung Schiedsfähigkeit II fort.10 Erneut stand ein GmbH-rechtlicher Sachverhalt zur Entscheidung an. Überraschend sieht der Bundesgerichtshof – II. Zivilsenat – eine Anwendung der §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG auf einen Schiedsspruch nun als prinzipiell möglich an. Möglich ist eine solche erga omnes-Wirkung des Schiedsspruchs aber nur, wenn die „Voraussetzung einer dem Rechtsschutz durch staatliche Gerichte gleichwertigen Ausgestaltung des schiedsgerichtlichen Verfahrens“ erfüllt ist. Erstens müssten sämtliche Gesellschafter schiedsgebunden sein, da eine schiedsgerichtliche Entscheidungsgewalt nur im Rahmen der Schiedsabrede bestehe.11 Zweitens müsse rechtliches Gehör gewährt werden, so dass die nicht klagenden Gesellschafter am Verfahren durch Nebenintervention mitwirken 6

BGH, Urt. v. 29. März 1996 – Az.: II ZR 124/95, NJW 1996, 1753 („Schiedsfähigkeit I“). So noch OLG Hamm, Urt. v. 8. Dez. 1986 – Az.: 8 U 73/86, NJW-RR 1987, 1319, 1320 f. 8 So auch Schlüter DZWIR 2018, 251, 254. 9 Vgl. RegE Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz, BT-Dr 13/5274, S. 35; hierzu Schmidt NZG 2018, 121, 123; Leinekugel in BeckOK-GmbHG, 39. Ed., Stand: 1. Mai 2019, Beschlussanfechtung Rn. 242. 10 BGH, Urt. v. 6. Apr. 2009 – Az.: II ZR 255/08, NJW 2009, 1962. 11 Vgl. Münch in MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1030 Rn. 38. 7

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können. Drittens müsse jedem Gesellschafter eine Mitwirkung an der Konstituierung des Schiedsgerichts ermöglicht werden, sofern die Besetzung nicht durch eine neutrale Stelle erfolgt.12 Dadurch soll der Ausschluss des gesetzlichen Richters durch die Schiedsabrede kompensiert werden. Und zuletzt müsse ein Äquivalent zur Verfahrenskonzentration nach § 246 Abs. 3 S. 1 AktG bestehen: Widersprechende Entscheidungen müssen durch eine Zuständigkeitskonzentration ausgeschlossen sein. Sollten diese Voraussetzungen nicht erfüllt sein, soll die Schiedsabrede nach § 138 Abs. 1 BGB unwirksam sein. Es fehlt dann also nicht nur an einer potentiellen Drittwirkung, sondern bereits an einer wirksamen Schiedsabrede. Diese kapitalgesellschaftsrechtliche Rechtslage ist höchst unbefriedigend: Da die vereinbarte Schiedsklausel womöglich nach den Rechtsprechungsgrundsätzen unwirksam ist, jedoch Beschlussmängelstreitigkeiten gem. § 246 Abs. 1 AktG strikt fristgebunden zu erheben sind, muss der Anfechtungswillige entscheiden, ob er seine Klage trotz Schiedsklausel vor den ordentlichen Gerichten erhebt oder ein Schiedsverfahren einleitet. Die Klaggegner (die Gesellschaft und die hinter ihr stehenden Gesellschafter) werden sich vor Prozessbeginn nicht „outen“, ob sie im Anfechtungsstreit die Unwirksamkeit der Schiedsklausel oder deren Maßgeblichkeit behaupten werden. Vielmehr wird in der Praxis häufig opportunistisch agiert und bei einer Klage vor den staatlichen Gerichten die Schiedseinrede des § 1032 Abs. 1 ZPO erhoben bzw. bei einer Schiedsklage deren fehlende Schiedsfähigkeit eingewandt. Dem Anfechtenden bleibt daher schon aus Gründen des (anwaltlichen) Gebots des sichersten Weges häufig nichts anderes übrig, als zweigleisig zu klagen, um eine Verfristung der Klage zu vermeiden – mit den hieraus resultierenden Kostenlasten (eine Klage ist ja zwingend unzulässig) und der Gefahr widersprechender Entscheidungen. Nur um das Bild komplett zu machen: Vielfach beschränkt sich ein solcher Gesellschafterstreit nicht auf die Geltendmachung von Beschlussmängeln. Auch andere Positionen (Gewinnentnahmeansprüche, Beitragspflichten, Kündigungs- und Abfindungsrechte bzw. -folgen u.v.m.) sind in solchen Situationen häufig streitig. Auch insoweit stellt sich die Frage, vor welchem Spruchkörper solche Ansprüche einzuklagen sind, so dass womöglich auch noch das Klagforum für die verschiedenen Streitpunkte auseinanderfällt (Nichterfassung der Beschlussmängelstreitigkeit durch die Schiedsklausel auf der Grundlage der Schiedsfähigkeits-Rechtsprechung, aber – denkbare – Schiedsfähigkeit der übrigen Streitpunkte, für die die Bedenken des Bundesgerichtshofes nicht einschlägig sind). Die Verwirrung ist komplett. Dies, obwohl die Gesellschafter durch die Formulierung einer Schiedsklausel ihren Willen bekundet haben, all ihre (potentiellen) Streitig12

Vgl. hierzu Bryant SchiedsVZ 2017, 194, 196.

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keiten diskret und zügig durch ein von ihnen privatautonom konstituiertes Schiedsgericht klären zu lassen. 2. Gleichsetzung der personengesellschaftsrechtlichen Beschlussanfechtung durch Schiedsfähigkeit III All diese Schwierigkeiten drohen nun ins personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelrecht exportiert zu werden. Dies, obwohl die Schiedsfähigkeit solcher Streitigkeiten bis dato nicht in Zweifel gezogen wurde. Im Gegenteil: Bis zur Entscheidung Schiedsfähigkeit III13 war anerkannt, dass eine schiedsgerichtliche Klärung von Beschlussmängelstreitigkeiten im personengesellschaftsrechtlichen Kontext zulässig ist.14 Da nämlich §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG auch im staatlichen Beschlussmängelstreit nicht analog angewendet werden, wenn Gesellschafter einer Personen(handels)gesellschaft über ihre Willensbildung streiten, bindet ein (staatliches) Feststellungsurteil nur die Streitbeteiligten. Ein Schiedsspruch führt gerade nur jene relative Bindung herbei (vgl. § 1055 ZPO). Die Vorzeichen des „Schiedsfähigkeits“-Diskurses werden sich freilich unter dem Einfluss der bevorstehenden Reform des Personengesellschaftsrechts stark ändern. Der zwischenzeitlich vorgelegte Mauracher Entwurf der vom BMJV eingesetzten Expertenkommission schlägt für das personengesellschaftliche Beschlussmängelrecht eine Neuausrichtung auf das (kapitalgesellschaftsrechtlich entlehnte) Anfechtungs- bzw. Kassationsmodell vor. Damit wird auch hier den Urteilen/Schiedssprüchen erga omnes-Wirkung zukommen. Anders ist dies aber (noch) unter dem geltenden Feststellungsmodell: Überraschenderweise sah sich der Bundesgerichtshof – diesmal allerdings der I. Zivilsenat – gleichwohl dazu veranlasst, durch die Entscheidung Schiedsfähigkeit III die Mindestanforderungen aus Schiedsfähigkeit II auch auf die Schiedsvereinbarung im Gesellschaftsvertrag einer GmbH & Co. KG zu übertragen. Als Begründung genügte dem I. Zivilsenat, Gesellschafter einer KG müssten „ebenso wie die Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung vor Benachteiligung und Entziehung des notwendigen Rechtsschutzes bewahrt werden“. Das gelte aber nur, sofern „gegenüber Kapitalgesellschaften keine Abweichungen geboten sind“. Die Schiedsfähigkeit II-Mindestvoraussetzungen folgten nämlich aus § 138 Abs. 1 BGB sowie aus Art. 20 Abs. 3 GG, so dass sich im Grundsatz eine Geltung für alle Gesellschaftsformen und -typen ergebe. 13

BGH, Beschl. v. 6. Apr. 2017 – Az.: I ZB 23/16, NJW-RR 2017, 876. Vgl. nur OLG Oldenburg, Beschl. v. 1. März 2016 – Az.: 8 SchH 2/16, BeckRS 2016, 120213; OLG Hamm Urt. v. 29. Apr. 1992 – Az.: 8 U 298/91, DB 1992, 2180; Ebbing NZG 1998, 281, 284; Heinrich NZG 2016, 1406, 1410; Hausschild/Böttcher DNotZ 2012, 577, 587 f. 14

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3. Rezeption durch das Schrifttum Schiedsfähigkeit III wird im Schrifttum überwiegend abgelehnt.15 Die berechtigte Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass auch beim staatlichen Beschlussmängelstreit im Personengesellschaftsrecht nur eine inter partesWirkung erzielt werden kann. Indem die Voraussetzungen von Schiedsfähigkeit II auf personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten übertragen werden, muss die Schiedsabrede – überschießend – Kriterien erfüllen, für die es gar kein Pendant im parallelen gerichtlichen Beschlussmängelverfahren gibt. Die erga omnes-Wirkung ist gerade ein Spezifikum des kapitalgesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts. Auf diesem Spezifikum beruhen Schiedsfähigkeit I und II. Die vier Kriterien aus Schiedsfähigkeit II wurden just dem aktienrechtlichen Anfechtungsmodell entlehnt. Die Übertragung von Schiedsfähigkeit II implementiert im personengesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrecht damit wesensfremde Elemente. 4. Öffnungsklausel in Schiedsfähigkeit III Auch jenseits dieser Grundsatzkritik bereitet die Anwendung der Schiedsfähigkeit III-Entscheidung Schwierigkeiten. Denn die dort angeordneten Restriktionen sollen bei Personengesellschaften nur gelten, wenn „gegenüber Kapitalgesellschaften keine Abweichungen geboten sind.“ Gerade diese in der Schiedsfähigkeit III-Entscheidung enthaltene Öffnungsklausel wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Künftige Streitigkeiten darüber, ob die Öffnungsklausel eingreift, sind daher vorgezeichnet.16 Wollte man die Wendung ernst nehmen, käme das Urteil eigentlich nie zur Anwendung. Denn Bedenken gegen die Schiedsfähigkeit von kapitalgesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelstreitigkeiten resultieren ja gerade aus den Besonderheiten des Klagregimes der §§ 243 ff. AktG, die im Normalfall im (derzeitigen) Personengesellschaftsrecht nicht gelten. Zwar kann gesellschaftsvertraglich auch im Personengesellschaftsrecht das aktienrechtliche Klagmodell vereinbart werden. In der Praxis wird von dieser Gestaltungsmöglichkeit auch breit Gebrauch gemacht. Dass aber gerade gesellschaftsrechtliche Vorsorge dazu führen soll, dass der Gesellschafterwille, den Streit vor einem Schiedsgericht auszutragen, nicht mehr gilt, vermag nicht zu überzeugen. In Betracht kommt eine andere Deutung. Der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt betraf die Schiedsklausel einer GmbH & Co. KG. Gerade GmbH & Co. KGs sind realiter häufig kapitalgesellschaftsähnlich ausgestaltet.17 So ist 15 Vgl. etwa Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1995 f.; Borris NZG 2017, 761, 763 ff.; Lieder NZG 2018, 1321, 1330; Nolting ZIP 2017, 1641, 1642 f.; Schmidt NZG 2018, 121, 124. 16 Vgl. Garbe/Eschen GWR 2017, 222. 17 Vgl. Liebscher in Reichert, GmbH & Co. KG, 7. Aufl. 2015, § 3 Rn. 27 ff. mwN.

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etwa die Kommanditbeteiligung in der Rechtspraxis häufig eine reine Kapitalanlage, die einer kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligung gleicht (insbesondere bei Publikumsgesellschaften).18 Diese quasi-körperschaftliche Struktur zahlreicher Kommanditgesellschaften könnte den I. Zivilsenat zu seiner rechtsfortbildenden Maßnahme verleitet haben, insbesondere zum Schutz von kapitalanlegenden Kommanditisten. Denn in der Tat erweisen sich die Gesellschafter von Publikums-Kommanditgesellschaften häufig als schutzbedürftig, und aufgrund der Ähnlichkeiten einer Publikums-KG mit einer Körperschaft bietet sich vielfach eine Übernahme kapitalgesellschaftsrechtlicher Regelungen an.19 Wenn man argumentationshalber Schiedsfähigkeit III wirklich auf Personengesellschaften übertragen wollte, dann sollte dies allenfalls bei körperschaftlich strukturierten Personengesellschaften erfolgen. Bei typischen Personengesellschaften, gerade in der Rechtsform einer GbR oder oHG, sollte es dagegen bei der Rechtslage vor Schiedsfähigkeit III verbleiben. Ob der Bundesgerichtshof diese Differenzierung tatsächlich im Sinn hatte, ist indes nicht gesichert. Näheres über die Gesellschaftsstruktur der betroffenen KG ist nicht bekannt; offenbar handelte es sich jedoch nicht um eine Publikumsgesellschaft, sondern um eine mittelständische Reederei-KG. Antragsteller waren die Kommanditisten. III. Der Justizgewährungsanspruch Abseits der bisher laut gewordenen, berechtigten Kritik soll das Schlaglicht hier auf einen bisher vernachlässigten Argumentationsstrang geworfen werden, nämlich das Rechtsstaatsprinzip. Bereits in Schiedsfähigkeit II urteilte der II. Zivilsenat, die Mindeststandards folgten aus dem Rechtsstaatsprinzip.20 Dabei beruft sich der II. Zivilsenat auf Schiedsfähigkeit I. Diese Entscheidung stützt sich aber nicht ausdrücklich auf das Rechtsstaatsprinzip, sondern adressiert es allenfalls implizit durch den Vergleich mit dem staatlichen Verfahren. Mit dem Rechtsstaatsprinzip, das sowohl in Schiedsfähigkeit II als auch in Schiedsfähigkeit III bemüht wird, dürfte letztlich der Justizgewährungsanspruch gemeint sein.21 1. Präzisierung des „Rechtsstaatsprinzips“ bei Schiedsklauseln Der Justizgewährungsanspruch gewährleistet, dass nicht nur gegenüber Hoheitsakten effektiver Rechtsschutz gewährt wird – diesen Fall regelt 18 19 20 21

Liebscher in Reichert, GmbH & Co. KG, 7. Aufl. 2015, § 3 Rn. 29. Jaletzke in MünchHdb. GesR, Bd. 2., 5. Aufl. 2019, § 65 Rn. 1. Vgl. BGH, Urt. v. 6. Apr. 2009 – Az.: II ZR 255/08, 1962, 1963. Vgl. bereits Reichert/Harbarth NZG 2003, 379, 381 Fn. 17.

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Art. 19 Abs. 4 GG –, sondern effektiver Rechtsschutz durch die Gerichte auch in Privatrechtsverhältnissen eröffnet ist.22 Dieser Schutz ist allerdings disponibel. Im Bereich alternativer Streitbeilegung vertritt deshalb die herrschende Auffassung, die Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit lasse sich als Ausübung der prozessrechtlichen Privatautonomie verstehen, durch welche die Parteien auf ihren Justizgewährungsanspruch verzichten.23 Darin kommt das zutreffende Verständnis zum Ausdruck, dass der Justizgewährungsanspruch nur das staatliche Verfahren gewährleisten soll. Der Verzicht auf das staatliche Verfahren ist allerdings nur dann möglich, wenn im Schiedsverfahren eine rechtsstaatliche Verfahrensausgestaltung gesichert ist.24 Daraus folgt: Entweder muss durch die Regelungen, denen das Schiedsverfahren unterliegt, oder aber durch die Schiedsklausel selbst eine rechtsstaatliche Verfahrensausgestaltung gesichert sein. 2. Rechtsstaatlich gebotene Beteiligungsmöglichkeit Schiedsfähigkeit II etablierte Mindestanforderungen, durch die eine Beteiligung der übrigen Gesellschafter gesichert werden sollte, weil diese einen Schiedsspruch gegen sich gelten lassen müssen, auch wenn sie nicht Partei des Schiedsverfahrens sind (§§ 248, 249 AktG analog). Hiernach muss die Schiedsklausel bestimmte Inhalte aufweisen, die eine Beteiligung aller Gesellschafter an der vor dem Schiedsgericht ausgetragenen Beschlussmängelstreitigkeit gewährleisten sollen. Die Krux an dieser Vorgehensweise: Die rechtsstaatliche Sicherung wurde nicht etwa durch eine gesetzliche Ausgestaltung des Schiedsverfahrens, sondern vielmehr durch Richterrecht geschaffen, welches auch noch an die Gestaltung der dem Schiedsverfahren zugrundeliegenden Schiedsklausel anknüpft. Damit gelangt man unmittelbar ins Fahrwasser der Rechtsprechung zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung: Es ist mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz unvereinbar, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben.25 Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Bindungen, wenn die Gerichte nicht nur eine bloße Lückenfüllung vornehmen, sondern ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des 22 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 16. Juli 2019 – Az.: 2 BvR 881/17, NJW 2019, 3137, 3138; BVerfG, Beschl. v. 25. Sept. 2018 – Az.: 1 BvR 453/17, NJW 2018, 3699 Rn. 10 mwN. 23 BGH, Urt. v. 7. Juni 2016 – Az.: KZR 6/15, NJW 2016, 2266, 2271; BGH, Urt. v. 3. Apr. 2000 – II ZR 373/98, NJW 2000, 1713; Papier IWRZ 2016, 14; Prütting SchiedsVZ 2011, 233, 236. 24 OLG München, Beschl. v. 16. Sept. 2016 – Az.: 34 SchH 11/16, SchiedsVZ 2016, 346, 348 Rn. 23. 25 BVerfG, Beschl. v. 12. Nov. 1997 – Az.: 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519, 520; BVerfG, Beschl. v. 3. Nov. 1992 – Az.: 1 BvR 1243/88 NJW 1993, 996, 997.

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Gesetzgebers setzen.26 Das Bundesverfassungsgericht hält eine richterliche Rechtsfortbildung nur dann für zulässig, wenn etwa „Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird“.27 In dieses Spannungsfeld zwischen Rechtsfortbildungskompetenz und Gewaltenteilungsgrundsatz muss die Schiedsfähigkeits-Rechtsprechung eingepasst werden. 3. Rechtsfortbildungskompetenz zur Wahrung des Justizgewährungsanspruchs? Hat sich der Bundesgerichtshof richtigerweise als Pianist geriert? Oder hätte er sich mit der Rolle als Diener begnügen und die SchiedsfähigkeitsCausa an den Gesetzgeber verweisen müssen? Diese Frage hängt davon ab, ob der Justizgewährungsanspruch durch Rechtsfortbildung oder durch gesetzliche Anordnungen zu gewährleisten ist. Überwiegend wird vertreten, der Justizgewährungsanspruch müsse durch eine gesetzliche Ausgestaltung garantiert und realisiert werden.28 So hat bekanntlich das Plenum des Bundesverfassungsgerichts entschieden, es verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn keine gesetzlich vorgesehene fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für eine Gehörsverletzung existiert.29 Die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Ausgestaltung der Justizgewährung liege beim Gesetzgeber: Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, unter Abwägung und Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen über die gesetzliche Ausgestaltung zu entscheiden.30 Das Rechtsschutzsystem auszuformen und insbesondere die prozessualen Voraussetzungen für Rechtsmittel und Rechtsbehelfe festzulegen, liege daher im Aufgabenbereich des Gesetzgebers.31 Aus der Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts resultierte die heutige zivilprozessuale Gehörsrüge in § 321a ZPO. Daher ist wie bereits im Kontext von Schiedsfähigkeit I die Debatte zu führen, in wessen Zuständigkeit es fällt, die Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten zu regeln. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive liegt tatsächlich näher, dass der Bundesgerichtshof im Zuge von Schiedsfähigkeit I die Verantwortung richtigerweise bei dem Gesetzge26 BVerfG, Beschl. v. 23. Mai 2016 – Az.: 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369 Rn. 39. 27 BVerfG, Beschl. v. 23. Mai 2016 – Az.: 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, 1369 Rn. 37. 28 Grzeszick in Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 20 VII Rn. 134; Voßkuhle/Kaiser JuS 2014, 312, 131; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 30. Apr. 2003 – Az.: 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1926; BVerfG, Beschl. v. 2. März 1993 – Az.: 1 BvR 249/92, NJW 1993, 1635. 29 BVerfG, Beschl. v. 30. Apr. 2003 – Az.: 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924. 30 BVerfG, Beschl. v. 30. Apr. 2003 – Az.: 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924. 31 BVerfG, Beschl. v. 30. Apr. 2003 – Az.: 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1926.

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ber verortet hat. Bereits Schiedsfähigkeit II ist unter diesem Gesichtspunkt verfehlt; erst recht gilt dies für Schiedsfähigkeit III. Der Gesetzgeber sollte daher alsbald tätig werden, um eine verfassungsrechtlich sichere Basis für die schiedsgerichtliche Behandlung von Beschlussmängelstreitigkeiten zu schaffen. Hier bietet sich etwa die von Lieder befürwortete Schaffung eines § 1066a ZPO-E an.32 Eine ausdrückliche (rechtsformunabhängige) Regelung über schiedsgerichtliche Beschlussmängelstreitigkeiten sollte die Zulässigkeit entsprechender schiedsgerichtlicher Verfahren und Entscheidungen rechtsformunabhängig klarstellen. Eine solche ausdrückliche Regelung, die im Übrigen nicht Anforderungen an die Schiedsklausel (so wie die Schiedsfähigkeit I bis III-Entscheidungen) formuliert, sondern Verfahrensregeln vorsieht, die eine gleichgewichtige (im Zweifel neutrale) Besetzung der Schiedsrichterbank in Mehrparteien-Schiedsverfahren gewährleistet, würde die beschriebenen Rechtsunsicherheiten beseitigen und dem Gesellschafterwillen für eine privatgerichtliche Streitentscheidung Rechnung tragen. Insbesondere die derzeit bestehende „alles oder nichts“-Situation (hinreichende Schiedsklausel ja/nein) würde für Beschlussmängelstreitigkeiten künftig beseitigt. Zudem würde dem Kernpetitum der höchstrichterlichen Rechtsprechung (kein Übergewicht/keine Vorteile einer Seite) entsprochen. Im Zuge der erstrebten Reform des Beschlussmängelrechts33 kann diese gesetzgeberische Änderung in einen größeren Kontext eingebettet werden. Demgegenüber würde die anstehende Reform des Personengesellschaftsrechts,34 bei der für eine Übernahme des aktienrechtlichen Klagmodells auf rechtsfähige Personengesellschaften plädiert wird,35 überfrachtet, wenn man dort versuchen wollte, für alle Rechtsformen die Probleme zu lösen, die aus den Schiedsfähigkeitsurteilen des Bundesgerichtshofes resultieren.

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Vgl. Lieder NZG 2018, 1321, 1331. Vgl. im Einzelnen Koch Gutachten F zum 72. Deutschen Juristentag 2018: „Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht?“; vgl. zur aktuellen Diskussion des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts etwa Bayer/Möller NZG 2018, 801; Grigoleit AG 2018, 645; Koch NJW-Beilage 2018, 50; Nietsch, NZG 2018, 1334. 34 Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung wurde im Anschluss an die Diskussionen auf dem 70. Deutschen Juristentag in Essen bestimmt, dass das Personengesellschaftsrecht insgesamt modernisiert werden soll. Zwischenzeitlich wurde der sog. Mauracher Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts vorgelegt, der nunmehr rasch in ein Gesetzgebungsverfahren münden soll. 35 Vgl. §§ 714a ff. BGB-E (Mauracher Entwurf); Koch Gutachten F (Fn. 31), S. 109; Enzinger in MünchKomm-HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 Rn. 98; Freitag in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 119 Rn. 82; Lieder NZG 2018, 1321, 1333; K. Schmidt in Festschrift Stimpel, 1985, S. 217 ff.; K. Schmidt Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 447 f. 33

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4. Zwischenergebnis Die Anrufung des Rechtsstaatsprinzips ist mehr Scheinbegründung als stabiles Fundament für die Behandlung schiedsgerichtlicher Beschlussmängelverfahren im Personengesellschaftsrecht. Das nebulöse Abstellen auf ein derart konturloses Prinzip wie das Rechtsstaatsprinzip vermag eine Begründung in der Sache nicht zu liefern. Da Schiedsfähigkeit III abzulehnen ist, verbleibt es nach hier vertretener Auffassung dabei, dass personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten „schiedsfähig“ sind. In Anbetracht der entstandenen Rechtsunsicherheiten ist dringend der Gesetzgeber gefordert, den Problemkreis gesetzlich zu regeln und für Rechtssicherheit zu sorgen.

IV. Schiedsklauseln im Personengesellschaftsvertrag: Quo vadis? Bis zu einem solchen Eingreifen des Gesetzgebers gilt es für die Kautelarpraxis, die Beratung nach Schiedsfähigkeit III bestmöglich auf die Anforderungen des Bundesgerichtshofs abzustimmen. Dies gilt umso mehr, als mit dem Mauracher Entwurf zur Reform des Personengesellschaftsrechts die Weichen für die Etablierung eines Kassationsmodells (mit erga omnesWirkung) im Personengesellschaftsrecht gestellt sind. Solange eine gesetzgeberische Intervention – oder eine Rechtsprechungsänderung – aussteht, müssen Lösungen gefunden werden, wie mit Beschlussmängelstreitigkeiten bei Personengesellschaften in der Praxis umzugehen ist. Als Ausgangspunkt kann dabei gelten, dass bei Einführung des Kassationsmodells in weitem Umfang die kapitalgesellschaftsrechtlichen Anforderungen zur Anwendung gelangen. Im Übrigen bleibt höchst unklar, wann nach Schiedsfähigkeit III die Grundsätze der Entscheidung Schiedsfähigkeit II auf eine Personengesellschaft überhaupt zu übertragen sind („im Grundsatz … wenn keine Abweichungen geboten sind“). 1. Doppelklage Die Praxis kann sich zwar – wie dargelegt – damit behelfen, eine Doppelklage einzureichen. So können jedenfalls Rechtsverluste vermieden werden. Effektiver Rechtsschutz sieht freilich anders aus. 2. Implementierung der DIS-ERGeS Die zweite Option besteht darin, die von der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) entwickelten „Ergänzenden Regeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten“ (DIS-ERGeS) in den Gesellschaftsvertrag aufzunehmen. Diese Regelungen passen allerdings nur dann, wenn gesell-

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schaftsvertraglich geregelt ist, dass die Beschlussmängelklage gegen die Gesellschaft zu richten ist.36 Sofern in Übereinstimmung mit der gesetzlichen default option eine Feststellungsklage gegen die bestreitenden Gesellschafter erhoben werden muss, passen die DIS-ERGeS strukturell nicht.37 Die einzige Möglichkeit besteht dann darin, die Vorgaben der Rechtsprechung durch Anpassung des Gesellschaftsvertrags einzuhalten. 3. Anpassung der Schiedsklausel Die Anpassung einer Schiedsklausel in Gesellschaftsverträgen ist eine Vertragsänderung, mithin ein Grundlagengeschäft, welches im gesetzlichen Regelfall einen einstimmigen Beschluss voraussetzt.38 Fehlt eine Mehrheitsklausel, muss der Änderungsbeschluss mithin einstimmig gefasst werden.39 Sieht der Gesellschaftsvertrag eine Mehrheitsklausel vor, können indes grundsätzlich auch Grundlagengeschäfte wie eine Vertragsänderung mehrheitlich beschlossen werden.40 Etwas anderes würde nur gelten, wenn man den Entzug des staatlichen Richters durch Vereinbarung einer Schiedsklausel als „schlechthin unverzichtbares Mitgliedschaftsrecht“ ansehen wollte, das nicht mehrheitlich entzogen werden kann. Für eine solche Sichtweise könnte angeführt werden, dass der Bundesgerichtshof im Bereich des Vereinsrechts betont hat, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter sowie das Recht auf Zugang zu den staatlichen Gerichten Rechte von Verfassungsrang seien, die nicht ohne die Zustimmung des Betroffenen entzogen werden könnten.41 Eine solche Betrachtung überzeugt zwar nach meiner Auffassung nicht. Denn es geht ja schlicht darum, gerade aus Gründen des effektiven und den Staatsgerichten gleichwertigen Rechtsschutzes eine bereits privatautonom getroffene Entscheidung zugunsten einer schiedsgerichtlichen Streitbewältigung an die Anforderungen der Rechtsprechung anzupassen.42 Aus den genannten Gründen verbleiben indes rechtliche Risiken. 36

So auch Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1997; Borris NZG 2017, 761, 766. Vgl. ausführlich Borris NZG 2017, 761, 767. 38 Siehe zur Vertragsänderung Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 119 Rn. 33 mwN. 39 Zu GmbHs: BGH, Urteil v. 6. Apr. 2009 – Az.: II ZR 255/08, NZG 2009, 620, 622; Ebbing NZG 1998, 281 mwN; zu Personengesellschaften: Karrer/Gummert in MAHdb. Personengesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 4; Peres in Peres/Senft, Sozietätsrecht, 3. Aufl. 2015, § 8 Rn. 171. 40 Vgl. BGH, Urt. v. 15 Juni 1987 – Az.: II ZR 261/86, NJW 1988, 411, 412; KG, Urt. v. 12. Nov. 2009 – Az.: 19 U 25/09, DStR 2010, 287. 41 BGH, Urt. v. 3. Apr. 2000 – Az.: II ZR 373/98, NZG 2000, 897, 898, iE ebenso Reichert/Harbarth NZG 2003, 379, 381 für GmbH; aA OLG München, Urt. v. 9. Feb. 1999 – Az.: 30 U 709/97, NZG 1999, 780, 781. 42 Ebenso mit eingehender und überzeugender Begründung: Grunewald in Festschrift Krieger, 2020, im Erscheinen. 37

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V. Zusammenfassung in Thesenform 1. Das Urteil Schiedsfähigkeit III ist abzulehnen. Der I. Zivilsenat verkennt zum einen, dass die in Schiedsfähigkeit II adressierten Probleme, namentlich die erga omnes-Wirkung eines Gestaltungsurteils, im (aktuellen) Personengesellschaftsrecht keine Entsprechung finden. Zum anderen hilft der pauschale Verweis auf den rechtsstaatlich gebotenen Rechtsschutz nicht weiter. Es ist rechtsstaatlich gerade nicht geboten, Schiedsfähigkeit II auch auf Personengesellschaften zu erstrecken, weil es dort eine Drittwirkung – eines staatlichen Urteils oder eines Schiedsspruchs – ebenfalls nicht gibt. 2. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, eine Regelung zur rechtsformunabhängigen Schiedsfähigkeit aller Beschlussmängelstreitigkeiten zu treffen. Sowohl der I. Zivilsenat als auch der II. Zivilsenat begründen ihre Entscheidung mit dem „Rechtsstaatsprinzip“. Das ist als Bezugnahme auf den Justizgewährleistungsanspruch zu verstehen. Jener muss aber – wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat – durch eine gesetzliche Regelung konkretisiert werden. Richterrecht genügt insoweit nicht. 3. Nach hier vertretener Auffassung ist wie bereits vor Schiedsfähigkeit III davon auszugehen, dass personengesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten schiedsfähig sind. Zentral für diese Auffassung spricht, dass der Beschlussmängelstreit im Personengesellschaftsrecht gerade nur inter partes wirkt. Ein Schutz von unbeteiligten Gesellschaftern ist nicht notwendig; es treten keine Rechtswirkungen für und gegen die unbeteiligten Gesellschafter ein. Der Schutz dieser Personen war gerade entscheidungstragend für Schiedsfähigkeit II. Es bedarf der zusätzlichen Kriterien von Schiedsfähigkeit II im Personengesellschaftsrecht daher nicht. 4. Durch die Entscheidung Schiedsfähigkeit III kommen die Rechtsunsicherheiten im Zusammenhang mit kapitalgesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelklagen bei Bestehen einer Schiedsklausel nun auch im Personengesellschaftsrecht zum Tragen. Dies gilt umso mehr, sollte der Gesetzgeber dem Mauracher Entwurf folgen und eine Übernahme des Kassationsmodells im Personengesellschaftsrecht vorsehen. Eine rechtssichere Beratung ist nach dem derzeitigen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht möglich. Am sichersten – aber kostenintensiv – ist die Erhebung einer doppelten Klage, also bei Schiedsgericht und ordentlichem Gericht. Alternativ kann in manchen Fällen auf die DIS-ERGeS zurückgegriffen werden, etwa dann, wenn nach dem Gesellschaftsvertrag die Gesellschaft für Beschlussmängelstreitigkeiten passivlegitimiert ist. Als sicherster Weg erweist sich aber wohl die vorsorgliche Beachtung der Schiedsfähigkeit II-Kriterien in gesellschaftsvertraglichen Schiedsklau-

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seln. Eine (nur) mehrheitliche Nachbesserung bestehender Schiedsklauseln ist mit rechtlichen Unwägbarkeiten behaftet. 5. Die Problematik sollte durch ein Eingreifen des Gesetzgebers insgesamt entschärft werden. Als zielführend erweist sich aus meiner Sicht der Vorschlag der Schaffung eines neuen § 1066a ZPO, der die Zulässigkeit schiedsgerichtlicher Verfahren und Entscheidungen in Beschlussmängelstreitigkeiten rechtsformunabhängig klarstellt und Verfahrensregeln vorsieht, die die Einhaltung der im Schiedsfähigkeit II-Urteil formulierten Anforderungen im Rahmen der Verfahrensgestaltung, namentlich bei der Konstituierung des Schiedsgerichts, sicherstellen.

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The Rise of International Commercial Courts – A Threat to Arbitration? JUSTICE QUENTIN LOH1

I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. The rising dissatisfaction with International Arbitration . III. Are there viable alternatives to International Arbitration? 1. International commercial mediation . . . . . . . . . . . . . . . 2. International commercial courts . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. What is driving the increasing popularity of international commercial courts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Is International Arbitration under threat? . . . . . . . . . . . VI. The co-existence of International Arbitration and international commercial courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction In a short 1994 article2 Mr V. V. Veeder QC bestowed upon Mr Justice Lawrance the unenviable epithet of “true begetter” of the English Commercial Court, a dubious accolade accorded not because of the latter’s magnificent contributions to English commercial jurisprudence, but rather the exact opposite. Justice Lawrance, whose appointment to the bench had attracted its fair share of dissentients, presided over the trial of Rose v Bank of Australasia in May 1891, which was a case concerning a ship owner’s claim for general average contribution from cargo owners, after a ship carrying cotton cargo was driven on the rocks near France, and the cargo had to be transported by land to London. After some months of considerable delay, Justice Lawrance delivered a short and dispassionate judgment that was heavily criticised for betraying an utter lack of comprehension of commercial law, reinforcing the view in the mind of the parties and the bar that Justice Lawrance was woefully ignorant of key commercial concepts throughout the conduct of the trial. The 1

The views in this article are the personal views of the writer and do not represent the views of the Supreme Court of Singapore. 2 V.V. Veeder, ‘Mr Justice Lawrance: the “true begetter” of the English Commercial Court’ (1994) 110 LQR 292.

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judgment was later reversed by the English Court of Appeal before being upheld for entirely different reasons in the House of Lords, but the damage had been done. For the London merchants who had for quite some time suffered the delays, costs and inadequacies of commercial litigation in the Queen’s Bench Division, Justice Lawrance’s decision was the straw that broke the camel’s back,3 and what followed was a veritable exodus of merchants from commercial litigation in the English High Court and towards commercial arbitration. The Council of Judges then responded with a resolution that would eventually see the birth of the English Commercial Court, whose extraordinary success more than addressed the many ills of commercial litigation that drove the London merchants towards arbitration. The true parentage of the English Commercial Court aside, the story above reveals an important lesson – where a system of dispute resolution becomes unsatisfactory whether due to costs or delays or the perceived incompetence of adjudicators, disputants will respond by voting with their feet and seek alternatives. The ingenuity and resourcefulness of the commercial bar in particular, and the influence of the capital that funds these disputes, cannot be underestimated. This begs the question – are we once again at a crossroads in the world of international commercial litigation and arbitration, where dissatisfaction with existing dispute resolution regimes will soon fuel yet another search for alternatives? Could the high costs and delays associated with commercial litigation which fuelled the demand for commercial arbitration in the first place, now drive disputants in the other direction? In this essay, I will briefly examine the state of international commercial arbitration (“International Arbitration”) today and offer my views on whether it is under threat by newer developments, with a particular focus on the sudden proliferation of international commercial courts.

II. The rising dissatisfaction with International Arbitration It would appear from recent statistics that International Arbitration remains alive and well, and that disputants from all over the world continue to resort to international arbitration to resolve their disputes. In 2018, the 11 largest arbitral institutions heard a combined total of 6,288 cases, up from 4,113 cases a mere 6 years ago. But a large portion of this increase in cases is attributable to the increasing popularity of the China International Economic and Trade Arbitration Commission (“CIETAC”), which saw a threefold increase in its caseload over the same period.4 Whilst CIETAC’s caselo3

Id at 298. Markus Altenkirch and Malika Boussihmad, ‘International Arbitration Statistics 2018 – Another busy year for Arbitral Institutions’ (Global Arbitration News, 2 July 2019) 4

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ad is becoming increasingly international, more than 80% of the cases before CIETAC remain domestic in nature,5 and so the burgeoning demand for International Arbitration must also be seen in the light of China’s rapid economic growth in the past decade. Removing CIETAC from the equation, the growth in demand for International Arbitration is much less evident, and modest at best. Set against this backdrop of modest growth in demand is the undeniable reality that disputants are increasingly concerned about the various pitfalls of International Arbitration. According to the 2018 International Arbitration Survey conducted by the Queen Mary University of London and White & Case LLP (“the 2018 Queen Mary arbitration survey”),6 whilst international arbitration (with or without complementary alternative dispute resolution mechanisms) still remains the preferred method of resolving cross-border disputes for 97% of survey respondents, 67% of respondents lament high costs as the worst characteristic of international arbitration, and there is a rising concern that cost-wise, arbitration is not the most “commercially sensible” way to resolve a dispute.7 This is followed by 45% of respondents who feel that the lack of effective sanctions during the arbitral process is its worst characteristic, and in particular are aggrieved that various dilatory tactics employed by counsel go unsanctioned during arbitration because arbitrators are reluctant to order appropriate sanctions or do not possess the right instruments to do so.8 The surveyors therefore concluded that recent efforts by arbitral institutions to include such sanction mechanisms do not appear to have been fruitful. One main reason for this is, I venture to suggest, that many arbitral tribunals are concerned over allegations of breaches of natural justice or denial of due process in subsequent setting aside or enforcement proceedings. Despite these shortcomings of International Arbitration, we are far from the dire situation faced by the London merchants in 1891. 99% of the respondents to the 2018 Queen Mary arbitration survey said that they would choose or recommend international arbitration to resolve cross-border disputes in the future. The surveyors therefore remained optimistic – that even though “international arbitration as a system is not without its flaws, it re-

accessed 4 December 2019. 5 China International Economic and Trade Arbitration Commission, ‘CIETAC 2018 Work Report and 2019 Work Plan’ accessed 4 December 2019. 6 Queen Mary University of London and White & Case LLP, ‘2018 International Arbitration Survey: The Evolution of International Arbitration’ accessed 5 December 2019. 7 Id at 8. 8 Ibid.

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mains the best available option in the view of its users”.9 But that does not mean that we should become complacent or content to rely on the successes of International Arbitration thus far to sustain the momentum of the regime. The fact remains that should viable alternatives come to the fore, men of commerce would not hesitate to bring their disputes elsewhere. If discontent with the regime’s rising costs and other inefficiencies continue to simmer and grow, and International Arbitration does not respond to adequately address these concerns in time, the possibility is that the regime will one day be less favoured, or even rendered obsolete, by much more efficient alternatives.

III. Are there viable alternatives to International Arbitration? 1. International commercial mediation Two alternatives have become increasingly viable in the past decade. The first is international commercial mediation, which has traditionally been seen as a less preferable alternative due to the lack of international treaties supporting the enforceability of settlement agreements. These concerns could soon be alleviated however with the recent Singapore Convention on Mediation, which has been signed by 51 countries including China, India and the United States at the time of writing.10 Commercial actors such as the World Bank are also taking greater steps to commit to consensual forms of dispute resolution, and courts are adopting an increasingly robust view of the parties’ obligations to mediate.11 Despite being commonly associated with non-commercial disputes such as family-related or landlord-tenant disputes, mediation also has certain undeniable advantages over arbitration when it comes to complex international commercial disputes.12 Thus, there is a consensus that certain types of commercial disputes are more suited for mediation rather than arbitration, such as cases where there is a potential for preserving an ongoing relationship, where the main issue is determining damages rather than liability, or where the case requires a creative solution.13 There can be no question that the time, ef9

Ibid. United Nations Commission on International Trade Law, ‘Status: United Nations Convention on International Settlement Agreements Resulting from Mediation’ accessed 5 December 2019. 11 S I Strong, ‘Beyond International Arbitration – The Promise of International Commercial Mediation’ (2014) 45 Wash U J L & Pol’y 10, 14–15. 12 Julie Barker, ‘International Mediation – A Better Alternative for the Resolution of Commercial Disputes: Guidelines for a U.S. Negotiator Involved in an International Commercial Mediation with Mexicans’ (1996) 19 Loy LA Int’l & Comp LJ 1, 9–10. 13 Id at 16. 10

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fort and costs involved in mediation are likely to be a fraction of the time, effort and costs incurred by full-blown arbitration. 2. International commercial courts The second alternative that is seeing increasing promise in recent years, which will form the focus of the rest of this essay, is litigation in international commercial courts that are specifically designed to deal with crossborder disputes. Although the English Commercial Court was established in 1895, it is only in the last decade that there has been a proliferation of international courts being established around the world and at an astounding pace. The Dubai International Financial Centre Courts (“DIFCC”) were created in 2004, but truly become international commercial courts in 2011 after the jurisdiction of the court was extended to include any civil or commercial actions where parties agree in writing to file such claim with the court. Qatar followed suit in early 2009 with the Qatar International Court and Dispute Resolution Centre. The Singapore International Commercial Court (“SICC”) came in January 2015, the Abu Dhabi Global Market Courts in 2015, the Astana International Financial Centre Court in July 2018 and the Frankfurt Chamber for International Commercial Matters (or Disputes) in 2018. In February 2018, the Paris Court of Appeal announced the creation of an international division specialised in international commercial and financial disputes, following the creation of an international division at the Paris Commercial Court in 2010, which are collectively known as the International Chambers. The International Chambers will allow parties to submit exhibits in English, and for their counsel and witnesses to address the court in English with a simultaneous translation in French. In June 2018, the Supreme People’s Court of the Republic of China established the First and Second International Commercial Courts (“CICC”) in Shenzhen and Xi’an, and the CICC started hearing cases in March 2019. The Netherlands Commercial Court opened for business in January 2019, and hears cases in the English language both in the first instance and on appeal, specialising in complex international business disputes. Brussels has announced plans for a Brussels International Business Court in 2020 and there has been talk of a Zurich International Commercial Court.

IV. What is driving the increasing popularity of international commercial courts? Conventional wisdom suggests that disputants prefer International Arbitration to litigation primarily because of (a) the flexibility of tailoring pro-

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cedural rules used; (b) the availability of a neutral dispute resolution forum away from the potential or perceived bias of a national court; (c) the choice of substantive law governing the dispute which increases predictability; and (d) the choice of selecting an expert decision maker with skills and knowledge relevant to dispute.14 Yet, these supposed advantages of arbitration are the very same features that are now emulated by many international commercial courts, thus contributing to their appeal. As far as procedural flexibility is concerned, international commercial courts often allow parties to tailor the procedural rules governing the resolution of their dispute to a much larger extent than their domestic counterparts, at times adopting practices from arbitration. The aforementioned Paris International Chambers for example allows parties to set up a procedural calendar and put forth requests for mandatory production of documents. The Netherlands Commercial Court of Appeal combines the Dutch civil procedure rules with global best practices of procedural rules used in other commercial courts and arbitration institutions. The parties’ choice of substantive law is also often unfettered and respected by international commercial courts, and in the case of the SICC for example, innovations away from the common law, such as allowing foreign law to be proved by submissions rather than being proved as a fact through expensive expert testimony, helps to temper the rigidity of the common law with flexible practices commonly utilised in arbitration. The SICC will soon introduce new rules embodying even more flexibility, including the use of memorials in suitable cases and modified common law rules that will be familiar to many International Arbitration practitioners. Many international commercial courts are also capable of accepting jurisdiction on the basis of express or implied jurisdiction clauses without the need for any other physical connection to the parties’ relationship or dispute, and are thus likely to be neutral fora with no relation or affiliation to either of the parties. This would thus address any concerns of litigating in national courts that might be biased in favour of one party or another. In the era of globalisation and e-commerce, it is commercially sensible that the traditional requirement of connection with a chosen forum is no longer a pre-requisite to the chosen forum seizing jurisdiction. If a foreign defendant has chosen to submit to the jurisdiction of an international court, this should rightly be a sufficient basis to establish the jurisdiction of the court, and there should be no concern that the exercise of extraterritorial jurisdiction in such offshore cases is in any way an unfair imposition on the foreign defendant. This is archetypal of the “triumph of party autonomy over conservative forum regulation”,15 and is consistent with key international con14

Supra note 11 at 27; Gary Born, International Arbitration (2009) 68. Man Yip, ‘The Singapore International Commercial Court: The Future of Litigation’ (2019) 12 Erasmus L Rev 82, 86. 15

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ventions such as Article 5 of the Hague Convention on Choice of Court Agreements (“the Hague Convention”) and Article 25 of Regulation (EU) No 1215/2012 of the European Parliament and of the Council of 12 December 2012 on jurisdiction and enforcement of judgments in civil and commercial matters, which do not impose a requirement for connection with the jurisdiction on a choice of court agreement. Importantly, many international commercial courts also have impressive panels of foreign judges who are well versed in foreign law as well as particular areas of legal practice – the SICC for example is well-known for its bench of 41 judges who hail variously from the United Kingdom, Australia, Canada, France, Hong Kong, Japan, India and the United States. Not only do these judges have decades of judicial and legal experience under their belt, many of them are also highly-regarded for their expertise in complex commercial matters, be it in corporate disputes to international financial instruments and banking, to crypto currency, modern internet transactions and trading platforms, to the more traditional insolvency, shipping and maritime law, intellectual property or building and construction law. This makes them well qualified to adjudicate on cross-border commercial disputes falling within their areas of subject matter expertise, and also foreign disputes involving foreign substantive law of their countries of origin. Many of these judges have built up eminent reputations in their home country and it is not surprising that they have held senior judicial appointments with some having been head of their respective judiciaries in the United Kingdom, Australia and Canada. International commercial courts embody many of the same features that are responsible for International Arbitration’s meteoric rise to popularity, but they also go a step further to address the many pitfalls of arbitration. In a 2015 essay, Chief Justice Sundaresh Menon of the Supreme Court of Singapore suggested that there were a number of issues that “threaten the continuing vitality of International Arbitration”, including:16 (a) judicialisation, delay, laboriousness and rising costs due to the transplantation of legalistic litigation practices into arbitration, and the increasing formality of arbitration due to high disputed amounts and the lack of an appellate mechanism; (b) lack of ethical standards which may increase the risk of unpredictability in how a great diversity of practitioners and arbitrators conduct themselves; (c) unpredictability in enforcement due to the ad hoc nature of courts’ oversight of arbitration, since the enforceability of a particular award ultimately depends on the interpretation of the New York Convention’s framework by various national courts; and (d) unpredictability in arbitral decisions due to lack of publicly available jurisprudence, 16 Sundaresh Menon, ‘The Transnational Protection of Private Rights: Issues, Challenges, and Possible Solutions’ (2015) 5 AsianJIL 219, 227–229.

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which is to an extent inevitable due to the confidentiality of arbitral proceedings as well as the absence of appellate mechanisms. By contrast, the oversight and involvement of an established judicial system in international commercial litigation often means robust case management that ensures the expeditious resolution of parties’ disputes, and the predictability of process and outcomes due to the published and available precedents and guidelines. The presence of an appellate mechanism also provides some checks-and-balances and a correction mechanism to ensure the coherence and soundness of litigation outcomes. The lack of publicly available published awards and the lack of a one tier appeal mechanism to correct obvious and egregious outcomes are the chief reasons for a “one shot, winner takes all” mentality in arbitrating disputes. This inherently drives up the cost and time taken to arbitrate disputes and then to enforce them. These very perceived shortcomings in International Arbitration fuelled the creation and development of international commercial courts such as the SICC. In its report on the feasibility of developing the SICC, the SICC Committee commented that international commercial courts would be better placed to address certain weaknesses in the arbitration regime, particularly since the “coercive jurisdiction of a court may be necessary in a multiple party dispute”, and certain subject matter such as intellectual property or trust disputes may not be amenable to arbitration.17 To date, International Arbitration has yet to satisfactorily cope with multi-party disputes and it is a problem that remains unresolved. This is a surprising fact given that commercial contracts today have been almost invariably multi-party in nature for some time. Thus, it is clear that not only do international commercial courts mimic the many successes of International Arbitration, they are also designed to address some of the existing inefficiencies and disadvantages that permeate International Arbitration, making litigation in these courts an increasingly popular alternative.

V. Is International Arbitration under threat? There remains however one key advantage that International Arbitration boasts over litigation, even with the admirable innovations that we now see in international commercial courts. The New York Convention makes arbitral awards from a convention country enforceable in 159 other countries. Logically, the enforceability of any resulting judgment or award is doubtlessly crucial to any disputant’s choice in dispute resolution regime or fo17

Report of the Singapore International Commercial Court Committee (November 2013), para 16 accessed 16 December 2019.

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rum, since it would be cold comfort for a successful disputant to obtain a judgment in its favour but be ultimately unable to obtain the fruits of that judgment in the country where the other party’s assets are located. It has been observed that enforceability of judgments is a particularly acute problem for international commercial courts, given the increasing prevalence of true offshore cases where parties before the courts have little or no presence or assets within the country where the court is located.18 In such cases, the enforceability of the judgment of an international court in a foreign country becomes crucial. Thus, it is hardly surprising that the enforceability of arbitration awards was regarded by the respondents of the 2018 Queen Mary arbitration survey as the most valuable characteristic of International Arbitration. The perceived status of the enforceability of international court judgments on the other hand is a question mark. But is this really the case? Let me examine five little-known aspects. First, in the Common Law world, historically it was the ease of enforcement of a foreign judgment by the common law action on a judgement debt that gave rise to the New York Convention as the ability to enforce an arbitral award was less certain because the award was then seen as a private consensual dispute resolution process before non-judges. English cases like Goddard v Gray (1870) LR 6 QB 139 established the rule that a foreign judgment was conclusive on the merits and cannot be impeached for any errors of fact or law, this was so even if the foreign court made an obvious mistake of English law which appeared on the face of the judgment. This rule and the comparative doubts over the ease of enforceability of arbitral awards as compared to court judgments can be seen as early as the 1949 6th Edition of Dicey & Morris, Conflict of Laws, Rule 84 at page 401 and the accompanying text. This same rule can be traced right up to the current Edition of Dicey, Morris & Collins. Even today, commercial judges from common law countries routinely enforce foreign money judgments on a summary basis. Secondly, even as between civil law and common law courts, foreign judgments have been enforced in the past. The Singapore Court enforced a judgment issued by the Suzhou Intermediate People’s Court in Giant Light Metal Technology (Kunshan) Co Ltd v Aksa Far East Pte Ltd [2014] 2 SLR 545. Similarly, the Nanjing Intermediate People’s Court has enforced a Singapore judgment obtained in October 2015 by a German plaintiff against a Chinese textile company: see Kolmar Group AG v Jiangsu Textile Industry (Group) Import & Export Co Ltd. Even without reciprocity, ie, without Singapore having previously enforced a Japanese court judgment, the Tokyo District 18 Andrew Godwin, Ian Ramsay and Miranda Webster, ‘International Commercial Courts: The Singapore Experience’ (2017) 18 Melb J Int’l L 219, 233.

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Court enforced a judgment of the Singapore court on 19 September 2006 on presumed reciprocity: see X v Kuono Ichiro H.T. (1229) 334 [2007].19 Many civil law countries have civil procedure codes that provide for enforcement of foreign judgments with all or a combination of the following exceptions: (1) the foreign court had no jurisdiction to hear the case, (2) there has been a lack of due process, ie, there has been no proper service of proceedings on the defendant or the defendant was not given notice of proceedings, (3) enforcement of the foreign judgment is contrary to the public policy of the enforcement court, (4) the judgment was procured by fraud and (5) reciprocity. In X v Kuono Ichiro, the Tokyo District Court held that the requirement of “mutual guarantee” (reciprocity) under Article 118 of the Civil Procedure Code of Japan, meant that the foreign court would have enforced a judgment of the Tokyo District Court in Singapore as the requirements to do so were similar to that in the Japanese Courts. More recently, on 21 June 2017, the Ho Chi Minh City High-Level People’s Court (No.111/2017/QDPT-KDTM) (Appellate Level), enforced a Singapore judgment obtained by DBS Bank Ltd on 15 October 2010 against the Vietnamese judgment debtors, Ms Vu Thi Bich Loan and Mr Nguyen Huy Bao. In all these cases there was no existing treaty or arrangement for the reciprocal recognition and enforcement between Singapore and these countries. I am told by Korean, French and German jurists that much the same position exists in their countries. Thirdly, international courts like the DIFCC and Supreme Court of Singapore have entered into bilateral Memoranda of Understanding or of Guidance for the enforcement of each other’s money judgments.20 This includes such Memoranda with the DIFCC, the Supreme Court of Victoria, Australia and the Supreme People’s Court of the People’s Republic of China (entered into only in August 2018). Whilst these Memoranda are non-binding, they carry great moral force when they have been signed by the respective Chief Justices of each country. Fourthly, beyond these non-binding Memoranda, the Hague Convention, which formalises enforcement of money judgments like the New York Convention, was signed on 30 June 2005 and entered into force on 1 October 2005. At the time of writing, there are 32 state parties that have signed and ratified the Hague Convention, including all EU jurisdictions, Mexico and Singapore. China, the United States, Ukraine and Macedonia have signed the Hague Convention but have yet to ratify it.21 There are various other regional, bilateral and multilateral agreements on the reciprocal enforcement of judgments between certain countries, for example the Recipro19

Available at (2007) 50 Japanese Annual of International Law 240. Enforcement of Money Judgments accessed 16 December 2019. 21 Convention of 30 June 2005 on Choice of Court Agreements, Status Table accessed 16 December 2019. 20

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cal Enforcement of Commonwealth Judgments covering a large part of the former British Commonwealth, but that admittedly does not have the same reach as the New York Convention.22 If, as it is envisaged it will, the Hague Convention gains traction, then the enforcement of judgments of the international commercial courts will not pose such a drawback. Fifthly, on 4 and 5 May 2017, the Chief Justices and Senior Judiciary from 21 countries (comprising 29 courts) spanning 5 continents met in London for the inaugural meeting of the Standing International Forum of Commercial Courts (“SIFoCC”). For the first time in history, commercial courts, hitherto content to carry out their work in splendid isolation from each other, got together because they collectively recognised, inter alia, first, that businesses and markets would be better served if best practices from different courts were shared and discussed to keep pace with the growing needs of the international business community and with the rapid changes in the way trade and commerce was being carried out. Secondly, the differences between countries, legal systems and courts were a tremendous cost to international business and by better recognising such differences, its member commercial courts should work towards harmonisation and the ease of enforcement of each other’s court judgments, thereby allowing resolution of commercial disputes speedily and enabling enforcement without encountering costly delays and hurdles in different countries. One of the initiatives launched was producing a Multilateral Memorandum of Enforcement explaining how judgments of one commercial court may most efficiently be enforced in another jurisdiction. Another was to identify the best practices with a view to making litigation more efficient. The second meeting of SIFoCC was held in New York on 27 and 28 September 2018. This was attended by 13 Chief Justices and Senior Judiciary from 35 jurisdictions. This second meeting approved the finalised Multilateral Memorandum of Enforcements which now appears on the SIFoCC website. The third meeting of the SIFoCC will be held in Singapore on 12 and 13 March 2020. It would therefore appear to be the case that perceived difficulties in enforcing a Singapore Court judgment may not be such a major hurdle after all.

VI. The co-existence of International Arbitration and international commercial courts The foregoing discussion points to one clear conclusion – that International Arbitration and litigation in international commercial courts both 22 Gary F Bell, ‘The New International Commercial Courts – Competing with Arbitration – The Example of the Singapore International Commercial Court’ (2018) 11 Contemp Asia Arb J 193, 204.

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have their advantages and disadvantages. In truth, even as efficiency and enforceability issues are gradually ironed out, it is not the case that one regime will clearly emerge as the more preferable one over the other. Rather, it must be kept in mind that the two regimes possess different features that cannot simply be characterised as advantages and disadvantages, but are features which may be more suited to one dispute but less suited to another. This can be illustrated with reference to one such feature. Many businesses choose arbitration over litigation due to confidentiality concerns – respondents to the 2018 Queen Mary arbitration survey who were in-house counsel picked “confidentiality and privacy” as the third most valuable characteristics of international arbitration, leading the surveyors to conclude that “from a commercial perspective, the ability to keep arbitration away from the public eye in general, and competitors in particular, continues to be a highly valued feature of arbitration”.23 By contrast, confidentiality of court proceedings is often justified only in very exceptional circumstances. Even though the SICC has an express power to make confidentiality orders on the application of a party, such orders are not made lightly, with relevant considerations including whether the case is an offshore case (in which case confidentiality orders are more likely to be granted), or whether all parties consent to such an order. Further, despite any confidentiality order, the SICC may direct that a judgment be published in law reports if it is of major legal interest, so as to ensure that the court’s decisions contribute towards the development of local and international commercial law jurisprudence.24 In such cases, judgments are suitably anonymised (eg, ABC v ABD) with redactions to preserve confidentiality of the parties. This is routinely done in Singapore judgments involving international arbitration. Thus, it is clear that if confidentiality is of utmost importance to a disputant, for example in cases where the dispute involves trade secrets that must be kept out of the public eye, the preference would be for the dispute to be resolved by way of arbitration, since confidentiality would be more robustly protected in arbitration. Yet, it is equally clear that in many other types of disputes, such as in cases involving businesses, especially public listed companies which have reporting obligations to their respective stock exchanges, shareholders or bankers, or which have no desire to continue their business relationship with each other and which do not engender significant reputational concerns, confidentiality is not a priority at all. In such cases, the disputants may simply desire the predictability and certainty of a well-reasoned court judgment that is based on well-established precedents, which is more easily attainable in international commercial courts, since the flipside of the relative lack of confidentiality in court proceedings is the abundance of publicly 23 24

Supra note 6 at 7. Supra note 18 at 239–240.

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available precedents. The choice between the two regimes therefore depends on what a particular disputant subjectively values, and not which regime is objectively “better”. Viewed in such light, there is no reason to think that either regime with their unique offerings will be capable of cannibalising the other. Ultimately, it is unlikely that either International Arbitration or litigation in international commercial courts, or even international commercial mediation for that matter, will in any way become a substitute for the other, and nor should this be the goal of any jurisdiction. As Chief Justice Sundaresh Menon pointed out, the success of the commercial courts in London alongside the city’s dominance as an arbitration centre suggests that the two dispute resolution systems can co-exist side by side without one cannibalising the other.25 Thus the SICC seeks to complement the booming arbitration sector helmed by the Singapore International Arbitration Centre.26 The most recent addition has been the establishment of the Singapore International Mediation Centre which further complements the existing domestic Singapore Mediation Centre. This has the benefit of increasing Singapore’s attractiveness as a dispute resolution hub. Indeed, one can envisage that having alternative forms of dispute resolution regimes operate side by side can create synergies in that each regime will fuel the other to become better.

VII. Conclusion The world of commercial disputes continues to evolve at a breathtaking pace as the proliferation of cross-border trades and businesses threaten existing paradigms. The lessons from the beginnings of the English Commercial Court are as pertinent today as ever, and should serve as a reminder to all of us in the industry that change waits for no one. As judiciaries and governments respond to the changing demands of commerce, I am optimistic that we are moving in the right direction – towards a legal landscape characterised by diverse and complementary dispute resolution regimes that are suited to resolve a wide array of complex and diverse commercial disputes that now routinely cut cross different jurisdictions.

25 26

Supra note 16 at 238. Supra note 15 at 83.

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Schiedsklauseln in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen

Schiedsklauseln in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen Torsten Lörcher und Daniel Otte

Schiedsklauseln in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen nach „Schiedsfähigkeit II“ und „Schiedsfähigkeit III“ TORSTEN LÖRCHER

UND

DANIEL OTTE

I. Anforderungen an Schiedsklauseln bei Beschlussmängelstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anforderungen an Schiedsklauseln im Kapitalgesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten im Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite lückenhafter Schiedsklauseln . . . . . . . . . . . . . 1. Überholte Schiedsklauseln unter Ausschluss von Beschlussmängelstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reichweite lückenhafter Schiedsklauseln nach „Schiedsfähigkeit II“ und „Schiedsfähigkeit III“ . . . . . . . . III. Sonderfälle im Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . 1. Auflösungsklage, § 133 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entziehung von Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht; Ausschließung von Gesellschaftern . . . . 3. Austritt von Gesellschaftern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zu den Besonderheiten von Beschlussmängelstreitigkeiten in der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roderich Thümmel ist unter anderem im Gesellschafts- und im Schiedsverfahrensrecht zuhause und hat sich um beide Rechtsgebiete in gleichem Maße verdient gemacht. Was liegt also näher als ihm einen Beitrag über die Wirksamkeit von Schiedsklauseln in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen zu widmen? Dabei wollen wir uns nicht nur mit den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen bei Beschlussmängelstreitigkeiten auseinandersetzen, sondern auch die Auswirkungen der Lückenhaftigkeit gesellschaftsvertraglicher Schiedsklauseln für anders gelagerte gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten untersuchen. Ferner wollen wir einen Blick auf besondere Streitkonstellationen im Perso-

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nengesellschaftsrecht und die Anforderungen, die sich aus diesen für die Schiedsvereinbarung ergeben können, werfen.

I. Anforderungen an Schiedsklauseln bei Beschlussmängelstreitigkeiten Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Beschlussmängelstreitigkeiten im Gesellschaftsrecht vor einem Schiedsgericht verhandelt werden können, war in jüngerer Vergangenheit Gegenstand von drei Entscheidungen des Bundesgerichtshofes. Dabei betrafen die ersten beiden Entscheidungen die Anforderungen an Schiedsvereinbarungen im Zusammenhang mit Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht, während die letzte Entscheidung sich mit Beschlussmängelstreitigkeiten im Personengesellschaftsrecht befasst. 1. Anforderungen an Schiedsklauseln im Kapitalgesellschaftsrecht a) Die Entscheidungen des II. Zivilsenats zu „Schiedsfähigkeit I“ und „Schiedsfähigkeit II“ Mit seinem Urteil vom 29. März 1996 („Schiedsfähigkeit I“1) bestätigte der II. Zivilsenat seine Rechtsprechung früherer Entscheidungen2, wonach Beschlussmängelstreitigkeiten in Kapitalgesellschaften aufgrund der interomnes-Wirkung der erlassenen Urteile generell nicht vor einem Schiedsgericht verhandelt werden könnten.3 Bereits in dieser Entscheidung verwarf der Bundesgerichtshof jedoch zahlreiche Bedenken, die zuvor noch gegen die Austragung von Beschlussmängelstreitigkeiten vor einem Schiedsgericht erhoben worden waren.4 Eine Änderung seiner Rechtsprechung vollzog der II. Zivilsenat sodann mit Urteil vom 6. April 2009 („Schiedsfähigkeit II“).5 Er entschied, dass auch Beschlussmängelstreitigkeiten von einem Schiedsgericht entschieden werden können, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: – Alle Gesellschafter haben der Schiedsklausel zugestimmt. 1 BGH II ZR 124/95, BGHZ 132, 278 ff. Der Begriff der „Schiedsfähigkeit“ ist in diesem Zusammenhang überholt, weil nach § 1030 ZPO sämtliche vermögensrechtliche sowie die nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten, über die sich die Parteien vergleichen können, schiedsfähig sind. Damit steht die grundsätzliche Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten außer Frage. Fraglich ist vielmehr, welche Voraussetzungen die Schiedsvereinbarung erfüllen muss, damit sie auch Beschlussmängelstreitigkeiten umfasst. 2 Vgl. BGH II ZR 117/50, MDR 1951, 674; BGH II ZR 134/65, WM 1966, 1132 ff. 3 Kritisch zur Begründung des BGH K. Schmidt NZG 2018, 121, 123. 4 Vgl. Müller GmbHR 2010, 729; Versin GmbHR 2015, 969, 970. 5 BGH II ZR 255/08, BGHZ 180, 221 = SchiedsVZ 2009, 233.

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– Jeder Gesellschafter muss über die Einleitung und den Verlauf des Schiedsverfahrens informiert werden und die Möglichkeit erhalten, dem Verfahren als Nebenintervenient beizutreten. – Sämtliche Gesellschafter müssen die Möglichkeit erhalten, an der Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter mitzuwirken. – Alle denselben Streitgegenstand betreffenden Beschlussmängelstreitigkeiten müssen bei einem Schiedsgericht konzentriert werden. Die Entscheidung wurde in der Literatur einhellig begrüßt.6 Kritisiert wurde indes die dogmatische Herleitung der materiellen Gültigkeitsgrenzen von Schiedsvereinbarungen aus § 138 BGB.7 Einzelnen Stimmen erschienen zudem die Anforderungen, die der II. Zivilsenat an die Schiedsvereinbarungen stellte, als zu weitreichend bzw. kompliziert.8 Die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit schuf insoweit Abhilfe und veröffentlichte mit den Ergänzenden Schiedsregeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten (DIS-ERGeS) ein den in „Schiedsfähigkeit II“ aufgestellten Anforderungen entsprechendes Regelwerk9, das in Gesellschaftsverträgen und Schiedsvereinbarungen ohne weiteres in Bezug genommen werden kann. Dennoch finden sich bis heute in der Praxis auch großer und bedeutender Familienunternehmen noch immer Schiedsvereinbarungen bzw. -klauseln, die einer Überprüfung anhand der Kriterien von „Schiedsfähigkeit II“ nicht genügen. Eine ergänzende Vertragsauslegung solcher Vereinbarungen lehnte der II. Zivilsenat ausdrücklich ab.10 Auch kann die Unwirksamkeit der Schiedsklausel nach – allerdings umstrittener – obergerichtlicher Rechtsprechung nicht dadurch geheilt werden, dass sich alle Beteiligten mit der Durchführung eines Schiedsverfahrens einverstanden erklären11 oder die Anforderungen, die der II. Zivilsenat in seiner Entscheidung aufgestellt hat6 Vgl. Albrecht NZG 2010, 486, 486 ff.; Dürr/Wiggenhorn EWiR 2009, 477, 477 f.; Duve/Keller NJW 2009, 1962, 1966; Goette GWR 2009, 103, 103 ff.; Habersack JZ 2009, 794, 797; Hausschild/Böttcher DNotZ 2012, 577, 582 f.; Hilbig SchiedsVZ 2009, 247, 248 ff.; Kröll SchiedsVZ 2010, 144; Leitzen, GmbH-StB 2009, 162; Manner BB 2009, 1260, 1263 f.; Müller GmbHR 2010, 729; Nietsch ZIP 2009, 2269, 2271 f.; Nolting NotBZ 2009, 241; Saenger/Splittgerber DZWIR 2010, 177; Triebel/Hafner SchiedsVZ 2009, 313; Werner MDR 2009, 842, 843 ff.; Witte/Hafner DStR 2009, 2052, 2053 ff.; Wolff NJW 2009, 2021, 2021 ff. 7 Hilbig SchiedsVZ 2009, 247, 252; Nolting SchiedsVZ 2011, 319, 321; K. Schmidt NZG 2018, 121, 124; a.A. Müller GmbHR 2010, 729, 730, der dem BGH ausdrücklich zustimmt. 8 Nolting SchiedsVZ 2011, 319, 323; Versin, GmbHR 2015, 969, 971 ff. 9 Vgl. Schwedt/Lilja/Schaper NZG 2009, 1281; von Hase BB 2011, 1993, 1994. 10 Vgl. BGH II ZR 255/08, BGHZ 180, 221 (Rn. 36 f.); ferner Hauschild/Böttcher, DNotZ 2012, 577, 586; Hilbig SchiedsVZ 2009, 247, 250; Leitzen GmbH-StB 2009, 162, 163; Nietzsch ZIP 2009, 2269, 2277; aA aber Versin GmbHR 2015, 969, 974; vgl. auch Riegger/Wilske ZGR 2010, 734, 744, die eine ergänzende Vertragsauslegung unter sehr engen Voraussetzungen für zulässig erachten. 11 OLG Bremen 2 Sch 1/09, SchiedsVZ 2009, 338.

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te, im Schiedsverfahren tatsächlich befolgt werden.12 Vielmehr bedarf es einer nachträglichen Änderung des Gesellschaftsvertrags. b) Reichweite der Entscheidung des II. Zivilsenats im Fall „Schiedsfähigkeit II“ Von der Rechtsprechung des II. Zivilsenats im Fall „Schiedsfähigkeit II“ sind nicht nur Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen nach bzw. analog § 241 ff. AktG umfasst. Vielmehr gilt diese Rechtsprechung auch für einfache Feststellungsklagen, die immer dann zu erheben sind, wenn in der Gesellschafterversammlung ein Beschlussergebnis nicht verbindlich festgestellt wurde.13 Denn auch in diesen Konstellationen ist die Klage gegen die Gesellschaft zu erheben und entfaltet das Urteil Wirkung für und gegen alle Gesellschafter.14 Ferner müssen die Anforderungen der „Schiedsfähigkeit II“-Entscheidung auch erfüllt sein, um eine Auflösungsklage nach § 61 GmbHG oder eine Nichtigkeitsklage nach § 75 GmbHG vor einem Schiedsgericht erheben zu können. Auch in diesen Fällen ist die Klage gegen die Gesellschaft und nicht gegen die Mitgesellschafter zu erheben15 und entfaltet ein stattgebendes Urteil Wirkung für und gegen alle Gesellschafter, vgl. § 60 Nr. 3 GmbHG.16 Die Argumente, mit denen der II. Zivilsenat die Notwendigkeit einer Einbeziehung sämtlicher Gesellschafter in Beschlussmängelstreitigkeiten vor einem Schiedsgericht begründete, gelten daher bei der Auflösungsund der Nichtigkeitsklage in gleichem Maße.17 Etwas anderes ergibt sich im Fall der Auflösungsklage auch nicht daraus, dass der Schiedsspruch noch der Vollstreckbarkeitserklärung nach § 1060 ZPO bedarf, um die Auflösung der Gesellschaft zu bewirken. Denn im Verfahren nach § 1060 ZPO wird lediglich geprüft wird, ob kein Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 ZPO vorliegt. Eine materielle Richtigkeitsüberprüfung des Schiedsspruchs findet dagegen nicht mehr statt18. Die Gesellschafter können in diesem Verfahren mithin den Schiedsspruch in der Sache nicht mehr angreifen. 12 OLG Frankfurt SchH 4/10, SchiedsVZ 2010, 334; zustimmend Bryant/Dehne, KSzW 2013, 152, 155; kritisch dagegen Nolting SchiedsVZ 2011, 319 ff. 13 Vgl. hierzu Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, Anh. § 47 Rn. 181 f. 14 Zöllner/Noack a.a.O. Rn. 182; Wertenbruch in: MüKo-GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh. § 47 GmbHG Rn. 386; Römermann in: Michalski u.a., GmbHG, 3. Aufl. 2017, Anh. § 47 Rn. 597 f.; a.A. Raiser in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 47 Rn. 283: nur inter-partes-Wirkung. 15 Limpert in: MüKo-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 61 Rn. 46; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 75 Rn. 24. 16 Haas a.a.O., § 61 Rn. 22, § 75 Rn. 29; Limpert a.a.O. Rn. 51. 17 So auch Cziupka in: Scholz, GmbHG, § 61 Rn. 15; Altmeppen in: Roth/ders., GmbHG,9. Aufl. 2019; § 61 Rn. 11. 18 Geimer in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1060 Rn. 1; Münch in: MüKo-ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1060 Rn. 18.

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c) Aktienrechtliche Besonderheiten Beide Entscheidungen des II. Zivilsenats – „Schiedsfähigkeit I“ wie „Schiedsfähigkeit II“ – betrafen Beschlussmängelstreitigkeiten in einer GmbH. Die Erwägungen des II. Zivilsenats lassen sich im Grundsatz jedoch auch auf eine Aktiengesellschaft übertragen.19 Aus dem Grundsatz der Satzungsstrenge, § 23 Abs. 5 AktG, ergibt sich nichts anderes, da § 246 Abs. 3 AktG die Zuständigkeit staatlicher Gerichte nicht vorschreibt, sondern lediglich unterstellt.20 Praktikabel ist die Entscheidung von Beschlussmängelstreitigkeiten durch Schiedsgerichte indes nur in einer nicht-börsennotierten AG, in der alle Aktionäre untereinander bekannt sind. Denn nur dann kann sichergestellt werden, dass sämtliche Aktionäre über die Einleitung und den Verlauf des Schiedsverfahrens informiert werden.21 2. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten im Personengesellschaftsrecht a) Entscheidung des I. Zivilsenats vom 6. April 2017 („Schiedsfähigkeit III“) Der II. Zivilsenat hatte sich in „Schiedsfähigkeit II“ nicht zu den Anforderungen an Schiedsvereinbarungen im Zusammenhang mit Beschlussmängelstreitigkeiten in Personengesellschaften geäußert. Die Literatur ging daher im Anschluss an diese Entscheidung davon aus, dass Schiedsvereinbarungen bzw. -klauseln im Personengesellschaftsrecht keinen gesteigerten Anforderungen mit Blick auf Beschlussmängelstreitigkeiten genügen müssten.22 Demgegenüber entschied der I. Zivilsenat auf den Tag genau acht Jahre nach Ergehen der Entscheidung „Schiedsfähigkeit II“, am 6. April 2017, dass die Rechtsprechung des II. Zivilsenats zur Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten auch auf Beschlussmängelstreitigkeiten in der Personengesellschaft Anwendung finde.23 Zur Begründung verwies der I. Zivilsenat darauf, dass der II. Zivilsenat seine Anforderungen an Schiedsklauseln im Gesellschaftsrecht aus den grundlegenden Maßstäben des § 138 19 Borris NZG 2010, 481 ff.; Habersack JZ 2009, 797, 798 f.; Riegger/Wilske ZGR 2010, 733, 749. 20 So schon BGH II ZR 124/95; BGHZ 132, 278, 281; vgl. ferner Borris NZG 2010, 481, 482; Versin GmbHR 2015, 969, 978. 21 Versin GmbHR 2015, 969, 978; von Hase BB 2011, 1993, 1995. 22 Heinrich NZG 2016, 1406, 1410; Sackmann NZG 2016, 1041, 1042 f.; Schwedt/ Lilja/Schaper NZG 2009, 1281, 1285; Witte/Hafner DStR 2009, 2052; zur älteren Rechtsprechung und Literatur vgl. OLG Hamm 8 U 298/91, DB 1992, 2180; Ebbing NZG 1998, 281, 284; K. Schmidt ZGR 1988, 523 (538); H. Westermann in FS Rob. Fischer, 1979, S. 853, 854. 23 BGH I ZB 23/16, SchiedsVZ 2017, 194 m. Anm. Bryant.

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BGB und dem Rechtsstaatsprinzip entwickelt habe. Damit müssten diese Grundsätze auch bei Personengesellschaften greifen, „sofern bei diesen gegenüber Kapitalgesellschaften keine Abweichungen geboten sind“.24 Auf die grundsätzlich unterschiedliche Ausgestaltung des Beschlussmängelrechts im Kapitalgesellschaftsrecht einerseits und im Recht der Personengesellschaften andererseits ging der I. Zivilsenat nicht ein. b) Kritik der Literatur Die Entscheidung des I. Zivilsenats ist in der Literatur auf scharfe Kritik gestoßen.25 Hervorgehoben wird vor allem, dass der I. Zivilsenat die dogmatischen Unterschiede der Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht einerseits und im Recht der Personengesellschaften andererseits missachtet habe. Insbesondere habe der I. Zivilsenat verkannt, dass die Beschlussmängelklage im Personengesellschaftsrecht stets als einfache Feststellungsklage nach § 256 ZPO erhoben und nicht gegen die Gesellschaft, sondern gegen die Mitgesellschafter gerichtet werden müsse.26 Ferner habe der I. Zivilsenat übersehen, dass ein Feststellungurteil nur unter den am Prozess beteiligten Gesellschaftern Wirkung entfalte.27 Ein besonderes, schützenswertes Interesse der Gesellschafter daran, über die Einleitung des Schiedsverfahrens informiert zu werden und die Möglichkeit zu erhalten, sich an dem Verfahren auf Seiten einer Partei zu beteiligen, bestünde daher nicht. Die Probleme der Beteiligung mehrerer Parteien auf einer oder beiden Seiten des Schiedsverfahrens, insbesondere bei der Auswahl der Schiedsrichter, ließen sich mit Hilfe des anwendbaren Schiedsverfahrensrechts lösen.28 Schließlich sei es auch nicht erforderlich, sämtliche Beschlussmängelstreitigkeiten vor einem einheitlichen Forum zu konzentrieren, da die verklagten Gesellschafter lediglich einfache Streitgenossen seien.29 Vor diesem Hintergrund bedürfe es entgegen der Auffassung des I. Zivilsenats einer Schiedsklausel, die den Anforderungen von „Schiedsfähigkeit II“ gerecht würde, im Personengesellschaftsrecht nicht. 24

BGH a.a.O. Rn. 23. Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1994; Borris NZG 2017, 761, 763 f.; Bryant SchiedsVZ 2017, 194; Garbe/Eschen GWR 2017, 222; Nolting ZIP 2017, 1641; Heinrich ZIP 2018, 411, Römermann GmbHR 2017, 759; Schlüter DZWir 2018, 251; Zarth/Buchner EWiR 2017, 523; anders dagegen K. Schmidt NZG 2018, 121 ff., der sich durch die Entscheidung des I. Zivilsenats in seiner Auffassung bestätigt sieht, dass das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht auch im Personengesellschaftsrecht angewandt werden müsse. 26 Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1995; Borris NZG 2017, 761, 764. 27 Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1996; Bryant SchiedsVZ 2017, 196, 197; Nolting ZIP 2017, 1641, 1644; Schlüter DZWiR 2018, 251, 256. 28 Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1996; Borris NZG 2017, 761, 764, 765 f.; Göz/ Peitsmeyer SchiedsVZ 2018, 7, 11. 29 Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1996 f.; Nolting ZIP 2017, 1641, 1645; Schlüter DZWiR 2018, 251, 256. 25

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Anders sei dies lediglich zu sehen, wenn der Gesellschaftsvertrag in Abweichung von den gesetzlichen Regelungen vorsehe, dass die Beschlussmängelklage gegen die Gesellschaft (und nicht gegen die Mitgesellschafter) zu richten sei.30 Zwar ändere die Tatsache, dass die Beschlussmängelklage gegen die Gesellschaft gerichtet werde, nichts daran, dass es sich um eine einfache Feststellungsklage im Sinne von § 256 ZPO handele. Folglich bleibe es auch dabei, dass ein Urteil in diesen Fällen keine inter-omnes-Wirkung entfalte. Jedoch hätten die Gesellschafter mit der gesellschaftsvertraglichen Regelung zu erkennen gegeben, dass sie die im Rechtsstreit zwischen einem Mitgesellschafter und der Gesellschaft ergangene Entscheidung auch für und gegen sich gelten lassen wollten. Die Interessenlage sei daher mit derjenigen im Kapitalgesellschaftsrecht vergleichbar. Dies rechtfertige es, den Gesellschaftern in diesen Fällen den gleichen Schutz zukommen zu lassen wie den Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft.31 c) Stellungnahme Die Kritik an der Begründung des I. Zivilsenats ist in der Sache zutreffend. Der I. Zivilsenat hat sich mit den dogmatischen Unterschieden von Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht einerseits und im Recht der Personengesellschaften andererseits nicht auseinandergesetzt. Bei zutreffender Berücksichtigung dieser Unterschiede hätte der I. Zivilsenat nicht einfach darauf verweisen können, dass der II. Zivilsenat seine Entscheidung zur Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht mit grundlegenden Maßstäben (§ 138 BGB, Rechtsstaatsprinzip) begründet hatte. Ungeachtet der Tatsache, dass bereits zweifelhaft ist, ob dieser vom II. Zivilsenat gewählte Ansatz der Richtige ist, um die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht zu beurteilen32, hätte der I. Zivilsenat sich konkret fragen müssen, ob diese grundlegenden Maßstäbe auch im Personengesellschaftsrecht besondere Maßnahmen zum Schutz der weiteren, am Rechtsstreit nicht beteiligten Gesellschafter erfordern. Maßgeblich ist insoweit die Frage, ob das Urteil, mit dem die (Un-) Wirksamkeit des Beschlusses festgestellt wird, unmittelbare Auswirkungen auf Dritte hat, die an dem Prozess nicht beteiligt sind. Eine solche Drittwirkung ergibt sich im Kapitalgesellschaftsrecht aus § 248 Abs. 1 Satz 1 AktG (analog). Der rechtswidrige Beschluss, der aufgrund der Feststellung des 30 Göz/Peitsmeyer SchiedsVZ 2018, 7, 12 f.; Schlüter DZWiR 2018, 251, 256; bereits vor dem 6. April 2017 zudem Sackmann NZG 2016, 1041, 1043; a.A. aber Nolting ZIP 2017, 1641, 1645 f. 31 Baumann/Wagner BB 2017, 1993, 1996; Göz/Peitsmeyer SchiedsVZ 2018, 7, 12; Heinrich ZIP 2018, 411, 412; Schlüter DZWiR 20178, 251, 256; Sackmann NZG 2016, 1041, 1043. 32 Vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 7.

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Versammlungsleiters zunächst für alle Gesellschafter vorläufige Bindungswirkung entfaltete, wird durch das von dem Anfechtungskläger erstrittene Gestaltungsurteil mit Wirkung für alle Gesellschafter für nichtig erklärt. Dagegen wirkt ein einfaches Feststellungsurteil über die Wirksamkeit eines Gesellschafterbeschlusses nach § 256 ZPO nur zwischen den prozessbeteiligten Gesellschaftern. Einer Rechtskrafterstreckung bedarf es auch nicht: Anders als im Kapitalgesellschaftsrecht ist ein rechtswidriger Gesellschafterbeschluss im Recht der Personengesellschaft von vornherein nichtig.33 Durch das Urteil wird die Rechtslage daher nicht umgestaltet; die ohnehin gegebene Nichtigkeit wird lediglich festgestellt. Folglich besteht auch nicht die Gefahr, dass ein Gesellschafterbeschluss nur im Verhältnis zwischen den prozessbeteiligten Gesellschaftern nichtig ist, während er für die übrigen Gesellschafter weiterhin Gültigkeit beanspruchen würde.34 Besondere Schutzanforderungen ergeben sich auch nicht daraus, dass auf einer oder möglicherweise auch auf beiden Seiten des Rechtsstreits mehrere Parteien stehen können. Vielmehr kann auf die Dutco-Doktrin des französischen Cour de Cassation35 zurückgegriffen werden, nach der im Mehrparteienschiedsverfahren sämtliche Schiedsrichter durch eine neutrale Stelle zu ernennen sind, wenn auf einer Streitseite keine Einigung über die Schiedsrichter erzielt werden kann.36 Soweit die Gesellschafter sich auf ein Schiedsverfahren nach der Schiedsgerichtsordnung der DIS verständigt haben, ergibt sich dies bereits aus Ziff. 20.3 DIS-SchiedsO.37 Damit besteht ein besonderes Bedürfnis zur Anwendung der Grundsätze aus „Schiedsfähigkeit II“ auf das Personengesellschaftsrecht nicht. Anders wird man dies lediglich sehen müssen, wenn man mit Karsten Schmidt38 da33 BGH II ZR 278/98, NJW 1999, 3113, 3114; BGH II ZR 149/64, WM 1966, 1036; Baumbach/Hopt/Roth HGB § 119 Rn. 31; Staub/C. Schäfer HGB § 119 Rn. 77, 91; MüKoBGB/C. Schäfer § 709 Rn. 105; MHdB GesR II/Weipert § 14 Rn. 116. 34 Dies verkennt Heinrich ZIP 2018, 411, 414. 35 BKMI Industreianlagen GmbH u.a. ./. Dutco Construction, Rev. Arb. 1989, 723. 36 Borris NZG 2017, 761, 766. 37 Ziff. 20.3 DIS-SchO 2018: „Erfolgt keine gemeinsame Benennung eines beisitzenden Schiedsrichters durch Mehrparteien auf der Schiedskläger- oder auf der Schiedsbeklagtenseite, kann der DIS-Ernennungsausschuss nach Anhörung der Parteien nach seinem Ermessen (i) nur für die Mehrparteien einen beisitzenden Schiedsrichter auswählen und gemäß Artikel 13.2 bestellen sowie den von der Gegenseite benannten beisitzenden Schiedsrichter bestellen oder (ii) sowohl für die Mehrparteien als auch für die Gegenseite je einen beisitzenden Schiedsrichter auswählen und gemäß Artikel 13.2 bestellen; eine bereits erfolgte Benennung wird gegenstandslos.“ 38 Vgl. FS Stimpel (1985), S. 217 ff.; ferner Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 15 II 3b; § 24 III 3f; Scholz, GmbHG, Band 2, 11. Aufl. 2014, Anh. § 45 Rn. 52; ZGR 2008, 1, 27; ihm folgend Enzinger in: MüKoHGB, 4. Aufl. 2016, § 119 Rn. 99; Haas in: Röhricht/von Westphalen/Haas, HGB, 5. Aufl. 2019, § 119 Rn. 8a; Scholz WM 2006, 897, 904; mit Einschränkungen auch Freitag in: EBJS, HGB, 3. Aufl. 2014, § 119 Rn. 82. Vgl. ferner Herchen VGR 2016, nach der das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht jedenfalls bei Publikumspersonengesellschaften angewandt werden soll.

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von ausgeht, dass das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht auch bei Personengesellschaften entsprechende Anwendung finden müsse. Unter dieser Voraussetzung muss man konsequenterweise auch die Rechtsprechung des II. Zivilsenats im Fall „Schiedsfähigkeit II“ auf die Personengesellschaft übertragen39 – eine Auffassung, die nunmehr auch Eingang in den von einer Expertenkommission vorgelegten Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts gefunden hat.40 Für die Praxis ist freilich mit Blick auf die Entscheidung des I. Zivilsenats bis auf weiteres davon auszugehen, dass die Schiedsvereinbarung – unabhängig von der Frage, ob das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht im Personengesellschaftsrecht entsprechend Anwendung finden soll – den Anforderungen aus „Schiedsfähigkeit II“ genügen muss. Sinnvoll erscheint es daher, auch in der Personengesellschaft die Geltung der DIS-ERGeS zu vereinbaren. Grundsätzliche Bedenken gegen die Vereinbarung der DIS-ERGeS bestehen nicht. Zwar liegt den DIS-ERGeS die Vorstellung zugrunde, dass die Klage gegen die Gesellschaft und nicht gegen die Mitgesellschafter zu richten ist. Sie enthalten jedoch keine Regelungen, die dies zwingend voraussetzen würden. Auch die Tatsache, dass § 11 der DIS-ERGeS eine Erstreckung der Wirkung des Schiedsspruchs auf die Gesellschafter vorsieht, die dem Rechtsstreit nicht beigetreten sind, obwohl sie als Betroffene hierzu die Möglichkeit gehabt hätten, steht der Vereinbarung der DIS-ERGeS nicht entgegen.41 Vielmehr wird man der Vereinbarung entnehmen können, dass die Gesellschafter sich in zulässiger Abweichung von den gesetzlichen Regelungen damit einverstanden erklärt haben, dass sich die Wirkung des Schiedsurteils auch dann auf sie erstrecken soll, wenn sie sich trotz entsprechender Information entschieden haben, dem Verfahren nicht beizutreten.

II. Reichweite lückenhafter Schiedsklauseln Wie oben bereits festgestellt, finden sich auch mehr als zehn Jahre nach Erlass des Urteils des II. Zivilsenats in Sachen „Schiedsfähigkeit II“ noch zahlreiche Schiedsvereinbarungen bzw. Schiedsklauseln in GmbHGesellschaftsverträgen, die den Anforderungen an eine Austragung von Beschlussmängelstreitigkeiten vor Schiedsgerichten nicht genügen. Erst recht gilt dies für Schiedsvereinbarungen und -klauseln in Personengesellschaftsverträgen, die vor Erlass des Beschlusses des I. Zivilsenats vom 6. April 39 Folglich feiert K. Schmidt NZG 2018, 121, 126 die Entscheidung des I. Zivilsenats als „Rechtsfortbildungsschritt“. 40 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/Modernisierung_Pers onengesellschaftsR.html. 41 So aber Borris NZG 2017, 766 f.

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2017 vereinbart wurden. In diesen Fällen stellt sich die von dem II. Zivilsenat in „Schiedsfähigkeit II“ offen gelassene42 Frage, ob und inwieweit derart überholte Klauseln für anderweitige Rechtsstreitigkeiten, die keine Gesellschafterbeschlüsse zum Gegenstand haben, Gültigkeit beanspruchen können. 1. Überholte Schiedsklauseln unter Ausschluss von Beschlussmängelstreitigkeiten Unproblematisch sind Schiedsklauseln, die Beschlussmängelstreitigkeiten (und – was gegebenenfalls im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung unterstellt werden kann – auch die Auflösungsklage) ausdrücklich von der Zuständigkeit des Schiedsgerichts ausnehmen. Diese Klauseln sind im Umfang der Vereinbarung wirksam getroffen.43 Sie umfassen nicht nur Leistungsklagen zwischen der Gesellschaft und ihren Gesellschaftern, sondern auch Klagen auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses, soweit es nicht um die Wirksamkeit eines Gesellschafterbeschlusses geht.44 2. Reichweite lückenhafter Schiedsklauseln nach „Schiedsfähigkeit II“ und „Schiedsfähigkeit III“ Soweit Beschlussmängelstreitigkeiten nicht explizit von der lückenhaften Schiedsvereinbarung ausgenommen werden, nimmt die überwiegende Literatur an, dass diese Vereinbarungen geltungserhaltend reduziert werden können und damit für die nicht beschlussbezogenen gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen weiterhin Anwendung finden. Begründet wird dies damit, dass eine Gesamtnichtigkeit regelmäßig nicht dem Willen der Gesellschafter entsprechen würde, weil diese mit der Vereinbarung der Schiedsgerichtsbarkeit den Weg zu den staatlichen Gerichten so weit wie möglich hätten ausschließen wollen.45 In der Tat lässt sich gut argumentieren, dass die Gesellschafter einer Gesellschaft, die eine umfassende Schiedsvereinbarung abgeschlossen haben, damit ihr Interesse zum Ausdruck gebracht haben, Streitigkeiten weitestmöglich nicht in öffentlicher Verhandlung vor einem staatlichen Gericht, sondern vielmehr in einem nicht-öffentlichen Schiedsverfahren zu verhandeln und entscheiden zu lassen. Diese Argumentation ist jedoch nicht in jedem Fall zwingend: Denkbar wäre schließlich auch, dass 42

BGH II ZR 255/08; BGHZ 180, 221 (Rn. 23); Hauschild/Böttcher DNotZ 2012, 577,

586. 43

BGH I ZB 3/14, ZIP 2015, 2019; Gentzsch/Hauser/Kapoor SchiedsVZ 2019, 64, 67. BGH I ZB 3/14, ZIP 2015, 2019. 45 So Riegger/Wilske ZGR 2010, 734, 746; Gentzsch/Hauser/Kapoor SchiedsVZ 2019, 64, 68; ferner Wolff, NJW 2009, 2021, 2023; obiter dictum auch OLG München 34 Sch 14/ 12, BeckRS 2014, 1197 als Vorinstanz zu BGH I ZB 3/14. 44

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die Gesellschafter vorrangig sämtliche Auseinandersetzungen bei einem Gericht konzentrieren wollten. Dieses Ziel würde aber nicht erreicht, wenn Beschlussmängelstreitigkeiten vor dem staatlichen Gericht ausgetragen werden müssten, während es für alle anderen Verfahren bei der Schiedsgerichtsbarkeit bliebe. Vor diesem Hintergrund muss regelmäßig gefragt werden, ob sich aus dem Vertragsschluss selbst oder seinen Begleitumständen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Parteien die Schiedsvereinbarung auch abgeschlossen hätten, wenn ihnen die Unwirksamkeit für Beschlussmängelstreitigkeiten bekannt gewesen wäre. Soweit solche Anhaltspunkte nicht bestehen, ist die Lösung über § 139 BGB zu suchen. Anders als teilweise in der Literatur angenommen, ergibt sich aus § 139 BGB aber gerade nicht, dass lückenhafte Schiedsvereinbarungen in ihrem nicht rechtswidrigen Umfang weiterhin Bestand haben.46 Vielmehr erklärt § 139 BGB ein teilbares Rechtsgeschäft ausdrücklich für gesamtnichtig, „wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde“. Dabei trägt derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der die Gültigkeit des übrigen Geschäftes für sich in Anspruch nimmt.47 Hieraus folgt: Erfüllt eine Schiedsklausel nicht die Anforderungen an die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten, so haben die Gesellschafter, die sich bei einer anderweitigen Rechtsstreitigkeit aus dem Gesellschaftsverhältnis auf die Schiedsklausel berufen, Umstände darzulegen und ggf. zu beweisen, aus denen sich ergibt, dass die Gesellschafter auch bei Kenntnis der teilweisen Nichtigkeit die Schiedsklausel entweder im weitestmöglichen Umfang oder jedenfalls in Bezug auf den konkreten Rechtsstreit hätten aufrecht erhalten wollen, wobei ein wesentliches Indiz hierfür, wie gesagt, regelmäßig die Vereinbarung einer umfassenden Schiedsvereinbarung sein dürfte. Anders stellt sich die geschilderte Beweislastverteilung dar, wenn der Gesellschaftsvertrag bzw. die Schiedsvereinbarung – wie so oft – eine salvatorische Klausel enthält, nach der die Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen die Wirksamkeit der Vereinbarung im Übrigen unberührt lassen soll. Solche Klauseln führen nach ständiger Rechtsprechung zu einer Umkehr der gesetzlichen Regelung: Nunmehr ist derjenige, der die Unwirksamkeit der Gesamtregelung behauptet, für die entsprechenden Umstände, aus denen sich ein entsprechender Wille ergeben soll, darlegungs- und beweispflichtig.48 Gelingt dieser Nachweis nicht oder fehlt es schon an entsprechendem Sachvortrag, so findet die Schiedsklausel auf sämtliche Rechtsstrei46 So aber Gentzsch/Hauser/Kapoor SchiedsVZ 2010, 64, 68; wohl auch Nolting SchiedsVZ 2011, 319, 321. 47 St. Rspr., vgl. nur BGH VIII ZR 46/94, BGHZ 128, 156, 165 f. = NJW 1995, 722; Ellenberger in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 139 Rn. 14 a.E. m.w.N. 48 Vgl. nur BGH IX ZR 18/09, BGHZ 184, 209 = NJW 2010, 1364 (Rn. 30); Ellenberger a.a.O. Rn. 17.

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tigkeiten, die nicht Beschlussmängelstreitigkeiten im o.g. Sinn oder diesen vergleichbar sind, weiterhin Anwendung.

III. Sonderfälle im Personengesellschaftsrecht Abschließend ist an dieser Stelle noch ein Blick auf die Besonderheiten zu werfen, die sich im Personengesellschaftsrecht bei den verschiedenen Sonderklagen sowie im Fall der GmbH & Co. KG ergeben. 1. Auflösungsklage, § 133 HGB Eine Klage auf Auflösung der Personengesellschaft nach § 133 HGB ist, soweit der Gesellschaftsvertrag nichts Gegenteiliges vorgibt, gegen die Mitgesellschafter zu richten. Zu verklagen sind dabei grundsätzlich alle Mitgesellschafter, es sei denn, diese haben sich bereits im Vorfeld ausdrücklich mit der begehrten Auflösung einverstanden erklärt.49 Insoweit ergibt sich auf den ersten Blick kein Unterschied zur Nichtigkeitsfeststellungsklage bei Beschlussmängeln. Jedoch wirkt ein klagestattgebendes Urteil, durch das die Gesellschaft aufgelöst wird, als Gestaltungsurteil erga omnes50: Eine Gesellschaft kann schlechterdings nicht im Verhältnis zu einem Gesellschafter aufgelöst werden und im Verhältnis zu den anderen Gesellschaftern fortbestehen. Folglich sind die Beklagten, anders als bei der Nichtigkeitsfeststellungsklage, auch nicht einfache, sondern notwendige Streitgenossen.51 Ferner betrifft ein rechtskräftiges klagestattgebendes Urteil auch solche Gesellschafter, gegen die die Klage nicht gerichtet war (etwa weil sie sich im Vorfeld der Klageerhebung mit der Auflösung der Gesellschaft einverstanden erklärt haben oder weil sie – was in der Praxis nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann – unzulässigerweise im Verfahren übergangen wurden). Damit bedarf es aber im Fall der Auflösungsklage im Personengesellschaftsrecht der gleichen Schutzmechanismen zugunsten aller Gesellschafter, wie sie der II. Zivilsenat in „Schiedsfähigkeit II“ für die Kapitalgesellschaft herausgearbeitet hat. Die Auflösungsklage kann daher nur dann vor einem Schiedsgericht verhandelt werden, wenn – etwa durch die Vereinbarung der DIS ERGeS –sichergestellt ist, dass sämtliche Gesellschafter über die Einleitung des Prozesses informiert wurden und die Möglichkeit erhalten haben, sich an dem Verfahren und an der Auswahl der Schiedsrichter zu 49 BGH II ZR 44/58, BGHZ 30, 195, 197; Roth in: Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 133 Rn. 13. 50 Lehmann-Richter in: BeckOKHGB, Stand: 15.10.2019, § 133 Rn. 22. 51 BGH II ZR 44/58, BGHZ 30, 195, 197; Roth in: Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 133 Rn. 13; K. Schmidt in: MüKoHGB, 3. Aufl. 2014, § 133 Rn. 48.

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beteiligen. Gleiches gilt aufgrund des Sachzusammenhangs für eine Klage auf Feststellung der Wirksamkeit eines Auflösungsbeschlusses, soweit diese mit einer Auflösungsklage nach § 133 HGB verbunden wird. 2. Entziehung von Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht; Ausschließung von Gesellschaftern Soweit der Gesellschaftsvertrag nichts Abweichendes regelt, kann den geschäftsführenden Gesellschaftern einer Personenhandelsgesellschaft die Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht nur durch ein Gestaltungsurteil entzogen werden, §§ 117, 127 HGB. Eine entsprechende Klage muss grundsätzlich von allen weiteren Gesellschaftern erhoben werden. Soweit Gesellschafter das Entziehungsbegehren nicht unterstützen, muss gegen sie eine Mitwirkungsklage erhoben werden, die mit der Entziehungsklage verbunden werden kann.52 Die gleiche prozessuale Situation ergibt sich hinsichtlich der Ausschließung von Gesellschaftern. Auch diese erfolgt grundsätzlich durch Gestaltungsurteil, § 140 HGB. An der Ausschließungsklage müssen sämtliche Gesellschafter mitwirken. Ein Gesellschafter, der sich der Ausschließungsklage nicht zumindest außergerichtlich anschließt, muss auf Mitwirkung an der Ausschließung verklagt werden.53 Damit ergeben sich hinsichtlich der Entziehungs- und der Ausschlussklage die gleichen Herausforderungen wie bei der Auflösungsklage. Da ein klagestattgebendes Urteil erga omnes wirkt und sämtliche Kläger und Beklagten jeweils notwendige Streitgenossen sind, muss die Beteiligung aller Gesellschafter an dem Verfahren sichergestellt werden. Eine Schiedsvereinbarung muss mithin den in „Schiedsfähigkeit II“ aufgestellten Anforderungen genügen, um auf diese Verfahren Anwendung zu finden. Soweit dagegen – wie so häufig – der Gesellschaftsvertrag die Entziehung von Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht bzw. die Ausschließung von Gesellschaftern durch Gesellschafterbeschluss gestattet,54 gilt das unter Ziff. I. 2 gesagte: Ein besonderer Schutzmechanismus zugunsten nicht beteiligter Gesellschafter ist nur erforderlich, wenn die Klage gegen den Entziehungs- bzw. Ausschließungsbeschluss ausnahmsweise gegen die Gesellschaft zu richten ist. Soweit der Rechtsstreit dagegen unter den Gesellschaftern ausgetragen wird, reicht eine einfache Schiedsklausel, da das Schiedsurteil die (Un-)Wirksamkeit des Gesellschafterbeschlusses nur feststellt, nicht dagegen positiv herbeiführt. Das gleiche gilt für die Gesellschaft Hahn in: MchHdbGesR VII, 5. Aufl. 2017, § 61 Rn. 10. Schmitz-Herscheidt in: MchHdbGesR VII, 5. Aufl. 2017, § 59 Rn. 6. 54 Zur Zulässigkeit der Vertragsgestaltung vgl. Roth in: Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 117 Rn. 12, § 127 Rn. 12, § 140 Rn. 30. 52 53

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bürgerlichen Rechts, in der die Entziehung von Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht sowie die Ausschließung von Gesellschaftern stets durch Gesellschafterbeschluss – und nicht durch Gestaltungsklage – erfolgt, vgl. §§ 712, 715 BGB.55 3. Austritt von Gesellschaftern Besonderheiten ergeben sich ferner beim Austritt von Gesellschaftern. Grundsätzlich hat jeder Gesellschafter das Recht, das Gesellschaftsverhältnis zu kündigen und aus der Gesellschaft auszuscheiden. Dies folgt für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts aus § 723 Abs. 1 BGB, der über §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB auch auf Personengesellschaften Anwendung findet. Allerdings kann der Gesellschaftsvertrag das Kündigungsrecht beschränken und insbesondere für einen längeren Zeitraum ausschließen, soweit die Beschränkung oder der zeitweise Ausschluss nicht faktisch einem dauerhaften Ausschluss des Kündigungsrechts gleichkommt.56 Dabei kommt es für die Frage, ob eine Kündigungsbeschränkung noch zulässig ist oder nicht, stets auf die Umstände des Einzelfalles an.57 Auch bei vertraglich vereinbarten Kündigungsbeschränkungen hat jeder Gesellschafter das Recht, die Gesellschaft bei Vorliegen eines wichtigen Grundes mit sofortiger Wirkung zu kündigen.58 Die Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, richtet sich nach den gleichen Kriterien, die auch an eine Auflösungsklage nach § 133 HGB anzulegen sind.59 Ob ein wichtiger Grund vorliegt oder nicht, ist dabei stets anhand der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden.60 Die Kündigung des Gesellschaftsverhältnisses ist damit äußerst konfliktträchtig. Ein Streit über die Wirksamkeit einer Kündigung oder den Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens ist indes – anders als die Auflösungs- oder eine Ausschlussklage – nicht unter den Gesellschaftern auszutragen. Dies hat folgenden Hintergrund: Mit Wirksamwerden der Kündigung scheidet der betroffene Gesellschafter aus der Gesellschaft aus, § 133 Abs. 3 Nr. 3 HGB.61 Sein 55 Vgl. Hahn a.a.O., § 53 Rn. 15, 49 (zur Entziehung von Geschäftsführung und Vertretungsmacht); Schmitz-Herscheidt a.a.O. § 51 Rn. 20 (zur Ausschließung von Gesellschaftern). 56 Roth a.a.O. § 132 Rn. 13; Kamanabrou in: Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 132 Rn. 19; C. Schäfer in: MüKo-BGB, 7. Aufl. 2017, § 723 Rn. 66. 57 BGH II ZR 205/10, NJW-RR 2012, 1242 (Rn. 13); BGH II ZR 137/04, NJW 2007, 295 (Rn. 13); BGH II ZR 310/03, NJW 2005, 1784, 1786. 58 C. Schäfer a.a.O., Rn. 26. 59 So zur GbR Habermeier in: Staudinger, BGB, Stand 12/2002, § 723 Rn. 28; C. Schäfer in: MüKo-BGB, 7. Auflage 2017 § 723 Rn. 30. 60 K. Schmidt in: MüKo-HGB, 4. Aufl. 2016, HGB § 132 Rn. 41. 61 In der GbR hat die Kündigung eines Gesellschafters die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. Allerdings sehen die meisten GbR-Verträge vor, dass die Gesellschaft durch die

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Gesellschaftsanteil wächst den Mitgesellschaftern an.62 Ihm selbst steht ein Anspruch auf Abfindung zu, den er gegenüber der Gesellschaft gerichtlich geltend machen kann, § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB (ggf. i.V.m. § 105 Abs. 3 HGB bzw. §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB).63 Wenn also ein Gesellschafter die Gesellschaft kündigt und die anderen Gesellschafter die Kündigung nicht oder jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt akzeptieren, so muss der Gesellschafter gegen die Gesellschaft auf Zahlung der Abfindung klagen. In dem Rechtsstreit wird sodann inzidenter geprüft, ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorlag bzw. – im Fall einer ordentlichen Kündigung – ob die im Gesellschaftsvertrag normierten Kündigungsbeschränkungen wirksam sind oder nicht. Damit sind die übrigen Gesellschafter aber von dem Rechtsstreit unmittelbar betroffen: Soweit die Gesellschaft wirksam zur Zahlung verurteilt werden, steht damit gleichzeitig fest, dass ihr Gesellschaftsverhältnis mit dem ausscheidenswilligen Gesellschafter beendet ist. Das klagestattgebende Urteil berührt damit unmittelbar die Rechtsbeziehungen zwischen den Gesellschaftern. Den übrigen Gesellschaftern muss daher Gelegenheit gegeben werden, dem Rechtsstreit beizutreten und an der Auswahl der Schiedsrichter mitzuwirken. Auch insoweit müssen mithin die Voraussetzungen, die der II. Zivilsenat in „Schiedsfähigkeit II“ für die Beschlussmängelklage im Kapitalgesellschaftsrecht aufgestellt hat, erfüllt sein.

4. Zu den Besonderheiten von Beschlussmängelstreitigkeiten in der GmbH & Co. KG Abschließend soll noch ein Blick auf die besondere Interessenlage geworfen werden, die sich für Schiedsvereinbarungen bei einer GmbH & Co. KG ergeben können. Bei der GmbH & Co. KG greifen bekanntlich zwei Gesellschaften ineinander: die Kommanditgesellschaft einerseits und ihre Komplementär-GmbH andererseits. In beiden Gesellschaften können Rechtsstreitigkeiten auftreten. Nach den unter Ziff. I. 1. getroffenen Feststellungen muss eine Schiedsklausel, damit sie Beschlussmängelstreitigkeiten auf Ebene der Komplementär-GmbH erfasst, den vom BGH in der Entscheidung „Schiedsfähigkeit II“ aufgestellten Anforderungen genügen. Bei der KG finden diese Grundsätze dagegen nach der hier vertretenen Auffassung nicht generell, sondern nur in speziellen Fällen Anwendung – etwa dann, wenn die Beschlussmängelklage nach den vertraglichen Bestimmungen ausKündigung nicht aufgelöst, sondern mit den verbleibenden Gesellschaftern fortgesetzt wird. Dann stellen sich die gleichen Fragen wie bei der Personenhandelsgesellschaft. 62 Roth in: Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 131 Rn. 34, 39. 63 Kamanabrou in: Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 131 Rn. 52.

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nahmsweise gegen die Gesellschaft zu richten ist. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass dieselbe Schiedsvereinbarung in Bezug auf Beschlussmängelstreitigkeiten in der Komplementär-GmbH nichtig ist, während sie bei Beschlussmängelstreitigkeiten in der KG weiterhin Anwendung fände. Ob dieses Ergebnis den Interessen der beteiligten Gesellschafter entspricht, wird stark von der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen GmbH & Co. KG abhängen. Dabei sind drei Gestaltungen zu unterscheiden: – Zum einen die beteiligungsidentische GmbH & Co. KG, bei der alle Kommanditisten der KG auch Geschäftsanteile an der KomplementärGmbH halten. Dies ist die übliche Gestaltung bei Familiengesellschaften. – Demgegenüber die beteiligungsverschiedene GmbH & Co. KG, bei der nicht alle, sondern regelmäßig nur sehr wenige Kommanditisten an der Komplementär-GmbH beteiligt werden. Dieses Gestaltungsmodell findet sich regelmäßig in Publikumsgesellschaften sowie bei Investmentfonds. – Schließlich die Einheits-GmbH & Co. KG, bei der die Kommanditgesellschaft selbst sämtliche Anteile an ihrer Komplementär-GmbH hält.64 Vor allem in der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG wird es bei Vorliegen einer den Anforderungen der Entscheidung „Schiedsfähigkeit II“ nicht genügenden Schiedsklausel regelmäßig nicht der Intention der Gesellschafter entsprechen, Beschlussmängelstreitigkeiten in der KomplementärGmbH vor einem ordentlichen Gericht austragen zu müssen, während auf Ebene der KG weiterhin das Schiedsgericht zuständig bliebe. Daher wird man in diesen Fällen mangels abweichender Anhaltspunkte davon auszugehen haben, dass die Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung in Bezug auf Beschlussmängelstreitigkeiten auf Ebene der Komplementär-GmbH auf die Ebene der Kommanditgesellschaft durchschlägt und somit sämtliche Beschlussmängelstreitigkeiten vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen werden müssen. Dies gilt auch dann, wenn die Schiedsvereinbarung eine salvatorische Klausel enthält oder die Gesellschaftsverträge der Komplementär-GmbH und der Kommanditgesellschaft jeweils separate Schiedsklauseln vorsehen. Anders ist dies für die beteiligungsverschiedene GmbH & Co. KG zu sehen. Da sich hier der Gesellschafterkreis auf Ebene der Kommanditgesellschaft einerseits und der Komplementär-GmbH regelmäßig deutlich unterscheidet, begegnet es keinen Bedenken, wenn Beschlussmängelstreitigkeiten in beiden Gesellschaften vor verschiedenen Foren ausgetragen werden. Die Unwirksamkeit einer Schiedsklausel im GmbH-Gesellschaftsvertrag lässt 64

Ausführlich zur Einheits-GmbH & Co. KG Otte Der Konzern 2016, 477.

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mithin eine Schiedsklausel im Gesellschaftsvertrag der Kommanditgesellschaft grundsätzlich unberührt. Wurde für beide Gesellschaften eine gemeinsame Schiedsvereinbarung geschlossen, so wird man wiederum darauf abstellen müssen, ob die Vereinbarung eine salvatorische Klausel enthält. In der Einheits-GmbH & Co. KG stellt sich schließlich das Problem der Beteiligung der GmbH-Gesellschafter an einem Beschlussmängelstreit schon von vornherein nicht, da die Komplementär-GmbH nur einen Gesellschafter, nämlich die Kommanditgesellschaft hat. Mangelhafte Beschlüsse sind hier nicht lediglich anfechtbar, sondern nichtig.65 Die Gesellschafterbeschlüsse auf Ebene der Komplementär-GmbH werden in der Regel auch nicht einfach von der Kommanditgesellschaft als deren Alleingesellschafterin getroffen, sondern auf Ebene der Kommanditgesellschaft von den Kommanditisten oder einem besonders bestimmten Gremium vorbereitet. Rechtsstreitigkeiten über die Wirksamkeit der Gesellschafterbeschlüsse sind daher auf Ebene der Kommanditgesellschaft zu führen. Insoweit gelten dann aber auch nur die Maßstäbe, die an die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten bei einer Personengesellschaft anzulegen sind.

IV. Zusammenfassung 1. Erfüllt eine Schiedsklausel in einem GmbH-Gesellschaftsvertrag nicht die Anforderungen, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung „Schiedsfähigkeit II“ aufgestellt hat, so sind Beschlussmängelstreitigkeiten, Auflösungs- und Nichtigkeitsklagen nach der Rechtsprechung vor den ordentlichen Gerichten zu führen. Ob die Schiedsvereinbarung für die weiteren Streitigkeiten aufrecht erhalten bleiben kann, ist Auslegungssache. Dabei trägt grundsätzlich derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der sich auf die Wirksamkeit der Schiedsklausel beruft, wobei im Falle einer umfassenden Schiedsvereinbarung im Zweifel die Nichtöffentlichkeit des Schiedsverfahrens für die Wirksamkeit spricht. Soweit der Gesellschaftsvertrag bzw. die Schiedsklausel eine salvatorische Klausel enthält, führt diese im Übrigen zu einer Umkehr der Beweislast. 2. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats zur Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht lässt sich nicht ohne Weiteres auf das Personengesellschaftsrecht übertragen. Sofern die Beschlussmängelklage nicht aufgrund gesonderter Vereinbarung gegen die Gesellschaft selbst zu richten ist, bedarf es keiner Schutzmechanismen 65 Vgl. zur Nichtigkeit mangelhafter Beschlüsse in der Einmann-GmbH BayObLG 3Z BR 271/00, NJW-RR 2001, 469; Fischer/C. Schmidt in: Beck’sches Hdb GmbH, 5. Aufl. 2014, § 4 Rn. 78.

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zu Gunsten der Mitgesellschafter. Etwas anderes gilt dagegen für eine Klage auf Auflösung der Gesellschaft nach § 133 HGB, eine Klage auf Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht nach §§ 117, 127 HGB sowie für eine Klage auf Ausschluss eines Gesellschafters nach § 140 HGB. Auch eine Klage, deren Gegenstand das Wirksamwerden einer Kündigung und der hieraus folgende Abfindungsanspruch ist, kann nur dann vor einem Schiedsgericht erhoben werden, wenn die Partizipationsmöglichkeit aller Gesellschafter sichergestellt ist. 3. Genügt in einer GmbH & Co. KG die Schiedsklausel im Gesellschaftsvertrag der Komplementär-GmbH den besonderen Anforderungen für die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten nicht, so wird dies auf die Schiedsfähigkeit der Beschlussmängelstreitigkeiten auf Ebene der Kommanditgesellschaft regelmäßig dann durchschlagen, wenn die GmbH & Co. KG beteiligungsidentisch ausgestaltet ist. Bei beteiligungsverschiedenen GmbH & Co. KGs sowie in der Einheits-GmbH & Co. KG lässt eine etwaige Nichtigkeit der Schiedsklausel auf Ebene der Komplementär-GmbH dagegen die Wirksamkeit einer Schiedsklausel auf Ebene der Kommanditgesellschaft grundsätzlich unberührt.

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Die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit inaktiven Beteiligten Die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit inaktiven Beteiligten K. Peter Mailänder

Die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit inaktiven Beteiligten K. PETER MAILÄNDER

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenschlussformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inaktive Erwerbsvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsfolgen inaktiven Erwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Heilung schwebender Unwirksamkeit durch nachträgliche Anmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Nachträgliche Anmeldung inaktiver Zusammenschlüsse . . VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Die Kontrolle von Zusammenschlüssen zwischen Unternehmen knüpft nach dem gesetzlichen Wortlaut in § 37 GWB an Erwerbsvorgänge an. Darunter sind im allgemeinen Sprachgebrauch rechtsgeschäftliche Transaktionen zwischen bisherigem Inhaber und künftigem Erwerber von Vermögen, Anteilsrechten oder kontrollierendem Einfluss an oder über ein Unternehmen zu verstehen. Davon sind auch die Verfahrensvorschriften geprägt: nach § 39 GWB sind Zusammenschlussvorhaben vor ihrem Vollzug beim Bundeskartellamt anzumelden; § 41 GWB verbietet den Vollzug solcher Vorhaben, solange sie nicht freigegeben oder die gesetzlichen Fristen zur Untersagung nicht abgelaufen sind; entgegen diesen Ablaufschranken vollzogene Zusammenschlüsse sind unwirksam und unterliegen der Entflechtung (§ 41 Abs. 3 Satz 1 GWB); bei der Anmeldung ist jeweils die „Form des Zusammenschlusses“ (§ 39 Abs. 3 Satz 1 GWB) anzugeben, was durch Darstellung des beabsichtigten Erwerbsvorgangs zu geschehen hat, der regelmäßig auf einem schuldrechtlichen Verpflichtungsvertrag oder bereits auf einem unter die aufschiebende Bedingung der kartellamtlichen Freigabe gestellten dinglichen Vollzugsvertrag beruht. Der Erwerbsvorgang kann aber auch bloße Folge gesetzlicher Vorschriften oder eines öffentlich-rechtlichen Hoheitsaktes sein. Das wurde in § 24a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB a. F., der Vorgängervorschrift von § 37 GWB, ausdrücklich deutlich, wenn dort auch Zusammenschlüsse erfasst wurden,

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die „nach Landesrecht durch Gesetz oder sonstigen Hoheitsakt“ bewirkt werden sollten1. Damit waren ersichtlich die per Gesetz bewirkten und umgesetzten Zusammenschlüsse zu verstehen2 und nicht die nur kraft gesetzlicher Rechtsfolgen sich ergebenden Zusammenschlüsse, etwa beim Zusammenschluss durch Erwerb von Inhaberaktien mittels Einigung und Übergabe nach § 929 BGB. Auch der durch Hoheitsakt allein zum Vollzug gebrachte Zusammenschluss bleibt kontrollfrei, wogegen die bloße Umsetzung einer nur hoheitlichen Vorgabe unter die gewöhnliche Kontrolle fällt.3 Neben den rechtsgeschäftlich begründeten und den öffentlich-rechtlich auf Gesetz oder Hoheitsakt beruhenden Zusammenschlüssen bleibt eine dritte Kategorie, deren Fälle sich für die Beteiligten als Rechtsfolge anderer Umstände ergeben. Sie setzen den Erwerber von Vermögen, Anteilsrechten oder Kontrollbefugnissen auch ohne sein eigenes aktives Zutun der Zusammenschlusskontrolle aus. Mit dieser dritten Kategorie von inaktiven, sich rechtlich selbstvollziehenden Zusammenschlusstatbeständen befasst sich dieser Beitrag, der Herrn Professor Dr. Roderich C. Thümmel zum 65. Geburtstag mit hoher Wertschätzung für die dauerhafte freundschaftlich kollegiale Verbundenheit gewidmet ist.

I. Zusammenschlussformen § 37 Abs. 1 GWB bestimmt abschließend den Katalog der prüfungsrelevanten Zusammenschlussvorgänge in vier einzeltatbestandlich abgegrenzten Formen; im Unterschied dazu lässt Art. 3 der EG-Fusionskontrollverordnung allumfassenden Kontrollerwerb genügen. Allen vier Varianten des GWB ist gemeinsam, dass ein Unternehmen Einfluss auf das Marktverhalten eines anderen Unternehmens oder eines Gemeinschaftsunternehmens gewinnt, indem es dessen zumindest wesentliches Vermögen (Nr. 1) oder Kontrollbefugnisse (Nr. 2) oder in Mindestgrößen Anteile (Nr. 3) oder einen sonst wettbewerblich erheblichen Einfluss (Nr. 4) erwirbt. Bei den ersten drei Tatbeständen (Nr. 1 bis Nr. 3) geht es jeweils um den „Erwerb“ der Einflussmöglichkeit, während sich diese bei Nr. 4 als Auffangtatbestand aus dem Eingehen einer „sonstigen Verbindung von Unternehmen“ herleiten soll. Erwerb ebenso wie das Eingehen einer Verbindung sind regelmäßig Ergebnis eines zielgerichteten Handelns das im Wege des Eingehens von Rechtsgeschäften (schuldrechtlicher, gesellschaftsrechtlicher, dinglicher Vertrag) darauf hinwirkt. Dazu Harms/Richter im GWB-Gemeinschaftskommentar, 4. Aufl. 1990, § 24a, Rn. 110 ff. 2 Vgl. OLG Düsseldorf vom 17.9.2008, WuW/E DE-R 2436 – Lotto Rheinland-Pfalz. 3 Thomas in Immenga/Mestmäcker, GWB, 5. Aufl., § 37 Rn. 15. 1

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Der funktional zu verstehende Begriff „Erwerb“4 erfasst jedoch mehr als das darauf hinzielende Erwerbsgeschäft und deckt auch Erwerb als Erfolg oder schlicht als Zustand oder Folge anderer außererwerbsgeschäftlicher Vorgänge ab. Deshalb kann der Erwerb als Auslöser für die Zusammenschlusskontrolle entweder ein auf den Erwerb gerichtetes Rechtsgeschäft (z. B. Vermögensübertragung, Vertrag oder Beschluss zur Kontrollverschaffung, Anteilsübertragung, Einräumung gesellschaftsrechtlicher Privilegien) – aktives Erwerbsgeschäft – sein oder auf Umständen beruhen, auf die der Erwerbende selbst keinen Einfluss genommen hat, die ohne sein Zutun eingetreten sind (Erwerb von Todes wegen,5Anwachsung von Gesellschaftsvermögen oder von Anteilsrechten, Wegfall fremden Kontrolleinflusses, Zuwachs von Stimmrechten) – inaktives Erwerbsgeschäft6. Wie einleitend ausgeführt, ging der Gesetzgeber des GWB offenbar von aktiven Erwerbsgeschäften als Grundlage von Zusammenschlüssen aus. Dann bleibt zu fragen, ob inaktiver Erwerb, dem jeder Bezug zu einem Zusammenschlussvorhaben abgeht, (i) überhaupt kontrollbefreit ist oder (ii) wenigstens von der Anmeldepflicht nach Vollzug ohne kartellamtliche Freigabe befreit oder (iii) ausgeschlossen ist, oder ob (iv) vielmehr eine nachträgliche Anmeldung eines erfolgten inaktiven Erwerbs möglich oder (v) sogar geboten ist. Die Antworten werden dann zugleich vorgreiflich für die Reichweite der nach § 41 Abs. 1 Satz 2 GWB vorgeschriebenen Unwirksamkeit des vor amtlicher Freigabe vollzogenen Zusammenschlusses sein: erstreckt sich die Unwirksamkeitsfolge auch auf den inaktiven, sich selbst vollziehenden Erwerb oder bleibt dieser nur ausschließlich den Sanktionen, etwa einer Entflechtung, ausgesetzt?

II. Inaktive Erwerbsvorgänge Zunächst sollen die nur erläuterungshalber so bezeichneten inaktiven Zusammenschlusstatbestände, die eben nicht auf aktives rechtsgeschäftliches und deshalb beherrschbares Handeln der Beteiligten zurückzuführen sind und sich dessen ungeachtet selbst vollziehen, gesucht und geordnet werden. 1. Einer ersten Gruppe sind zuzurechnen die auf Erbfällen beruhenden Erwerbsvorgänge. Das kann alle vier Erwerbsformen, die einen Zusammen4

BKartA WuW/E DE-V 197 – „Westfälisches Ferngas“. Bechtold/Bosch, GWB, 9. Aufl., § 37 Rn. 4; Kallfaß in Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, 13. Aufl., § 37, Rn. 13, 26; Wiedemann/Richter/Steinvorth, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 19, Rn. 49. 6 In der Literatur auch als „passiver Erwerb“ beschrieben, etwa Thomas a.a.O., § 37, Rn. 204. Das Unterbleiben eigenen aktiven Zutuns zum Erwerbsvorgang (so MüKo GWB/Mäger, 2. Aufl., § 39 Rn. 16) wird jedoch mit „inaktivem Erwerb“ anschaulicher beschrieben. 5

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schluss bewirken können, betreffen. Vererblich und auf den Gesamtrechtsnachfolger gesetzlich ungeteilt übergehend sind (1) unternehmensgebundenes Vermögen, (2) beteiligungs- oder vertragsmäßig begründete Kontrollrechte, (3) Anteile am Unternehmen und (4) Rechte aus vom Erblasser eingegangenen Verbindungen mit wettbewerblich erheblicher Einflussmöglichkeit. Das gilt jedenfalls so lange, als die Vererblichkeit nicht ausdrücklich oder wegen höchstpersönlicher Rechte des Erblassers ausgeschlossen ist oder wegen erbfallbedingten Erlöschens entfällt. a) Zum Vermögen des Erblassers gehört auch sein vererbliches Handelsgeschäft (vgl. § 33 HGB), das als Unternehmenseinheit im Erbfall ausnahmsweise Gegenstand des Rechtsverkehrs sein kann.7 Es genügt auch der Erwerb durch Erbgang des wesentlichen Teils eines Unternehmens, der aus materiellen (Grundstück, Maschinen) oder immateriellen (Patente, Warenzeichen) Vermögensgegenständen bestehen kann. b) Hatte der Erblasser die Möglichkeit zur Ausübung eines kontrollierenden Einflusses auf ein Unternehmen inne, so kann auch diese auf den Erben als Gesamtrechtsnachfolger übergehen. Soweit der alleinige oder auch nur gemeinsame Kontrolleinfluss auf einer gesellschaftsrechtlichen Stellung beruht, kommt deren Übergang durch Anteilsvererbung in Betracht. Außerhalb gesellschaftsrechtlich angelegter Kontrollbefugnisse können sich solche auch aus Leistungsaustauschverträgen ergeben, wie typischerweise aus langfristigen Bezugs-, Absatz-, Betriebsüberlassungs- oder Lizenzverträgen. Derartige kontrollgewährende Vertragsstellungen sind ebenfalls vererblich. c) Bei der Vererblichkeit von Anteilen ist sowohl nach der Ausstattung der Anteile als auch nach der durch Satzung oder Gesellschaftsvertrag geprägten Gesellschaftsform zu unterscheiden. aa) Anteile an Kapitalgesellschaften sind übertragbar und damit auch vererblich. Das gilt bei Aktiengesellschaften sowohl für Inhaberwie auch für Namensaktien und unabhängig von ihrer Übertragbarkeit nach unterschiedlichen Vorgaben des Wertpapierrechts. Selbst die Vinkulierung von Namensaktien hindert nicht den Erwerb durch den gesamtrechtsnachfolgenden Erben.8 Für Aktien der Kommanditgesellschafter einer KGaA gilt nichts Anderes (§ 278 Abs. 3 AktG). Geschäftsanteile einer GmbH sind kraft Gesetzes vererblich (§15 Abs. 1 GmbHG) und gegen satzungsmäßige, die Vererbung hindernde Beschränkungen abgeschirmt. Auflagen für Erbengemeinschaften korrigieren nicht den Erwerb in gesamthänderischer Bindung. 7 8

Hopt in: Baumbach/Hopt, HGB 38. Aufl. 2018, Einl. V. § 1 HGB Rn. 43. Hüffer, Aktiengesetz, 13. Aufl. 2018, § 68 Rn. 11 m. w. N.

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bb) Anders stellt sich die Erbrechtslage bei Personengesellschaften mit unbeschränkter Haftung dar. Bei ihnen fehlt die gesetzliche Anordnung der Vererblichkeit, die erst einer besonderen gesellschaftsrechtlichen Gestattung bedarf. Diese ist erforderlich und in der Praxis regelmäßig zu finden, um der beim Tod eines haftenden Personengesellschafters gesetzlich vorgesehenen Auflösung der Gesellschaft (§§ 727 Abs. 1 BGB, 131 Abs. 2 HGB) oder dem Ausscheiden des Gesellschafters (§ 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB) zu entgehen. Enthalten die Gesellschaftsverträge entsprechende Nachfolgeklauseln, so kann dort die erbrechtlich begründete Nachfolgeberechtigung der Bestimmung des Erblassers oder einer Entscheidung unter den gemeinschaftlich berechtigten Miterben vorbehalten sein. Häufig finden sich auch vertragliche Regelungen, die dem Gesellschaftererben den Übertritt in die Stellung eines Kommanditisten erlauben. In allen diesen Fällen erfolgt der Erbgang im Wege einer Sondererbfolge9 in den Gesellschaftsanteil, jedoch als Gesetzesfolge im Erbfall. cc) Die umgekehrte Beziehung zwischen Regelfall und besonderer Vertragsregelung gilt für Kommanditbeteiligungen. Der Tod eines Gesellschafters führt weder zu seinem Ausscheiden und schon gar nicht zur Auflösung der Gesellschaft. Der Kommanditanteil fällt ohne besondere Vorkehrung an die Erben (§ 177 HGB). Auch hier weichen gesellschaftsvertragliche Regelungen häufig ab. Neben dem Ausschluss der Vererblichkeit finden sich statt der erbrechtlichen Nachfolge gesellschaftsrechtliche Eintrittsklauseln, die Erben oder Dritten beim Tod eines Gesellschafters das erst rechtsgeschäftlich zu vollziehende Eintrittsrecht verschaffen, dessen Ausübung es dann nicht länger beim inaktiven Erwerbsvorgang des Erben belässt, sondern aktives Erwerbshandeln darstellt.10 2. Einer zweiten Gruppe der nicht auf rechtsgeschäftliche Initiative zurückzuführenden Zusammenschlussfälle sind diejenigen aus dem Gesellschaftsrecht zuzuordnen. Dort finden sich häufig Auswirkungen aus Veränderungen im Gesellschafterkreis oder in den Beteiligungsverhältnissen, die sich auf Mitgesellschafter und damit auf deren Beteiligung an Zusammenschlüssen auswirken, ohne dass es auf ihre eigenständige Mitwirkung ankommt. a) In der Personengesellschaft führt das Ausscheiden eines Gesellschafters als Folge von Kündigung oder Ausschluss zur quotalen Anwachsung seiner Beteiligung bei seinen Mitgesellschaftern,11 kraft deren ihre Weidlich bei Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 1922 Rn. 17. BGHZ 68, 225, 233; NJW-RR 87, 989. 11 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1739. 9

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Beteiligungsschwellen über 25% oder 50% bis hin zum Vermögensübergang zu 100% angehoben werden können. Zuvor bestehende gemeinsame Kontrolle kann zur Alleinkontrolle werden.12 b) Derselbe Effekt für die Beteiligungsverhältnisse entsteht bei der Einziehung von Aktien oder GmbH-Geschäftsanteilen, bei der Kapitalherabsetzung und mit Beschränkung auf das Stimmrecht beim Erwerb eigener Aktien aus den verschiedensten zulässigen Rechtsgründen einschließlich der Kaduzierung (§ 64 AktG) mit der Rechtsfolge des Verlustes von Mitgliedschaftsrechten einschließlich des Stimmrechts (§ 71b AktG). c) Eine qualitative Aufstockung eines Beteiligungseinflusses in ein Kontrollrecht kann außerdem durch nachhaltige Veränderung bei der Hauptversammlungsmehrheit etwa durch Zunahme des nur schwach vertretenen Streubesitzes bewirkt werden.13 d) Die Beendigung von gesellschaftsvertraglichen oder gesetzlichen Stimmrechtsbeschränkungen bis hin zum Wegfall von Stimmverboten führt zum Wiederaufleben nominaler Stimmrechte, die über die Anteilsstufen hinausgehen können.14 e) Auch das Auslaufen eines Beherrschungsvertrags, dem die Gesellschaft unterworfen ist, führt zum Aufleben des mit den anteilsverbürgten Stimmrechten verbundenen Einflusses, der zu einem Zusammenschluss erstarken kann. f) Gepfändete Anteile verlieren häufig nach gesellschaftsvertraglichen Vorkehrungen Teilnahme- und Stimmberechtigung in der Versammlung der Gesellschafter und verstärken damit das Stimmrecht aus unbelasteten Anteilen. Anders sind dagegen die mittelbaren Beteiligungsveränderungen als Folge von Gesellschafterbeschlüssen zu behandeln. An diesen wirkt der betroffene Gesellschafter mit seinem Stimmgewicht mit. Typische Fälle kennt das Umwandlungsrecht mit Verschmelzung, Ausgliederung, Aufspaltung, Abspaltung oder Vermögensübertragung. Diesen Vorgängen liegen jeweils Beschlusstatbestände zugrunde, die Zusammenschlüsse durch Veränderungen in den Beteiligungsverhältnissen aktiv herbeiführen. 3. Auch Zusammenschlüsse kraft Gesetzes lassen die daran beteiligten Unternehmen in der Passivität. Bis zur 6. GWB-Novelle von 1998 waren die 12 Bechtold/Bosch, a.a.O. § 37, Rn. 16 in Abgrenzung zu den Fällen, in denen sich die Zahl gemeinsam kontrollierender Gesellschafter nur verringert. 13 MüKo GWB/Mäger, § 39, Rn. 16; vgl. dazu die Untersagung des Zusammenschlusses A-TEC/Norddeutsche Affinerie durch das BKartA mit Beschluss vom 27.2.2008, WuW/E DE-V 1533, bestätigt durch OLG Düsseldorf vom 12.11.2008, WuW/E DE-R 2462, schon wegen des Erwerbs einer faktischen aktienrechtlichen Sperrminorität. 14 Auch als Gesetzesfolge, wie z.B. durch die Stimmrechtsbeschränkung im VWGesetz.

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Zusammenschlüsse „nach Landesrecht oder sonstigem Hoheitsakt“ in § 24a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GWB a.F. erfasst. Die Streichung der ausdrücklichen Einbeziehung hat nach allgemeiner Ansicht nichts am Grundsatz geändert, dass auch solche Vorgänge, soweit sie nicht in § 35 Abs. 2 Satz 2 GWB ausdrücklich ausgenommen sind, der Kontrolle unterliegen.15 Bei Zusammenschlüssen zufolge eines Bundesgesetzes wird nach dem Vorrang der lex specialis dem Sondergesetz Wirkung unter Verdrängung der GWB-Zusammenschlusskontrolle zugeordnet.16 4. Kapital- oder Stimmrechtseinfluss kann anstelle eines Rechtsgeschäfts aus einem Hoheitsakt gewonnen werden. a) Die Pfändung und Überweisung einer Beteiligung an den vollstreckenden Gläubiger eines Gesellschafters führt zum Rechtsgrund des Beteiligungserwerbs aus Hoheitsakt. b) Derselbe Effekt wird im Wege der Zwangsversteigerung einer relevanten Beteiligung erzielt. Werden dadurch kontrollpflichtige Zusammenschlüsse bewirkt und vollzogen, so geschieht auch dies ohne Zutun der davon betroffenen Unternehmen.

III. Rechtsfolgen inaktiven Erwerbs Die inaktiven Erwerbsvorgänge führen zum Erwerb von Vermögens-, Kontroll- oder Beteiligungsrechten ohne aktives Zutun des erwerbenden Unternehmens und ohne diesem die Möglichkeit zu lassen, seinen Erwerb einer vorausgehenden Zusammenschlusskontrolle zu unterwerfen. 1. Im Hinblick darauf, dass Zusammenschlüsse, die vom Bundeskartellamt nicht freigegeben sind, nicht vollzogen werden dürfen, und dass Verstöße gegen das Vollzugsverbot zur Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts führen (§ 41 Abs. 1 GWB) stellt sich die Frage, was Vollzugsverbot und Unwirksamkeitsgebot für die inaktiven Erwerbsvorgänge bewirken. Schließt man die rigorose Erstreckung der Unwirksamkeitssanktion auf nicht kartellamtlich freigegebene Zusammenschlüsse von vornherein mit der Erwägung aus, dass ein derartiger Normenkonflikt zwischen Erbrecht, Gesellschaftsrecht oder öffentlichem Recht einerseits und Kartellrecht andererseits nicht zu Lasten der Rechts- und Rechtsverkehrssicherheit gehen darf, so bieten sich als Lösungsmöglichkeiten an: a) eine enge und wortlautstrenge Anwendung des § 41 GWB, wonach der Erwerbsvorgang, für den weder Freigabe noch Fristablauf für die Untersagung in Gang gesetzt werden konnte, nicht unter das Vollzugs15 16

Bechtold/Bosch, a.a.O., § 37 Rn. 3; Thomas, a.a.O., § 37 Rn. 15. Thomas, a.a.O., § 37 Rn. 16.

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verbot fällt und wonach ein nicht auf Rechtsgeschäft beruhender Erwerbsvorgang auch nicht dem Verdikt der Unwirksamkeit ausgesetzt sein kann; b) eine analoge Ausweitung der Ausnahmefälle der §§ 41 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 3, Abs. 1a GWB, insbesondere der Variante Abs. 1 Nr. 3 auf die Anzeigemöglichkeit des Zusammenschlusses nach Vollzug; c) eine Lückenfüllung durch Einleitung eines nachträglichen, dem Entflechtungsverfahren nach § 41 Abs. 3 GWB vorgeschalteten Prüfungsverfahrens auf Anmeldung oder von Amts wegen, ob Untersagungsgründe vorliegen und ob diese zur Auflösung führen müssen; d) eine nachträgliche Befreiung vom förmlichen Vollzugsverbot aus wichtigem Grund auf Antrag der Beteiligten (§ 41 Abs. 2 GWB). 2. Die richtige Auswahl unter diesen Lösungsansätzen muss jedenfalls am Zweck des Gesetzes ausgerichtet sein, der nach der Betonung in ständiger Rechtsprechung unter Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs angelegten Zielsetzung des Gesetzes auf die Sicherung des Leistungswettbewerbs und insbesondere die Offenheit der Marktzugänge gerichtet sein muss.17 Dieser Zweck besteht gerade bei der Zusammenschlusskontrolle vorrangig darin, die Märkte offen zu halten und das Entstehen von Marktstrukturen zu verhindern, die effektivem Wettbewerb entgegenstehen oder ihn ganz ausschließen.18 Die Zusammenschlusskontrolle soll dieser Aufgabe neben dem Kartellverbot gerecht werden, indem gesetzliche Verbote unter den Prüfungsvorbehalt der Wettbewerbsaufsicht durch das Bundeskartellamt gestellt werden und die zivilrechtlichen Sanktionen der Nichtigkeit verbotener Kartellabsprachen oder der Unwirksamkeit unerlaubt vollzogener Zusammenschlüsse jeweils kartellamtlicher Freistellung nach § 2 GWB oder noch nachträglich bewirkter Hinnahme oder eingeholter Erlaubnis nachgeordnet sind (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 GWB mit § 42 GWB). 3. Es herrscht Übereinstimmung, dass die in § 41 Abs. 1 Satz 2 GWB angeordnete Unwirksamkeit unerlaubt vollzogener Zusammenschlüsse nur schwebend ist und Raum für eine nachträglich herbeigeführte Freigabe lässt.19 Diese einhellige Meinung kann sich auf die Historie zur heutigen Gesetzeslage stützen. Noch bis zur 7. GWB-Novelle aus dem Jahr 2005 hatte das Bundeskartellamt keine Bedenken, unerlaubt vollzogene Zusammenschlüsse auf nachträgliche Anmeldung freizugeben. Erst danach glaubte sich das Amt durch die Änderungsfassung des § 41 Abs. 3 GWB gehalten, vor Vollzug unangemeldete Zusammenschlüsse aufzulösen20 und nachträg17

So leitend BGH vom 24.10.2011 WuW/E DE-R, 3446 „Grossistenkündigung“. Thomas, a.a.O. Vor § 35 Rn. 2. 19 Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 53; Mäger, a.a.O., § 41 Rn. 32; Riesenkampff/Lehr in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, 2. Aufl. 2009, § 41 Nr. 5. 20 Thomas, a.a.O., § 41 Fn. 118; Mäger, a.a.O., § 41 Rn. 34. 18

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liche Anmeldungen nicht länger entgegenzunehmen. Der Gesetzgeber sah sich deshalb in der nächstfolgenden 8. GWB-Novelle zur Klarstellung veranlasst, indem er durch die Einführung der Nr. 3 zu § 41 Abs. 1 Satz 3 GWB die Heilung schwebender Unwirksamkeit durch Anzeige und Freigabe nach Vollzug in der Form einer Einstellung des Entflechtungsverfahrens21 eröffnete. Dieser Rückzug auf eine bloß schwebende Unwirksamkeit harmoniert auch mit der entsprechenden Regelung des Gemeinschaftsrechts, die in Art. 7 Abs. 4 FKVO22 die Wirksamkeit eines gegen das gleichartige Vollzugsverbot verstoßenden rechtsgeschäftlichen Vollzugs erst von einer nachträglichen Entscheidung der Kommission abhängig macht, also bis dahin nur schwebend unwirksam sein lässt.

IV. Heilung schwebender Unwirksamkeit durch nachträgliche Anmeldung Sind danach Möglichkeiten eröffnet, selbst verbotene Rechtsgeschäfte in Vollzug von Zusammenschlussvorhaben nachträglich zu heilen und eine schwebende Unwirksamkeit zu beseitigen, so folgt daraus zwingend, dass inaktive Erwerbsvorgänge, denen noch nicht einmal verbotene Vollzugshandlungen zugrunde liegen, keinesfalls strengerer Behandlung und Aufsicht unterzogen werden dürfen. 1. Für diese Folgerung bietet schon der Rückzug auf den Wortlaut des § 41 Abs. 1 GWB einen ersten Ansatz. a) Ein Zusammenschluss, der nicht rechtsgeschäftlich bewirkt und vollzogen wird, unterliegt von vornherein nicht der Unwirksamkeitssanktion des Satzes 2. Er bleibt jedoch dem Auflösungsgebot nach § 41 Abs. 3 GWB so lange ausgesetzt, als die Untersagungsvoraussetzungen nach § 36 Abs. 1 GWB erfüllt sind. Darüber hat das Bundeskartellamt inzident im Auflösungsverfahren zu befinden. Gelangt es dabei zur Verneinung der Untersagungsgründe aus § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB, so führt dies zur Einstellung des Auflösungsverfahrens und zum unbeanstandet gebliebenen, wirksam gewordenen Zusammenschluss. b) Im Auflösungsverfahren muss den inaktiv Beteiligten die Möglichkeit eingeräumt werden, den Nachweis gegen das Vorliegen von Untersagungsvoraussetzungen ebenso zu erbringen, wie dies den Beteiligten eines rechtsgeschäftlich aktiv angestrebten Zusammenschlusses nach § 36 Abs. 1 Satz 2 GWB im Anmeldeverfahren gestattet ist. Es bleibt dann die Frage, ob es dazu einer nachträglichen Anmeldung bedarf Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 61. Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. Nr. L 24, S. 1). 21 22

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oder ob die Beteiligung an dem auf Entflechtung gerichteten Verwaltungsverfahren allein ausreicht, um die Umstände, die zur Einstellung des Auflösungsverfahrens führen sollen, darzulegen. 2. Das Verfahren bei der Zusammenschlusskontrolle steht auch einer nachträglichen Anmeldung eines bereits vollzogenen Zusammenschlusses nicht entgegen. a) Ein nachträgliches Anmeldegebot ist nirgends begründet.23 Andererseits ist eine Anmeldebefugnis für einen zunächst nicht angemeldeten, jedoch vollzogenen Zusammenschluss auch nirgends ausgeschlossen. Zwar lässt der unglücklich gefasste Wortlaut des § 41 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB, der die nachträgliche Anzeige in die Verbindung mit einem Entflechtungsverfahren stellt, daran noch Zweifel. Diese erledigen sich jedoch bei der Besinnung auf die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts unter Berücksichtigung der vorgängigen im GWB geregelten verfahrensmäßigen Zusammenhänge. 24 b) Im Verwaltungsverfahrensrecht bewirkt der Antrag die Einleitung eines Verfahrens, das nur dann nicht in Gang kommt, wenn sich schon der Antrag als unwirksam erweist. Das muss zur vorrangigen Prüfung von Form und Frist der Antragstellung veranlassen. Das Gebot des § 39 Abs. 1 Satz 1 GWB zur Anmeldung von Zusammenschlüssen vor dem Vollzug bewirkt für sich keine Ausschlussfrist für nachgeschobene Anmeldungen, wie sich bereits aus § 41 GWB ableiten lässt, der in Abs. 2 Satz 2 eine Befreiung von der Anmeldung vor Vollzug gestattet. Ein deshalb zulässig bleibender nachgeschobener Antrag verpflichtet zur Einleitung eines Amtsverfahrens (§ 22 Satz 2 Nr. 1 VerwVerfG) und zur Prüfung der Untersagungs-/Freigabevoraussetzungen für den Zusammenschluss. Nur so kann das Amt seinem Verfassungsauftrag zu effektivem Verwaltungshandeln25 gerecht werden. c) Auch die in § 41 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB vorgesehene „Anzeige“ ist einem Antrag gleichzuachten, bleibt sie doch darauf ausgerichtet, spätestens im Verlauf eines Entflechtungsverfahrens den Beteiligten Gewissheit über die materiell-rechtliche (Un-) Zulässigkeit des bereits vollzogenen Zusammenschlusses zu verschaffen. Mit dem Ziel, der Entflechtungsanordnung zu entgehen, werden die Beteiligten von sich aus und ohne entsprechende Auskunftsersuchen des Amtes abzuwarten, die Angaben machen, die einer Anmeldung gleichkommen und ausreichen, um die Verneinung der Untersagungsvoraussetzungen nach § 36 GWB zu erreichen und dadurch das Entflechtungsverfahren zu erledigen. Anders Mäger, a.a.O., § 39 Rn. 16, „dürfte von einer Anmeldepflicht auszugehen sein.“ Bereits BGH vom 24.6.1980, WuW/E BGH 1717 – „Haus- und Hofkanalguss“. 25 BVerfGE 69, 315; 83, 130 zur Begründung des Grundsatzes grundrechtsfreundlicher Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts. 23 24

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d) Angesichts dieser Gesetzeslage erscheint auch der anhaltende Streit in der Fachliteratur, ob der Entflechtungsanordnung eine Untersagungsentscheidung vorauszugehen hat,26 müßig. Da der Heilungsvorbehalt auch für die Ministererlaubnis nach § 42 GWB gilt und diese gleichermaßen nach Zustellung einer Untersagungsverfügung oder einer Auflösungsanordnung beantragt werden kann, mag die Frage dahingestellt bleiben. Für die Betroffenen beinhalten beide Entscheidungsformen zur Untersagung oder zur Auflösung, dass das Bundeskartellamt zu ihren Lasten die Untersagungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 GWB für gegeben erachtet und dagegen das Beschwerdeverfahren eröffnet. Befindet das Bundeskartellamt dagegen, dass die Untersagungsvoraussetzungen nicht vorliegen, unterbleibt eine Untersagung und wird das Entflechtungsverfahren mit der Wirkung eingestellt, dass damit die schwebende Unwirksamkeit des gesetzwidrig vor Freigabe vollzogenen Zusammenschlusses geheilt wird.27 e) Bei dieser Sach- und Verfahrenslage ist kein plausibler Grund erkennbar, der es den Beteiligten verwehren könnte, statt der Anzeige eine nachträgliche Anmeldung vorzunehmen und damit eine vorab versäumte Prüfung in Gang zu setzen, die auch für das Entflechtungsverfahren unumgänglich ist.28 Dieser Verfahrensweg mündet dann in den verschiedenen Formen und Stufen des § 40 GWB ebenfalls im Entflechtungsverfahren, wenn die Untersagungsvoraussetzungen vorliegen, und andernfalls in der Freigabe. 3. Bedenken gegen dieses teleologisch zwingende Ergebnis, eine nachträgliche Anmeldung eines ohne Freigabe vollzogenen Zusammenschlusses zuzulassen, werden auf Wortlautänderungen beim Gesetzestext durch die 7. GWB-Novelle gestützt, die jedoch nicht zu überzeugen vermögen. Zufolge einer Ergänzung des § 41 GWB ist für die Ministererlaubnis nicht länger der vorausgehende Untersagungsbescheid erforderlich geblieben. Damit ist das rechtssystematische Argument entfallen,29 dass in § 41 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB mit dem Vorbehalt für die Ministererlaubnis auch die Vorbedingung einer Untersagung nach Durchführung eines Prüfungsverfahrens verknüpft war, das bei nachgeschobener Anmeldung den Fristen- und Fiktionsbestimmungen des § 40 GWB unterstellt werden konnte. Gleichwohl hat das Bundeskartellamt die geringfügige Textänderung in § 41 Abs. 3 GWB zum Anlass genommen, seine bis dahin geübte Praxis, auch nachträgliche Anmeldungen entgegenzunehmen und zu beNachweis bei Bechtold/Bosch, a.a.O., § 41 Rn. 25. Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 61; Richter bei Wiedemann/Richter/Steinvorth, a.a.O. § 21 Rn. 73, 76. 28 Eingehend: Werner/Sachse, WuW 2009, 1138; befürwortend auch Hahn, WuW 2007, 1084/1090; dagegen Stauber, WuW 2009, 20. 29 Thomas, a.a.O., § 41, Rn. 70. 26 27

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arbeiten, aufzugeben. Nach Vollzug des Zusammenschlusses eingereichte Anmeldungen sollen seiner Mitteilung30 zufolge nicht mehr „als solche akzeptiert“ werden. Aus seiner Sicht sei ein durch die Anmeldung eingeleitetes eigenständiges Untersagungsverfahren „nicht mehr sinnvoll“, wenn doch schon eine Inzidentfeststellung im Entflechtungsverfahren genüge. Diese Wertung des Bundeskartellamts dünkt jedoch höchst einseitig auf seine Verfahrensführung bezogen und berücksichtigt nicht im Geringsten die anders gelagerten Interessen der Zusammenschlussbeteiligten, denen auf der Grundlage bis dahin geübter Amtspraxis an einer nachträglichen Freigabeentscheidung gelegen ist, umso mehr wenn sie ein Bußgeld wegen Verletzung des Vollzugsverbots gewärtigen müssen. Das Amt kann sich dem Vorwurf einer nicht interessengerechten Abwägung auch nicht durch den Bezug auf einen ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers erwehren.31 Ein solcher ist in der Begründung des Gesetzes32 nicht auszumachen; sie beschränkt sich darauf, das Auflösungsverfahren auch für nicht angemeldete aber vollzogene Zusammenschlüsse zu öffnen, versagt jedoch an keiner Stelle die Option, im Wege nachträglicher Anmeldung das einer etwaigen Untersagung vorgeschaltete Prüfungsverfahren einzuleiten. Wenn die am Zusammenschluss Beteiligten eine – auch erst nachträgliche – Anmeldung einreichen, bleibt dies doch eine Anmeldung und mehr als eine „Anzeige“. Wie mit einer Anmeldung umzugehen ist, bestimmt der Gesetzgeber und nicht das Amt durch selbstbindende Verwaltungsvorschrift.33 Seiner Mitteilung vorausgehende Verwaltungsentscheidungen, die eine solche Amtspraxis bereits absehen ließen,34 sind ohne gerichtliche Überprüfung und Bestätigung geblieben. 4. Diese Option einer Anmeldung auch nach Vollzug ist auch durch die mit der 8. Novelle zum GWB nachgeschobene Textänderung in § 41 Abs. 1 Nr. 3 und in § 42 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht ausgeschlossen worden35. Wenn es jetzt in § 41 Abs. 1 Nr. 3 heißt, dass die in Satz 2 der Vorschrift angeordnete Unwirksamkeit eines Zusammenschlussgeschäfts nicht eintritt, wenn die unterlassene Anmeldung nach Vollzug angezeigt und durch die Einstellung des Entflechtungsverfahrens geheilt wird, so ist damit nicht verhindert, sondern im Gegenteil nahegelegt, dass umso mehr eine auf nachträgliche Anmeldung erfolgte Freigabeentscheidung – also 30

Vom 13.5.2008, abgedruckt in WuW 2009, 47. Mitteilung Absatz 4 a.E. 32 Begr. RegE 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640; vgl. auch: WuW Sonderheft 2005, S. 180. 33 Werner/Sachse, a.a.O., S. 1139. 34 BKartA Beschlüsse vom 14.2.2007, WuW/E DE-V 1340 „Sulzer/Kelmix“ und vom 27.2.2008, WuW/E DE-V 1553 „A-TEC“. 35 Anders: Bechtold/Bosch, a.a.O. § 39 Rn. 30; Stauber, a.a.O., S. 23; Lettl, WuW 2009, 249; unkritisch Riesenkampff/Lehr, a.a.O. § 39 Rn. 34. 31

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ein Mehr gegenüber einer Einstellung des Entflechtungsverfahrens – die vorläufige Unwirksamkeit aufhebt und den Zusammenschluss rechtsbeständig macht. 5. Obwohl dem Gesetzgeber der Rückzug des Bundeskartellamtes auf eine bloße Anzeige und die Verweigerung der Entgegennahme einer nachträglichen Anmeldung mit den sich daraus ergebenden Rechtsnachteilen für betroffene Unternehmen nicht verborgen geblieben sein konnten, hat er auch im Referentenentwurf für eine 10. GWB-Novelle36 die ihm allein vorbehaltene Klärung über die (Un)Zulässigkeit einer nachträglichen Anmeldung ausgelassen. In der geplanten Neufassung des § 39 Abs. 6 GWB findet sich statt des bisherigen Anzeigegebots für den Vollzug eines Zusammenschlusses das andersgeartete Gebot, einen vor Vollzug nicht angemeldeten Zusammenschluss unverzüglich anzuzeigen und damit dem Bundeskartellamt Kenntnis von unerlaubt vollzogenen Zusammenschlüssen zu verschaffen, um erforderlichenfalls Entflechtungsverfahren einleiten zu können.37 Die ausdrückliche Vorkehrung „§ 41 bleibt davon unberührt“ erlaubt und fordert keine Abstriche an der im Unternehmens- und Rechtssicherheitsinteresse gebotenen Zulassung einer überobligationsmäßigen Anmeldung statt bloßer Anzeige. 6. Ebenso wenig vermag das Argument zu überzeugen, dass nach § 41 Abs. 3 GWB ein gegen das Vollzugsverbot verstoßenden Zusammenschluss aufzulösen sei, wenn ihm nicht die Ministererlaubnis nach § 42 GWB erteilt werde. Immerhin trifft auch diese vermeintlich unausweichliche Folge nur ein, wenn außer dem Anmeldeverstoß auch die Untersagungsvoraussetzungen nach § 36 Abs. 1 GWB erfüllt werden, was sowohl im Prüfungs- als auch im Entflechtungsverfahren festgestellt werden kann. Deshalb behält die nachträgliche Anmeldung Sinn und Berechtigung. Die am vollzogenen Zusammenschluss Beteiligten sind dann gut beraten, einer drohenden Auflösungsanordnung durch die Einleitung eines Prüfungsverfahrens zuvorzukommen.38 Mit der Untersagung bleibt es beim Vollzugsverbot des § 41 Abs. 1 GWB, von dem aus wichtigem Grund sogar Befreiung erteilt werden kann (§ 41 Abs. 2 GWB); die gegen das Vollzugsverbot gerichtete Beschwerde lässt den erfolgten Vollzug bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Schwebe, auch ohne dass der gegen die Untersagung im Auflösungsverfahren gerichteten Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommt39 oder durch gerichtliche Anordnung im Verfahren nach § 65 Abs. 3 GWB verschafft werden könnte.40 Mit der Auflösungsanordnung setzt dagegen das Auflösungsverfahren mit den 36 37 38 39 40

Referentenentwurf des BMWE, Stand 7.10.2019. Begründung im RefE zu Nr. 16 b, S. 96/97. Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 126. Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 170. Thomas, a.a.O., § 41 Fn. 159.

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vom Bundeskartellamt angeordneten Maßnahmen ein, die durch eine Beschwerde ohne aufschiebende Wirkung (§ 64 GWB) nicht gehemmt werden. Der Aufschub kann allenfalls durch Anordnung des Beschwerdegerichts nach § 65 Abs. 3 Satz 3 GWB erreicht werden. Die Beteiligten an einem bereits vollzogenen Zusammenschluss haben daher allen Grund, der Auflösungsanordnung durch eine nachträgliche Anmeldung zur Einleitung eines Prüfungsverfahrens, das im ungünstigen Fall mit einer Untersagungsentscheidung enden kann, zuvorzukommen. 7. Gegen die Statthaftigkeit einer nachträglichen Anmeldung eines verbotswidrig vollzogenen Zusammenschlusses wird noch angeführt, dass damit der Abwehreffekt des Vollzugsverbots unterlaufen werde. Das kann jedoch nicht verfangen, weil auch dem Entflechtungsverfahren die Prüfung vorausgehen muss, ob die Untersagungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 GWB vorliegen. Außerdem ist schon der Verstoß gegen das Vollzugsverbot als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld bedroht (§ 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB), sodass eine erst nachträgliche Anmeldung keine beliebige Alternative bleibt, die beim inaktiven Zusammenschluss ohnedies entfällt. 8. Die an keiner Stelle ausgeschlossene nachträgliche Anmeldung eines vor Freigabe verbotswidrig vollzogenen Zusammenschlusses lässt dann noch die Frage offen, ob sich der verspätete Anmelder auf den Fristenlauf des § 40 GWB mit der Erlaubniswirkung des Abs. 1 und der Erlaubnisfiktion des Abs. 2 Satz 2 berufen darf. Der Gesetzgeber hat sich dem in der Regierungsbegründung zur 8. GWB-Novelle möglicherweise verschließen wollen.41 In den Änderungsbestimmungen der 8. GWB-Novelle hat diese Erwartung jedoch nirgends einen ausreichend bestimmten Niederschlag gefunden. Nach § 40 GWB führt jede Anmeldung, sei sie pflichtgemäß vor dem Vollzug (§ 39 Abs. 1 Satz 1 GWB) oder erst nacheilend nach Vollzug, zum Prüfungsverfahren nach § 40 GWB mit allen verfahrensund fristrechtlichen Vorgaben, das neben einem vom Bundeskartellamt von Amts wegen betriebenen Entflechtungsverfahren vorgreiflich für den Befund, ob Untersagungsvoraussetzungen vorliegen, bleiben muss. Das gebietet schon die unumgänglich notwendige Rechtssicherheit, der gerade mit dem Freigabeverfahren bei der Zusammenschlusskontrolle gedient werden soll.42 Dieses Rechtsschutzgebot kann nicht bereits mit der vordringlichen Erwägung verdrängt werden, dass es durch das Versäumnis der Beteiligten, vor Vollzug anzumelden, verwirkt sei.43 Dazu findet sich weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung zur geltenden Verfahrens41

BegrReg E, 8. GWB-Novelle, BT-Drucks. 17/9852, S. 31. Werner/Sachse, a.a.O., S. 1142/43; abweichend Kallfaß, a.a.O., § 39 Rn. 21. 43 Unter Bezug auf die Weichschaum III-Entscheidung des BGH vom 31.10.1978 WuW/E BGH 1556. 42

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regelung ein Bezugspunkt. Im Hinblick auf die unabhängig fortgeltende Bußgeldandrohung gegen das Versäumnis der Anmeldung vor Vollzug bleibt auch kein gesondertes Sanktionsanliegen. Außerdem besteht das Bedürfnis nach Rechtssicherheit auch nicht bei den Beteiligten allein, sondern erstreckt sich auf den gesamten Rechtsverkehr mit den durch den Zusammenschluss betroffenen Unternehmen.44

V. Nachträgliche Anmeldung inaktiver Zusammenschlüsse Die vorstehend begründete nachträgliche Anmeldebefugnis betrifft an erster Stelle die durch aktive rechtsgeschäftliche Erwerbsvorgänge nach § 37 GWB bewirkten Zusammenschlüsse. Nur sie können dem Vollzugsverbot unterliegen und der Unwirksamkeitsfolge ausgesetzt sein. 1. Umso mehr ist dann aber die nachträgliche Anmeldebefugnis für vollzogene Zusammenschlüsse einzuräumen, die eine vorausgehende Anmeldemöglichkeit schon gar nicht eröffneten und ohne bußgeldbewehrten Verstoß der Beteiligten vollzogen werden. Dem darf nicht entgegengehalten werden, dass gesetzlich an keiner Stelle eine Anmeldebefugnis für bereits vollzogene Zusammenschlüsse vorgesehen ist. Im Gegenteil gilt zwingend das Gleichstellungsargument: wenn es schon die gesetzliche Regelung ermöglicht, eine Zuwiderhandlung gegen das Vollzugsverbot zu vergeben und die drohende Unwirksamkeit durch die auf nachträgliche Anmeldung erfolgende Erlaubnis zu heilen, muss dieselbe Chance umso mehr den Beteiligten eines ohne ihr Zutun den Zusammenschlusstatbestand erfüllenden, dem Vollzugsverbot nicht unterliegenden und deshalb rechtswirksamen Erwerbsvorgangs eröffnet werden.45 Es wäre ungereimt, sie den Unwägbarkeiten eines nicht einmal unter Fristenzwang stehenden Entflechtungsverfahrens auszusetzen, während diejenigen, die das Unterlassen einer gebotenen Anmeldung zu vertreten haben, mit nachgeschobener Anmeldung „tätige Reue“ üben dürfen. 2. Verfahrensrechtlich lässt sich diese Befugnis – losgelöst vom Gleichstellungsargument – schon allein mit dem Bezug auf § 32 VerwVerfG untermauern. Danach könnten inaktiv am Zusammenschluss Beteiligte gegen die unverschuldete Verhinderung einer Anmeldung vor Vollzug die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen und das Bundeskartellamt in das Prüfungsverfahren nach § 39 GWB zwingen. 3. So bleibt den am inaktiven Zusammenschluss Beteiligten aus beiden vorgenannten Gründen die Entscheidungsfreiheit, den zugrundeliegenden Erwerbsvorgang nachträglich anzumelden, anzuzeigen oder ohne Nach44 45

Werner/Sachse, a.a.O., S. 1149. So auch Mäger in: MüKo GWB, § 41, Rn. 31.

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meldung darauf zu vertrauen, dass das Bundeskartellamt davon keine Notiz nimmt oder nach interner Einschätzung Untersagungsvoraussetzungen und damit zugleich Entflechtungsgebote ausschließt.46 Mit der auf nachträgliche Freigabe des Zusammenschlusses gerichteten Anmeldung können sich die Beteiligten den gewichtigen Gewinn von Rechtssicherheit angelegen sein lassen: a) Durch die Anmeldung wird mit der Eröffnung des in Zeitabständen aufeinanderfolgenden Vor- und Hauptprüfverfahrens der Fristenlauf in Gang gesetzt, der zu einer zeitnahen Klärung der Erlaubnisfähigkeit oder des Untersagungsgebots durch das Bundeskartellamt führt. Eine vergleichbare fristgebundene Entscheidung ist in dem von Fristabläufen befreiten Entflechtungsverfahren47 nicht erreichbar. Zugleich hindert die ausdrückliche oder die bei Fristablauf in beiden Verfahrensabschnitten fingierte Erlaubnis den Übergang in ein Entflechtungsverfahren. Außerdem wird durch die kartellamtliche Untersagung die Beantragung einer Ministererlaubnis ermöglicht und damit die schwierige Konstellation der Überwindung einer Auflösungsanordnung (§ 42 Abs. 3 Satz 1 GWB) vermieden. b) Ferner lässt die Anmeldung die Chance, durch die Erlaubniswirkung dem von dritten Wettbewerbern oder anderen Marktteilnehmern erhobenen Vorwurf eines materiell rechtswidrigen Zusammenschlusses auszuweichen und den von deren Seite zivilrechtlich verfolgten Schadensersatzansprüchen zu begegnen.48 c) Allein die Anmeldung kann im Rahmen eines damit ermöglichten Hauptprüfverfahrens auch den Weg öffnen, über Bedingungen und Auflagen einer Freigabeverfügung zu einer den Wettbewerbsumständen besser angepassten Entscheidung als zu einer Untersagung mit Entflechtungsfolge zu führen. d) Außerdem lässt die nachträgliche Anmeldung die dogmatisch umstrittene Frage, ob dem Entflechtungsverfahren eine Untersagungsverfügung vorauszugehen hat,49 dahingestellt. Sie führt zur Einleitung des Prüfverfahrens und blockiert bis zu dessen Abschluss das ohne Suspensiveffekt einer Beschwerde gefährliche Entflechtungsverfahren, das erst und nur dann in Gang kommt, wenn Untersagungsvoraussetzungen als vorliegend befunden werden.

46 Auch die im RefE zur 10. GWB Novelle vorgesehene Anzeigepflicht nach § 39 Abs. 6 erstreckt sich nicht auf inaktive Zusammenschlusstatbestände. 47 BegrReg. Entw. 8. GWB-Novelle; Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 63. 48 vgl. Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 73. 49 Thomas, a.a.O., § 41 Rn. 69, 80.

Die Kontrolle von Zusammenschlüssen mit inaktiven Beteiligten

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VI. Folgerungen Aus den vorstehenden Fragestellungen und Überlegungen lässt sich als Ergebnis zusammenfassen: 1. Auch solche Zusammenschlüsse, die nicht auf von den Beteiligten gewollten Erwerbsvorgängen beruhen, unterliegen der Zusammenschlusskontrolle. 2. Nicht auf dem Zutun der Beteiligten beruhende Zusammenschlüsse lassen sich als „inaktive“ bezeichnen und einordnen. In den Kontrollbestimmungen des GWB werden sie übergangen. 3. Typische inaktive Zusammenschlüsse stellen sich in Erbfällen, aus Veränderungen gesellschaftsrechtlicher Beziehungen sowie aus Hoheitsakten des Gesetzgebers oder der Verwaltung ein. 4. Inaktive Zusammenschlüsse vollziehen sich ohne Ein- oder Mitwirkung der an ihnen Beteiligten und entziehen sich somit einem Vollzugsverbot und der mit dessen Verletzung verknüpften Unwirksamkeit. 5. Es obliegt dem Bundeskartellamt, auch derartige inaktive Zusammenschlüsse auf ihre Vereinbarkeit mit den an den Zielen einer freien Wettbewerbswirtschaft ausgerichteten Untersagungsgründen des § 36 Abs. 1 GWB zu prüfen. Es ist bei deren Vorliegen gehalten, die Unwirksamkeit der den Kontrollvorschriften des GWB nicht genügenden – auch der auf einem dem GWB nachrangigen Gesetz oder Hoheitsakt beruhenden – Zusammenschlüsse festzustellen oder deren Auflösung zu betreiben. 6. Die am inaktiven Zusammenschluss Beteiligten können auf dessen gesicherten Fortbestand drängen, indem sie a) den erfolgten Zusammenschluss nachträglich anmelden und die Freigabe in der Form anstreben, dass das Nichtvorliegen von Untersagungsvoraussetzungen festgestellt oder bei Fristenablauf fingiert wird; oder b) ohne eigene Nachmeldung oder auf bloße Anzeige im von Amts wegen geführten Entflechtungsverfahren vom Nichtvorliegen von Untersagungsvoraussetzungen überzeugen; oder c) gegen einen Untersagungs- oder Auflösungsbescheid des Bundeskartellamts im Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahren gerichtliche Hilfe suchen und/oder d) einem Untersagungs- oder Auflösungsbescheid mit dem Antrag auf Ministererlaubnis nach § 42 GWB begegnen und deren Verweigerung im gesonderten Beschwerdeweg angreifen. 7. Das Bundeskartellamt ist gehalten, sein Merkblatt zur deutschen Fusionskontrolle auf die Behandlung auch der inaktiven Zusammenschlussfälle zu ergänzen und für diese auch die Möglichkeit zur nachträglichen Anmeldung nach Vollzug zu eröffnen.

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K. Peter Mailänder

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Effektive Konzernsteuerung in internationalen Gruppen Effektive Konzernsteuerung in internationalen Gruppen Thomas Meyding und Simon C. Kirchner

Effektive Konzernsteuerung in internationalen Gruppen – ein Fall für Legal Tech? THOMAS MEYDING

UND

SIMON C. KIRCHNER

I. Einleitung und Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Überlegungen zur Konzernsteuerung . . . . . . 1. Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Instrumentarium einer Konzernsteuerung . . . . . . . . 3. Die Implementierung der Instrumentarien der Konzernsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Implementierung ist kein Fall der Business Judgement Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Besondere Herausforderungen bei mehrstufigen, internationalen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriterien für die Effizienz einer Konzernkontrolle . . . . . 2. Analyse der Situation bei den deutschen Konzerngesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analyse der Situation bei ausländischen Konzerngesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ein Check-up mittels Legal Tech . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung und Ausgangssituation

1. Einleitung Dem Jubilar, Prof. Dr. Roderich C. Thümmel, LL.M. (Harvard), liegt das Schicksal von Geschäftsleitern (insbesondere mittelständischer Unternehmen) sehr am Herzen. Er hat sich mit diesem Themenkomplex in einer Viel-

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Thomas Meyding und Simon C. Kirchner

zahl von wissenschaftlichen Beiträgen beschäftigt1, aber auch regelmäßig Geschäftsleiter in schwierigen Situationen kompetent beraten. Dieser Beitrag befasst sich mit einem Thema, das jede Unternehmung beschäftigen sollte, die aus mehr als einer Gesellschaft besteht: Die effektive Konzernsteuerung. Über dieses Thema wurde in jüngerer Zeit viel im Zusammenhang mit der Verantwortung von Geschäftsleitern bei Compliance-Verstößen in Konzernen publiziert.2 Auch die Verantwortung und Rollenverteilung in Konzernen mit einer Matrix-Struktur sowie arbeitsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Durchgriff von Matrix-Managern auf Mitarbeiter von Beteiligungsgesellschaften sind häufig Gegenstand von Beiträgen gewesen.3 Diese Fragen sind jedoch nicht Gegenstand dieser Abhandlung. Der Aufsatz befasst sich vielmehr mit einer in der wissenschaftlichen Debatte bisher stiefmütterlich behandelten, aber praxisrelevanten Thematik: Wie kann eine effektive Konzernsteuerung bei Konzerngesellschaften in praktischer Hinsicht implementiert werden und welche Rolle fällt dabei dem Geschäftsleiter eines nachgeordneten Unternehmens zu. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, ob der Einsatz neuer Technologien ein probates Mittel zur Überprüfung der Effizienz und Effektivität der Konzernsteuerung sein kann. 2. Ausgangssituation a) Viele mittelständische Unternehmen sind im Zuge der Globalisierung stark gewachsen, haben im In- und Ausland Tochtergesellschaften gegründet, Zukäufe getätigt und sich auf diese Weise zu international agierenden Unternehmensgruppen entwickelt. b) Das folgende fiktive Familienunternehmen soll zur Veranschaulichung dienen:

1 Vgl. exemplarisch, aber nicht abschließend, Thümmel Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten – Haftungsrisiken bei Managementfehlern, Risikobegrenzung und D&O-Versicherung, 5. Aufl. 2016; Thümmel in Festschrift Geimer, 2002, S. 1331 ff.; Burkhardt/Thümmel AG 2009, 885; Thümmel CCZ 2008, 141; Thümmel DB 2004, 471; Thümmel BB 2002, 1105; Thümmel DB 2000, 461; Thümmel PHi 1998, 29; Thümmel DB 1997, 261; Thümmel DB 1995, 2461; Sparberg/Thümmel DB 1995, 1013. 2 Vgl. nur Schockenhoff ZHR 2016, 197; Verse ZHR 2011, 401. 3 Vgl. hierzu näher Maschmann NZA 2017, 1557; Schauf BB 2017, 2883; Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229; Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 91; Bauer/Herzberg NZA 2011, 713; Wisskirchen/Dannhorn/Bissels DB 2008, 1139; Wisskirchen/Bissels DB 2007, 340.

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Konzernstruktur – Übersicht

Die Konzernholding (TopCo) ist in der Rechtsform einer GmbH organisiert. Das Unternehmen befindet sich ausschließlich in Familienhand. Die Geschäftsführung der TopCo besteht aus zwei Familienmitgliedern sowie einem neu bestellten Fremdgeschäftsführer. Daneben existiert ein Beirat, der sich ebenfalls aus zwei Familienmitgliedern und einem Dritten zusammensetzt. Der Beirat hat für die Geschäftsführung eine Geschäftsordnung erlassen. In dieser Geschäftsordnung sind bestimmte Maßnahmen aufgeführt, die der vorherigen Zustimmung des Beirats bedürfen, unter anderem der Erwerb von Unternehmen oder Unternehmensteilen, der Erwerb von Grundstücken, die Abgabe von Bürgschaften und Garantien für Dritte. Wie in der Praxis üblich, findet sich am Ende des Katalogs zustimmungsbedürftiger Maßnahmen ein „unschuldig anmutender“ Halbsatz, wonach diese Maßnahmen auch dann der Zustimmung bedürfen, sofern diese bei Gesellschaften ergriffen werden sollen, an denen die TopCo unmittelbar oder mittelbar mehrheitlich beteiligt ist. Die TopCo hält aus historischen Gründen eine Deutschland-GmbH (MidCo D), die zu 100% an einer deutschen AG (D-AG) beteiligt ist. Daneben gibt es eine Auslandszwischenholding in der Rechtsform der GmbH (MidCo A), die Tochtergesellschaften (SubCo A, B, C etc.) im Ausland hat, und insbesondere in nahezu allen europäischen Ländern, so unter anderem in Belgien, Deutschland und der Schweiz. c) Der neu von außen hinzugestoßene Fremdgeschäftsführer regt an, die gegenwärtige Konzernsteuerungsstruktur auf den Prüfstand zu stellen und zu überlegen, ob Wege existieren, den Konzern einheitlicher und besser zu steuern. Da er auch Geschäftsführungspositionen bei der MidCo A und den Enkelgesellschaften in der Schweiz und Belgien übernehmen soll, sind ihm auch diese Positionen ein besonderes Anliegen.

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II. Allgemeine Überlegungen zur Konzernsteuerung 1. Rechtsform a) Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der Gesellschaft, an der die Familie unmittelbar beteiligt ist (TopCo), und den Beteiligungsgesellschaften, an denen die TopCo unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist. Grundsätzlich kommt für die TopCo die Rechtsform der Kapitalgesellschaft oder der Personengesellschaft in Betracht. Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Gesellschaftsform erfolgt bei Familienunternehmen häufig unter Berücksichtigung von steuerlichen Überlegungen, insbesondere auch von erbschaftssteuerlichen Aspekten. Zahlreiche Veröffentlichungen befassen sich mit der Ausgestaltung der Corporate Governance einer Familiengesellschaft.4 Die Herausforderung für jedes Familienunternehmen besteht darin, eine geeignete Familienverfassung zu erarbeiten, die das richtige Maß an Einfluss der Familie vorsieht und gleichzeitig eine langfristige effiziente Unternehmensführung ermöglicht. Dabei sind viele Aspekte zu bedenken und mögliche Entwicklungen über mehrere Generationen hinweg vorzudenken. Hierbei gilt nicht „one size fits all“, sondern vielmehr: je aktiver und intensiver ein generationenübergreifender Austausch stattfindet, um so tragfähiger ist die Familienverfassung. Auch hiermit befasst sich dieser Beitrag nicht. b) Denn nicht die TopCo ist Gegenstand dieses Aufsatzes, sondern die Gesellschaften, die es zu managen, d.h. zu steuern, gilt. Ausgangspunkt für eine effektive Konzernsteuerung ist die Rechtsform der jeweiligen Konzerngesellschaft. In Betracht kommt zunächst die Rechtsform einer Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft. Wie nachfolgend noch näher beleuchtet wird, ist dies in erster Linie nicht eine Frage der Rechtsform, sondern eine Frage der Organe, die eine Gesellschaft hat und die bei bestimmten Gesellschaftsformen oder aus Gründen der Mitbestimmung zwingend vorgeschrieben sind. Die Entscheidung über die Rechtsform fällt regelmäßig nicht unter Konzernsteuerungsgesichtspunkten, sondern unter Einbeziehung verschiedener Aspekte, insbesondere steuerlicher Gründe, sowie unter Berücksichtigung von Reputation und Haftungsabschirmung. c) Fällt die Entscheidung bei einer Konzerngesellschaft zugunsten der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, stehen in Deutschland in erster Linie die Rechtsform einer Aktiengesellschaft oder die Rechtsform einer 4 Vgl. zur Corporate Governance und Family (Business) Governance bei Familiengesellschaften etwa Ebner/Schmidt CB 2019, 470; Sanders NZG 2017, 961; Koeberle-Schmid/ Schween/May BB 2011, 2499; Koeberle-Schmid/Groß/Lehmann-Tolkmitt BB 2011, 899; Kirchdörfer/Lorz FuS 2011, 97; Lange BB 2005, 2585; Stengel Prinz/Hoffmann, Beck’sches Hdb. Personengesellschaften, 4. Aufl. 2014, § 16 Rn. 6 f.

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Gesellschaft mit beschränkter Haftung zur Verfügung. Aus Konzernsteuerungssicht ist der direkte Zugriff des unmittelbaren oder mittelbaren Gesellschafters auf die Geschäftsführung der entsprechenden Konzerngesellschaft entscheidend. Die Rechtsform der GmbH lässt dies zu. Den Gesellschaftern steht als Ultima Ratio ein umfassendes Weisungsrecht zu (§ 37 Abs. 1 GmbHG).5 Dies schließt alle schwächeren Steuerungsinstrumente, wie den Erlass eines Katalogs zustimmungsbedürftiger Geschäfte und die Einführung von Berichtspflichten ein. Ein derartiges Weisungsrecht ist bei einer Aktiengesellschaft grundsätzlich nicht möglich. Die Hauptversammlung wählt die Mitglieder des Aufsichtsrats. Die Mitglieder des Aufsichtstrat sind weisungsungebunden. Der Aufsichtsrat bestellt und beruft den Vorstand ab. Der Vorstand seinerseits ist ebenfalls weisungsungebunden. Die Steuerung des Vorstands erfolgt insbesondere über die Festlegung von zustimmungsbedürftigen Geschäften, wobei die Zustimmung grundsätzlich dem Aufsichtstrat vorbehalten ist. Der Hauptaktionär kann den Vorstand nur mittels eines Beherrschungsvertrages (§ 291 i.V.m. § 308 AktG) anweisen. Ohne einen derartigen Unternehmensvertrag hat der Hauptaktionär auch im faktischen Konzern keinen direkten Durchgriff auf den Vorstand.6 Die Rechtsform der Aktiengesellschaft ist daher der Rechtsform der GmbH als Konzerngesellschaft strukturell unterlegen.7 Dies liegt im Wesentlichen daran, dass neben der Hauptversammlung ein weiteres Organ existiert, der Aufsichtsrat, und die Mitglieder des Aufsichtsrats weisungsungebunden und nur dem Wohl des Unternehmens verpflichtet sind. Sie haften darüber hinaus dem Unternehmen der Aktiengesellschaft für ihre Tätigkeit (§ 116 i.V.m. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG).8 Daher müssen sie sich „einen eigenen Kopf machen“ und können sich nicht darauf beschränken, nur die Interessen des Aktionärs durchzusetzen. d) Verallgemeinernd lässt sich hieraus folgern, dass eine Rechtsform aus Konzernsteuerungssicht immer dann problematisch ist, wenn zusätzliche Gremien existieren, die dem Gesellschafter den Durchgriff auf die Geschäftsleitung versperren. In Deutschland lassen damit die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und Personengesellschaften (regelmäßig in der Rechtsform der GmbH & Co. KG) bis zur Grenze der Mitbestimmung einen direkten Zugriff des Gesellschafters auf die Geschäftsleitung zu. e) Kommt in Deutschland der Abschluss eines Beherrschungsvertrags nicht in Betracht, behilft sich die Praxis bisweilen mit einer personellen Ver5 Vgl. Paefgen Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG Großkommentar, 2. Aufl. 2014, § 37 Rn. 33 ff. 6 Vgl. Schüppen Schüppen/Schaub, Münchener Anwaltshdb. AktR, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 21; Altmeppen MüKo AktG, 4. Aufl. 2015, § 308 Rn. 6. 7 Vgl. eingehender zu den Vorteilen der GmbH als Konzerngesellschaft Liebscher MüKo GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anh. zu § 13 Rn. 9. 8 Habersack MüKo AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 Rn. 1.

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flechtungen.9 Regelmäßig scheidet aus, dass die Mitglieder des Beirats der TopCo Mitglieder des Aufsichtsrats in der Konzerngesellschaft (etwa der D-AG in obigem Beispielsfall) werden. Denn dies würde zu dem eigenartigen Ergebnis führen, dass diese Personen der Geschäftsleitung (Geschäftsleitung von TopCo und MidCo D) gegenüber verantwortlich sind und von ihr beaufsichtigt werden, obwohl sie diese im Rahmen ihrer Tätigkeit in der TopCo selbst (mittelbar) beaufsichtigen. Diese Verantwortungsentlastung der Geschäftsleitung der TopCo ist weder wünschens- noch erstrebenswert. Die Geschäftsleitung soll die Geschäfte der Unternehmensgruppe führen und überwachen. Vor diesem Hintergrund behilft man sich mit folgender personenidentischen Besetzung: Die Mitglieder der Geschäftsleitung der TopCo werden Mitglieder des Aufsichtsrats der D-AG. Allerdings ist auch diese Konstellation nicht unproblematisch. Denn diese Personen sind einer latenten Interessenskollision derart ausgesetzt, dass sich stets die Frage stellt, inwieweit sie in ihrer Doppelfunktion als Aufsichtsrat und Mitglied der Geschäftsleitung des Aktionärs im Interesse der D-AG entscheiden wollen und können.10 Darüber hinaus bedeutet diese Position, dass die Doppelfunktionsträger in ihrer Eigenschaft als Aufsichtsräte in Beteiligungsunternehmen, die in nach Compliance-Maßstäben kritischen Regionen tätig sind, ein Haftungsrisiko für Compliance-Verstöße dieser Enkelgesellschaften übernehmen.11 Zusätzlich sind auch steuerliche Konsequenzen zu bedenken, da eine ssolche Personenidentität unter Umständen zu einer steuerlichen Organschaft führen kann.12 Derartige personelle Verflechtungen sind regelmäßig getreu dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“ so lange unproblematisch, als die Aktiengesellschaft fest in das Familienunternehmen eingebettet ist. Treten aber Veränderungen ein, beispielsweise wenn über das Vermögen der Aktiengesellschaft nach einer möglichen Veräußerung das Insolvenzverfahren eröffnet wird, kommen dritte Personen (der Insolvenzverwalter) ins Spiel, die aus Sicht der insolventen Aktiengesellschaft prüfen, ob alle Organmitglieder ordnungsgemäß und zum Wohle der Aktiengesellschaft gehandelt haben.13 Daher sollten solche „Behelfslö9 Näher dazu Bayer MüKo AktG, 5. Aufl. 2019, § 18 Rn. 54; Habersack Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 Rn. 28; Altmeppen MüKo AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 Rn. 94 m.w.N. 10 Vgl. Habersack Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 Rn. 28; zum Konfliktpotenzial bei (Vorstands)doppelmandaten siehe Fleischer Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 107 ff. 11 Zur Haftung von Doppelmandatsträgern im Konzern Fleischer Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 110a m.w.N. 12 Dazu etwa Sterzinger GWR 2011, 565, 566; Steiner NZG 2011, 1413, 1415 f.; Radeisen SteuK 2009, 99, 100. 13 Vgl. Fleischer Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rn. 107 m.w.N.

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sungen“ immer auch einer kritischen Überprüfung durch Dritte standhalten. 2. Das Instrumentarium einer Konzernsteuerung In vielen Familienunternehmen, die insbesondere noch von den Gründern oder der zweiten Generation geführt werden, entscheidet die Familie in der Geschäftsführung direkt und jeder im Unternehmen weiß, dass er nur mit Zustimmung der Familie bestimmte Dinge umsetzen darf. Zwischenebenen werden übersprungen und relevante Informationen fließen unmittelbar an den Letztentscheider, häufig sind dies die Seniorin oder der Senior oder (einzelne) geschäftsführende Familienmitglieder. Mit fortschreitender Internationalisierung und Größe des Familienunternehmens steigt die Komplexität der Gruppe und es wird zunehmend schwerer für eine Person, die gesamten Konzernvorgänge im Blick zu haben. Regelmäßig werden dann erste Überlegungen angestellt, wie die Organisationsstruktur den tatsächlichen Gegebenheiten und der expandierenden Größe der Gruppe angepasst werden kann. Es werden Kataloge zustimmungsbedürftiger Geschäfte erarbeitet, die sinnvollerweise nicht „von der Stange“ sind, sondern neben den allgemeinen und immer vorzufindenden Maßnahmen auch das typische Risikoprofil der Unternehmensgruppe reflektieren und die Maßnahmen auflisten, die aus Sicht der Unternehmensgruppe von erheblicher Bedeutung sind. Diese präventive Kontrolle wird – rechtsformabhängig – durch ein aktives Weisungsrecht der Gesellschafter ergänzt.14 Flankiert wird diese Kontrolle schließlich durch Informationsund Berichterstattungspflichten. Hier bietet das Aktiengesetz einen bunten Strauß an unterschiedlichen Berichtspflichten. Gruppeninterne Berichtspflichten bei Unternehmensgruppen, die nicht in der Rechtsform der AG organisiert sind, orientieren sich häufig in Struktur und Inhalt an den Leitlinien des Aktiengesetzes. Exemplarisch sind hier die Regelberichterstattung (§ 90 Abs. 1 AktG) sowie die Sonderberichterstattung (etwa § 90 Abs. 3 AktG) zu nennen. Konkreter Inhalt und Häufigkeit der Berichterstattung sollten sich auch nach dem Risikoprofil der Unternehmensgruppe richten. 3. Die Implementierung der Instrumentarien der Konzernsteuerung In obigem Beispiel haben die Gesellschafter der TopCo sich entschieden, die Entscheidung über zustimmungsbedürftige Maßnahmen dem Beirat zu übertragen, und zwar sowohl die Festlegung des Katalogs als auch die Erteilung der Zustimmung selbst. Der Beirat hat daraufhin eine Geschäftsordnung erlassen. Diese Geschäftsordnung hat konzernweite Relevanz, da sie auch für 14

Vgl. oben II. 1. c).

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alle Beteiligungsgesellschaften gelten soll.15 Die Geschäftsleitung der TopCo ist gegenüber dem Beirat dafür verantwortlich, dass die Maßnahmen, die zustimmungsbedürftig sind, auch bei jeder Konzerngesellschaft nur durchgeführt werden, wenn zuvor der Beirat zugestimmt hat. Das Instrumentarium der Konzernsteuerung (insb. ein Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte, Berichtserstattung und Weisungsrechte) ist vielfältig. Die Geschäftsordnung kann auf unterschiedliche Weise im Konzern implementiert werden und so unmittelbar für die einzelnen Konzerngesellschaften gelten. a) Gesellschaftsvertrag Die Zustimmungsvorbehalte können in der Verfassung des Unternehmens, dem Gesellschaftsvertrag, verankert werden.16 Vorteil ist, dass sie damit für alle Beteiligten verbindlich festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob der Einzelne sich damit ausdrücklich einverstanden erklärt. Gleichwohl sind hiermit nicht zu unterschätzende Nachteile verbunden, da jede Änderung des Katalogs zustimmungsbedürftiger Geschäfte auch einer – mitunter zeit- und kostenintensiven – Anpassung des Gesellschaftsvertrags bedarf (vgl. §§ 53, 54 GmbHG). Zudem ist der Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte bei Kapitalgesellschaften auch für Dritte einsehbar. Aus diesen Gründen werden in der Praxis – wenn überhaupt – nur ganz außergewöhnliche und wichtige Grundlagengeschäfte im Gesellschaftsvertrag mit der Möglichkeit verankert, dass die Gesellschafterversammlung oder der Beirat bestimmen kann, dass zusätzliche Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen. b) Dienstvertrag Daneben gibt es auch die Möglichkeit, den Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte direkt in den Dienstverträgen der einzelnen Geschäftsleiter zu verankern.17 Dies war in früheren Jahren nicht unüblich. Sofern keine anderweitigen vertraglichen Vorkehrungen getroffen sind, ist an dieser Lösung indes problematisch, dass jede Änderung des Katalogs zustimmungsbedürftiger Rechtsgeschäfte eine Änderung des Anstellungsvertrags bedeutet und daher eine Einigung mit dem Geschäftsführer voraussetzt.18 Damit können die Geschäftsführer über die Umsetzungsgeschwindigkeit bei Anpassungen der 15 Im Sinne einer Konzernrichtlinie stellt die Geschäftsordnung eine allgemeine und konzernweit geltende Handlungsanweisung dar, vgl. Liebscher MüKo GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anh. zu § 13 Rn. 1199. 16 Paefgen Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG Großkommentar, 2. Aufl. 2014, § 37 Rn. 34. 17 Vgl. zur Implementierung einer Richtlinie in Anstellungsverträgen von Arbeitnehmern etwa Timmerbeil/Spachmüller CB 2013, 221, 224. 18 Vgl. auch Timmerbeil/Spachmüller CB 2013, 221, 224.

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Konzernsteuerung mitentscheiden. Dies spricht regelmäßig gegen diese Lösung, es sei denn, es werden vertragliche Vorkehrungen getroffen. c) Beschluss der Gesellschafterversammlung Außerhalb des Gesellschaftsvertrags können die Gesellschafter auch unmittelbar einen Katalog von Maßnahmen beschließen, die nicht ohne ihre Zustimmung durchgeführt werden dürfen. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Gesellschaft über kein zusätzliches Aufsichtsgremium verfügt, weder aufgrund Rechtsform (Aktiengesellschaft), noch aufgrund mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben oder aufgrund einer Entscheidung der Gesellschafter (die in diesem Fall auch revidiert werden kann). In Deutschland kommen hier regelmäßig GmbH und GmbH & Co. KG in Betracht. Vorteil ist, dass die Gesellschafter diesen Katalog jederzeit ändern können. Allerdings führt eine Änderung auf Ebene der TopCo auf Ebene jeder Konzerngesellschaft zu Handlungsbedarf, es sei denn, es werden anderweitige Vorkehrungen getroffen.19 d) Zuständigkeit für die Zustimmungserteilung Wenden wir uns nun der Frage zu, wer eigentlich die Zustimmung erteilen muss. Im Ergebnis ist dies klar. Letztlich liegt die Entscheidung bei dem Beirat der TopCo für die Maßnahmen, die seiner Zustimmung bedürfen. Es fragt sich, welche Möglichkeiten bestehen, diese Zustimmung einzuholen. aa) Hat sich der Beirat die Zustimmung vorbehalten, und steht eine entsprechende Maßnahme bei einer Konzerngesellschaft an, so muss bei einem mehrstufigen Konzernaufbau die jeweilige Maßnahme von der jeweiligen Konzerngesellschaft bis zur Ebene der TopCo durchexerziert werden und dann nach einer Erteilung der Zustimmung durch den Beirat die Zustimmung von oben nach unten kaskadenartig erteilt werden. Dabei sind die jeweiligen Formalitäten für derartige Zustimmungsprozesse zu beachten. Dies bedeutet einen erheblichen administrativen Aufwand und benötigt auch Zeit. Mikromanagement führt hier zur Handlungsunfähigkeit auf nachgelagerten Konzernstufen. Der Katalog zustimmungsbedürftiger Maßnahmen, die der Zustimmung des Beirats der TopCo bedürfen, sollten sich folglich auf wesentliche Maßnahmen beschränken. bb) Häufig wollen Unternehmensgruppen schneller reagieren können und auch den administrativen Aufwand reduzieren. Sie suchen Lösungen, wonach die Zustimmungserteilung an bestimmte Personen oder Funktionen geknüpft wird, also nicht an die Zustimmung des jeweiligen Gesellschafters. Dies findet insbesondere in einer sog. Matrix-Struktur Anwendung, also einer konzernübergreifenden Organisationsstruk19

Vgl. dazu sogleich, II. 3. f). und g).

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tur.20 Hier hat sich als ein probates Mittel bewährt, dass in dem Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte ebenfalls festgelegt wird, dass eine bestimmte Person, ein Dritter, die Zustimmung erteilen kann. Dritter kann die Geschäftsführung des Gesellschafters einer Konzerngesellschaft, ein Mitglied der Geschäftsleitung der TopCo oder ein (aus Sicht der betroffenen Konzerngesellschaft) sonstiger konzerninterner Dritter, d.h. häufig ein Mitarbeiter einer Schwestergesellschaft (oft ein sog. Matrix-Manager21) sein. Häufig haben international agierende mittelständische Unternehmensgruppen im Ausland sog. Zebragesellschaften. Bei einer Zebragesellschaft als Konzerngesellschaft befinden sich unter einem Dach mehrere Geschäftsbereiche, die auf Ebene der TopCo von unterschiedlichen Geschäftsführern verantwortet werden. Hier kommt in Betracht, verschiedene Dritte vorzusehen, die jeweils für die Erteilung der Zustimmung – bezogen auf einen bestimmten Geschäftsbereich – verantwortlich sind. Diese Gestaltung bedeutet aber auch, dass – bis auf die Geschäftsleitung der TopCo – die jeweiligen Geschäftsleitungen der betroffenen Gesellschaft und der unmittelbaren und mittelbaren Gesellschafter nicht gefragt werden müssen und daher nicht involviert sind. e) Delegation von Geschäftsleitungsfunktionen / Funktionale Berichterstattung Dieses soeben skizzierte Vorgehen wirft die Frage auf, ob der Zustimmungsvorbehalt des – aus Sicht der betroffenen Gesellschaft – eingeschalteten Dritten (etwa eines Matrix-Managers) eine derartige Machtkonzentration zu Lasten der Geschäftsleitung der jeweiligen Konzerngesellschaft und der unmittelbaren und mittelbaren Gesellschafter bewirken sollte, dass diese gleichsam „entmündigt“ werden. Diese Gefahr besteht insbesondere in Matrix-Strukturen, wenn sämtliche Geschäftsleitertätigkeiten auf unternehmensexterne Matrix-Manager verteilt werden. Damit einher geht oftmals eine sog. funktionale Berichterstattung, wobei die Informationen unmittelbar von der Enkel- an die Großmuttergesellschaft fließen (bzw. Weisungen in umgekehrter Reihenfolge). Informationen und Weisungen werden also entlang der organisatorischen statt der rechtlichen Struktur (sog. dotted line statt solid line) weitergegeben. Die Geschäftsleitung der Konzerngesellschaft und des unmittelbaren und mittelbaren Gesellschafters ist oftmals von jeglichem Informationsfluss abgeschnitten (in unserem Fall die Geschäftsleitung von SubCo und MidCo bei einer funktionalen Berichterstattung zwischen

20

Zum Begriff der Matrix-Struktur vgl. instruktiv Liebscher MüKo GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anh. zu § 13 Rn. 149 ff.; Schockenhoff ZHR 2016, 197, 198 ff.; Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229. 21 Vgl. zur begrifflichen Einordnung Schockenhoff ZHR 2016, 197, 199.

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der TopCo und einer SubCo).22 Problematisch ist, dass dies keinen Einfluss auf die Haftung der Geschäftsleitung der Konzerngesellschaft hat, da sie rechtlich verantwortlich bleibt, auch wenn sich ihr Einfluss auf den Geschäftsbetrieb faktisch verringert oder nicht mehr besteht.23 Die Geschäftsleitung der jeweiligen Konzerngesellschaft trifft stets eine nicht durch die Business Judgement Rule privilegierte sog. Legalitätspflicht, d. h. sie muss dafür Sorge tragen, dass die Gesetze in ihrer Gesellschaft eingehalten werden.24 Das legt den Gedanken nahe, dass der Geschäftsführung der Konzerngesellschaft jedenfalls ein gewisser Kernbereich an zwingenden Zuständigkeiten verbleiben muss. Eine funktionale Berichterstattung, die eine effiziente und straffe Konzernorganisation ermöglichen soll, ist damit jedoch nicht ohne weiteres vereinbar. Da die Geschäftsleitung verpflichtet ist, Weisungen zu befolgen (vgl. § 37 Abs. 1 GmbHG), bedeutet der Umweg über den Geschäftsführer der Zwischen-Konzerngesellschaft (MidCo D) eine unnötige Komplexität.25 Es ist darauf zu achten, dass auch wenn die Zuständigkeiten der Geschäftsführung entlang der Reporting Lines delegiert werden – sogar soweit, dass dieser schließlich nur noch die Rolle eines „Hausmeisters“ zukommt – die Weisungsrechte nicht vollständig auf unternehmensfremde Dritte übertragen werden und die Weisungsrechte sich auf fest umrissene Bereiche beziehen.26 Die Geschäftsleitung der Konzerngesellschaft bleibt somit, auch wenn die bevollmächtigten Dritten im Rahmen der funktionalen Berichterstattung mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet werden können, nicht gänzlich aufgabenlos. Vielmehr verläuft die Grenze der funktionalen Berichterstattung entlang der Grenze der Delegationsbefugnis der Geschäftsführer, sodass bestimmte (rein formale und gesellschaftsbezogene) Pflichten, wie beispielsweise Pflichten gegenüber dem Handelsregister (§§ 7, 57 GmbHG), die Pflicht zur Kapitalerhaltung (§ 30 GmbHG), die Einberufungspflicht zu Gesellschafterversammlungen (§ 49 GmbHG) oder die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO), bei der Geschäftsleitung verbleiben.27 Sie muss zudem, auch wenn die Berichtswege an ihr vorbei führen, dafür Sorge tragen, dass sie ihrer Legalitätspflicht und ihren sonstigen nicht delegierbaren Pflichten nachkommt, was beispielsweise ein 22

Schockenhoff ZHR 2016, 197, 199; vgl. auch Liebscher MüKo GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anh. zu § 13 Rn. 151; Wisskirchen/Dannhorn/Bissels DB 2008, 1139 ff. 23 Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229, 238 m.w.N.; Schockenhoff ZHR 2016, 197, 199; vgl. auch Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 105 f. 24 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 203; vgl. auch Verse ZHR 2011, 401, 403 ff. 25 Vgl. Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 100 f.; zur Situation der Aktiengesellschaft bei konzernweiter funktionaler Berichterstattung vgl. Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 108 ff. und Verse ZHR 2011, 401, 419 ff. 26 Vgl. Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 97 ff., 106; vgl. auch Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229, 233 ff. 27 Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 101 ff.

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entsprechendes Informationssystem oder geeignete Kontrollen erforderlich machen kann, um etwa von compliance-relevanten Sachverhalten zu erfahren.28 Ebenfalls abgeschnitten sind die Geschäftsleitungen des unmittelbaren Gesellschafters und der mittelbaren Geschäftsleitungen, weshalb bei dieser Gestaltung sicherzustellen ist, dass Zustimmungen durch die zuständigen Personen auch für die jeweiligen Geschäftsleitungen gelten. Die Verantwortlichkeit dieser Geschäftsleitungen des unmittelbaren und des mittelbaren Gesellschafters „reduziert“ sich dann darauf, zu überwachen, dass die entsprechenden Vorgaben auch umgesetzt werden. Dies würde beispielsweise im Falle einer Weisung der TopCo an eine SubCo im Wege der funktionalen Berichterstattung bedeuten, dass die Geschäftsleitungen der SubCo und der MidCo für die Ausführung der Weisung zu sorgen haben. Um die Geschäftsleitung der Konzerngesellschaft vor dem Dilemma zu bewahren, dass sie für sorgfaltswidrige Geschäfte (etwa einen Verstoß gegen die Legalitätspflicht) haftet, die zwar mit ihrem Wissen stattfanden, ohne dass sie indes mangels Entscheidungsbefugnis hätte eingreifen können, sind strukturelle und vertragliche Möglichkeiten der Enthaftung denkbar.29 In struktureller Hinsicht können zunächst die verschiedenen Ressorts jeweils bestimmten Personen (etwa im Rahmen einer Geschäftsordnung) zugewiesen werden, wodurch der Geschäftsleitung die Ressortzuständigkeit abgenommen und das Haftungsrisiko reduziert wird.30 All diese Maßnahmen schließen die Haftungsrisiken jedoch nicht gänzlich aus und sind in der Praxis oft ohnehin nicht gewollt.31 Erfolgversprechender und einfacher umzusetzen sind dagegen vertragliche Haftungserleichterungen, Freistellungsvereinbarungen oder der Abschluss einer D&O-Versicherung.32 f) Inhalt des Steuerungsinstrumentariums Neben der Frage, wie das Konzernsteuerungsinstrumentarium am sinnvollsten im Konzern etabliert werden kann und wer im Einzelfall für die Erteilung der Zustimmung bei zustimmungsbedürftigen Geschäften zuständig 28 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 215; Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 102. 29 Vgl. Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229, 238; Wieneke VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2010, 2011, S. 101 f. und 105, wonach die Geschäftsführung stets die Weisungen überwachen und die Möglichkeit haben muss, die funktionale Berichterstattung – außer bei der Ein-Personen-GmbH – zu kündigen. 30 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 216; Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229, 241 ff. Eventuell können auch in der Satzung Zustimmungserfordernisse für bestimmte Maßnahmen des bevollmächtigten Dritten (z. B. Matrix-Manager) vorgesehen, Beherrschungsverträge abgeschlossen oder eine Compliance-Organisation konzernweit etabliert werden, vgl. näher Schockenhoff ZHR 2016, 197, 215 ff. 31 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 219. 32 Dazu Schockenhoff ZHR 2016, 197, 220 ff.; Seibt/Wollenschläger AG 2013, 229, 242.

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ist, stellt sich auch die Frage nach dem konkreten Inhalt des Konzernsteuerungsinstruments. Üblicherweise wird auf einen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte mit entsprechenden Berichtspflichten rekurriert, der auf Ebene der TopCo von dem Aufsichtsgremium (hier dem Beirat) verabschiedet und dann von der Geschäftsleitung der TopCo auf den nachgelagerten Konzernstufen implementiert wird. Dies hat zur Folge, dass jede Änderung des Katalogs auf TopCo-Ebene Anpassungsbedarf bei jeder Konzerngesellschaft auslöst. In der Praxis ist dies mit erheblichem administrativem Aufwand verbunden. Immer häufiger ist daher zu beobachten, dass Unternehmensgruppen keinen bestehenden fixen Katalog verwenden, sondern in den nachgelagerten Konzernstufen dynamisch auf den konzernweit geltenden Katalog („Konzernrichtlinie“), d. h. in der jeweils von der Geschäftsleitung der TopCo verabschiedeten Fassung, verwiesen wird.33 In den einzelnen Konzernstufen ist dann sicherzustellen, dass aufgrund der dynamischen Verweisung die jeweils geltende Konzernrichtlinie auch beachtet wird. g) Dynamische Verweisung Bei diesem mittlerweile verbreiteten Vorgehen stellt sich die Frage, ob eine derartige dynamische Verweisung rechtlich zulässig ist. Dagegen könnte sprechen, dass sich die einzelnen Unternehmen hierbei pauschal einem Regelwerk unterwerfen, auf deren Inhalt sie keinerlei Einfluss haben. Daher ist auch der Verweis in der Entsprechenserklärung eines Unternehmens nach § 161 Abs. 1 AktG grundsätzlich nicht dynamisch, sondern es wird auf die im Zeitpunkt der Abgabe der Entsprechenserklärung geltende Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) abgestellt.34 Auch der Inhalt des DCGK ist aus Sicht der Gesellschaft nicht beeinflussbar und kann jederzeit (einseitig) geändert werden. Eine dynamische Verweisung ist dennoch möglich, sie ist im Fall der Entsprechenserklärung nach § 161 Abs. 1 AktG lediglich nicht sinnvoll. Ein Unternehmen könnte indes ohne weiteres auch auf die „jeweils geltende Fassung des DCGK“ bezugnehmen und somit dynamisch verweisen.35 Ein solches Vorgehen ist auch aus dem Arbeitsrecht bekannt, wenn in Arbeitsverträgen auf geltende Tarifverträge (dynamisch) verwiesen wird.36 Auch im Konzernrecht ist es anerkannt, dass der dynamische Verweis auf ein außerhalb des Arbeitsvertrages liegendes Regelwerk (etwa auf Richtlinien oder Unternehmenshand33

Vgl. Maiß Braun/Wisskirchen, KonzernarbeitsR, 1. Aufl. 2015, Teil I Rn. 320. Goette MüKo AktG, 4. Aufl 2018, § 161 Rn. 50. 35 Goette MüKo AktG, 4. Aufl 2018, § 161 Rn. 50. 36 Vgl. dazu etwa Maiß Braun/Wisskirchen, KonzernarbeitsR, 1. Aufl. 2015, Teil I Rn. 321 ff.; Steffan KündigungsR, § 613a Rn. 142; Hamacher/van Laak Moll, Münchener Anwaltshdb. ArbeitsR, 4. Aufl. 2017, § 68 Rn. 123 ff.; Löwisch/Rieble Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 3 Rn. 593. 34

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bücher), z. B. aus compliance-rechtlichen Erwägungen, zulässig ist. Grenze ist hier lediglich § 307 Abs. 1 BGB.37 Aus Sicht der Konzerngesellschaft stellt sich daher der Fall nicht anders dar als in den aufgezeigten Beispielen. Es ist möglich, dass für die Konzerngesellschaft ein von der TopCo verabschiedetes (und damit außerhalb ihres Einflussbereichs liegendes) Regelwerk gilt. Dies kann nicht in dem Gesellschaftsvertrag der jeweiligen Gesellschaft geschehen, aber bei allen anderen Instrumenten, sei es im Anstellungsvertrag oder durch Gesellschafterbeschluss. 4. Die Implementierung ist kein Fall der Business Judgement Rule Eine konzernweite Compliance ist aus Sicht der Geschäftsleitung der Konzernobergesellschaft eine Entscheidung im Rahmen des sog. unternehmerischen Ermessens (Business Judgement Rule, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG i.V.m. § 43 Abs. 1 GmbHG).38 Die Geschäftsleiter der TopCo müssen nicht dafür einstehen, dass auf den nachgeordneten Konzernstufen Rechtsverstöße unterbleiben. Sie sind lediglich dafür verantwortlich, dass ihrer eigenen Gesellschaft – der Konzernobergesellschaft – kein Schaden entsteht.39 Im Beispielsfall handelt es sich um die Kontrolle von Maßnahmen, die der Beirat der Geschäftsleitung der TopCo verpflichtend vorgegeben hat. Insofern muss die Geschäftsleitung der TopCo dafür Sorge tragen, dass diese Vorgaben verbindlich sind und eingehalten werden. Und dies gilt auch für alle nachgelagerten Konzernstufen. Die Business Judgement Rule hilft hier nicht. Es ist keine unternehmerische Entscheidung. Demgegenüber trifft die Konzernuntergesellschaften die Pflicht dafür zu sorgen, dass die Gesetze beachtet werden (Legalitätspflicht40). Lediglich hinsichtlich einer der Konzerngesellschaft selbst nachgeordneten Konzerngesellschaft greift in diesem Verhältnis wiederum die Privilegierung der Business Judgement Rule.41 5. Zwischenergebnis Eine Lösung, die eine effektive Konzernsteuerung bei allen Arten von Gesellschaften gleichermaßen sicherstellt, existiert nicht. Die Geschäftsleitung der Muttergesellschaft sollte sich dessen bewusst sein und dieses Problem gezielt adressieren. Wurden die Rechtsformen für die einzelnen Konzerngesellschaften, auch mit Blick auf die spätere einheitliche Leitung des Konzerns, bewusst gewählt, stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfü37

Maiß Braun/Wisskirchen, KonzernarbeitsR, 1. Aufl. 2015, Teil I Rn. 320 ff. Schockenhoff ZHR 2016, 197, 203. 39 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 203. 40 Vgl. dazu auch II. 3. e). 41 Schockenhoff ZHR 2016, 197, 203; zur Legalitätspflicht ferner Verse ZHR 2011, 401, 407 ff. m.w.N. 38

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gung, den Willen der Konzernmutter einheitlich bei den nachgeordneten Gesellschaften umzusetzen. Welches Instrumentarium dabei letztlich am sinnvollsten ist, muss stets im Einzelfall ermittelt werden (dazu sogleich, III.). Es bleibt aber festzuhalten, dass es im Interesse aller Beteiligten ist, sich mit den Aspekten der Konzernsteuerung auseinanderzusetzen. Bei einer entsprechenden Analyse lässt sich meist ein Interessensausgleich finden und spätere Probleme können vermieden werden.

III. Besondere Herausforderungen bei mehrstufigen, internationalen Unternehmen 1. Kriterien für die Effizienz einer Konzernkontrolle Nachdem wir uns mit der Frage befasst haben, welche Möglichkeiten existieren, eine effektive Konzernsteuerung einzuführen, hat die Geschäftsleitung der TopCo die Qual der Wahl. Folgende Aspekte sind bei der Auswahl und der Bewertung von Instrumenten zur effektiven Konzernsteuerung regelmäßig von besonderer Bedeutung: a) Einheitlichkeit: Die Zustimmungsvorbehalte und Berichtspflichten sollten einheitlich bei allen Konzerngesellschaften eingeführt werden. Bisweilen ist allerdings zu beobachten, dass die Kontrolldichte im Konzern nach unten zunimmt. Auf die damit verbundenen Aspekte soll hier nicht näher eingegangen werden. Die von der TopCo eingeführten Zustimmungsvorbehalte und Berichtspflichten definieren dann jedenfalls einen Mindeststandard, der immer einzuhalten ist. b) Flexibilität: Die genutzten Instrumente sollten flexibel für die Anforderungen in der Zukunft sein. Änderungen sollten nach Möglichkeit ohne großen Aufwand kurzfristig in der Gruppe umgesetzt werden können, ohne dass jeweils ein hoher administrativer Aufwand mit jeder Änderung einhergeht. Ein solcher Änderungsbedarf mag sich aus Wachstum, aber auch aus einer kritischen Marktsituation ergeben, in der die Geschäftsleitung der TopCo die Gruppe sehr viel engmaschiger führen möchte. c) Verbindlichkeit: Die Konzernsteuerungsinstrumente sollten für die Betroffenen verbindlich sein, so dass etwaige Verstöße Sanktionen auslösen können. Dazu müssen die Instrumente nachweisbar implementiert werden. d) Haftungssituation: Die Umsetzung sollte so erfolgen, dass sich die Geschäftsleitung der TopCo aufgrund der verbindlichen Vorgaben des Beirats keiner Haftung aussetzt, aber auch, dass sich die Geschäftsleitungen der Konzerngesellschaften keinem unbeherrschbaren Haftungsrisiko gegenübersehen.

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2. Analyse der Situation bei den deutschen Konzerngesellschaften Wenden wir uns zunächst dem deutschen Konzernteil des Beispielfalls und danach den Tochtergesellschaften im Ausland zu. a) Als Erstes stellt sich die Frage, ob die Entscheidungsprozesse kaskadenförmig ablaufen, d. h. die entsprechenden Zustimmungen in den betroffenen Enkelgesellschaften eingeholt werden sollen. Die Maßnahme würde dann über die deutsche MidCo D an die Geschäftsleitung der TopCo herangetragen. Sie würde die Maßnahme wiederum dem Beirat zur Zustimmung vorlegen und nach erteilter Zustimmung würden dann die entsprechenden Zustimmungen von oben nach unten erteilt. Dies müsste praktisch folgendermaßen ablaufen: Es gibt auf Ebene der deutschen Zwischenholding ebenfalls einen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte, der dem für die Geschäftsleitung der TopCo entspricht. Die deutsche MidCo D erlässt ihrerseits für die D-AG einen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte. b) Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass Konzernstufen übersprungen werden, und der TopCo unmittelbar Maßnahmen von nachgelagerten Konzerngesellschaften, hier insbesondere von Enkelgesellschaften, zur Zustimmung vorgelegt werden und, sofern die Geschäftsleitung dann zustimmt, diese Zustimmung auch für alle dazwischenliegenden Konzernstufen verbindlich ist. Bei dieser Konstellation geht es darum, sicherzustellen, dass die Geschäftsleiter der Zwischenholdinggesellschaften (MidCos) durch diese funktionale Berichterstattung keinem zusätzlichen Haftungsrisiko ausgesetzt werden und – sofern sich dies nicht vermeiden lässt – entsprechend geschützt werden. Da die Geschäftsleiter an die Weisungen des jeweiligen Gesellschafters gebunden sind, lässt sich dies dadurch implementieren, dass die Geschäftsordnungen der jeweiligen Konzerngesellschaften eine Bestimmung enthalten, wonach die Zustimmung der TopCo als Weisung anzusehen ist, sodass die verpflichtete Gesellschaft selbst zustimmen und die Weisung an die darunterliegende Gesellschaft weiterleiten und alles in ihrer Macht Stehende tun muss, um die von der TopCo konsentierte Maßnahme umzusetzen. c) Problematisch ist dies allerdings bei der Tochtergesellschaft, der D-AG. Hier ist für die Erteilung der Zustimmung der Aufsichtsrat zuständig, der die Entscheidung grundsätzlich im Interesse der betroffenen Aktiengesellschaft zu treffen hat. Angesichts der strukturellen Unterlegenheit der AG als Gesellschaftsform für eine Konzerngesellschaft (vgl. oben, II. 1. c)) ist die Geschäftsleitung der TopCo nicht ohne weiteres in der Lage, Vorgaben des Beirats hinsichtlich der D-AG zu erfüllen. Es bleibt der Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags, ein Rechtsformwechsel oder – notfalls – die personenidentische Besetzung des Aufsichtsrats mit

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Mitgliedern der Geschäftsleitung der TopCo. Alle Maßnahmen sollten mit dem Beirat besprochen und gemeinsam eine sinnvolle Konzernsteuerungsmethode etabliert werden. Aus Sicht der Geschäftsleitung der TopCo ist es wichtig, dass dieses Thema adressiert und entweder Maßnahmen ergriffen werden, um den gewünschten Zustand herzustellen, oder die Vorgaben des Beirats an die tatsächliche Situation angepasst werden. 3. Analyse der Situation bei ausländischen Konzerngesellschaften a) Die Umsetzung der effektiven Konzernkontrolle bei ausländischen Tochtergesellschaften bringt eine Reihe von komplexen Fragestellungen und praktischen Herausforderungen mit sich. Für jedes Land, in dem eine Tochtergesellschaft besteht, sind die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Rechtsordnungen und die jeweils gewählte Rechtsform zu beachten. Eine schlichte Überprüfung des Status quo und die Auswahl der besten Methode ist aufwendig und geht einher mit einem erheblichen Koordinierungsaufwand. Juristen in jeder Jurisdiktion müssen entsprechend instruiert werden. Sie müssen den bisherigen Sachstand verstehen und auf dieser Grundlage Lösungen erarbeiten. Eine Herausforderung ist dabei, zu möglichst einheitlichen Lösungen zu gelangen, die für alle Konzernunternehmen in den verschiedenen Ländern gangbar sind. Vor diesem zeitlichen und finanziellen Aufwand schrecken inhabergeführte Familienunternehmen oftmals zurück und behelfen sich stattdessen mit „handgestrickten“ Lösungen. Sie verlassen sich darauf, dass in der Gruppe schon jeder wissen wird, dass gegen oder ohne den Willen der Familie „nichts geht“. b) Diese Situation ist unbefriedigend und für einen externen, gegenüber dem Beirat verantwortlichen Dritten in der Geschäftsleitung der TopCo, nicht hinnehmbar: (i) Ohne eine Überprüfung bleibt zweifelhaft, ob etwaige Entscheidungen der Familie auch die Geschäftsleitungen der betroffenen Konzerngesellschaften enthaftet. (ii) Sofern etwas schiefgeht, d.h. eine Maßnahme durchgeführt wird ohne dass die Geschäftsleitung der TopCo zugestimmt hat, obwohl sie sich dies vorbehalten hatte, steht die Geschäftsleitung der TopCo dem Beirat gegenüber in der Verantwortung und haftet für etwaige Schäden. c) Aus Sicht des neu hinzugestoßenen Geschäftsleitungsmitglieds geht es um die Evaluation, ob die Umsetzung in der Gruppe prima facie einheitlich und auf eine Art und Weise erfolgt ist, die mit den jeweiligen Rechtsordnungen und den Gesellschaftsformen kompatibel und wirksam ist.

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4. Ein Check-up mittels Legal Tech a) Legal Tech – der Versuch einer Definition Legal Technology (Legal Tech) ist der Rechtsinformatik zuzuordnen und beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Informationstechnik (IT) in der Lage ist, in einem rechtlich strukturierten Bereich sinnvoll genutzt zu werden.42 Dabei liegt der Fokus darauf, die Qualität juristischer Arbeit auf bestimmten juristischen Handlungsfeldern (beispielsweise der Vertragsgestaltung oder der Due Diligence) durch den Einsatz von Software zu steigern und gleichzeitig effizienter und so deutlich kostengünstiger zu gestalten.43 Hier sei nur an die mühsame und zeitintensive Arbeit bei der Durchsicht eines Datenraums im Rahmen einer Due Diligence erinnert, wenn es darum geht, eine Vielzahl von Verträgen daraufhin zu prüfen, ob sie eine wettbewerbsbeschränkende Abrede enthalten. Bei Einsatz von Legal Tech ist diese Durchsicht nun nicht mehr händisch, sondern mit einer hohen Treffsicherheit, die der einer menschlichen Prüfung mindestens entspricht, automatisch möglich. Ein Algorithmus durchsucht und analysiert sämtliche Daten beispielsweise auf das Vorhandensein einer bestimmten Vertragsklausel (z. B. Change-ofControl-Klausel), ohne dabei auf bestimmte Schlüsselwörter angewiesen zu sein.44 Ein weiterer Anwendungsbereich ist der automatisierte Vergleich von umfangreichen Dokumenten, der einen schnellen Abgleich zwischen Ist- und Sollregelung ermöglicht und Abweichungen auf Knopfdruck aufzeigt. Nicht ausgeschlossen ist ferner, dass Legal Tech künftig weniger komplexe Rechtsfragen mit hoher Wiederholungsrate mittels künstlicher Intelligenz selbstständig lösen kann und so bisher originär juristische Tätigkeiten übernimmt.45 Dennoch ist die vollständige Ablösung des Juristen derzeit nicht zu befürchten, Legal Tech wird nach heutigem Wissensstand auch in Zukunft nicht in der Lage sein, das für eine umfassende Subsumtion nötige Wissen, die Erfahrung sowie ein erforderliches Mindestmaß an Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden mitzubringen.46 Zusammenfassend kann Legal Tech somit definiert werden als „Software und Online-Dienste, die juristische Arbeitsprozesse unterstützen oder gänzlich automatisiert durchführen und das Ziel verfolgen, effizientere Alterna42

Vgl. Herberger NJW 2018, 2825; Wagner Legal Tech und Legal Robots, 2018, S. 1. Wagner Legal Tech und Legal Robots, 2018, S. 1; vgl. auch Herberger NJW 2018, 2825. 44 Vgl. Wagner Legal Tech und Legal Robots, 2018, S. 24 f. Ein namhafter Anbieter ist beispielsweise das kanadische Unternehmen Kira Systems, das eine lernfähige Software entwickelt hat, die insbesondere in Zusammenarbeit mit der Kanzlei CMS und dort unter deutscher Federführung, im Rahmen von Unternehmenstransaktionen zum Einsatz kommt. Vgl. dazu näher CMS Hasche Sigle Pressemitteilung v. 24.1.2017. 45 Wagner Legal Tech und Legal Robots, 2018, S. 31 ff. 46 Vgl. Wagner Legal Tech und Legal Robots, 2018, S. 35. 43

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tiven zu einzelnen Arbeitsschritten oder ganzen Rechtsdienstleistungen zu schaffen“.47 b) Legal Tech zur Überprüfung der Effizienz von Konzernsteuerung aa) Die geschilderte Situation ist wie geschaffen für Legal Tech. Es geht darum, die verschiedenen Handlungsalternativen pro Jurisdiktion mit dem Status quo zu verproben und die bestehenden Strukturen anhand einer Fragemaske zu bewerten. Der Status quo kann mit den Sollvorgaben der jeweiligen Jurisdiktion abgeglichen werden. Sofern eine Rechtsform gewählt wurde, die für Konzernstrukturen nur bedingt geeignet ist (z. B. die AG in Deutschland), so würde diese Situation im Ergebnis als ein Thema identifiziert werden, das näher untersucht werden soll. Ein Software Tool ermöglicht die Überprüfung des aktuellen Standes der Konzernsteuerung im Hinblick auf mögliche Umsetzungsprobleme in einer Vielzahl von Jurisdiktionen und lässt eventuellen Handlungsbedarf unmittelbar erkennen.48 Es kann durch ein weiteres Tool flankiert werden, das Texte (z.B. von Katalogen zustimmungsbedürftiger Geschäfte) intelligent miteinander vergleichen kann und in der Lage ist, verschiedene Texte sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache auf Abweichungen zu untersuchen. Mittels dieser Software lässt sich leicht überprüfen, ob der Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte und die entsprechenden Reportinganforderungen in den jeweiligen Ländern tatsächlich gemäß den Vorgaben umgesetzt wurden. bb) Die Nutzung von Legal Tech identifiziert etwaigen Handlungsbedarf und versetzt den General Counsel einer Unternehmensgruppe in die Lage, die bestehenden Kontrollinstrumente schnell und kosteneffizient daraufhin zu überprüfen, ob sie in dem in Rede stehenden Land verbindlich sind und ob die jeweiligen Vorgaben einheitlich umsetzt wurden. Die Software ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass Legal Tech in der Hand des Juristen ein wertvolles Werkzeug darstellen kann, mittels dessen rechtlich relevante Themen rasch und kosteneffizient auf Schwachstellen hin analysiert werden können.

IV. Fazit 1. Bei der Einführung einer Konzernsteuerung oder bei der Überprüfung von bestehenden Konzernsteuerungen geht es zunächst darum, 47

Schemmel/Dietzen Breidenbach/Glatz, RechtsHdb. Legal Tech, 2018, S. 142 Rn. 26. Ein entsprechendes Software Tool wurde federführend von dem deutschen CMSMitglied CMS Hasche Sigle programmiert und wird seit 2020 im Rahmen von Konzernsteuerungsfragen eingesetzt. 48

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zu analysieren, ob Gesellschaften existieren, die von ihrer Struktur einer effizienten Konzernsteuerung von vornherein nur schwer zugänglich sind. Existieren derartige Gesellschaften (in Deutschland z.B. Gesellschaften in der Rechtsform der AG), müssen Lösungen gesucht werden (in Deutschland z.B. ein Beherrschungsvertrag oder ein Rechtsformwechsel), um das gewünschte Ergebnis zumindest näherungsweise zu erreichen. Die Geschäftsleitung der TopCo hat ein ureigenes Interesse, diese „Ausreißer“ zu identifizieren und mit seinem Aufsichtsgremium ein Vorgehen festzulegen, wie mit dieser Situation umzugehen ist. Aus Sicht der Geschäftsleitung der TopCo geht es darum, die Soll-Anforderungen des Aufsichtsgremiums mit der Ist-Situation in Einklang zu bringen. Darüber hinaus ist festzulegen, wie der Zustimmungsprozess ablaufen soll (kaskadenförmig oder abgekürzt, etwa über eine funktionale Berichterstattung). Dabei sind die Situationen der Geschäftsleitungen der betroffenen Konzerngesellschaften und des unmittelbaren und des mittelbaren Gesellschafters einzubeziehen und diesen Rechnung zu tragen. Es ist ferner zu überlegen, ob ein bestimmter Katalog festgelegt wird, der bei einer Modifikation jedes Mal Änderungsbedarf bei allen Konzerngesellschaften auslöst, oder ob eine dynamische Verweisung gewählt werden soll. Bei Unternehmensgruppen empfiehlt sich, in regelmäßigen Abständen die Konzernsteuerungsinstrumente, deren Umsetzung und deren Effizienz auf den Prüfstand zu stellen und etwaigen Handlungsbedarf zu identifizieren. Dies stößt bei internationalen Gruppen auf rein praktische Probleme. Die Überprüfung der Konzernsteuerung bei deutschen Konzerngesellschaften kann häufig durch die konzerneigene Rechtsabteilung geleistet werden. Dies gilt nicht für ausländische Konzerngesellschaften, die ausländischem Recht unterliegen. Hier kann ein Legal Tech Tool eine kostengünstige und effiziente Hilfestellung sein, etwaige Schwachstellen zu identifizieren und Handlungsbedarf aufzuzeigen – frei nach dem Motto „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“. Geht man dagegen den umgekehrten Weg und analysiert mittels Legal Tech welche der Instrumentarien für eine konzernweite Steuerung am besten geeignet sind, ergibt sich, dass in den meisten Ländern eine von der Gesellschafterversammlung erlassene Geschäftsordnung das Mittel der Wahl ist. Gleichwohl kann diese Lösung naturgemäß lediglich den theoretischen Grundfall abbilden. In der Praxis dürfte es selten vorkommen, dass ein Konzern einen vollständigen Neustart in konzernsteuerungstechnischer Hinsicht anstrebt. Stattdessen ist jede Unternehmensgruppe anders organisiert, besitzt un-

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terschiedliche Unternehmen mit verschiedenen Rechtsformen in unterschiedlichen Ländern und hat meist bereits Konzernsteuerungsinstrumente etabliert, sodass sich letztlich aufgrund der Vielzahl an Variablen eine schier unendliche Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten ergibt. 9. Es ist daher in jeder Situation aufs Neue zu überlegen, welches Konzernsteuerungsinstrument für die jeweilige Unternehmensgruppe das richtige ist und welche Lösung verfolgt werden sollte. 10. Auf diesem doch sehr weiten Feld einer effektiven Konzernsteuerung von international tätigen Unternehmen ist Legal Tech eine wertvolle Hilfe.

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„Divide et impera“ – Trennbarkeit im Schiedsrecht JOACHIM MÜNCH

I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Präarbitral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einredesituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antragssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbitral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teilschiedsspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klagerücknahme, Klageerweiterung, Klageänderung 3. Teilschiedsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Postarbitral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Problemstellung Der Grundsatz „divide et impera“ ist keinesfalls ein rechtlicher – sondern zielt auf militärische, politische, soziologische Strategie; er hat auch gewiss nichts mit dem Jubilar zu schaffen, welchem dieses Denken völlig fremd ist. Die Kernaussage geht traditionell dahin, Völker in Gruppen zu teilen, um jene besser strategisch zu beherrschen. Das Herkommen der Maxime ist ungeklärt – mein alter Duden sieht dies als Prinzip altrömischer Politik, insbes. wohl mit dem Zwecke, die Bündnispartner zu differenzieren (subiecti, foederati, socii, amici) und untereinander zu „beschäftigen“.1 Wenn man nach einem rechtlichen Bezug aber Ausschau hält, bietet sich noch am ehesten der Hinweis auf § 222 iVm. §§ 243/244 InsO an – die Gruppenbildung für Abstimmungen zum Insolvenzplan, die allerdings Sachkriterien abverlangt (personelle [§ 222 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 3 S. 1 InsO] wie materielle [§ 222 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 2 InsO]2) und außerdem wertender (Gerichts-) 1 Sehr skeptisch zum Herkommen Vogt FS Haller, 1940, S. 21 (21–23 u. 35–37) mit S. 38 ff. 2 Ausführlicher zum Ausgangspunkt bei Jaeger/Münch, Bd. 7, 1. Aufl. 2019, § 222 InsO Rn. 2–10: „Legitimität, Homogenität, Adaptivität“ als Grundprinzipien für Gruppenbildungen.

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Kontrolle unterfällt (§§ 231 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; 248/250; 251 InsO); sie liefert den Schlüssel für ausnahmsweise ungleiche Rechtsstellung wider die Regel „par conditio creditorum“ (Dig. 42, 8, 6, 7 aE – Ulpian „versus“ § 226 Abs. 1 InsO: „Innerhalb jeder Gruppe … gleiche Rechte anzubieten.“). Wie also erklärt sich die Überschrift meines Beitrages, der Roderich Thümmel zum 65. Geburtstag mit besten Wünschen für die Zukunft gewidmet ist? Der Schwerpunkt liegt offenkundig auf dem Schiedsrecht im Untertitel, mit welchem der Jubilar sich immer gern einließ;3 und ferner sollen die Anführungszeichen hinsichtlich des „Haupttitels“ zugleich klar andeuten, dass diese Maxime nicht strikt wortgetreu hier eingesetzt wäre (was sich auch sonst rechtlich jedoch von selbst verstünde: arg. § 133 BGB). Es geht insoweit am Ende weniger um den Kontext in eben dieser Wortfolge, d.h. Herrschen durch Aufteilen (als Mittel zur Erreichung des Zwecks), sondern anders herum just ums Abtrennen als Ausdruck von Autorität, also: Aufteilen als Herrschen. Gemeint ist hiermit insbes. die Gestattung von Teilklagen auf Parteiseite und die Möglichkeit für Teilsprüche auf Gerichtsseite. Letztlich bietet das Problem der Trennbarkeit von S t r e i t g e g e n s t ä n d e n (!), aufgrund der Dispositionsbefugnis der Parteien bzw. vermittels des Verfahrensermessens des Gerichtes, jedoch noch manche weiteren Facetten, die bisher insgesamt weniger Beachtung fanden. Dafür empfiehlt sich insgesamt, den potentiellen Streitverlauf nachzuzeichnen: von der „Vorfeldverteidigung“ vor Einleitungsantrag und Bildung des Schiedsgerichts (§ 1032 ZPO – sub II), über eben jene Verfahrensdurchführung („Schiedsphase“ – sub III), welche regelmäßig im Mittelpunkt steht und durch Teilklageerhebung zu Beginn bzw. Teilschiedsspruch am Schluss klare zeitliche Ankerpunkte festmacht (was gern dann die urtypische Prozessdynamik ausblendet), bis hin zur Nachprüfung bzw. Vollziehung des Schiedsspruchs mit Bemühung staatlicher Gerichte (§§ 1059–1061 ZPO – sub IV). In Anbetracht der Raumvorgabe wird das Arbeitsprogramm wohl zum Parforceritt und leider allzuviel holzschnittartig ausfallen müssen. Dass es sich um überaus praxisrelevante Fragestellungen handelt, zeigen zwei neuere Entscheidungen, welche am Anfang und Ende genau dieses „Zeitstrahls“ liegen. Der BGH4 hat vor kurzem bestätigt, dass man zu § 1032 Abs. 2 ZPO „globale“ und „gezielte“ (Un-) Zulässigkeitsprüfung klar unterscheiden muss,5 jene letztere lasse alleinig prüfen, ob der ganz reale (§ 1044 ZPO) oder vielleicht bloß angedachte (dann ist aber das Rechts3 Pars pro toto Thümmel Einstweiliger Rechtsschutz im Schiedsverfahren, DZWIR 1997, 133 u. Der Vergleich als Herausforderung für Schiedsgerichte, FS Geimer II (2017) S. 745. 4 BGH, B. v. 19.9.2019 – I ZB 4/19 (OLG Karlsruhe) Rn. 11 [III 1a], BeckRS 2019, 26414 = WM 2019, 2383 = NZBau 2020, 22 = LMK 2019, 424142 [Münch]. 5 Siehe sehr früh schon MünchKommZPO/Münch, 2. Aufl. 2001, § 1032 Rn. 11 [Abs. 2], jetzt 5. Aufl. 2017, § 1032 Rn. 24.

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schutzbedürfnis bzw. Feststellungsinteresse besonders noch darzulegen …) Gegenstand eines Schiedsverfahrens auch schiedsgebunden sei und diene damit der Prozessökonomie (sofortige Abklärung von konkreter Kompetenz). Das OLG Frankfurt/Main6 judizierte für den Aufhebungsantrag (Prozessgegenstand war auch gar noch ein Teilschiedsspruch), dass dabei die Frage, ob nur Teilaufhebung beantragbar sei, – einstweilen durchaus verblüffend – nicht etwa als Zulässigkeitsfrage (oder besser wohl gesagt: Statthaftigkeitsfrage) erscheine, sondern die Prüfung den nachherigen Begründetheitserwägungen anheimfalle. Denn maßgebend sei allgemein eben, dass diese Frage sich am Ende „nur anhand der jeweils konkret geltend gemachten Aufhebungsgründe beantworten lässt“. Man sollte dieses hinterfragen. „Divide et impera“ – Trennbarkeit im Schiedsrecht

II. Präarbitral Der Kläger verordnet, was denn Streitgegenstand vor den Staatsgerichten sein solle (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Das befasste Gericht ist genau hierauf festgelegt, darf weder völlig anderes (aliud) noch ein Mehr (plus) zusprechen; der Antrag bindet allumfassend (§ 308 Abs. 1 ZPO: ne ultra petita) und erlaubt nur konkret ein Weniger. Die wirklich große Ausnahme (§ 938 Abs. 1 ZPO7) betreffs einstweiligen Schutzes bestätigt, wie fast immer, bloß den Regelfall. 1. Einredesituation Was jedoch der Kläger abfordert, kann schiedsgebunden sein. Der Beklagte muss das dann einreden (§ 1032 Abs. 1 Hs. 2 ZPO: Last zur Rüge), um Abweisung als unzulässig zu erreichen. Hier mögen sich recht konkret Trennbarkeitsfragen stellen: die Einredebefugnis reicht immer bloß so weit wie die Schiedsbindung (§ 1032 Abs. 1 Hs. 1 ZPO: „Klage in einer Angelegenheit …, die Gegenstand einer Schiedsvereinbarung ist“ – man kann dies als „ D e c k u n g s p r i n z i p “ gut charakterisieren; Teilung quasi „von innen her“ gewollt). Dafür wird ein prozessualer Vergleich durchgeführt, denn Schiedsbindung wie Klageerhebung bezieht sich jeweils auf Streitgegenstände, nicht etwa auf bestimmte materielle Ansprüche, welche immer erst die anschließende Begründetheitsprüfung festzustellen hat. Oder anders gewendet: so wie kein Kläger „Materielles“ auszuschalten vermag, so ist auch 6 OLG Frankfurt a.M., B. v. 17.10.2019 – 26 Sch 2/19 [II], BeckRS 2019, 32865 Rn. 38 {41} (Teilschiedsspruch) bzw. Rn. 39–44 {42–47} (Teilaufhebungsantrag) [das Zitat bei Rn. 44 {47}]. 7 Siehe dazu bei Wieczorek/Schütze/Thümmel, 5. Aufl. 2020, § 938 ZPO Rn. 3 (Lockerung von Bindungen) iVm. Rn. 6.

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keine Schiedspartei befugt, Vereinbarungen gemäß § 1029 ZPO materiell zu bestimmen. Mithin kann es inhaltlich von vornherein keine Verwerfungen geben. Könnte man jedoch dem Beklagten etwa gestatten, die eröffnete Schiedseinrede punktuell einzuschränken oder erscheint jene unteilbar? Dazu sollte man weiter noch differenzieren. Nichts spricht sicher dagegen, selbständige Streitgegenstände aufzuspalten (qualitativ motivierte Abtrennung). Das zielt auf Fälle von klägerseitig objektiver Klagehäufung (§ 260 ZPO), so wie beim gemeinsam angeschobenen Einklagen verschiedener Zahlungen (z.B. aus § 433 Abs. 2 BGB und § 488 Abs. 1 BGB – dabei wird hier der zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff vorausgesetzt:8 verschiedene [Lebens-] Sachverhalte). Wo wäre insoweit tatsächlich der Unterschied zu dem Fall, dass von vornherein nur eben ein Streitgegenstand schiedsgebunden ist? Oder auch zum Fall, dass gerichtlich hiernach doch getrennt prozessiert wird (§ 145 Abs. 1 ZPO)? Jene Aufspaltung mag unpraktisch sein und eine effiziente Prozessführung behindern; der Kläger hätte jedoch autonom insoweit gegenzusteuern vermocht, und zwar durch Klageerhebung vor dem Schiedsgericht. So muss er denn die Konsequenz seines Verhaltens tragen: der Beklagte hat ausnahmsweise nun Optionen! – Problematischer scheint mir hier der Fall des einfach antragsmäßigen Teilens (quantitativ motivierte Auftrennung), jene nicht mehr durch verschiedene Lebenssachverhalte (manipulationsfrei) qualifiziert, sondern Folge von letztlich willkürlichem Verhalten (Einredebegrenzung), quasi eine Art Umkehrung der Teilklage. Es gibt dazu m.E. dann drei abstrakt denkbare Lösungen: (i) Die Teileinrede ist nicht wirksam vorgebracht (und kann i.d.R. auch wegen Präklusion nicht später nachgeholt werden); es fehlt an einem Unzulässigkeitsgrund, d.h. der gesamte Streitfall bleibt beim Staatsgericht. (ii) Das Auftrennen wird akzeptiert und führt konsequent zur Teilabweisung als unzulässig (§ 301 ZPO anstatt § 280 ZPO); praktische Verwerfungen verhindert § 322 Abs. 1 ZPO: die Rechtskraft wirkt verschieden für Prozess- und Sachurteil und ohnehin nur bezüglich entschiedener Ansprüche. Indes: das würde zur Schikane geradezu einladen und muss als aufrichtige Lösung ausscheiden (arg. § 226 BGB bzw. § 242 BGB). Der Beklagte würde schlicht dadurch prozessuale 8 H.M., ganz exemplarisch bloß BGHZ 117, 1 (5) [II 2a] {14} („Nach der heute herrschenden prozeßrechtlichen Auffassung vom Streitgegenstand im Zivilprozeß”); BGHZ 153, 173 (175) [III 2] {9}; („Nach heutigem Verständnis“); NJW 2008, 3570 (3571) Rn. 9 [II 2c aa] u. 2011, 3653 (3653) Rn. 11; („Nach der heute ganz herrschenden Auffassung“); BGHZ 217, 178 (183) Rn. 15 [A 1a] („st. Rspr.“) – speziell schiedsverfahrensrechtlich kürzlich BGH SchiedsVZ 2019, 150 (151/152) Rn. 18 [II 2b cc (2)] sowie früher schon BGH NJW-RR 2009, 790 (790) Rn. 17 [II 1a]. Einzelheiten müssen dahinstehen: siehe dazu Münch Vollstreckbare Urkunde und prozessualer Anspruch [PA 72], 1989, 48–56 [§ 3 III 2 u. 3] sowie vor allem Althammer Streitgegenstand und Interesse [JP 168], 2012, 51 ff. [§§ 9–11].

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Dispositionsmacht usurpieren (und könnte zweifache Prozessführung erpressen). (iii) Die Begrenzung wird weggedacht, die Teileinrede wirkt also dann als Volleinrede und führt zur Vollabweisung per Prozessurteil. Alsdann wären die Beklagten „aus dem Schneider“. Das erscheint mir freilich zu viel an Fürsorge, und zwar wider direkt erklärtem Willen. Dies bedeutet dann zugleich: die quantitativ motivierte Teileinrede ist insgesamt zu verwerfen. Wer also daher zu wenig will, verliert alles zusammen. Den Beklagten mangelt insgesamt die Zubilligung prozessualer Disposition. Die Schiedseinrede ist inhaltlich ähnlich kompakt anzuwenden wie die rügelos begründete Zuständigkeit (§ 39 S. 1 ZPO – nur dass dort zwei Arten existieren …9). Schließlich ist vorstellbar, dass sich eine Trennung aus rechtlich motivierten Erwägungen (§ 1032 Abs. 1 Hs. 3 ZPO: „Schiedsvereinbarung nichtig, unwirksam oder undurchführbar“ – man kann dies als „W i r k u n g s p ri n z i p “ gut charakterisieren) ebenfalls unmittelbar einstellt. Es geht um konkrete Bewertung (quasi „von außen“), mehr dogmatische (Var. 1a/b) oder ebenfalls pragmatisch greifende (Var. 1c). Bei ersteren ist es die Wirkungsreichweite der Unwirksamkeitsnorm und notfalls der Schritt von bloßer Teil- zur Vollnichtigkeit (arg. § 139 BGB; jedoch fehlt wohl die Möglichkeit geltungserhaltender Reduktionen!10), welche relevant werden, bei letzterer die Bewertung, was denn schlussendlich genau undurchführbar wird (alles oder Teile?). Das Gesetz nennt immerhin dabei jedoch als Bezugsobjekt „die Schiedsvereinbarung“ (als Ganze?) und deutet womöglich Skepsis an. Trennung scheint demnach Ausnahme; man könnte anders herum dem „es sei denn“ aber wohl u.U. auch eine faktische Begrenzung entlocken. 2. Antragssituation Nach § 1032 Abs. 2 ZPO kann zeitnahe staatsgerichtliche (!) Kompetenzklärung erfolgen. Das wird von Schiedsseite gerne zwar etwas beargwöhnt, ist aber ein sinnvolles, mächtiges Instrument, um gleich von Anfang an höchstmögliche Klarheit zu schaffen (ansonsten bliebe nur Kontrolle im Nachgange gem. § 1040 Abs. 3 S. 2 ZPO bzw. § 1059 ZPO), und zwar auch ohne die Klageerhebung seitens des Gegners. Sie gibt den Raum für Selbstverteidigung und verlagert das Recht auf Initiative. Deshalb betont der BGH völlig richtig, dass bei Abs. 2 und Abs. 1 sinnvollerweise gleiche Prüfungsumfänge greifen.11 Eine Eigenheit liegt weiterhin darin begründet, dass sowohl positive (Var. 1: „Feststellung der Zulässigkeit …“ – „Angriff“) wie negative (Var. 2: 9 Dieses erklärt bündig OLG Köln OLG-Rspr. 2 (1901), 397 [1]: örtliche und sachliche Kompetenz parallel betroffen. 10 Beispiel: wie lange wirkt ein Kündigungsgrund als genug „wichtig“ iSv. § 314 Abs. 1 BGB? 11 BGH, a.a.O. (Fn. 2), Rn. 11 [III 1a].

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„… oder Unzulässigkeit“ – „Abwehr“) Feststellung hier bereitstehen (so wie dies übrigens ganz genauso § 256 Abs. 1 ZPO vorhält), also beide Seiten prozessuale Dispositionsmacht erheischen können. Wer zuerst kommt, … – der fixiert als Antragsteller die Inhalte. Positive und negative Feststellung bilden inhaltlich kontradiktorische Gegenteile, das macht einen einfach negierenden Zweitantrag obsolet. Weitaus problematischer scheint, ob eine „gezielte“ Unzulässigkeitsprüfung den Antrag auf „globalere“ Zulässigkeitsprüfung verdrängt (und vice versa)? Ansonsten könnte der Antragsgegner durchaus das Heft des Handelns kurzerhand nachträglich zurückgewinnen. Hier spricht viel für eine Anleihe beim Verhältnis von negativer Feststellungsklage und weitergehender positiver Leistungsklage, mit gleichfalls teilweise kongruenten Streitgegenständen – also: der Gegenantrag erscheint möglich und erledigt den Hauptantrag, sobald und soweit einseitiges Zurücknehmen ausscheidet. Wichtig ist allemal nur festzuhalten, dass es sich um rein prozessrechtliche Abgrenzungsfragen (scil. Streitgegenstände als „Vergleichsobjekt“) dreht, d.h. nicht etwa die Bewertung materiellrechtlicher Ansprüche. Genauso sieht das per saldo der BGH,12 wenn er hier auf § 648a BGB/aF bzw. § 650f BGB/nF rekurriert, dann meint er nicht jene materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage, sondern einen eigenen, neuen, komplett eigenständig erfassten prozessualen Anspruch bzw. trennungsrelevanten Lebenssachverhalt: die Gestellung vorläufiger Sicherheit, welche z.B. ebenso auf einer Vertragsabrede beruhen vermöchte. III. Arbitral Das eigentliche Schiedsverfahren ist Tummelplatz für Teilschiedsklagen und -sprüche. Dabei zäumt die nachfolgend gewählte Darstellung das Pferd nur scheinbar vom Schwanz auf, denn T e i l s c h i e d s s p rü c h e sind offenkundig die Kulmination der Problematik, werden immer auch praktisch sehr bedeutsam, schon mit Blick auf Folgewirkungen (§ 1055 ZPO: „Der Schiedsspruch hat …). Hierbei sieht die Rechtspraxis mitunter seltsame Mutationen.13 1. Teilschiedsspruch Wenn Schiedsnormierungen oder Schiedsordnungen überhaupt Trennbarkeitsfragen irgendwie inhaltlich adressieren, dann hinsichtlich des Schieds12

BGH, a.a.O. (Fn. 2), Rn. 12 [III 1b]. Etwa im Fall BGHZ 151, 79 [I] {1} = SchiedsVZ 2003, 39 m. Anm. Münch: “TeilProzeß-Schiedsspruch Zwischenentscheid”. Siehe auch den ICC-Final Report on Interim and Partial Awards, Rn. 5 („the Terms ‚interim‘ and ‚partial‘ are used virtually interchangeably, without any particular meaning to either expression”) mit Rn. 9, ICC-Bull. 1:2 (1990), 26 (26 f.). 13

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spruchs als gewissermaßen die Schlüsselstelle. Das kann in Form einer expliziten Definitionsnorm geschehen (abstrakt „vor der Klammer“14), als Verfahrenshinweis für das Schiedsgericht (Art. 1049 Abs. 1 S. 1 W.B.R. [NL]: „geheel of gedeeltelijk eindvonnis“15), zuweilen mit opt-out-Befugnis (CH: Art. 32 KSG; Art. 188 IPRG; Art. 383 BZPO; SV: § 29 Abs. 1 S. 1 Var. 1 LoS), sowie eher indirekt bloß kraft Umkehrschlusses, wenn und weil für Endschiedssprüche spezifische Zeitlinien existieren (Art. 40.2 NAI-SchO [NL]: „last final award“16); Art. 392 lit. a BZPO [CH] und Art. 1064 W.B.R. [NL] deklarieren Teil- oder Endschiedssprüche zudem noch als tauglichen Anfechtungsgegenstand17 (… die Schweiz ergänzt das unmittelbar gleich nachfolgend durch gewisse Zwischensprüche zur Schiedskompetenz: Art. 392 lit. b BZPO). Nur wird dabei immer bloß die Möglichkeit normativ beschrieben („Ob“), nicht aber deren Tatbestand näher ausgefüllt („Wie“, „Wann“, „Was“ etc.). Das zeigen besonders die expliziten gesetzlichen Regelungen, wie art. 1713 Abs. 1 C.J. [BE] („entscheidet endgültig … durch einen oder mehrere Schiedssprüche“) und Art. 1049 Abs. 1 S. 2 W.B.R. [NL] („… wanneer het gevorderde in een vonnis geheel of gedeeltelijk bij dictum wordt afgedaan.“). Es geht freilich – zugestanden – insoweit mehr um Phänomenologie und Prozesssteuerung, denn um eine konkrete Anforderung, dass Teilbarkeit verlangt wird. Der Schiedsspruch bildet die Schnittstelle zwischen laufendem Verfahren (§ 1056 Abs. 1 Var. 1 ZPO) und Rechtskraft (§ 1055 ZPO) inklusive des Übergangs zur begrenzten staatsgerichtlichen Kontrolle (§§ 1059–1061 ZPO). Im (schiedsrechtlichen) Mittelpunkt steht hierbei indes jeweils die Endgültigkeit d e r En t s c h e i d u n g , obwohl sie allein § 1056 Abs. 1 Var. 1 ZPO dezidiert hier anspricht. Und diese Endgültigkeit setzt aus Gründen der Logik rechtlich d e f i n i e r t e S c h r a n k e n : wann endet denn genau das „Arbitrale“ am Verfahren? Darüber befindet maßgebend das Schiedsgericht – so wie zu § 300 Abs. 1 ZPO vor staatlichen Gerichten gleichfalls hierzu Ermessen waltet: das verschleiert der zweite Halbsatz per Imperativ hinsichtlich der Rechtsfolge („…, so hat das Gericht sie durch Endurteil zu erlassen.“), legt indes der erste Halbsatz schon in die Wiege, wenn er hier tatbestands14

Eindeutig: Art. 6.1.8 Vienna Rules; Art. 2 (v) ICC-SchO; Art. 2 (viii) CEPANISchO. 15 Ergänzend: Art. 32.1 S. 1 Swiss Rules; Art. 23.1 LIS-SchO; Art. 26.1 LCIA-SchO; Art. 41 NAI-SchO; Art. 29 Abs. 1 ICDR-SchO – eher versteckt hier letztlich App. IV der ICC-SchO (case management techniques): „Bifurcating the proceedings or rendering one or more partial awards on key issues, …” (lit. a). Sehr „chamäleonhaft“ hier Art. 34 Abs. 1 UNCITRAL-SchO. 16 Ungeklärt: § 27 Abs. 5 LoS bzw. Art. 43 S. 1 SCC-SchO; Art. 31.1 S. 1 ICC-SchO. 17 Die deutsche Rechtslage ist parallel (indes eben nicht normiert): MünchKomm/ Münch § 1059 ZPO Rn. 67 u. § 1060 ZPO Rn. 12 iVm. § 1056 ZPO Rn. 4–7 – dezidiert anders Art. V Abs. 1 lit. e Var. 1 UNÜ („noch nicht verbindlich geworden“): MünchKomm/Adolphsen Anh. § 1061 ZPO UNÜ Art. V Rn. 56 f.

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seitig völlige Einschätzungsmacht gewährt („Ist der Rechtsstreit zur Endentscheidung reif, …“) – quasi eine Art „Beurteilungsermessen“.18 Man beschleunigt (partiell) das Entscheiden, wenn man hier weitere prozessökonomische Trennungen (scil. Teilerledigungen) zulässt.19 § 301 Abs. 1 S. 1 ZPO bildet den Duktus des § 300 Abs. 1 ZPO zunächst zwar ab („… zur Endentscheidung reif, so hat das Gericht sie … zu erlassen.“), eröffnet sogleich über Abs. 2 aber weiteres Ermessen („… kann unterbleiben, wenn …) – jetzt also als „Aufteilungsermessen“. Alsdann bestehen aber weitere, logische Sachzwänge: die Entscheidung des einen Teils darf nicht etwa den anderen Teil bereits präjudizieren (der wäre sonst ebenso entscheidungsreif), d.h. es ist eine prozessuale Kohärenz einzuhalten! Ferner gibt es p r a k t i s c h b e g r ü n d e t e S c h r a n k e n : was unteilbar ist, kann man auch prozessual nicht zerteilen – dies ergäbe dann völlig unsinnige Resultate. Anders gesagt: die T r e n n b a r k e i t d e s E n t s c h i e d e n e n ist „implizit“ mitzuerwägen. Sie bereitet bloß meistens keine Probleme, angesichts quantitativer Summierung (arg. § 308 Abs. 1 ZPO: „minus“) bzw. qualitativ unterschiedlichem Klagegrund. Aber: Der „Teil eines [prozessualen] Anspruchs“ (§ 301 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 Var. 2) verlangt mögliche Trennung.20 Nur gilt § 301 ZPO eben nicht. Insoweit die Parteien keine Abmachung (§ 1042 Abs. 3 ZPO) getroffen haben, fällt die Frage völlig schiedsgerichtlichem Verfahrensermessen anheim (§ 1042 Abs. 4 S. 1 ZPO), denn es gibt keinerlei dispositive Gesetzesnorm im Schiedsrecht, welche aushelfen könnte – mit Ausnahme von § 301 ZPO, der jedoch eindeutig einzig die staatlichen Gerichte adressiert. Ein Schiedsgericht mag sich daran orientieren mögen, muss es aber nicht. Die Regel rechnet nicht zum Bestand zwingenden Rechtes.21 Anders gesagt: ein Schiedsgericht mag Teilentscheide erlassen

18 Die Lehre betont meist die Pflicht, weniger die Einschätzungsprärogative: MünchKomm/Musielak § 301 ZPO Rn. 5 bzw. Musielak/Voit/Musielak Rn. 1 u. 5; BeckOK/ Elzer (36. Ed.) § 300 Rn. 10 u. 46; Stein/Jonas/Althammer § 300 ZPO Rn. 1 – eher indifferent hier BGHZ 177, 88 (95) Rn. 21 [2c cc] (Pflichtigkeit ebenso als Inhalt der Prozessmaxime?). 19 Recht klar schon CPO-Mot. S. 216/217 = Hahn II/1 S. 283: „ganz oder theilweise … endlich entscheiden“. 20 MünchKomm/Musielak § 300 ZPO Rn. 4 bzw. Musielak/Voit/Musielak § 301 ZPO Rn. 3a („Abgrenzbarkeit“); BeckOK/Elzer (36. Ed.) § 301 Rn. 19 („Teilbarkeit“); Stein/ Jonas/Althammer § 301 ZPO Rn. 10 (Teilklagefähigkeit) – in Anlehnung an BGH NJWRR 1989, 1149 (1149) [II 2] {7} (fordert allerdings – begrenzend? – rechtliche [!] Teilbarkeit), zust. Jauernig FS BGH III (2000) S. 311 (311) [I]. 21 BGH SchiedsVZ 2019, 287 (288) Rn. 9 [II 1a] m.w.N. (nur dahinstellend zum „Kohärenzgebot“: Rn. 10 [II 1b vor aa] – keinerlei „materielle Verzahnung“ vorhanden); OLG Frankfurt a.M., B. v. 24.7.2014 – 26 Sch 29/13 [II B 1a] {90 u. 92}, BeckRS 2014, 124235 Rn. 79 u. 81; wohl (implizit) auch OLG München SchiedsVZ 2012, 107 (110) [II 3b (2)] {50 f.} sowie wohl einst auch schon RG JW 1910, 70 (70 re. Sp.) [Nr. 25] (sog. „Zerlegung“ bedenkenfrei gestattet – in Abgrenzung zu RGZ 62, 353 (355)).

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ohne Fallgruppenbindung (Abs. 1 S. 1: Klagehäufung [Var. 1 u. 3] bzw. „Klageteilung“ [Var. 2: „ein Teil eines Anspruchs“]), ohne sogar eine Entscheidungsreife (denn diese beurteilt allein alsdann das Schiedsgericht als solches – dem Staatsgericht bleibt Nachkontrolle untersagt, es wäre schlicht sonst révision au fond!), was aber letztendlich wohl hypothetisch bloß ist ... Staatsgerichte achten insoweit mithin das Regelungsprimat der Schiedsgerichte. Daher akzeptiert man problemlos heute Teilschiedssprüche für größenmäßig festgelegte,22 zeitlich unmittelbar fixierte23 oder sonst selbständig scheinende24 Teile. Eine Grenze bleibt trotzdem: die Abgrenzbarkeit des Gegenstandes, welche logisch selbst praktische Trennbarkeit abverlangt. In der Ermessensausübung mag also das Schiedsgericht (noch etwas) freier differenzieren, jedoch kann es niemals „Fakten brechen“. Es gibt folglich gewisse äußerste Grenzen, welche „kraft Natur der Sache“ schon gelten. 2. Klagerücknahme, Klageerweiterung, Klageänderung Neben schiedsgerichtlich verfügter „Streitauftrennung“ wirkt noch die Teilschiedsklage, die Auftrennung per Klägerdisposition ist. Jene tritt nicht ganz so klar hervor, weil ihr eben das formale Bezugsobjekt mangelt;25 anders nur während des Verlaufs des Schiedsverfahrens, hierbei wirkt nämlich gleichfalls immer noch der Einleitungsantrag als Konterpunkt. Er sorgt ja dafür, den abverlangten Streitgegenstand offenzulegen (§ 1044 S. 2 Var. 2 ZPO). Nun gelten die geläufigen staatlichen Regularien für Klagerücknahme (§ 269 ZPO), Klageerweiterung (arg. § 261 Abs. 2 ZPO) und Klageänderung Anders im Ansatz KG, B. v. 2.4.2009 – 20 Sch 13/09 [II 2b aa], BeckRS 2009, 139752 Rn. 93–97, insbes. Rn. 97; OLG Frankfurt a.M. SchiedsVZ 2007, 278 (279) [II] {40} erscheint wohl hinfällig seit OLG Frankfurt a.M. B. v. 24.7.2014 – 26 Sch 29/13 [II B 1a] {91}, BeckRS 2014, 124235 Rn. 80 (siehe auch bei Fn. 47). AA aber zB hier (unter altem Recht) wohl H. J. Maier Hdb. Schiedsgerichtsbarkeit, 1979, Rn. 402 [Abs. 2] („nach dem Grundsatz der prozessualen Logik“) mit Rn. 403; Schütze/Tscherning/Wais Hdb. Schiedsverfahren, 2. Aufl. 1990, Rn. 511 („gilt … entsprechend“). Heute noch immer BLHAG/Anders § 1059 Rn. 14 [Stichwort: „Teilschiedsspruch“] („evtl. mangels … § 301“) mit § 1056 ZPO Rn. 2, aber u.U. auch Schwab/Walter Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Rn. 18.6 („[nur?] im Sinne eines Teilurteils“). 22 Gleichsam der Regelfall – wenn F. Schmidt Die Typologie von Schiedssprüchen [DIS 27], 2012, 120 ff. [§ 12], lediglich „quantitative Abgrenzungen“ abspricht (S. 120 f., 122 aE, 123, 127, 128 f.), so bezieht er solches aufs Verhältnis von Klage- zu Urteilsgegenstand (infolgedem ist „qualitative Abtrennung“ mit inbegriffen). 23 BGH ZZP 71 (1958), 427 (436) [3]: Ratenzahlung für Zeit der Prozessdauer. 24 So obiter erweiternd BGHZ 10, 325 (325/326): qualitative Aufspaltung (nicht aber ein Aufrechnungsvorbehalt: S. 326 f.); siehe auch schon OLG Köln OLG-Rspr. 2 (1901), 95, 96 [1] (Kaufpreiszahlung / Mängelanspruch). 25 Das sieht richtig Trommler Die Teilklage im Zivilprozess [VV 149], 2018, S. 22/23 iVm. S. 23 u. S. 24 [Mitte]: materielle Betrachtung erforderlich – prozessuale Teilung des materiellen Ganzen; zu weit „materiellrechtlich“ dann jedoch S. 23 [Mitte], denn Fälligkeit und Erfüllung sind „Begründetheitsparameter“.

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(§ 263 ZPO) gleicherweise nicht „eins zu eins“ für Schiedsverfahren (obwohl sich zuweilen eine behutsame „Orientierung“ empfiehlt), ihre Begriffe sind freilich strukturell durchaus übertragbar. Sie erlauben dann Trennung durch lediglich teilweise Rücknahme (ähnlich führt ein Teilverzicht [in Anlehnung an § 306 ZPO26] zur Aufteilung im Nachhinein) oder Koppelung durch Einbeziehung neuer Streitgegenstände (gemeint sind hiermit Lebenssachverhalte); und dazwischen steht inhaltlich die Erweiterung oder Beschränkung des Klageantrags, welche § 264 Nr. 2 ZPO gerade nicht aber als Klageänderung behandeln möchte. Diese Norm zeigt, dass keine wirklichen (System-) Bedenken existieren, Klageanträge an sich noch einmal inhaltlich genauer anzupassen (in beiden Richtungen). Ihre Statthaftigkeit wird anderweitig denn auch entschieden: mit Einwilligung des Beklagten zum Zurücknehmen (§ 269 ZPO) bzw. gerichtlichem Abtrennen kumulierter prozessualer Ansprüche (§ 145 Abs. 2 ZPO). Prozessual erscheint indes derartiges Verhalten nicht etwa von Anbeginn gleich verboten – es geht um eine schlicht nachträgliche Reaktion auf prozessuale Disposition, und dies ist kein Grund zur Angst. Als Form einer „trennenden“ Beklagtendisposition wirkt noch das Teilanerkenntnis, wobei hierzu § 307 S. 1 ZPO27 explizit gestattet, „den gegen sie [scil. die Partei] geltend gemachten [prozessualen] Anspruch ganz oder zum Teil an[zuerkennen]“. Das zeigt von neuem, dass man im Zivilprozess von einer gemeinüblich freien Trennbarkeit ausgeht und strukturelle Ausnahmen („Teilurteilsfähigkeit“ des Streitgegenstandes) Begründungen abfordern.

3. Teilschiedsklagen Eine Gestattung zivilprozessualer Teilklagen wird nicht eigens positiv geregelt (nebenbei anders noch im einstmalig geltenden Armenrecht: § 114 Abs. 1 S. 2 ZPO/aF;28 anders auch z.B. die derzeitige Schweizer Rechtslage: 26 Entgegen dem Wortlaut („Verzichtet der Kläger … auf den geltend gemachten Anspruch“) wird Teilverzicht auch zugestanden, wenn und weil ein entsprechendes Teilurteil ebenso ergehen kann: Musielak/Voit/Musielak § 306 ZPO Rn. 1 mit § 307 ZPO Rn. 7; Stein/Jonas/Althammer § 306 ZPO Rn. 2 („Anspruch ganz oder zu einem größenmäßig bestimmten Teil aufgibt“); MünchKomm/Musielak § 306 ZPO Rn. 3 mit § 307 ZPO Rn. 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPR, 18. Aufl. 2018, Rn. 133.69 („…, dass der Klageanspruch ganz oder zum Teil nicht bestehe.“). 27 Ganz parallel hier § 29 Abs. 2 LoS [SE]: (Teil-) Anerkenntnis im Schiedsverfahren führt zu einem „särskild skiljedom“ / „separate award“. 28 IdF des Gesetzes vom 27.10.1933 zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Art. 1 [VII] Nr. 20), RGBl I Nr. 120 S. 780 (784) [in Kraft ab 1.1.1934 (Art. 10 I)]: „Die Rechtsverfolgung ist auch dann als mutwillig anzusehen, wenn mit Rücksicht auf die für die Beitreibung des Anspruchs bestehenden Aussichten eine nicht das Armenrecht beanspruchende Partei von einer Prozeßführung absehen oder nur einen Teil des Anspruchs geltend machen würde.“ Die Norm geht zurück auf die Dritte RP-VO

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Art. 86 BZPO29) und kurzerhand aus allgemeinen Grundsätzen (Dispositionsmaxime) hergeleitet.30 Die prozessuale Dispositionsmacht ist gewissermaßen die „Verlängerung“ materieller Verfügungsfreiheit, die auch insbes. etwa die Teilzession (§ 398 BGB31) legitimiert. Diese kann aber wegen möglicher „Wesensveränderung“ (§ 399 Var. 1 BGB) scheitern (nicht der reine Gläubigerwechsel, sondern genau die „Doppelung der Gläubiger“ führt zu jenem Verändern des Inhalts der Forderung), oder sonst auch wegen Unteilbarkeit des Rechtsobjektes, wie meist bei Ansprüchen, nur eine Sache vertraglich zu übereignen (§ 929 S. 1 BGB). Teilbarkeit ist hier allerdings ein rein materiell wirkendes Kriterium, und solche Fragen sind dann auch mithin Fragen der Begründetheit, nicht etwa der Zulässigkeit. Häufig wird jedoch dies kurzschlüssig einfach verallgemeinert32 – und nicht gesehen, dass Teilbarkeit auch Zulässigkeit natürlich genauso in Frage zu stellen vermöchte:33 was realiter nicht trennbar ist, darauf lässt sich prozessual nicht stückweise klagen. Hier muss eine Abtrennung insgesamt am Faktischen scheitern, notfalls wegen Fehlens eines prozessualen (Rechtsschutz-) Bedürfnisses. Das kann auch ein reguläres Schiedsverfahren betreffen, trotz der Regel des § 1030 Abs. 1 S. 1 ZPO, zumal doch ein vermögensrechtlicher Anspruch nicht zwingend ohne weiteres auch Trennbarkeit schon sicherstellt: Unterlassungsklagen, Grundbuchberichtigung, Übereignungsklagen etc.; bei prozessual nichtvermögensrechtlichen Ansprüchen gem. § 1030 Abs. 1 S. 2 ZPO mag sich das eher aufdrängen (z.B. Widerruf ehrverletzender Äußerung). Maßgebend scheint immer der Einzelfall – und nicht jede Klage, die mutwillig Zusammengehörendes zertrennt, ist statthaft. Bezüglich Teilklagen sind inzwischen disparate Differenzierungen prozessrechtlich etabliert, die hier nur noch einmal kurz in Erinnerung gebracht werden; der Platz reicht nicht, sie eingehender zu analysieren: – die Unterscheidung von o f f e n e r und v e r d e c k t e r Teilklage,34 je nachdem, ob die (regelmäßig quantitativ erfolgende) Auftrennung anfänglich vom 6.10.1931, RGBl I Nr. 67 S. 537 (564) (VI.1 § 11 Abs. 2 Hs. 2) [in Kraft ab 8.10.1931 (VIII § 2)], ist also nicht direkter nationalsozialistischer Herkunft. 29 „Ist ein Anspruch teilbar, so kann auch nur ein Teil eingeklagt werden.“ Siehe dazu auch die Botschaft, BBl 2006, 7221 (7288): „Entsprechend der Dispositionsmaxime …“ – diese fußt auf Art. 58 Abs. 1 BZPO ≈ § 308 Abs. 1 dZPO]. 30 Zusf. letztens dazu Trommler, a.a.O. (Fn. 25), S. 5–9. 31 Siehe vor allem RGZ 64, 120 (122) (Trennbarkeit); RGZ 116, 241 (246) (identischer Rechtsgrund); RGZ 149, 96 (98) (Selbständigkeit) – das sieht der BGH (obiter) völlig gleich: BGH NJW 1985, 2640 (2641) [II 2b aa] {30} m.w.N. 32 Wie etwa durch Trommler, a.a.O. (Fn. 25), S. 26 [C vor I] („Begründetheit“) iVm. S. 27–31 [C II] versus BGH NJW 2004, 1243, 1244 [II 3] {17–19} („Zulässigkeit“). Parallel dazu Jauernig FS BGH III (2000) S. 311 (327/328 mit 328) [III 2a] („Statthaftigkeit“). 33 Es gilt gleiches wie hernach bei §§ 1059–1061 ZPO: siehe dazu sub V 2b. 34 ZB Trommler, a.a.O. (Fn. 25), S. 142 ff.

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klar offengelegt oder nachträglich etwa nachgebracht wird („zweiter Versuch“); – die Differenzierung von b e w u s s t e n und u n b e w u s s t e n Teilklagen, je nachdem, ob jenes „Spaltungsproblem“ überhaupt wahrgenommen wurde (die offene Teilklage wird daher mithin immer auch bewusste Teilklage sein; eine verdeckte ist aber nicht unbedingt eine unbewusste); – die Unterscheidung von i n d i v i d u a l i s i e rt e r Teilklage und ihrem offenen Gegenteil („w i l l k ü r l i ch e “ Teilklage),35 je nachdem, ob hier noch außerdem objektive Teilungskriterien vorliegen (qualitativ erfolgende Aufteilung). Jenes Instrumentarium zielt vor allem darauf, die Reichweite von Rechtskraft zu bestimmen; dies ist fürs Schiedsverfahren genauso zu leisten (§ 1055 ZPO); schiedsrechtlich gibt es aber ergänzend zwei Spezifika: Das große Problem jeder solchen Teilklage liegt schlicht darin, das wurde bereits angetippt,36 eine handhabbare „Bezugsgröße“ auszumachen. Wenn man erst die hypothetische „Ganzklage“ identifiziert hat, ist es ein Leichtes, auf Trennung rückzuschließen. Im Schiedsrecht tritt modifizierend freilich jetzt noch hinzu, dass man zwar den Streitgegenstand zu individualisieren hat (§ 1044 S. 2 Var. 2 ZPO: „Angabe“), es aber keines förmlich gestellten Antrages hierzu letztlich bedarf37 (im Unterschied zu § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO: „Antrag“ – neben dem Gegenstand und Grund); das Gericht kann und muss allemal mit seinen Anregungen helfen (§ 139 Abs. 1 S. 2 aE ZPO: Stellen sachdienlicher Anträge), darf sich niemals aber über einen eindeutigen Willen hinwegsetzen (§ 308 Abs. 1 ZPO). Dieses gilt prinzipiell auch im Schiedsrecht, nur dass das Schiedsgericht einiges großzügiger abhilft und stärker „eigenmächtig“ Anträge „zurechtrückt“. Das unterstützt bei Feststellung von Ganz- und Teilklage. Verschärfend wirkt demgegenüber, dass ergänzend Schiedsbindung gefordert ist.38 Hier hilft aber § 1040 Abs. 2 S. 3/4 ZPO durchaus recht effektiv:39 würde denn das Schiedsgericht seine Befugnisse damit überschreiten, müsste dieses gegnerseits gerügt werden. Praktisch wird der Fall letztlich weniger darum bei objektiver A b t r e n n u n g (die Schiedsbindung liegt vollumfänglich vor oder ihr Fehlen bleibt unerkannt …), sondern meist stört die Mehrparteiensituation – schiedsrechtlich schon ohnehin besonders problembehaftet – bzw. Streitgenossenschaft. Es geht also um den Sonderfall 35

ZB Lindacher ZZP 76 (1963), 451 ff. (452 f.). Hierzu siehe oben III 2 bei/mit Fn. 25. 37 Signifikanter früher Beispielsfall RG JW 1892, 273 re. Sp. [Nr. 16] aE; grundsätzlich zur „Formlosigkeit“ der Antragstellung RGZ 8, 377 (379) u. 149, 45 (49). 38 Sie kann schon selbst trennen – arg. § 1029 Abs. 1 ZPO: „alle oder einzelne Streitigkeiten … in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis“; genauso unter altem Recht bereits RGZ 62, 353 (354). 39 Unter altem Recht: RG HRR 1936 Nr. 301 li. Sp. 36

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subjektiver A b s p a l t u n g . Sie stört nicht bei schlicht „einfachen“ Genossen (§§ 59–61 ZPO), welchen gegenüber genauso eine divergente Entscheidung ermöglicht wird, wohl aber im Fall just „notwendiger“ einheitlicher Beurteilung (§ 62 ZPO). Jener Parallelfall zeigt mit aller Deutlichkeit, dass es doch eigenständige prozessuale Sachkriterien gibt, welche Trennung verhindern.

IV. Postarbitral Dazuhin wirkt der Schiedsspruch als „Eintrittskarte“ zur Vollstreckung (§§ 1060/1061 ZPO bzw. Abschnitt 8: „… von Schiedssprüchen“) wie auch zur Möglichkeit (beschränkter) staatsseitiger Überprüfung (§ 1059 bzw. Abschnitt 7: „… gegen den Schiedsspruch“). Hier liegt der Fokus mehr freilich auf Endgültigkeit des Spruches (so wie zu § 1055 ZPO). Jedoch stellen sich genauso Trennbarkeitsprobleme – hier jetzt in einem ganz anderen Gewande. 1. Grundlagen Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass jetzt wieder ein nahezu normales Staatsverfahren vorliegt, also an sich reguläre Vorgaben staatlichen Prozesses greifen, einbegriffen die Überlegungen zu Teilantrag (§§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 308 Abs. 1 ZPO) und Teilurteil (§ 301 ZPO). Es gibt freilich bei §§ 1059–1061 ZPO Spezifika zu beachten, welche hierbei Vorsicht anraten lassen und ergänzende Transpositionsleistungen einfordern. Dies sind am Ende drei: (1) Entschieden wird nicht etwa durch Urteil, sondern prinzipiell im B e s c h l u s s w e g ; das betrifft nicht alleinig die Entscheidungsform (§ 1063 Abs. 1 S. 1 ZPO), vielmehr den gesamten Verfahrensgang, der partiell nur geregelt ist, sei es nun unmittelbar (§§ 1063/1064 ZPO), per Rückgriff auf besondere Regelungen im generellen Prozessgang (insbes. § 329 ZPO) oder mittels einer Anleihe beim regelhaften Urteilsverfahren. Statt Klage und Urteil gibt es eben letztlich nur Antrag und Beschluss (schon von daher ist z.B. § 301 ZPO nicht einfach so demnach anwendbar – § 329 ZPO zielt bloß auf Formen, nicht Inhalt oder Ablauf). Oft gilt es erst, die Normen zu finden (oder u.U. auch anzupassen). (2) Es geht um eine prozessual induzierte G e s t a l t u n g (negativ [§ 1059 ZPO]: „Kassation“ oder positiv [§§ 1060/1061 ZPO]: „Exequatur“), nicht also ein übliches, „klassisches“ Begehren auf Leistungserbringung oder Rechtsfeststellung. Hier spielt der Streit also ebenso mit hinein, wie man den Streitgegenstand eines Aufhebungsverfahrens erfasst: globalisiert, quasi als Akt einer Klammerung, Aufaddition, Summierung etc., oder spezifiziert

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nach Aufhebungsgründen?40 Unter dem Fokus des Streitgegenstandsbegriffs lauert damit also der zugrundeliegende Lebenssachverhalt im Hintergrund der Betrachtung (unberührt bleibt die Teilung kraft Antrags). Für eine globale Lösung spricht klar die Reziprozität mit der Antragstellung auf Vollstreckbarerklärung – dort ist eben das Begehren von vornherein inhaltlich ein globales (nämlich die Titulierung zu bekommen), der einzelne Aufhebungsgrund nur konkrete Begründungshilfe (bezüglich der Gegenwehr). Also: prägender Lebenssachverhalt erscheint hier das Nichtvorhandensein von Aufhebungsgründen (quasi in Summe – arg. § 1060 Abs. 2 S. 1 ZPO41). Hierzu tritt noch ein wichtiger weiterer Umstand: die Kassationsnatur des Rechtsbehelfes samt dem Verbot für eine révision au fond verbieten inhaltliche Eingriffe; daher kann keine Abänderung der Entscheidung beantragt werden42 (und eben „nur“ Aufhebung des Spruches als Endziel …). (3) Besonderheit ist weiterhin die A n t r a g s f r i s t (§ 1059 Abs. 3 ZPO). Wer sich nicht zeitig wehrt, kann das Antragsrecht daher infolge Verfristung einfach verlieren – vorbehaltlich der Notwendigkeit der Vollstreckung bzw. der zwingenden sog. „Amtsgründe“ (§ 1060 Abs. 2 S. 3 ZPO). Das reduziert die Bedeutung der Streitgegenstandsbestimmung – globaliter oder spezifisch? – praktisch recht erheblich (nach kurzer Zeit existiert so oder so Klarheit, jedenfalls weitgehend), vergrößert allemal jedoch das Risiko eines lediglich teilweisen Angriffes. Dieses gilt es, taktisch zu bedenken; hier mag etwa die Kostenpflicht mit hineinspielen oder u.U. auch schlicht die Überzeugungskraft des Spruches. 2. Anwendung Die Praxis plagen demgegenüber nur wenig Zweifel. Das OLG Hamburg fasste das einmal wortkarg so zusammen: „Daß – wenn auch unter gewissen Für ersteres MünchKomm/Münch § 1059 ZPO Rn. 62 iVm. 63 u. 65. Hiergegen steht scheinbar § 1060 Abs. 2 S. 2 ZPO („Aufhebungsgründe sind nicht zu berücksichtigen, soweit … ein auf sie gestützter Aufhebungsantrag rechtskräftig abgewiesen ist.“), der möglicherweise grundgenaue Antragstellung voraussetzt. Das ist ein Relikt alten Rechts! Zunächst war erstrebt, die ordre-public Kontrolle auszunehmen (§ 1060 Abs. 2 S. 2 Var. 1 KomE mit Mot. S. 204), dies sollte erstreckt werden auf alle Amtsprüfungsgründe (§ 1060 Abs. 2 S. 2 RefE mit Mot. S. 183), d.h. Schiedsfähigkeit mit eingeschlossen. Siehe auch bei MünchKomm/Münch § 1059 ZPO Rn. 65. Ziel war eher, die Rechtskraft zu durchbrechen. 42 Siehe sehr früh schon RGZ 46, 419 (421). Veränderung ist unstatthaft (Schwab/ Walter Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Rn. 25.14 u. Stein/Jonas/Schlosser § 1059 Rn. 15 [Entscheidung] bzw. Lachmann Hdb. SGP, 3. Aufl. 2008, Rn. 2371 u. BLHAG/ Anders § 1059 ZPO Rn. 2 [Beantragung]), nicht aber die Teilaufhebung (Hk/Saenger § 1059 ZPO Rn. 36 aE; Zöller/Geimer § 1059 Rn. 6 u. 7; Musielak/Voit/Voit § 1059 Rn. 40; BeckOK/Wilske/Markert [36. Ed.] § 1059 ZPO Rn. 76). Leicht aus dem Rahmen fällt Thomas/Putzo/Seiler § 1059 ZPO Rn. 20 wegen des Hinweises auf Rn. 11 (bzw. Abs. 1 Nr. 1c [Hs. 2]). 40 41

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Voraussetzungen – die Teilanfechtung und Teilaufhebung von Schiedssprüchen zulässig [!] ist, entspricht in Rechtsprechung und Literatur allgemeiner Ansicht“.43 Bisweilen werden jedoch die „Teilurteils-Kriterien“ dem vorgeschaltet; solches scheidet nicht richtig zwischen Teilantrag und -spruch. a) Teilantrag Was zunächst den A u f h e b u n g s a n t r a g (§ 1059 ZPO) betrifft, fällt der wie sonst zur inhaltlich vollständig freien Disposition des Angreifers. Wenn er sich gleichfalls frei entscheiden kann, den Schiedsspruch zu akzeptieren, d.h. dem Inhalt nachzukommen, wieso soll er denn nicht ebenso lediglich Teile anfechten dürfen – jene Teile, welche ihn konkret beschweren (in einem „untechnischen“ Sinne) und die er nun eben darum nachprüfen lässt? Ist Streitgegenstand das gestellte Aufhebungsbegehren insgesamt, können die Gründe hierfür keine weitere Rolle spielen. Insoweit spricht nichts gegen eine Teilanfechtung, so wenig wie gegen eine „normale“ Teilklage spricht, die hinsichtlich der Zulässigkeit alleinig und schlicht prozessuale (!) Trennbarkeit voraussetzt, welche gemeinhin nicht ermangeln dürfte. Alles andere ist allein Frage parteiautonom (eigen-) verantworteter Dispositionen.44 Möglich sind deshalb qualitative sowie vor allem quantitative (scil. summenmäßige) Begrenzungen, komplett frei nach Belieben. Hier hat also § 301 ZPO nichts zu suchen45 – es fehlt an einer irgendwie vergleichbaren Situation, ja überhaupt am Bedürfnis. Dies hat offensichtlich auch mit Begründetheit nichts Inhaltliches gemein, wie es das OLG Frankfurt/Main neuerdings nun suggeriert.46 Es sagt umgekehrt auch nichts, falls der Grund (wie etwa die ermangelnde Schiedsfähigkeit [Nr. 2a] oder Schiedsbindung [Nr. 1a]) den gesamten Schiedsspruch betrifft47 – das 43 OLG Hamburg, U. v. 5.10.1979 – 11 U 190/78 [1], VersR 1982, 92 (92 re. Sp.) – kurz angebunden dazu BGH VersR 1982, 92 (93 f.) [1a] {2} mit [2] {7} (Nichtannahme der Fallrevision). 44 Das sieht richtig lediglich KG NJW 1976, 1356 (1358) [III 3c mit 2] u. Zöller/Geimer § 1059 ZPO Rn. 6. Ähnlich en passant BG Bull. ASA 20:2 (2002), 271 (276) [1b] u. OGH SZ 2016 Nr. 102, S. 215 (218/219) [1] u. 15.5.2019 – 18 OCg1/19z [B 1] (S. 7): Gründe induzieren Umfang, d.h. Teilanfechtung zur Vermeidung von Teilabweisung. 45 Dies übersieht etwa Schütze/Tscherning/Wais Hdb. Schiedsverfahren, 2. Aufl. 1990, Rn. 547 [Abs. 7]. – So wie hier, freilich nur nebenbei, Stein/Jonas/Schlosser § 1059 ZPO Rn. 19 aE (mit Hinweis auf Befugnis zur Teilklage), zust. BeckOK/Wilske/Markert (36. Ed.) § 1059 ZPO Rn. 19; Hk/Saenger § 1059 ZPO Rn. 42 („je nach Antrag“); Musielak/Voit/Voit § 1059 Rn. 32 („bei Teilbarkeit möglich“). Prütting/Gehrlein/RaeschkeKessler § 1059 ZPO Rn. 12 koppelt zu Unrecht Aufhebungsgrund und Auftrennbarkeit. 46 OLG Frankfurt a.M., a.a.O. (Fn. 6), Rn. 44 {47} [II]. 47 Völlig richtig mithin AiG/Kröll/Kraft 2. Aufl. 2007, § 1059 ZPO Rn. 23; Grenze sei allein die abstrakt mögliche Trennung („the award or separable parts of it“); so auch am Ende RG JW 1892, 273 re. Sp. [Nr. 16] (bezüglich des Exequatur): nurmehr untrennbarer Zusammenhang hindere u. OLG Braunschweig SeuffA 53 (1898) Nr. 137, S. 240 (241 f., 242): nicht wenn ein „einheitliches untrennbares Ganzes“ vorliegt (bezüglich der Aufhe-

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Staatsgericht trägt keine Amtsfürsorge zugunsten schiedsgerichtlicher Integrität (vorbehaltlich partiell der späteren Vollstreckung: § 1060 Abs. 2 ZPO). Sogar wenn man gesetzlich zulässt, auf gewisse (so wie nach § 1041 Abs. 2 ZPO/aF [DE]: Mangeln von Gründen) oder gar alle (z.B. Art. 192 Abs. 1 IPRG [CH]: ausschließlich in Auslandsfällen) Aufhebungsgründe prozessual zu verzichten, wäre dieses kaum anders, denn Prüfung kann jeweils bloß im Umfang des vorher angebrachten Begehrens stattfinden. Noch stärker erweist sich bei V o l l s t r e c k b a r e r k l ä r u n g e n (§§ 1060/ 1061 ZPO) die Sinnhaftigkeit, „willkürliche“ Beschränkungen zuzugestehen. Wer siegt, muss nicht später zwangsvollstrecken wollen, wer verliert, mag – gemeinhin der Regelfall – ebenso freiwillig zahlen. Was wäre nun aber bei angenommener (§ 266 BGB!) Teilzahlung? Der quantitativ reduzierte Antrag reflektiert prozessual die teilweise materielle Erfüllung (§ 362 Abs. 1 BGB) – es ist die ganz und gar naheliegende, natürliche Reaktion.48 Wer wollte ihr überflüssigerweise noch Hürden errichten? b) Teilspruch Bezüglich des Antrags auf Aufhebung (§ 1059 ZPO) wurde unsere Frage (scil. „Abtrennung“) seit jeher gern diskutiert. Auch dabei scheinen mir freilich leider mehrere dogmatische Ebenen insgesamt etwas vermischt, was mehr verwirrt als löst.49 Drei Überprüfungsstadien sind strukturell klar auseinanderzuhalten, was ganz rasch vieles erklärt. (1) Logisch den Vorrang genießt immer die Z u l ä s s i g k e i t s p r ü f u n g , wofür etwa Zuständigkeit (§ 1062 Abs. 1 Nr. 4 ZPO), Formalia, Schutzbedürfnis, Beschwer eine Rolle spielen – und eben auch, dass ein tauglicher Angriffsgegenstand (§§ 1059–1061 ZPO: „Schiedsspruch“) vorhanden ist. Bedeutsam ist dann dafür dessen Finalität, d.h. die Endgültigkeit des Entschiedenen.50 Damit legt das Schiedsgericht vor (was will es? – „Willensbildung“), das Staatsgericht hat alsdann u.U. die Aufgabe, das aufzuhellen, abzuklären, festzulegen (was tat das Schiedsgericht? – „Willenskündung“). bung). Quantitatives Auftrennen ist problemlos möglich: OLG München NJW 2007, 2129 (2130) [II 3] {17} (Geldforderung). 48 Als Fallbeispiel nur BGH ZZP 71 (1958), 427 (436) [3]. 49 BGH VersR 1982, 93 (93 re. Sp.) mit OLG Hamburg VersR 1982, 92 (92 re. Sp.) ließ diese Fragen einfach dahingestellt; überraschend auch am Ende offenlassend OLG Frankfurt a.M., a.a.O. (Fn. 6), Rn. 49 {52} [II] (insgesamt stark zweifelnd – ungenau der Hinweis auf § 1055 ZPO [arg. § 322 Abs. 1 ZPO: „nur“], eher ein Fall des § 318 ZPO; richtig indes die Beobachtung, es fehle an einer „systematische[n] Begründung“, sie verlangt Differenzierung). 50 So sah dies z.B. zuvor mit Recht OLG Frankfurt a.M. SchiedsVZ 2007, 278 (279) [II] {39} (siehe noch bei Fn. 47) – siehe vor allem BGH ZZP 71 (1958), 427 (436) [3] bzw. RG DR A 1942, 908 (909 li. Sp.) [Nr. 25]; JW 1924, 906 (906/907) [Nr. 1]; 1910, 70 (70 re. Sp.) [Nr. 25] in Abgrenzung zu RGZ 62, 353 (355).

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Hierbei zählt nicht die Benennung, sondern natürlich nur die Intention.51 Die darf und muss das Staatsgericht aber kontrollieren, keinesfalls mit Bezug auf Richtigkeit, lediglich mit Blick auf Finalität. Die Auftrennung des Spruches zur Sache ist staatsseits zu akzeptieren – es sei denn solche erfolgte vereinbarungswidrig und verfahrensfehlerhaft (§ 1059 Abs. 2 Nr. 1d ZPO: ergebnisrelevanter [!] Verfahrensverstoß), was aber Frage allein der Begründetheit ist (wobei dann dafür § 301 ZPO [u.U. weitergehend ergänzt um § 1059 Abs. 2 Nr. 2b ZPO] auch nicht gilt!52 – vorbehaltlich parteiautonomer Zusatzabreden). (2) Abzugrenzen ist hiervon die Problematik, dass das Staatsgericht nur eine Teilentscheidung innerhalb des insoweit zur Prüfung gestellten Spruchs einmal erlassen möchte (sei sie nun abweisend oder aufhebend …). Dieses kann einen Sinn machen bei völlig voneinander unabhängigen Sachverhalten und erscheint im Regelfall als prozessualiter weitestgehend ein gerichtlicher Ermessensakt. Jenes ist Frage der S t a t t h a f t i g k e i t , und dazu liegt nahe, auf § 301 ZPO a u f g r u n d „ e i n f a ch e r “ A n a l o g i e (vom Beschluss- aufs Urteilsverfahren) zuzugreifen – also: scheinbare Verpflichtung (Abs. 1 S. 1: „hat … zu erlassen“), gleichwohl Ermessensakt (Abs. 2: „kann unterbleiben“). Lediglich hier erheischt § 301 ZPO überhaupt dann Beachtung! Hier ergibt ebenso Sinn, zusätzlich „Trennbarkeit“53 und Unabhängigkeit54 abzufordern. Jene setzt voraus, dass der Aufhebungsgrund dann nur rechtlich ganz punktuell wirkt. (3) Und daneben steht separat die B e g r ü n d e t h e i t s p rü f u n g , die hier etwas anders läuft als sonst gewohnt – jenes ist nicht ureigen materiellrechtliche Prüfung (die verboten ist – es wäre révision au fond!), sondern bloß „einfach“ eine Verfahrenskontrolle mit ausnahmsweiser „flankierender“ Ergebniskontrolle (Nr. 2b: materiell-rechtlicher ordre public-Verstoß?). Hier dürften regelmäßig Kompetenzmängel (Nrn. 1a, 1c Hs. 1, 2a), Konstituierungsfehler (Nr. 1d Hs. 1 Var. 1) und Kenntnisdefizit (Nr. 1b) generelle Wirkung entfalten, wobei jedoch gewisse Einschränkungen gelten: offenkundig bei punktueller Kompetenzüberschreitung (Nr. 1c Hs. 2: Abtrennung) und vielleicht etwas verdeckter bei Gerichtskonstituierung (Nr. 1d Hs. 2: Kausalität); bei Verfahrensfehlern (Nr. 1d Hs. 1 Var. 2) und ordre public-Verstoß (Nr. 2b) wurde seit jeher aber beschränkt bloß aufgehoben – so weit konkret der Mangel reichte.55 51 Als Fallbeispiel nur BGHZ 151, 79 [II 1a] {6} = SchiedsVZ 2003, 39 m. Anm. Münch: „befand - ungeachtet … der Bezeichnung … – abschließend über die Schiedsklage“. 52 Siehe oben bei III 1 bei/mit Fn. 21–24 („Schiedsautonomie“). 53 Oder vielleicht hier alternativ auch Abgrenzbarkeit iSv. Musielak/Voit/Voit § 1059 ZPO Rn. 40 („ganz oder zu einem abgrenzbaren Teil aufheben“). 54 Dazu vgl. bloß Jauernig FS BGH III (2000) S. 311 (314 f.) [II 3]. 55 Dennoch mag u.U. ein kleiner Mangel den kompletten Schiedsspruch gewissermaßen „infizieren“ (das sieht richtig AiG/Kröll/Kraft 2. Aufl. 2007, § 1059 ZPO Rn. 92: „Where

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So ist im Grundsatz eine Teilaufhebung etwa anerkannt bei lediglich punktuellem Gehörsverstoß56 sowie ebenso anderen ordre-public-Mängeln,57 eingeschlossen die Selbstbegünstigung von Schiedsrichtern;58 sinngemäß erfolgt schon seit jeher genauso Aufhebung allein im Umfang des Kompetenzmangels.59 Dafür kann § 301 ZPO aber keine Relevanz mehr zukommen.60 Nunmehr zählt das Begründetsein des Sachangriffs. Das Gericht darf Streitgegenstände auch spalten, falls insoweit Endentscheidungen anstehen – das entspricht teilweiser Abweisung mit reziproker Stattgabe und damit in Summe dann der Sachentscheidung zum Streitgegenstand uno actu. Gerichte müssen bloß präzis beachten, den parteiseitigen Angriff vollumfänglich abzuarbeiten. Zwar ist Regel, dass ein Staatsgericht nach § 1059 ZPO bloß „kassieren“ kann (oder jenes eben lässt …), jedoch nicht die Sache ändern (welches Inhaltskontrolle bewirkt). Das entspricht aber der Grundregel bei § 308 Abs. 1 ZPO, eben kein aliud oder plus zuzusprechen. Hier ist es allemal nur ein Weniger (wenn überhaupt denn). Ob also insoweit ein tatsächlich teilurteilsfähiger Streitgegenstand übrigbleibt, bleibt sich – hier wie dort – ganz gleich. Für letztlich reziprok wirkende Anträge auf Exequatur (§§ 1060/1061 ZPO) gilt am Ende allemal nichts anderes. Die drei Prüfstadien (Zulässigkeit / Statthaftigkeit61 / Begründetheit) verlangen dieselben Antworten, nur dass the ground … only affects a separable part“), wie etwa im Fall einer „punktuellen” Rechtsbeugung (KG NJW 1976, 1356 [1357]). Quer dazu liegt aber doch RG JW 1900, 72 [Nr. 7] (VI. ZS zur Aufhebung) gegen „Zerreißen“ einer Gegenwehr – freilich mit Blick auf drohende Kompetenzaufspaltung (das Argument ist überholt: § 1059 Abs. 5 ZPO) – anders wenig später schon RGZ 46, 419 (421 f.) [VII. ZS zur Exequatur), spätestens überholt jedoch seit RGZ 119, 29 (33) [VI. ZS zur Aufhebung: zwar gegen eine Teilvernichtung, indes aber wegen Untrennbarkeit!). Andersherum ist auch immer (praktische) Teilbarkeit nötig, aber nicht etwa (rechtliche) Teilurteilsfähigkeit – der Ausspruch muss natürlich auch insgesamt ein sinnvolles Ergebnis tenorieren (siehe auch schon oben: Fn. 34). Was sich als insgesamt untrennbar darstellt, muss prozessual auch zusammenbleiben. 56 BGHZ 96, 40 (49) [IV 4] {41} m.w.N. = NJW 1986, 1436; recht früh indes auch schon OLG Hamburg SeuffA 44 (1889) Nr. 102, S. 165 (165/166). 57 BGHZ 179, 304 (311 mit 310 u. 312) Rn. 30 [2d bb (1)] mit Rn. 21 [2d vor aa] u. Rn. 29 [2d bb vor (1)] = NJW 2009, 300: Tabellenanmeldung fürs Insolvenzverfahren. 58 BGH SchiedsVZ 2017, 200 (201) Rn. 17 [III 2b] (obiter). 59 RG WarnR 1913 Nr. 180, S. 215 (216); JW 1928, 2136 (2137 aE) [Nr. 22]; HRR 1936 Nr. 301 re. Sp. 60 AA BGH KTS 1980, 241 (243) [II 1b] – außerdem (z.T. explizit): Lachmann Hdb. SGP, 3. Aufl. 2008, Rn. 2389; Hk/Saenger § 1059 ZPO Rn. 19 [für Nr. 1d]; Prütting/Gehrlein/Raeschke-Kessler § 1059 ZPO Rn. 17; BLHAG/Anders § 1059 ZPO Rn. 19 [Gründe] u. 20 [Spruch] (wegen Nr. 1c siehe erg. Rn. 12 aE iVm. Rn. 8 aE); Zöller/Geimer § 1059 ZPO Rn. 7; BeckOK/Wilske/Markert [36. Ed.] § 1059 ZPO Rn. 76; Stein/Jonas/Schlosser § 1059 Rn. 19 [zA]; Schwab/Walter Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Rn. 14a [Abs. 2]. 61 Die meisten Präzedenzen berühren nur einzeln tenorierte Ziffern: BGH KTS 1961, 135 (136) [I] (explizit) u. BGH SchiedsVZ 2017, 200 (201) Rn. 17 [III 2b] (implizit); siehe auch schon RGZ 46, 419 (421/422) („Postenklage“).

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nun prozessuale Angreiferrolle und materielle Aufhebungsgründe nicht mehr jetzt noch in derselben Hand vereinigt sind. Das OLG Frankfurt/Main62 mischt diese Ebenen insgesamt wenig glücklich anlässlich der Präsentation des Meinungsstands (Rn. 40–42 {43–45}); zwar mögen dabei auch Konsistenzprobleme bei der Senatsrechtsprechung eine gewisse Rolle spielen (Rn. 43 {46})63 – das Wegflüchten aus der Zulässigkeit (oder u.U. auch Statthaftigkeit) (Rn. 44 {47}) ist aber wahrhaft keine Lösung. Es ist eben prinzipiell schon bestreitbar, „dass sich die Frage, welche Folgen ein auf teilweise Aufhebung gerichteter Antrag nach sich zieht, nur anhand der jeweils konkret geltend gemachten Aufhebungsgründe beantworten lässt“ – aber nur in jenem zweiten Teile: just ordre publicVerstöße verlangen a m t s w e g i g e B e a c h t u n g (Nr. 2 pr.), fordern also niemals, dass man jene „begründet geltend macht (Nr. 1 pr.)! Der reale Aufhebungsgrund zählt jeweils, so oder so. Bei einem Teilantrag fällt dagegen die Kontrolle von vornherein nur teilweise an, das erst entzieht dem ersteren Teil des Kernsatzes die Sinnhaftigkeit. Würde man einen potentiellen Gewinner zum Angreifen verpflichten? Darf er sein Antragsrecht nicht „verfristen“ lassen? Man kann gut darüber „auslegend“ rechten, ob bei Geltendmachung eines breiteren ordre-public-Verstoßes der Antrag als solcher beschränkt gewollt war (§ 139 Abs. 1 S. 2 aE ZPO ./. § 308 Abs. 1 ZPO) – aber nicht mehr!64 Wer angreift, der herrscht (und teilt, falls gewollt …).

V. Zusammenfassung Die Resultate des Beitrages sind folgendermaßen kurz zusammenzufassen: 1. Wie in der Einleitung schon angedeutet, liegt der Schwerpunkt auf einem „Herrschen“ – die Gestattung prozessualer Disposition gibt einem Angreifer immer auch die Rechtsmacht zur Abtrennung, also zum „Teilen“. 62

OLG Frankfurt a.M., a.a.O. (Fn. 6), Rn. 39–45 {42–47}. B. v. 10.5.2007 – 26 Sch 20/06, SchiedsVZ 2007, 278 (279) [II] {40} – keinerlei Teilaufhebung statthaft; es ging um eine inhaltlich „konnexe“ (Schieds-) Widerklage: der § 301 ZPO als „Zulässigkeitshemmnis“; B. v. 24.7.2014 – 26 Sch 28/13 u. 29/13 [II B 1] {89–91}, BeckRS 2014, 124235 Rn. 79–81 – keinerlei Anfechtungsgrund vorhanden (Verfahrenskontrolle): der § 301 ZPO als „Anfechtungsbegründung“; OLG Frankfurt a.M., B. v. 17.10.2019 – 26 Sch 2/19 [II] {47}, BeckRS 2019, 32865 Rn. 38 {41} – keine Hindernisse einer Teilanfechtung; es ging um eine teilweise aberkannte Geldforderung bzw. Rn. 39–44 {42–47} (Teilaufhebungsantrag) [das Zitat bei Rn. 44 {47}]. 64 So weit wollen nicht einmal Stein/Jonas/Schlosser § 1059 ZPO Rn. 6 u. AiG/Kröll/ Kraft 2. Aufl. 2007, § 1059 ZPO Rn. 36 gehen, die ausnahmsweise Prozessdispositionen (Rücknahme, Verzicht, Vergleich) beschränken, zumal das immer ein vorab begründetes Prozessrechtsverhältnis voraussetzt. 63

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2. Die Dispositionsmacht ist angreiferzentriert; hinsichtlich der Teilung der Schiedseinrede ist infolgedem Zurückhaltung angebracht und zwischen (eröffneter) qualitativer und (verbotener) quantitativer Trennung grundsätzlich zu unterscheiden. 3. Die Dispositionsmacht ist realitätsorientiert; was realiter nicht trennbar ist, muss prozessual gleichfalls zusammenblieben („Normativität des Faktischen“) – hier darf es dann also keine weiterreichende (autonome) „Antragsstückelung“ geben. 4. Von dieser faktischen Begrenzung jedoch abgesehen, steht es jedem Schiedskläger frei, den Klageumfang selbst festzulegen. – Und auch die Reaktion des Gerichts ist allemal eine freiere: der Schiedsspruch ist unabhängig von § 301 ZPO. 5. Innerhalb staatlicher Kontrolle (§§ 1059–1061 ZPO) verbleibt es ebenfalls bei Gestattung prozessualer Disposition – insoweit sind ohne weiteres Teilanträge eröffnet, aber z.B. auch ein prozessuales Anerkenntnis (arg. § 307 ZPO) seitens des Gegners. 6. Die gerichtlich vorgenommene Überprüfung ist insoweit dreischrittig angelegt: Trennbarkeitsfragen stellen sich hierbei zur Zulässigkeit, Statthaftigkeit, Begründetheit. Nur die Statthaftigkeit eines Teilentscheids ist Ort, § 301 ZPO heranzuziehen. 7. Am Ende ist entscheidend, wer denn genau trennt: die Partei als Herrin des jeweiligen Verfahrens oder das Gericht als „Dritter“. Zum Beachten prozessualer Kohärenz ist lediglich das Staats-/Schiedsgericht verbunden.

neue rechte Seite!

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Die Modernisierung der Auftragsbedingungen

Die Modernisierung der Auftragsbedingungen Christoph E. Palmer

Die Modernisierung der Auftragsbedingungen zwischen den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD und ZDF und der Fernseh-Produktionswirtschaft in Deutschland CHRISTOPH E. PALMER

I. Ausgangslage: Überholtes Auftragsmodell und Spardruck der Rundfunkanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auftakt der Sendergespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erste Eckpunkte der ARD (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erste Eckpunkte des ZDF (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Eckpunkte für den Dokumentarbereich mit ZDF (2012) und mit ARD (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Erweiterungen der Eckpunkte auf Entertainment bei ZDF (2013) und ARD (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ergänzung zu Video-on-Demand für ZDF-Eckpunkte (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Aufforderung der Länder an die Sender (2015) . . . . . . . . IX. Großer Reformschritt mit ARD-Eckpunkten 2.0 (2015) . . X. Verbesserte Rahmenbedingung des ZDF (2016) . . . . . . . . XI. Anerkennung von Sondermitteln für das Programm . . . . XII. Weiterentwicklungen der ARD-Eckpunkte (2018/2019) . . XIII. Vorläufige Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V. (Produzentenallianz), die aus dem Zusammenschluss von Vorgängerverbänden im Jahre 2008 als maßgebliche Interessenvertretung der Produktionswirtschaft in Deutschland hervorging,1 hat mit ARD und mit ZDF in den letzten zehn 1 Die Verbände Association of German Entertainment Producers, Bundesverband Deutscher Fernsehproduzenten, film20 und die AG Spielfilm schlossen sich im Jahr 2008 zur Allianz Deutscher Produzenten – Film & Fernsehen e.V. (Produzentenallianz) zusammenzusammen. Im Jahr 2009 folgte der Verein Deutscher Animationsproduzenten und zwei Jahre später der Verband deutscher Post- und Werbefilmproduktionen. Im selben Jahr wurde zudem die Sektion Dokumentation gegründet. Unter dem Dach der Produzentenallianz sind die rund 270 Mitgliedsfirmen in den Sektionen Animation, Entertainment, Dokumentation, Fernsehen, Kino und Werbung organisiert. Sie repräsentieren ca. 80%

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Jahren intensive Gespräche über das Auftragsmodell bei Fernsehproduktionen geführt. In kontinuierlichen Konsultationsverfahren über mehrere Etappen, gelang es im Zusammenspiel von Sender- und Produzentenseite das überholte Modell für Fernsehauftragsproduktionen in Deutschland mittels Selbstverpflichtungserklärungen der Sender in Richtung verbesserter Rahmenbedingungen, ausgewogener Auftragsbedingungen und einer fairen Rechteaufteilung zu modernisieren. Nachfolgend werden die komplexen Prozesse zusammenhängend und chronologisch mit ihren wichtigsten Bestandteilen dargestellt.

I. Ausgangslage: Überholtes Auftragsmodell und Spardruck der Rundfunkanstalten Die Fernsehproduktionswirtschaft in Deutschland ist überwiegend von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt. Von den etwa 900 Produktionsunternehmen auf dem deutschen Markt sind ca. zwei Drittel vorwiegend Fernsehproduktionsfirmen. Sie sind seit jeher wesentlich auf ARD und ZDF als die größten Auftraggeber für Fernsehproduktionen in Deutschland angewiesen. Bei einem Fernsehumsatz der Fernsehproduktionsfirmen in Deutschland von 2,45 Milliarden Euro, entfallen auf die öffentlich-rechtlichen Auftraggeber 1,37 Milliarden Euro (56%) und 1,05 Milliarden Euro (44%) auf sämtliche private Auftraggeber. 2 Die ARD und ihre einzelnen Landesrundfunkanstalten verantworten zusammen mit der Degeto über 800 Millionen Euro Auftragsvolumen3, das ZDF als größter Einzelauftraggeber gut 600 Millionen. Allerdings beklagen die Produzent/innen seit Jahren, dass das Modell der Auftragsproduktionen längst nicht mehr auskömmlich für sie ist. Mit Zahlen belegt wurde dies mit der im Jahr 2009 erstmals durchgeführten Mitgliederbefragung der Produzentenallianz, die fortan jährlich zur Ermittlung der wirtschaftlichen Lage der Branche durchgeführt wird.4 In der ersten Befragung

des Umsatzes der deutschen Film- und Fernsehproduktionswirtschaft. Die Produzentenallianz ist damit die maßgebliche Interessenvertretung dieser Industrie in Deutschland. 2 Vgl. Castendyk/Goldhammer, Die Produzentenstudie 2018 – Daten zur Film- und Fernsehwirtschaft in Deutschland 2017/2018, S. 13 f. 3 ARD Produzentenbericht 2018, S. 3 und S. 9, http://www.ard.de/download/5816406/ ARD_Produzentenbericht_2018.pdf. 4 Bei der jährlichen Mitgliederbefragung der Produzentenallianz werden in einem standardisierten Fragebogen quantitative und qualitative Unternehmensdaten abgefragt, um ein möglichst authentisches Bild der aktuellen wirtschaftlichen Lage und der Jahresaussichten der Branche zu erhalten. Die hohe Marktabdeckung der ProduzentenallianzMitglieder und die große Beteiligungsquote lassen Rückschlüsse auf den aktuellen Zustand des Produktionsstandortes Deutschland zu.

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nannten 70% der Produzent/innen „ungenügende Bezahlung für geforderte Leistungen“ als vordinglichstes Problem bei Auftragsproduktionen. Bei inflationsbereinigt gleichbleibender Vergütung werde ein immer umfangreicheres Leistungsspektrum (Produktionsleistungen, Nebenleistungen, Lizenzen, etc.) abverlangt.5 Dieser Befund verschärfte sich in den Mitgliederbefragung der folgenden Jahre. Die Umfrage im Herbst 2015 belegte deutlich, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Produktionsfirmen inzwischen hatte. Die Zahl der defizitär wirtschaftenden Fernsehproduzent/innen hatte sich im Vergleich zum Vorjahr von 8% auf 22% fast verdreifacht. Um diese Entwicklung verstehen zu können, muss man sich zunächst auch vor Augen führen, dass das vorherrschende Modell bei Auftragsproduktionen in den 1960er Jahren entstand. Zug um Zug hatte sich das Programm der 1950 gegründeten ARD und des 1961 neu geschaffenen, auf das Fernsehen beschränkten, ZDF erweitert. Die Fernseh-Auftragsproduktion wurde immer wichtiger. Firmen freier Fernsehproduzenten entstanden in reicher Anzahl. Die Philosophie der Auftragsproduktion bringt ein früher Beitrag anschaulich auf folgenden Nenner: „Mit der Ausstrahlung des jeweiligen Fernsehfilms hat sich der Produktionszweck erfüllt. Die Anstalten haben das Programmversprechen eingelöst, für das die Teilnehmer ihre Gebühren bezahlt haben. Weitere Arten der Verwertung (Programmaustausch, Auslandsverkauf, gegebenenfalls Auswertung in Filmtheatern) sind demgegenüber nur wirtschaftliche Randerscheinungen.“6 Die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen stammten aus einer Zeit, in der die Entwicklung der Stoffe bei den Senderredaktionen lag und die Produzent/innen lediglich für die Herstellung beauftragt wurden. Produzent/innen wurden oftmals als „verlängerte Werkbank“ gesehen. In dieser Zeit hat sich das Modell der „vollfinanzierten Auftragsproduktion“ etabliert. Dabei kalkuliert die Produktionsfirma alle Kosten der Produktion – von den Gagen für Cast und Stab bis zu Studiomieten, Gerätekosten und Gebühren für Drehgenehmigungen. Die vom Auftraggeber anerkannten Kalkulationsposten ergeben das Budget, auf das die Produktionsfirma Gemeinkosten, sogenannte Handlungskosten (HU) und einen Gewinnaufschlag erhält.7 Das Problem dabei: Nicht alle Kostenpositionen wurden vom Sender anerkannt, zum Beispiel Entwicklungskosten, manche Berufsbilder, Rechtsberatung, Überstundenzuschläge oder die übertarifliche Bezahlung bestimmter Stabmitglieder. Diese Differenz muss die Produktionsfirma aus 5 Vgl. Stellungnahme der Produzentenallianz: Wirtschaftliche Aussichten der deutschen Produktionswirtschaft 2010: Gesunkene Erwartungen bei Film- und Fernsehproduzenten, https://www.produzentenallianz.de/beitraege/pressemitteilung/wirtschaftlicheaussichten-der-deutschen-produktionswirtschaft-2010-gesunkene-erwartungen-bei-filmund-fernsehproduzenten-2/. 6 Roeber/Jacoby, Handbuch der filmwirtschaftlichen Medienbereiche, 1973, S. 886 f. 7 Vgl. Palmer in: Recoup! Filmfinanzierung – Filmverwertung, 2012, S. 63 f.

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Gewinn- und HU-Anteil decken. Verschärft wird diese Entwicklung durch den enormen Spardruck der öffentlich-rechtlichen Sender. Diesen Druck geben sie an die Produzent/innen weiter: Heute ist eine „vollfinanzierte Auftragsproduktion“ nicht mehr tatsächlich vollfinanziert. Insbesondere Kosten für die Entwicklung von Drehbüchern oder Formatideen oder die erheblich gestiegenen Verwaltungskosten werden durch die HU- und Gewinnpauschalen längst nicht mehr abgedeckt. Hinzu kommt, dass im alten Auftragsmodell nur die Herstellungskosten gedeckt sind – als würde sich der Wert eines Gemäldes nur aus den Kosten für Farbe und Leinwand zusammensetzen. Auch bei einer Produktion handelt es sich natürlich immer auch um einen schöpferischen Akt, der einen Wert über die reinen Herstellungskosten hinaus entwickelt. Dieses Auftragsmodell setzt damit auch die falschen Anreize. Es konzentriert die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie viel bestimmte Werkteile kosten dürfen, nicht aber auf die Frage, wie erfolgreich eine Produktion sein kann und wie man dies erreichen könnte. Denn die sogenannte „vollfinanzierte Auftragsproduktion“ folgt dem TotalBuyout-Prinzip: Der Produzent gibt alle Rechte für alle Zeiten an den Sender ab. Das mag damals kein Nachteil gewesen sein, schließlich konnten die Produktionen ohnehin nur in den wenigen Fernsehkanälen ausgewertet werden. Daneben gab es praktisch kaum Verwertungsmöglichkeiten. Das hat sich heute allerdings drastisch gewandelt. Wir erleben geradezu eine Explosion der Zahl der Kanäle, Vertriebswege und Verwertungsmöglichkeiten. Für die Produzentenallianz ist es daher eines der vordringlichen Ziele, die Verfügungsmacht des Produzent/innen über die Verwertungsrechte in stärkerem Umfang zu ermöglichen. 8 Private Fernsehsender hatten seit den 80er Jahren die Fernseh-Auftragsproduktion in Deutschland deutlich verstärkt, sich aber – mit Nuancen – den Standards bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten angeglichen. „Hatten die privaten Fernsehunternehmen zunächst fast ausschließlich auf zu synchronisierende Fernsehimportware gesetzt und damit in den Anfangsjahren hohe Einschaltquoten erzielt, mussten sie doch irgendwann der Tatsache Rechnung tragen, dass selbstproduzierte Serien und Fernsehfilme mit aktuellen heimischen Bezügen und Wiedererkennungseffekten beim deutschen Fernsehpublikum auf die Dauer besser ankamen. Sie begannen mehr und mehr Auftragsproduktionen zu vergeben.“9 Ganz wesentliche Akzente setzten die privaten Anbieter im Laufe der Jahrzehnte insbesondere auch bei Unterhaltungsformaten, die geradezu zu ihrem Markenkern wurde und die in der Regel als Auftragsproduktion entstehen. Heute erleben wir, wie das lineare Fernsehen von neuen Programmanbietern wie Netflix und Amazon Prime Video auch in Deutschland herausge8 9

Vgl. Palmer, Promedia Nr 1/2009, S. 9–10. Iljine/Keil, Der Produzent, 2000, S. 83.

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fordert wird. In Zukunft werden die Zuschauer/innen ihre Inhalte immer mehr auf den verschiedensten Online-Plattformen finden. Im Jahr 2017 nutzte bereits fast jeder fünfte deutsche Haushalt einen kostenpflichtigen Streamingdienst. Lagen die Gesamterlöse im Jahr 2017 bei 1,1 Milliarden Euro, werden sie bis 2023 auf 2,5 Milliarden Euro prognostiziert.10 Für die Produzent/innen bedeutet das, neue Erzählformen und Formate zu entwickeln und immer aufwändiger herstellen zu müssen. Das Bewährte einfach fortzuschreiben, reicht nicht mehr aus. Das überholte Auftragsmodell muss sich daher ändern hin zu ausgewogenen Auftragsbedingungen und einer fairen Rechteaufteilung.11 Produzent/innen sind heute erst recht nicht mehr die „verlängerte Werkbank“ eines auftraggebenden Senders. Sie sind nicht bloß Zulieferer von Teilen eines Programms. Produzent/innen sind der „Motor“ des kreativen und wirtschaftlichen Prozesses der Filmentstehung: Von der Idee, über Produktion bis hin zur Auswertung. Diesem Selbstverständnis der Produzent/innen folgt daher auch das Leitbild der Produzentenallianz. Nur diejenigen, die die kreative und wirtschaftliche Gesamtverantwortung für die Produktion tragen, können Filmproduzent/innen genannt werden.12 In einer Zeit, in der Innovationen immer wichtiger werden, ist es wichtig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Produzent/innen in die Lage versetzen, eine dynamische, unternehmerische Rolle auszuüben. Produzent/innen müssen z.B. auch Rücklagen bilden können, mit denen experimentiert, investiert und Neues erfunden werden kann, um in dem immer internationaler werdenden Wettbewerb bestehen zu können.

II. Auftakt der Sendergespräche Der Produzentenallianz hat im Jahr 2009 mit der ARD als erste der deutschen Sendegruppen Gespräche zu grundlegenden Auftragsbedingungen aufgenommen. Das dies so zügig gelingen konnte ist auch der politische Absichtserklärung der Ministerpräsidenten der Länder zu verdanken, die sie im Dezember 2008 als Protokollerklärungen zu § 6 des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrages (12. RÄStV) – auf eine der ersten Initiativen der Produzentenallianz – festgehalten haben. Darin bekräftigen die Länder, dass „der öffentlich-rechtliche Rundfunk im 10

Vgl. Birkel, Goldmedia Analyse: Pay-VOD in Germany – Forecast 2018–2023, 2018. Vgl. Stellungnahme der Produzentenallianz, Terms of Trade – Modernisierung des Vergütungsmodells – Rechteentbündelung, Kalkulationsrealismus, Formatschutz: Produzenten formulieren Mindestvertragsbedingungen bei Auftragsproduktionen für Fernsehsender in Deutschland vom 19.3.2009, https://www.produzentenallianz.de/beitraege/ pressemitteilung/terms-of-trade-modernisierung-des-verguetungsmodells/. 12 Vgl. Palmer (Hrsg.), Leitbild Produzent/in – Eine Begriffsbestimmung, Handbuch der Produktionswirtschaft 2019, Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V., 2019, S. 9 f. 11

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Bereich Film- und Fernsehproduktionen Unternehmen sowie Urhebern und Leistungsschutzberechtigten ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte gewähren soll. Sie fordern die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf, dazu in ihren Selbstverpflichtungen nähere Aussagen zu treffen.“13 Die Produzentenallianz hat dies als zentrale Grundlage für Gespräche mit der ARD und ZDF verstanden.14 Es spricht für die ARD, dass sie so rasch in einen konstruktiven Gesprächsprozess mit der Produzentenallianz eingestiegen ist.15

III. Erste Eckpunkte der ARD (2009) Nach langen, komplexen Erörterungen über acht Monate hinweg konnten noch im Jahr 2009 mit der ARD erste grundlegende Eckpunkte für die Zusammenarbeit bei Auftragsproduktionen formuliert werden.16 So konnten wichtige Grundsätze festhalten werden, die später für die weitere Fortentwicklung der Eckpunkte entscheidend sein sollten. Zwar hielt die ARD am Prinzip der vollfinanzierten Auftragsproduktion fest, immerhin konnte erstmalig die grundsätzliche Übereinstimmung festgehalten werden, künftig verstärkt auch teilfinanzierte Produktionen herzustellen, bei denen Produzent/innen Rechte behalten können. So erklärte die ARD ihre Bereitschaft, limitierte Rechte im Rahmen von Einzelfallverhandlungen zu akzeptieren, wenn sich die Produzenten mit einem gesondert auszuhandelnden Prozentsatz an der Mitfinanzierung beteiligen. Des Weiteren war es gelungen den Grundsatz festzuschreiben, dass beide Seiten an den Verwertungserfolgen einer Produktion beteiligt werden. Dies war in der Vergangenheit bei der ARD nicht der Fall. Es konnte daher als ein besonderer Schritt der ARD angesehen werden, einem Erlösbeteiligungsmodell zu folgen, welches das ZDF in seinen wesentlichen Grundzügen schon deutlich früher mit den Produzent/innen praktiziert hat. Nunmehr beteiligen die ARD-Landesrundfunkanstalten bzw. die Degeto die Produzent/innen mit 50% an sämtlichen Nettoerlösen, die sie 13 Vgl. Protokollerklärungen zu § 6 des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrages, https://www.ard.de/download/138948/index.pdf. 14 Vgl. Stellungnahme der Produzentenallianz zur Definition des Auftrages der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Rahmen des Novellierungsprozesses des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrages vom 14.4.2018, https://www.produzentenallianz.de/wpcontent/uploads/2018/11/Positionspapier_12._RuAEStV.pdf. 15 Die ARD stand unter Vorsitz des SWR Intendanten Peter Boudgoust und betraute mit der Verhandlungsführung die aufgeschlossene, zu Veränderungen bereite, seinerzeitige Justitiarin des MDR, Prof. Dr. Karola Wille, die auch als spätere Intendantin des MDR (ab 1.11.2011) die Verhandlungsführung mit der Produzentenallianz behielt und innerhalb der ARD offiziell als „Filmintendantin“ firmiert. 16 Vgl. Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen bei Produktionen von Mitgliedern der Allianz Deutscher Produzenten – Film & Fernsehen im Auftrag der ARDLandesrundfunkanstalten in der Fassung vom 8.12.2009.

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bei Verwertungen im Ausland, im inländischen Pay-TV, im Kino, für DVDs sowie aus kommerziellen On-Demand-Angeboten erzielen. Neuland wurde bei der Verwertung nicht genutzter Rechte betreten. Es war einer der schwierigsten Punkte in den Gesprächen, ob rückwirkend Rechte, die von den Sendern nicht genutzt werden, den Produzenten für eine eigene Verwertung wieder zurück übertragen werden. Es wurde hierbei die Verständigung erzielt, dass für all diejenigen Produktionen, die nicht innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren genutzt worden sind, eine Selbstverwertung durch den Produzenten gestattet wird. Der ursprünglich auftraggebende Sender ist in Höhe von 50% an den Erlösen beteiligt.17 Wesentliche und in der Praxis weitreichende Verständigungen konnten bei der Kalkulationsfähigkeit wichtiger Berufsbilder erzielt werden. Continuity, Casting, Materialassistenz, Szenenbild/Kostümbildassistenz, Locationscout und redaktioneller Koordinator bei Serien sind seither als kalkulationsfähig anerkannt. Zudem wurde festgeschrieben, dass der Tarifvertrag Anwendung findet.18 Hinzu kommt, dass die ARD mit dem Bekenntnis zur Produzentenbindung bereits in den ersten Eckpunkten einen deutlichen Vertrauensbeweis für die Arbeit der Produzent/innen formuliert hat. Stoffe und Formate, die von einem Produzenten oder einem sonstigen Rechteinhaber entwickelt und von einem Produzenten an eine oder mehrere ARD-Landesrundfunkanstalten oder die Degeto herangetragen werden, müssen künftig zwingend von den Produzent/innen realisiert werden, die den Stoff entwickelt haben. Das geistige Eigentum, welches bei den Produzent/innen entsteht, wird damit gesichert. Mit der ersten Verständigung dieser Art war zuerst mit der ARD die bis dato weitreichendste Verbesserung der Auftragskonditionen gelungen, auch wenn zunächst nur für den fiktionalen Bereich. Gemeinsames Verständnis von ARD und Produzentenallianz zu den ersten Eckpunkten war, dass diese weiter zu konkretisieren und fortzuentwickeln sind. Die ersten Eckpunkte traten ab 1.1.2010 in Kraft und sollten zunächst für eine vorläufige Dauer bis zum 31.12.2013 gelten. Bei dieser ersten Verständigung zeigte sich auch etwas ganz Entscheidendes: Erstmals wurde deutlich, dass die Produzentenallianz als neue, schlagkräftige Interessenvertretung der Produzent/innen eine ganz andere Verhandlungsmacht als einzelne Verbände in der Vergangenheit hat. Sie konnte mit der Senderseite die Gespräche auf Augenhöhe und mit breitem Mandat ausgestattet, führen. 17 Selbstkritisch muss man anmerken, dass von diesen Regelungen im vergangenen Jahrzehnt kaum Gebrauch gemacht wurde. Vgl. Castendyk/Müller/Schwarz, Ergebnisse der Evaluation ARD-Eckpunkte und ZDF-Rahmenbedingungen, 2019, S. 22. 18 Zuletzt wurde abgeschlossen: Tarifvertrag für auf Produktionsdauer beschäftige Film- und Fernsehschaffende in der Fassung vom 29.5.2018 in: Palmer, (Hrsg.), Handbuch Produktionswirtschaft 2019, Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V., 2019. S. 15 f.

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IV. Erste Eckpunkte des ZDF (2010) Nach Inkrafttreten der wegweisenden ersten ARD-Eckpunkte konnten in intensiven Gesprächen mit dem ZDF im September 2010 ebenfalls Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei Auftragsproduktionen erreicht werden.19 Mit Einigungen über erweiterte Erlösbeteiligungen, verstärkte Finanzierung von Projektentwicklungen sowie verbesserte Zahlungsbedingungen und Erleichterungen bei der Bürgschaftsstellung sowie der Anerkennung neuer Berufsbilder, konnten erste positive Ergebnisse mit dem ZDF gefunden werden, die in der Summe qualitativ nicht hinter den ersten ARD-Eckpunkten zurückfielen.20 Da auch das ZDF zunächst am Grundsatz der vollfinanzierten Auftragsproduktion festhielt, war es von großer Bedeutung, dass die Bereitschaft des ZDF festgehalten werden konnte, für teilfinanzierte Produktionen immerhin individuell über die Aufteilung der Rechte, entsprechend der jeweiligen Finanzierungsanteile, zu verhandeln.21 Eine wichtige Neuregelung konnte bei der Erlösbeteiligung erreicht werden. Künftig galt eine Beteiligung in Höhe von 16% an sämtlichen Bruttoerlösen, die bei der Verwertung im Ausland, im inländischen Pay-TV, bei einer Kinoverwertung und bei einer Verwertung der Videogrammrechte erzielt werden. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass das ZDF anders als die ARD eine Beteiligung an kommerziellen Verwertungen bereits seit den 1970er Jahren praktiziert. Das ZDF erklärte sich grundsätzlich bereit, im Einzelfall Sonderregelungen für die Rechteverwertung zuzustimmen. Es konnte festgehalten werden, dass sofern die Produzent/innen im Einzelfall konkrete eigene Verwertungsmöglichkeiten nachweisen, die entsprechenden Verwertungsrechte an sie zurückübertragen werden können.22 Verständigungen konnten auch bei der Anerkennung von Berufsbildern erzielt werden. So sind seither kalkulationsfähig: Datawrangler bei HDProduktionen, Continuity (nur bei Dokumentarspielen), Casting mit einem projektabhängigen Höchstsatz, Kameraassistent sowie Kosten für Internetrecherche/Archivrecherche.

19 Vgl. Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei ZDF-Auftragsproduktionen zwischen Zweites Deutsches Fernsehen und Allianz Deutscher Produzenten – Film & Fernsehen in der Fassung vom 27.9.2010. 20 Die Verhandlungen auf Seiten des ZDF wurden anfänglich vom damaligen Programmdirektor Dr. Thomas Bellut geleitet, sodann im ganzen Jahrzehnt von deren Justitiar Peter Weber. 21 An der Zurückhaltung des ZDF bei teil-finanzierten Auftragsproduktionen hat sich freilich im Prinzip nichts geändert. Vgl. Ergebnisse der Evaluation, a.a.O., S. 16 ff. 22 Vgl. dazu aber auch entsprechend Anmerkung zu Fußnote 17.

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Mit diesen Ergebnissen konnte mit dem ZDF ein entscheidender Schritt auf dem Weg hin zu einer echten Verbesserung der Auftragsbedingungen gemacht werden, der qualitativ ebenbürtig war mit den ARD-Eckpunkten aus dem Jahr zuvor. Die ersten ZDF-Eckpunkte traten rückwirkend für Produktionen ab 1.3.2010 in Kraft, sie waren zunächst für vier Jahre gültig bis zum 31.3.2014. Anerkennend muss hier die Bereitschaft beider Sender zu Reformschritten festgehalten werden, wenngleich ohne den sanften Druck der Länder durch die Protokollnotiz zum 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag diese Verständigungen mutmaßlich so zeitnah und zielführend wohl nicht zu erreichen gewesen wären. Mit Blick auf die Fortführung der Sendergespräche wurde auf der JahresGesamtmitgliederversammlung der Produzentenallianz vom 9.2.2012 eine Resolution gefasst, dass die Rahmenbedingungen so fortzuentwickeln sind, „dass sie den Produzenten eine realistische Chance bieten, Eigenkapital zu bilden und am Erfolg ihrer Produktionen auch wirtschaftlich zu partizipieren.“ Des Weiteren wurden Sender aufgefordert, „die Entwicklung von TVFormaten in Deutschland zu unterstützen und die international üblichen Standards bei Adaption oder Lizenzierung von TV-Formaten zu respektieren.“ 23

V. Eckpunkte für den Dokumentarbereich mit ZDF (2012) und mit ARD (2013) Mit den ersten Papieren waren gleichwohl nur Spielregeln für das Herzstück der Fernseh-Auftragsproduktion, die Fiction-Filme und Serien, getroffen worden. Unterhaltungs- und Dokumentationssendungen waren davon nicht umfasst. Befördert durch die neu gegründete der Sektion Dokumentation innerhalb der Produzentenallianz ist es im Oktober 2012 mit dem ZDF gelungen in gesonderten Gesprächen für dieses Genre die Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei vollfinanzierten Dokumentationen zu erzielen.24 Diese Eckpunkte galten erstmals für Sendungen ab 30 Minuten Länge, sodass mehr Sendeformate als bisher von der Regelung abgedeckt waren. Im Bereich kleinerer Produktionsbudgets wurden fortan abhängig vom Produktionsvolumen höhere Handlungskosten anerkannt und Produzent/innen von Dokumentationen erhielten künftig bei kommerziellen Nachverwertungen eine 23 Resolution der Mitgliederversammlung der Produzentenallianz vom 9.2.2012, https://www.produzentenallianz.de/wp-content/uploads/2018/11/Resolution_ Produzentenallianz_GMV-09-02-2012-1.pdf. 24 Vgl. ZDF-Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei vollfinanzierten Dokumentationen in der Fassung vom 1.10.2012.

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Erlösbeteiligung. Auch konnten nunmehr Verwertungsrechte auch an die Produzent/innen zurück übertragen werden können.25 Des Weiteren konnten wichtige Berufe als kalkulationsfähig festgehalten werden: Datawrangler, Continuity (nur bei Dokumentarspielen), Casting mit einem projektabhängigen Höchstsatz, Kameraassistent sowie Internetrecherche/Archivrecherche. Auch mit der ARD ist es etwas später, Mitte 2013, gelungen die Gespräche über die Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit für vollfinanzierte dokumentarische Auftragsproduktionen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.26 Diese Eckpunkte galten hier für Produktionen schon ab einer Programmlänge von 15 Minuten. Mit der gestaffelten Erhöhung der HUs und des Gewinns sowie der Aufnahme der kalkulationsfähigen Berufsbilder Datawrangler (bei HD-Produktionen), Continuity (nur bei Dokumentarspielen), Casting mit einem projektabhängigen Höchstsatz und Kameraassistent, konnten wichtige Erfolge verbucht werden. Die Produzent/innen erhielten eine Erlösbeteiligung in Höhe von 16% der Bruttoerlöse aus der Auswertung der Produktion im Ausland, im Pay-TV, im Kino und aus Videogrammen. Verwertungsrechte, die vom Sender nicht innerhalb einer 5 Jahres-Frist genutzt werden, können den Produzent/innen rückübertragen werden, wenn sie ein konkret vorliegendes Verwertungsinteresse nachweisen.27 Mit den beiden gesonderten Eckpunkte-Papieren für den Dokumentationsbereich konnte die jahrzehntelange Vertragspraxis bei ZDF und ARD bei dokumentarischen Produktionen markant verändert und wesentliche Verbesserungen der Vertragsbedingungen erreicht werden. Insbesondere die Beteiligung von Dokumentarfilmproduzent/innen am wirtschaftlichen Erfolg ihrer Produktionen stellte ein Novum dar und trug dazu bei, Dokumentarfilmproduzent/innen auf eine stabilere wirtschaftliche Grundlage zu stellen. Hinnehmen musste die Produzentenallianz zum damaligen Zeitpunkt, dass nicht alle Ziele bei ARD und ZDF durchsetzbar waren und zurückgestellt werden mussten, wie z.B. die Anerkennung eines Producers als Kalkulationsposten. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Dokumentarfilmproduzenten zwar nunmehr an den Vertriebserlösen beteiligt wurden, aber in der Regel eine Zweitverwertung selbst (noch) nicht in die Hand nehmen konnten. VI. Erweiterungen der Eckpunkte auf Entertainment bei ZDF (2013) und ARD (2014) Nun fehlten im Reigen der Genres noch die Unterhaltungssendungen. Nach konstruktiven Gesprächen über den Bereich Entertainment kamen 25

Vgl. dazu jedoch Anmerkung zu Fußnote 17. Vgl. ARD-Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit für vollfinanzierte dokumentarische Auftragsproduktionen in der Fassung vom 10.5.2013. 27 Vgl. auch hierzu Anmerkung zu Fußnote 17. 26

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ZDF und Produzentenallianz im Juli 2013 überein, die Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei vollfinanzierten Auftragsproduktionen auf alle TV-Entertainment-Genres außer Talkshows auszuweiten und damit den fiktionalen Produktionen gleichzustellen.28 Die erweiterten ZDF-Eckpunkte garantierten den Produzent/innen eine Erlösbeteiligung bei einer kommerziellen Auswertung seiner Produktion. Darüber hinaus wurden die Rahmenbedingungen für die Neuentwicklung von Unterhaltungsformaten und die Bedingungen einer weltweiten Formatvermarktung geregelt. Weiter wurde erreicht, dass die Bürgschaftsregelungen für alle Entertainmentsendungen gelten sollen. Die Laufzeit der neuen ZDF-Eckpunkte begann rückwirkend am 1. Juni 2013 und sollte bis 31. Mai 2015 gelten. Die ARD hat im Januar 2014 mit dem ZDF gleichgezogen und ihre Eckpunkte auf alle Unterhaltungssendungen (mit Ausnahme von Talkshows) für Das Erste erweitert.29 Zugleich wurden mit dieser Erweiterung die ursprünglichen Eckpunkte der ARD um ein weiteres Jahr bis Ende 2014 verlängert. Man kam überein, den Gesprächsprozess fortzuführen. Gegenstand der Gespräche war insbesondere auch die umfassende Frage, wie die Einbeziehung von teilfinanzierten Auftragsproduktionen ausgestaltet werden könnte. Vor dem Hintergrund der zwar langwierigen, komplexen, aber konstruktiven Gespräche zur Weiterentwicklung der Eckpunkte wurden die Eckpunkte abermals um ein weiteres Jahr bis Ende 2015 verlängert. Die Verlängerungen waren auch Beleg des über die Gesprächsrunden gewachsenen gegenseitigen Vertrauens. Beide Seiten waren sich einig, dass eine gute, dauerhaft tragfähige Verständigung viel wichtiger ist als ein schneller Formelkompromiss. Ziel der Weiterentwicklung der Eckpunkte war ein qualitativ verbessertes Geschäftsmodell zu erreichen, das die Produzent/ innen befähigt, über Rechte zu verfügen und erhöhte Zweitverwertungserlöse zu generieren.

VII. Ergänzung zu Video-on-Demand für ZDF-Eckpunkte (2015) Mit dem ZDF konnte im Mai 2015 eine Regelung zur Beteiligung an Videoon-Demand-Erlöse (VoD) den bestehenden Eckpunkten ergänzt werden.30 28 Vgl. Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit bei ZDF-Auftragsproduktionen zwischen Zweites Deutsches Fernsehen und Allianz Deutscher Produzenten – Film & Fernsehen in der Fassung vom 4.7.2013. 29 Vgl. Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen bei Produktionen von Mitgliedern der Allianz Deutscher Produzenten – Film & Fernsehen im Auftrag der ARDLandesrundfunkanstalten in der Fassung vom 8.12.2009, erweitert auf alle Unterhaltungssendungen (mit Ausnahme von Talkshows) für „Das Erste“ und verlängert bis zum 31.12.2014. 30 Vgl. Ergänzungsvereinbarung zu den Eckpunkten der vertraglichen Zusammenarbeit bei ZDF-Auftragsproduktionen zwischen Zweites Deutsches Fernsehen und Allianz Deut-

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Diesen Regelungen war ein zähes Ringen über ein Jahr vorausgegangen. Das ZDF hat dann analog zur ARD eine 16%-Beteiligung von den Bruttoerlösen angeboten. Dies hat die Produzentenallianz als unzureichend zunächst abgelehnt. Gründe waren aus Sicht der Produzentenallianz die zu geringe Beteiligungshöhe und die fehlende Rückwirkung der Beteiligung. Das ZDF hat daraufhin angekündigt, einseitig in die Verträge eine 16%-Beteiligung aufzunehmen, was dann auch ab Dezember 2014 erfolgt ist. In der weiteren Abwägung hat die Produzentenallianz Ende Dezember 2015 die 16%Beteiligung – unter der Bedingung der Evaluierung der Beteiligungshöhe – akzeptiert. Die ZDF-Eckpunkte wurden dahingehend ergänzt, dass für Verwertungen der kommerziellen VoD-Rechte eine 16%-Bruttobeteiligung an den Erlösen von ZDF-Enterprises bzw. ZDF für vollfinanzierte Auftragsproduktionen vereinbart wird. Neben der Bruttoerlösbeteiligung wurde eine Regelung zur Abrechnungsvorschrift sowie eine Regelung zur Bemessungsgrundlage bei Paketverkäufen getroffen.

VIII. Aufforderung der Länder an die Sender (2015) Eine wichtige Zwischenetappe war mit den Verständigungen erreicht und im föderalen Geflecht von 16 Bundesländern galt es nun Bilanz zu ziehen. Rundfunkpolitik fällt im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland in die Kompetenz der Länder, sodass das Einvernehmen mit zahlreichen Akteuren und politischen Konstellationen gefunden werden muss. Über alle Parteigrenzen hinweg konnte sich die deutsche Produktionswirtschaft der Unterstützung der Länder gewiss sein. In den vergangenen Jahrzehnten hatte diese, im Standortwettbewerb untereinander, ihre Filmstandorte, um Teil kraftvoll, ausgebaut. Deshalb war es aus ihrer Sicht folgerichtig, die öffentlich-rechtlichen Sender stärker in die Verantwortung für die filmwirtschaftlichen Interessen zu nehmen.31 Die Ministerpräsidenten aller Länder haben im Dezember 2015 die erreichten Fortschritte hinsichtlich ausgewogener Vertragsbedingungen zwischen den Sendern und der Produzentenallianz Protokollerklärung aller Länder zu § 11 e Abs. 3 des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen des 19. Rundfunkänderungsstaatsvertrages anerkennend gewürdigt und zur Fortsetzung des Prozesses aufgefordert: „Die Länder erkennen die Fortschritte hinsichtlich ausgewogener Vertragsbedingungen zwischen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Film- und Fernsehproduktionsunternehmen sowie den Urhebern und scher Produzenten – Film- und Fernsehen in der Fassung vom 4.7.2013 sowie der Eckpunkte der vertraglichen Zusammenarbeit im Bereich vollfinanzierter Dokumentationen vom 1.10.2012 für Verwertungen, die ausschließlich über Video-on-Demand (VOD) erfolgen. 31 Vgl. Palmer, Produzenten Magazin Nr. 26, 2018, S. 8–9.

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Urheberinnen und Leistungsschutzberechtigten an, die in den letzten Jahren durch Vereinbarungen der Partner erreicht wurden. Sie gehen davon aus, dass dieser Prozess fortgesetzt und in diesem Rahmen unter anderem die Verwertungsrechte angesichts der erweiterten Verbreitungsmöglichkeiten angemessen zwischen den Vertragspartnern aufgeteilt und angemessene Lizenzvergütungen vereinbart werden.“32 Zugleich formulierten die Länder ihre Erwartung an die öffentlichrechtlichen Sender, „dass sie die von ihnen bei der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten)33 angemeldeten und von der KEF anerkannten Mittel für die Kategorie Programmaufwand auch für diesen Zweck einsetzen, wobei auch gesellschaftsrechtlich von den Anstalten unabhängige Produzenten angemessen berücksichtigt werden sollen. Sie gehen davon aus, dass die zuständigen Gremien der Rundfunkanstalten, die Mittelplanung und -verwendung insoweit besonders beobachten.“34 Leider hat sich an der unbefriedigenden Praxis, Mittel des Programmaufwands, umzuwidmen, auch in der derzeitigen Gebührenperiode nichts verändert. Es wird aufmerksam zu beobachten sein, ob die Länder dauerhaft Schritte unternehmen werden, um hier eine Änderung der Praxis zu erzwingen.

IX. Großer Reformschritt mit ARD-Eckpunkten 2.0 (2015) In den Jahren 2014 und 2015 wurden die Gespräche mit ARD und ZDF zur Weiterentwicklung der Eckpunkte intensiv fortgesetzt. Bei der ARD führte dieser Prozess Ende 2015 zu den umfangreichen Eckpunkten für ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte bei Produktionen für die Genres Fiktion, Unterhaltung und Dokumentation, kurz auch Eckpunkte 2.0 genannt, die gegenüber den ersten Eckpunkten einen deutlichen Reformschritt markieren und zu spürbaren Verbesserungen führten.35 Mit den ARD-Eckpunkten 2.0 wurde erstmals 32 Protokollerklärung aller Länder zu § 11e Abs. 3 des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen des 19. Rundfunkänderungsstaatsvertrages, https://www.rlp.de/fileadmin/rlpstk/pdf-. 33 Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) stellt den Finanzbedarf von ARD, ZDF, Deutschlandradio und ARTE fest. Hierzu legen die Rundfunkanstalten der Kommission Mittelfristige Finanzbedarfsplanungen für eine vierjährige Periode vor. Die Kommission überprüft sie anhand der Maßstäbe von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Darüber hinaus orientiert sie sich hierbei an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der öffentlichen Haushalte. Auf der Basis des ermittelten Bedarfs empfiehlt die Kommission den Ländern gegebenenfalls Änderungen des Rundfunkbeitrags. 34 Ebenda. 35 Vgl. ARD-Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte bei Produktionen für die Genres Fiktion, Unterhaltung und Dokumentation in der Fassung vom 22.12.2015.

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eine einheitliche Grundlage geschaffen, die die Genres Fiktion, Unterhaltung und Dokumentation in einem gemeinsamen Papier umfasst. Und ganz wesentlich: Neben vollfinanzierten Auftragsproduktionen fanden die neuen Eckpunkte auch bei teilfinanzierten Auftragsproduktionen Anwendung. Als teilfinanzierte Auftragsproduktionen im Sinne dieser Eckpunkte galten Produktionen, die die jeweilige ARD-Landesrundfunkanstalt oder die Degeto beauftragen und an denen sie im Rahmen der Nettoherstellungskosten einen mehrheitlichen und der Produzent einen eigenen Finanzierungsanteil aufbringen. Dabei orientiert sich die Feststellung des Vorliegens einer Auftragsproduktion in der Regel an dem Merkblatt der Verwertungsgesellschaft der Film und Fernsehproduzenten (VFF) zur Definition einer Auftragsproduktion.36 Im Ausnahmefall und bei einvernehmlicher Festlegung der Parteien kann der Finanzierungsanteil der ARD-Landesrundfunkanstalt – außer bei dokumentarischen Produktionen – auch geringer sein, er wird jedoch mindestens 65% betragen. Zudem wurden in den ARD-Eckpunkten 2.0 die Themenkomplexe Kalkulation und Rechte umfassend neu geregelt. Außerdem entstand eine systematische Erfolgsprämierung für Produzenten. Die ARD hielt zwar grundsätzlich am System der vollfinanzierten Auftragsproduktion fest, ermöglicht künftig aber verstärkt auch teilfinanzierte Produktionen. Erstmals in der Geschichte der Auftragsproduktion in Deutschland kann der Produzent bei diesen Teilfinanzieren verbindlich durchsetzen, durch Mitfinanzierung Rechte zu erwerben, die man selbst verwerten kann37. Dafür wurde ein Schichtenmodell mit eindeutig definierten Put- und Call-Rechten entwickelt, mit dem Sender und Produzenten eine faire Aufteilung von Verwertungsrechten an der konkreten Produktion bestimmen können. Während der Sender sogenannten Put-Rechten wie zum Bespiel für Pay-TV im deutschsprachigen Raum nach der TV-Erstausstrahlung oder Nebenrechten wie Druck, Phono oder Merchandising usw. explizit zustimmen muss, gibt es eine Reihe von Call-Rechten, die die Produzent/innen gegen Finanzierungsbeteiligung für sich beanspruchen können. Dazu gehört zum Beispiel die Auswertung im deutschsprachigen und sonstigen Ausland, VoD-Rechte oder auch Wiederverfilmungsrechte, sogenannte Formatrechte. Das Schichtenmodell (siehe Schema auf Seite 607/608) erleichtert somit Sendervertretern und Produzent/innen, sich über die Aufteilung von Nutzungsrechten an einem Projekt zu verständigen. In der Verständigung über 36 Vgl. Definition von Auftragsproduktionen im Sinne des Verteilungsplans der Verwertungsgesellschaft der Film und Fernsehproduzenten, www.vff.org/definition-vonauftragsproduktionen.html. 37 Davon wird auch rege Gebrauch gemacht. Gemessen an Sendeminuten sind nach Erhebungen der Produzentenallianz bereits 36% der in der ARD ausgestrahlten Produktionen aus teilfinanzierten Produktionen. Vgl. Ergebnisse der Evaluation, a.a.O., S. 14–18.

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ein neues Projekt wird zunächst eine Kalkulation von den Produzent/innen erstellt, durch den Sender geprüft und beidseitig abgestimmt. Die prozentuale Netto-Beteiligung beider Partner (Sender und Produzent/in) an den Netto-Gesamtherstellungskosten – inklusive HU und Gewinn – dient als Ausgangspunkt zur Verständigung über die Aufteilung der Verwertungsrechte. Dazu einigen sich die Partner auf der Basis des Schichtenmodells über eine projektindividuelle prozentuale Bemessung der Verwertungsbausteine, deren Summe 100% ergibt. Die Aufteilung der Nutzungsrechte erfolgt dann im Verhältnis der Finanzierungsbeteiligung.38 Das Schichtenmodell definiert die derzeit am Markt üblichen Verwertungsmöglichkeiten einer TV-Produktion. Die nachfolgende, schematische Darstellung des Schichtenmodells liefert entsprechende Anhaltspunkte. Dabei orientieren sich die prozentual bemessenen Schichten an den jeweiligen Finanzierungsanteilen. Die Bewertung der jeweiligen Rechte bzw. Rechtebereiche bedarf einer realistischen Marktbetrachtung im Einzelfall. Sie ist daher nicht linear anhand des Budgets festzumachen, sondern produktionsbezogen individuell festzustellen und Grundlage einer Vermarktungs- und Erlösprognose. Minimalbeteiligung auftraggebende Landesrundfunkanstalt: Pay-TV deutschsprachiger Raum vor TV-Erstausstrahlung

10%–20%

7 Jahre deutsches exkl. Free-TV inkl. Online-Angeboten

ab 55%

= Minimalbeteiligung Landesrundfunkanstalt:

ab 65%

„Put“-Rechte – auftraggebende LRA muss Abgabe an Produzenten explizit zustimmen: ARTE (Frankreich) inkl. Online-Angebote

bis 7%

3sat-Rechte (Fenster, nicht-exklusiv + nachrangig)

bis 2%

Pay-TV deutschsprachiger Raum nach TV-Erstausstrahlung

bis 10%

Nebenrechte (Druck, Phono, Merchandising usw.)

bis 5%

Verlängerung deutsches exklusives Free-TV inkl. OnlineAngeboten nach 7 Jahren (in der Regel unbefristet, sonst individuell gegen Abschlag auf den Prozentwert zu verhandeln. Wenn Baustein bei Produzent liegt, gilt eine 1st-look/lastrefusal-option für auftraggebende Landesrundfunkanstalt)

bis 8%

38 Dieses Schichtenmodell hat sich zum echten Renner entwickelt, vgl. Ergebnisse der Evaluation, a.a.O., S. 20.

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„Call“-Rechte – Produzent kann Rechte gegen Finanzierungsbeteiligung für sich beanspruchen: Free-TV A, CH, AA inkl. Online-Angebote (Zur exklusiven Nutzung; eine 3sat-Nutzung durch die LRA ist aber möglich, solange der entsprechende Baustein durch sie erworben wurde.)

bis 10%

Sonstiges Ausland (Verwertungspaket)

bis 10%

T-VoD (deutschsprachiger Raum) DVD (Europa) EST/DTO (deutschsprachiger Raum)

bis 6%

S-VoD (deutschsprachiger Raum) A-VoD (deutschsprachiger Raum)

bis 6%

kommerzielles Klammerteilrecht /Ausschnittrecht

bis 5%

Wiederverfilmungsrechte / „Format“recht (letzteres nur bezogen auf Unterhaltungsproduktionen)

bis 5%

GESAMT (maximal)

149%

Beide Seiten verständigen sich projektindividuell auf eine Bemessung der einzelnen Schichten, die sich in der Regel innerhalb des hier aufgelisteten Rahmens bewegt und in Summe zu 100% aufaddiert. Jeder Rechtebaustein hat einen prozentual bezifferbaren Wert. Es können aber je nach genre-/ projektindividuellen Auswertungsmöglichkeiten auch mehrere Bausteine zusammengelegt und gemeinsam – mit mindestens 1% – bewertet werden

100%

Abb.: Schematische Darstellung zum Schichtenmodell der ARD39

Wichtige Berufsfelder konnten bereits in den ersten Eckpunkten aus 2009 für den fiktionalen Bereich (und für den dokumentarischen Bereich aus 2013 als kalkulationsfähig aufgenommen werden. Nun folgte im fiktionalen Bereich: Anteiliger Herstellungsleiter, Producer, Headautor (bei Serien), Assistenz der Filmgeschäftsführung, Motiv-Aufnahmeleiter. Im Unterhaltungsbereich: Anteiliger Herstellungsleiter und zusätzlicher Koordinierungsaufwand beim Produktionsleiter. Bei dokumentarischen Produktionen: Produktionsleiter, Producer, Filmgeschäftsführung (nur bei besonders aufwändigen Produktionen) und Kosten für Archivmaterial und Anima39 Schematische Darstellung zum Schichtenmodell, aus: ARD-Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte bei Produktionen für die Genres Fiktion, Unterhaltung und Dokumentation in der Fassung vom 22.12.2015, in: Palmer (Hrsg), Handbuch der Produktionswirtschaft 2019, Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V., 2019, S. 127.

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tionsteile. Zudem erklärt sich die ARD künftig bereit, für die „Heads of Department“ (Stabgagen wie z.B. Kamera, Schnitt, Szenenbildner), die in aller Regel übertariflich vergütet werden, zukünftig mit den effektiven Gagen zu kalkulieren. Ebenso entfallen bei Honoraren zum Beispiel für Schauspieler künftig Kappungsgrenzen, und auch die Mehrkosten für zwei Überstunden pro Tag und Feiertags- und Nachtzuschläge werden künftig kalkulierbar. Ebenfalls kalkulationsfähig sind Rechtsberatungskosten (projektbezogen) in Höhe einer 0,5 Rechtsanwaltsgebühr gemäß Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bezogen auf die Netto-Fertigungskosten der Produktion. Nun können Produzent/innen verstärkt am Erfolg ihrer Werke teilhaben. Dafür enthalten die neuen Eckpunkte ein systematisches Leistungsmodell, das einerseits herausragende und prestigeträchtige Auszeichnungen und Nominierungen honoriert und gleichzeitig die programmliche Nutzung – also Wiederholungen – auf den verschiedenen ARD-Plattformen berücksichtigt. Für die jeweils besten zehn Produktionen eines Jahres in den Genres Spiel-/Fernsehfilm, Dokumentarfilm (ab 60 Min.), Dokumentation, Serie (mindestens 6 Folgen), „große“ Unterhaltung (ab 46 Min.), „kleine“ Unterhaltung (bis 45 Min.) und Kinder/Animation wird es Prämien zwischen 10.000 Euro und 100.000 Euro für einen neuen zweckgebundenen Entwicklungsvertrag für ein neues ARD-Projekt geben. Das Gesamtvolumen beträgt 3,2 Mio. Euro pro Jahr. Das Verfahren sieht vor, dass für jede Ausstrahlung einer Produktion Punkte vergeben werden. Für bestimmte Festivalpreise oder -nominierungen einer Produktion können ebenfalls Punkte gesammelt werden. Die Punkte müssen in einem Zeitraum von max. 2 Jahren ab FreeTV-Erstaus-strahlung angesammelt worden sein. Vor Free-TV-Erstausstrahlung gewonnene Festivalpreise oder -nominierungen werden zusätzlich angerechnet. Mit Wirkung zum 1.1.2019 wurde das mit den ARD-Eckpunkte 2.0 eingeführte Leistungsmodell an einigen Stellen nachjustiert. Unter anderem wurde die Kategorie Sonderpreis Online-Produktion ergänzt. Die Eckpunkte 2.0 sind ein differenziertes Regelwerk, berücksichtigen Besonderheiten und müssen nun in allen Bestandteilen auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.40. Dafür, dass sie nicht an Anwendungsfragen scheitern, wurde eine Schiedsstelle eingerichtet, die paritätisch mit Vertretern der ARD-Landesrundfunkanstalten und der Produzentenseite besetzt ist. Für die Position der neutralen Vertrauensperson haben sich ARD und Produzentenallianz auf den sehr erfahrenen langjährigen Hamburger Produzenten Ulrich Lenze verständigt. Auf Seiten der ARD wirkt mittlerweile deren Filmintendantin Prof. Dr. Karola Wille persönlich und für die Produzentenallianz ihr Justitiar Prof. Dr. Johannes Kreile federführend mit. Die Schiedsstelle greift nicht in laufende Verhandlungen ein, sondern befasst 40 Dazu dienen die schon mehrfach zitierten ausführlichen Ergebnisse der Evaluation, a.a.O.

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sich ex post mit konkret benannten grundsätzlichen Anwendungsfragen der Eckpunkte. Dazu können Produzent/innen und ARD-Landesrundfunkanstalten Probleme und grundsätzliche Fragen bei der Vertrauensperson einreichen, die den Vorgang vor der Befassung anonymisiert und abstrahiert.41 Die ARD-Eckpunkte 2.0 für ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte sind der bisher größte Reformschritt für die gesamte Fernseh-Auftragsproduktion in Deutschland. Produzent/innen können künftig Rechte selbst verwerten. Die partnerschaftliche Regelung kann Maßstab für ein neues Miteinander von Sendern und Produzenten sein. Nicht ganz zufriedenstellend war die neue Regelung zur Beteiligung der Produzent/innen an den Erlösen, die der Auftraggeber mit ihren Werken macht. Nach der bisherigen Beteiligung von 50% an den Nettoerlösen, sollen den Produzent/innen nunmehr 16% der Brutto-Erlöse zustehen. Die Produzentenallianz war der Überzeugung, dass diese Aufteilung nicht sachgerecht ist und hat sich daher weiter für eine Verbesserung eingesetzt.

X. Verbesserte Rahmenbedingung des ZDF (2016) Vor dem Hintergrund der umfassenden Eckpunkte 2.0 mit der ARD, konnte nach intensiven Konsultationen mit dem ZDF im Dezember 2016 ebenfalls verbesserte Rahmenbedingungen einer fairen Zusammenarbeit erreicht werden, die die bisherigen ZDF-Eckpunkte ersetzen.42 Damit konnte eine Regelung zur Rechteteilung zwischen Sender und Produzent durch Teilfinanzierung erzielt werden, die vorsieht, dass wenn sich zwischen Kalkulation und Senderbudget eine Lücke zeigt, die Produzent/innen sie durch eine Teilfinanzierung schließen können und dafür eigene Verwertungsrechte bekommen. Voraussetzung ist eine einvernehmliche Budgetbestimmung. Übertragen werden können alle Rechte, die das ZDF nicht zur Erfüllung seines Funktionsauftrages benötigt. Nicht zu verkennen ist, dass diese Regelung weit hinter der ARD zurückbleibt und insbesondere keine für den Produzenten verbindlichen Ansprüche beinhaltet. Im Hinblick wohl auf seine konsequente Markenführungsstrategie 41 Die Feststellungen wurden einvernehmlich in einem Katalog von ARD/PA veröffentlicht: Vgl. Fragestellungen und Empfehlungen der Schiedsstelle für künftige Fälle in der Anwendung der Eckpunkte 2.0, Fassung vom 18.11.2019 (o.O. u. o. D.), ARD/PA (Hrsg.). 42 Vgl. Das ZDF und die Fernsehproduzenten – Rahmenbedingungen einer fairen Zusammenarbeit in der Fassung vom Dezember 2016, in: Palmer (Hrsg.), Handbuch der Produktionswirtschaft 2019, Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V., 2019. S. 147 f.

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war der Mainzer Sender hier jedoch nicht zu größeren Zugeständnissen bereit. Für den Bereich Entertainment konnte eine Regelung für Formatlizenzen gefunden werden. Soweit einer Entertainmentproduktion ein vorbestehendes Format zugrunde liegt, wird das ZDF die Handlungskosten, die durch den Erwerb des Formats entstehen durch eine gestaffelte HU-Zahlung berechnet auf die Formatlizenzkosten wie folgt abgelten: Für einen Pilot und 1. Staffel 100% des vereinbarten HU-Satzes. Für die 2. Staffel 50% des vereinbarten HU-Satzes. Für alle weiteren Staffeln 25% des vereinbarten HUSatzes. Zur Förderung der Entwicklung erfolgreicher Programme – vor allem durch kleine und mittelständische Produktionsunternehmen – schafft das ZDF dafür einen Innovationsfonds in Höhe von jährlich 2 Mio. Euro. Damit sollen Projekt- und Stoffentwicklungsverträge für Entwicklungsvorstufen (z.B. Exposés, Treatments, Konzepte) und Projektentwicklung in allen Genrebereichen finanziert werden. Für den Fall der längeren Online-Nutzung konnte ein erhöhter Gewinnaufschlag erzielt werden. Wenn eine vollfinanzierte Auftragsproduktion länger als einen ununterbrochenen Zeitraum von 30 Tagen in ZDF-Telemedienangeboten zugänglich ist, wird der Gewinnaufschlag des jeweiligen Produktionsvertrages einmalig um bis zu 1 Prozentpunkt erhöht, die Kappungsgrenze liegt bei einem Volumen von 1,5 Mio. Euro (Nettofertigungskosten zzgl. HU). Bei teilfinanzierten Auftragsproduktionen, Ko- und Förderproduktionen bleibt es bei einzelvertraglichen Regelungen. Des Weiteren wurde eine Erhöhung der Erlösbeteiligung erreicht. Produzenten werden an den Erlösen aus den Auslands-, Pay-TV-, Kino-, DVD- und VoD-Verwertungen mit bis zu 20% an sämtlichen Bruttoerlösen (abzüglich einer Verwaltungskostenpauschale von bis zu 10% und nachgewiesenen Synchronisationskosten) beteiligt. Zusätzlich zu den kalkulationsfähigen Posten aus den vorausgehenden ZDF-Eckpunkten werden fortan folgende Berufsbilder nun als kalkulationsfähig anerkannt. Im Genre Fiktion: Producer, Herstellungsleiter, Headautor (bei Reihen und Serien), Postproduktionskoordinator, Kostüm- und Szenenbild, Szenen- oder Kostümbildassistenz (bei historischen Themen oder sehr umfangreichen Produktionen), Filmgeschäftsführung und Assistenz der Filmgeschäftsführung. Bei den „Heads of Departments“ sind regelmäßig die Tarifgagen zu Grunde zu legen. Abweichungen können in begründeten Ausnahmefällen bei 90-minütigen Fernsehfilmprojekten im Vorfeld besprochen werden. Im Genre Dokumentation: Producer, Produktionspauschale, Postproduktionskoordinator, Filmgeschäftsführer und Herstellungsleiter. Im Genre Entertainment: Executive Producer, Herstellungsleiter und Postproduktionskoordinator. Überstunden-, Sonn- und Feiertagszuschläge sind künftig auch bei Produktionen für das ZDF kalkulationsfähig, ebenso

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Rechtsberatungskosten und angemessene produktionsbezogene Aufwände für Arbeitsschutz. Diese Rahmenbedingungen traten am 1.1.2017 in Kraft und laufen bis 31.12.2020.43 Mit den Rahmenbedingungen einer fairen Zusammenarbeit, die nunmehr für vollfinanzierte und neu auch für teilfinanzierte Auftragsproduktionen aller Genres gelten, bewegte sich auch das ZDF einen kraftvollen Schritt auf die angestrebten ausgewogenen Vertragsbedingungen zu. Auch hier wird allerdings entscheidend sein, wie die neuen Regelungen gelebt werden, also von den Produzenten und den Senderabteilungen angewendet werden.

XI. Anerkennung von Sondermitteln für das Programm Ein wichtiges Etappenziel für die wirksame Umsetzung der neuen ARDEckpunkte bzw. ZDF-Rahmenbedingungen war die Anerkennung des von beiden Sendern angemeldeten Mehrbedarfs bei der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF). Aus Einsicht in die besondere und angespannte Situation der Produktionswirtschaft und die wirtschaftliche Situation der Urheber hat die KEF erstmalig die Verankerung von Sondermitteln für das Programm vorgenommen. Diese Unterlegung der veränderten Zusammenarbeit von Sendern und Produzenten durch eigens gewährte Sondermittel war ein erheblicher Fortschritt dahin, die Vereinbarungen auch konkret und dauerhaft anzuwenden. So sind im 20. KEF-Bericht von April 2016 für die Beitragsperiode 2017 bis 2020 bei der ARD 146,6 Millionen Euro und beim ZDF 98,5 Millionen Euro sowie bei ARTE 8 Millionen Euro Sondermittel anerkannt worden.44 Ausdrücklich sind diese Sondermittel vorgesehen, um die Verbesserungen aus den Eckpunkten und den Rahmenbedingungen abzusichern. Die Verwendung dieser Sondermittel für die vorgesehenen Zwecke muss durch die Anstalten der KEF gegenüber nachgewiesen werden. Rechtliche Grundlage für die Arbeit der Kommission ist der Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag der Länder.45

43 Insbesondere mit den Kalkulationsbedingungen beim ZDF sind die Produzenten überwiegend zufrieden und würdigen die Fortschritte beim ZDF, vgl. Ergebnisse der Evaluation, a.a.O., S. 8 ff. 44 Vgl. KEF, 20. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, 2016, https://kef-online.de/fileadmin/KEF/Dateien/Berichte/20._Bericht. pdf. 45 Vgl. Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag der Länder, § 3 Aufgaben und Befugnisse der KEF, http://www.ard.de/download/1899692/Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag__ geaendert_duch_den_16__Rundfunkaenderungsstaatsvertrag_vom_4__17__Juli_2014.pdf.

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XII. Weiterentwicklungen der ARD-Eckpunkte (2018/2019) Die ARD-Eckpunkte 2.0 wurden im April 2018 im Hinblick auf die Bruttoerlösbeteiligung für Produzent/innen aktualisiert.46 Damit ging eine Erhöhung der Bruttoerlösbeteiligung auf 17% und die Einführung einer einheitlichen Musterabrechnung einher, womit die Transparenz der Abrechnungen erhöht und das Verfahren beschleunigt wurde. Vor dem Hintergrund der von den Ländern vorgesehenen Verlängerung der Verweildauern in den Mediatheken47 haben sich die Produzentenallianz und die ARD-Rundfunkanstalten sowie die Degeto im Juli 2018 auf eine erweiterte Rechteteilung bei teilfinanzierten Auftragsproduktionen verpflichtet und dafür Anpassungen am Schichtenmodells der ARD-Eckpunkte 2.0 vorgenommen. Bei teilfinanzierten Auftragsproduktionen beteiligen sich Sender und Produzent/innen gemäß dem Prinzip rights follow risk an der Finanzierung und erwerben (bzw. behalten) damit entsprechende Rechte an der Produktion. Dabei verabreden die Partner gegenseitige Abstimmung, um ihre jeweiligen Rechte entsprechend der gemeinsam vereinbarten Werthaltigkeit auswerten zu können. Eine besonders aufwändige und anspruchsvolle Produktion (Blue Chip) mit hoher Beteiligung des Produzenten erfordert besondere, aus Sicht des Produzenten vorteilhaftere vertragliche Verabredungen. Kriterien für Blue Chip sind eine hohe prozentuale Beteiligung des Produzenten an der Finanzierung, min. 2,5 Mio. € Budget je 90 Min., geplant für die Prime-Time und hervorgehobene Sendeplätze sowie besondere Marketingaufwendungen. Diese Konkretisierung trat als Ergänzung zum Umsetzungsleitfaden zum Schichtenmodell ab dem 1.9.2018 in Kraft. Mit dieser Weiterentwicklung des Schichtenmodells hinsichtlich teilfinanzierter Auftragsproduktionen hat die ARD der von der Produzentenallianz angeregten Protokollerklärung der Länder zu §11d, Absatz 2 des 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrags aus Juni 2018 Rechnung getragen, in der alle Länder gegenüber den Sendern zum Ausdruck bringen: „Vor dem Hinter46 Vgl. ARD-Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung der Verwertungsrechte bei Produktionen für die Genres Fiktion, Unterhaltung und Dokumentation in der Fassung vom 22.12.2015, zuletzt geändert in Eckpunkt 8 und Anlagen 5a/b (ARD-Leistungsmodell) mit Wirkung zum 1.1.2019 zuvor geändert zum 1.4.2018 in Eckpunkt 3 und Anlagen 8a/b (Erlösbeteiligung) sowie zum 1.9.2018 in Anlage 1 (Ergänzung zum Umsetzungsleitfaden zum ARD-Schichtenmodell), in: Palmer, (Hrsg.), Handbuch Produktionswirtschaft 2019, Allianz Deutscher Produzenten – Film und Fernsehen e.V., 2019, S. 115 f. 47 Vgl. Stellungnahme der Produzentenallianz zur Konsultation zur Erweiterung des Telemedienauftrags der öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter vom 7.7.2017, https://medien.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/StK/ Medien/Dokumente/Konsultationsverfahren_Telemedienangebot/Allianz_Deutscher_ Produzenten_-_Film___Fernsehen_e._V.pdf.

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grund der kontinuierlich wachsenden Bedeutung von Abrufangeboten im Internet ist es geboten, die derzeitigen Vertragsbedingungen in einer Weise anzupassen, die der Film- und Medienproduktionswirtschaft unter Berücksichtigung einer Rechteverteilung eine angemessene Finanzierung der Produktionen sichert, die sie für ARD und ZDF auch zur Nutzung im Internet liefert.“48

XIII. Vorläufige Bewertung Insgesamt gesehen sind die ARD-Eckpunkte 2.0 der größte Reformschritt in der Geschichte der Fernseh-Auftragsproduktionswirtschaft in Deutschland.49 Ohne mutige Reformer/innen der ARD, die verstanden haben, dass innovative Produzent/innen, die auch über Rechte verfügen, Garanten für herausragende Programme des Senderverbunds sind, wäre es so weit gar nicht gekommen. Die Erwartung der Produzentenallianz ist auch, dass mit dem dynamischen Rechtemodell teilfinanzierte Auftragsproduktionen eine weit größere Rolle erfahren. Dass die Eckpunkte ihre Wirkung entfalten, zeigt der jüngste Produzentenbericht der neun ARD-Landesrundfunkanstalten und Degeto: So ist das Gesamtvolumen aller Produktionen im Vergleich zum Vorjahr erneut um 22,3 Millionen Euro gestiegen, was insbesondere auf die Anwendung der ARD-Eckpunkte 2.0 zurückzuführen ist.50 Das ZDF zog mit seinen Rahmenbedingungen, zeitlich versetzt, umfassend nach: Die Kalkulationsbedingungen wurden auch hier markant verbessert, neue Berufsbilder anerkannt, ein Innovationsfonds eingerichtet, die Erlösbeteiligung erhöht. Bedeutsam ist der Einstieg in einen Gewinnzuschlag bei verlängerter Online-Nutzung. Leider ist es bislang nicht erfolgreich gewesen, das ZDF zu verbindlichen Rechteteilungen zu gewinnen. Als vorläufige Bilanz darf festgehalten werden, dass in den kontinuierlichen Sendergesprächen über ein Jahrzehnt, das überholte Auftragsmodell in Richtung verbesserter Rahmenbedingungen, ausgewogener Vertragsbeziehungen und einer fairen Rechteteilung verändert wurde. Das öffentlichrechtliche System hat seine Reformfähigkeit und Flexibilität bei den Auftragsbedingungen der Fernsehproduktionswirtschaft unter Beweis gestellt. Weitreichende und auch strukturelle Änderungen wurden gefunden. Gleichwohl ist es nicht nur aus kartellrechtlichen, sondern auch aus Wett48 Protokollerklärung aller Länder zu § 11 d Abs. 2 des 22. des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrags, https://www.rlp.de/fileadmin/rlpstk/pdf-Dateien/Medienpolitik/22_RAEStV_Text.pdf. 49 Vgl. dazu ausführlicher: Palmer in: Film- und Fernsehproduktionswirtschaft in Deutschland 2014–2017, Reden, Beiträge, Interviews, 2017, S. 107–117. 50 Vgl. ARD-Produzentenbericht 2018, http://www.ard.de/download/5816406/ARD_ Produzentenbericht_2018.pdf.

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bewerbs- und Gründen der jeweiligen Senderkultur verständlich, dass abweichende, ja konkurrierende Auftragsbedingungen bestehen. Es bleibt freilich noch viel zu tun, so ist die finanzielle Abgeltung der durch die verlängerten Verweilzeiten in den Mediatheken eingeschränkten Verwertbarkeit der Produktionen, unbefriedigend. Auch die Kalkulationsrealität muss stetig im Lichte der Marktentwicklung überprüft, die Praxis der Rechteteilung und Erlösbeteiligung auf den Prüfstand. Der Reformprozess der FernsehAuftragsbedingungen ist nicht an sein Ende gelangt. Die erreichten Verständigungen beweisen auch, dass der historische Schulterschluss der zersplitterten Produzentenlandschaft Wirkung zeigt. Allerdings wären die Gespräche ohne den kontinuierlichen Flankenschutz der Länder wohl kaum so erfolgreich verlaufen. 2008 hatten sie in einer Protokollerklärung zum 12. Rundfunkänderungs-Staatsvertrag, die Rundfunkanstalten aufgefordert, „ausgewogene Vertragsbedingungen und eine faire Aufteilung von Verwertungsrechten“51 zu gewährleisten, im Dezember 2015 im 19. Rundfunkänderungsstaatsvertrag die Fortschritte gewürdigt und ihre Forderungen bekräftigt.52 Die Produzentenallianz hat durch parallel geführte Gespräche in den Staatskanzleien darauf hingewirkt, dass die Aufforderungen der Länder an die Sender auch in den weiteren Rundfunkänderungsstaatsverträgen erneuert wurden. Schließlich wurde aktuell im 2. Rundfunkänderungsstaatsvertrag im Juni 2018 durch sämtliche Länder die Notwendigkeit betont, „die derzeitigen Vertragsbedingungen in einer Weise anzupassen, die der Film- und Medienproduktionswirtschaft unter Berücksichtigung einer Rechteverteilung eine angemessene Finanzierung der Produktionen sichert.“53 Diese kontinuierliche, positive Unterstützung durch die Länder hat der deutschen Produktionswirtschaft ein neues Gewicht gegeben. Eine wichtige Etappe zur Anwendung der Eckpunkte war die erstmalige Verankerung von Sondermitteln für das Programm für die Beitragsperiode 2017 bis 2020. Ohne die Anerkennung der 146,6 Millionen Euro bei der ARD und 98,5 Millionen Euro beim ZDF sowie 8 Millionen Euro bei ARTE wären die weitreichenden Verständigungen über Kalkulationsrealismus und Rechteteilung Gefahr gelaufen nicht im vollen Maße umsetzbar zu sein. Es wird nun darauf ankommen, dass die finanzielle Absicherung der Eckpunkte auch in der nächsten Beitragsperiode ab 2021 bewahrt werden kann.54 Allen Verantwortlichen bei Sendern und Verbänden ist der evolutionäre Weg weiterhin anzuraten, um gemeinsam zu erreichen, dass herausragende 51

Vgl. Fußnote 13. Vgl. Fußnote 32. 53 Protokollerklärung aller Länder zu § 11 d Abs. 2 des Rundfunkstaatsvertrages im Rahmen 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrags, https://www.rlp.de/fileadmin/rlp-stk/pdfDateien/Medienpolitik/22_RAEStV_Text.pdf. 54 Vgl. Palmer, epd medien Ausgabe 36 vom 6.9.2019. 52

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Christoph E. Palmer

Qualitäten in allen Genres der Fernsehprogramme für die Zuschauerinnen und Zuschauer entstehen und die Filmschaffenden aller Gewerke auskömmliche Arbeitsbedingungen und Einkommensmöglichkeiten finden.

neue rechte Seite!

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Die Wahl deutschen Rechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle Die Wahl deutschen Rechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle Karl Pörnbacher und Bastian Zahn

Die Wahl deutschen Rechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle: Lösungsansätze für die Praxis aus der schiedsrechtlichen Perspektive KARL PÖRNBACHER

UND

BASTIAN ZAHN*

I. Die AGB-Kontrolle als Nachteil von „Law made in Germany“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Möglichkeit zur Abwahl der AGB-Kontrolle im Schiedsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wirksamkeit der Abwahl der AGB-Kontrolle bei einem Schiedsort in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beurteilung durch das Schiedsgericht . . . . . . . . . . . 2. Die Beurteilung durch ein staatliches schweizerisches Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Beurteilung durch ein deutsches staatliches Gericht . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die AGB-Kontrolle als Nachteil von „Law made in Germany“ Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) unterliegen im deutschen Recht einer umfassenden Einbeziehungs- und Inhaltskontrolle auch dann, wenn sie im unternehmerischen Rechtsverkehr (B2B-Verhältnis) verwendet werden. Die insoweit einschränkende Vorschrift des § 310 Abs. 1 BGB ist weitgehend toter Buchstabe geblieben. Die Rechtsprechung legt an AGB, die in ein Vertragsverhältnis zwischen zwei Unternehmen einbezogen werden, weitgehend denselben Maßstab an wie an AGB, die gegenüber Verbrauchern verwendet werden.1 Die hohe Kontrolldichte, die von der Rechtsprechung an AGB angelegt wird, wird regelmäßig kritisiert und ist schon häufig als Nachteil des deut* Die Autoren danken Frau Lena Rindsfus für die Unterstützung bei Literaturrecherche und Konzeption des Beitrags. 1 Keineswegs ist dies unionsrechtlich geboten: Die Klauselrichtlinie (Richtlinie 93/ 13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. Nr. L 95, S. 29) sieht eine Inhaltskontrolle von AGB nur bei einer Verwendung gegenüber Verbrauchern vor.

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schen Rechts im Wettbewerb der Rechtsordnungen identifiziert worden. In einer Umfrage im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Osnabrück zum AGB-Recht im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Jahr 2014 gaben mehr als 10% der befragten Mitarbeiter von Großunternehmen an, mindestens gelegentlich Verträge mit inländischen Unternehmen ausländischem Recht zu unterstellen, um die Geltung der §§ 305 ff. BGB zu vermeiden.2 16,9% der befragten Mitarbeiter aus Unternehmen aller Größenkategorien gaben ferner an, dass ausländische Vertragspartner die AGB-Kontrolle als Grund gegen die Wahl deutschen Rechts anführen; in Großunternehmen lag der Anteil sogar bei rund 25%.3 Daher gibt es aus Wissenschaft und Praxis zahlreiche Forderungen nach einer Änderung des § 310 Abs. 1 BGB mit dem Ziel, im unternehmerischen Rechtsverkehr die AGB-Kontrolle entweder ganz abzuschaffen oder zumindest deutlich zurückzunehmen.4

II. Die Möglichkeit zur Abwahl der AGB-Kontrolle im Schiedsrecht Für die Rechtslage de lege lata bietet das Schiedsrecht eine Lösung, die nach unserer Erfahrung in deutschen Unternehmen zunehmend Verwendung findet: Vertragsparteien können für einen Vertrag die Zuständigkeit der Schiedsgerichte vereinbaren und deutsches Sachrecht unter Ausschluss der §§ 305 ff. BGB wählen. Damit hat eine Inhaltskontrolle etwaiger AGB nur anhand der §§ 134, 138 BGB zu erfolgen. Eine derartige Rechtwahl ist unproblematisch wirksam z.B. nach § 1051 ZPO bzw. § 1051 ZPO i.V.m. den entsprechenden Regelungen in den gängigen institutionellen Schiedsordnungen, wie etwa Art. 24.1 der DIS-Regeln, Art. 21 Abs. 1 der ICCRegeln oder Art. 33 Abs. 1 der Swiss Rules. Nach ganz herrschender Meinung ist eine derartige Rechtswahl wirksam.5 Das 10. Buch der ZPO enthält mit § 1051 ZPO eine spezielle Kollisionsnorm. Diese erlaubt nach ihrem Wortlaut den Parteien nicht nur die Wahl einer staatlichen Rechtsordnung („Recht“), sondern auch nichtstaatlicher Regelwerke („Rechtsvorschriften“). Gemäß § 1051 Abs. 3 ZPO können die 2 Leuschner AGB-Recht für Verträge zwischen Unternehmen unter besonderer Berücksichtigung von Haftungsbeschränkungen, 2014, 184, 278, abrufbar unter https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht-AGBForschungsprojekt.pdf. 3 Ebd., 184 f., 279. 4 Siehe Berger NJW 2010, 465; Armbrüster NZA-Beilage 2019, 44, 51; Dauner-Lieb AnwBl 2013, 845; Leuschner ZIP 2015, 1326. 5 Wilske/Markert BeckOK ZPO, 34. Ed. (1.9.2019), § 1051 Rn. 6; Pfeiffer NJW 2012, 1169, 1174; Kondring RIW 2010, 184, 191; Kondring ZIP 2017, 706, 707; Ostendorf SchiedsVZ 2010, 234, 236; Wronna IBR 2012, 312; a.A. Münch Münchener Kommentar ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1051 Rn. 22.

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Parteien sogar vereinbaren, dass der Rechtsstreit allein nach der Billigkeit entschieden werden soll. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist dies sogar in Rechtsverhältnissen möglich, an denen ein Verbraucher beteiligt ist.6 Erst recht können daher Unternehmen eine staatliche Rechtsordnung unter Ausschluss des AGB-Rechts wählen. Während dieses Verständnis von § 1051 ZPO weitgehend unstrittig ist, harrt das Verhältnis dieser Norm zu den Kollisionsvorschriften der Rom IVO weiterhin einer abschließenden Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Ausgangspunkt ist Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom I-VO, der vom Anwendungsbereich der Verordnung ausdrücklich „Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen“ ausnimmt. Eine Mindermeinung versteht dies dahingehend, dass nur die Schiedsabrede selbst vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sein soll.7 Die Folge dieses Verständnisses wäre, dass der Rom I-VO Anwendungsvorrang vor § 1051 ZPO zukäme und sich das auf den Hauptvertrag anwendbare Sachrecht allein nach der Rom I-VO bestimmte.8 Da Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO – anders als § 1051 ZPO – nur von der Wahl eines „Recht[s]“ spricht, ermöglicht diese Vorschrift nur die Wahl einer staatlichen Rechtsordnung.9 Eine Wahl deutschen Rechts unter Ausschluss der zwingenden Normen des BGB zur AGB-Kontrolle ist im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO nicht möglich. Bei reinen Inlandssachverhalten ist eine Abwahl des AGB-Rechts zudem gemäß Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO ausgeschlossen, weil die §§ 305 ff. BGB zwingende Bestimmungen im Sinne dieser Vorschrift sind.10 Die überwiegende Meinung insbesondere der Schiedspraktiker lehnt jedoch zu Recht eine Anwendbarkeit der Rom I-VO in Schiedsverfahren ab.11 Für diese ablehnende Haltung spricht bereits der Auslegungsgleichklang mit der EuGVVO und der Rom II-VO.12 Die EuGVVO schließt in Art. 1 6 Das Gesetz sieht lediglich in § 1031 Abs. 5 ZPO eine besondere Formvorschrift für Schiedsvereinbarungen vor, an denen ein Verbraucher beteiligt ist. Ein besonderer Schutz des Verbrauchers vor einer nachteiligen Rechtswahl findet sich im Gesetz nicht; zu Recht kritisch Münch Münchener Kommentar ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1031 Rn. 45a f.; Martiny, Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2018, Vor Art. 1 Rom I-VO Rn. 108. De lege ferenda sollte die ZPO den Verbraucherschutz im Schiedsverfahren ausdrücklich regeln und ausbauen. Dies schafft Rechtsklarheit und -sicherheit. 7 McGuire SchiedsVZ 2011, 257, 263 mwN; Wagner in Festschrift Ekkehard Schumann, 2001, 535, 556. 8 Mankowski RIW 2011, 30 ff.; Mankowski RIW 2018, 1 ff. 9 Spickhoff BeckOK BGB, 52. Ed. (1.8.2019), Art. 3 Rom I-VO Rn. 7. 10 Martiny Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rom I-VO Rn. 87. 11 Kondring RIW 2010, 184; Grimm SchiedsVZ 2012, 189; Busse Austrian Yearbook on international Arbitration 2013, 23, 24; Nueber SchiedsVZ 2014, 186. 12 Erwägungsgrund 7 Rom I-VO: Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom

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Abs. 2 lit. d die Schiedsgerichtsbarkeit von ihrem Anwendungsbereich ausdrücklich aus („Sie ist nicht anzuwenden auf: […] die Schiedsgerichtsbarkeit“). Erwägungsgrund 7 der Rom II-VO wiederum nimmt hinsichtlich des materiellen Anwendungsbereichs ausdrücklich Bezug auf die EuGVVO.13 Die Regelungen der EuGVVO und die Rom II-VO14 zu ihrem jeweiligen Anwendungsbereich sprechen daher gegen eine Anwendbarkeit der Rom I-VO auf Schiedsverfahren. Des Weiteren hat der Unionsgesetzgeber die Schiedsgerichte in Kenntnis der Diskussionen hinsichtlich der Anwendbarkeit der Verordnung auf Schiedsverfahren bewusst nicht in den Adressatenkreis der Rom I-VO aufgenommen.15 Außerdem sollen die Parteien in Schiedsverfahren größere Spielräume hinsichtlich der Rechtswahl haben.16 Die Flexibilität und Parteiautonomie, die Schiedsverfahren innewohnt, soll nicht durch die Rom I-VO eingeschränkt werden.17 Da wie erwähnt gerade Schiedspraktiker überwiegend der Meinung sind, dass § 1051 ZPO nicht von der Rom I-VO verdrängt wird, ist es wenig wahrscheinlich, dass ein entsprechend besetztes Schiedsgericht die Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss des AGB-Rechts im Hinblick auf die Rom I-VO für unwirksam erachten würde. Allerdings bleibt insoweit natürlich in der Praxis ein Restrisiko. Eine abschließende Klärung dieser Rechtsfrage durch den Europäischen Gerichtshof steht jedoch aus, ist aber jedenfalls aus deutscher Sicht nicht kurzfristig zu erwarten: Schiedsgerichte können diese Klärung nicht herbeiführen, da ihnen die Vorlageberechtigung gemäß Art. 267 AEUV fehlt,18 der Weg über 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (,Brüssel I‘) und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (,Rom II‘) im Einklang stehen. 13 „Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel I) und den Instrumenten, die das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht zum Gegenstand haben, in Einklang stehen“. 14 Anders Wagner, IPRax 2008, 1, 3: Die Rom II-VO sei auch für Schiedsgerichte verbindlich, dies ergebe sich aus der Gleichwertigkeit der staatlichen und der privaten Gerichtsbarkeit. 15 Ostendorf SchiedsVZ 2010, 234, 237; Busse Austrian Yearbook on international Arbitration 2013, 23, 38 f., 42. 16 Magnus Staudinger BGB, Rom I-VO, 2016, Art. 3 Rn. 131. 17 Busse Austrian Yearbook on international Arbitration 2013, 23, 43. 18 EuGH, Urt. v. 23.3.1982 – C-102/81 (Nordsee/Reederei Mond), NJW 1982, 1207, 1208; EuGH, Urt. v. 27.1.2005 – C-125/04 (Denuit und Cordenier), EuZW 2005, 319 Rn. 13–16; EuGH, Urt. v. 6.3.2018 – C-284/16 (Achmea), SchiedsVZ, 2018, 186 Rn. 49. Möglich ist Schiedsgerichten allein, bei einem staatlichen Gericht gemäß § 1050 ZPO eine Vorlage an den Gerichtshof zu beantragen; Voit Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019,

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§ 1050 ZPO ist soweit ersichtlich in der Praxis noch nicht erfolgreich beschritten worden und im Rahmen von Aufhebungs- oder Anerkennungsbzw. Vollstreckungsverfahren wäre diese Frage, wie unten dargelegt wird, nicht zu prüfen. Für die Praxis bleibt bei dem skizierten Vorgehen trotzdem ein zumindest theoretisches Restrisiko. Dieses lässt sich aber dadurch vermeiden, dass die Parteien einen Schiedsort außerhalb der EU wählen. Im Folgenden soll beispielhaft für einen Schiedsort in der Schweiz gezeigt werden, dass auf diese Weise sichergestellt werden kann, dass eine Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle für wirksam erachtet wird, und eine „Flucht“ in ein ausländisches Recht unnötig wird.

III. Die Wirksamkeit der Abwahl der AGB-Kontrolle bei einem Schiedsort in der Schweiz Eine Schiedsklausel bzw. Rechtswahl, bei der Unternehmen (gleich ob beide deutsch sind oder eines ausländisch ist) für ein Rechtsverhältnis ein Schiedsverfahren mit Sitz in der Schweiz wählen und für das Vertragsverhältnis die Anwendung deutschen Sachrechts unter Ausschluss der §§ 305 ff. BGB vereinbaren, so dass die Kontrolle der Wirksamkeit der vereinbarten AGB nur anhand der §§ 134, 138 BGB erfolgen soll, ist ohne weiteres wirksam und hat in den verschiedenen fora, die mit der Frage der Wirksamkeit der Rechtswahl befasst sein könnten (Schiedsgericht, staatliches schweizerisches Gericht im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens, staatliches deutsches Gericht im Verfahren zur Vollstreckbarerklärung) Bestand. 1. Die Beurteilung durch das Schiedsgericht Das Schiedsgericht wird die doppelte Rechtwahl zur Abwahl der AGBKontrolle für wirksam halten. a) Die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung Zunächst ist die Schiedsvereinbarung natürlich wirksam. Ihre Wirksamkeit richtet sich nach dem Prozessrecht19 und damit bei einem Schiedsort in der Schweiz nach dem 12. Kapitel des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG), wenn ein internationales Verhältnis (Auslandsbe§ 1050 Rn. 2. Allerdings bleibt es dem staatlichen Gericht überlassen, ob es einem entsprechenden Antrag des Schiedsgerichts nachkommt oder nicht, denn es ist nicht zu einer Vorlage verpflichtet. 19 Saenger ZPO, 8. Aufl. 2019, § 1029 Rn. 7.

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rührung) vorliegt.20 Dies wird rein formal danach beurteilt, ob mindestens eine Partei ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt bei Abschluss der Schiedsvereinbarung außerhalb der Schweiz hat (Art. 176 Abs. 1 IPRG),21 wobei bei Gesellschaften gemäß Art. 21 Abs. 1 IPRG der Sitz des Unternehmens als Wohnsitz gilt. Bei deutschen oder anderen Unternehmen mit Sitz im Ausland gelten somit die Vorschriften des 12. Kapitels des IPRG. Die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung richtet sich gemäß Art. 178 Abs. 2 IPRG nach (i) dem von den Parteien für die Schiedsvereinbarung gewählten Recht, (ii) dem auf den Hauptvertrag anwendbaren Recht (lex contractus) oder (iii) dem Schweizer Recht. Ausreichend ist es entsprechend dem favor validitatis, dass die Schiedsvereinbarung nach einer der drei in Frage kommenden Rechtsordnungen wirksam ist.22 Die Schiedsvereinbarung ist völlig unproblematisch sowohl nach Schweizer Recht als auch deutschem Recht wirksam. aa) Die Wirksamkeit nach Schweizer Recht Für eine Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung nach schweizerischem Recht sind keine Gründe ersichtlich. bb) Die Wirksamkeit nach dem gewählten deutschen Recht Auch nach deutschem Recht bestehen keine Wirksamkeitshindernisse. Weder ergibt sich eine Unwirksamkeit aus der obergerichtlichen Rechtsprechung zum sogenannten Summierungseffekt (unten, (1)) noch aus einem Verstoß gegen das Umgehungsverbot des § 306a BGB (unten, (2)). (1) Keine Unwirksamkeit der Kombination aus Schiedsvereinbarung und Rechtswahl (Summierungseffekt) Nach der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte kann sich die Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung daraus ergeben, dass die Vereinbarung einer Schiedsklausel zusammen mit der Wahl eines ausländischen Sachrechts für den Hauptvertrag insgesamt zu Unwirksamkeit der Schiedsklausel führt (Summierungseffekt). Im Ergebnis führt der Summierungseffekt hier jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung. 20 Die Parteien können gemäß Art. 176 Abs. 2 IPRG davon abweichend vereinbaren, dass für das Schiedsverfahren anstelle des 12. Kapitels des IPRG der 3. Teil der schweizerischen ZPO gelten soll. 21 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 176 Rn. 96. 22 Gränicher Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 178 Rn. 24; Schütze Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2018, Art. 1 Abs. 1 Schweizerische Schiedsordnung Rn. 9; Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 178 Rn. 28, 32.

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Die hierzu maßgeblichen Entscheidungen der Oberlandesgerichte Bremen23, Celle24 und Dresden25 ergingen in Verfahren zur Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche. In allen drei Verfahren war Antragstellerin eine Gesellschaft niederländischen Rechts, die das Franchisegeschäft von Subway in Europa betreibt. Die Muttergesellschaft hat ihren Sitz im US-Bundesstaat Connecticut. Die niederländische Gesellschaft schloss Franchiseverträge mit Einzelpersonen, von denen die meisten als Existenzgründer wirtschaftlich wenig erfahren waren. Die Franchiseverträge, bei denen es sich um Formularverträge in englischer Sprache handelte, enthielten eine Schiedsvereinbarung, die ein Schiedsverfahren in englischer Sprache vor einem Einzelschiedsrichter nach der UNCITRAL-Schiedsordnung mit Verhandlungsort New York vorsah. Für den Hauptvertrag sahen die Franchiseverträge jeweils die Anwendung liechtensteinischen Rechts vor. Die Franchisenehmer verteidigten sich nicht gegen die jeweils gegen sie erhobenen Schiedsklagen, wandten sich aber gegen die Vollstreckbarerklärung der in der Folge ergangenen Schiedssprüche in Deutschland. Die Oberlandesgerichte lehnten die Anträge auf Vollstreckbarerklärung jeweils ab, weil die formularmäßig vereinbarten Schiedsklauseln die Franchisenehmer gröblich benachteiligten.26 Der zwingend vorgesehene Verhandlungsort in New York benachteilige die Franchisenehmer wegen der damit verbundenen aufwändigen Anreise.27 Zudem erschwere die Wahl liechtensteinischen Sachrechts den Franchisenehmern die Verteidigung ungebührlich, insbesondere wegen der Notwendigkeit, einen Anwalt mit Kenntnissen im liechtensteinischen Recht zu finden, der den Fall im in englischer Sprache geführten Schiedsverfahren in New York vertreten könne.28 Die Subway-Entscheidungen lassen sich auf ein Schiedsverfahren zwischen zwei Unternehmen mit Schiedsort in der Schweiz von vornherein nicht übertragen. Zwischen den Parteien liegt schon kein wirtschaftliches Ungleichgewicht wie zwischen Subway und den Existenzgründern vor. Ferner stellt ein Schweizer Schiedsort keine wie auch immer geartete Benachteiligung für ein Unternehmen dar, ungeachtet der Frage, ob der Verhandlungsort ebenfalls in der Schweiz liegt. Selbstverständlich kann auch die erfolgte Wahl deutschen Rechts keinen strukturellen Nachteil darstellen. 23

OLG Bremen, Beschl. v. 30.10.2008 – 2 Sch 2/08, NJOZ 2009, 1188. OLG Celle, Beschl. v. 4.12.2008 – 8 Sch 13/07, juris. 25 OLG Dresden, Beschl. v. 7.12.2007 – 11 Sch 8/07, juris. 26 OLG Dresden, Beschl. v. 7.12.2007 – 11 Sch 8/07, juris Rn. 17; OLG Bremen, Beschl. v. 30.10.2008 – 2 Sch 2/08, NJOZ 2009, 1188 Rn. 22; OLG Celle, Beschl. v. 4.12.2008 – 8 Sch 13/07, juris Rn. 27. 27 OLG Celle, Beschl. v. 4.12.2008 – 8 Sch 13/07, juris Rn. 30. 28 OLG Celle, Beschl. v. 4.12.2008 – 8 Sch 13/07, juris Rn. 31; vgl. auch OLG Bremen, Beschl. v. 30.10.2008 – 2 Sch 2/08, NJOZ 2009, 1188 Rn. 24. 24

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Theoretisch denkbar wäre es zu erwägen, ob die Kombination einer Schiedsklausel, eines Schiedsortes außerhalb der EU und einer entsprechenden Rechtswahl kumuliert unwirksam sein könnte. Dagegen spricht aber, dass der Gesetzgeber den Parteien grundsätzlich die Wahl des Schiedsorts und des Rechts ermöglicht. Genauso wie den Parteien die Wahl einer Rechtsordnung oder Rechtsgrundsätze möglich ist, die gar keine AGB-Kontrolle kennen, oder gar die Vereinbarung einer Entscheidung nach Billigkeit, ist es selbstverständlich auch zulässig, dass zwei Unternehmen die Geltung deutschen Rechts unter Ausschluss des AGB-Rechts vereinbaren. (2) Keine Unwirksamkeit gemäß § 306a BGB Die Schiedsklausel ist auch nicht wegen Verstoßes gegen das Umgehungsverbot des § 306a BGB unwirksam, wie dies für reine Inlandssachverhalte jüngst Valdini vertreten hat. Er geht davon aus, dass das AGB-Recht lex specialis gegenüber § 1051 ZPO sei.29 Eine freie Rechtswahl sei demnach nur hinsichtlich des dispositiven Rechts möglich.30 Dagegen spricht jedoch, dass materiell-rechtlich zwingende Normen wie die §§ 305 ff. BGB nur dann zur Anwendung kommen, wenn eine Kollisionsnorm sie zur Anwendung beruft. Zwingendes materielles Recht kann daher grundsätzlich keine lex specialis zu einer Kollisionsnorm wie § 1051 ZPO sein. Anders wäre es nur, wenn die Kollisionsnorm ausdrücklich nur nachrangig zum zwingenden Sachrecht gelten soll. Eine ausdrückliche Anordnung, dass § 1051 ZPO gegenüber zwingendem materiellen Recht nachrangig gelten soll, gibt es jedoch nicht. Daher wird diese Norm nicht von den §§ 305 ff. BGB verdrängt.31 Vielmehr erlaubt die Kollisionsnorm des § 1051 ZPO eine Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss der AGBKontrolle. Das Umgehungsverbot des § 306a BGB wird daher kollisionsrechtlich schon gar nicht zur Anwendung berufen. Zweifel an der Wirksamkeit der Schiedsklausel bestehen daher auch nach deutschem Recht nicht. b) Die Wirksamkeit der Rechtswahl für den Hauptvertrag Die Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle für den Hauptvertrag ist ebenfalls wirksam. Das Schiedsgericht mit Sitz in der Schweiz prüft die Wirksamkeit der Rechtswahl für den Hauptvertrag anhand der Vorschriften des Schweizer Rechts, das es als lex loci arbitri anzuwenden hat. 29 30 31

Valdini ZIP 2017, 7, 9. Valdini ZIP 2017, 7, 10. Kondring ZIP 2017, 706, 709.

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Dagegen ist die Rechtswahl nicht anhand der Bestimmungen der Rom IVO zu messen. Diese gilt gemäß Art. 29 Abs. 3 Rom I-VO und Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV nur in den Mitgliedstaaten.32 Aus demselben Grund besteht für das Schiedsgericht von vornherein keine Möglichkeit einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof zur Frage der Anwendbarkeit der Rom IVO in Schiedsverfahren. Nach schweizerischem Recht ist die Wahl einer Rechtsordnung unter Ausschluss ihrer Vorschriften zur Inhaltskontrolle von AGB grundsätzlich zulässig (unten, aa)). Ferner liegt weder ein Verstoß gegen den ordre public (unten, bb)) noch gegen eine Eingriffsnorm des Schweizer (unten, cc)) oder des deutschen Rechts (unten, dd)) vor. aa) Die Zulässigkeit der Wahl einer Rechtsordnung unter Ausschluss ihrer Vorschriften zur AGB-Kontrolle Art. 187 Abs. 1 Alt. 1 IPRG bestimmt, dass das Schiedsgericht die Streitsache grundsätzlich nach dem von den Parteien gewählten Recht entscheidet. Es handelt sich um eine spezielle Kollisionsnorm, welche die anderen Kollisionsnormen des IPRG verdrängt.33 Ebenso wie bei § 1051 ZPO können die Parteien neben einer staatlichen Rechtsordnung auch nichtstaatliche Rechtsvorschriften wählen, wie die französische Sprachfassung von Art. 187 Abs. 1 IPRG (règles de droit) zeigt.34 Darüber hinaus können die Parteien gemäß Art. 187 Abs. 2 IPRG das Schiedsgericht zu einer Billigkeitsentscheidung ermächtigen, wie dies auch § 1051 Abs. 3 ZPO vorsieht. Wird staatliches Recht gewählt, ist davon grundsätzlich die gesamte Rechtsordnung des jeweiligen Staates einschließlich des dispositiven und des zwingenden Rechts sowie der Eingriffsnormen umfasst.35 Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die Parteien den Umfang der Rechtswahl durch eine enge oder weite Formulierung der Rechtswahlklausel selbst bestimmen können.36 Dafür spricht zum einen, dass die Parteien nicht darauf festgelegt sind, eine staatliche Rechtsordnung zu wählen, sondern auch nichtstaatliche Rechtsvorschriften wählen können. Die Parteien sind also nicht gezwungen, eine (staatliche) Rechtsordnung en bloc zu wählen. Vielmehr können sie nach der Vorstellung des Schweizer Gesetzgebers auch einzelne Normen herausgreifen und diese entweder positiv wählen oder negativ abwählen. 32

Erwägungsgrund 46 Rom I-VO nimmt Dänemark vom räumlichen Geltungsbereich

aus. 33

Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 7. Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 19. 35 Karrer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 187 Rn. 87; Kaufmann-Kohler/Rigozzi, International Arbitration, 2015, Rn. 7.94. 36 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 58; Karrer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 187 Rn. 107. 34

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Zum anderen zeigt die Möglichkeit der Parteien, das Schiedsgericht zu einer Billigkeitsentscheidung zu ermächtigen, dass sie nach der Vorstellung des Schweizer Gesetzgebers überhaupt nicht gehalten sind, ihre Streitigkeit anhand von Rechtsnormen entscheiden zu lassen.37 Daher muss es erst recht zulässig sein, einzelne Vorschriften einer bestimmten Rechtsordnung abzuwählen. Damit besteht grundsätzlich die Möglichkeit, deutsches Sachrecht unter Ausschluss der §§ 305 ff. BGB zu wählen. bb) Der ordre-public-Vorbehalt Diese Rechtswahl hält auch dem ordre-public-Vorbehalt gemäß Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG stand. Maßstab für die ordre-public-Kontrolle ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, ob „die materielle Beurteilung eines streitigen Anspruchs […] fundamentale Rechtsgrundsätze verkennt und daher mit der wesentlichen, weitgehend anerkannten Wertordnung schlechthin unvereinbar ist, die nach in der Schweiz herrschender Auffassung Grundlage jeder Rechtsordnung bilden sollte.“38 In ständiger Rechtsprechung zählt das Bundesgerichts zum ordre public den Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda), das Rechtsmissbrauchsverbot, der Grundsatz von Treu und Glauben, das Verbot der entschädigungslosen Enteignung, das Diskriminierungsverbot und der Schutz von Handlungsunfähigen, ohne dass diese Aufzählung abschließend wäre.39 Durch die Abwahl der AGB-Kontrolle nach deutschem Recht ist keiner diese Grundsätze berührt. Ebenso wenig liegt ein Verstoß gegen fundamentale Rechtsgrundsätze vor. Eine entsprechende Rechtswahl für den Hauptvertrag hält damit dem ordre-public-Vorbehalt des Schweizer Rechts stand. cc) Kein Verstoß gegen eine Schweizer Eingriffsnorm Die Abwahl der AGB-Kontrolle des deutschen Rechts ist auch nicht wegen Verstoßes gegen eine schweizerische Eingriffsnorm unwirksam. Es ist bereits umstritten, ob Art. 18 IPRG, dem gemäß Eingriffsnormen des Schweizer Rechts unabhängig von der Rechtswahl der Parteien anzuwenden sind, überhaupt in Schiedsverfahren anwendbar ist, da diese Vorschrift außerhalb des 12. Kapitels des IPRG steht, das die internationale Schiedsgerichtsbarkeit regelt.40 Selbst wenn man annimmt, dass Art. 18 IPRG auch in 37

Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 86 f. BGE 138 III 322, E.4.1; ebenso BGE 132 III 389, E.2.2.2.; BGE 144 III 120, E.5.1. 39 BGE 132 III 389, E.2.2.2; BGE 138 III 322, E.4.1; BGE 144 III 120, E.5.1. Siehe ferner Oetiker, Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 190 Rn. 102–114. 40 Ablehnend Karrer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 187 Rn. 258. Für eine zurückhaltende Anwendung nur bei hinreichend starkem Bezug zur Schweiz Mächler-Erne/Wolf-Mettier Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 20. 38

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Schiedsverfahren anwendbar ist, ist keine Schweizer Eingriffsnorm erkennbar, die durch die Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss der AGBKontrolle verletzt wäre. dd) Kein Verstoß gegen eine deutsche Eingriffsnorm Genauso wenig verstößt der Ausschluss der §§ 305 ff. BGB gegen eine Eingriffsnorm des deutschen Rechts, die das Schiedsgericht gemäß Art. 19 IPRG analog zu berücksichtigen hätte.41 Nach dieser Vorschrift können Eingriffsnormen der lex causae berücksichtigt werden, wenn (i) diese Normen nach dem Willen des ausländischen Gesetzgebers auch in internationalen Sachverhalten angewendet werden sollen,42 (ii) ein enger Zusammenhang zwischen dem Sachverhalt und der lex causae besteht43 und (iii) das Ergebnis der Anwendung der Eingriffsnormen mit transnationalen Standards vereinbar ist.44 Eingriffsnormen dienen dem Schutz der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen des Staates, der sie erlässt.45 Sie müssen also eine überindividuelle Schutzrichtung haben und dürfen nicht lediglich dem Individualrechtsschutz dienen. Nach Schweizer Recht sind als zu berücksichtigende Eingriffsnormen anerkannt etwa: allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 IGH-Statut46, die Europäische Menschenrechtskonvention47, das Wettbewerbsrecht der EU48 und der Kulturgüterschutz49. Danach unterfallen die deutschen Vorschriften über die AGB-Kontrolle im unternehmerischen Rechtsverkehr schon nicht dem Begriff der Eingriffsnorm. Zum einen sollen sie nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers nicht in internationalen Sachverhalten zur Anwendung kommen. Die §§ 305 ff. BGB finden als Teil des deutschen Sachrechts auf internationale Sachverhalte 41 BGer, Urt. v. 13.11.1999, E. 1a), ASA Bulletin 17 (1999), 529, 532; KaufmannKohler/Rigozzi International Arbitration, 2015, Rn. 7.96; Mächler-Erne/Wolf-Mettier Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Rn. 28. Zurückhaltend Karrer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 187 Rn. 260–279. 42 Kaufmann-Kohler/Rigozzi International Arbitration, 2015, Rn. 7.98. 43 Kaufmann-Kohler/Rigozzi International Arbitration, 2015, Rn. 7.98. 44 Kaufmann-Kohler/Rigozzi International Arbitration, 2015, Rn. 7.98; Karrer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 187 Rn. 262; a.A. Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 81, wonach maßgeblich die (nach Schweizer Rechtsauffassung schützenswerten und offensichtlich überwiegenden) Interessen einer Partei sind. 45 Kaufmann-Kohler/Rigozzi International Arbitration, 2015, Rn. 7.91 f.; vgl. Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 78. 46 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 82. 47 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 82. 48 BGE 132 III 389, E. 3.3. 49 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 187 Rn. 82.

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Anwendung,50 wenn deutsches Sachrecht nach den jeweiligen Kollisionsvorschriften anwendbar ist. Dagegen sollen sie nach dem Willen des Gesetzgebers nicht unabhängig vom anwendbaren Sachrecht Anwendung finden. Zum anderen dienen die §§ 305 ff. BGB nicht dem Schutz überindividueller Rechtsgüter, insbesondere da sie im B2B-Verhältnis keine Verbraucherschutzzwecke verfolgen. Vielmehr dienen sie allein dem Individualrechtsschutz. Auch deshalb fallen sie nicht unter den Begriff der Eingriffsnorm im Sinne des Art. 19 IPRG analog. Ferner fehlt in internationalen Sachverhalten regelmäßig der enge Zusammenhang zum deutschen Recht als lex causae.51 Haben beide oder eine Vertragspartei ihren Sitz außerhalb Deutschlands, fehlt es an einem engen Zusammenhang zum deutschen Recht.

2. Die Beurteilung durch ein staatliches schweizerisches Gericht Ein staatliches schweizerisches Gericht – nämlich das schweizerische Bundesgericht (Art. 191 IPRG) – würde die Rechtswahl für den Hauptvertrag ebenfalls als wirksam beurteilen. Es könnte im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens mit der Schiedsvereinbarung und deren Gültigkeit in Berührung kommen. Hierbei ist das Schweizer Recht als lex fori einschlägig. Als Aufhebungsgründe kommen vorliegend nur die unrechtmäßige Annahme der Zuständigkeit des Schiedsgerichts (Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG) oder ein Verstoß gegen den ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG) in Betracht. Bei einer Anfechtung wegen Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG prüft das Bundesgericht die Zuständigkeit inklusive materieller Vorfragen. Im Rahmen der Zuständigkeitsrüge wird auch die Gültigkeit der Schiedsklausel geprüft.52 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Zuständigkeitsrüge nur dann einschlägig, wenn das Schiedsgericht den Einwand, eine ausländische Verbotsnorm sei anwendbar, nicht prüft, weil es sich für unzuständig hält.53 Hält sich das Schiedsgericht dagegen für zuständig, kann die Anwendung der ausländischen Verbotsnorm nur dann gerügt werden, wenn ein ordre-public-Verstoß vorliegt.54 Der Anfechtungsgrund des ordre-public-Verstoßes gemäß Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG ist nicht gegeben, da die Abbedingung des deutschen AGBRechts keine fundamentalen Rechtsgrundsätze berührt (oben, III.1.b) bb)). Lehmann-Richter BeckOGK BGB (1.8.2019), § 305 Rn. 24. Zu den Anknüpfungspunkten für die Ermittlung des Zusammenhangs Vischer/Widmer Lüchinger Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 27. 52 Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 190 Rn. 57. 53 BGE 132 III 389, E.3.3; Pfisterer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 190 Rn. 45; Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 190 Rn. 69. 54 BGE 132 III 389, E.3.3; Pfisterer Basler Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2013, Art. 190 Rn. 45; Oetiker Zürcher Kommentar IPRG, 3. Aufl. 2018, Art. 190 Rn. 69. 50 51

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Insgesamt ist bei der Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss des AGB-Rechts keiner der Anfechtungsgründe des Art. 190 Abs. 2 IPRG einschlägig. Das schweizerische Bundesgericht würde daher einen Schiedsspruch, der aufgrund dieser Rechtswahl ergangen ist, nicht nach Art. 190 Abs. 2 IPRG aufheben. 3. Die Beurteilung durch ein deutsches staatliches Gericht Schließlich würde der Ausschluss der AGB-Kontrolle auch der Überprüfung durch ein deutsches staatliches Gericht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs standhalten. Das deutsche staatliche Gericht wird seiner Entscheidung deutsches Recht als lex fori zugrunde zu legen. Da der Schiedsort in der Schweiz liegt, handelt es sich aus Sicht des deutschen Rechts um einen ausländischen Schiedsspruch, so dass sich die Vollstreckbarkeit nach § 1061 ZPO i.V.m. dem New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (NYÜ) richtet. Eine Überprüfung auf die inhaltliche Richtigkeit der Rechtsanwendung durch das Schiedsgericht ist wegen des Verbots der révision au fond unzulässig. Vor diesem Hintergrund ist hier keiner der beiden denkbaren Versagungsgründe – das Fehlen einer wirksamen Schiedsvereinbarung gemäß Art. V Abs. 1 lit. a NYÜ (unten, a)) und ein Verstoß gegen den deutschen ordre public gemäß Art. V Abs. 2 lit. b NYÜ (unten, b)) – gegeben. a) Die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung Der – nur auf Antrag zu berücksichtigende – Versagungsgrund einer fehlenden wirksamen Schiedsvereinbarung gemäß § 1061 Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. Art. V Abs. 1 lit. a NYÜ liegt nicht vor. Vielmehr ist die Schiedsvereinbarung wirksam geschlossen worden (siehe oben, III.1.a)). b) Kein Verstoß gegen den deutschen ordre public Auch der – von Amts wegen zu berücksichtigende – Versagungsgrund eines ordre-public-Verstoßes gemäß § 1061 Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. Art. V Abs. 2 lit. b NYÜ liegt nicht vor. Maßgeblich für das Vollstreckbarkeitsverfahren vor einem deutschen staatlichen Gericht ist nach allgemeiner Auffassung der deutsche ordre public.55 Dieser ist dann verletzt, wenn die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs zu einem Ergebnis führen würde, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar wäre.56 Die doppelte Rechtswahl verstößt jedoch unter keinem Ge55 56

Adolphsen Münchener Kommentar ZPO, 5. Aufl. 2017, Art. V NYÜ Rn. 70. Adolphsen Münchener Kommentar ZPO, 5. Aufl. 2017, Art. V NYÜ Rn. 70.

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sichtspunkt gegen den deutschen ordre public: Die Überprüfung der Anwendung des Kollisionsrechts durch das Schiedsgericht wäre eine unzulässige révision au fond (unten, aa)). Zudem gehört das AGB-Recht nicht zum deutschen ordre public (unten, bb)). Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen den unionsrechtlich determinierten ordre public vor (unten, cc)). aa) Die Überprüfung der Anwendung des Kollisionsrechts durch das Schiedsgericht als unzulässige révision au fond Die Anwendung des Kollisionsrechts durch das Schiedsgericht kann im Vollstreckbarkeitsverfahren grundsätzlich nicht überprüft werden. Das Verbot der révision au fond schließt eine Überprüfung des Schiedsspruchs dahingehend aus, ob das Schiedsgericht das in der Hauptsache anzuwendende Recht richtig angewandt hat; dies schließt auch das anzuwendende Kollisionsrecht mit ein. Das deutsche staatliche Gericht kann die Vollstreckbarerklärung nur verweigern, wenn das Schiedsgericht das anwendbare Sachrecht willkürlich bestimmt oder sich wesentlich über eine wirksame Rechtswahl der Parteien hinwegsetzt.57 Da hier die Abwahl der §§ 305 ff. BGB nach dem schweizerischen IPR zulässig ist (oben, III.1.b)), kann die Vollstreckbarerklärung nicht verweigert werden. bb) Das AGB-Recht ist nicht Bestandteil des deutschen ordre public Ein ordre-public-Verstoß liegt regelmäßig erst bei einseitigen, unter den Gesichtspunkten materieller Vertragsgerechtigkeit schlechthin nicht mehr tragbaren Vertragsfolgen vor.58 Als Beispiele hierfür werden in der Rechtsprechung genannt: „die Verurteilung zu einer verbotenen oder offensichtlich sittenwidrigen Handlung, zur Erfüllung eines offensichtlich sittenwidrigen Vertrags oder die Erwirkung des Schiedsspruchs durch Betrug gegen den ordre public“.59 Das vorliegende Szenario ähnelt keinem dieser Beispiele. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Schiedsgericht – auch wenn die Anwendung der §§ 305 ff. BGB ausgeschlossen ist – weiterhin eine Inhaltskontrolle des Vertrags anhand der §§ 138, 242 BGB durchführen kann. Ein Schiedsspruch, der sittenwidrig und deshalb ordre-public-widrig ist, wird durch den Ausschluss der AGB-Kontrolle daher nicht ermöglicht.60 Ebensowenig liegt ein ordre-public-Verstoß infolge der Missachtung der Grundrechte vor.61 Bisher hat das Bundesverfassungsgericht eine grundrecht57 Wilske/Markert BeckOK ZPO (1.9.2019), § 1051 Rn. 15; Geimer Zöller ZPO, 32. Aufl. 2018, § 1051 Rn. 9, § 1059 Rn. 66. 58 Geimer Zöller ZPO, 32. Aufl. 2018, § 1051 Rn. 2. 59 BayObLG, Beschl. v. 25.8.2004 – 4Z Sch 13/04, SchiedsVZ 2004, 319, 320. 60 BGH, Beschl. v. 30.10.2008 – III ZB 17/08, NJW 2009, 1215, Rn. 5; vgl. Hilbig SchiedsVZ 2010, 74, 81. 61 BayObLG, Beschl. v. 25.8.2004 – 4Z Sch 13/04, SchiedsVZ 2004, 319, 320.

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lich gebotene Inhaltskontrolle von Formularverträgen nur zu Gunsten von Arbeitnehmern angenommen.62 Der Ausschluss der Inhaltskontrolle von Verträgen im Geschäftsverkehr stellt keine Missachtung von Grundrechten der Beteiligten dar. Ferner ist nach der Rechtsprechung das AGB-Recht nicht Teil des deutschen ordre public.63 Somit führt der Ausschluss der AGB-Kontrolle im unternehmerischen Rechtsverkehr nicht zu einem Verstoß gegen den deutschen ordre public. cc) Kein Verstoß gegen den unionsrechtlich determinierten ordre public Schließlich ergibt sich auch keine ordre-public-Widrigkeit, weil eine unionsrechtlich vorgegebene nationale Eingriffsnorm nicht angewendet würde.64 Bei den §§ 305 ff. BGB handelt es sich – im hier einschlägigen B2BVerhältnis – nicht um unionsrechtlich vorgegebene Eingriffsnormen. Die Klauselrichtlinie gilt nur im B2C-Verhältnis, das hier gerade nicht vorliegt. Ferner fällt das AGB-Recht nicht unter den Begriff der Eingriffsnorm, da es keine überindividuelle Schutzrichtung hat.65 Somit liegt kein Verstoß gegen den unionsrechtlich determinierten ordre public vor.

IV. Ergebnis Nach richtiger und weit überwiegender Auffassung können Unternehmen für Verträge, die eine wirksame Schiedsklausel enthalten, deutsches Recht unter Ausschluss des AGB-Rechts vereinbaren. Um auch ein für die Praxis unter Umständen durchaus relevantes theoretisches Risiko auszuschließen, dass ein Schiedsgericht oder auch der Europäische Gerichtshof dies anders beurteilen könnten, sollten Unternehmen die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts mit Schiedsort außerhalb der EU, insbesondere in der Schweiz wählen. Die Wahl deutschen Sachrechts unter Ausschluss der AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB für den Hauptvertrag hält einer Kontrolle durch das Schiedsgericht, durch ein staatliches Schweizer Gericht und durch ein staatliches deutsches Gericht stand. Damit kann die Diskussion über die Anwendbarkeit des § 1051 ZPO bzw. dessen Verhältnis zur Rom I-VO vermieden werden. 62

BVerfG, Beschl. v. 23.11.2006 – 1 BvR 1909/06, NJW 2007, 286, 287. Vgl. Pfeiffer NJW 2012, 1169, 1173; Geimer Zöller ZPO, 32. Aufl. 2018, § 1051 Rn. 2. 64 Vgl. OLG München, Urt. v. 17.5.2006 – 7 U 1781/06, IPRax 2007, 322, 323 f. für den unionsrechtlich vorgegebenen (EuGH, Urt. v. 9.11.2000 – C-381/98 (Ingmar), NJW 2001, 2007 Rn. 21–25) Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters. 65 Ostendorf SchiedsVZ 2010, 234, 238. 63

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Die Rechtsgestaltung ermöglicht, das in der Praxis vielfach als zu restriktiv empfundene deutsche AGB-Recht auszuschließen und dennoch die Geltung deutschen Rechts im Übrigen zu vereinbaren. Eine „Flucht“ in ein ausländisches Recht ist insoweit nicht mehr notwendig.

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Conflict Of Laws In Arbitration1 DATUK SUNDRA RAJOO2 Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. The Law Applicable To The Arbitration Agreements And Arbitral Proceedings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. The Existing Conflict Of Laws . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. The Relevance Of The Law Applicable To Arbitration Agreements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. The Procedural Law In International Arbitration . . . . . . . II. The Choice Of Law And The Substantive Law Applicable In International Arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. The Law Chosen By The Parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. The Law Of The Seat Of The Arbitration . . . . . . . . . . . . 3. Assessing The Choice Of Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Different Approaches To Conflict Of Laws Rules . . . . . . . . 1. The Relevance Of The Substantive Law Of The Underlying Contract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. The Relevance Of The Substantive Law Of The Seat Of The Arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. The Most Interested Jurisdiction Approach . . . . . . . . . . . 4. The International Approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Dépeçage Or Split proper Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. The Application Of Non-National Legal Systems . . . . . . . Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 I am grateful to Rohith M. Subramonian and Navya Jain for their assistance in preparing this essay. It has its genesis in Chapter 49 of my book: Law, Practice and Procedure of Arbitration, (2nd edn, 2016), Lexis Nexis. Wherever possible, I have modified, updated and discussed relevant approaches and issues pertaining to the topic. 2 Founding President, Asian Institute of Alternate Dispute Resolution (2018 to date); Certified International Arbitrator (AIADR); Chartered Arbitrator (CIArb); Advocate & Solicitor (Non-Practising; Architect and Town Planner; Director, Asian International Arbitration Centre (2010–2018); Chairman, Asian Domain Name Dispute Resolution Centre (2018); Deputy Chairman, FIFA Adjudicatory Chamber (2018); President, Chartered Institute of Arbitrators (2016); President, Asian Pacific Regional Arbitration Group (APRAG)(2011); Founding President, Society of Construction Law Malaysia; Founding President, Malaysian Society of Adjudicators; Founding President, Sports Law Association of Malaysia; sometime Visiting and Adjunct Professors at Universiti Teknologi Malaysia, Universiti Kebangsaan Malaysia, Universiti Sains Malaysia, University of Malaya.

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Introduction Foreign related commercial and investment disputes are increasingly resolved by arbitration. Arbitration is the result of parties’ agreement. The arbitral tribunal derives its jurisdiction from this agreement. It must stay within the limits delineated by the arbitration agreement. Once the parties by agreement confer authority on the arbitral tribunal to decide disputes between them, the arbitral tribunal has a specific mandate to render a final and binding award on the issues set forth by the parties. Such an award brings the dispute to a close. Arbitration also operates under the presumption that an agreement to arbitrate established between parties is detachable from its underlying contract.3 It is to be treated as an agreement separate and independent of the other terms of the contract.4 As a consequence, it is theoretically possible as a consequence to have different laws governing the arbitration agreement and its underlying contract based on this principle of separability. In fact, most arbitration legislation, arbitration rules, international treaties and conventions recognise party autonomy to choose a law applicable to the merits of the dispute, to the procedure and to the arbitration agreement.5 At times, disputes and arbitral process in international arbitration involves foreign jurisdictional legal relations between persons, corporations and legal entities. The choice of law becomes one of the central issues of the conflict of laws or private international law.6 These may cause the interaction of laws between different legal systems. Such conflict of laws may give rise to jurisdictional uncertainty. It need not be a direct conflict between two or more different legal systems. It becomes imperative for the arbitral tribunal to decide the disputes containing these foreign elements which are similar to contracts made or performed in foreign states which interacts with other systems of law than the domestic law. The arbitral tribunal is aided by the fact that it has the power to decide which laws are applicable to the merits and also which laws are applicable 3 Peter Binder, International Commercial Arbitration and Conciliation in UNCITRAL Model Law Jurisdictions, (3rd edn, 2010), Sweet & Maxwell, 144 at [4.009]. 4 Bremer Vulkan Schiffbau und Maschinenfabrik v South India Shipping Corp Ltd, The Bremer Vulkan [1981] 1 Lloyd’s Rep 253; [1981] 1 All ER 289 at 297; Paal Wilson & Co A/S v Partenreederei Hannah Blumenthal, The Hannah Blumenthal [1983] 1 All ER 34; Harbour Assurance Co (UK) Ltd v Kansa General International Insurance Co. Ltd [1993] QB 701; Dalmia Dairy Industries v National Bank of Pakistan [1978] 2 Lloyd’s Rep 223. 5 Indu Malhotra, O.P Malhotra on the Law & Practice of Arbitration and Conciliation, (3rd edn, 2014), Thomson Reuters, 1061–1062. 6 Abdul F. Munir Maniruzzaman, ‘Choice of Law in International Contracts – Some Fundamental Conflict of Laws Issues’, Journal of International Arbitration, Kluwer Law International 1999, Vol. 16, Issue 4, 141–172.

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to its jurisdiction to hear the dispute.7 It will usually apply conflict of laws theories derived from private international law to choose correctly the laws that control different aspects of the arbitration proceedings. At times, arbitral tribunal have made egregious mistakes resulting in unpredictable results.8 As such, it becomes important to categorise the applicable laws that are relevant in international arbitration. They are the law applicable to the merits of the dispute; the law applicable to the arbitration agreement; the law applicable to the arbitral proceeding; and the inherent conflict of laws of each of the previous laws.9 An arbitral tribunal may not know beforehand the particularities of all potential fora that the winning party is intending to enforce its award. In reality, parties can enforce awards in multiple jurisdictions covered by the New York Convention. However, the arbitral tribunal is expected to render an enforceable award which contains sufficient reasons on questions of applicable laws in different stages of the proceedings. There is a need to appreciate how international arbitral tribunals analyse issues arising out of conflict of laws and the assessment of the choice of law in international arbitration. The start is to focus on the law applicable to arbitration agreements and the procedural law in arbitration and the applicable substantive law. There are the different methodologies which arbitral tribunal can adopt in assessing the choice of law. There are also issues that arise out of enforcement and recognition in case of such interaction of laws.

I. The Law Applicable To The Arbitration Agreements And Arbitral Proceedings 1. The Existing Conflict Of Laws The arbitral tribunal must answer all questions elaborated within the proceedings in order to discharge its mandate. It must rule on all issues set forth by the parties by the application of a specific set of rules. International arbitration is not a self-sufficient mechanism existing in a legal vacuum. 7 For more information, see Julian D.M Lew, Loukas A Mistelis and Stefan M Kröll, ‘Determination of Jurisdiction’, Comparative International Commercial Arbitration (Kluwer Law International 2003) 329–354. 8 The methodology of conflict of laws adopted by several arbitral tribunals consistently lead to problems such as the characterisation of the elements in dispute, some considerations with the substantive fairness of the applicable laws, and the application of complex legal theories like the renvoi. For more information, see Markus Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of The Conflict of Laws Theory’ (2010) 18 Michigan State Journal of International Law. 9 Born, International Arbitration: Law and Practice, (2nd Edn, 2015) at p 239.

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It is a regulated process with detailed rules of procedure defined by the parties and anchored in a particular law.10 Parties to any international arbitration will deal with various sets of laws including law that governs the arbitration agreement, substantive rights, law governing enforcement mechanisms so on and so forth. Parties are entitled to choose both the governing law and the substantive law applicable to the merits of the dispute.11 When they fail to indicate such laws, it is the arbitral tribunal’s duty to decide the applicable laws. Establishing the proper law in arbitration is a multifaceted task that involves assessing the choice of laws within the arbitral proceeding and how to operate once these laws are confirmed. The arbitral tribunal enjoys the freedom to choose its own methods of interpretation. It can render an award in accordance with the rules it considers appropriate, or it can apply conflict of laws rules, when it deems necessary, to reach its conclusion.12 The arbitral tribunal hears a series of arguments presented by the parties suggesting the use of several laws throughout the entire arbitration proceedings. In spite of that, the arbitral tribunal is not bound to decide solely on the basis of what parties contend. It may take into account issues of mandatory rules and public policy considerations when choosing the applicable laws in the arbitration.13 Accordingly, before the factual analysis and the assessment of the arguments set forth by the parties, the arbitral tribunal must engage in the exercise of ascertaining the proper system of laws that cover different aspects of the arbitration. The arbitral tribunal must face questions such as: which law governs the arbitration agreement; which law governs the existence and procedural aspects of the arbitration; which law governs the substantive issues; which law governs the enforcement of the award; and whether non-binding rules and guidelines can be applied to the dispute.14 In commercial arbitration cases, when the law chosen by the parties is not clear, arbitral tribunals can determine the applicable law to the dispute based

10 Blackaby, Partasides with Redfern and Hunter, Redfern and Hunter on International Arbitration, (6th Edn, 2015) 155–228. 11 Also referred to as the ‘substantive law’. 12 D Jones, ‘Choosing the Law or Rules of Law to Govern the Substantive Rights of the Parties’, (2014) 26 SAcLJ 911–941. 13 F De Ly, L Brozolo and M Friedman, ‘International Law Association International Commercial Arbitration Committee’s Report and Recommendations on “Ascertaining the Contents of the Applicable Law in International Commercial Arbitration”’, (2010) 26 Arbitration International, 193–220. 14 For more information, see Blackaby, Partasides with Redfern and Hunter, Redfern and Hunter on International Arbitration (6th Edn, 2015) 155–228.

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on the laws of the place of the arbitration.15 They might also utilise a choice of law approach on their own initiative to exclude the relevance of the seat of the arbitration from the equation. The arbitral tribunals can analyse other aspects of the dispute, which include the lex loci executionis,16 lex causae17 and, lex mercatoria by doing this exercise.18 There are many other arbitral bodies with their set of arbitral rules which also need to be considered. The choice of law operates in a different manner in investment arbitration given its particularities. Parties have the option of choosing the law of the contract as the applicable law. They can also make reference to a stand-alone domestic law of the Host-State and, choose the laws of a third State, which is rarely done. Notwithstanding the particularity of drafting such a clause, parties often choose to apply international law and general principles of law combined with the Host-State’s law.19 Therefore, both parties and arbitral tribunals intend to provide an effective method of interpreting arbitration clauses in order to extract the proper laws of the arbitration. While there is no fixed definition to the term ‘proper law’ and it remains largely regulated by party autonomy, proper law can be defined as that which best establishes the intentions of the parties in relation to the dispute resolution. 2. The Relevance Of The Law Applicable To Arbitration Agreements The first contact between the arbitrators and the proceedings takes place when the arbitral tribunal receive a copy of the request for arbitration filed by the claimant. This submission, as a general rule, contains a copy, a description, or the full terms of the arbitration agreement.20 The first task of an 15 Tribunals can base their decisions on the law of the seat of the arbitration by following the lex fori approach. See C Pamboukis, “On Arbitrability: The Arbitrator as a Problem Solver – Thoughts about the Applicable Law on Arbitrability”, in L Mistelis and S Brekoulakis (eds), Arbitrability: International & Comparative Perspectives, (2009). 16 The laws of the place where the enforcement of the arbitral award is sought. 17 The substantive law applicable to arbitration. 18 See F De Ly, L Brozolo and M Friedman, ‘International Law Association International Commercial Arbitration Committee’s Report and Recommendations on “Ascertaining the Contents of the Applicable Law in International Commercial Arbitration”’, (2010) 26 Arbitration International 2; see also ‘Applicable Law Chosen by the Parties’, in J Savage and E Gaillard (ed), Fouchard Gaillard Goldman on International Commercial Arbitration, (1999) 785–864. 19 See C Schreuer et al, The ICSID Convention, A Commentary, (2nd Edn, 2009) 545– 640. 20 Most arbitral institutions recognise the arbitration agreement as an essential document for the filing of the request for arbitration. For more information see ICC Rules of Arbitration art 4(3)(e), LCIA Arbitration Rules (2014) art 1.1(ii), and Stockholm Chamber of Commerce (SCC) Arbitration Rules 2010 art 2(iv).

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arbitral tribunal hinges on the analysis of the arbitration agreement and the procedural aspects of the dispute.21 The arbitral tribunal takes a closer look at the arbitration agreement and performs an initial assessment of formal validity, substantive validity and examines issues that can arise out of capacity. In this context, the arbitral tribunal is called to deal with the uncertainties concerning the law governing the arbitration agreement. This process of analysing the governing law may lead to inconsistent interpretations and, consequently, to the application of different laws. International arbitration operates under the presumption that arbitration agreements can be governed by a different law from the one governing its underlying contract. The principle of separability is recognised by both the New York Convention22 and the UNCITRAL Model Law.23 It rests on the premise that specific international rules will define the substance and formal validity of the arbitration agreement. It means that the applicable law for determining the scope and effects of an arbitration agreement is not intrinsically linked with the legal regime of the parties’ underling contract.24 The law applicable to the arbitration agreement is relevant because it governs all issues related to the substantive validity of the arbitration agreement, such as the existence of a valid arbitration agreement and errors of consent. It also extends to issues of interpretation, assignment and waiver of an international arbitration agreement, as well as to issues of non-arbitrability.25 The arbitral tribunal faces the additional challenge of establishing the boundaries of the arbitrability of the dispute. It relates to the attributions of the arbitral tribunal, given by the arbitration agreement, to define rationae personae and rationae materiae. In other words, it concerns the power of the arbitral tribunal to establish the subject matter and the parties in an arbitration.26 It is common that arbitration clauses in international commercial contracts do not contain a specific provision defining the law applicable to arbi21

Also referred as lex arbitri. The Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards, signed in New York on 10 June 1958, entered into force on 7 June 1959. 23 Article 16, UNITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (as amended in 2006). 24 G Born, ‘The Law Governing International Arbitration Agreements: An International Perspective’, (2014) 26 SAcLJ 819. 25 See K Berger, “Re-Examining the Arbitration Agreement, Applicable Law Consensus or Confusion?”, in A J Van den Berg(ed), International Arbitration 2006: Back to Basics?, (2007) at pp 304–305. See also G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn, 2014) 472. 26 C Pamboukis, “On Arbitrability: The Arbitrator as a Problem Solver – Thoughts about the Applicable Law on Arbitrability” in L Mistelis and S Brekoulakis (eds), Arbitrability: International & Comparative Perspectives, (2009). 22

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tration agreements.27 Identifying the law that governs the arbitration agreement in the face of such absence, has proven to be a complex process, especially when taking into account the separability principle in the context of a choice of law examination. Analysing the substantive and formal validity of arbitration agreements under rules of international law does not require the application of an express choice of law rule.28 Rather, it leaves open for multiple approaches in choosing the law that governs the formation, validity and termination of an international arbitration agreement.29 It may also prompt the arbitral tribunal to check international conventions and base its decision on the presumptive validity of the agreements and on default choice-of-law rules providing for selection of a national law in cases where the parties fail to define the law governing their arbitration agreement.30 As a consequence, the arbitral tribunal must define a method of assessing the choice of laws and decide on the law applicable to the arbitration agreement through the use of one of the methods that will be further discussed.31 In summary, arbitrators, national courts and commentators have analysed and adopted multiple approaches of the law to the substantive issues of the arbitration agreement.32 Notwithstanding, the lack of a comprehensive 27 It is widely accepted that the parties are free to choose the applicable law not only at the time of signing the arbitration agreement but also at any time before or after the dispute has arisen. 28 The New York Convention operates under the assumption that the substantive and formal validity of arbitration agreements are separately subjected to special international rules. For example, New York Convention, art II provides that: ‘1. Each Contracting State shall recognize an agreement in writing under which the parties undertake to submit to arbitration all or any differences which have arisen or which may arise between them in respect of a defined legal relationship, whether contractual or not, concerning a subject matter capable of settlement by arbitration; 2. The term “agreement in writing” shall include an arbitral clause in a contract or an arbitration agreement, signed by the parties or contained in an exchange of letters or telegram; 3. The court of a Contracting State, when seized of an action in a matter in respect of which the parties have made an agreement within the meaning of this article, shall, at the request of one of the parties, refer the parties to arbitration, unless it finds that the said agreement is null and void, inoperative or incapable of being performed’. 29 G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn, 2014) 485–487. 30 Ibid pp 490–491. The author exemplifies his point by mentioning the Geneva Protocol and Geneva Convention, the New York Convention, the Rome I Convention, among others. 31 Questions involving the law applicable to the arbitration agreement often arise in different stages and in other fora, including the courts where parties seek the enforcement of the arbitral award and the courts where parties may seek to set aside the arbitral award. 32 For more information, see M Blessing, “The Law Applicable to the Arbitration Clause”, in A Van den Berg(ed), Improving the Efficiency of Arbitration Agreements and Awards: 40 Years of Application of the New York Convention, vol. 9, The Hague, Kluwer Law International, 168–188. According to the author, at least nine different approaches to

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method of analysing the questions of choice of law, tribunals and national courts have found means of solving those issues. Parties are provided the first right or autonomy to choose the said substantive law and are afforded the opportunity to overcome possible restrictions, such as having a substantial connection with the state of the chosen law.33 Pursuant to Article 28 of the 1985 UNCITRAL Model Law, parties are accorded the first right to determine the issue of applicability. In the absence of any acceptance, the arbitral tribunal is vested with the power to make the determination in accordance with the internationally accepted principles of interaction of laws. This is commonly referred to as ‘conflict of law’ principles. These have been generally accepted given the increasing enactments of UNCITRAL Model Law into domestic statutes. If uncertainty persist, Article 28(4) of the 1985 UNCITRAL Model Law may come into play. Such uncertainty is resolved by the consideration of the terms of the agreement and trade usages. This is referred to as the ‘centre of gravity’ approach where the courts will consider the ‘closest and most real connection’ to the transaction in making a determination as to the applicability of the laws.34 In the absence of an express governing law in the agreement, the practice is to lean towards the substantive law which conveys the closest connection.35 This could be the curial law to be the law of the 'seat' of the arbitration, that is the place at which the arbitration is to be conducted, on the ground that that is the country most closely connected with the proceedings.36 However, it is a suggestion of the need to give effect to the difference between the substantive law of the contract and the law that governed the arbitration.37 The law of the place where the contact is made (Lex contarctus) need not be mandatorily followed, where the governing law is not explicitly expressed by the parties. The approach has aligned towards the law of the determining the law governing the arbitration agreement exist, being: the law of the place where the arbitration clause deploys its effects, or locus regit actum; the law of the seat of the arbitration, or lex arbitri; the proper law chosen by the parties; the law of the substantive contract in which the arbitration clause is embedded, lex causae; the law of the parties, or of one of them; the law of the country whose courts would have jurisdiction absent an arbitration clause; the law of the country where the arbitral award is to be enforced; a combination of laws; an a-national or denationalised approach. 33 Vita Food Products Inc v Unus Shipping Co Ltd [1939] AC 277. 34 Bonython v Commonwealth of Australia [1951] AC 201; Citadel Insurance Co v Atlantic Union Insurance Co SA [1982] 2 Lloyd’s Rep 543; James Miller & Partners Ltd v Whitworth St Estates (Manchester) Ltd [1970] AC 583 followed. 35 National Thermal Power Corp v Singer Co. & Ors [1993] SC 998. 36 M/S Dozco India P.Ltd v M/S Doosan Infracore Co.Ltd [2011 ] 6 SCC 179. 37 Union of India v Reliance Industries Limited [2015] 10 SCC 213.

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seat with the closest connection, in the absence of a specified governing law.38 The court in C v. D39 explained, “If there is no express law of the arbitration agreement, the law with which that agreement has its closest and most real connection is the law of the underlying contract or the law of the seat of arbitration. …the answer is more likely to be the law of the seat of the arbitration than the law of the underlying contract.”

3. The Procedural Law In International Arbitration It is generally accepted that the seat of the arbitration is closely related to the conduct of arbitrators and to the control of some procedural aspects of the dispute, such as questions of enforceability. This supervisory role that national courts possess is often referred to as the curial law of arbitration.40 In cases of administered arbitration or institutional arbitration, the rules will govern the arbitration. The precise definition of lex arbitri may vary from country to country. However, it may find a mutual ground when regulating: (a) the formal matters internal to the arbitration, such as the appointment of arbitrators or the requirements to the rendering of an award; (b) the relationship between the arbitration and local courts, the assistance of national jurisdictions; and (c) some aspects of public policy of a specific country, as mandatory rules.41 There exists a collaborative relationship between arbitral tribunal and the courts of the seat, since the later can provide the necessary support to the arbitral proceedings in enforcing arbitration agreements, properly constituting the arbitral tribunal, and dealing with challenges to the arbitral tribunal’s jurisdiction. In addition, the courts of the seat of the arbitration are the competent courts, often utilised to execute interim measures, enforce arbitral tribunal’s decisions and to file for ex parte applications or freezing orders.42 There is a relationship between the seat of arbitration and the law governing arbitration. The seat is a designated juridical construct as conferred by the parties or by the arbitral tribunal.43 The arbitration agreement be read 38

Sulamerica v. Enesa [2012] EWCA Civ 638 [32]. [2007] EWHC 1541 (Comm). 40 M Hwang and F Cheng, ‘Relevant Considerations in Choosing the Place of Arbitration’, (2008) 4 Asian International Arbitration Journal, 195–200. 41 See A Henderson, ‘Lex Arbitri, Procedural Law and the Seat of Arbitration – Unravelling the Laws of the Arbitration Process’, (2014) 26 SAcLJ 886–910. 42 M Hwang and F Cheng, ‘Relevant Considerations in Choosing the Place of Arbitration’, (2008) 4 Asian International Arbitration Journal 195–200. 43 Imax Corporation v, E City Entertainment India Private Ltd. [2017] SC 1372. 39

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purposively to derive a proper conclusion over its intention on the seat of arbitration.

II. The Choice Of Law And The Substantive Law Applicable In International Arbitration 1. The Law Chosen By The Parties International arbitration is a mechanism founded upon party autonomy. Parties possess the overriding authority to determine the methods and define the applicable law that arbitrators must utilise in the arbitral proceedings. The existence of arbitration is, in every instance, a result of the exercise of party autonomy and the choice of law by the parties is a reflex of that same autonomy.44 Each arbitration proceeding has its own particularities given the international characteristics of parties and subject-matter in dispute. Parties establish beforehand a series of specific conditions for the procedure to function. When they fail to express or to reach a choice of law agreement, the arbitral tribunal becomes responsible for analysing the matters in dispute and define the law applicable to the substance of the dispute. Most arbitration laws distinguish the scenarios where parties have elected a choice of law and where they have not opted for such a clause.45 In spite of the hypothesis where parties indicate the law they intended to govern the dispute, it is still the arbitrator’s prerogative to examine that choice and determine the law on which it will base its final decision. For decades now, arbitral tribunals have enjoyed increasingly more discretion to determine the applicable law to the substance of the dispute, in absence of a choice of law by the parties. Among other factors, the theory of delocalisation transferred the preponderant role of the seat of arbitration to the hands of the arbitral tribunal.46 Therefore, powers granted to arbitrators are not limited by a specific set of rules of an individual forum.47 44

J Lew, L Mistelis, et al, Comparative International Commercial Arbitration, (2003)

412. 45

See UNCITRAL Model Law art 28. The theory of delocalisation rejects that the main aspects of the dispute (the agreement, the procedure, and the award) are govern by the law of the seat of the arbitration. 47 J Paulsson, ‘Arbitration in Three Dimensions’, (2010) 2 LSE Law, Society and Economy Working Papers 1–35. In this paper, the author analyses how the law of arbitration is traditionally conceived and categorises under four aspects (at p 3): ‘[t]he first is that any arbitration is perforce national and lives or dies according to the law of the place of arbitration. This might be called the territorial thesis. The second is that arbitration may be given effect by more than one legal order, none of them inevitably essential. This is the pluralistic thesis. The third proposition is that arbitration is the product of an autonomous 46

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In investment arbitration, for example, the law applicable to the dispute does not necessarily emerge from a contractual relationship between the parties. However, it is still tied with the principle of party autonomy. The state’s autonomy is represented by its powers to formulate the terms of the treaty and the agreements on how parties will resolve their disputes. For example, in the case of multiple sources of law applicable to the dispute, the tribunal would tend to prioritise the investment treaty over other sources of law. In that regard, treaty provisions have an overriding capacity followed by the host state’s law to regulate the arbitration.48 2. The Law Of The Seat Of The Arbitration For years, international arbitration operated under the presumption that the seat of arbitration controlled the question of which substantive law should be applicable to a dispute. The idea that arbitrators were bound to apply the laws of the seat of the arbitration lasted until the theoretical model of an autonomous system of conflict rules was incorporated into international arbitration.49 The autonomous method was founded on two assumptions. The perception that the seat of the arbitration was often chosen for practical reasons50, without a necessary connection with the subject-matter of the dispute—and on the theoretical assumption that arbitrators’ powers are not restricted by lex fori, differs from national court judges.51 The relevance of the law of the seat of arbitration, the lex arbitri in contemporary times has been the centre of discussions and the target of much criticism. Sceptics believe that the law of the seat should have a limited and residual impact on international arbitration. The scope of application should only cover procedural aspects of the dispute and avoid addressing substantive issues or questions relating to the merits of the dispute.52 legal order accepted as such by arbitrators and judges. The fourth proposition is that arbitration may be fully effective pursuant to conventional arrangements that do not depend on national law or judges at all’. 48 J Thomas and H Dhillon, ‘Applicable Law under International Investment Treaties’, (2014) 26 SAcLJ 975–998. 49 F De Ly, ‘Conflict of Laws in International arbitration – an overview’, in F Ferrari and S Kröll (ed), Conflict of Laws in International Arbitration, (2011) 3–19. 50 There is now considerable competition to attract international commercial and investment arbitrations based on the notion of safe seat. This refers to the general reputation of the jurisdiction and formal legal structure of the seat. See White & Case, '2018 International Arbitration Survey: The Evolution Of International Arbitration' (2018) accessed 12 September 2019. 51 Idem. 52 See P Ortolani, ‘L’Individuazione e l’Applicazione delle Norme di Merito nell’Arbitrato Internazionale’, (2013) 23 Rivista dell’Arbitrato 763–786.

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One of the major issues regarding the seat of arbitration relates to arbitrability. The notions set forth by the New York Convention of ‘a subject matter capable of settlement by arbitration’,53 and a subject matter which is ‘not capable of settlement by arbitration under the law of that country’,54 bring the question back to the laws of the place of arbitration or to the laws of the place where the enforcement is sought.55 The issue of arbitrability can appear in different stages of the arbitral procedure.56 This ensures that the actual seat or anchor of the arbitration is not to be confused with the venue providing parties with the right to determine a different venue without altering the applicable law. The place of arbitration can mean place, or places, where meetings occur and need not always be the seat.57 3. Assessing The Choice Of Law Arbitral tribunals have a certain level of freedom to determine the appropriate methods they may use to reach a decision when faced with questions of choice of law. There are two scenarios that can exemplify how difficult the task of an arbitral tribunals in assessing the choice of law. The first, involves a situation where parties fail to express their choice of law. The second hypothesis regards an express choice of law with restrictive scope of application.58 Many arbitral tribunals elaborated specific conflict of laws rules and methods in attempting to come up with a general solution that would solve the conflict of laws applicable to international arbitration. M Petsche suggest that such methods ended up examining the problems superficially.59 The 53

See New York Convention art II(1). Id, art V(2)(a). 55 The United States present a different perspective and interpret issues of arbitrability on a different manner. For more information, see J McLaughlin, ‘Arbitrability: Current Trends in the United States’, (1996) 12 Arbitration International 113–136. 56 See B Hanotiau, ‘The Law Applicable to Arbitrability’, (2014) 26 SAcLJ 874–885. According to the author, questions of arbitrability may arise in the following circumstances: it will be invoked before the arbitral tribunal which will decide on itself based on the principle of Kompetenz-Kompetenz; it will be invoked before a national court as an objection to the validity of the arbitration agreement; it will be invoked in the setting-aside proceedings before a national court; and it will be invoked in enforcement proceedings before a national court. 57 Blackaby and Partasides with Redfrern and Hunter, Redfern and Hunter on International Arbitration, (6th Edn, 2015) 321, [6-12]; Rajoo and Davidson, The Arbitration Act 2005: UNCITRAL Model Law as applied in Malaysia, (2007) [ 22.2]. 58 The choice of law made by the parties is limited by the application of mandatory public policy norms and by the laws that govern the formal validity of their agreement to arbitrate. 59 M Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of the Conflict of Laws Theory’, (2010) 18 Michigan State Journal of International Law 3, 456– 466. 54

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lack of success in determining the substantively most appropriate law through a conflict of laws methodology served to expose a possible unfairness of this process. A series of different tests was developed in order to introduce an objective element into the conflict of laws analysis. The use of conflict of laws theory in international arbitration was criticised for not being able to reconcile the nature of domestic and foreign laws, thus creating a conflict of connecting factors instead of creating a substantive conflict of laws.60 Contemporary commentators tend to categorise the approaches to issues of choice of law as follows: the application of a choice of law rule identified by the arbitral tribunal; the application of a specific and flexible choice of law rule of the seat; and the application of an indirect or direct choice methods.61 With emphasis on the latest approach—the direct choice method—the arbitral tribunal undertakes the task of ascertaining the substantive laws or the ‘rules of law’, which is not a simple task limited to pointing to the laws of a particular country. Arbitral tribunals utilise the methods of the voie indirecte and voie directe to determine the substantive law.62 The voie indirecte method can be defined as a conservative technique, with its origin tracing back to the European Convention on International Commercial Arbitration.63 According to this approach, the arbitral tribunal has the discretion to apply the conflict of laws rule it considers ‘applicable’ or ‘appropriate’ in order to find the substantive law. For example, utilising the conflict of laws rules of a particular jurisdiction.64 The voie directe, by contrast, grants the arbitrators the freedom to do as they like. They may decide to resort to choice of law rules, even when they are not bound to do so. They may even invent the rules they intend to apply.65 60

Id. For more information see E Gaillard, ‘The Role of The Arbitrator in Determining the Applicable Law’, in L Newman and R Hill (ed), The Leading Arbitrators’ Guide to International Arbitration, (2nd Edn, 2008) 185–216. 62 D Jones, ‘Choosing the Law or Rules of Law to Govern the Substantive Rights of the Parties’, (2014) 26 SAcLJ 913. 63 See the European Convention on International Commercial Arbitration, signed in Geneva on 21 April 1961. European Convention on International Commercial Arbitration art VII.1 provides: ‘The parties shall be free to determine, by agreement, the law to be applied by the arbitrators to the substance of the dispute. Failing any indication by the parties as to the applicable law, the arbitrators shall apply the proper law under the rule of conflict that the arbitrators deem applicable. In both cases the arbitrator shall take account of the terms of the contract and trade usages’. 64 D Jones, ‘Choosing the Law or Rules of Law to Govern the Substantive Rights of the Parties’, (2014) 26 SAcLJ 913–914. 65 E Gaillard, ‘The Role of The Arbitrator in Determining the Applicable Law’, in L Newman and R Hill, The Leading Arbitrators’ Guide to International Arbitration, (2nd Edn, 2008) 205. 61

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When using this method, the arbitral tribunal should analyse the circumstances of each case and pick the most relevant law or the law it deems best suited. This option became popular with the adoption of the direct approach by different arbitral institutions and the inclusion of specific provisions into their set of rules of arbitration.66 The extensive degree of discretion of the arbitral tribunal when assessing the substantive law via the voie indirecte or the voie directe—especially through the later—should not be perceived as an arbitrary decision in favour of the most convenient or familiar law. The option for those methods does not suggest that the tribunal is discharged of its obligations to provide a reasoned decision. On the contrary, the tribunal’s decision shall include a careful explanation of why the law determined to be applicable is the best.67 The use of conflict of laws rules to determine the applicable law has been the object of much criticism. M Petsche68 suggests that it is based on the unpredictability, unfairness and substantive inadequacy of a pure conflict of laws rule applied to international arbitration. In investment treaty arbitration, assessing the choice of law requires a different approach from commercial arbitration. Tribunals have held consistently that questions of jurisdiction are not subjected to the law applicable to the merits of the case. Jurisdictional issues are governed by a system of their own which is based on the instruments containing the parties’ consent to arbitration.69 The choice of law performed by the arbitrators takes into account the investment treaties on the basis of the law of the host state and international law.70 In this context, public international law represents a body of rules that may be appropriate to explain and determine concepts and notions unknown in national law or that are more developed in international law.

66 For more information see UNCITRAL Model Law, chap VI, art 28; LCIA Arbitration Rules (2014) art 22(3); ICC Rules of Arbitration art 21(1); AAA Commercial Arbitration Rules and Mediation Procedures P-2 Check list . See also S Nesbitt and M Darowski, ‘LCIA Arbitration Rules 2014, Article 22 [Additional Powers]’ and S Brekoulakis and J Ribeiro et al, ‘UNCITRAL Model Law, Chapter VI Making of Award and Termination of Proceedings, Article 28 [Rules applicable to substance of dispute]’, both in L Mistelis (ed), Concise International Arbitration (2nd Edn, 2015) 533–539, 890–893. 67 D Jones, ‘Choosing the Law or Rules of Law to Govern the Substantive Rights of the Parties’, (2014) 26 SAcLJ 915. 68 M Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of the Conflict of Laws Theory’, (2010) 18 Michigan State Journal of International Law 3, 457. 69 C Schreuer, ‘Applicable Law in Investment Treaty Arbitration’, (2014) 1:1 McGill Journal of Dispute Resolution 1–25. 70 Y Banifatemi, ‘The Law Applicable in Investment Treaty Arbitration’, in K Yannaca-Small (ed), Arbitration under International Investment Agreements: A Guide to the Key Issues, (2010) 191–210.

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III. Different Approaches To Conflict Of Laws Rules 1. The Relevance Of The Substantive Law Of The Underlying Contract Once the arbitral tribunal determines the law governing the arbitration agreement and decides on the procedural aspects of the arbitration, it is ready to advance to the next stage. The examination of the substantive law of the arbitration raises multiple questions with regard to the application of specific national laws, different national laws or multiple national laws simultaneously.71 The first step is to analyse whether the parties agreed upon a choice of law. If so, it binds the arbitral tribunal. However, whether the parties have agreed on the applicable substantive law or they refer to the underlying contract, arbitrators must determine the effects of the law contained in the parties’ agreement. This is the interplay between party autonomy and the power vested in the arbitral tribunal. Alternatively, if the parties did not agree on the choice of law, the tribunal must select the applicable substantive law by utilising conflict of laws rules or by directly selecting a substantive law. There is thus no dispute that if parties do not decide, then the arbitral tribunal must decide the same in accordance with the law of the state. The chosen law by the parties’ will be construed as a direct reference to the substantive law of the state, excluding its conflict of law rules.72 The Malaysian High Court held that in an international arbitration it is not unusual for the three systems of law including the law governing the substantive contract, law governing the agreement to arbitration and the lex fori to be different.73 In determining applicable substantive law of course, the tribunal will determine which system of law had the closest and most real connection to the transaction.74 71 For more information, see G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn, 2014) 2617–2618. The author mentions that in international arbitration, questions involving substantive law can arise in the following circumstances: (1) the substantive law applicable to the merits of the dispute, including the existence, validity, enforceability and interpretation of the parties’ underlying contract and the law governing any non-contractual claims; (2) the substantive law applicable to the parties’ arbitration agreement; (3) the law applicable to the arbitral proceeding; and (4) the conflict of laws rules that are to be applied in selecting each of the foregoing laws. 72 Rajoo and Davidson, The Arbitration Act 2005: UNCITRAL Model Law as applied in Malaysia, (2007) [30.5]. 73 Government of the Lao People’s Democratic Republic v Thai-Lao Lignite Co Ltd (‘TLL’), a Thai Co [2013] 3 MLJ 409 at [94]. 74 Lord Collins of Mapesbury, Briggs, Dickson, Harris, et al, Dicey, Morris & Collins: The Conflict of Laws, (15th Edn, 2012) 1197–1198, [32-005]; Minoutsi Shipping Corp v

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Institutional rules of arbitration generally grant arbitrators a certain level of flexibility in choosing the substantive law when the parties’ agreement is silent. On several occasions, neither arbitral institutions nor national law present clear guidance on how arbitrators should proceed in selecting the applicable substantive law.75 Investment treaty arbitration does not differ from commercial arbitration when it comes to prioritising the principle of party autonomy and favouring the choice of law established by the parties. However, when parties do not express the choice of the laws that will be applicable to the substance of their dispute, the arbitral tribunal must assess which system of laws or which specific laws parties intend to apply.76 This analysis takes into account the investment treaty, the laws of the host State and general principles of public international law. 2. The Relevance Of The Substantive Law Of The Seat Of The Arbitration In modern arbitration, it is widely recognised that the application of the ordinary choice of law rules of the seat of the arbitration is not necessarily the best approach. The application of the conflict rules of the so-called arbitral forum, or the conflict rules of the seat of arbitration, as a concept, are considered to be obsolete and have been almost entirely abandoned.77 As previously mentioned, it is highly debatable that parties choose the seat of arbitration for reasons other than neutrality and convenience. Moreover, in cases where the seat of the arbitration was fixed by arbitral institutions, it is unreasonable to affirm that parties have conceivable reasons to Trans Continental Shipping Services Pte Ltd [1971] 2 MLJ 5; Compagnie d’Armement Maritime SA v Compagnie Tunisienne de Navigation SA [1971] AC 572, HL; Coast Lines Ltd v Hudig & Veder Chartering NV [1972] 2 QB 34, CA Monterosso Shipping Co Ltd v International Workers Federation, The Rosso [1982] ICR 675, [1982] 3 All ER 841, CA; XAG v A Bank [1983] 2 All ER 464; Amin Rasheed Shipping Corpn v Kuwait Insurance Co, The Al Wahab [1984] AC 50; Mitsubishi Corpn v Castletown Navigation Ltd, The Castle Alpha [1989] 2 Lloyd’s Rep 383; Woh Hup (Pte) Ltd v Property Development Ltd [1991] 3 MLJ 82; supra note 9, [ 30.6]. 75 See G Born, International Arbitration: Cases and Materials, (2nd Edn, 2015) 961– 962. See also UNCITRAL Model Law art 28, UNCITRAL Rules of Arbitration art 35 and ICC Rules of Arbitration (2014) art 21(1). 76 See ICSID Convention art 42(1): ‘The Tribunal shall decide a dispute in accordance with such rules of law as may be agreed by the parties. In the absence of such agreement, the Tribunal shall apply the law of the Contracting State party to the dispute (including its rules on the conflict of laws) and such rules of international law as may be applicable’. See also UNCITRAL Rules of Arbitration art 35(1): ‘The arbitral tribunal shall apply the rules of law designated by the parties as applicable to the substance of the dispute. Failing such designation by the parties, the arbitral tribunal shall apply the law which it determines to be appropriate’. 77 G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn 2014) 2639–2641.

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contemplate the application of the substantive law of the place of arbitration.78 On the other hand, going against modern trends and departing from the UNCITRAL Model Law standard, some jurisdictions still adopt the choice of law of the seat of arbitration to define the governing law. This less liberal approach, however, has been severely criticised for ignoring the transnational nature and particularities of the arbitration proceedings.79 3. The Most Interested Jurisdiction Approach The most interested jurisdiction approach utilises the cumulative method of examining issues of choice of law. This approach is defined by the analysis of multiple laws and the simultaneous application of the choice of law rules of all legal systems connected with the dispute. The arbitral tribunal develops tests that allow it to examine the degree of connection between the laws that might be relevant to the dispute. At this stage, it is not relevant if the rules present minor differences providing that they achieve the same result.80 The method of applying cumulatively choice of law rules based on their connection with the dispute was elaborated as an attempt to produce more predictable outcomes to the various issues of conflict of laws. This approach allows arbitrators to disregard options such as the choice of law rules of the seat of the arbitration based on other criteria, such as the connection between a specific law and the dispute. Arbitral tribunals have elaborated two distinct ways of utilising the cumulative approach. The first method represents the cumulative application of conflict of laws rules of the nationalities involved in the dispute. The second method relates to the application of conflict norms that are internationally recognised as general principles of the conflict of laws.81 The English Court of Appeal, for example, created a threefold test to determine the proper law of arbitration.82 The test addresses the questions of whether or not the parties made an express choice of law. In absence, 78

Id. See J Savage and E Gaillard (ed), Fouchard Gaillard Goldman on International Commercial Arbitration, (1999) 868– 869. The authors makes some remarks regarding specific provisions contained in the Swiss and German legislation and also mentions the Italian and Mexican arbitration laws as examples of countries that adopt the choice of law of the seat of arbitration. 80 Id, 871. 81 M Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of the Conflict of Laws Theory’, (2010) 18 Michigan State Journal of International Law 3, 456– 457. 82 Sul América Cia Nacional De Seguros SA v Enesa Engenharia SA [2012] EWHC 42 (Comm). 79

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whether parties might have made an implied choice. If it is negative, then which law has the closest and most real connection with the arbitration agreement. Critics consider that the closest connection criterion serves merely as a starting point of the choice of law analysis. They believe that by applying this method, arbitrators have the complete discretion to analyse which principles of law they will apply.83 The limits inherent to the cumulative method are evident, where the various choice of law rules of the legal systems connected with the dispute lead to different results. The cumulative approach can only identify what is referenced as the ‘ultimate true conflict’, but it does not resolve the issue. In that case, another conflict of laws principle must be applied to choose between the competing alternatives identified by a ‘cumulative’ analysis. Some may consider that the application of the cumulative approach can be a burdensome, complex and time-consuming process.84 4. The International Approach Under the assumption that an international arbitral tribunal possesses no lex fori, it is possible to affirm that arbitrators are less likely to act as protectors of the public policy of a specific forum. Consequently, without those limitations, tribunals enjoy a great degree of freedom in determining the applicable laws. Such level of freedom, however, may lead to problems involving the predictability of the methods chosen to determine the applicable law.85 The international approach to the choice of law rules, also known as the choice of general principles of private international law, emerges as an alternative to the application of the cumulative method. Through this approach, the arbitral tribunal tries to put together a coherent set of private international law rules that allow it to analyse different aspects of a particular dispute.86 A clear-cut advantage of the international approach can be found in the fact that it escapes the particularities of national law systems and at the same time it avoids the application of multiple conflict of law rules. The idea behind the international approach is to apply neutral and uniform international principles of private international law to the arbitration proceedings. This method allows the arbitral tribunal to avoid applying uncommon and unpredictable conflict of laws rules. It expands the tribunal’s analysis by 83

K Berger, International Economic Arbitration, (1993) 501–505. G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn, 2015) 2648–2650. 85 M Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of the Conflict of Laws Theory’, (2010) 18 Michigan State Journal of International Law 3, 481. 86 See J Savage and E Gaillard (ed), Fouchard Gaillard Goldman on International Commercial Arbitration, (1999) 873–874. See also G Born, International Commercial Arbitration, (2nd Edn, 2014) 2650–2653. 84

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allowing a comparative exercise involving arbitral case law87 and international conventions related the law applicable to contracts.88 As such in determining the proper law, the tribunal will first give deference to the contractual intentions of the party and use the ‘closest and most real’ connection test. These principles in the provision are applicable to all stages of the arbitration and is binding on the arbitral tribunal as well as the parties.89 5. Dépeçage Or Split proper Law The courts and tribunals have also relied on lex loci deliciti approach to resolve the conflicts. The emphasis is on the state of transaction by the use of depecage.90 It allows for different issues within the case to be governed by laws of different jurisdictions. Different laws are designated to govern different parts of the agreement. It may also refer to various legal systems cumulatively.91 Thus, various rules of law and legal systems maybe applicable simultaneously on the multiple issues emerging out of the dispute. Some jurisdictions have adopted this approach in allowing parties are permitted to choose the rules applicable to resolve conflict of laws.92 It facilitates the parties in choosing a combination of laws, rather than a single law. This method is called split proper law based on separability of the arbitration agreement from the underlying substantive contract.93 87 Kuwait v The American Independent Oil Company (AMINOIL), Ad-Hoc arbitration award of 24 March 1982. It was established that even if the parties had not chosen general principles of law-or transnational law-as the applicable law, it is submitted that the selection of general principles of law would result from an ‘objective determination’ by the arbitrators in accordance with general principles of private international law. 88 See the 1980 Rome Convention on the Law Applicable to Contractual Obligations; the 1955 Hague Convention on the Law Applicable to International Sales of Goods; the Convention revised in 1986 under the joint auspices of The Hague Conference and UNCITRAL on the Law Applicable to Contracts for the International Sale of Goods. 89 Rajoo and Davidson, The Arbitration Act 2005: UNCITRAL Model Law as applied in Malaysia, (2007) [20.1]. 90 William L. Reynolds, ‘Legal Process and Choice of Law’, (1997) 56 Md. L. Rev. 1371 ; see also : G.C. Stevenson, ‘Depecage: Embracing Complexity To Solve Choice-of-Law Issues’ (2005) Indiana Law Review 303–338. 91 Law in International Contracts – Some Fundamental Conflict of Laws Issues', Journal of International Arbitration, Kluwer Law International 1999, Volume 16 Issue 4) pp. 0141 – 0172. 92 Willis L. M. Reese, Depecage: A Common Phenomenon in Choice of Law, 73 COLUM. L. REV. (1973) 58, 60; Rome Convention on the Law Applicable to Contractual Obligations, Art. 3. 93 Fouchard, Gaillard, Goldman, International Commercial Arbitration (Edited by Gaillard and Savage) 1999 212.

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The method is used for disputes and issues involving multiple forums, national laws and jurisdictional claims. For example, to perform an issueby-issue analysis of an aviation dispute, disputes dealing with derivative transactions or in complex tort issues. Depecage helps in breaking down complex conflict of law choices problem into subsets for easier analysis, resolution and determination of the issues.94 However, the split proper law method if used inordinately, may affect the necessary unity of the applicable law as shown in the case of LIAMCO (Libyan American Oil Company) case.95 It not only makes the things complicated for the adjudicating forum but also for the parties. Imposition of multiple laws on varied issues brings compliance to the requirements enunciated in those laws. Thus, multiple laws would call for more diligence and compliance on the part of parties. With parity between the parties at stake, the use of depecage may pose great risk in the enforcement of the resulting award.96 The use of depecage has increased with foreign investment into different jurisdictions. Foreign investors have required specific disputes to be governed with their choice of law and at the same time, in complying with the requirements of the host state. However, it can potentially thwart the legislative intent of the host state.97 Such a hybrid clause may provide an unfair advantage to the investor which it could possibly not have in any other jurisdiction.98 The tribunal or courts may be mandated the trade and investment policies of other states without even adequate consideration of the policy of the host state.99 The tribunal must be careful in not separating common issues when engaging in an issue by issue analysis. This approach may thus absolve complexities in choice of law clauses which cannot be solved under a traditional framework.100 This form of analysis may be usefully applied in situations of legal impossibility or necessity.101 Caution be exercise in using this method to avoid unexpected and unprecedented results. 94 C. Stevenson, ‘Depecage: Embracing Complexity To Solve Choice-of-Law Issues’ (2005) Indiana Law Review 303–338. 95 Libyan American Oil Company (LIAMCO) v The Libyan Arab Republic, Year of the Award: 1977 Forum: Ad Hoc Tribunal. The tribunal applied the Libyan law as the principal proper law and other principles of international law as the subsidiary law. It further clarified that the agreements were found to be governed by the Libyan domestic law, and the same stands concluded, unless the principles of Libyan law were in conflict with the general principles of international law. 96 Simon v. United states, 805 N.E.2d 798, 801-03 (Ind. 2004). 97 Bryan S. David, Welcome to the Jungle: The Application of Foreign Law in Aircraft Accident Litigation, 83 J. Air L. & Com. 715 (2018). 98 Simon v. United States, Supreme court of Indiana, 805 N.E.2d 798, 801-03 (Ind. 2004). 99 Id. 100 Stevenson, G. C., DEPECAGE: EMBRACING COMPLEXITY TO SOLVE CHOICE-OF-LAW ISSUES (2005). 101 Schalliol v. Fare, 206 F. Supp. 2d 689 (E.D. Pa. 2002).

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Ultimately, it comes down to whether this extra flexibility is worth the uncertainty and inconsistency in resolving the disputes and surpassing the principles of parity between the parties?102 Undoubtedly, while depecage as a tool may prevent false and unnecessary conflicts, it may yet not be the best way to end to the conflict. The entire process of selecting one jurisdiction’s law over the other, can have important impact on the latter. It may be tedious for a tribunal to adjudicate the disputes with the application of multiple laws which may show on its neutrality. The process of identifying the applicable law may prolong the proceedings. In some cases, application of one law over the other would become more difficult in advent of lack of sufficient reasoning for one law overpowering the other. Apart from this, parties may decide against this approach given the increased time required in negotiation, need for higher level of prerequisite expertise and knowledge of the varied laws and the legal costs and time required to implement it well.

6. The Application Of Non-National Legal Systems The application of domestic laws to international transactions is considered to be a dilemma in international law. The intrinsic territorial limitation and the policies of domestic laws may lead to an undesirable nationalisation of an international dispute.103 The New York Convention, for example, establishes its own conflict of laws approach that entwines the laws utilised on the arbitration with the national laws of the place of enforcement.104 It is possible to affirm that more than one factor contributes to the application of non-national laws to arbitration, including, inter alia, the dissatisfaction of the parties in the international business community with the law and them complains about the way arbitral proceedings are conducted. 102 Michael Ena, Choice of Law and Predictability of Decisions in Products Liability Cases, 34 Fordham Urb. L.J. 1417 (2007). Available at: https://ir.lawnet.fordham.edu/ulj/ vol34/iss5/1. 103 M Petsche, ‘International Commercial Arbitration and the Transformation of the Conflict of Laws Theory’, (2010) 18 Michigan State Journal of International Law n 3, 470. 104 For more information see M Paulsson, The 1958 New York Convention in Action, (2016) 1–30. The author comments that: ‘[t]he relationship between national law and the Convention can be threefold: (1) the Convention trumps national law and provides uniform rules for recognition and enforcement; (2) the Convention defers expressly to a national law; and (3) the Convention contains lacunae and must be interpreted on the basis of national law including reference to conflict of laws. The drafters considered three national laws: (1) the law of the country where the award was made; (2) the law of the country where enforcement is sought; and (3) the law chosen by the parties’.

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When determining the choice of law, an arbitral tribunal can apply nonnational substantive rules to the dispute, such as the lex mercatoria105 or transnational law and other substantive rules of non-national origin.106 Applying transnational rules and general principles of international commercial law are key to the concept of applying lex mercatoria. It reflects the idea that the proper law which can solve the dispute can be found via the application of the laws of a national legal system, interpreted in light of transnational rules and principles. In their analysis of the applicable law, several arbitral tribunals adopted branches of transnational law such as: the UNIDROIT Principles;107 trade usages; and what it known as the tronc commun doctrine, the application of the parties’ respective laws. Principles on choice of law developed its roots in 2006 at the Hague Conference on Private International Law. These principles promulgate the concept of party autonomy in choosing the choice of law and the allied advantages that comes along. They are not binding upon their contracting state in that they are soft-laws. Its intent is to serve as a reformative measure concerning choice of law in the contracting states in facilitating the parties in choosing a neutral and balanced of set of rules unless the law of the forum provides otherwise. It is important to mention that the concept of lex mercatoria, in essence, specifies the use of transnational norms and general principles of law utilised in international commerce. It implies that those rules are a complementary feature to the national laws of a particular country. Most importantly, it gives way to the idea of using a body of laws instead of a single law as a means of resolving a specific dispute.108 The application of non-national law can serve the purpose of avoiding the application of national laws that are unfit for international contracts. It can be utilised to escape peculiar formal requirements, short periods of limitation, and some of the difficulties created by domestic laws which are unknown in other countries, for example, issues related to consideration and privity of contract.109 105

The lex mercatoria is a set of rules created by and for the participants in international trade. Those rules are founded on usages developed in international trade, standard clauses and contracts, uniform laws, general principles of law and international instruments. 106 J Lew, L Mistelis, et al, Comparative International Commercial Arbitration, (2003) 450. 107 The UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts 2010, elaborated by the International Institute for the Unification of Private Law. 108 E Gaillard, ‘Thirty Years of Lex Mercatoria: Towards the Selective Application of Transnational Rules’, (1995) ICSID Rev. FILJ 208–231. 109 O Lando, ‘The Law Applicable to the Merits of the Dispute’, in P Sarcevic, Essays on International Commercial Arbitration, (1991) 129–159.

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It remains unclear whether arbitral tribunals enjoy the authority to select a non-national legal regime when parties fail to indicate one. The application of a non-national law in those cases must reflect a prudent choice. Applying non-national laws generally has unpredictable results that can lead to the annulment or the setting aside of an arbitral award.

Conclusion International arbitration aims at meeting the parties’ intentions and expectations as a method of dispute resolution. The arbitral tribunal’s duty to settle the dispute based on the rule of law. The arbitral tribunal is ultimately entrusted with the task of adjusting the parties’ expectations to its analysis of all the legal aspects of the arbitration proceeding. The arbitral tribunal’s difficult task of analysing, on a case by case basis, the law applicable to the arbitration agreement, the procedural law, the law of the merits of the dispute and the procedure of enforcement of arbitral awards, requires a proper methodology. The different approaches of the choice of law express timely solutions for real problems. The relevance of the substantive law of the contract, the direct application of a choice of law, the subsidiary application of the choice of law of the seat of the arbitration, the international approach, the closest connection approach and the non-national approach, each presents its own advantages and disadvantages. It is fundamental, however, that arbitral tribunals are able to distinguish those approaches and identify which is the best solution and what is the applicable law. This has become more relevant in light of the speciality arbitration regimes that alter the scope of arbitration.

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Wissenszurechnung im faktischen Konzern und Verschwiegenheitspflichten Jochem Reichert

Wissenszurechnung im faktischen Konzern und Verschwiegenheitspflichten von Aufsichtsratsmitgliedern bei Doppelmandaten JOCHEM REICHERT

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wissenszurechnung von Mutter- auf Tochtergesellschaft: OLG Frankfurt, WM 2019, 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zurechnung von Aufsichtsratswissen bei Doppelmandaten: BGH, WM 2016, 1031 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zurechnung von Aufsichtsratswissen bei Doppelmandaten im Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Die Verschwiegenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern war schon einmal, vor annähernd fünfzig Jahren, Gegenstand eines Festschriftbeitrags. Damals widmete Hans Hengeler seinem Anwaltskollegen Wolfgang Schilling einen Beitrag „zum Beratungsgeheimnis im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft“.1 Allerdings beschäftigten die Praxis zu dieser Zeit offenbar vor allem Indiskretionen, nicht zuletzt der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Es ging also darum, die Bedeutung der Verschwiegenheitspflicht in der täglichen Arbeit des Aufsichtsrats hervorzuheben und gegen „Abschleifungstendenzen“ zu verteidigen. In jüngster Zeit hat die Pflicht zur Verschwiegenheit (§ 116 S. 2 AktG) in einem etwas anderen Kontext erhebliche praktische Relevanz erlangt, nämlich im Zusammenhang mit der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Sonderwissen von Aufsichtsratsmitgliedern einer Gesellschaft zugerechnet werden kann, insbesondere wenn das betroffene Aufsichtsrats1

Hengeler FS Schilling, 1973, S. 175 ff.

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mitglied Organen verschiedener Gesellschaften angehört und ein Konzernsachverhalt vorliegt. Verhindert in derartigen Fällen die Verschwiegenheitspflicht eine Zurechnung von Wissen oder bleibt eine solche trotzdem möglich? Anlass, sich sowohl mit der Wissenszurechnung im Konzern als auch mit der Verschwiegenheitspflicht zu befassen, bieten zwei neuere Gerichtsentscheidungen, die im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen sollen. Die eine handelt von Schadensersatzansprüchen gegen eine Konzerntochter, die nur durchgreifen, wenn das Wissen der Konzernmutter der Tochter zugerechnet werden kann (II.). In dem zweiten, vor dem BGH verhandelten Fall stellte sich in Bezug auf das Wissen eines Prokuristen, der als Aufsichtsratsmitglied einer anderen als der verklagten Gesellschaft Sonderwissen erworben hatte, ebenfalls die Zurechnungsfrage (III.). Als dritte Konstellation soll – gleichsam als Schnittmenge dieser beiden Fälle – der bislang höchstrichterlich noch nicht entschiedene Sachverhalt in den Blick genommen werden, dass ein Aufsichtsratsmitglied der Muttergesellschaft über Wissen verfügt, das für die Tochtergesellschaft, deren Vorstand er ebenfalls angehört, von Bedeutung ist (IV.). Die Zurechnung von (Organ-) Wissen gehört seit längerer Zeit zu den wissenschaftlich am besten untersuchten Themen des Gesellschaftsrechts. Der vorliegende Beitrag kann in dem gegebenen engen Rahmen selbstverständlich nicht alle Aspekte ansprechen, geschweigen denn auch nur annähernd erschöpfend behandeln. Auf eine umfassende Bestandsaufnahme der Literatur wird daher von vornherein verzichtet. Der Verfasser hofft dennoch, mit dem kurzen Beitrag an die Festschrifttradition großer anwaltlicher Vorgänger anknüpfen zu können und das Interesse eines so erfahrenen Gesellschaftsrechtlers, wie es der Jubilar ist, zu wecken.

II. Wissenszurechnung von Mutter- auf Tochtergesellschaft: OLG Frankfurt, WM 2019, 1927 Da heute die meisten Aktiengesellschaften in ein Konzernverhältnis eingebunden sind, stellt sich die Frage in aller Dinglichkeit, ob die nur in einer der Konzerngesellschaften vorhandenen Kenntnisse auch den übrigen Gesellschaften des Konzerns zuzurechnen sind. Großunternehmen mit einer Vielzahl an konzernierten Einzelgesellschaften würde eine pauschale Wissenszurechnung besonders hart treffen, wie der mit Urteil vom 4. September 2019 vom OLG Frankfurt entschiedene Fall zeigt. 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe Der Kläger verlangte Schadensersatz wegen Erwerbs eines Skoda-Modells, das über einen von der VW AG hergestellten Motor verfügte und mit einer

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unzulässigen Motorsteuerungssoftware ausgestattet war. Die Klage richtete sich gegen die deutsche Skoda-Importeurin mit der C GmbH als einzigen Gesellschafterin, deren einzige Gesellschafterin wiederum die VW AG war. Zwischen der Beklagten und der C GmbH sowie zwischen der VW AG und der C GmbH bestanden Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge. Ein Wissen über die Ausstattung des Dieselmotors mit der manipulierten Software bestand nach Feststellung des Gerichts nur bei der VW AG, nicht aber auch bei der beklagten Skoda-Importeurin. Das OLG Frankfurt lehnte eine Zurechnung des nur bei der VW AG vorhandenen Wissens mit der Begründung ab, der Umstand, dass die beteiligten Gesellschaften in einem Konzern verbunden seien, genüge für sich genommen nicht, um eine Wissenszurechnung zu begründen (so auch der BGH in einer älteren Entscheidung2). Das Gericht spricht in dem Zusammenhang von der „in ihren Einzelheiten ohnehin ungeklärten Rechtsfigur der Wissenszurechnung im Konzern.“3 Entscheidend sei, ob und inwieweit ein Konzernunternehmen im Sinne der Wissensorganisationspflicht Zugriff auf die in einem anderen Konzernunternehmen vorhandenen Informationen habe, den es vorwerfbar nicht nutze. Entsprechende Organisationsmöglichkeiten und -pflichten könnten unter Umständen in Bezug auf die Konzernobergesellschaft bestehen, mit der Folge, dass eine Zurechnung von Wissen, das bei der Tochtergesellschaft vorhanden sei, zur Muttergesellschaft in Betracht komme. Ein solcher Fall liege jedoch gerade nicht vor, vielmehr handle es sich um die umgekehrte Konstellation, dass die Muttergesellschaft über das relevante Wissen verfüge. Eine Zurechnung scheide dann aus, weil die Untergesellschaft für die Wissensorganisation im Konzern keine Verantwortung trage.4 Nur wenn die VW AG als Muttergesellschaft durch die Aufteilung des Geschäftsbetriebs auf mehrere eng zusammenwirkende juristische Personen zusätzliche Risiken geschaffen habe, könnte man eine Zurechnung „von oben nach unten“ erwägen. Dafür gebe es jedoch im konkreten Fall keine Anhaltspunkte.5 2. Stellungnahme An der Praxisrelevanz des vom OLG Frankfurt entschiedenen Falls dürfte es – auch jenseits des prominenten „Diesel-Skandals“ – keinen Zweifel geben. Zur besseren Übersicht empfiehlt es sich, die verschiedenen im Rahmen der Diskussion um die Wissenszurechnung im Konzern erörterten Aspekte auseinanderzuhalten. 2 3 4 5

BGH, NJW-RR 1990, 285, 286. OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1928 (Rn. 24). OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1928 f. (Rn. 24). OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1929 (Rn. 25).

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a) Wissensorganisationspflicht im (Einzel-) Unternehmen Das OLG Frankfurt geht auf die Verhältnisse innerhalb der Muttergesellschaft – der VW AG – nicht näher ein, sondern spricht von vornherein von einem „Wissen der VW AG“.6 Da der Sachverhalt offenbar insoweit nicht streitig war, ist das in der konkreten Prozesssituation ein naheliegendes Vorgehen. Man muss sich aber stets vergegenwärtigen, dass eine juristische Person im strengen Sinne nichts „wissen“ kann. „Wissen“ ist ein psychischgeistiger Zustand, zu dem nur natürliche Personen befähigt sind, nicht fiktive juristische Gebilde. Schon innerhalb einer Organisation stellt sich daher die Zurechnungsfrage. Dogmatischer Anknüpfungspunkt jeder Zurechnung in arbeitsteiligen Organisationen ist bekanntlich § 166 Abs. 2 S. 1 BGB. Danach kann sich der Vollmachtgeber nicht auf die Unkenntnis seines von ihm angewiesenen Vertreters in Bezug auf solche Umstände berufen, die er, der Vollmachtgeber, kannte. Dahinter steht erkennbar die gesetzliche Wertung, dass Arbeitsteilung nicht zu einer Denaturierung der „Wissensverantwortung“ führen darf, wie sie für eigenständig handelnde Personen besteht. Den deutlichsten Ausdruck hat dieses Prinzip in der Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 1989 gefunden, in der das Gericht feststellte, dass für die Frage des arglistigen Verschweigens auch das Wissen eines vertretungsberechtigten Organmitglieds – in dem Fall: einer Gemeinde – zuzurechnen ist, das nicht selbst an dem betreffenden Rechtsgeschäft mitgewirkt hat und davon noch nicht einmal etwas wusste.7 Die Frage der Wissenszurechnung von Organvertretern lasse sich nicht „mit logisch-begrifflicher Stringenz“, sondern nur „in wertender Beurteilung“ entscheiden.8 Daraus zieht das Gericht den Schluss, dass es im Interesse des Verkehrsschutzes geboten sei, das der Gemeinde ihr durch Organvertreter einmal vermittelte, typischerweise aktenmäßig festgehaltene Wissen zuzurechnen. Der Bürger „darf im Prinzip nicht schlechter gestellt werden, als wenn er es nur mit einer einzigen natürlichen Person zu tun hätte.“9 Dieser Gedanke ist verallgemeinerungsfähig und wurde in der Folge auch und gerade im Gesellschaftsrecht unter dem Stichwort „Wissensorganisationspflichten“ zu einem System von Lehrsätzen ausgebaut, das im Grundsatz, namentlich im Bereich des Vorstandshandelns und der nachgeordneten Ebenen, unstrittig ist.10 Um zurechenbares Wissen handelt es sich, wenn es „bei ordnungsgemäßer Organisation aktenmäßig festzuhalten, weiterzuge6

OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1928 (Rn. 20). BGHZ 109, 327, 327. 8 BGHZ 109, 327, 331. 9 BGHZ 109, 327, 332. 10 Vgl. nur Staudinger/Schilken, 2019, § 166 BGB Rn. 32 f.; MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, § 166 Rn. 45 ff. (mwN). 7

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ben und vor Vertragsschluss abzufragen“ war11 (Wissensweiterleitungspflicht, Wissensspeicherpflicht, Wissensabfragepflicht12). Allerdings rücken die etablierten Grundsätze der Wissensorganisationspflicht in jüngster Zeit zunehmend wieder ins Interesse der Gesellschaftsrechtsdogmatik. Maßgeblich dürfte u.a. der schleichende Bedeutungszuwachs des Aufsichtsrats sein, der notwendigerweise mit einem Zuwachs an unternehmensrelevanten Wissens dieses Gremiums und seiner Mitglieder einhergeht. Obwohl mit Blick auf die Organisationspflicht nicht selten allgemein von „Organwaltern“ oder „Organmitgliedern“ gesprochen wird, bezogen sich gerichtliche Ausführungen in der Vergangenheit fast ausschließlich auf die Mitglieder des Leitungsorgans und dessen Mitarbeiter.13 Ob sich die Wissensorganisationslehre ohne weiteres auf den Aufsichtsrat anwenden lässt, ist bislang höchstrichterlich nicht geklärt,14 und auch die beiden vorliegend zu besprechenden Entscheidungen treffen dazu unmittelbar keine Aussagen. Zweifel sind angebracht. Zu Recht äußern sich in der Literatur die Autoren, die auf das Thema eingehen, überwiegend skeptisch;15 indes gibt es auch Gegenstimmen, die pauschal eine Zurechnung von Aufsichtsratswissen nach den Grundsätzen der Organisationspflichtdogmatik befürworten.16 Entscheidend gegen diesen Ansatz spricht, dass in der Aktiengesellschaft die Wissensorganisation grundsätzlich Aufgabe des Vorstands ist, der die Gesellschaft in eigener Verantwortung leitet (§ 76 Abs. 1 AktG). Der Vorstand „leitet“ aber nicht den Aufsichtsrat, der gerade umgekehrt dazu berechtigt und verpflichtet ist, die Geschäftsführung zu kontrollieren. Diese Kontrollfunktion könnte der Aufsichtsrat nicht wahrnehmen, wenn der Vorstand unbegrenzte Weisungs- und Einsichtsbefugnisse in Bezug auf das Wissen des Aufsichtsrats hätte. Da es dem Geschäftsführungs- und Vertretungsorgan der Gesellschaft an solchen Befugnissen fehlt, scheidet insoweit eine Wissenszurechnung aus. Wissenszurechnung findet dort ihre Grenze, wo auch die Organisationsmacht des Vorstands endet.17 Eine eng begrenzte Ausnahme ist allenfalls in den Bereichen anzuerkennen, in denen der Aufsichtsrat selbst geschäftsführend tätig ist (insbesondere § 112 AktG).18 11

BGH, NJW 2001, 359, 360. Buck-Heeb WM 2016, 1469, 1469; Rickert/Heinrichs GWR 2017, 112, 113; Werner WM 2016, 1474, 1475; Koch ZIP 2015, 1757, 1760; Verse AG 2015, 413, 415. 13 Verse AG 2015, 413, 417. 14 Vgl. aber die (nicht veröffentlichte) Entscheidung des OLG Celle v. 24.8.2011 – 9 U 47/11; dazu Koch ZIP 2015, 1757, 1757 f. 15 Staudinger/Schilken, 2019, § 166 BGB Rn. 32; MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, § 166 Rn. 12; Verse AG 2015, 413, 417; Koch ZIP 2015, 1757, 1762; Buck-Heeb WM 2016, 1469, 1473; Rickert/Heinrichs GWR 2017, 112, 113. 16 Schwintowski ZIP 2015, 617, 620 f. 17 Koch ZIP 2015, 1757, 1761. 18 Vgl. Koch ZIP 2015, 1757, 1762; Rickert/Heinrichs GWR 2017, 112, 113 f.; Leyendecker-Langner/Kleinhenz AG 2015, 72, 73 f.; Ihrig/Kranz BB 2013, 451, 456. 12

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Im Kern sind es also im Verhältnis „Vorstand/Gesellschaft – Aufsichtsrat“ ähnliche Argumente, die das OLG Frankfurt gegen eine Zurechnung von Wissen der Mutter- zur Tochtergesellschaft in Anschlag bringt: Wer einen anderen nicht steuern und beaufsichtigen und somit nicht für einen konstanten Wissenstransfer sorgen kann, muss sich das Wissen des anderen auch nicht zurechnen lassen. Sollte (anders als in dem vom OLG Frankfurt entschiedenen Fall) nur ein Aufsichtsratsmitglied der Muttergesellschaft bislang über das einschlägige, für die Tochtergesellschaft relevante Wissen verfügen, kommt es auf Fragen der Zurechnung im Konzernverbund gar nicht mehr an, weil das Wissen bereits nicht der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann. b) Wissensorganisationspflicht im Konzern Wie aus den vorstehenden Ausführungen bereits deutlich wurde, ist der Entscheidung des OLG Frankfurt, soweit sie sich auf den konkreten Fall bezieht, uneingeschränkt zuzustimmen. In der Tat liegt es nicht in der Möglichkeit und nicht in der Verantwortung einer Tochtergesellschaft, die Weiterleitung von Wissen im Gesamtkonzern zu organisieren und die Muttergesellschaft zum Tätigwerden zu veranlassen. Etwas problematischer ist das Obiter dictum, das den umgekehrten, nicht zu entscheidenden Fall in den Blick nimmt: Eine Verantwortung „kann sich etwa aus den Pflichten der Konzernobergesellschaft in Bezug auf den Konzern geben, mit der Folge, dass ihr das Wissen der Tochtergesellschaft zuzurechnen ist, soweit sie es nach diesen Pflichten organisieren muss.“19 Das ist zwar nicht falsch, insbesondere wenn die Betonung auf „kann“ liegt, schließlich sind Organisations- und Zugriffsmöglichkeiten der Mutter- im Verhältnis zur Tochtergesellschaft denkbar und nicht von vornherein ausgeschlossen. Die diesem Satz vorangestellte Feststellung, „entscheidend“ sei, ob ein Konzernunternehmen Zugriff auf die in einem anderen Konzernunternehmen vorhandenen Informationen habe,20 verkürzt die Zusammenhänge aber etwas zu stark und gibt zu Missverständnissen Anlass. Erste Rezensenten des Urteils scheinen das Gericht so zu verstehen, dass eine Wissenszurechnung „von unten nach oben“ der normative Regelfall ist.21 Zugriffsmöglichkeiten auf in anderen Gesellschaften vorhandenes Wissen sind indes eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine Wissenszurechnung. An den Anfang aller Überlegungen sollte eine Besinnung auf die der Wissensorganisationpflicht zu Grunde liegenden Rechtsgedanken und das Wesen des Konzerns stehen. Nur wer den Organisationsbegriff so weit fasst, dass darunter auch alle Gesellschafter der betreffenden 19 20 21

OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1929 (Rn. 24). OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1928 (Rn. 24). Vgl. Klöster GWR 2019, 442.

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Gesellschaft fallen, ließe sich eine pauschale rechtsträgerübergreifende Wissenszurechnung bejahen.22 Das ist aber nur schwer zu vertreten. Auch das deutsche Konzernrecht hebt die rechtliche Selbständigkeit der Einzelgesellschaften nicht auf und erlaubt verschiedene Intensitäten der Beherrschung einer anderen Gesellschaft.23 Ein faktischer Konzern ist nicht per se eine „Organisation“, auf die Wissensorganisationspflichten unbesehen Anwendung finden. „Die pauschale und voraussetzungslose Zurechnung des Wissens widerspräche ganz offensichtlich dem konzernrechtlichen Trennungsprinzip.“24 Mithin sind die (oben bereits dargelegten) allgemeinen Überlegungen maßgeblich, die den BGH dazu bewogen haben, eine Wissensorganisationspflicht zu postulieren, d.h. es kommt darauf an, ob zwei Rechtsträger arbeitsteilig zusammenwirken. Da durch eine solche Arbeitsteilung kein Zustand herbeigeführt werden darf, der eigenständig handelnde Personen benachteiligt, muss eine Korrektur mittels Zurechnungstatbeständen erfolgen – allerdings eben auch nur in diesem Fall. Gewiss spricht der Umstand, dass eine Muttergesellschaft Zugriff auf die bei der Tochter gespeicherten Informationen hat, häufig dafür, dass die Mutter- und Tochtergesellschaft eng zusammenwirken, aber zwingend ist das nicht. Auch die vom OLG Frankfurt zitierte Kommentarliteratur25 verlangt neben der Möglichkeit eines Zugriffs auf Informationen eines anderen Rechtsträgers „ein bewusstes Zusammenwirken der konzernangehörigen Unternehmen im Rahmen eines arbeitsteiligen Vorgehens (unternehmerische Arbeitsteilung), vor allem wenn eine einheitliche unternehmerische Planung erfolgt und Leitungsmacht tatsächlich ausgeübt wird.“26 c) Weisung, Handeln als Vertreter, Outsourcing, Missbrauch Eine pauschale Wissenszurechnung findet im Konzern also nicht statt, auch nicht von der Tochter- zur Muttergesellschaft. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu untersuchen, ob die eine Wissenszurechnung zwischen selbständigen Rechtsträgern tragenden Wertungen berührt sind oder nicht.27 Danach kommt eine Wissenszurechnung zwischen Konzerngesellschaften – eine Zugriffsmöglichkeit auf fremdes Wissen unterstellt – namentlich dann in Betracht, wenn eine Konzerngesellschaft sich einer anderen zur Durch22

So in der Tat Schwintowski ZIP 2015, 617, 622 f. Spindler ZHR 2017, 311, 344. 24 Habersack DB 2016, 1551, 1553. 25 OLG Frankfurt a.M., WM 2019, 1927, 1928 f. 26 MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, § 166 Rn. 34; ähnlich Staudinger/Schilken, 2019, § 166 BGB Rn. 32a. 27 Ebenfalls zurückhaltend Habersack DB 2016, 1551, 1553; Verse AG 2015, 413, 419 f.; Koch ZIP 2015, 1757, 1765; Buck-Heeb WM 2016, 1469, 1473 f.; Schürnbrand ZHR 2017, 357, 377 f.; Spindler ZHR 2017, 311, 344 ff. (mit Plädoyer für eine gesetzliche Regelung). 23

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führung von Geschäften oder Erfüllung ihrer Aufgaben bedient und entsprechende Weisungen erteilt (vgl. § 166 Abs. 2 S. 1 BGB). Das Gleiche gilt, „wenn die Wahrnehmung der Aufgaben der juristischen Person oder Gesamthandsgesellschaft so organisiert ist, dass ein Teil ihres Aufgabenbereichs auf eine natürliche Person oder eine selbständige juristische Einheit ausgegliedert ist.“28 In diesen Zusammenhang gehören die Fälle des „Outsourcing“, die Aufspaltung wirtschaftlicher Vorgänge und deren Verteilung auf mehrere juristische Personen, soweit ein bewusst arbeitsteiliges Vorgehen im Geschäftsverkehr zu bejahen ist.29 Daneben kann auch eine missbräuchliche Nutzung von Konzernstrukturen zu einer Zurechnung von Wissen anderer Konzerngesellschaften führen und ebenso unter Umständen der Hinweis eines Geschäftsgegners auf das Vorhandensein von Informationen im Konzern.30

III. Zurechnung von Aufsichtsratswissen bei Doppelmandaten: BGH, WM 2016, 1031 Aus praktischer Sicht nicht weniger relevant als die Wissenszurechnung im Konzern ist die Frage, inwieweit das im Rahmen eines Doppelmandats erworbene Wissen zugerechnet werden kann und muss. Neue Nahrung hat die Diskussion durch eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2016 erhalten. 1. Sachverhalt und Entscheidungsgründe Im Raum stand die Haftung einer Direktbank für Fehlberatungen eines enttäuschten Anlegers durch ein Wertpapierhandelshaus, das die Eröffnung eines Depotkontos bei der Direktbank vermittelt hatte. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BGH ist die Haftung einer Direktbank als Nebenpflicht aus dem Depotvertrag in Betracht zu ziehen, wenn sie „die tatsächliche Fehlberatung des Kunden bei dem in Auftrag gegebenen Wertpapiergeschäft entweder positiv kennt oder wenn diese Fehlberatung aufgrund massiver Verdachtsmomente objektiv evident ist.“31Eben diese subjektiven Voraussetzungen einer Warnpflicht sah der BGH – anders als die Vorinstanz, das OLG München32 – als nicht erfüllt an. Der Umstand, dass 28

BGH, NJW 2001, 359, 360. MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, § 166 Rn. 66; Staudinger/Schilken, 2019, § 166 BGB Rn. 32a; auch dieser Zurechnungsgesichtspunkt ist restriktiv zu handhaben: Schürnbrand ZHR 2017, 357, 378 f. 30 MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, § 166 Rn. 66. 31 BGH, NJW 2016, 2569, 2569 f. (Rn. 26); vgl. auch BGHZ 196, 370 = NJW 2013, 3293 (Rn. 27); BGH, WM 2014, 24 (Rn. 25). 32 OLG München, BeckRS 2015, 5549. 29

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der Prokurist der Direktbank zugleich Mitglied des Aufsichtsrats des kundennäheren Handelshauses war, reiche nicht aus, um eine Wissenszurechnung hinsichtlich systematischer Fehlberatung zu bejahen. Unterstellt, der Prokurist der Direktbank habe in seiner Funktion als Aufsichtsratsmitglied des Wertpapierhandelshauses von Fehlberatung Kenntnis erlangt, könne man diese Kenntnis dennoch nicht zurechnen, weil sie der Verschwiegenheitspflicht gemäß §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 3 AktG unterliege.33 Der BGH verwarf ferner die Auffassung des OLG München, eine Aktiengesellschaft könne geheim zu haltende Informationen ohne weiteres „entsperren“, auch konkludent, was immer dann nahe liege, wenn die Hauptversammlung eine auch in einer anderen Gesellschaft engagierten Person zum Aufsichtsratsmitglied berufe, denn dann wisse sie, dass das im Rahmen der Aufsichtsratstätigkeit erworbene Wissen auch für die andere Gesellschaft relevant sein könne.34 Dagegen betonte der BGH, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht im Vornhinein für einen bestimmten Themenbereich generell von der Schweigepflicht entbunden werden könne. Bei dem Schweigegebot des §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 3 AktG handele es sich um eine abschließende Regelung, die einer Milderung oder Verschärfung durch die Satzung oder Geschäftsordnung enthoben sei.35 Überdies komme einer Hauptversammlung gar nicht die Kompetenz zu, über die Offenlegung vertraulicher Angaben und Geheimnisse zu befinden. Allein der Vorstand sei „Herr des Geschäftsgeheimnisses“ und könne (nur) im Einzelfall nach sorgfältiger Abwägung der widerstrebenden Interessen für eine Offenlegung optieren und die vertraulichen Angaben öffentlich machen.36 Dass eine solche Freigabe im vorliegenden Fall erfolgt sei, dafür gebe es keine Anhaltspunkte. 2. Stellungnahme Das referierte Urteil ist von grundsätzlicher Bedeutung, nicht nur vom Ergebnis, sondern auch von der Begründung her. Dass es – zu Recht – in der Literatur ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen ist,37 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass aus der Ex-ante-Perspektive angesichts der tatsächlichen Verbreitung multipler Organzugehörigkeit viele Unternehmen in einer nicht ganz unerheblichen Gefahr schwebten, wie die abweichende Entscheidung der Vorinstanz vor Augen führt. Diese Gefahr scheint nunmehr auf absehbare Zeit jedenfalls teilweise gebannt zu sein. 33

BGH, NJW 2016, 2569, 2570 (Rn. 29). OLG München, BeckRS 2015, 5549 (Rn. 91 ff.) 35 BGH, NJW 2016, 2569, 2571 (Rn. 34). 36 BGH, NJW 2016, 2569, 2571 (Rn. 35) unter Verweis auf BGHZ 64, 325, 329; BGH, WM 2014, 618 Rn. 77. 37 Buck-Heeb WM 2016, 1469 ff.; Habersack DB 2016, 1551 ff.; Mülbert/Sajnovits NJW 2016, 2540 ff. 34

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a) Zulässigkeit von Doppelmandaten Beachtung und Zustimmung verdient das Urteil auch bei den Aussagen, die es eher nebenbei getroffen hat. Das betrifft etwa den Charakter der Aufsichtsratstätigkeit als Nebenamt.38 Diesen Umstand zu betonen sah sich das Gericht deshalb veranlasst, weil man auf den Gedanken kommen könnte, die Verschwiegenheitspflicht des §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 3 AktG gelte allein für den „Normalfall“ einer Mitgliedschaft in nur einem Organ, nicht aber wenn es infolge eines Doppelmandats zu einer Pflichtenkollision komme. Dagegen ist einzuwenden, dass der Gesetzgeber von einem solchen „Normalfall“ keineswegs ausgeht. Es gibt im Gesetz eine Reihe von Anhaltspunkten, die dafür sprechen, dass der Gesetzgeber die Aufsichtsratstätigkeit nicht als Hauptamt ansieht und sich der Notwendigkeit einer „Konflikttoleranz“ bewusst war und ist.39 Wenn nach § 100 Abs. 2 S. 1 AktG ein Bestellungshindernis erst bei zehn Mandaten besteht und § 105 Abs. 2 S. 4 AktG Aufsichtsratsmitglieder vom Wettbewerbsverbot des § 88 AktG ausnimmt, kann keine Rede davon sein, dass die Geltung der im Aktiengesetz niedergelegten Rechte und Pflichten von Aufsichtsratsmitglieder unter dem allgemeinen Vorbehalt stünden, dass kein Doppelmandat mit divergierenden Pflichten vorliege.40 Vielmehr hat der Gesetzgeber das Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Pflichtkreisen zweifellos gesehen und dennoch an der Verschwiegenheitspflicht festgehalten, eine Pflicht, die gemäß § 404 Abs. 1 Nr. 1 AktG sogar strafbewehrt ist.41 Diese Vorschrift erwähnt den Aufsichtsrat explizit und stellt bei Verletzung der Geheimhaltungspflicht eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren (bei börsennotierten Gesellschaften) in Aussicht. Das lässt in der Tat nur den Schluss zu, dass das Spannungsfeld „zu Gunsten der von der Schweigepflicht geschützten Gesellschaft entschieden worden ist.“42 b) Wissenszurechnung und Verschwiegenheitspflicht Uneingeschränkt zu begrüßen sind die Ausführungen des BGH zum Zusammenhang zwischen Wissenszurechnung und Verschwiegenheitspflicht: „Für solche Umstände, die unter die Verschwiegenheitspflicht aus §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG fallen und durch deren Weitergabe das Aufsichtsratsmitglied seine Schweigepflicht verletzen würde, scheidet eine Wissenszurechnung – gleich auf welcher Rechtsgrundlage – von vornherein 38 39 40 41 42

BGH, NJW 2016, 2569, 2571 (Rn. 33). Löbbe Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 63 ff. Koch ZIP 2015, 1757, 1762; ders. ZGR 2014, 697, 701. Vgl. Lutter ZHR 145 (1981), 224, 242. BGH, NJW 2016, 2569, 2571 (Rn. 33).

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aus.“43 Diese Einsicht entsprach zwar schon vor 2016 der h.M. in der Literatur.44 Doch solange es an einer höchstrichterlichen Bestätigung fehlte, bestand das Risiko einer zumindest schleichenden Abwertung der Verschwiegenheitspflicht, wie sie in der Entscheidung der Vorinstanz zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus gab es erst jüngst vereinzelt Stimmen in der Literatur, die Verschwiegenheitspflicht und Wissenszurechnung voneinander entkoppeln wollten. So vertritt Schwintowski die Ansicht, die Frage der Wissenszurechnung sei eigenständig und unabhängig von der Frage etwaiger Vertraulichkeit zu untersuchen und zu entscheiden. „Wissen, das einem Unternehmen und/oder Organvertreter des Unternehmens zugerechnet werden muss, kann ohne Weiteres vertraulich sein – die Vertraulichkeit wird durch die Wissenszurechnung weder durchbrochen noch überhaupt bewirkt, dass ein Unternehmen oder eine Person Wissen hat, weil es ihr zugerechnet wird und zwar ganz unabhängig von einer tatsächlichen Informationsweitergabe.“45 Dem ist ausdrücklich zu widersprechen, auch weil der BGH auf diesen Ansatz nicht gesondert eingeht.46 Das Missverständnis könnte dadurch begünstigt worden sein, dass in der Vergangenheit meist verkürzend von der Verschwiegenheitspflicht als (Wissens-) „Zurechnungsschranke“ die Rede war, ohne dass klar wurde, warum genau die Verschwiegenheitspflicht der Zurechnung entgegensteht. Auf den ersten Blick scheint bei dieser Betrachtungsweise die Wissenszurechnung der durch die Verschwiegenheitspflicht beschränkten Informationsweitergabe vorauszugehen. In Wahrheit jedoch verhält es sich umgekehrt: Die Verschwiegenheitspflicht ist bereits eine Schranke der Pflichtenbegründung. Die Wissenszurechnung knüpft an der Wissensorganisationspflicht an, und eine solche kann gar nicht erst entstehen, wenn sie in Widerspruch zu einer gesetzlichen Regelung (§§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG) steht.47 Aus dem Sinn und Zweck der Verschwiegenheitspflicht ergibt sich nichts anderes. Zwar trifft es zu, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht die Gesellschaft schützen will, bei der sie eine Wissenszurechnung verhindert. Doch auch bei der durch die Verschwiegenheitspflicht geschützten Gesellschaft hätte eine (drohende) Wissenszurechnung negative Konsequenzen. Da der Vorstand damit rechnen müsste, dass das Aufsichtsratsmitglied zur Abwendung der Wissenszurechnung in der anderen Gesell43

BGH, NJW 2016, 2569, 2570 (Rn. 32). Vgl. Buck-Heeb WM 2008, 281, 285; Faßbender/Neuhaus WM 2002, 1253, 1256; Lutter ZHR 145 (1981), 224, 242; Werner ZHR 145 (1981), 252, 265. 45 Schwintowski ZIP 2015, 617, 618 f. 46 Ebenfalls kritisch bzw. dem BGH beipflichtend Verse AG 2015, 413, 415 ff.; Koch ZIP 2015, 1757, 1763 ff.; Mülbert/Sajnovits NJW 2016, 2541; Buck-Heeb WM 2016, 1469, 1470; Spindler ZHR 2017, 311, 330. 47 Buck-Heeb WM 2016, 1469, 1470; vgl. auch Verse AG 2015, 413, 417 f. 44

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schaft sein Wissen offenbart, wäre das Vertrauensverhältnis zerstört, das die Verschwiegenheitspflicht gerade schützen will.48 Der BGH hebt unter Verweis auf die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/8769, S. 18) zu Recht hervor, dass der Aufsichtsrat seine gesetzliche Überwachungs- und Beratungsfunktion nur erfüllen könne, wenn die Verschwiegenheitspflicht absolut gelte, da diese das Korrelat zu den umfassenden Informationsrechten des Aufsichtsrats bilde.49 Auch wäre das Doppelmandat als solches, das der Gesetzgeber – wie gesehen – zulässt, grundsätzlich in Frage gestellt, wenn eine Gesellschaft mit Doppelmandatsträgern in ihren Reihen mit einer Wissenszurechnung rechnen müsste, ohne über eine Handhabe zu verfügen, sich das Wissen anzueignen und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. c) Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht Ferner spricht der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und allgemein die Bedeutung eines ungezwungenen, offenen Wissens- und Meinungsaustauschs dagegen, leichtfertig eine konkludente und generelle Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht anzunehmen. Die Pflicht aus §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG ist zwingender Natur. Weder Satzung noch Geschäftsordnung können Verschärfungen oder Milderungen vornehmen.50 Die Aufsichtsratsmitglieder genießen keinen Beurteilungsspielraum.51 Um diese strikten Vorgaben nicht auszuhöhlen, muss es unzulässig sein und bleiben, Mitglieder des Aufsichtsrats von vornherein in bestimmten Konstellationen von der Schweigepflicht zu entbinden. Erst recht lässt es sich nicht rechtfertigen, aus einigen vagen Anhaltspunkten eine konkludente Entbindung mit derart weitreichenden Folgen zu konstruieren. Hinzu kommen kompetenzrechtliche Schranken. Grundsätzlich kann der Vorstand und nur der Vorstand über Gesellschaftsgeheimnisse disponieren.52 Das hat der BGH in seinem Urteil in nicht zu überbietender Klarheit unterstrichen.53 Die Hauptversammlung kann allenfalls nach Maßgabe des § 119 Abs. 2 AktG über eine Offenlegung entscheiden.54 Damit war der ohnehin wenig plausiblen Konstruktion des Berufungsgerichts, die Hauptversammlung des Wertpapierhandelshauses habe bei Bestellung des Prokuristen zum Aufsichtsratsmitglied diesen (konkludent) von der Verschwiegenheitspflicht 48

Vgl. Mülbert/Sajnovits NJW 2016, 2540, 2541. BGH, NJW 2016, 2569, 2570 (Rn. 32). 50 MüKoAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 116 Rn. 68; Spindler/Stilz/Spindler, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rn. 117. 51 Spindler/Stilz/Spindler, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rn. 107. 52 BGHZ 64, 325, 329; BGH, WM 2014, 618 (Rn. 77). 53 BGH, NJW 2016, 2569, 2571 (Rn. 35). 54 MüKoAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 116 Rn. 65. 49

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entbunden, allein weil sie um dessen doppeltes Engagement wusste, der Boden entzogen.

IV. Zurechnung von Aufsichtsratswissen bei Doppelmandaten im Konzern Nach wie vor nicht höchstrichterlich geklärt ist die Wissenszurechnung im Konzern bei Bestehen eines Doppelmandats. Wenn also etwa ein Aufsichtsratsmitglied der Muttergesellschaft zugleich dem Vorstand der Tochtergesellschaft angehört, stellt sich die Frage, ob sein Wissen über einen für die Tochtergesellschaft bedeutsamen Sachverhalt dieser zugerechnet werden kann. Wie der Stellungnahme zum Urteil des OLG Frankfurt zu entnehmen (II.), scheitert eine Zurechnung entweder schon daran (sofern in der Muttergesellschaft nur das Aufsichtsratsmitglied über die betreffenden Informationen verfügt), dass das Wissen des Aufsichtsrats in der Regel nicht als das Wissen der Gesellschaft gelten kann, oder jedenfalls daran, dass eine Zurechnung von Wissen der Muttergesellschaft an die Tochtergesellschaft nicht stattfindet. Stellt man alternativ auf die doppelte Organzugehörigkeit ab, so steht nach den vom BGH entwickelten Grundsätzen (III.) einer Zurechnung die Verschwiegenheitspflicht entgegen: Da der Doppelmandatsträger in seiner Funktion als Mitglied des Aufsichtsrats der Muttergesellschaft gemäß §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG keine Informationen weitergeben darf, kann in Bezug auf diese Information keine Wissensorganisationspflicht bestehen, so dass auch eine Wissenszurechnung ausscheidet. Allerdings hatte (soweit aus dem veröffentlichten Sachverhalt ersichtlich) der BGH keinen Anlass, sich mit dem Problem zu beschäftigen, ob der Umstand, dass zwischen den beiden Gesellschaften, in denen der Doppelmandatsträger sein Aufsichtsrats- bzw. Vorstandsamt ausübt, ein Konzernverhältnis vorliegt, etwas an der rechtlichen Bewertung ändert. Man hat in der Tat behauptet, dass in solchen Fällen die Verschwiegenheitspflicht keine Anwendung finde und an ihre Stelle sogar eine Informationspflicht trete.55 Aus § 311 Abs. 1 AktG folge, dass das herrschende Unternehmen seinen Einfluss grundsätzlich nicht dazu nutzen dürfe, der abhängige Gesellschaft einen Nachteil zuzufügen, wobei der Nachteil offenbar vor allem darin liegen soll, dass die beherrschte Gesellschaft wegen fehlender Informationen eine Ad-hoc-Mitteilung nicht rechtzeitig habe herausgeben können und sich deshalb einer Haftung ausgesetzt sehe.56 Methodisch sei an den Gedanken der Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB) anzuknüpfen. Wenn man da55 56

Schwintowski ZIP 2015, 617, 617 f. Schwintowski ZIP 2015, 617, 617.

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von ausgehe, dass das herrschende Unternehmen für den schädigenden Eingriff zum Nachteilsausgleich verpflichtet sei, so müsse es nach der Ratio des § 254 BGB erst recht im Vorfeld des schädigenden Ereignisses verpflichtet sein, durch Informationsweitergabe die Schädigung zu vermeiden.57 Diese Argumentation vermag aus verschiedenen Gründen nicht zu überzeugen.58 Schon die Annahme, § 311 Abs. 1 AktG untersage die Nachteilszufügung, ist zweifelhaft. Vielmehr erkennt die Vorschrift gerade umgekehrt faktische Konzernierung als Sonderrechtsverhältnis organisationsrechtlichen Inhalts an.59 Sie lässt eine Nachteilszufügung ausnahmsweise zu, wenn die Pflicht zum Nachteilsausgleich beachtet wird. Insoweit kann auch keine Schadensminderungspflicht bestehen.60 Ebenso wenig ergibt sie sich aus § 254 BGB in der Weise, dass der Schädiger dazu aufgerufen sein soll, den Schaden möglichst klein zu halten. Die Regelung handelt vom Mitverschulden und richtet sich an den Geschädigten.61 Sie normiert keine Schadensminderungspflicht des Schädigers, sondern eine Schadensminderungsobliegenheit des Geschädigten.62 Überdies ist es aus kompetenzrechtlicher Sicht unverständlich, warum für eine Schadensvermeidung oder -minderung durch Informationsweitergabe (auch) Aufsichtsratsmitglieder zuständig sein sollen, handelt es sich doch um eine wesentliche Geschäftsführungsangelegenheit, für die grundsätzlich der Vorstand die Verantwortung trägt.63 Schließlich setzt sich dem Vorwurf eines Zirkelschlusses aus, wer als Grund für eine Informationspflicht der herrschenden gegenüber der beherrschten Gesellschaft maßgeblich auf die drohende Haftung wegen unterlassender oder verspäteter Ad-hoc-Mitteilung abstellt, denn eine Veröffentlichungspflicht und die daran anknüpfende Haftung kommen gar nicht in Betracht, solange es an einer Wissenszurechnung fehlt.64 Im Ergebnis bleibt es somit dabei, dass die Verschwiegenheitspflicht aus §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG einer Wissenszurechnung bei Doppelmandatsträger entgegensteht – unabhängig von Bestehen oder Nichtbestehen eines Konzernverhältnisses.

57

Schwintowski ZIP 2015, 617, 618. Ebenso Verse AG 2015, 413, 415; Koch ZIP 2015, 1757, 1764 f.; Habersack DB 2016, 1551, 1554. 59 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 311 Rn. 4; Koch ZIP 2015, 1757, 1765. 60 Koch ZIP 2015, 1757, 1765. 61 MükoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 254 Rn. 3. 62 Koch ZIP 2015, 1757, 1764. 63 Vgl. Löbbe Unternehmenskontrolle im Konzern, 2003, S. 122 f., 130. 64 Koch ZIP 2015, 1757, 1764. 58

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V. Zusammenfassung 1. Die restriktive Tendenz der neueren Rechtsprechung im Umgang mit der Wissenszurechnung im Konzern und bei Vorliegen von Doppelmandaten verdient Zustimmung. 2. Die Zurechnung von Wissen der Mutter- an die Tochtergesellschaft scheitert in der Regel schon daran, dass es nicht in der Verantwortung und Möglichkeit der beherrschten Gesellschaft liegt, die Weiterleitung von Wissen im Gesamtorgan zu organisieren. Im Allgemeinen setzt eine Wissenszurechnung neben der Möglichkeit des Zugriffs auf Informationen anderer Konzerngesellschaften voraus, dass konzernangehörige Unternehmen im Rahmen eines arbeitsteiligen Vorgehens bewusst zusammenwirken (Rechtsgedanke des § 166 Abs. 2 S. 1 BGB). 3. Das Wissen, das ein Vorstandsmitglied als Aufsichtsratsmitglied einer anderen Gesellschaft erworben hat, kann der Gesellschaft, deren Vorstand er angehört, im Geltungsbereich der Verschwiegenheitspflicht der §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG nicht zugerechnet werden. Ein Entbinden von der Verschwiegenheitspflicht ist nur unter engen Voraussetzungen möglich und kann grundsätzlich nicht durch die Hauptversammlung erfolgen. 4. Das Gleiche gilt auch dann, wenn zwischen den Gesellschaften, denen der Doppelmandatsträger angehört, ein Konzernverhältnis besteht. § 311 Abs. 1 AktG hebt die Verschwiegenheitspflicht gemäß §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG nicht auf.

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Verbessern Unternehmenssanktionen die Rechtstreue des Managements?

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Verbessern Unternehmenssanktionen die Rechtstreue des Managements? Alexander Reuter

Verbessern Unternehmenssanktionen die Rechtstreue des Managements? – Kriminologische Antworten mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen ALEXANDER REUTER

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unternehmenssanktionen als „Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelnde Eignung aus Rechtsgründen . . . . . . . . . . . . 3. Mangelnde Eignung aus kriminologischen Gründen . . . . 4. Gegenstand des Beitrags und die Bedeutung für Compliance im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Position der Monopolkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gründe für Fehlverhalten von Führungskräften . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Täter-Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Neuere Studien zu den Ursachen rechtswidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Empirische Studien: Wer begeht Wirtschaftskriminalität? . 2. Konsequenzen/Möglichkeit vorbeugender Maßnahmen . . 3. Schlussfolgerungen aus den empirischen Studien: Grenzen der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerung durch Kritik an den Studien bestätigt . . V. Vermeidung von Fehlverhalten durch Unternehmenssanktionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Juristische Kontrollüberlegung: Ist unternehmerisches Gewinnstreben ein „kriminogener Faktor“, der Unternehmenssanktionen rechtfertigt? . . . . . . . . . . . . . VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zu Roderich Thümmels ureigenen Gebieten gehören Gesellschaftsrecht, Manager- und Aufsichtsratshaftung, D&O – Versicherung sowie Prozesse und Schiedsverfahren, in denen wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten von Gewicht ausgetragen werden. Auf all‘ diesen Gebieten verbindet er juristische Finesse mit sicherem Blick für das Erreichbare und untrüglichem Gespür für den Ausgleich: Aus Bruchlinien der Argumentation erschließt er das Quellwasser der Lösung. Sein Interesse an Menschen ist Fundament seines Verständnisses für

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die handelnden Personen und die Gründe ihrer Handlungen. In alter, freundschaftlicher Verbundenheit widmet der Verfasser Roderich Thümmel daher zum Geburtstag einen Beitrag zu den Gründen und Motiven, die Manager zu Rechtsbrüchen verführen. Die Antworten, die neuere empirische Studien auf die Frage „Why They Do It“ finden, sind Wegweiser für die unternehmensinterne Prävention, aber auch für die Diskussion um Sinn und Verfassungsmäßigkeit staatlicher Unternehmenssanktionen bei Wirtschaftskriminalität. Der Verfasser verbindet den Beitrag mit dem herzlichen Geburtstagswunsch: Ad multos annos, tue Recht und scheue niemand!

I. Einführung 1. Unternehmenssanktionen als „Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit“ Nach dem Koalitionsvertrag vom 12.3.20181 beabsichtigt die Große Koalition, das Recht der Unternehmenssanktionen (derzeit § 30 OWiG) zu novellieren. Unter anderem soll ein eigenes Gesetz zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht („Verbandssanktionengesetz“) geschaffen und der Sanktionsrahmen für Unternehmen mit mehr als 100 Millionen Euro Umsatz von derzeitigen 10 Mio. Euro nach OWiG auf 10% des Umsatzes angehoben werden. Ferner soll die Bestrafung von Unternehmen öffentlich bekannt gemacht werden (Pranger). Dem Vorhaben sind in der Vergangenheit politische Initiativen, insbesondere ein Gesetzesvorschlag der Landesregierung Nordrhein-Westfalens für ein Verbandsstrafgesetzbuch2, und hierdurch ausgelöste Stellungnahmen von Verbänden, insbesondere des Bundesverbands der Unternehmensjuristen (BUJ)3 und des Deutschen Instituts4 und sodann umfangreiche Vorarbeiten des Schrifttums5 vorausgegan1 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb289 2b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1; Rn. 5895 ff. 2 Näher Stellungnahme 2013/9 der Bundesrechtsanwaltskammer vom Mai 2013, http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/ 2013/mai/stellungnahme-der-brak-2013-09.pdf; Heuking/von Coelln, Die aktuelle Diskussion um Buße oder Strafe für Unternehmen, BB 2014, 3016 f. 3 Näher Reuter, BB 2016, Unternehmensgeldbußen, Organregress, Grenzen der Versicherbarkeit und Gesellschaftsrecht: Eine systemische Verletzung der Grundrechte der Anteilseigner?, BB 2016, 1283, 1284; Heuking/von Coelln, Die aktuelle Diskussion um Buße oder Strafe für Unternehmen, BB 2014, 3016 f. 4 Näher Reuter sowie Heuking/von Coelln, ebda. 5 Z.B. Kölner Entwurf für ein Verbandssanktionengesetz, http://www.jpstrafrecht. jura.uni-koeln.de/sites/iss_juniorprof/Projekte/Koelner_Entwurf_eines_Verbandssanktio nengesetzes__2017.pdf; vgl. auch Henssler/Hoven/Kubiciel/Weigend, Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, NZWiSt 2018, 1 ff.; Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, „Frankfurter Thesen“ zur Unternehmensverantwortung für Unternehmenskriminalität, wistra 2018, 27 ff.; vgl, auch die Beiträge in Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop (Hrsg.), Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, Berlin 2016.

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gen. Auch die Vorgaben des Koalitionsvertrages haben bereits Verbandsstellungnahmen ausgelöst.6 In der Tat halten viele die effektive Sanktionierung von Unternehmen für den Beruf der Gesetzgebung unserer Zeit. Dies zeigen nicht zuletzt die ständig steigenden Unternehmensbußen der Europäischen Kommission, aber auch der deutschen Behörden, die Gesetzgebung anderer Länder7, insbesondere das vermeintliche Vorbild der USA8, die großflächige Berichterstattung in den Medien über Unternehmensskandale und die Wahrnehmung, Unternehmen seien „die wirkmächtigen Akteure unserer Zeit“. Auch der BGH hat 2013 darauf hingewiesen, dass Kartellverstöße „häufig das marktwirtschaftliche Gefüge in ganz erheblichem Umfang stören und große volkswirtschaftliche Schäden verursachen können“ und der damit verbundene „wirtschaftliche Vorteil … in der Regel bei dem Unternehmen eintritt“. Es bedarf nach dem BGH „deshalb der Androhung einer auch für Großunternehmen empfindlichen Geldbuße“.9 2. Mangelnde Eignung aus Rechtsgründen Dieses Rechtsempfinden ist freilich brüchig: Auch die großen Skandale öffentlicher Institutionen haben bisher nicht zum Ruf nach Sanktionsmöglichkeiten gegen die betreffenden öffentlichen Körperschaften oder Anstalten geführt10. Wichtiger ist, dass Strafen und Bußen Grundrechtseingriffe sind. Sie lassen sich daher nicht allein auf Rechtsempfinden stützen, sondern 6 Z.B. Positionspapier der Stiftung Familienunternehmen, https://www.familienunter nehmen.de/media/public/pdf/aktuelle-themen/unternehmensstrafrecht/positionspapierunternehmensstrafrecht-2017.pdf; gemeinsame Stellungnahme von VCI und BCM, https://www.vci.de/langfassungen/langfassungen-pdf/2018-09-18-vci-bcm-positionmoderneres-unternehmenssanktionsrecht.pdf. 7 Vgl. z.B. Kubiciel, Die deutschen Unternehmensgeldbußen: Ein nicht wettbewerbsfähiges Modell und seine Alternativen, NZWiSt 2016, 178 ff. 8 Dazu z.B. Hoven/Weigend, Praxis und Probleme des Verbandsstrafrechts in den USA, ZSTW 2018, 213 ff.; Vgl. aber auch die Tendenz zur stärkeren Betonung der Verantwortung der handelnden natürlichen Personen iim Yates-Memorandum, im Yates – Memorandum, https://www.justice.gov/archives/dag/file/769036/download. 9 BGH, 26.2.2013 – KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 60. 10 Und dies, obwohl z.B. der Unwertgehalt der in Medienberichten kolportierten Verschleppung der Unterbindung des Vertriebs gestohlener und unwirksamer Krebsmedikamente durch das Landesgesundheitsministerium Brandenburg trotz Hinweisen der zuständigen Landespolizei jedes Kartell weit in den Schatten stellt (wenn die Medienberichte richtig sind); vgl. https://www.berliner-zeitung.de/berlin/brandenburg/gefaelschte-krebs medikamente-staatsanwaltschaft-ermittelt-bereits-seit-2017-30986478; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-08/brandenburg-medikamentenskandalgesundheitsministerin-diana-golze-ruecktritt. Dass die Große Koalition offenbar gleichwohl nur Unternehmen für Rechtsverstöße sanktionieren will, ist möglicherweise ein unterstützendes Indiz dafür, dass der Koalitionsvertrag einen verfassungsrechtlichen Holzweg eingeschlagen hat. Dem kann hier nicht nachgegangen werden.

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müssen sich an den verfassungsrechtlichen Regeln messen lassen, die für Grundrechtseingriffe gelten. Auch hierüber ist eine breite verfassungsrechtliche Diskussion geführt worden, die Unternehmenssanktionen im wesentlichen als unproblematisch einstuft11, die jedoch, soweit ersichtlich, nur die juristische Person in den Blick nimmt, nicht aber diejenigen, die von Sanktionen gegen Unternehmen tatsächlich getroffen werden. Dies sind die Anteilseigner. Der Verfasser hat an anderer Stelle dargelegt, dass Unternehmenssanktionen seines Erachtens die Grundrechte der Anteilseigner systemisch verletzen12. Daher genügt hier die folgende Skizze: (1) Unternehmenssanktionen und ihre Berechtigung lassen sich verfassungsrechtlich ohne Rücksicht auf ihre Wirkungen nicht beurteilen. Nach Gesellschafts-, Haftungs- und Versicherungsrecht treten diese Wirkungen bei den Anteilseignern ein. (2) Die Anteilseigner verdienen und genießen verfassungsrechtlichen Schutz, und zwar nach den Regeln des BVerfG in „besonders ausgeprägtem“ Umfang, weil die Aktie zwar nicht bei Beamten und Richtern, jedoch vielen anderen Personengruppen, Lebensversicherungen und vergleichbaren Organisationen der Vermögensvorsorge und damit der Sicherung persönlicher Freiheit dient. (3) Daher müssen Unternehmensbußgelder wie jede Inhalts- und Schrankenbestimmung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dazu gehört zunächst die Frage, ob die betreffende Maßnahme überhaupt geeignet ist, das betreffende Ziel zu erreichen. Ziel von Sanktionen wiederum ist die Verhaltenssteuerung (Prävention).13 (4) Hier springen die gesellschaftsrechtlichen Gegebenheiten der AG ins Auge: Die Aktionäre haben kraft Aktienrechts nicht die Möglichkeit, Rechtsbrüche zu verhindern (§§ 119, 76 AktG). Bei ihnen können Bußgel11 Statt vieler Jahn, „There is no such thing as too big to jail“ – Zu den verfassungsrechtlichen Einwänden gegen ein Verbandsstrafgesetzbuch unter dem Grundgesetz, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop (Hrsg.), Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, Berlin 2016, S. 53 ff.; Kubiciel, Unternehmensstrafrecht und Menschenrechte, Österreichisches Anwaltsblatt, 2016, 574 ff.; ders., die Verbandsstrafe – Verfassungskonformität, Systemkompatibilität, Folgen, Kölner Papier zur Kriminalpolitik 2/2014, https://www. jura.uni-augsburg.de/lehrende/professoren/kubiciel/downloads/koelner_papiere/verbands strafe.pdf, sowie sowie Augsburger Papier zur Kriminalpolitik 2/2018, https://www. jura.uni-augburg.de/lehrende/professoren/kubiciel/downloads/koelner_papiere/verbands strafe.pdf; Nettesheim, Verfassungsrecht und Unternehmenshaftung, Tübingen 2018, alle m.w.N. 12 Reuter, Unternehmensgeldbußen, Organregress, Grenzen der Versicherbarkeit und Gesellschaftsrecht: Eine systemische Verletzung der Grundrechte der Anteilseigner?, BB 2016, 1283; ders., Unternehmensbußen – ein verfassungsrechtlicher Holzweg, ZIP 2018, 2298; ders., Schadensersatz und Bußgelder zu Lasten des Unternehmens bei Ad hocPflichtverstößen: Ein Verstoß gegen die Grundrechte und die Treuepflicht der Aktionäre?, NZG 2019, 321. 13 Das gilt übrigens auch im EU Recht: Nach Art. 103 (2) lit. a) AEUV sollen Geldbußen und Zwangsgelder „die Beachtung der in Artikel 101 Absatz 1 und Artikel 102 genannten Verbote … gewährleisten“ (im gleichen Sinne Art. 23 Verordnung (EG) Nr. 1/2003).

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der mithin gar keine präventive Wirkung entfalten: Wie sollen sie sich anders verhalten, wenn das AktG ihnen die Mitwirkung abschneidet? Unternehmenssanktionen treffen in den Aktionären folglich die Falschen. Als rechtlich ungeeignete Eingriffe sind sie daher verfassungswidrig. Unter dem Blickwinkel des Schuldprinzips handelt es sich obendrein um Schuld für andere, also verfassungswidrige „Sippenhaft“. 3. Mangelnde Eignung aus kriminologischen Gründen Neben diesen rechtlichen Befund tritt die kriminologische Analyse: In der Tat wird der Ruf nach härteren Strafen schon durch den rechtstatsächlichen Befund gedämpft, dass die Zahl der Unternehmensstraftaten offenbar stetig zurückgeht. Dies mag vielerlei Gründe haben, sät freilich erste Zweifel, ob – jenseits der skizzierten rechtlichen Überlegungen – der Ruf nach härteren Unternehmensbußen der kriminologischen Wirklichkeit Rechnung trägt.14 4. Gegenstand des Beitrags und die Bedeutung für Compliance im Allgemeinen Diesen Zweifeln will der vorliegende Beitrag nachgehen: Wie und warum kommt es überhaupt zu white collar crime, und kann die Sanktionierung des Unternehmens, aus dessen Mitte der Täter das Recht gebrochen hat, angesichts der Gestehungsgründe von white collar crime einen Beitrag zu seiner Eindämmung leisten? Damit sind empirische Fragen gestellt. Sie blenden, um es zu wiederholen, die Überlegung aus, dass die die wirtschaftliche Sanktionierung der Anteilseigner, die in Unternehmenssanktionen liegt, bei den Anteilseignern schon aus Rechtsgründen keine präventive Wirkung entfalten kann und daher gegen die Verfassung verstößt. Vorliegend soll es nur um die gestellten empirischen Fragen gehen. Die Frage nach den Gründen für white collar crime fasziniert Kriminologen seit langem.15 Denn die Manager, die die Taten begehen, sind Menschen, die nicht ohnehin am Rande der Gesellschaft oder gar in kriminellen Milieus leben oder verwahrlost auf die schiefe Bahn geraten sind, weil sie den Anforderungen eines bürgerlichen Lebens nicht gewachsen waren. Vielmehr handelt es sich häufig um leistungskräftige, erfolgreiche Personen, die in der Mitte des Lebens und in der Mitte der Gesellschaft stehen, in ihrem sozialen Umfeld anerkannt sind und mit ihren Taten nicht nur ihre Karriere, sondern ihr bürgerliches Leben aufs Spiel setzen, also typischerweise sehr viel mehr als andere Kriminelle. Mit den Worten eines US Bundesrichters bei 14

Heuking/von Coelln, Die aktuelle Diskussion um Buße oder Strafe für Unternehmen, BB 2014, 3016, 3020 f., zum Erfordernis eines Unternehmensstrafrechts. 15 Historischer Überblick über die wissenschaftliche Entwicklung bei Eugene Soltes, Why They Do It- Inside the Mind of the White-Collar Criminal, New York, 2016, S. 47 ff.

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Verurteilung eines Managers wegen Insider-Trading: „It is hard to understand why someone who has reached the pinnacle of success would risk all that for more“.16 Die Wurzeln von Unternehmenskriminalität interessieren daher besonders. Diesem Interesse tut es keinen Abbruch, dass die ganz große Mehrheit der Manager ihre berufliche Laufbahn ohne Straftaten durchläuft. Denn gleichwohl sind es peers, Angehörige der gleichen sozialen Kohorte, die aus der Bahn geraten. Die Frage, warum ein weißes Schaf schwarz wird, stellt sich daher einem jeden. Sie stellt sich zudem nicht nur bei Kriminaltaten, also white collar crime im eigentlichen Sinne, sondern bei Regelverstößen aller Art: Die Gründe für Unternehmenskriminalität, die sich empirisch ermitteln lassen, dürften über weite Strecken den Gründen für unternehmensinterne non-compliance unterhalb des Strafrechts ähneln. Auch wenn sich einfache Regelverstöße nicht mit kriminellem Handeln über einen Leisten schlagen lassen, betreffen die folgenden Darlegungen daher nicht nur Unternehmenskriminalität“, sondern unternehmensinterne Compliance-Verstöße allgemein.

II. Position der Monopolkommission Die Frage, ob die empirischen Befunde über die Gründe von Rechtsbrüchen, die aus Unternehmen heraus gegangen werden, die Empfindung stützen, Unternehmen müssten härter sanktioniert werden, hat durch das 72. Sondergutachten der Monopolkommission vom 15.10.2015 zur 9. GWBNovelle zusätzliche Legitimation erfahren: Im Bereich der Kartellbußen hat die Monopolkommission die Fallpraxis der EU und Deutschlands ausgewertet und auf dieser Grundlage festgestellt, es sei im „Hinblick auf die general- und spezialpräventiven Ziele des Kartellsanktionssystems … zweifelhaft, ob selbst eine drastische weitere Erhöhung der verhängten Geldbußen zu einem ausreichend tief greifenden Bewusstseinswandel führen wird.“ Es sei „nicht unbedingt zu erwarten, dass Unternehmen durch höhere Geldbußen als Hauptsanktion von Kartellverstößen stärker abgeschreckt werden (Generalprävention). Für den Einzelfall gibt es bisher von vornherein kaum empirische Erkenntnisse hinsichtlich der Abschreckungswirkung von Kartellgeldbußen (Spezialprävention).“ Ein effektiver Rückgang von Kartellen habe sich aus den Fallzahlen nicht ableiten lassen, obwohl „Unternehmen für Kartellverstöße im relevanten Zeitraum hohe – und tendenziell steigende – Geldbußen befürchten mussten“.17 Die Monopolkommission zieht daher 16

Zit. nach Eugene Soltes, Why They Do It- Inside the Mind of the White-Collar Criminal, New York, 2016, S. 1. 17 72. Sondergutachten der Monopolkommission, 15.10.2015, Tz. 171, 175, http:// www.monopolkommission.de/images/PDF/SG/s72_volltext.pdf. Vgl. auch Reuter, Un-

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den Schluss, dass „sich die von außen sichtbare Abschreckungswirkung der behördlichen Kartellverfolgung trotz Erhöhung der Geldbußen nicht wesentlich erhöhen wird. Es gibt vielmehr Gründe für die Annahme, dass die bußgeldbasierte Kartellverfolgung auf mittel- oder längerfristige Sicht zunehmend an ihre Grenzen stoßen wird, ohne dass zugleich die Verbreitung von Kartellen in einer wettbewerbspolitisch zufriedenstellenden Weise abnehmen dürfte.“18 Die Monopolkommission führt weiter aus, dass sich Unternehmensbußgelder nicht unmittelbar auf die handelnden Mitarbeiter auswirken, die daher nicht zu rechtskonformem Verhalten angereizt würden. So könne es z.B. für Vertriebsmitarbeiter mit persönlichen Vorteilen verbunden sein, sich ohne Wissen der Unternehmensführung an einem Kartell zu beteiligen. Individualgeldbußen gegenüber Mitarbeitern wiederum seien selten und träten auch in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber den Unternehmensbußen völlig in den Hintergrund.19 Auf der Grundlage dieses kriminologischen Befundes schlug die Monopolkommission im Rahmen der Diskussion der 9. GWB-Novelle daher eine Verschärfung der Verantwortung der handelnden Mitarbeiter vor, keine Erhöhung der Unternehmensbußen.20

III. Gründe für Fehlverhalten von Führungskräften 1. Einführung Der Beitrag kann sich zunutze machen, dass – unabhängig von den Untersuchungen der Monopolkommission – in jüngerer Zeit eine ganze Reihe empirischer Studien und Untersuchungen zur Frage entstanden ist21, warum Führungskräfte in Unternehmen das Recht brechen, und ein Teil der Studien auch die Frage in den Blick nimmt, wie sich Regeltreue (compliance) verbessern lässt, bis hin zur Frage, ob sich Führungskräfte, die sich wahrscheinlich nicht an das Gesetz halten, im Vorhinein identifizieren lassen. Wie unten IV im Einzelnen dargelegt wird, zeigen die Studien, dass Bußgelder, die Unternehmen auferlegt werden, Individualtäter nicht abschrecken. Ein anekdotisches Schlaglicht warf 2018 die öffentliche Ankündigung eines US-Whistleblowers auf die Thematik: Gegen die Bank, für die er tätig war, hatte die US-amerikanische Börsenaufsicht auf ternehmensgeldbußen, Organregress, Grenzen der Versicherbarkeit und Gesellschaftsrecht: Eine systemische Verletzung der Grundrechte der Anteilseigner?, BB 2016, 1283, 1284. 18 Ebda., Tz. 179. 19 Ebda., Tz. 183. 20 Ebda., Tz. 191 ff. 21 Siehe näher unter IV.

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die Anzeige des Whistleblowers ein Bußgeld wegen falscher Quartalsabschlüsse verhängt, und der Whistleblower enthielt, entsprechend den betreffenden US-Vorschriften, für seine Anzeige eine Prämie von USD 8 Mio. Dies veranlasste den Whistleblower, in einem Zeitungsinterview öffentlich anzukündigen, er werde die Prämie nicht in Anspruch nehmen; vielmehr solle diese den Aktionären der Bank zur Verfügung stehen und die eigentlich verantwortlichen Manager der Bank seien mit Bußgeldern zu bestrafen.22 Jenseits solcher Einzelfälle gelangen die bereits erwähnten, breiter angelegten Studien zu folgenden Ergebnissen: (1) Die Ursachen für Unternehmenskriminalität sind vielfältig; die Persönlichkeit des Managers und andere Faktoren, so auch Gegebenheiten im Unternehmen und der Branche, wirken zusammen. (2) Manager, die sich rechtswidrig verhalten, sind in der Regel Personen, die zuvor jahrelang erfolgreich für das Unternehmen tätig sind und sich zuvor nicht an Rechtsbrüchen beteiligt haben. (3) Die betreffenden Führungskräfte lassen sich nicht im Vorhinein sicher bestimmen, und die Verwendung der betreffenden Testmethoden stößt auf persönlichkeits- und datenschutzrechtliche Einschränkungen.23 Dies führt zu zwei Schlussfolgerungen: Zum einen können Umstände, die Rechtsbrüche fördern („kriminogene“ Umstände), zwar bekämpft werden; Rechtsbrüche können aber nie ganz ausgeschlossen werden. Zum anderen ist es Aufgabe der obersten Leitungsebenen des Unternehmens, nach Möglichkeit im Vorhinein sowohl „kriminogene Umstände“ als auch Manager zu erkennen und entsprechende Verhinderungstaktiken gegen Rechtsbrüche zu entwickeln. 2. Täter-Kategorien Zum besseren Verständnis der empirischen Studien seien vorweg die Konzepte skizziert, mit denen Motive und Persönlichkeiten straffällig gewordener Führungskräfte kategorisiert werden: In diesem Zusammenhang hat Sutherland frühzeitig den Begriff „Wirtschaftskriminalität“ geprägt und festgestellt, dass sich „white collar criminals“ im Gegensatz zu anderen Kriminellen üblicherweise verantwortungsbewusst verhalten und einen hohen sozialen Status innehaben.24 Dass sich Wirtschaftskriminelle nach außen hin

22 http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/kronzeuge-gegen-deutsche-bankschlaegt-millionen-belohnung-aus-a-1108485.html; for more details see Reuter, ZIP 2018, 2299. 23 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 105 ff., 116 ff., 167, 183 ff. und passim. 24 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 49/50; Sutherland, White Collar Crime, 2. Aufl., New York, 1961, S. 9.

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bruchlos in ihr Umfeld innerhalb und außerhalb ihres Unternehmens einfügen, stellt eine wesentliche Hürde bei ihrer Identifizierung dar, sowohl im Vorfeld als auch im Nachhinein. Eine der nachfolgend skizzierten empirischen Studien führt aus, man dürfe nicht vergessen, dass der typische Betrüger wahrscheinlich der beständige, vertrauenswürdige Mitarbeiter sei und bleibe, den man vielleicht nie verdächtigt hätte, der direkt unter den Augen der Anderen handele und der gleichwohl unbemerkt bleibe.25 Anfang der 90er Jahre hat Wheeler die Persönlichkeiten von Wirtschaftskriminellen in die Kategorien „Risiko-Suchende“, „Rache-Suchende“ und „Steuerproteste“ unterteilt.26 Er betrachtet „Risiko-Suchende“ als Personen, die entweder von „Gier“ oder von „Angst vor dem Absturz“ getrieben werden, d.h. der Angst, den erreichten sozialen Status nicht zu wahren und/oder finanzielle Nachteile zu erleiden; vor diesem Hintergrund handeln sie rechtswidrig, weil sie weniger risikoscheu sind als die meisten anderen Führungskräfte. Daher sind sie nach Wheeler bereit, ihren ohnehin schon hohen Status und ihr Vermögen durch kriminelles Verhalten zu riskieren.27 Laut Wheeler sind „RacheSuchende“ wiederum Personen, die sich von ihrem Unternehmen ungerecht behandelt fühlen; eine Unterart sei der „Steuerprotestler“, bei dem ein solches Gefühl gegenüber dem Staat wegen (vermeintlich) ungerechter steuerlicher Behandlung bestehe. Was nach Wheeler alle Kategorien von Tätern gemeinsam haben, ist, dass sie zunächst Neutralisierungs- oder Rechtfertigungstechniken anwenden, um innerlich mit ihrem Verstoß gegen die Regeln fertig zu werden.28 Dies heißt, Täter leugnen vor sich selbst den Rechtsbruch, die Legitimität der gebrochenen Rechtsregel, ihre eigene Verantwortung für den Rechtsbruch und/oder sie beruhigen sich mit dem Gedanken, es werde gar niemand geschädigt. In anderen Fällen bringen sie sich innerlich zur Überzeugung, dass das Opfer den Schaden „verdient“ habe, dass die Tat mit Rücksicht auf höhere Interessen, zum Beispiel das Unternehmensganze, gerechtfertigt gewesen sei, oder sie projizieren die Verantwortung auf andere.29 Ferner verzerren nach Wheeler alle Arten von Tätern kognitiv die Kosten25

KPMG International, Global Profiles of the Fraudster, 2013, S. 26. Wheeler in: Schlegel/Weisburd (Hrsg.), White-Collar-Crime Reconsidered. 1998, S. 108–118; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 51/52. 27 Wheeler in: Schlegel/Weisburd (Hrsg.), White-Collar-Crime Reconsidered. 1998, S. 108–118; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 51/52. 28 Wheeler in: Schlegel/Weisburd (Hrsg.), White-Collar-Crime Reconsidered. 1998, S. 108–118; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 52. 29 Wheeler in: Schlegel/Weisburd (Hrsg.), White-Collar-Crime Reconsidered. 1998, S. 108–118; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 52, Fn. 169, unter Bezug auf Sykes/Matza, American Sociological Review 22 (1957), 664, 667 ff., und Kunz, Kriminologie, 4th Hrsg. 2004, S. 150. 26

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Nutzen-Analyse ihres Handelns; sie überschätzen also innerlich den Nutzen und unterschätzen die Risiken ihres Tuns.30 Im Gegensatz dazu gründen Becker/Holzmann31 ihre Kategorisierung von Wirtschaftsstraftätern und die Ursachen für ihr Handeln auf – rationale – Managementtheorien, insbesondere auf die Prinzipal – Agent – Theorie, nach der Unternehmen Entscheidungsbefugnisse an die Führungskräfte delegieren und die Führungskräfte über mehr Informationen über die Tätigkeit des Unternehmens verfügen als dessen Anteilseigner („asymmetrische Informationsverteilung“)32. Kriminelle Führungskräfte missbrauchen nach Becker/Holzmann ihre besseren Informationen, wobei drei Täter-Typen zu unterscheiden seien: Zum ersten gebe es „klassische Agenten-Täter“, die zu ihrem persönlichen Vorteil handelten (Veruntreuung, Diebstahl, Bestechlichkeit). Zum zweiten gebe es den „geführten Agenten-Täter“, der im vermeintlichen Interesse des Unternehmens handele, extrinsisch durch Unternehmensziele motiviert sei und diese jedoch mit seinen persönlichen finanziellen Zielen in Einklang bringe. Zum Dritten gebe es den „Steward-Täter“, der intrinsischer handele und durch die Freude an seiner Arbeit und den damit verbundenen Erfolg für sein Unternehmen motiviert sei.33

IV. Neuere Studien zu den Ursachen rechtswidrigen Verhaltens Julia Hugendubel kommt der große Verdienst zu, vor diesem Hintergrund empirische Studien, die zwischen 1993 und 2013 über die Ursachen von Wirtschaftskriminalität entstanden sind, systematisch zusammengestellt und analysiert zu haben. Dabei versteht Hugendubel unter Wirtschaftskriminalität alle Straftaten, die aus Unternehmen heraus begangen werden, sei es zum Vorteil des Unternehmens, sei es zum Vorteil des Täters.34 Die meisten dieser Studien wollten herausfinden, ob und welche Maßnahmen Unternehmen ergreifen können, um Rechtsbrüche zu verhindern, insbesondere 30 Wheeler in: Schlegel/Weisburd (Hrsg.), White-Collar-Crime Reconsidered. 1998, S. 108, 110, 115; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 51. 31 Becker/Holzmann, Verhaltensannahmen betriebswirtschaftlicher Theorien und Wirtschaftskriminalität, Theoriebasierte Typisierung wirtschaftskriminellen Verhaltens, zfwu 12 (2011), 354, 377, 379; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 51. 32 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 53. 33 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 53/54; Becker/Holzmann, Verhaltensannahmen betriebswirtschaftlicher Theorien und Wirtschaftskriminalität, Theoriebasierte Typisierung wirtschaftskriminellen Verhaltens, zfwu 12 (2011), 354, 365 ff. 34 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 49.

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auch, indem potenzielle Täter im Vorhinein identifiziert werden. Auf der Grundlage der Sichtung der Studien durch Hugendubel lassen sich deren Ergebnisse wie folgt zusammenfassen. 1. Empirische Studien: Wer begeht Wirtschaftskriminalität? a) Keine wesentlichen Unterschiede in der Persönlichkeit/Motivation der Täter bei Rechtsbrüchen im (vermeintlichen) Interesse oder gegen das Unternehmen Bemerkenswert ist, dass nach Hugendubel keine der Studien bei der Analyse der Ursachen von Wirtschaftskriminalität signifikante Unterschiede zwischen der Persönlichkeit von Tätern feststellen konnte, die zum Nachteil des Unternehmens handeln (z.B. durch Veruntreuung), und der Persönlichkeit von Tätern, die im vermeintlichen Interesse des Unternehmens handeln (z.B. bei Kartellabsprachen oder aktiver Bestechung).35 Diese Unterscheidung ist freilich ohnehin verschwommen, da Täter bei ihren Handlungen häufig das (vermeintliche) Unternehmensinteresse mit ihrem eigenen Interesse verknüpfen, z.B. über Karriere- oder Bonus-Erwartungen. Da die empirischen Studien keine Unterschiede zwischen diesen beiden Tätertypen feststellen konnten, unterscheiden die Maßnahmen, die die Studien zur Verhinderung rechtswidrigen Verhaltens empfehlen, auch nicht zwischen diesen beiden Verhaltensweisen36. b) Grundlegende Persönlichkeitsmerkmale der Täter Alle empirischen Studien kommen zu dem Schluss, dass die meisten Wirtschaftskriminellen männlich sind, mindestens einige Jahre erfolgreich für ihr Unternehmen gearbeitet haben, bevor sie kriminell wurden, in der Regel zwischen 35 und 60 Jahre alt sind (was Sutherlands Feststellung bestätigt, dass Wirtschaftskriminelle nach ihrer Biografie eher „Nachzügler“ sind37), leitende Positionen im Unternehmen innehaben, typischerweise in Zusammenarbeit mit anderen Managern vorgehen, gut ausgebildet sind, im Allgemeinen konventionelle Ansichten über Sozial- und Rechtsstandards teilen, aber Ausnahmen für sich selbst oder ihre Führungsebene machen, hedonistisch und finanziell anspruchsvoll sind.38 In ihrer Studie 35 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 100. 36 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 100. 37 Zitiert nach Schneider, Hendrik, Das Leipziger Verlaufsmodell wirtschaftskriminellen Handelns, NStZ 27 (2007), 555, 557/558. 38 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 60, 63/64, 66, 68, 78.

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über die Täter von Unternehmenskorruption stellt Bannenberg zudem fest, dass die von ihr untersuchte Gruppe sich durch Unauffälligkeit kennzeichne.39 c) Motive und Persönlichkeitsmerkmale Collins/Schmidt wiederum haben messbare Unterschiede in der Persönlichkeit von Wirtschaftskriminellen und gesetzestreuen Managern festgestellt. Erstere neigten im Vergleich zu ihrer peer group zu Verantwortungslosigkeit, Unzuverlässigkeit, Missachtung rechtlicher und sozialer Regeln und Risikobereitschaft („Risikoträger“).40 Blickle/Schlegel/Fassbender et al. haben die Studie von Collins/Schmidt erweitert und einen signifikant erhöhten Grad an Hedonismus, Narzissmus und mangelnder Selbstbeherrschung in der Persönlichkeit von Wirtschaftskriminellen im Vergleich zu gesetzestreuen Managern festgestellt. KPMG hat verschiedene Studien durchgeführt, die zu dem Schluss kommen, dass die Ursachen von Rechtsbrüchen häufig aus einer Kombination verschiedener Faktoren resultieren, nämlich (1) der Gelegenheit zu Fehlverhalten, (2) der Motivation/Persönlichkeit des Täters und (3) der Verfügbarkeit einer innerlichen Neutralisierung oder Rechtfertigung des Unrechts.41 Die statistisch signifikantesten der von KPMG identifizierten Motive der Täter sind finanzielle Vorteile (Notwendigkeit der Finanzierung eines extravaganten Lebensstils, finanzielle Schwierigkeiten, Gier, Angst vor dem Verlust des sozialen Status). Außerdem stellte KPMG fest, dass viele Täter sich durch ein Gefühl der Überlegenheit kennzeichnen und (wie auch von Collins/Schmidt festgestellt) meinen, dass die Regeln für normale Mitarbeiter nicht für Manager ihrer Führungsstufe gälten.42 KPMG stellte auch einen zunehmenden Trend zum Einsatz von EDV zu kriminellen Zwecken fest.43

39 Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtlich Kontrolle, eine kriminologisch-strafrechtliche Analyse, Neuwied/Kriftel, 2002, S. 216 f., 347. 40 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 56, 58, 83; Collins/Schmidt, Personnel Psychology 46 (1993), 295, 297, 308. 41 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 6 ff.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64. 42 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 6 ff.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64. 43 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 2.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64.

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Die empirische Studie von Rölfs Partner/Schneider bestätigt die oben erwähnte Erkenntnis Wheelers, dass aus Unternehmen handelnde Täter zu einer falschen Kosten-Nutzen-Analyse ihrer Handlungen neigen, insbesondere zum reinen das Risiko der Aufdeckung ihrer Tat und zum anderen die Sanktionen unterschätzen44. Die Studie kategorisiert Täter in vier Typen, nämlich: (1) „Falschdarsteller mit Belastungssyndrom“, die Chancen suchten und wahrnähmen, insbesondere in Situationen, in denen sie sich geringeren Kontrollen ausgesetzt sähen; solche Täter gehörten oft zu Subkultur-Gruppen in ihrem Unternehmen und hätten hohen Finanzbedarf für einen teuren Lebensstil; (2) „Falschdarsteller infolge von Krisen“, die innerhalb der sozialen Normen leben, oft die Unternehmenshierarchie und die soziale Leiter hochgestiegen sind, aber durch eine Krise aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Im Gegensatz zu „Typ“ (1) sucht und findet dieser Tätertyp keine innerlichen Rechtfertigungen, sondern ist sich des Rechtsbruchs bewusst und hat eine starke Tendenz, nach Entdeckung zu gestehen. (3) „Mitläufer“, d.h. Täter, die wie Typ (1) Teil von Subkultur-Gruppen in ihrem Unternehmen sind, Chancen zwar nicht aktiv suchen oder schaffen, aber ergreifen, wenn sie sich bieten, Mitläufer in diesen Gruppen sind und Druck fürchten, wenn sie nicht mitspielen. (4) „Unauffälligen“, d.h. Täter, die sich in der Regel an die Regeln halten, aber Beziehungen zu anderen Tätern im Unternehmen haben und Gelegenheiten zu ihrem Vorteil ergreifen.45 Unterschiedliche Kategorien von Tätern schlagen demgegenüber Cleff/ Naderer/Volkert vor,46 die zwischen dem „egozentrischen Visionär“, dem „frustrierten Visionär“, dem „narzisstischen Visionär“, dem „abhängigen Typ“ und dem „naiven Typ“ unterscheiden. Die Merkmale dieser „Typen“ ähneln Merkmalen von Tätertypen anderer Studien, wenn auch etwas anders gruppiert. Die Studie bestätigt auch das Ergebnis der anderen Studien, dass Täter oft erfolgreiche Manager und sowohl ehrgeizig als auch ausdauernd sind.47 Darüber hinaus sehen Cleff/Naderer/Volkert einen gewissen Zusammenhang zwischen Fehlverhalten einerseits und der relevanten Branche sowie Unternehmensstrukturen andererseits: Besonders gefähr44

Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 10. 45 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 18/19. 46 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 75, unter Verweis auf Thomas Cleff/Gabriele Naderer/Jürgen Volker, Motive der Wirtschaftskriminalität, MschKrim 94 (2011), 4, 5 ff. 47 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 72, unter Verweis auf Thomas Cleff/Gabriele Naderer/Jürgen Volker, Motive der Wirtschaftskriminalität, MschKrim 94 (2011), 4, 9.

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det seien Branchen mit hohen Transaktionsvolumina wie Finanzierung oder Immobilien. Ein erhöhtes Risiko bestehe auch bei zu komplexen sowie bei veralteten und starren Unternehmensstrukturen.48 Hugendubels Überblick über empirische Studien endet mit Schlegels vergleichender Analyse der Werte von verurteilten und nicht verurteilten Managern. Nach Schlegel sind straffällige Manager narzisstischer als sonstige Manager, und messen Werten wie „Macht“, „Leistung“, „Hedonismus“, „Konformität“, „Sicherheit“ und „Wohlwollen“ deutlich mehr Wertschätzung und Bedeutung bei. Allerdings bestätigen nicht alle Ergebnisse die Erwartung: Schlegel notiert eine stärkere „Neigung“ zu rechtswidrigem Verhalten unter den nicht straffälligen Managern als unter den straffälligen Managern, weist aber umgekehrt darauf hin, dass straffällige Manager stärker dazu neigten, Fragen in einer Weise zu beantworten, die ihnen sozial wünschenswert erscheint.49 2. Konsequenzen/Möglichkeit vorbeugender Maßnahmen Während alle empirischen Studien in Wirtschaftskriminellen ein Bündel unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale finden und diese kategorisieren, sind diese Merkmale und Kategorien vielfältig und bei allen Überschneidungen inkongruent. Darüber hinaus kommen die Studien zu dem Ergebnis, dass Persönlichkeitsmerkmale nicht sicher und auch nur dann zu Rechtsbrüchen führen, wenn sich hierzu angemessene Möglichkeiten oder andere situative Umstände ergeben50: „Gelegenheit macht Diebe“. Angesichts der Vielfalt der Persönlichkeitsmerkmale, Typologien und Umstände nimmt es nicht wunder, dass sich Präventivmaßnahmen auf potenzielle Straftäter unterschiedlich auswirken. Teilweise legen die Studien sogar dar, dass bestimmte Maßnahmen bei einem Teil der Manager präventiv wirken, bei anderen aber eher kriminogen!51 Entsprechend schlagen alle empirischen Studien, die die Frage nach Präventivmaßnahmen diskutieren, die Kombination unterschiedlicher Ansätze vor, um bei möglichst vielen Managern in

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Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 72, unter Verweis auf Thomas Cleff/Gabriele Naderer/Jürgen Volker, Wirtschaftskriminalität, 2009, S. 30. 49 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Alexander Schlegel, Wertehaltung inhaftierter Wirtschaftsdelinquenten, in: Alexander Schlegel (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und Werte, Nordhausen 2003, 113, 114 ff., 181. 50 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 163/164. 51 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 162, unter Verweis auf Krüger in Dölling/Jehle (Hrsg.), Täter, Taten, Opfer, 2013, S. 403, 410 ff.

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die richtige Richtung zu wirken.52 Daher ähneln sich die Maßnahmenkataloge oft. Vorgeschlagen werden:53 (1) Persönlichkeitstests vor der Einstellung eines Managers, (2) regelmäßige Persönlichkeitstests im Verlauf der Anstellung, insbesondere in kritischen Unternehmensabteilungen, (3) Antrag auf regelmäßige Vorlage von polizeilichen Führungszeugnissen (persönliches Führungszeugnis), (4) Versetzung von (potenziell) verdächtigen Arbeitnehmern in andere Abteilungen oder regelmäßige Rotationen, (5) klare Governance-Regeln, kommuniziert mit einem „ethischen Führungsansatz“ und dem vielzitierten „tone from the top“54, (6) regelmäßige Informationen, (7) regelmäßige Schulungen zur Steigerung der Sensibilität, (8) Installation effektiver interner Prozesse (Vier-Augen-Prinzip etc.), (9) regelmäßige Kontrollen, (10) konsequente Durchsetzung der Regeln, einschließlich einer konsequenten und angemessenen Reaktion bei Nichteinhaltung, insbesondere Untersuchungen und entsprechende Reaktionen, (11) Whistleblower-Verfahren und Hotlines, (12) zentrale Stellen, die die oben genannten Compliance-Maßnahmen installieren und überwachen. 3. Schlussfolgerungen aus den empirischen Studien: Grenzen der Prävention Quintessenz aller empirischen Studien ist, dass es vielfältige Tätertypen gibt, dass die Gestehungsgründe für Rechtsbrüche ebenso vielfältig sind und dass Gründe für Rechtsbrüche aus der dynamischen Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und situativen Gegebenheiten („Gelegenheiten“) entstehen. All’ dies macht es jedoch unmöglich, Wirtschaftskriminalität vollständig zu verhindern. Untauglich sind insbesondere Persönlichkeitstests, die bezwecken, Wirtschaftskriminelle im Vorhinein zu identifizieren, 52 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 71 und 76/77, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 21/22, und auf Thomas Cleff/Gabriele Naderer/Jürgen Volker, Motive der Wirtschaftskriminalität, MschKrim 94 (2011), 4, 12 ff. 53 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 55, 57, 62, 63, 65, 67, 68, 70, 71, 72, 76, 79 und 115; Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtlich Kontrolle, eine kriminologisch-strafrechtliche Analyse, Neuwied/Kriftel, 2002, S. 472/473, 478. 54 PricewaterhouseCoopers/Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wirtschaftskriminalität und Unternehmenskultur, 2013, S. 75; http://www.pwc.de/risiko-manage ment/wikri-2013.jhtml; zitiert nach Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 67/68.

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sei es anhand der oben genannten Typologie oder anderweitig. Denn zum einen finden sich viele der in den Studien identifizierten „kriminogenen“ Persönlichkeitsmerkmale auch bei erfolgreichen Managern, die jedoch nie straffällig werden55. Zum anderen gibt es die erwähnte mehrfache Interaktion zwischen Persönlichkeit und situativen Umständen, wie z.B. persönliche Krisen, sich ergebende Chancen, Beispiele von Fehlverhalten im Unternehmen, denen andere folgen, Beförderung des Managers in eine Position, die das Fehlverhalten ermöglicht, etc.56 Daher ist eine Prognose, dass ein bestimmter Manager in naher oder ferner Zukunft gegen die Regeln verstoßen wird, unmöglich.57 Für die Beurteilung des kriminologischen Hintergrunds von Unternehmenssanktionen ist nach den Erkenntnissen der empirischen Studien also festzuhalten, dass (1) Wirtschaftskriminalität durch Interaktion zwischen Persönlichkeiten und Umständen verursacht wird, (2) es unmöglich ist, zukünftige Täter im Voraus zu identifizieren und (3) es zwar möglich ist, Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ganz ausgeschlossen werden können. „Schwarze Schafe“ werden sich also stets unter den vielen „weißen Schafen“ finden, und ein „Bodensatz“ von Rechtsbrüchen wird trotz aller Bemühungen bleiben. 4. Schlussfolgerung durch Kritik an den Studien bestätigt Die obige Schlussfolgerung wird durch die Kritik Hugendubels bestätigt, dass die Studien unter methodischen Fehlern leiden. Hugendubel kritisiert, dass die Studien keine klaren Strukturen für empirische Analysen vorgaben, dass die Befragten nicht repräsentativ ausgewählt wurden, dass die meisten Studien ihre Interviews nicht auch mit einer nicht delinquenten Vergleichsgruppe (peer group) durchführten und die situativen Einflüsse vernachlässigten, dass die Antworten der Befragten nicht kontrolliert wurden, obwohl es sich bei den befragten Managern in der Regel um erfahrene, gut ausgebildete Führungskräfte handelte, die demgemäß in der Lage waren, ihre Antworten zu steuern, und dass die Ergebnisse der Studien oft nicht replizierbar waren.58 55

Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 161. 56 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 161/162. 57 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 162, unter Verweis u.a. auf Kai-D. Bussmann, Kriminalprävention durch Business Ethics, zfwu 5 (2004), 35, 41; Schuchter, ZRFC 2010, 80, 83; Schuchter, Perspektiven verurteilter Wirtschaftsstraftäter, 2012, S. 80; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 853. 58 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 153 und 122 ff. Für eine ähnliche Kritik Laurie Ragatz/William Freemouw, A Critical Examination of Research on the Psychological Profiles of

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Hugendubel betont vor diesem Hintergrund den komplexen Charakter menschlichen Verhaltens und seiner Ursachen, die fehlende Möglichkeit, potenziell straffällige Manager von gesetzestreuen Managern zu unterscheiden, und die Ähnlichkeit der Persönlichkeiten von straffälligen und nicht straffälligen Managern. Auf dieser Grundlage kommt sie zu dem Schluss, dass es weder aus den persönlichen Biografien von Führungskräften noch aus Persönlichkeitstests möglich ist, Prognosen über zukünftiges Fehlverhalten abzuleiten.59 Darüber hinaus können Persönlichkeitstests zur Ermittlung krimineller Neigungen von Personen starke, ungerechtfertigte negative Auswirkungen auf Führungskräfte haben, bei denen die Testergebnisse auf ein kriminelles Potenzial hinweisen: Man stelle sich vor, dass negative Testresultate nicht nur für eine konkrete Auswahlentscheidung verwandt, sondern gespeichert, im Unternehmen immer wieder verwandt und gegen andere Erkenntnisse abgeglichen oder gar Dritten zur Verfügung gestellt werden. Gelangt ein solcher Persönlichkeitstest zu einer negativen Einschätzung, kann er nach Hugendubel die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen und die Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten verletzen. Dies gilt umso mehr, soweit der Persönlichkeitstest zu unzutreffenden Einschätzungen gelangt, und da Persönlichkeitstests unzuverlässig sind, also niemand weiß, ob die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zutreffen sind oder nicht, erstreckt Hugendubel dieses persönlichkeits- und datenschutzrechtliche Verdikt auf alle Persönlichkeitstests, mit denen die Kriminalitätsneigung von Managern gemessen werden soll.60 Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen sind, dass (1) angesichts der Persönlichkeitsvielfalt der Täter das Unternehmensumfeld und dessen situative Gegebenheiten die Hauptursache für Wirtschaftskriminalität seien, (2) Präventivmaßnahmen nicht personenbezogen sein können, sondern allgemeiner Natur sein müssen und mit einer klaren Kommunikation der Werte des Unternehmens einhergehen müssen, um Wirkung zu entfalten, und (3) diese Kommunikation auf das spezifische Unternehmensumfeld und dessen situativen Gegebenheiten ausgerichtet sein müsse.61 Dem ist nicht durchgängig zu folgen: Schlussfolgerung (1) ist nicht überzeugend, da die weitaus meisten Führungskräfte auch in Strukturen und Umständen, in denen einige „schwarze Schafe“ das Recht brechen, gerade nicht straffällig werden. Auch wenn es nicht möglich ist, im Vorhinein die White-Collar Criminals, Journal of Forensic Psychology Practice 10 (2010), 373, 383, 393, 398. 59 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 153 und 168. 60 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 153 und 183 ff. 61 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 153 und 168.

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relevanten Persönlichkeitsmerkmale zu identifizieren, die die eine Gruppe von der anderen Gruppe unterscheiden, zeigt dies nicht, dass es keine Unterschiede in der Persönlichkeit von straffälligen und nicht straffälligen Führungskräften gibt. Wichtiger für die Beurteilung des kriminologischen Hintergrunds von Unternehmenssanktionen sind daher Schlussfolgerungen (2) und (3). Denn obwohl diese auf der Kritik Hugendubel an den empirischen Studien fußen, bestätigen sie die Erkenntnis der Studien, dass Wirtschaftskriminalität durch die Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der Täter und den situativen Gegebenheiten verursacht wird, dass es unmöglich ist, zukünftige Täter im Vorhinein zu identifizieren, und dass es zwar möglich ist, die Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ausgeschlossen werden können.

V. Vermeidung von Fehlverhalten durch Unternehmenssanktionen? Keiner der empirischen Studien lässt sich ein Hinweis entnehmen, wonach Täter in ihre Entscheidung, ob sie zum Rechtsbruch schreiten oder nicht, die Konsequenzen einfließen lassen, die ihr Verhalten für das Unternehmen mit sich bringt. Im Gegenteil, die empirischen Studien belegen, dass Wirtschaftskriminelle generell eine verzerrte Kosten – Nutzen – Analyse anwenden, also das Risiko der Aufdeckung und deren Konsequenzen unterschätzen.62 Die Drohung, ihr Verhalten werde bestraft, hält sie also nicht von ihren Taten ab. Es erscheint plausibel, dass dies erst recht gilt, wenn nicht der Täter, sondern das Unternehmen sanktioniert wird, also Dritte.63 Dies wiederum fügt sich in die bereits oben II dargelegten Erkenntnisse der Monopolkommission: Wie bereits erwähnt zieht die Monopolkommission den Schluss, dass „die [unternehmens-] bußgeldbasierte Kartellverfolgung auf mittel- oder längerfristige Sicht zunehmend an ihre Grenzen stoßen wird, ohne dass zugleich die Verbreitung von Kartellen in einer wettbewerbspolitisch zufriedenstellenden Weise abnehmen dürfte.“64 Die Monopolkommission betont dabei, dass sich Unternehmensbußgelder nicht unmittelbar auf die handelnden Mitarbeiter auswirken, die daher nicht zu rechtskonformem Verhalten angereizt würden. So könne es z.B. für Ver62 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 69, unter Verweis auf Rölfs Partner/Universität Leipzig, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen 2009, S. 10. 63 Vgl. Eugene Soltes, Why They Do It- Inside the Mind of the White-Collar Criminal, New York, 2016, S. 325: “And, ironically, fines levied on offending firms are ultimately paid by the shareholders rather than by the executives or employees who actually engaged in the misconduct. Without specter of the full justice system hanging over them as is the case with individual defendants, labeling firms as criminal often has surprisingly weak, or even misdirected, effects”. 64 Ebda., Tz. 179.

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triebsmitarbeiter mit persönlichen Vorteilen verbunden sein, sich ohne Wissen der Unternehmensführung an einem Kartell zu beteiligen. Individualgeldbußen gegenüber Mitarbeitern wiederum seien selten und träten auch in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber den Unternehmensbußen völlig in den Hintergrund.65 Dies wiederum steht in Einklang damit, dass die dargestellten empirischen Studien zwar darauf hinweisen, die Persönlichkeit der Täter wirke mit den situativen Gegebenheiten im Unternehmen als Ursache für white collar crime zusammen. Die obige Liste der empfohlenen Compliance Maßnahmen (oben unter IV 2) zeigt aber, dass zur Präventionsvorsorge Maßnahmen empfohlen werden, die sich an der Persönlichkeit der Täter orientieren. Hieraus ist für den Gegenstand dieses Beitrages zu folgern: Unternehmenssanktionen sind nicht nur aus Rechtsgründen ungeeignet, Wirtschaftskriminalität und sonstigen Regelbrüche in Unternehmen entgegenzuwirken, sondern auch aus kriminologischer Sicht.

VI. Juristische Kontrollüberlegung: Ist unternehmerisches Gewinnstreben ein „kriminogener Faktor“, der Unternehmenssanktionen rechtfertigt? Wie dargelegt, kommen die empirischen Studien zur Erkenntnis, dass Wirtschaftskriminalität durch die Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der Täter und den situativen Gegebenheiten verursacht wird, dass es unmöglich ist, zukünftige Täter im Vorhinein zu identifizieren, und dass es zwar möglich ist, die Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ausgeschlossen werden können. Derartige Erkenntnisse wurden freilich als Versuch kritisiert, von der „eigenen“ Verantwortung des Unternehmens abzulenken: Je mehr eine persönlichkeitsbasierte Analyse der Wirtschaftskriminalität betone, dass Übeltäter unauffällig und im Vorhinein nicht zu identifizieren seien, desto weiter werde „das Unternehmen“ von Schuld entlastet66 und die „wirklich Verantwortlichen entschuldigt” 67. Keine Frage, nach den empirischen Studien sind Wirtschaftskriminalität und Rechtsverstöße in Unternehmen ein multikausales Phänomen68, untermauern also die Gemeinplätze, „open doors tempt 65

Ebda. Tz. 183. Roland Hefendehl, Corporate Governance und Business Ethics: Scheinberuhigung oder Alternativen bi der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, JZ 2006, 119, 124; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 98. 67 Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 98. 68 KPMG International, Global profiles of the fraudster, 2013, S. 6 ff.; Julia Hugendubel, Tätertypologien in der Wirtschaftskriminologie, Peter Lang Verlag, Frankfurt, 2016, S. 64, 69. 66

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saints“ oder „Gelegenheit macht Diebe“. Bei Verstößen von Managern im vermeintlichen Interesse des Unternehmens scheint die allgemeine Gewinnorientierung von Unternehmen in einer Marktwirtschaft eine noch breitere Grundlage für diese Kritik zu bieten: Die Erwartung, dass das Unternehmen erfolgreich sein und Geld verdienen soll in der Tat regelmäßig, wird allen Managern „top down“ von Aktionären, Vorständen und Führungskräften im gesamten Unternehmen vermittelt. Auf dieser Linie wird bisweilen argumentiert, wenn Unternehmen systematisch Rechtsbrüche riskierten, die den Anteilseignern im Erfolgsfall nützen und anderen schaden, so sei die Gewinnorientierung ein kriminogener Faktor. Dies verkennt: Erstens: Die allermeisten Unternehmen sind nicht kriminell. Die Anlage in Unternehmen mit Renditeziel ist rechtmäßig. Nur wenn das Unternehmen seinen Betrieb einstellt und damit alle Möglichkeiten des Fehlverhaltens ausschließt, können Verstöße völlig ausgeschlossen werden. Die Rechtsordnung verlangt jedoch nicht, dass Unternehmen ihren Betrieb einstellen, vielmehr setzt die Rechtsordnung unternehmerische Tätigkeit voraus, schützt sie (Art. 2, 12, 14 GG) und finanziert das Gemeinwesen zu einem wesentlichen Teil aus Steuern auf die Gewinne, die Unternehmen erwirtschaften. Würde man die rechtmäßige Beteiligung an einem Unternehmen und dessen Gewinnen gleichwohl als so „kriminogen“ einstufen, dass sie bei Rechtsbruch von Managern Unternehmenssanktionen rechtfertigen, so müsste man bei einem Verkehrsdelikt (man denke an Sportwagen) auch Autohändler, Automobilhersteller und den Fiskus als Nutznießer der KfZ-Steuer sanktionieren. Das aber würde verkennen, dass der Autoverkauf ebenso rechtsgemäß wie die Unternehmensbeteiligung ist und dass der Fahrer des Autos ebenso wie der Manager eigenständig und schuldfähig handelt. Zweitens: Auch die „situativen Bedingungen“, die zusammen mit der Persönlichkeit des verantwortlichen Täters Gestehungsgrund des Rechtsbruchs sind, sind Ergebnis der Handlungen anderer Manager. Wäre man also mit einer Analyse der Ursachen für Wirtschaftskriminalität, die auf einen persönlichkeitsbasierten Ansatz beschränkt ist, unzufrieden, so rechtfertigt solche Unzufriedenheit keine Unternehmenssanktionen, sondern würde die Suche nach diesen anderen Personen erfordern, die die betreffenden „situativen Bedingungen“ geschaffen haben und bei denen das Strafziel der Prävention (also der Verhaltenssteuerung) erreicht werden kann.

VII. Ergebnis Zahlreiche empirische Studien, die in den vergangenen Jahren zu den Gründen für Wirtschaftskriminalität erstellt wurden, zeigen, dass Wirtschaftskriminalität durch die Interaktion zwischen Persönlichkeitsmerkmalen der Täter und den situativen Gegebenheiten verursacht wird, dass es

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unmöglich ist, zukünftige Täter im Vorhinein zu identifizieren, und dass es zwar möglich ist, die Compliance durch Präventivmaßnahmen zu erhöhen, Verstöße aber nie ausgeschlossen werden können. Demgegenüber lässt sich keiner der empirischen Studien ein Hinweis entnehmen, wonach Täter in ihre Entscheidung, ob sie zum Rechtsbruch schreiten oder nicht, die Konsequenzen einfließen lassen, die ihr Verhalten für das Unternehmen mit sich bringt. Im Gegenteil, die empirischen Studien belegen, dass Wirtschaftskriminelle generell eine verzerrte Kosten – Nutzen – Analyse anwenden, also das Risiko der Aufdeckung und deren Konsequenzen unterschätzen. Die Drohung, ihr Verhalten werde bestraft, hält sie also nicht von ihren Taten ab. Es erscheint plausibel, dass dies erst recht gilt, wenn nicht der Täter, sondern das Unternehmen sanktioniert wird, also Dritte. Dies wiederum bestätigt die Erkenntnis der Monopolkommission, dass Unternehmensbußgelder Mitarbeiter nicht zu rechtskonformem Verhalten anreizen, weil sie davon nicht betroffen sind. Dies aber heißt: Unternehmenssanktionen sind nicht nur aus Rechtsgründen ungeeignet, Wirtschaftskriminalität in Unternehmen entgegenzuwirken, sondern auch aus kriminologischer Sicht. Dies bestärkt die an anderer Stelle dargelegte Ansicht des Verfassers, dass Unternehmenssanktionen die Grundrechte der Anteilseigner systemisch verletzen.

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Implications of the 2019 Hague Convention on Enforcement Implications of the 2019 Hague Convention on Enforcement Anselmo Reyes

Implications of the 2019 Hague Convention on the Enforcement of Judgments of the Singapore International Commercial Court ANSELMO REYES

I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Implication Of The 2019 Convention On The Rudimentary System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Implication Of The 2019 Convention On The SICC . . . . . . IV. Implications Of The Act On The SICC . . . . . . . . . . . . . . IV. Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction I am delighted to be part of this Festschrift in honour of Professor Dr. Roderich Thümmel. I propose here to celebrate Professor Thümmel’s connection with Singapore in particular and Asia in general. I will do this through an update of the analysis in my recent book1 on the recognition and enforcement of judgments in Asia. The book begins with an Introduction in which I identify the elements of a rudimentary system for the recognition and enforcement of judgments which every Asian country can adopt. The succeeding chapters examine the current regimes for recognition and enforcement in 15 Asian jurisdictions,2 with each chapter written by a specialist in the law concerned. There is then a Conclusion wherein I “test” the extent to which a rudimentary system for recognition and enforcement already exists in Asia, by examining whether the judgments of the Singapore International Commercial Court (SICC) will be recognised and enforced in the 15 jurisdictions surveyed. The Conclusion submits that there is a likelihood that the SICC’s judgments will be recognised and enforced in all but 1 Anselmo Reyes (ed), Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters, Studies in Private International Law: Asia vol 1 (Oxford, Hart Publishing, 2019). 2 The 15 jurisdictions are China, Hong Kong, Taiwan, Japan, South Korea, Singapore, Malaysia, Vietnam, Cambodia, Myanmar, the Philippines, Indonesia, Thailand, Sri Lanka and India.

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two of the 15 jurisdictions considered, the exceptions being Indonesia and Thailand. It is a misfortune of legal writers that what they write soon goes out of date. That happened even before my book was published. On 2 July 2019, soon after the manuscript for the book had been delivered to the publisher, the Diplomatic Council of the Hague Conference on Private International Law adopted the 2019 Hague Convention on the Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters.3 That was not the only matter affecting the book’s content. On 5 August 2019, the Singapore government tabled a bill to amend the Reciprocal Enforcement of Foreign Judgments Act (REFJA) and repeal the Reciprocal Enforcement of Commonwealth Judgments Act (RECJA). On 3 October 2019, shortly after the book’s publication on 19 September 2019, the bill became law (the Act). It is anticipated that the repeal of RECJA will take effect in the near future. In the meantime, the amended REFJA rationalises and unifies the respective regimes for the recognition and enforcement previously found in REFJA and RECJA. The 2019 Hague Convention was not unexpected. It had been foreshadowed in the book. Indeed, it was possible to insert a brief two-paragraph “Update” to the book to mark the promulgation of 2019 Hague Convention. The Update asserted, without explanation, that “[t]he 2019 Convention is essentially similar, with only minor differences, to the 2018 Draft Hague Convention discussed here and does not affect the analysis in this book”.4 In contrast, in the case of the amendment of REFJA and the repeal of RECJA, the Singapore government had acted so swiftly that, before one realised that changes to the law were imminent, the book had been published. Accordingly, this paper has three objectives. First, it substantiates the assertion that the framework in the book’s Introduction remains valid and has not been affected by the adoption of the 2019 Hague Convention. The book’s Introduction deduced a rudimentary system for the recognition and enforcement among Asian countries by reference to the 1971 Hague Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil and Commercial Matters, the Supplementary Protocol to the 1971 Hague Convention, the 2005 Hague Convention on Choice of Court Agreements, and the May 2018 Draft (the 2018 Draft) of what eventually became the 2019 Hague Convention. The question is whether the principles underlying the 2019 Hague Convention support or conflict with the system which the book’s Introduction argues that Asian countries should adopt. Second, this paper will consider the implications of the 2019 Convention on the practical 3 4

For the text, see www.hcch.net/en/instruments/conventions/full-text/?cid=137. Reyes (n 1) v.

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test set out in the book’s Conclusion. Third, I will consider how the Act deals with reciprocity. Many Asian countries recognise and enforce foreign judgments on the basis (among other conditions) of reciprocity. Relative to other jurisdictions in Asia, Singapore has a liberal regime for the recognition and enforcement of foreign judgments. The book tentatively proposed replacing the principle of reciprocity in the recognition and enforcement of judgments with the notion of comity. Will the passing of the Act have the consequence of a greater willingness among Asian jurisdictions (especially those with less liberal for recognition and enforcement) to recognise SICC judgments? Further, does the passing of the Act presage a move towards comity, rather than reciprocity, as a basis for the recognition and enforcement of foreign judgments?

II. Implication of the 2019 Convention on the Rudimentary System The “minimal no-frills, but workable system for the recognition and enforcement of judgments” that the book’s Introduction advocated should be adopted by Asian jurisdictions comprised following elements:5 (1) Application to judgments of a general civil and commercial nature, ‘commercial’ broadly defined along the lines in footnote 2 to Article 1(1) of the UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration. (2) A requirement that to be recognised a judgment must be final and conclusive. The judgment must be enforceable and effective in the originating state. Further, the system should at least allow for the recognition of judgements for the payment of money. (3) At least the following as grounds of indirect jurisdiction: (a) The state in which the rendering court is situated was the habitual residence of the defendant at the start of the foreign proceedings. (b) The state in which the rendering court is situated is the place where the defendant had a principal place of business or an establishment, branch or agency at the start of the foreign proceedings, provided that such place of business, establishment, branch or agency was closely connected to the claim. (c) The defendant submitted to the court’s jurisdiction: (i) by express agreement, (ii) by defending the claim on the merits without challenging jurisdiction, or (iii) by invoking the court’s jurisdiction by bringing a counterclaim related to the claim. 5

Reyes (n 1) 29–30.

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(d) The claim concerns title to immovable property located within the state of the rendering court. (e) The claim concerns a non-contractual obligation and the act that gave rise to the damage (death, personal injury, damage to property) occurred in the state of the rendering court. (4) A requirement that to be recognised (a) a judgment should not have been obtained by fraud and (b) due process must have been observed in obtaining the judgment, in that the defendant had sufficient notice of the proceedings in accordance with the laws of the enforcing state, as well as a reasonable opportunity to defend itself against the plaintiff’s claim. (5) The following grounds for refusal of recognition and enforcement: (a) lack of indirect jurisdiction; (b) denial of due process (including procedural fraud in the obtaining of the judgment); (c) incompatibility with public policy; and (d) the existence of prior res judicata Apart from an evaluation whether or not the foregoing grounds of refusal have or have not been made out, there should be no review of the substantive merits of a foreign judgment. Where a foreign judgment is severable, it may be recognised and enforced only in part, if the remainder falls foul of one or other ground of refusal. (6) As an optional requirement, evidence of reciprocal treatment between the originating and enforcing states, reciprocity to be presumed in the absence of evidence to the contrary. Consideration should be given to applying the principle of comity, in lieu of reciprocity. (7) A simple, cost-effective recognition and enforcement procedure whereby a foreign judgment is recognised following (a) a registration procedure or (b) summary proceedings in a domestic action commenced in the enforcing state by the plaintiff against the defendant on the basis of the debt arising from the foreign judgment. How does the regime in the 2019 Hague Convention affect the rudimentary system just described? At the outset, it is useful to identify the similarities and differences between the 2019 Hague Convention and the 2018 Draft. First, it is apparent that the 2019 Hague Convention and the rudimentary system have similar goals. The preamble to the 2019 Convention identifies its goal as the enhancement of legal cooperation across borders “through the creation of a uniform set of core rules on recognition and enforcement of foreign judgments in civil or commercial matters, to facilitate the effective recognition and enforcement of such judgments”. Such a set of core rules will “promote effective access to justice for all and ... facilitate rule-based multilateral trade and investment, and mobility”.

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Second, Articles 1 to 10 of the 2019 Hague Convention correspond to Articles 1 to 10 of the 2018 Draft. Articles 11 to 28 correspond to Articles 12 to 29 of the 2018 Draft. Article 29 was not in the 2018 Draft. Articles 30 to 32 correspond to Articles 30 to 32 of the 2018 Draft. The corresponding provisions in the draft and final Convention are broadly similar. The exclusions to the scope of the instrument contained in Article 2 of the 2018 Draft (including the tentatively proposed exclusions which appeared in brackets in the 2018 Draft) were adopted in Article 2 of the 2019 Hague Convention with only minor differences. Those small changes are as follows: Article 2(1)(g) of the 2019 Convention deleted the adjective “transboundary” which appeared before “marine pollution” in the 2018 Draft. Article 2(1)(p) stipulated (as did the 2018 Draft) that the instrument did not cover “anti-trust (competition) matters”. But there is a carve-out from that exclusion which was not explicitly stated in the 2018 Draft. Thus, Article 2(1)(p) now clarifies that the 2019 Convention will apply: where the judgment is based on conduct that constitutes an anticompetitive agreement or concerted practice among actual or potential competitors to fix prices, make rigged bids, establish output restrictions or quotas, or divide markets by allocating customers, suppliers, territories or lines of commerce, and where such conduct and its effect both occurred in the State of origin. Article 2(1)(q) of the 2019 Hague Convention (excluding “sovereign debt restructuring through unilateral State measures” from the scope of the instrument) did not appear at all in the draft. Article 4 contains general provisions. Article 4(4) on recognition or enforcement when a judgment is subject to review in the state of origin has been simplified in the 2019 Convention. Article 4 did not adopt the provisions on common courts6 found in Articles (4) to (6) the 2018 Draft. In simplifying Article 4(4), the 2019 Hague Convention provides that an enforcing state may postpone or refuse recognition or enforcement where a judgment remains subject to review in the state of origin. The option of granting recognition or enforcement subject to the provision of security which was contained in the 2018 Draft has been left out of the 2019 Convention but has not been expressly ruled out as a possibility. Article 5 sets out when judgments may be recognised and enforced. Article 5(1)(h) of the 2019 Hague Convention refers to a judgment that has ruled on “a lease of immovable property” (as opposed to “a tenancy of immovable property” in the 2018 Draft) being eligible for recognition and enforcement. Article 5(3) of the 2019 Hague Convention qualifies that Article 5(1) does not apply to a judgment that “ruled on a residential lease of immovable 6

That is, the regional courts of an association of countries.

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property (tenancy) or ruled on the registration of immovable property” unless given by the court of the state where the property is situated. There was no equivalent to Article 5(3) in the 2018 Draft. The latter included an Article 5(3) in square brackets suggesting that, in certain situations, judgments relating to intellectual property rights may be recognised and enforced. Since intellectual property rights have been excluded from the final instrument altogether, the draft Article 5(3) has been dropped. For similar reason, Article 11 of the 2018 Draft dealing with non-monetary remedies in intellectual property matters has not been adopted in the 2019 Convention Article 6 deals with exclusive bases for recognition and enforcement. Article 6 of the Convention states that a judgment on rights in rem in immovable property will only be recognised and enforced if the property is situated in the state of origin. It therefore adopts Article 6(b) of the 2018 Draft. Articles 6(a) (dealing with intellectual property rights) and (c) (dealing with tenancies lasting for more than six months) proposed in the 2018 Draft were not adopted in the final instrument. Article 19 on judgments pertaining to a state adopts Article 20 of the 2018 Draft but in modified form. Thus, Article 19(1) of the 2019 Convention clarifies that: A State may declare that it shall not apply this Convention to judgments arising from proceedings to which any of the following is a party – (a) that State, or a natural person acting for that State; or (b) a government agency of that State, or a natural person acting for such a government agency. The italicised words did not appear in Article 20 of the 2018 Draft. Article 29 on the establishment of relations pursuant to the 2019 Hague Convention did not appear in the 2018 Draft. Article 29 stipulates: (1) This Convention shall have effect between two Contracting States only if neither of them has notified the depositary regarding the other in accordance with paragraph 2 or 3. In the absence of such a notification, the Convention has effect between two Contracting States from the first day of the month following the expiration of the period during which notifications may be made. (2) A Contracting State may notify the depositary, within 12 months after the date of the notification by the depositary referred to in Article 32(a), that the ratification, acceptance, approval or accession of another State shall not have the effect of establishing relations between the two States pursuant to this Convention. (3) A State may notify the depositary, upon the deposit of its instrument pursuant to Article 24(4), that its ratification, acceptance, approval or

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accession shall not have the effect of establishing relations with a Contracting State pursuant to this Convention.7 (4) A Contracting State may at any time withdraw a notification that it has made under paragraph 2 or 3. Such a withdrawal shall take effect on the first day of the month following the expiration of three months following the date of notification. The effect of Article 29 is that a Contracting State may declare that it will not be applying the 2019 Hague Convention to the judgments of a particular country. In the absence of such a declaration by a Contracting State, the 2019 Convention will apply to the judgments of all other states party to that instrument. Third, Article 28 provides for the entry into force of the 2019 Convention. It states as follows: (1) This Convention shall enter into force on the first day of the month following the expiration of the period during which a notification may be made in accordance with Article 29(2) with respect to the second State that has deposited its instrument of ratification, acceptance, approval or accession referred to in Article 24. (2) Thereafter this Convention shall enter into force – (a) for each State subsequently ratifying, accepting, approving or acceding to it, on the first day of the month following the expiration of the period during which notifications may be made in accordance with Article 29(2) with respect to that State; (b) for a territorial unit to which this Convention has been extended in accordance with Article 25 after the Convention has entered into force for the State making the declaration, on the first day of the month following the expiration of three months after the notification of the declaration referred to in that Article. An Article 29 declaration may consequently be made within 12 months after notification by the depositary of the ratification, acceptance, approval and accession of a joining state. It follows that the Convention will come into force following a period of at least 12 months from the date when a second state joins the Convention.8 Thereafter, the Convention will come into force in a joining state after at least 12 months from the date of that state’s accession to the instrument.

7 The depositary to the 2019 Hague Convention is the Ministry of Foreign Affairs of the Kingdom of the Netherlands (Article 24(4)). The depositary is to inform the members of the Hague Conference and other Contracting States to the Convention of the signatures, ratifications, acceptances, approvals and accessions to the instrument (Article 32(a)). 8 Currently, Ukraine and Uruguay have signed but not yet ratified the Convention.

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The features noted suggest that the rudimentary system, much of which was based on the 2018 Draft, is essentially the same as the core regime in the 2019 Hague Convention. The only substantial difference between the 2018 Draft and 2019 Hague Convention is found in Article 19(1) of the latter. However, the rudimentary system in the book did not touch on issues of sovereign immunity and leaves it to each Asian jurisdiction to determine whether, if at all, a foreign judgment may be enforced against the state seised, a government agency of that state, or a state-owned enterprise. The foregoing observations thus validate the assertion in the book that the 2019 Hague Convention does not the affect the analysis underlying the rudimentary system. The book further argued that, if an Asian country was persuaded that there was a positive correlation between enjoying increased foreign direct investment (FDI) and having a relatively liberal regime for the recognition and enforcement of foreign judgments in commercial matters, it would take too long to bring about such liberal regime by waiting for states to enter into treaties or multi-lateral conventions. The book suggested that, instead of waiting, the Asian country should simply reform its civil procedure laws along the lines of the rudimentary system straightaway, so as to enable the recognition and enforcement of judgments in commercial matters generally. The 2019 Hague Convention does not affect the validity of that diagnosis. It will take at least another year, if not more, before the instrument enters into force. It will be many years thereafter before a sufficient number of countries sign up to enable the 2019 Hague Convention to have an effect comparable to that which the 1958 New York Convention has had on the recognition and enforcement of arbitral awards. Consequently, for an Asian jurisdiction wishing to attract FDI as soon as possible, there is no practical alternative to adopting something like the rudimentary system in its domestic laws.

III. Implication of the 2019 Convention on the SICC The SICC is one of a growing number of international courts that have been or will be established in Asia and elsewhere.9 In Asia, apart from the SICC, there are the China International Commercial Court (CICC) in Xian and Shenzhen and the Astana International Financial Centre (AIFC) Court in Kazakhstan. It is understood that South Korea is considering whether to set up an international court. On the existence of a rudimentary system for recognition and enforcement of judgments among Asian states today, the book concluded that there is a spectrum:10 9 See, for instance, Janet Walker, ‘Specialised International Courts: Keeping Arbitration on Top of Its Game’, (2019) 85 Arbitration 2. 10 Reyes (n 1) 322.

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In China, Hong Kong, Taiwan, Japan, South Korea, Malaysia, the Philippines, Sri Lanka and India, SICC judgments will generally be recognised and enforced, either pursuant to a bilateral arrangement, a Memorandum of Guidance, principles in a code of civil procedure, the common law, or international comity. In Vietnam, Cambodia and Myanmar there is a good chance that SICC money judgments in commercial matters will be recognised and enforced, but there is uncertainty because the relevant law in those jurisdictions is still in the process of articulation and development by the legislature and the courts. Given the discussion in Section II above, the adoption of the 2019 Hague Convention should not affect the outcome of the practical test. Obviously, if a large number of Asian countries were to accede to the 2019 Hague Convention in the future, the relevant countries would then have something like the rudimentary system advocated in the book and the judgments of the SICC would be more widely recognised and enforced in Asia. But there is one situation, in which the enforcement of judgments of the SICC and other international commercial courts could still be problematic. That situation is where the parties to an international commercial contract designate the SICC as the court for the resolution of disputes, because it is regarded as a neutral forum which (apart from the parties’ designation as forum) is unconnected to either party to the dispute. The 2019 Convention is largely silent on choice of court agreements.11 This is deliberate. The preamble to the 2019 Convention declares that the instrument has been designed to be “complementary” to the 2005 Hague Choice of Court Agreements Convention. The latter provides in its Article 19 that a Contracting State can “declare that its courts may refuse to determine disputes to which an exclusive choice of court agreement applies if, except for the location of the chosen court, there is no connection between that State and the parties or the dispute”. That is precisely the circumstance where a court such as the SICC is likely to be designated by parties and indeed such situation was meant to be the principal source of cases for the SICC.12 In addition, Article 20 of the 2005 Hague Convention allows a Contracting State to “declare that its courts may refuse to recognise or enforce a judgment given by a court of another Contracting State if the parties were resident in the requested State, and the relationship of the parties and all other elements relevant to the dispute, other than the location of the chosen court, were connected only with the requested State”. 11 Article 5(1)(m) refers to the situation of “a court designated in an agreement concluded or documented in writing or by any other means of communication which renders information accessible so as to be usable for subsequent reference, other than an exclusive choice of court agreement”. 12 On the SICC’s jurisdiction, see Reyes (n 1) 310.

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The book’s Conclusion observes that in Asian jurisdictions such as China it remains a hotly debated topic whether domestic courts should recognise and enforce judgments where, but for their choice of court agreement, neither the parties nor a case has any connection with the chosen forum.13 The Conclusion also refers to the position in India where there is a widely prevalent perception that, in a commercial dispute having international elements but involving opposing Indian parties as litigants, the courts may refuse to recognise or enforce the judgment of the SICC on grounds of public policy, namely, that the Indian parties are seeking to evade the jurisdiction of the Indian courts.14 The book posited that, as a result of cases such as Modi Entertainment Network v WSG Cricket Pte Ltd15, Indian parties will normally be bound by an exclusive or non-exclusive jurisdiction clause in favour of a foreign court. Exceptionally, a jurisdiction clause will not be binding where “rare and extraordinary circumstances” justify relieving a party from its obligations under the clause.16 The 2019 Hague Convention does not provide guidance on how Asian countries might deal with the situations touched upon in Articles 19 and 20 of the 2005 Hague Convention. The matter remains up in the air. It is hoped that, in the interests of promoting cross-border trade and legal cooperation, Asian countries will in the future be prepared to recognise and enforce commercial judgments in such situations in the absence of strong countervailing public policy reasons pointing to refusal. Finally, it should also be noted that neither the rudimentary system, the 2005 Hague Convention, nor the 2019 Hague Convention provide for the recognition and enforcement of interim measures (such as freezing orders) directed by the SICC. Further, none of the three foregoing regimes will be of assistance where a third party has been joined as a “necessary or proper” party to SICC proceedings pursuant to Order 11(1)(c) of the Singapore Rules of Court (Cap.322) but the third party does not take any part in the proceedings or otherwise submit to the SICC’s jurisdiction. That is because subject matter jurisdiction is not a recognised basis of indirect jurisdiction in the rudimentary system or the 2005 and 2019 instruments.

13

ibid 311–312. ibid 321–322. 15 [2003] AIR SCW 733. 16 Such as perhaps where an overriding statute or mandatory law confers exclusive jurisdiction in a matter to an Indian court. Otherwise, Indian parties would be able to avoid the Indian court’s exclusive jurisdiction in the matter by a choice of court agreement designating a foreign court as the forum in which their dispute should be heard. 14

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IV. Implications of the Act on the SICC The Act consolidates the recognition and enforcement regimes previously found in REFJA and RECJA. Those regimes were described in detail in the Singapore chapter of the book.17 But the Act goes further than mere consolidation. Under section 3(1) of the Act the government can, where it is “satisfied that ... substantial reciprocity of treatment will be assured as respects the enforcement in that foreign country of similar judgments given in a similar court or similar courts of Singapore,” extend the benefits of the Act to the judgments of such country. The Act does not define “substantial reciprocity”. It is submitted that the expression should be taken to mean something similar to the presumption of reciprocity in the Nanning Statement of the 2nd China-ASEAN Forum18 which was adopted on 8 June 2017 and to which the Singapore court was a party. The Nanning Statement describes the presumption thus: If two countries have not been bound by any international treaty on mutual recognition and enforcement of foreign civil or commercial judgments, both countries may, subject to their domestic laws, presume the existence of their reciprocal relationship, when it comes to the judicial procedure of recognizing or enforcing such judgments made by courts of the other country, provided that the courts of the other country had not refused to recognize or enforce such judgments on the ground of lack of reciprocity. The result of an approach to reciprocity along the lines of the Nanning Statement would dramatically increase the countries whose judgments may be recognised pursuant to the Act. Prior to the Act, only the judgments of Commonwealth jurisdictions and Hong Kong could be recognised and en17 Reyes (n 1) 149–159. The Singapore chapter was written by Mr. Kenny Chng, Assistant Professor at the School of Law of Singapore Management University. 18 On the Nanning Statement, see ibid 27. The Statement was signed by Chief Justice Zhou Qiang of the Supreme People’s Court of China; Vice-President You Ottara of the Supreme Court of Cambodia; Deputy Chief Justice Takdir Rahmadi of the Supreme Court of Indonesia; President Khamphane Sitthidampha the People's Supreme Court of Laos; Chief Judge Tan Sri Richard Malanjum of the High Court of Sabah and Sarawak and Justice of the Federal Court of Malaysia; Chief Justice Htun Htun Oo of the Union of Myanmar; Hon. Justice Andres B. Reyes Jr. of the Court of Appeal of the Philippines, Justice Steven Chong of the Court of Appeal of the Supreme Court of Singapore, President Veerapol Tungsuwan of the Supreme Court of Thailand; Deputy Chief Justice Nguyen Van Thuan of the Supreme People's Court of Viet Nam; Deputy ASEAN SecretaryGeneral AKP Mochtan; Chief Justice Sayed Yousuf Halem of Afghanistan; Justice Hasan Foez Siddique of the Appellate Division of the Supreme Court of Bangladesh; Justice Hari Krishna Karki of Nepal; Chief Justice Main Saqib Nisar of Pakistan; and Chief Justice Wewage Priyasath Gerad of Sri Lanka.

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forced under REFJA and RECJA. Following the Act, even in the absence of a bilateral treaty or a multilateral convention (such as the 2019 Hague Convention) between Singapore and a relevant country, the Singapore government could declare that the judgments from the countries that signed the Nanning Statement should enjoy the benefits of the Act. The greater the number of countries to which the Act is extended, the greater the range and likelihood of countries recognising SICC judgments. As a corollary, where it appears that the treatment accorded to Singapore judgments (including SICC judgments) by a foreign court is “substantially less favourable” than the treatment accorded by the Singapore courts to the judgments of such foreign court, section 12 of the Act empowers the Singapore government to direct that no proceedings shall be entertained in any Singapore court for the recovery of any sum alleged to be payable under a judgment given by that foreign court. Thus, although the Act institutes a liberal regime, it cannot be said that the notion of “reciprocity” has become irrelevant. The book’s Conclusion recommended that countries consider replacing the notion of “reciprocity” with that of “comity”. The Act signals that this will not be happening in Singapore in the near future. Given that even the liberal Singapore regime for recognition and enforcement has not done away with reciprocity, it is unlikely that other Asian countries (especially those with more rigid regimes) will be giving up their adherence to that principle. In this respect, section 12 of the Act may be regarded as analogous to Article 29 of the 2019 Convention. Both provisions suggest that a broad principle of comity as a basis of recognition and enforcement remains a distant ideal.

IV. Conclusion The book’s Conclusion on the spectrum of Asian countries likely to recognise and enforce SICC judgments remains unaffected by the adoption of the 2019 Hague Convention. If anything, the passing of the Act by the Singapore legislature may presage a world where SICC judgments will be more generally recognised and enforced, even in the absence of a treaty or convention. The Act provides a ready mechanism by which the Singapore government can establish reciprocity with other states. One may wonder what the benefit to an Asian country would be of joining the 2019 Convention. If a country wishes to have its judgments recognised and enforced in other jurisdictions, it could simply adopt the rudimentary system. Where an Asian country follows a dualist (as opposed to a monist) regime, it would have to enact core rules similar to those found in the rudimentary system in any event, either before or at the time of becoming a party to the 2019 Convention. As far as reciprocity is concerned, the

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country could follow the approach of presuming reciprocity as advocated in the Nanning Statement. Nonetheless, the notion of reciprocity appears to exercise a strong hold over many Asian countries. It is consequently in connection with reciprocity that joining the 2019 Hague Convention may have its strongest attraction. Some Asian countries may find it difficult to accept the presumption of reciprocity espoused by the Nanning Statement. Something more concrete may be required as evidence of reciprocity. Joining the 2019 Convention unambiguously establishes that a country is prepared to accord recognition and enforcement to other Contracting States on a reciprocal basis.

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Über Document Production – ein Wutausbruch! Über Document Production – ein Wutausbruch! Jörg Risse

Über Document Production – ein Wutausbruch! JÖRG RISSE

I. Wutausbruch über einen Wombat . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sachlich betrachtet: ein wenig Rechtsvergleichung . . . . . III. Akademisch betrachtet: Rechtsgrundlagen für die Document Production . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Weder gesetzliche Anordnung noch Parteivereinbarung . . 2. Tatsächliche Rechtsgrundlage: Ermessen des Schiedsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis: Appell an's selber Denken! . . . . . . . . IV. Praktisch betrachtet: Document Production als Wombat . 1. Document Production ist teuer – oft absurd teuer! . . . . . 2. Fairplay gilt nicht immer und das WYSIATI-Phänomen . 3. Ergebnis der Dokumentenvorlage fast immer irrelevant . . 4. Konsequenz: Verärgerte Kunden der Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das praktische Phänomen: doch Zustimmung zur Document Production! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenergebnis: Ein trauriger Befund . . . . . . . . . . . . V. Anwaltlich betrachtet: Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . 1. Ausschluss der Document Production in der Schiedsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahl des richtigen Schiedsrichters . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Frühzeitige Positionierung gegenüber dem Schiedsgericht 4. Ein entschlossenes „Nein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schiedsrichterlich betrachtet: kritische Grundhaltung . . . 1. Mut zum grundsätzlichen „Nein“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mut zum „Nein“ im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drastische Kostensanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Schlussendlich betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Wutausbruch über einen Wombat Ich bin wütend! Maßlos ärgere ich mich. Vor allem über mich selbst. Aber auch über drei Schiedsrichter und über einen Wombat. Der Wombat

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ist eigentlich ein ganz niedlich aussehendes australisches Beuteltier, der Name steht aber auch als Akronym für „waste of money, brain and time“. Der Wombat ist – wieder einmal – aufgetaucht, diesmal als Document Production in einem internationalen Schiedsgerichtsverfahren. Wie kam es dazu? Nun, in einem Schiedsgerichtsverfahren zwischen zwei Unternehmen aus Kontinentaleuropa verlangte die Gegenseite in der Verfahrensmanagementkonferenz die Durchführung einer Document Production, „gerne nach den IBA Rules“. Ich war strikt dagegen. Doch das Schiedsgericht meinte, ein solches Verfahren sei doch inzwischen ganz üblich; die vorgeschlagenen IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration 2010 („IBA Rules“) seien der „Goldstandard“ und würden die Gefahr eines Missbrauchs eingrenzen. Außerdem werde das Schiedsgericht jeden Vorlageantrag restriktiv handhaben. Vom Willen getragen, nicht gleich zu Anfang des Verfahrens destruktiv zu wirken, stimmte ich zähneknirschend zu. Ich Trottel! Eine Woche später kam die entsprechende Procedural Order mit den Regularien der Dokumentenvorlage. Vier Monate später beginnt das Desaster: Im E-Mail-Eingangspostfach findet sich ein penibel ausgefüllter Redfern Schedule der Gegenseite, 82 Seiten, 124 Anträge, fast alle eingeleitet mit der schönen Formulierung „each and every document, including but not limited to electronic communication, …“. Das Schiedsgericht gibt ungefähr der Hälfte dieser Anträge tatsächlich statt. Ein ungeheurer Bearbeitungsaufwand auf Seiten des eigenen Mandanten ist die Folge. Die Gegenseite hat dagegen auf die eigenen 9 Vorlageanträge in der Hälfte der Fälle geantwortet, mit dem Antrag korrespondierende Dokumente gebe es nicht. Nun ja … Als die vom und für den Mandanten herausgesuchten Dokumente nach ungefähr 1.500 angefallenen Arbeitsstunden und Kosten von knapp EUR 500.000,00 schließlich zum Download bereitgestellt werden, bin ich sicher: Wieder einmal wird keines dieser Dokumente streitentscheidend sein. Die Document Production ist ein Wombat – ein waste of money, brain and time! Der Mandant ist wütend auf mich und meine Sozietät. Und ich bin wütend auf mich selbst. Ich hätte das verhindern müssen – irgendwie! Aber wütend bin ich auch auf das System, die Schiedsrichter und eben die Document Production. Warum dieser Wutausbruch in einer Festschrift? Weil der Jubilar als Schiedsrichter Schiedsgerichtsverfahren mit einer solch ruhigen Sachlichkeit führt, dass es dort vermutlich zu keinem Wutausbruch gekommen wäre. Und deshalb ist diese Festschrift der richtige Ort, dem Wombat „Document Production“ mit ruhiger Sachlichkeit, akademischem Tiefgang und hohem Praxisbezug zu Leibe zu rücken. Und vielleicht hilft das alles ja auch gegen die verspürte Wut. Einen Versuch ist es wert …

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II. Sachlich betrachtet: ein wenig Rechtsvergleichung Die Document Production ist nicht vom Himmel auf die Schiedsgerichtsbarkeit gefallen. Sie hat ihre Wurzeln, wie allgemein bekannt, im USamerikanischen Rechtssystem, wo sie als „Discovery“ firmiert. Die Idee des US-amerikanischen Rechts ist dabei ebenso einfach wie bestechend: Schon vor Beginn des eigentlichen Prozesses sollen beide Parteien verpflichtet sein, der Gegenseite sämtliche prozessrelevanten Informationen zur Auswertung bereitzustellen. Zur Auswertung dieser Unterlagen und Dokumente dient eben die Discovery, die die Gegenseite zur Dokumentenvorlage zwingt. Das nur im Kopf von Menschen gespeicherte Wissen zum streitgegenständlichen Sachverhalt ist gegebenenfalls über so genannte „Depositions“ bereitzustellen, also die vorprozessuale Vernehmung von Zeugen unter Eid. Die Grundidee dabei ist, dass die breitestmögliche Informationsbasis eine Gewähr dafür bietet, am Ende auch eine gerechte Falllösung zu finden. Das klingt zunächst vernünftig und unverdächtig. Das aus Kontinentaleuropa stammende Civil Law-Rechtssystem geht einen ganz anderen Weg. Anknüpfend an das altrömische Actiones-Rechtssystem gibt eine Rechtsnorm als formale Anspruchsgrundlage bestimmte Tatbestandsmerkmale vor, die ein Kläger darlegen und beweisen muss. Kann der Kläger das nicht, verliert er den Prozess. Dort, wo man vernünftigerweise nicht erwarten kann, dass der Kläger über Informationen zum entsprechenden Tatbestandsmerkmal verfügt, hilft das Recht dem Kläger mit einer Beweislastumkehr oder – in ihren Auswirkungen etwas schwächer – mit einer Beweiserleichterung oder sekundären Beweislast des Gegners. So wird etwa beim Vorliegen einer Pflichtverletzung das Verschulden (Fahrlässigkeit oder Vorsatz) des Anspruchsgegners vermutet.1 Dieser soll jetzt die Umstände darlegen und beweisen, warum die Pflichtverletzung ausnahmsweise nicht auf Fahrlässigkeit beruht. Bei der sekundären Darlegungs- und Beweislast muss der Kläger zunächst nur Umstände darlegen, die die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens eines Tatbestandsmerkmals begründen. Gelingt dem Kläger das, muss der Beklagte darlegen, warum das Tatbestandsmerkmal nicht vorliegt.2 Trotz dieser Erleichterung bleibt der Kläger natürlich im Ausgangspunkt in einer schwierigen Situation, weil er eben die Darlegungs- und Beweislast hat. Das System verhindert indes substanzlose und nur auf Verdacht erhobene Klagen. Gleichzeitig wird auch der Anspruchsgegner belastet, denn dieser muss ein günstiges Verteidigungsvorbringen – etwa die Erfüllung des Anspruchs oder eine Aufrechnung – seinerseits darlegen und beweisen. Grüneberg, in: Palandt BGB, 79. Aufl. 2020, § 280 Rn. 40. Vgl. dazu etwa BGH, NJW 2012, 3774, 3775; Greger, in: Zöller ZPO, 32. Aufl. 2018, vor § 284 Rn. 34. 1 2

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Beide Systeme funktionieren, manchmal mehr recht als schlecht. Als im Civil Law-System groß gewordener Jurist ist man versucht, das amerikanische Rechtssystem zu verurteilen, meist aufgrund anekdotischer Beweise: Da werden dann groteske Fälle erzählt, wie eine intellektuell überforderte Jury nach einem aufgrund einer Discovery unglaublich teuren Prozess einen aus der Luft gegriffenen, immensen Schadensersatz ausgeurteilt hat. Der Common Law-Jurist hält ähnliche Geschichten über das kontinentaleuropäische Rechtssystem bereit. Er erzählt etwa gerne die Geschichte vom VWDieselskandal, der im Rechtssystem der USA innerhalb eines Jahres einer großvolumigen Bereinigung zugeführt worden ist, während er sich in Deutschland auch vier Jahre nach Ausbruch des Skandals immer noch in einer Frühphase gerichtlicher Aufarbeitung befindet. Wechselseitige Schauergeschichten und Vorwürfe führen nicht weiter. Insgesamt funktionieren beide Systeme recht gut. Angezeigt ist ein wechselseitiger Respekt gegenüber der jeweils anderen Rechtsordnung. Und gegenüber dem dort gewählten Ansatz, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Die in internationalen Schiedsgerichtsverfahren vorherrschende Praxis, eine Document Production nach Maßgabe der IBA Rules durchzuführen, strebt einen Kompromiss zwischen den beiden skizzierten Ansätzen an. Hat man zwei völlig verschiedene Systeme, ist ein Kompromiss – also eine wechselseitige Annäherung oder Vermischung – indes nicht immer eine gute Idee. Niemand käme auf den Gedanken, bei einem Abendessen den Zitronenpudding mit der Tomatensuppe zu vermischen, um einen Kompromiss zwischen dem Nachtischenthusiasten und dem Suppenliebhaber zu ermöglichen – obwohl doch beide die Lust an der Kulinarik eint. Warum (ver)mischt man dann Rechtsfiguren aus verschiedenen Rechtssystemen so diskussionslos bei der Beweisaufnahme in Schiedsverfahren? Jedenfalls ist ein Kompromiss nur dort sinnvoll, wo überhaupt die beiden unterschiedlichen Rechtssysteme aus Sicht der Streitparteien involviert sind: Sitzen nur Nachtischliebhaber am Tisch, rührt man in den Zitronenpudding auf gar keinen Fall Tomatensuppe! Allerdings geht die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in letzter Zeit in diese Richtung und wendet die Document Production nach Maßgabe der IBA Rules undifferenziert an, unabhängig von den Streitparteien. Nur ganz vorsichtig regt sich hier Widerstand, etwa über die als Konkurrenzmodell verabschiedeten Prague Rules,3 die aber noch keine weite Verbreitung gefunden haben.

3 Dazu Rombach/Shalbanava, The Prague Rules: A New Era of Procedure in Arbitration or Much Ado about Nothing?, SchiedsVZ 2019, 53 ff.; Henriques, The Prague Rules: Competitor, Alternative or Addition to the IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration?, ASA Bulletin 2018, Vol. 36, Issue 2, S. 351 ff.; Berger, Common Law vs. Civil Law in International Arbitration: The Beginning or the End?, Journal of International Arbitration 2019, Vol. 36, Issue 3, S. 295 ff.

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III. Akademisch betrachtet: Rechtsgrundlagen für die Document Production Warum, also auf welcher Rechtsgrundlage, kommt es in Schiedsgerichtsverfahren eigentlich zur Document Production? Man hat sich an diese Prozessfigur so gewöhnt, dass deren rechtliche Begründung kaum noch hinterfragt wird. Dies sei hier nachgeholt: 1. Weder gesetzliche Anordnung noch Parteivereinbarung Das Schiedsgericht muss das zwingende Schiedsverfahrensrecht beachten, das am Ort des Schiedsgerichtsverfahrens gilt.4 Kein modernes Schiedsverfahrensrecht enthält Aussagen dazu, dass zwingend oder auch nur im Regelfall eine Document Production durchzuführen ist.5 Und da das Schiedsverfahrensrecht unabhängig vom Zivilprozessrecht am Schiedsort besteht,6 kann die Document Production auch nicht über eine Analogie zum lokalen Zivilprozessrecht für anwendbar erklärt werden. Kurz: Das zwingende Gesetzesrecht erlaubt keine Aussage dazu, ob oder ob nicht eine Document Production in einem Schiedsgerichtsverfahren durchgeführt werden muss. Der nächste Blick gilt der Parteivereinbarung, die in Abwesenheit zwingenden Gesetzesrechts Vorgaben für die Durchführung eines Schiedsverfahrens macht.7 Nur wenige Schiedsvereinbarungen enthalten heute die Abrede der Parteien, dass das Beweisverfahren nach den IBA Rules durchzuführen ist, was dann notwendig auch die dort vorgesehene Document Production umfasst. Genauso selten findet sich ein Ausschluss der Document Production. In aller Regel schweigt die Parteivereinbarung zu Fragen der Beweisaufnahme, jedenfalls zunächst. Die Parteivereinbarung zur Beweisaufnahme und zur Document Production fehlt nur zunächst, denn im Laufe des Verfahrens wird eine solche Vereinbarung bisweilen nachgeholt. Das gilt insbesondere dort, wo die vereinbarte Schiedsordnung die Vereinbarung eines schriftlichen Schiedsauftrags oder von Terms of Reference vorsieht. Bekanntestes Beispiel hierfür ist si4 Im deutschen Recht ergibt sich dies aus § 1025 ZPO; allgemein gehalten bei Redfern, Redfern and Hunter on International Arbitration, 6. Aufl. 2015, Kapitel 3, S. 176. 5 Born, International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, Kapitel 16, S. 2324 ff.; vgl. auch das UNCITRAL Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, das keine entsprechenden Regelungen enthält und an dem sich die meisten Schiedsordnungen orientieren. 6 Für das deutsche Recht: Münch, in: MüKo ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1042 Rn. 93 und § 1025 Rn. 13; Berger, Herausforderungen für die (deutsche) Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2009, 289, 294. 7 Born, International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, Kapitel 15, S. 2130 ff.; für das deutsche Recht: Sänger, ZPO, 8. Aufl. 2019, § 1042 Rn. 14.

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cher die Schiedsverfahrensordnung der ICC.8 Hier moderieren manche Schiedsrichter über den Pflichtinhalt von solchen Terms of Reference hinaus Vereinbarungen zum Verfahrensablauf hinein, und dazu gehört oft eine Beweisaufnahme nach den IBA Rules. Unterschreiben die Parteien die Terms of Reference, stellt die darin dokumentierte Einigung auf die IBA Rules und die dort vorgesehene Document Production die Rechtslage immerhin klar. Was die Parteien vereinbart haben, gilt. Ob die Parteien und insbesondere das Schiedsgericht sich mit einer solchen Vereinbarung einen Gefallen tun, sei hier dahingestellt. Vorsicht ist geboten, weil die schiedsgerichtliche Abweichung von einer Parteivereinbarung unmöglich ist und im Regelfall sogar einen Aufhebungsgrund für einen Schiedsspruch darstellt.9 Das Schiedsgericht und die Parteien nehmen sich also Flexibilität, wenn sie in den Terms of Reference eine Document Production nach den IBA Rules festschreiben. 2. Tatsächliche Rechtsgrundlage: Ermessen des Schiedsgerichts Die bei weitem häufigste Rechtsgrundlage für die Durchführung einer Document Production in Schiedsgerichtsverfahren ist – das mag überraschen – das Ermessen des Schiedsgerichts. Denn fehlt eine zwingende gesetzliche Anordnung ebenso wie eine Parteivereinbarung, führt das Schiedsgericht das Verfahren nach seinem Ermessen. So sieht es als Auffanglösung nahezu jedes nationale Schiedsrecht vor.10 Und so steht es auch in fast allen Schiedsgerichtsordnungen.11 Beispielhaft sei Art. 21.3 DIS-SchO zitiert; danach „bestimmt das Schiedsgericht das Verfahren nach Anhörung der Parteien nach seinem Ermessen“. Die Geltungskraft dieser Ermächtigungsnorm geht rechtstechnisch über die Referenzierung in der Schiedsklausel auf eine Parteivereinbarung zurück,12 auch wenn die Parteien sich bei Vertragsschluss damit kaum beschäftigt haben werden. Fest steht jeweils: Die Parteien haben die Entscheidung über die Art und Weise des Verfahrens und damit auch über die Beweisaufnahme an das Schiedsgericht delegiert. Und das Schiedsgericht darf dann eben nach eigenem Ermessen entscheiden. Eine Entscheidung nach Ermessen ist keine beliebige, sondern – jedenfalls nach deutschem Rechtsverständnis – eine durch Ermessensgrenzen gebundene Entscheidung. Fraglich ist, welche Aspekte das Schiedsgericht in seine 8

Art. 23 ICC Rules (2017). So etwa in dem Verfahren der Gea Group AG vs. Flex-N-Gate, OLG Frankfurt, SchiedsVZ 2013, 49. 10 Born, International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, Kapitel 15, S. 2146 ff. 11 Born, International Commercial Arbitration, 2. Aufl. 2014, Kapitel 15, S. 2149 ff.; am Beispiel der DIS und ICC bei Trittmann, in: Festschrift für Siegfried H. Elsing zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 2015, S. 597 f. 12 Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rn. 416 ff. 9

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Ermessensentscheidung einstellen sollte. Dieser Punkt wird bei der Anordnung der Document Production gemeinhin ignoriert. Schiedsgerichte machen sich darüber meist keine Gedanken. Relevant dürften folgende Eckpunkte sein: a) Mutmaßlicher Wille der Parteien Schiedsvereinbarungen der Parteien treffen in aller Regel keine Aussage zur Art und Weise der Beweisaufnahme. Damit liegt regelmäßig aber keine Lücke in der Parteivereinbarung vor, die durch Auslegung zu füllen wäre. Denn durch die Vereinbarung einer Schiedsgerichtsordnung haben die Parteien die Entscheidung an das Schiedsgericht delegiert, das darüber eben nach seinem Ermessen befindet. Gleichwohl ist es für das Schiedsgericht vernünftig, sich bei der Ermessensausübung am mutmaßlichen Parteiwillen zu orientieren. Die Gegenprobe macht das deutlich: Eine Verfahrensführung gegen den mutmaßlichen Parteiwillen entspricht kaum der Dienstleistung, die Schiedsrichter erbringen sollten. Was aber ist der ermessensrelevante Parteiwille? Hand auf's Herz: In den meisten Fällen haben sich die Parteien keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie die Beweisaufnahme in ihrem Schiedsgerichtsverfahren erfolgen soll. Ein tatsächlicher Parteiwille existiert mithin nicht und lässt sich nicht feststellen. Zurückgegriffen werden muss auf den mutmaßlichen Parteiwillen.13 Und hier gilt dann Folgendes: Wenn beide Parteien aus einer Civil Law-Jurisdiktion kommen, etwa aus Deutschland und Spanien, kannten sie im Zweifel die Prozessfigur der Discovery gar nicht – und haben diese dann wohl kaum mutmaßlich gewollt. Verstärkt wird diese Sichtweise noch, wenn auch das anwendbare Sachrecht und der vereinbarte Schiedsort keinen Bezug zum angloamerikanischen Rechtskreis aufweisen. Es braucht dann schon sehr gute Gründe, warum ein Schiedsgericht gleichwohl – also gegen den mutmaßlichen Parteiwillen – eine Document Production in Ausübung seines prozessleitenden Ermessens anordnen sollte. Anders sieht die Sache aus, wenn an einem Rechtsstreit eine Partei aus einer Civil Law-Jurisdiktion und eine Partei aus dem angloamerikanischen Rechtskreis beteiligt ist. Hier werden die Parteien vermutlich unausgesprochen erwartet haben, dass das Schiedsgerichtsverfahren „so ähnlich wie ein Zivilprozess im Heimatland“ ablaufen wird. Beiden Erwartungshaltungen kann das Schiedsgericht bei Ausübung seines prozessleitenden Ermessens nicht gerecht werden. In diesen Fällen legt der mutmaßliche Parteiwille nahe, dass als Kompromisslösung eine – immerhin begrenzte – Document Production nach den Vorgaben der IBA Rules ausgewogen ist und die Parteien gleich behandelt. Ob eine solche Mischlösung immer glücklich ist und 13 Zur ergänzenden Vertragsauslegung von Schiedsvereinbarungen: BGH, NJW 1994, 1008; 2011, 2977.

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den Parteien sowohl schmeckt als auch bekommt – man denke an Zitronenpudding mit Tomatensoße – sei zunächst dahingestellt. b) Anwendbares Sachrecht und Beweislastregeln Ein zweiter Punkt, den ein Schiedsgericht bei seiner Ermessensentscheidung berücksichtigen sollte, ist das anwendbare Sachrecht und sein Zusammenspiel mit nationalen Beweisregeln. Denn im Normalfall besteht ein gewisser Konnex zwischen dem Sachrecht und den Beweisregeln im Heimatland des Sachrechts. Verändert man das eine ohne das andere, kommt es schnell zu Unstimmigkeiten. Zwei zunächst fiktive Beispiele: Im Sachrecht des Landes Alpha mag eine Rechtsnorm das Tatbestandsmerkmal „festgestellter Compliance-Verstoß innerhalb der letzten drei Jahre“ enthalten, weil dieser Verstoß im Land Alpha ganz leicht bewiesen werden kann, nämlich über den Antrag auf Einsichtnahme des Gerichts in ein öffentliches Register. Greift ein Schiedsgericht jetzt auf ein anderes Beweisrecht zurück, macht das den Nachweis vielleicht unmöglich. Der Gesetzgeber im Land Alpha hatte aber Tatbestandsmerkmal und Beweisbarkeit als Einheit gedacht, als er die Rechtsnorm formulierte. Was nun? Und natürlich ist auch der umgekehrte Fall denkbar: Allein weil sich das Tatbestandsmerkmal „wider besseres Wissen“ nach nationalen Beweisregeln so schwer beweisen lässt, hat der Gesetzgeber des Landes Alpha nach langer Diskussion auf dieses Tatbestandsmerkmal in einer Anspruchsnorm verzichtet. Jetzt bekommt man durch Verlagerung des Prozesses in die USA über die dortige Discovery vollen Einblick in relevante Unterlagen der Gegenseite und kann prüfen, ob die Gegenseite den fraglichen Umstand kannte oder nicht. Dem Willen des Gesetzgebers würde es entsprechen, jetzt die Anspruchsvoraussetzung „wider besseres Wissen“ zu reaktivieren. Rechtskonstruktiv geht das natürlich nicht. Die so fiktiv skizzierte Problemlage stellt sich in Schiedsgerichtsverfahren tatsächlich – und das hat viel mit dem Wombat „Document Production“ zu tun. Weil es in Deutschland keine Document Production und damit keinen Anspruch auf quasi freien Informationszugang für die Parteien gibt, enthält das deutsche Recht Beweiserleichterungen für die zunächst beweisbelastete Partei. Wird jetzt im Schiedsgerichtsverfahren doch der freie Informationszugang über eine Document Production gewährt, fällt der Grund für die Beweiserleichterung weg. Dem kann ein Schiedsgericht – theoretisch – Rechnung tragen, wenn die entsprechende Beweislastregel zum inländischen Prozessrecht gehört. Denn das Prozessrecht für staatliche Gerichtsverfahren muss das Schiedsgericht nicht beachten. Viel schwieriger wird die Rechtslage indes, wenn die Beweisregel nicht zum Prozessrecht, sondern zum anwendbaren Sachrecht gehört. Denn das von den Parteien regelmäßig in einer

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Rechtswahlklausel bestimmte Sachrecht muss das Schiedsgericht beachten, darf es also nicht ignorieren.14 Das wiederum kann zu einer Kollision mit den Prozessregeln ausländischen Ursprungs führen, die das Schiedsgericht in Ausübung seines Ermessens bestimmt hat. Ein Beispiel: Im deutschen Sachrecht wird bei Vorliegen einer Pflichtverletzung Fahrlässigkeit oder Vorsatz vermutet; das Verschulden muss vom Kläger also nicht nachgewiesen werden.15 Deshalb braucht der Kläger keinen Zugang zu den Informationen auf der Beklagtenseite, die ihm möglicherweise Aufschluss über fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln geben könnten. Erhält der Kläger jetzt aber über eine Document Production Informationszugang zu Dokumenten der Beklagtenseite, müsste die Privilegierung über die Beweislastumkehr an sich wegfallen. Das kann sie aber nicht, weil sie Bestandteil des unverzichtbaren Sachrechts ist. Soll der Kläger jetzt doppelt geschützt werden, indem er sich sowohl auf die Beweislastumkehr als auch auf Informationen berufen kann, die er nur im Rahmen der Document Production erlangen konnte? Oder muss man sagen, dass die Document Production hier faktisch die im deutschen Sachrecht vorgesehene Beweisverteilung aushebelt mit der Folge einer Missachtung des deutschen Sachrechts? Wäre die Aufhebung des Schiedsspruchs eine denkbare Konsequenz? Diesen Fragen wird viel zu wenig nachgegangen;16 abwegig sind sie jedenfalls nicht. Im Zweifel sollte ein Schiedsgericht daher mutmaßen, dass das von den Parteien bewusst gewählte Sachrecht mit den Prozessvorstellungen harmonieren sollte, die in dem Land des Sachrechts gelten. Ein radikales Abweichen von diesen prozessualen Linien beschwört einen Konflikt mit dem anwendbaren Sachrecht herauf. Konsequenz: Es liegt nahe, in Ausübung des prozessleitenden Ermessens keine Document Production anzuordnen, wo das anwendbare Sachrecht dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis angehört. Beweisproblemen wird dort regelmäßig mit Beweislastregeln begegnet, nicht aber – wie im angloamerikanischen Recht – mit einem erhöhten Informationszugang. c) Parteiseitige Zielvorgabe: schnell und preiswert Die Ausübung von Ermessen sollte immer am Zweck der Ermächtigungsnorm ausgerichtet sein.17 Nahezu alle Schiedsordnungen enthalten inzwischen die Zielbestimmung für das Schiedsgericht, das Verfahren so zügig So ausdrücklich in § 1051 Abs. 1, S. 1 ZPO. Diese Verschuldensvermutung folgt aus § 280 Abs. 1, S. 2 BGB. 16 Trittmann, in: Festschrift für Siegfried H. Elsing zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 2015, S. 582 f., spricht diese Frage immerhin an, ohne aber eine Lösung vorzuschlagen. 17 Ein Grundsatz, der vor allem in Verwaltungsverfahren ausdrücklich hervorgehoben wird, vgl. § 40 VwVfG; ebenso ist das Ermessen an den Erwartungen der Parteien auszurichten, Wilske/Markert, in: BeckOK ZPO, 34. Ed. 2019, § 1042 Rn. 24. 14 15

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und kosteneffizient wie möglich zu führen.18 Beispielhaft sei hier Art. 22 Abs. 1 der ICC-SchiedsO zitiert: „The arbitral tribunal and the parties shall make every effort to conduct the arbitration in an expeditious and costeffective manner …“ sowie Artikel 27.1 der DIS-SchiedsO: „Das Schiedsgericht und die Parteien sollen das Schiedsverfahren unter Berücksichtigung der Komplexität und der wirtschaftlichen Bedeutung des Falles effizient führen.“ Man kann über die Document Production nun viel sagen, aber nicht, dass sie zur Verfahrensbeschleunigung und zur Kostenersparnis beiträgt. Regelmäßig wird die Document Production inzwischen in einem zusätzlichen, eigenständigen Verfahrensabschnitt durchgeführt, der das Schiedsverfahren entsprechend verlängert. Und die Document Production ist immer teuer, bisweilen sogar unglaublich teuer. Die Anordnung der Document Production steht also zu den Verfahrenszielen im Widerspruch, die dem Schiedsgericht parteiseitig – die Schiedsordnung ist Teil der Parteivereinbarung – vorgegeben worden sind. Natürlich soll das Schiedsgericht am Ende auch richtig und der Rechtslage entsprechend entscheiden. Die Frage ist nur, ob die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Entscheidung ausreichend erhöht wird, um den Zeit- und Kostenaufwand einer Document Production zu rechtfertigen. Fakt ist jedenfalls, dass kaum ein Schiedsgericht diese Abwägung von Verfahrenszielen überhaupt vornimmt, bevor die Document Production angeordnet wird. Und Fakt ist auch, dass es keine statistischen Daten dazu gibt, wie „teuer“ eine Document Production im Durchschnitt ist oder mit welcher Wahrscheinlichkeit durch diese Prozessfigur entscheidende Beweismittel zutage gefördert werden. Und deshalb wird von Schiedsgerichten dann doch meist auf das folgende Kriterium zurückgegriffen: d) Bekannt und bewährt Der häufigste – und inhaltlich schwächste – Grund, warum Schiedsgerichte in Ausübung ihres prozessleitenden Ermessens eine Document Production unter Geltung der IBA Rules anordnen, ist schlicht folgender: Weil das andere Schiedsgerichte auch so machen. „Bekannt und bewährt“ ist das Argument. Ganz von der Hand zu weisen ist dieses Argument nicht: Denn warum soll es ermessensfehlerhaft sein, wenn ein Schiedsgericht ein Verfahren so ausgestaltet, wie es in der Mehrheit von internationalen Schiedsgerichtsverfahren inzwischen der Fall ist? Hier hat eine langjährige – in der Sache undifferenzierte, und häufig auch falsche – Praxis faktisch eine Art Legitimation geschaffen. Und immerhin lässt sich für diese Theorie anführen, dass die Parteien, hätten sie sich über internationale Schiedsgerichtsverfahren in18 Beispielsweise Art. 27 DIS-SchO (2018), Art. 13.1 HKIAC Rules (2018), Art. 14.4 (ii) LCIA Arbitration Rules (2014), Art. 2, Abs. 1 SCC Arbitration Rules (2017), Art. 19.3 SIAC Rules (2016) und Art. 28 Abs. 1 VIAC Rules (2018).

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formiert, gewusst hätten, dass sie dort ziemlich oft mit einer Document Production nach den IBA Rules konfrontiert werden. Nur lässt die weit verbreitete Übung logisch keinen Rückschluss darauf zu, dass sie auch inhaltlich richtig ist. Hier ist schlicht das psychologische Phänomen des „Social Proof“ am Werk. Danach finden Menschen intuitiv das richtig, was alle anderen tun und richtig finden.19 Sarkastisch auf den Punkt gebracht hat dies der amerikanische Starjournalist Walter Lippmann: „Wo alle das Gleiche denken, denkt keiner viel“. Immerhin ist diese Begründung „bekannt und bewährt“ aber so tragfähig, dass sie sich gegen die drei vorgenannten Argumente durchsetzen kann und dies in der Praxis (viel zu) oft auch tut. Das wird sich so lange kaum ändern, wie sich – etwa über die Prague Rules – kein Konkurrenzmodell durchsetzt, das eine gleichwertige Verfahrensgestaltung ohne Document Production vorsieht. 3. Zwischenergebnis: Appell an’s selber Denken! Die Anordnung einer Document Production hat ihre Rechtsgrundlage regelmäßig im prozessleitenden Ermessen, das dem Schiedsgericht im anwendbaren Schiedsrecht oder in der gewählten Schiedsverfahrensordnung zugebilligt wird. Das Schiedsgericht muss sein Ermessen sachgerecht ausüben, darf also nicht willkürlich entscheiden. Berücksichtigen sollte das Schiedsgericht Parteierwartungen an das Schiedsgerichtsverfahren. Diese Parteierwartungen orientieren sich regelmäßig an Zivilprozessen der Heimatländer der Parteien. Gibt es in Zivilprozessen in den Heimatländern beider Parteien keine Document Production, spricht viel dafür, dass das Schiedsgericht von einer Document Production endgültig absehen sollte. Kennt keiner Zitronenpudding, warum sollte das Schiedsgericht diesen dann als optimales Verfahrensmenü anordnen? Das gilt umso mehr, wenn auch das von den Parteien gewählte anwendbare Sachrecht in einem Land verortet ist, wo der Zivilprozess keine Document Production kennt. Denn das Sachrecht ist meist auf das Beweisrecht abgestimmt. Es sollte dann nicht von aus fremden Rechtsordnungen stammenden Beweisregeln wie der Document Production beeinflusst werden. Nur dort, wo die Parteien aus unterschiedlichen Rechtskreisen kommen, mag dies anders sein. Gibt es in dem einen Herkunftsland die Dokumentenvorlage als Prozessrechtsfigur und in dem anderen nicht, bietet sich eine begrenzte Document Production nach den Regeln der eigens dafür entworfenen IBA Rules an. Schließlich sollte das Schiedsgericht bei der Entscheidung für oder gegen eine Document Production auch eine Abwägung treffen, ob der sichere Zeit- und Kostenaufwand einer Document Production durch den unsicheren Ertrag einer 19 Der Begriff „Social Proof“ wurde ursprünglich von Robert Cialdini in seinem 1984 erschienenen Buch „Influence: The Psychology of Persuasion“ geprägt.

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womöglich besseren Entscheidungsgrundlage kompensiert wird. Diese Abwägung unterbleibt fast immer. Viele Schiedsgerichte greifen in internationalen Schiedsverfahren dagegen ohne großes Nachdenken unter dem Gesichtspunkt „bekannt und bewährt“ auf eine Document Production nach Maßgabe der IBA Rules zurück. Das ist häufig unbedacht und ignoriert einen der wesentlichen Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit, nämlich Verfahren nicht schematisch auszugestalten, sondern konkret nach den Bedürfnissen der Parteien. Was bleibt ist ein Appell an die Schiedsrichter: Selber denken, nicht blind den vermeintlichen „Gold-Standard“ IBA-Rules kopieren!

IV. Praktisch betrachtet: Document Production als Wombat Nach der akademischen Betrachtung lohnt ein praktischer Blick auf die Document Production in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Angesichts der Bedeutung dieses Rechtsinstituts ist es bestürzend, dass es – soweit ersichtlich – keine Untersuchung der Kosten/Nutzen-Relation gibt: Welche Kosten verursacht eine Document Production und korrespondiert damit ein Nutzen, der diese Kosten rechtfertigt? Was letztlich passiert, ist, dass ohne jede Kosten/Nutzen-Analyse ein Rechtsinstitut standardmäßig in Schiedsgerichtsverfahren implementiert wird. Deshalb sind die nachfolgenden Ausführungen notwendig subjektiver und bisweilen auch anekdotischer Natur. 1. Document Production ist teuer – oft absurd teuer! Zunächst einmal ist die Durchführung einer Document Production in internationalen Schiedsgerichtsverfahren teuer, oft absurd teuer. Das fängt schon damit an, dass in den meisten Ablaufplänen inzwischen ein eigenständiger Verfahrensabschnitt für die Durchführung der Document Production reserviert wird, zeitlich meist verortet nach der ersten Schriftsatzrunde. Da werden die Dokumentenvorlageanträge dann formalmäßig in einem so genannten Redfern Schedule20 erfasst. Dort werden sie im ersten Schritt auf20 Der Redfern Schedule ist eine Tabelle, die zur Vereinfachung der Organisation von Dokumentenvorlagen im Schiedsverfahren genutzt wird. In der ersten Spalte finden sich die Anträge (Document Requests), die in der zweiten Spalte hinsichtlich ihrer Relevanz und Wesentlichkeit begründet werden. In der dritten Spalte werden die Einwände der Gegenseite gegen die Anträge vermerkt, und eine anschließende Spalte erfasst die auf diese Einwände folgende Erwiderung des Antragstellers. In der letzten Spalte findet sich dann die Entscheidung des Schiedsgerichts über die jeweiligen Anträge. Diese Tabelle wurde von ihrem Namensgeber Alan Redfern, einem der weltweit renommiertesten Schiedsgelehrten und Schiedsrichter, konzipiert. Durch sie soll die Document Production auf die für den Fall jeder Partei kritischen Dokumente beschränkt werden, um Kosten und Verzögerungen zu vermeiden, die mit einer Discovery des Common Law verbunden sind. Näher

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wändig begründet. Sodann hat die Gegenseite Gelegenheit, zu jedem einzelnen Dokumentenvorlageantrag Stellung zu nehmen und auszuführen, warum der Antrag unzulässig oder unbegründet ist. Meist wird dann vorgesehen, dass die antragstellende Partei noch einmal zu den Einwendungen der Gegenseite Stellung nehmen darf. Und schließlich entscheidet im letzten Schritt das Schiedsgericht, regelmäßig indem es seine Entscheidung in die letzte Spalte des Redfern Schedules einfügt. Faktisch kommt es hier also zu einer eigenständigen Schriftsatzrunde. Allzu oft fehlt den Anträgen jede Fokussierung auf Punkte, die nach der Anspruchsgrundlage entscheidungsrelevant sein könnten. Stattdessen findet sich eine Ansammlung von Anträgen auf Vorlage aller nur denkbaren möglichen Dokumente, die günstigstenfalls für eine Partei nützlich sein könnten. In Anwaltskanzleien, die als Counsel tätig sind, werden hier bisweilen Brainstorming-Sitzungen im Anwaltsteam durchgeführt, um eine möglichst große Anzahl von Dokumentenvorlageanträgen zu generieren. Insofern ist das Ausfüllen des Redfern Schedules kein untergeordnetes Zwischenverfahren, sondern führt zu einem erheblichen zeitlichen und auch kostenmäßigen Aufwand. Der Aufwand setzt sich dann auf der Schiedsrichterseite fort, wenn das Schiedsgericht unter Abwägung der jeweiligen Argumentation über 50, 80 oder sogar 100 Vorlageanträge entscheiden muss, meist versehen mit einer kurzen Begründung. Und hier wieder, Hand auf's Herz: Natürlich ist es für ein Schiedsgericht leichter, einem Dokumentenvorlageantrag stattzugeben. Die Rüge „Verweigerung rechtlichen Gehörs“ ist dann immerhin kein Problem des Schiedsgerichts mehr. Im Zweifel werden Anträge daher eher zugesprochen als abgelehnt. Die eigentlichen Kosten der Document Production entstehen, nachdem ein Schiedsgericht einzelne Anträge bewilligt und insoweit die Dokumentenvorlage angeordnet hat. Im ersten Schritt muss das Unternehmen dann die mit dem Antrag korrespondierenden Dokumente lokalisieren. Die wenigsten Unternehmen verfügen hier über ein professionelles und digitalisiertes Dokumentenmanagement, wo sich über wenige Mausklicks alle relevanten Dokumente und E-Mails herausfiltern lassen. Der durch die Einzelsuche entstehende Aufwand ist enorm. Im Anschluss daran müssen die im ersten Schritt gefundenen Dokumente intensiv daraufhin geprüft werden, ob sie tatsächlich mit dem Vorlageantrag korrespondieren. Und, wenn ja, gibt es vielleicht einen Grund dafür, das Dokument doch zurückzuhalten, etwa weil es einem qualifizierten Anwaltsgeheimnis unterliegt? Oder jedenfalls einzelne Passagen zu schwärzen, etwa weil hier Geschäftsgeheimnisse dokumentiert sind oder die Informationen aus kartellrechtlichen Gründen der anderen Seite gar nicht zugänglich gemacht werden dürfen? Die entsprehierzu: Luttrell/Harris, Reinventing the Redfern, Journal of International Arbitration 2016, Vol. 3, Issue 4, S. 353–364.

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chende Durchsicht und rechtliche Einordnung der Dokumente ist eine Mammutaufgabe. Schiedsrichtern, die nie als Schiedsanwalt auf Parteiseite gearbeitet haben, ist der so entstehende Aufwand oft nicht ansatzweise klar! Und schließlich müssen – im dritten Schritt – auch auf der Empfängerseite alle vorgelegten Dokumente sorgfältig durchgesehen werden. Welche aus den mehreren tausend vorgelegten E-Mails ist für den Fall womöglich relevant? Wie lässt sich die Information in den nächsten Schriftsatz einbauen? Die so insgesamt verursachten Kosten sind immer hoch, bisweilen sind sie exorbitant. 2. Fairplay gilt nicht immer und das WYSIATI-Phänomen Richtig ist, dass insbesondere amerikanische Juristen nie auch nur auf die Idee kämen, ein vorlagepflichtiges Dokument zurückzuhalten. Nach dem Recht einiger amerikanischer Staaten wäre dies sogar ein schweres Vergehen,21 und auch ethisch ist es in der DNA amerikanischer Juristen festgeschrieben, dass hier Fairplay verlangt ist und tatsächlich beachtet wird. Aber, das sei ganz nüchtern gesagt, diese Haltung findet man natürlich nicht überall auf der Welt. Immer wieder etwa kommt es vor, dass schon im Redfern Schedule zu einem Dokumentenvorlageantrag offensichtlich wahrheitswidrig ausgeführt wird, entsprechende Dokumente gebe es nicht. Da sollen also etwa Vorstandssitzungen von größeren Unternehmen nicht protokolliert worden sein, einen Geschäftsplan für das im Zentrum des Schiedsverfahrens stehende Produkt gebe es nicht verschriftlicht, und auch ein Finanzierungskonzept oder gar eine Urkalkulation für das streitgegenständliche Infrastrukturprojekt sei nie zu Papier gebracht worden. Ach wirklich? Das kann man glauben oder auch nicht. Nachweisen lässt sich die unwahre Aussage kaum. Und im Übrigen dürfte es auch immer wieder vorkommen, dass tatsächlich aufgefundene Dokumente, die eigentlich vorgelegt werden müssten, plötzlich verschwinden, wenn sich bei der Einzeldurchsicht herausstellt, dass der Inhalt des Dokuments doch zu schädlich für die eigene Seite ist. „Honi soit qui mal y pense“,22 steht auf dem von der englischen Königin verliehenen Hosenbandorden. Der Satz gilt auch für viele Aussagen und Handlungen im Zusammenhang mit einer Document Production. Und dann gibt es noch die Parteien, die immerhin semi-fair spielen, indem sie die angeordnete Dokumentenvorlage offen verweigern. Der Verfahrensverstoß ist dann klar, die Konsequenzen sind es nicht. 21 Sogenannte „Spoliation of Evidence“, d. h. das vorsätzliche, rücksichtslose oder fahrlässige Zurückhalten, Verstecken, Manipulieren oder Vernichten von Beweisen, die für ein Gerichtsverfahren relevant sind, vgl. https://www.mwl-law.com/wp-content/uploads/ 2018/02/SPOLIATION-OF-EVIDENCE-CHART.pdf. 22 Wörtlich: Beschämt sei, wer schlecht darüber denkt; vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Honi_soit_qui_mal_y_pense.

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In allen genannten Fällen führt die Verletzung der Vorlageanordnung dazu, dass ein Dokument nicht vorgelegt wird. Nur wenn die Verletzung festgestellt wird, kann sie auch sanktioniert werden. Die IBA Rules sehen dafür eine ziemlich weich formulierte Konsequenz vor. Danach darf (!) das Schiedsgericht schlussfolgern, dass das Dokument für die verletzende Partei nachteilig wäre (Art. 9.5 IBA Rules). Im Extremfall darf das Schiedsgericht unterstellen, dass das zurückgehaltene Dokument genau den Vortrag der Gegenseite bewiesen hätte. Aber: Das passiert (fast) nie! In über 20 Jahren als Parteivertreter und als Schiedsrichter hat der Autor noch nicht beobachtet, dass ein Schiedsurteil auf eine solche „negative inference“ gestützt wurde. Schuld an diesem ernüchternden Befund ist vermutlich ein psychologisches Phänomen, das der Nobelpreisträger Daniel Kahneman als „WYSIATI“ bezeichnet.23 WYSIATI steht als Akronym für „what you see is all there is“, also etwa „nur was du siehst, gibt es auch“. Angewandt auf Schiedsgerichtsverfahren: Der Mensch (also auch der Schiedsrichter) stellt in seine Entscheidung regelmäßig nur das ein, was er gesehen hat, nicht aber, was ihm vorenthalten worden ist. Psychologisch fällt es uns unglaublich schwer, etwas Nichtexistentes in einer Entscheidung zu berücksichtigen. Und das sieht man dann auch in den Schiedssprüchen: Nie wird eine Entscheidung darauf gestützt, dass einem Vorlageantrag nicht nachgekommen worden ist.24 Bestenfalls – und auch das ist selten – wird in der Kostenentscheidung der Verfahrensverstoß sanktioniert. Sieht so eine prozessuale Waffengleichheit mit der sich konform verhaltenden Partei aus? Und wenn nein, was sagt das zur Missbrauchsanfälligkeit der so beliebt gewordenen Document Production aus? 3. Ergebnis der Dokumentenvorlage fast immer irrelevant Werden dann die Dokumente in der Document Production ausgetauscht, ist der Befund oft ernüchternd. Fast nie kommt es zur Vorlage einer echten „Smoking Gun“, die sich letztlich streitentscheidend auf den Ausgang des Verfahrens auswirkt. Meist dürfte es eine solche Smoking Gun tatsächlich nicht geben, in anderen Fällen mag das entsprechende Dokument aber auch schlicht unterdrückt worden sein. Spricht man auf internationalen Konferenzen rund um die Schiedsgerichtsbarkeit mit Berufskollegen, findet sich kaum jemals ein Schiedsrichter oder Anwalt, der eine Anekdote dazu erzählen kann, wie ein aufgefundenes Dokument für die Rechtsfindung entscheidend war. Was man stattdessen landauf landab hört, sind Beschwerden über den 23

Kahneman, Thinking, Fast and Slow, S. 85 ff. In aller Fairness: Es mag sein, dass manche Schiedsgerichte die Verweigerungshaltung und deren Relevanz positiv erkennen und auch würdigen, und dann nur eine weniger riskante Begründung als die „negative inference“ wählen, um gegen die entsprechende Partei zu entscheiden. 24

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Zeit- und Kostenaufwand, der mit einer Document Production verbunden ist, auch für das Schiedsgericht. Aber davon war ja oben schon die Rede … Dass die Ergebnisse einer Document Production für den Ausgang von Schiedsgerichtsverfahren nahezu immer irrelevant sind, ist hier nur eine subjektive Behauptung, gestützt auf eigene Erfahrungen und etliche Gespräche mit deutschen und internationalen Schiedsrechtlern. Wo jede aussagekräftige Untersuchung oder gar Statistik zum Wert einer Document Production in Schiedsgerichtsverfahren fehlt, bleibt aber nichts Anderes übrig, als eben auf diesen subjektiven Erfahrungen und geführten Gesprächen aufzubauen. Und hier ist der Befund sonnenklar: Document Production bringt in aller Regel nichts. 4. Konsequenz: Verärgerte Kunden der Schiedsgerichtsbarkeit Das Ergebnis fast jeder Document Production ist also ein enormer Zeitund Kostenaufwand bei fehlendem inhaltlichen Ertrag. Es verwundert daher nicht, dass die Streitparteien als Kunden der Schiedsgerichtsbarkeit im Nachhinein über das durchgeführte Verfahren massiv verärgert sind. Man kann es keinem Unternehmen erklären, dass mehrere 100.000 Euro in einen Dokumentenaustausch investiert worden sind, ohne dass es irgendeinen nennenswerten Ertrag gegeben hat. Die Document Production wird so rückblickend als Glasperlenspiel der Schiedsgerichtsbarkeit eingestuft, an dem Anwälte und Schiedsrichter stärker verdienen und interessiert sind als die Parteien selbst. Die Schiedsgerichtsbarkeit gerät so in Misskredit. 5. Das praktische Phänomen: doch Zustimmung zur Document Production! Wenn die praktischen Beobachtungen in Ziffern 1 bis 4 richtig sind, warum kommt es dann in Schiedsgerichtsverfahren doch immer wieder zur Document Production? Wenn beide Parteien dagegen wären, würde die Document Production unterbleiben. Wenn die Rechtsanwälte ihren Parteien nachhaltig zum Verzicht auf eine Document Production raten würden, würde die Document Production unterbleiben. Und die Document Production würde unterbleiben, wenn die Schiedsrichter von ihrem verfahrensleitenden Ermessen dergestalt Gebrauch machen würden, dass sie eine Document Production ablehnen, weil der Zeit- und Kostenaufwand mutmaßlich in keinem Verhältnis zum erwarteten Ertrag steht.25 Doch nichts von alledem passiert. Warum nicht? 25

Die Prognose kann etwa darauf gestützt werden, dass nach dem anwendbaren Recht Beweislastregeln gelten, wonach regelmäßig die Partei, die relevante Dokumente haben muss, auch die Beweislast hat. Einen Zugang der Gegenseite zu diesen Dokumenten braucht es dann nicht.

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Die enormen Kosten für die Document Production und der fehlende Ertrag stehen erst im Nachhinein fest, also ex post. Ex ante kann eine Partei aber durchaus hoffen, dass sie durch eine Document Production genau das Beweismittel erhält, das ihr zum Prozesssieg verhilft. Die Chance ist nüchtern betrachtet klein, aber das weiß die Partei ex ante eben nicht. Keine Partei will sich vorwerfen lassen oder sich auch nur selbst vorwerfen, am Ende die Chance auf einen Prozesssieg durch einen Verzicht auf eine Document Production verspielt zu haben. Hinzu kommt, dass schiedsunerfahrene Parteien – und das sind die meisten! – den tatsächlichen Aufwand für eine Document Production drastisch unterschätzen. Und so entscheidet man sich für die Document Production. Monate später steht sowohl der finanzielle Aufwand für die Document Production als auch der (regelmäßige fehlende) Ertrag fest. Nach dem Durchleiden der Document Production-Phase sind sich meist beide Parteien einig, dass es das nicht wert war. Das hilft aber nichts. Die Document Production mag vergeblich gewesen sein, umsonst war sie nicht. Was den Parteien hier helfen könnte, sind schiedserfahrene Anwälte. Sie wissen aus zurückliegenden Fällen um die Kosten und den meist fehlenden Nutzen der Document Production. Doch allzu oft unterbleibt ein entsprechender Ratschlag an die eigene Partei, ebenfalls getrieben von der Angst, so womöglich die Chance auf einen Prozesssieg zu verspielen. Da ist es für Anwälte dann doch leichter, auf Chancen und Risiken hinzuweisen und sich im Übrigen hinter der allgemeinen Praxis zu verstecken, wonach die Document Production in internationalen Schiedsgerichtsverfahren heute die Regel ist. Bei manchen Anwälten mag es schließlich durchaus eine Rolle spielen, dass sich mit der Document Production viel Geld verdienen lässt. In Kombination der obigen Faktoren kommt es regelmäßig dazu, dass zumindest eine Partei eine Document Production wünscht und dies in der Verfahrensmanagementkonferenz auch artikuliert. Stoppen könnte den Wombat jetzt nur noch ein mutiges Schiedsgericht, das diesen Vorschlag ablehnt. Dafür gibt es, wie oben gezeigt, gute Gründe. Und da das Schiedsgericht ein weites Ermessen besitzt, wie es ein Schiedsgerichtsverfahren führen darf, wäre eine entsprechende Entscheidung des Schiedsgerichts kaum angreifbar. Und doch agieren Schiedsgerichte nicht so. Der Grund dafür wurde oben schon angeführt: Die „allgemeine Übung“, wonach die Document Production heute eine ganz gängige Prozessfigur im Schiedsverfahrensrecht ist, bietet schlicht das einfachste Argumentationsschema. So lässt sich die eigene Entscheidung unkompliziert begründen. Einfache Entscheidung und wenig Aufwand – genau diese Kombination führt dann dazu, dass die Document Production nach den IBA Rules ohne großes Nachdenken angeordnet wird. Was Schiedsrichter dabei übersehen, jedenfalls weniger erfahrene, ist der große Aufwand, der auch für das Schiedsgericht später durch die Administrierung einer Document Production entsteht.

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6. Zwischenergebnis: Ein trauriger Befund Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Aus praktischer Sicht sprechen viele Gründe gegen die Durchführung einer Document Production. Sie ist zeitaufwändig, teuer und meistens nutzlos. Es ist bestürzend, dass es für diese subjektive Einschätzung keine Untersuchungen durch Schiedsorganisationen und empirische Nachweise gibt (oder auch Widerlegungen, die dann den vorliegenden Festschriftbeitrag dem Reißwolf überantworten könnten!). Und so führt eine unglückliche Mischung aus Unkenntnis und Risikoscheu der Parteien, kombiniert mit sich passiv verhaltenden Anwälten und allzu konformistischen Schiedsrichtern dazu, dass die Praxis der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist, wie sie ist: Fast immer gibt es eine Document Production, meist organisiert nach den IBA Rules. Der Wombat „Document Production“ fühlt sich in der Schiedsgerichtsbarkeit weiter pudelwohl.

V. Anwaltlich betrachtet: Gegenmaßnahmen Niemand ist dem Wombat „Document Production“ schutzlos ausgeliefert. Aus Anwaltssicht bieten sich folgende Gegenmaßnahmen an: 1. Ausschluss der Document Production in der Schiedsvereinbarung Die Schiedsklausel in Verträgen wird oft als „Champagner-Klausel“ bezeichnet, weil im Nebenraum bereits der Vertragsabschluss gefeiert wird, während die armen Vertragsjuristen noch die letzten Klauseln verhandeln müssen. Entsprechend wenig Mühe wird auf das Abfassen dieser Klauseln verwendet. Und gerade bei Schiedsklauseln ist es regelmäßig auch eine gute Idee, schlicht dem Formulierungsvorschlag einer Schiedsinstitution zu folgen. „Don't draft“ ist insoweit ein guter Ratschlag. Nachdenken sollten die Vertragsjuristen aber über einen Zusatz, die Document Production explizit auszuschließen. In Verträgen zwischen Parteien aus dem Civil Law-Rechtssystem ist eine entsprechende Einigung meist leicht zu erzielen. Denn im Stadium des Vertragsschlusses halten die Parteien einen Konflikt für unwahrscheinlich. Und für diesen unwahrscheinlichen Fall gehen beide Parteien selbstredend davon aus, dass es keine teure Document Production geben muss. Sie wissen schlicht nicht, dass in internationalen Schiedsgerichtsverfahren die Document Production heute auch dann gerne angeordnet wird, wenn es keinerlei Berührungspunkte zum angloamerikanischen Rechtskreis gibt. Eine entsprechende Einigung ist daher schnell erzielt und ebenso rasch dokumentiert, etwa mit dem Satz: „Die Parteien sind sich einig, dass in einem Schiedsgerichtsverfahren keine Dokumentenvorlage/Document Production stattfindet.“

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2. Wahl des richtigen Schiedsrichters Da die Anordnung einer Dokumentenvorlage – wie oben gesehen – regelmäßig im Ermessen des Schiedsgerichts liegt, hat die Wahl des Schiedsrichters Einfluss darauf, wie dieses Ermessen ausgeübt wird. Wählt man hier einen Schiedsrichter, der seine juristische Ausbildung im angloamerikanischen Recht erhalten hat, ist eine Entscheidung zugunsten einer Document Production wahrscheinlich. Denn für diesen Schiedsrichter gehört sie zum Leitbild seines juristischen Denkens. Bessere Chancen auf Vermeidung einer Document Production hat man, wenn man einen Schiedsrichter auswählt, der als Jurist im Civil Law-Rechtskreis ausgebildet und tätig ist. Seltsamerweise steigt die Chance einer Document Production dann wieder, wenn man einen in internationalen Verfahren routinierten Schiedsrichter benennt. Denn dieser wird die „ Document Production nach den IBA Rules“ eher als Standard ansehen als jemand, dem diese Praxis aus eigener Erfahrung nicht so geläufig ist. Benennt man vor diesem Hintergrund einen insoweit unerfahrenen Schiedsrichter, hat das wiederum den Nachteil, dass der (erfahrenere) andere parteibenannte Schiedsrichter oder aber der Vorsitzende Schiedsrichter die Diskussion um die Art und Weise der Verfahrensführung prägen werden. Der Einfluss des unerfahrenen Schiedsrichters ist dann gering, und so wird am Ende der Diskussion doch wieder die Entscheidung für die Document Production stehen. Will man als Partei die Document Production vermeiden, fährt man wohl mit der Benennung eines Schiedsrichters am besten, der die in diesem Beitrag skizzierte Problematik kennt und hinreichend meinungs- und durchsetzungsstark ist, um hier nicht dem einfachen „bekannt und bewährt“-Argument zu folgen, sondern sich stattdessen die Eigenheiten des spezifischen Schiedsverfahrens anschaut. 3. Frühzeitige Positionierung gegenüber dem Schiedsgericht Gegenüber dem Schiedsgericht sollte man sich klar und schriftlich positionieren, wenn keine Document Production gewünscht ist. Das Schiedsgericht muss die diesbezüglichen Argumente vor einer entsprechenden Diskussion mit den Parteien in der Verfahrensmanagementkonferenz kennen und bewerten. Wird der entsprechende Diskussionspunkt erstmals während der Verfahrensmanagementkonferenz aufgeworfen, egal ob diese als persönliches Treffen oder als Telefonkonferenz stattfindet, setzt sich das schlichte „bekannt und bewährt“-Argument aller Wahrscheinlichkeit nach durch. 4. Ein entschlossenes „Nein“ Neigt das Schiedsgericht trotz gegenteiliger Argumentation einer Partei dazu, eine Document Production zuzulassen, ist es richtig, wenn auch bis-

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weilen etwas unangenehm, bei einem entschlossenen „Nein“ zu bleiben. Unter gar keinen Umständen darf der Anwalt zähneknirschend der Vereinbarung einer Document Production in den Terms of Reference/dem Schiedsauftrag zustimmen. Denn das ist eine Parteivereinbarung, und von dieser Parteivereinbarung kommt auch das Schiedsgericht später nicht mehr weg, selbst wenn die Document Production völlig ausartet und das Schiedsgericht diese aufgrund gemachter Erfahrungen jetzt eigentlich eindämmen möchte. Bei einem klaren Nein sollte es aber auch dann bleiben, wenn – wie meistens – die Frage der Document Production nur in der Verfahrensmanagementkonferenz aufgeworfen wird. Dort sucht das Schiedsgericht lediglich die informale, rechtlich an sich unerhebliche Zustimmung der Parteien, bevor es die Document Production dann in einer verfahrensleitenden Verfügung samt darauf abgestimmtem Zeitplan anordnet. Schnell neigt der Anwalt hier dazu, die rechtlich irrelevante Zustimmung zur Document Production zu erteilen, eben um konstruktiv zu wirken und dem Schiedsgericht die Mühe zu ersparen, gleich am Anfang des Verfahrens eine kontroverse Entscheidung treffen zu müssen. Doch das ist falsch. Durch das entschlossene „Nein“ zwingt der Anwalt das Schiedsgericht dazu, noch einmal über das Für und Wider einer Document Production nachzudenken. Und selbst wenn das Schiedsgericht dann die Document Production anordnet, wird es das „Nein“ einer Partei nicht vergessen, wenn es später im konkreten Einzelfall darüber zu entscheiden hat, ob ein „each and every document, including emails, relating to …“-Dokumentenvorlageantrag nicht doch zu weit gefasst ist oder gar eine unzulässige Fishing Expedition darstellt. An dieser Stelle ein Geständnis: Der eingangs dieses Beitrags skizzierte Ärger rührte daher, dass eben aus dieser Konfliktscheu heraus die informale Zustimmung zur Document Production erteilt worden war. Das Schiedsgericht hat die Document Production dann natürlich allzu gerne und umgehend in einer prozessleitenden Verfügung so festgeschrieben. Wegen des fehlenden Widerstands sah das Schiedsgericht offenbar später auch keine gesteigerte Notwendigkeit, die einzelnen Vorlageanträge kritisch zu prüfen. Damit hatte der Wombat „Document Production“ endgültig freie Bahn. Und der Anwalt wirft sich vor, nicht alles getan zu haben, um den Wombat zu bremsen und seinen Aktionsspielraum zumindest in Grenzen zu halten.

VI. Schiedsrichterlich betrachtet: kritische Grundhaltung Schiedsgerichte stimmen einer Document Production vorschnell als „bekannt und bewährt“ zu, ohne dabei zu erwägen, ob diese prozessuale Rechtsfigur für das konkrete Verfahren angemessen ist und welcher Arbeitsaufwand auch beim Schiedsgericht so entstehen wird. Besser ist es,

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wenn sich auch Schiedsrichter Gedanken darüber machen, wie eine (ausufernde) Document Production verhindert werden kann. 1. Mut zum grundsätzlichen „Nein“ Es gibt gute Argumente, in Schiedsgerichtsverfahren eine Document Production grundsätzlich abzulehnen. Meist liegt die Ablehnung im Interesse der Parteien an einem effizient und kostengünstig geführten Schiedsgerichtsverfahren, auch wenn das eine Partei zunächst nicht einsehen will oder mangels Erfahrung nicht einsehen kann. Insofern sollten sich Schiedsgerichte darüber Gedanken machen, eine Document Production auch dann abzulehnen, wenn sich eine Partei nicht klar dagegen positioniert. Wichtig ist, dass das Schiedsgericht sich diese Gedanken vor der Verfahrensmanagementkonferenz macht und sich in der Verfahrensmanagementkonferenz dann auch klar – also mit ausgeführten inhaltlichen Gründen – positionieren kann. Tut das Schiedsgericht das nicht, ist eine kontroverse Diskussion in der Verfahrensmanagementkonferenz die Folge. Und meist ringt sich das Schiedsgericht dann doch nur zu der vermeintlichen Kompromisslösung „Document Production nach den IBA Rules“ durch. Besser ist, wenn das Schiedsgericht den Parteien zeigt, dass es seine Hausaufgaben gemacht und den Fall auf eine effiziente Verfahrensführung hin bereits analysiert hat. Eine feste Erklärung aller drei Schiedsrichter, dass man aufgrund der Herkunft der Parteien, des anwendbaren Sachrechts und des Schiedsortes keinerlei Anhaltspunkte dafür sieht, ein Dokumentenvorlageverfahren durchzuführen, werden dann auch die Parteien akzeptieren. 2. Mut zum „Nein“ im Einzelfall Hat ein Schiedsgericht die Document Production zugelassen, muss es sich jedenfalls im Einzelnen anschauen, ob die Anträge nicht zu weit und zu „amerikanisch“ abgefasst sind. Viele Schiedsgerichte haben keine Lust, sich mit jedem einzelnen Antrag detailliert zu befassen und insbesondere darauf zu prüfen, ob auf Basis der geltenden Beweislastverteilung eine Dokumentenvorlage überhaupt erforderlich ist. Wenn etwa, wie nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB, das Verschulden einer Partei vermutet wird, braucht die andere Partei keinen Zugang zu Dokumenten, woraus sich das Verschulden gegebenenfalls ergeben könnte. Eine mutige Anwendung der deutschen Relationsmethode kann hier helfen, unnötige Dokumentenvorlageanträge abzulehnen und den Parteien so hohen Zeit- und Kostenaufwand zu ersparen.

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3. Drastische Kostensanktionen Richtig, aber viel zu selten angewandt, sind schließlich drastische Kostensanktionen gegen die Partei, die durch ausufernde Dokumentenvorlageanträge die Verfahrenskosten in die Höhe treibt. Viele Schiedsgerichte scheuen sich davor, solche Kostensanktionen auszusprechen, insbesondere wenn sie zuvor dem Dokumentenvorlageantrag stattgegeben und so die Kostenexplosion erst ermöglicht haben. Diese Einstellung ist kurzsichtig. Schiedsgerichte haben in fast allen Verfahrensordnungen die Möglichkeit, neben dem Prozessausgang (Kostenregel: „cost follows the event“) auch die konkrete Verfahrensführung der Parteien in ihre Kostenentscheidung einzubeziehen.26 Es ist nicht unangemessen, eine Partei mit Kostennachteilen zu belegen, wenn diese durch zahlreiche Dokumentenvorlageanträge enormen Aufwand verursacht hat, ohne dass dieser Aufwand zum Aufspüren entscheidungsrelevanter Dokumente geführt hat. Dieses Kostenrisiko kann dann durchaus die beantragende Partei treffen, und zwar unabhängig vom Verfahrensausgang. Ideal ist es, wenn das Schiedsgericht in einer verfahrensleitenden Verfügung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Dokumentenvorlage bereits auf die Möglichkeit einer solchen Kostensanktion hingewiesen hat. Das diszipliniert die Parteien und vermeidet im Idealfall ausufernde Anträge. Jedenfalls aber gibt es dann eine noch nachhaltigere Basis dafür, eine sich ineffizient verhaltende Partei mit Kostennachteilen zu belegen.

VII. Schlussendlich betrachtet … Ehrlich gesagt: Ich bin immer noch wütend. Aber nur noch ein wenig. Es baut Emotionen ab, wenn man versuchen muss, den Grund für die eigene Emotion sachlich zu erklären. Insofern war dieser Artikel eine Art Selbsttherapie. Schreiben hätte ich ihn vermutlich nicht dürfen. Irgendwann einmal wird mir dieser Beitrag vorgehalten werden, wenn ich für einen Mandanten auf die Durchführung einer Dokumentenvorlage dränge oder als Schiedsrichter eine solche anordnen will. Ein solcher Vorhalt wäre ungerecht. Denn die Dokumentenvorlage ist nicht per se schlecht. Sie hat nur in vielen Schiedsgerichtsverfahren schlicht nichts zu suchen. Und die Entscheidung für oder gegen eine Document Production sollte im Bewusstsein des dadurch entstehenden Zeit- und Kostenaufwands und in Abwägung des zu erwartenden Nutzens getroffen werden. Die Document Production ist meistens ein Wombat, aber nicht immer. Eine gelassene, nüchterne Analyse ist gefragt – ebenso wie sie der Jubilar in zahlreichen Schiedsverfahren zeigt. 26 Ausdrücklich z. B. in Art. 33.3 DIS-SchO (2018), Art. 38.5 ICC Rules (2017), Art. 28.4 LCIA Rules (2014) und Art. 38 Abs. 2 VIAC Rules (2018).

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Zur Substitution im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht MATHIAS ROHE

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Funktion der Substitution und ihre Voraussetzungen . III. Wichtige Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beurkundungen (Gesellschaftsverträge; Grunderwerb) . . . 2. Verjährungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Informationsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Den hier zu ehrenden Jubilar hat der Verfasser im Rahmen seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von Prof. Dr. Dietrich Rothoeft, unserem gemeinsamen Doktorvater, sowie als Referendar in der Anwaltsstation in der Kanzlei Thümmel, Schütze & Partner kennenlernen dürfen. Das uns gemeinsame Interesse am Internationalen Privatrecht (IPR) ist Anlass für die Themenwahl. Ich freue mich, zur Festschrift eines verdienten Kollegen beitragen zu dürfen, der seit langer Zeit in bemerkenswerter Weise eine national und international wirkende praktische Tätigkeit mit hochkarätiger Wissenschaft verbindet. Die hier behandelte Substitution ist ein im IPR seit langem anerkanntes1, in den Konturen allerdings nicht immer klares Institut. Neben einigen gleichfalls seit längerer Zeit etablierten Falllagen2 sind andere bislang unerörtert geblieben.

1 Der Begriff wurde von Hans Lewald geprägt (Académie de Droit international, Recueil des Cours 69 (1939-III), no. 55). Zur internationalen Reichweite vgl. nur die im Jahr 2007 ohne Gegenstimme verabschiedete Resolution des Institut de droit international zur Substitution (La substitution et le principe d’équivalence en droit international privé, Annuaire de l’Institut de droit international 72 (2007), S. 93 f. auf der Grundlage umfangreicher Materialien und Diskussionsbeiträge (a.a.O.). 2 Vgl. etwa die Übersicht bei Lüttringhaus Lemma „Substitution“ in Basedow/Rühl/ Ferrari/de Miguel Asensio (Hg.), Encyclopedia of Private International Law Bd. 2, 2017.

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II. Die Funktion der Substitution und ihre Voraussetzungen Die Substitution weist Ähnlichkeiten zu den Instituten der Qualifikation, der Vorfrage und der Anpassung/Angleichung auf.3 Die Qualifikation und die Beantwortung von Vorfragen betreffen indes die Zuordnung eines Lebenssachverhalts zu einer Kollisionsnorm4; die Substitution hingegen setzt die Anwendbarkeit einer bestimmten Sachrechtsnorm nach erfolgter kollisionsrechtlicher Prüfung voraus. Die Anpassung/Angleichung wird bedeutsam, wenn anwendbare Normen aus unterschiedlichen Rechtsordnungen zu Normenwidersprüchen führen, während die Prüfung der Substitution solche Widersprüche von vornherein ausschließt. Eine Affinität zeigt sich schließlich auch zur Berücksichtigung von local data bei der Ausfüllung von Sachnormen. Dabei geht es z.B. um ortsgebundene Verhaltensregeln wie z.B. Regelungen des Straßenverkehrs oder des Verhaltens auf Skipisten, die aus zwingenden Gründen einer Verhaltensstandardisierung – ungeachtet des auf die Beziehungen zwischen einzelnen Verkehrsteilnehmern anwendbaren Rechts – ausschließlich gelten müssen. Die Substitution betrifft dagegen rechtlich relevante Akte (z.B. Beurkundungen oder Akte der Rechtsdurchsetzung) oder Rechtsansprüche (z.B. Informationsansprüche) als Tatbestandsmerkmal von Sachnormen des materiellen oder des Verfahrensrechts. Generell gilt bei Prüfung einer Substitution die Annahme, dass die jeweilige Sachrechtsnorm in ihren Tatbestandselementen zunächst auf deren inländische Erfüllung abzielt.5 Sodann stellt sich die Frage, ob diese Erfüllung auch durch entsprechende (funktionsäquivalente) Vorgänge im Ausland ersetzt werden kann. Soweit eine Substitution grundsätzlich in Betracht kommt6, wird in der Regel „funktionale Vergleichbarkeit“7 mit dem entsprechenden Institut des an3 Vgl. nur Kegel/Schurig IPR, 9. Aufl. 2004, S. 67, 355, 358 und öfter; Neuhaus Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts, 2. Aufl. 1976, S. 351 f.; Mansel in Festschrift Werner Lorenz, 1991, 689, 701 ff. m.w.N. 4 Vgl. nur BGH NJW 2015, 2185 zum pauschalen Zugewinnausgleich nach § 1371 Abs. 1 BGB (Qualifikation) und OLG Düsseldorf MittRhNotK 1998, 427 zu Vorfrage und Substitution bei der Erbberechtigung von Adoptivkindern. 5 Vgl. nur von Bar/Mankowski Internationales Privatrecht I, 2. Aul. 2003, § 7 Rn. 239. 6 Dies ist nicht der Fall bei den seltenen „geschlossenen“ Normen (von Bar/Mankowski a.a.O., § 7 Rn. 243). Im deutschen Sachrecht betrifft dies nach der Rechtsprechung vor allem Grundstückstransaktionen (vgl. Kropholler Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, § 33 II.1. m.w.N.). Gleiches gilt für die Eheschließung „vor dem Standesbeamten“ gemäß § 1310 Abs. 1 BGB, vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 1994, 07756 Rn. 11; anders zur Abgabe einer Ehenamenserklärung nach Art. 10 Abs. 2 EGBGB OLG Düsseldorf BeckRS 2010, 896 (funktionale Gleichwertigkeit genügt). 7 So auch Art. 2 der Resolution des Institut de droit international von 2007, a.a.O. Bei der Prüfung ist zu beachten, dass eine gleichlautende Terminologie nicht notwendig auch gleiche Inhalte beschreibt; wie die Sprachwissenschaft allgemein kennt auch die juristische Fachsprache das Problem der „false friends“. Man denke etwa an die unterschiedliche

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wendbaren Sachrechts gefordert. Weder ist völlige Gleichheit erforderlich, noch dürfen die Unterschiede zu groß werden8; im Französischen hat sich der international rezipierte Maßstab der „équivalence“ herausgebildet, wobei diese mittels einer Prüfung der funktionalen Vergleichbarkeit zu ergründen ist.9 Die Prüfung solcher Vergleichbarkeit wird eigenen Maßstäben genügen müssen und kann sich nach Ansicht des Verfassers nicht am ordre public international oder interne ausrichten. Ersterer wäre als Maßstab sicherlich verfehlt, weil die Substitution die Anwendbarkeit eines bestimmten Sachrechts auf der Grundlage des einschlägigen IPR voraussetzt, damit ist der Vorbehalt des ordre public international bereits „verbraucht“. Der ordre public interne kann hingegen als äußerste Grenze dienen: Verstößt die Funktion (nicht: die Konstruktion bzw. die Reichweite10) des möglichen ausländischen Äquivalents gegen diesen, so kann funktionale Vergleichbarkeit keinesfalls gegeben sein.11 Die letzte Präzisierung des Prüfungsmaßstabs kann sich indes nur aus dem Telos12 der jeweils relevanten Norm ergeben, wobei vor allem die in Rede stehenden Rechtswirkungen von Bedeutung sind.13 Meist geht es um Schutzüberlegungen (Individual- oder Kollektivschutz) und die Frage, inwieweit bei grenzüberschreitenden Sachverhalten auf den intendierten Schutz verzichtet werden kann.14 Die Konkretisierung der funktionalen Vergleichbarkeit dürfte sich nur im Wege der Fallgruppenbildung (Einzelvergleiche15) bewerkstelliReichweite von Vertrag und Delikt im deutschen, französischen und englische Recht oder unterschiedliche Auffassungen über Formen der Ehe. Vgl. hierzu Hug Die Substitution im Internationalen Privatrecht, 1983, S. 123 ff.; BayObLG IPRax 1990, 115, 117. Andererseits bedarf es keiner Vergleichbarkeit der rechtlichen Konstruktion. 8 Vgl. hierzu Neuhaus a.a.O., S. 352. 9 Vgl. Art. 2 der Resolution des Institut de droit international von 2007, a.a.O.: „Le principe d’équivalence doit être le critère décisif pour la substitution. Il se base sur une comparaison fonctionelle des conditions de la loi applicable et la loi selon laquelle le rapport pris en considération pour la substitution s’est formé.“ 10 So kann es aus Gründen des Vertrauensschutzes geboten sein, Mehrehen im Hinblick auf Ansprüche von Ehefrauen gegen den Ehemann als Ehe zu behandeln; hierzu im Folgenden. 11 Hier ist beispielsweise an Zwangsehen zu denken, die zumindest nach gewohnheitsrechtlichen Vorstellungen in manchen Teilen der Welt verbreitet sind; vgl. Rohe Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 2011, 84 f., 213 m.w.N. Eine Ausnahme mag bei einer echten „Bestätigung“ der Ehe durch das Opfer zu machen sein, wenn dieses sich auf das Bestehen der Ehe beruft und daraus z.B. Unterhaltsansprüche ableiten möchte. 12 Art. 3 der Resolution des Institut de droit international (a.a.O.) benennt Ziele und Interessen (buts et intérèts) der relevanten Normen als Gegenstand der Vergleichbarkeitsprüfung. 13 Maßstabsbildend insoweit Wengler RabelsZ 8 (1934), S. 148, 162, 165, hierzu Mansel a.a.O., S. 691. 14 Die Orientierung am Schutzzweck erscheint präziser als diejenige an der „soziale(n) oder ökonomische(n) Bedeutung der Begriffe“ (von Bar/Mankowski a.a.O., § 7 Rn. 243, zuvor schon M. Wolff Private International Law, 2. Aufl. 1950 Rn. 509; Mansel a.a.O., S. 689, 698). 15 Vgl. hierzu Kischel Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 14–17; von Bar/Mankowski Internationales Privatrecht I, 2. Aufl. 2003, § 7 Rn. 243.

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gen lassen (hierzu im Folgenden unter III.). Hierbei ist auch zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Aspekten zu trennen: So hat z.B. die Berücksichtigung ausländischer Statusakte wie Eheschließung oder Annahme als Kind aus Gründen des Vertrauensschutzes in privatrechtlichen Beziehungen nicht zwingend auch eine Anerkennung im Aufenthalts- oder Staatsangehörigkeitsrecht zur Folge; Ansprüche gegen private Beteiligte einerseits und gegen die Allgemeinheit/den Staat andererseits sind grundsätzlich voneinander zu trennen. In einzelnen Fällen hat der Gesetzgeber selbst durch konkrete Festlegungen eine Substitution angeordnet. Ein Beispiel hierfür sind die Regelungen in §§ 13 Abs. 1 und 18 Abs. 1 PfandbriefG, wonach den deutschen Hypotheken oder grundstücksgleichen Rechten vergleichbare Rechte sicherungsfähig sind. Ebenso wird in § 34 Abs. 2 SGB I die im Ausland wirksam geschlossene Mehrehe im sozialversicherungsrechtlichen Kontext als Ehe anerkannt; insoweit erfolgt neben der Substitution auch die Klarstellung, dass die auf die mehreren Witwen zu verteilenden Beträge nur von der Anzahl der Witwen abhängige Bruchteile der einen erworbenen Summe sind und sich nicht etwa der Zahlungsbetrag vervielfacht. Kegel/Schurig deuten dieses Ergebnis im Zusammenhang mit dem inhaltlich vergleichbaren Recht des Ehegattenunterhalts als Fall der Angleichung.16 Der Verfasser sieht darin indes einen Fall vollständiger Substitution: Die mehreren Ehen werden im Kontext des Sozialversicherungsrechts als eine einheitliche rechtliche Verbindung gesehen, wie dies nach dem Konzept polygyner Eherechtsordnungen vorgesehen ist: Die mehreren Ehefrauen müssen sich die materiellen und immateriellen Ressourcen in der Ehe gleichmäßig teilen.17 Ein weiteres Beispiel ist die in Art. 22 Abs. 3 EGBGB geregelte Gleichstellung der inländischen und ausländischen Minderjährigenadoption entsprechend dem Erblasserwillen bei Anwendbarkeit deutschen Erbrechts. Im Kontext der EU-Normensetzung schließlich wurde der Europäische Zahlungsbefehl im Europäischen Mahnverfahren18 in § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB dem deutschen Mahnbescheid für die Unterbrechung der Verjährung gleichgestellt. III. Wichtige Fallgruppen Abschließend sollen wichtige Fallgruppen der Substitution19 im deutschen Recht konkretisiert werden. 16

A.a.O., S. 363 ff. Vgl. zum islamischen Recht Rohe a.a.O., 66, 82, 215 f. Polygyne Eherechtsordnungen sind keine exklusive Erscheinung des islamischen Rechts; Tunesien hat sie strafbewehrt abgeschafft. 18 Verordnung 1896/2006 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12. Dezember 2006, AblEU L 399, S. 1. 19 Vgl. hierzu etwa Lüttringhaus a.a.O., S. 1678 ff. m.w.N. aus verschiedenen Rechtsordnungen. 17

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1. Beurkundungen (Gesellschaftsverträge; Grunderwerb) Gemäß der überzeugend diskutierten und begründeten Resolution des Institut de droit international von 2007 soll gemäß Art. 5 bei Rechtsakten, welche die Mitwirkung eines Richters, Notars oder Verwaltungsmitarbeiters erfordern, eine Substitution erfolgen, wenn die Funktionen der jeweiligen Amtsträger gleich oder ähnlich sind. Auch religiöse Institutionen können danach funktionsäquivalent sein.20 Die deutsche Rechtsprechung folgt hinsichtlich der Beurkundung gesellschaftsrechtlicher Transaktionen den obengenannten Grundsätzen in einer recht einheitlichen Rechtsprechung. Prüfungsmaßstab ist die „Gleichwertigkeit“ der Auslandsbeurkundung. Diese wird präzisiert durch das Abstellen auf eine „nach Vorbildung und Stellung im Rechtsleben vergleichbare Funktion“ unter einem Verfahrensrecht, „das den tragenden Grundsätzen des deutschen Beurkundungsrechts entspricht“.21 Zwar mögen in einer pauschalisierten Betrachtung ausländische Notare tendenziell über geringere Kenntnisse des deutschen Rechts verfügen als inländische. Auf die in § 17 BeurkundungsG vorgesehene Prüfung und Belehrung können die Beteiligten indes verzichten, und dies ist nach ständiger Rechtsprechung auch gegeben, wenn die Beteiligten einen ausländischen Notar einschalten, von dem sie vertiefte Kenntnisse nicht erwarten können.22 Insgesamt wird das „lateinische Notariat“ weitgehend als funktionsäquivalent anerkannt, nicht jedoch der notary public nach US-Recht.23 Eine im Ausland gerichtlich festgehaltene Vereinbarung ist derjenigen eines deutschen Gerichts nicht funktionsäquivalent, wenn sie nicht vorgelesen und von den Parteien genehmigt wurde.24 Aus international-privatrechtlicher Sicht ist darauf hinzuweisen, dass es bei alledem nicht um die Prüfung der Ortsform geht, sondern um die Frage, ob die einmal ermittelte Geschäftsform eine Substitution zulässt.25 20 So Art. 5 S. 2 der Resolution, a.a.O. Es sei nur darauf hingewiesen, dass auch in einigen europäischen Staaten z.B. Ehen alternativ durch anerkannte religiöse Einrichtungen mit zivilrechtlicher Wirkung registriert werden können. 21 So BGH NJW 2014, 2026, 2027 m. zahl. N. (hier zur Einreichung der veränderten Gesellschafterliste gemäß § 40 Abs. 2 GmbHG durch einen Notar mit Sitz in Basel nach Inkrafttreten des MoMiG). Der Umstand, dass der ausländische Notar nicht zur Einreichung verpflichtet werden kann, ist für dessen Berechtigung dazu unerheblich. Für die ältere gleichlautende Rechtsprechung vgl. nur BGH NJW 1981, 1160 (von einem Notar in Zürich beurkundete Satzungsänderung einer GmbH). Vgl. zuletzt KG NJW-RR 2019, 99, 100 f. 22 BGH a.a.O. m.w.N. 23 Zu ersterem die Nachweise in Fn. 21 sowie Lüttringhaus a.a.O., S. 178; zu letzterem OLG Stuttgart NZG 2001, 40, 43 m.w.N. 24 OLG Bamberg NJW-RR 2002, 1153, 1154 zum Versorgungsausgleich vor einem türkischen Gericht; anders für ein privatschriftliches südafrikanisches Zeugentestament, das nachträglich gerichtlich bestätigt wurde, Kegel a.a.O. m.w.N. 25 Vgl. die Regelungen in Art. 11 Rom I-VO (nicht anwendbar auf gesellschaftsrechtliche Vorgänge) bzw. Art. 11 EGBGB.

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Im Kontrast hierzu steht die deutsche Rechtsprechung zur Substitution bei Grundstückstransaktionen. Bei der notariell zu beurkundenden Auflassungserklärung (§ 925 BGB)26 oder der Beurkundung der Vertretungsbefugnis bei Löschungsbewilligungen (§ 19 GBO)27 soll die Substitution generell ausgeschlossen sein. Die wenig substantiellen Begründungen hierfür vermögen nicht zu überzeugen.28 Häufig wird vermutet, dass in den Gebühreninteressen der Notare in Deutschland der wesentliche Grund für die restriktive Handhabung zu suchen sei. Nun mögen solche Interessen durchaus rechtsrelevant werden. Das gilt für Fälle des Marktversagens, in denen durch staatliche Regulierung eine flächendeckende Grundversorgung gewährleistet werden soll, wenn dieses Ziel nicht durch mildere Eingriffe zu erreichen ist. Dafür, dass die erforderliche Versorgung mit Notariaten von einem Monopol für die Beurkundung von Grundstückstransaktionen abhängt, ist bislang aber nichts dargetan. Weitere Gegengründe dürften spätestens dann entfallen, wenn auch grenzüberschreitend der Zugang zu elektronisch geführten Grundbüchern möglich wird. Jetzt schon lässt die Rechtsprechung zumindest für die bloße Unterschriftsbeglaubigung im Zusammenhang mit Grundstückstransaktionen eine Substitution zu.29 2. Verjährungsfragen30 a) Hemmung der Verjährung durch Rechtsbehelfe im Ausland Auch im Bereich des Verjährungsrechts können ausländische rechtsrelevante Vorgänge Wirkungen im deutschen Sachrecht auslösen. Die ständige Rechtsprechung hat überzeugend und in Übereinstimmung mit der einschlägigen Literatur entschieden, dass der Lauf der Verjährungsfrist durch im Ausland erhobene Klagen oder andere im Verjährungsrecht genannte 26 Meist wird, soweit überhaupt Begründungen gegeben werden, nur oder maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte der nunmehr 120 Jahre alten Norm verwiesen, dazu sehr zweifelhaft auf zu vermutende Rechtsunkenntnis und Folgen der Ortsferne, auch im Hinblick auf das Mitteilungsinteresse von Genehmigungs- und Steuerbehörden; vgl. z.B. BGH WM 1968, 1170, 1171; KG DNotZ 1987, 44 ff.; LG Ellwangen BWNotZ 2000, 45 f. 27 OLG München NZG 2015, 1437, 1438 f.; im Ansatz a.A. OLG Nürnberg DNotZ 2014, 626, 629 f. für die Beweiskraft (§ 415 ZPO) der Beurkundung der Vertretungsbefugnis durch einen englischen notary public. 28 Vgl. etwa Jayme in seinem Bericht für das Institut de droit international, a.a.O., S. 4 m.w.N. 29 So OLG Zweibrücken MittRhNotK 1999, 241 f. für den notary public mit Sitz in der kanadischen Provinz Ontario. 30 Die folgenden Überlegungen resultieren aus gutachtlicher Tätigkeit des Verfassers in mehreren US-Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Vertrieb und der Verwaltung von RMBS (Residential Mortgage-Backed Securities) und CDO (Collateral Debt Obligations).

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Rechtsbehelfe31 gehemmt werden kann (nunmehr § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB).32 Streitig ist nur, ob jegliche im Ausland erhobene Klage dafür ausreichend ist, oder ob es zusätzlich der Anerkennungsfähigkeit des erstrebten Urteils gemäß § 328 ZPO bedarf.33 Soweit der letzteren Ansicht gefolgt wird, stellen sich z.B. Anerkennungsprobleme im Verhältnis zu den USA, wenn punitive damages eingefordert werden, welche in der konkreten Bemessung gegen den deutschen ordre public verstoßen.34 Dagegen können generell auch Urteile anerkannt werden, die auf Beweismitteln beruhen, welche im Wege der pre-trial discovery erlangen wurden.35 Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass sich in Deutschland Reformüberlegungen, die eine weitreichende Annäherung an die Mechanismen der U.S. pre-trial discovery vorsahen, nicht durchsetzen konnten. Die Unterschiede zu den Aufklärungsmöglichkeiten des deutschen Verfahrensrechts werden nämlich gelegentlich überschätzt. Kischel hat in seinem neuen Standardwerk zur Rechtsvergleichung just dieses Beispiel als Fall einer verfehlten Handhabung der Rechtsvergleichung gewählt: Wenn man nur die Frage stelle, ob es in Deutschland ein Verfahren der pre-trial discovery gebe und wie dieses ausgestaltet sei, erhalte man eine verneinende Antwort. Die einzig weiterführende und etablierte Methode der funktionalen Rechtsvergleichung jedoch sucht nach möglichen funktionalen Äquivalenzen oder Ähnlichkeiten. Dann wird man auch im deutschen Verfahrensrecht fündig, insbesondere bei den durchaus weitreichenden Möglichkeiten der Partei- oder Zeugenbefragung (§§ 422, 428, 429, 445 ZPO) einschließlich der Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht selbst (§§ 139, 142, 448 ZPO). Zudem kann auf Beweisnot auch durch eine adäquate Beweiswürdigung oder durch eine Veränderung der Beweislast reagiert werden, wie dies im deutschen Zivilverfahren tatsächlich der Fall ist.36 31 BGH NJW-RR 2002, 937 zur Substitution des deutschen Mahnbescheids (nunmehr § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) durch einen schweizerischen Zahlungsbefehl entgegen OLG München IPRax 2001, 579; ebenso LG Flensburg BeckRS 2014, 9269. 32 Vgl. schon RGZ 129, 385, 389; RG JW 1926, 374; OLG Breslau JW 1932, 3826; OLG Frankfurt Urt. v. 11 Dezember 2015 (8 U 279/12) -juris, n. 178–192; MüKo BGB-Grothe, 8. Aufl. 2018, § 204 Rn. 9 m.w.N.; Palandt-Ellenberger BGB, 79. Aufl. 2020, § 204 Rn. 3; Staudinger-Peters/Jacoby BGB, 2014, § 204 n. 41 m.w.N. A.A. im Kontext des Wechselrechts Schütze WM 1967, 246 ff. 33 Vgl. ebenda. Das OLG Frankfurt (BeckRS 2016, 4156 Rn. 13) hält mit der wohl h.M. in der Literatur entgegen dem RG (Fn. 32) zumindest nach der Neufassung des Verjährungsrechts in § 204 BGB die Anerkennungsfähigkeit nicht für erforderlich. Vgl. auch schon die Kritik in OLG Düsseldorf NJW 1978, 1752 mit Hinweis auf Neumeyer, JW 1926, 374. 34 BGH NJW 1992, 3096, 3102 ff. zu „exemplary punitive damages“ nach US-Recht. 35 Vgl. BGH NJW 1992, 3096, 3099; Zöller-Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 328 n. 238 m.w.N. 36 Vgl. Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, § 1 Rn. 15; MüKo ZPO-Gottwald, 5. Aufl. 2016, § 328 Rn. 128; zur sekundären Behauptungslast und der Notwendigkeit substantiier-

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Nach alledem wäre es schlicht verfehlt, sich auf den Hinweis zu beschränken, dass das deutsche Verfahrensrecht keine pre-trial discovery kennt und deshalb unzumutbare Beweisprobleme entstehen, wenn bei der möglichen Klageerhebung noch nicht alle im Ergebnis erforderlichen Beweismittel in den Händen des Klägers liegen. b) Beginn der Verjährung bei möglichen Rechtsbehelfen im Ausland Soweit ersichtlich wurde in Deutschland bislang noch nicht gerichtlich entschieden, ob auch der Beginn der Verjährung durch die Möglichkeit beeinflusst wird, im Ausland Klage zu erheben. Meines Erachtens spricht alles dafür, die zur Hemmung der Verjährung vorgebrachten Argumente auch auf die Prüfung des § 199 BGB zu übertragen. Konkret geht es um die Frage, ob die Frist des § 199 Abs. 1 Nr. 1 auch dann zu laufen beginnt, wenn der Kläger entsprechend den für inländische Klagen gebildeten Maßstäben hinreichend aussichtsreich (nicht: risikolos) eine Klage im Ausland erheben könnte. Die gefestigte Rechtsprechung in Deutschland verlangt für eine Klage in solchem Zusammenhang Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen; die zutreffende rechtliche Würdigung ist grundsätzlich nicht erforderlich. Auch Beweisprobleme sind danach unerheblich.37 Fraglich ist jedoch, ob die mögliche Klageerhebung im Ausland in gleicher Weise zu beurteilen ist. Das denkbare Gegenargument besagt, dass es für einen Kläger unzumutbar sei, zu prüfen, ob er irgendwo in der Welt Klage erheben kann. Dies lässt sich aber nur mit fallgruppenbezogenen Kriterien beantworten. Einem Verbraucher wird man in der Regel nicht zumuten können, sich über solche Möglichkeiten zu informieren, zumal sich in den Verbraucher betreffenden Fällen die in Rede stehende Klageforderung meist im Rahmen vier- bis niedrig sechsstelliger Beträge hält und der Informationsaufwand schnell unverhältnismäßig hoch wäre.38 Umgekehrt wird man von international agierenden und erfahrenen Marktteilnehmern meist eine entsprechende Prüfung im jeweils zumutbaren Rahmen erwarten dürfen, insbesondere dann, wenn sehr hohe Summen in Rede stehen.39 Keineswegs wird in solchen Fällen die Prüfung aller Rechtsordnungen der Welt erforderlich, sondern nur solcher, die nach den Umständen des Einzelten Bestreitens vgl. BGH NJW 2010, 1357, 1358; BGH NGZ 2015, 38, 40; Zöller ZPOGreger, a.a.O., Vor § 284 Rn. 34, 34a m.w.N.; zur Beweiswürdigung BGH NJW 2009, 360, 362 n. 23c m.w.N. 37 Vgl. nur Palandt-Ellenberger, BGB, 79. Aufl. 2020, § 199 Rn. 27 f. m.w.N. 38 Nach Recherchen des Verfassers gab es in den vergangenen Jahrzehnten nur zwei publizierte Fälle, in denen eine niedrige siebenstellige Summe Streitgegenstand war. In beiden Fällen wurde der Ablauf der Verjährung nach § 199 BGB bejaht. 39 In den Fällen, in denen der Verfasser gutachtlich tätig war und ist, bewegen sich die geltend gemachten Summen zwischen ca. 200 Millionen und einer Milliarde US-Dollar.

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falls naheliegen (z.B. im Hinblick auf den Sitz des Beklagten und das dort anwendbare Verfahrensrecht), und deren Prüfung nach Vorkenntnissen des Klägers und dem Anspruchsvolumen zumutbar ist. Im Übrigen mag es in manchen Konstellationen vorteilhaft oder sogar rechtlich geboten sein, Rechtsschutz im Ausland zu suchen. Das gilt etwa dann, wenn am (Wohn) Sitz des ausländischen Beklagten geklagt werden soll, weil dies am leichtesten durchzuführen ist, oder weil ein Gerichtsstand im Inland nicht gegeben oder zweifelhaft ist, z.B. bei Gerichtsstandsvereinbarungen mit ausschließlichem ausländischem Gerichtsstand. International agierende Teilnehmer am Rechtsverkehr werden sich dieser Möglichkeiten und Notwendigkeiten ohnehin bewusst sein, so dass kein zusätzlicher Informationsaufwand anfällt. Zu nachgerade absurden Ergebnissen würde die Gegenansicht führen, wenn bei mangelnder inländischer Gerichtszuständigkeit und Anwendbarkeit inländischen Rechts nie Verjährung einträte. Damit würde der Schutzzweck des Verjährungsrechts durch Substitutionsverweigerung vereitelt, während die Prüfung der Substitution gerade auf dem Schutzzweck der jeweils in Rede stehenden Normen aufbaut. 3. Informationsansprüche Materiell-rechtliche Informationsansprüche können sich im Verfahrensrecht niederschlagen. Ein Beispiel hierfür ist § 422 ZPO, der eine (akzessorische) Vorlegungspflicht statuiert, wenn ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch darauf besteht; hierfür wird häufig § 810 BGB als Beispiel genannt.40 Meines Erachtens sind funktional vergleichbare materiell-rechtliche Ansprüche aus ausländischen Rechtsordnungen in gleicher Weise Grundlage für die in § 422 ZPO festgelegte Verpflichtung. Hiervon zu unterscheiden sind Informationspflichten, die sich aus ausländischem Verfahrensrecht ergeben, wobei die Qualifikation nach der lex fori erfolgen sollte, weil es hier primär um die Anwendung von Verfahrensrecht geht. 4. Ehe und Familie Bei polygynen Ehen sind mit der Erwägungen zu § 34 Abs. 2 SGB I (oben II.) nach Meinung des Verfassers auch Ansprüche auf Ehegattenunterhalt und Nachlassbeteiligung zu lösen. Auch hier geht es um Vertrauensschutz im Hinblick auf eine im Herkunftsland konkret entstandene Lage. Demnach sind die mehreren Ehefrauen gleichermaßen unterhalts- und erbberechtigt. Angesichts von insgesamt wenig durchdachten Initiativen, in Deutschland geführte polygyne Ehen auf staatliche Initiative hin aufzulösen41, mag Vgl. nur Zöller ZPO-Feskorn, 33. Aufl. 2020, § 422 Rn. 2, 4. Vgl. Gesetzesantrag vom 5.6.2018, Bundesrat Drucksache 249/18; zur Kritik vgl. nur Dutta FamRZ 2018, 1141 ff. 40 41

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die Überlegung aufkommen, zumindest beim Unterhalt unter Lebenden nur noch der Erstfrau dann den vollen Betrag zukommen zu lassen. Meines Erachtens würde damit aber der Vertrauensschutz anderer Ehefrauen unzulässig verkürzt: In nicht wenigen Fällen wissen diese nichts von der bestehenden Erstehe. In anderen Fällen stimmt die Erstfrau selbst der weiteren Eheschließung zu, z.B. bei starkem sozialem Druck wegen Kinderlosigkeit der Erstehe. Aber auch in allen anderen Fällen einer im Ausland wirksam geschlossenen Mehrehe wird regelmäßig Vertrauensschutz zugunsten der Ehefrau(en) erforderlich. Grundrechtlich begründete „Schutzmaßnahmen“, die sich konkret gegen die Schutzinteressen der Betroffenen richten, mögen gut gemeint sein, bewirken aber das Gegenteil des Intendierten. Weiterhin kann die Unwirksamkeit einer letztwilligen Verfügung zugunsten des Ehegatten gemäß § 2077 Abs. 1 S. 2 BGB (Scheidungsantrag) auch dann gegeben sein, wenn eine funktional gleichwertige Handlung im Ausland erfolgt ist.42 Einer Ehescheidung mit erbrechtlichen Folgen (Beendigung des gesetzlichen Erbrechts) nicht funktionsäquivalent ist ein „divorcio perpetuo“ nach chilenischem Recht, weil in bestimmten Konstellationen trotz der Trennung die Erbberechtigung erhalten bleibt.43 Für die Erbberechtigung eines Adoptivkindes nach deutschem Sachrecht kommt es maßgeblich darauf an, ob die ausländische (schwache) Adoption nach dem dortigen Sachrecht zur Erbbeteiligung des Adoptivkindes am Nachlass des Erblassers führen würde oder nicht.44 Ausländische Erbscheine schließlich fallen nicht unter die Anerkennungsnorm des § 108 FamFG. Ein ausländischer Erbschein genügt daher außerhalb besonderer internationaler Regelungen nicht dem Nachweis der Erbfolge im Rahmen des § 35 GBO.45 Die Gerichte knüpfen hierbei nicht an die Spezifika bei Grundstückstransaktionen an, sondern an der mangelnden Legitimationswirkung des Erbscheins. Der Verfasser schließt mit den besten Wünschen für den Jubilar – ad multos annos!

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OLG Stuttgart ZEV 2012, 208 Rz. 25–32 zur Scheidungsklage in Liechtenstein. OLG Celle BeckRS 2002, 30231408. Überzeugend BGH NJW 1989, 2197, 2198; OLG Düsseldorf MittRhNotK 1998,

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OLG Bremen FamRZ 2011, 1892, 1893; zuvor schon KG NJW-RR 1997, 1094.

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Kann ein Schiedsrichter zugleich Mediator sein? Kann ein Schiedsrichter zugleich Mediator sein? Dorothee Ruckteschler und Anika Wendelstein

Kann ein Schiedsrichter zugleich Mediator sein? DOROTHEE RUCKTESCHLER

UND

ANIKA WENDELSTEIN*

I. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zulässigkeit der Doppelfunktion des SchiedsrichterMediators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schiedsordnungen und Schiedsverfahrensgesetze . . . . . . . . 2. Mediationsordnungen und Mediationsgesetze . . . . . . . . . 3. Soft law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bedenken gegen eine Personalunion von Schiedsrichter und Mediator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private caucusing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör . . . 3. Umgang mit vertraulichen Informationen . . . . . . . . . . . . 4. Unparteilichkeit des Schiedsrichters . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verzicht auf die Befangenheitsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Erforderlichkeit eines zweiten Verzichts auf die Befangenheitsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung und Problemstellung Die Nachfrage nach Hybrid-Verfahren, in denen Elemente des Schiedsverfahrens und der Mediation miteinander kombiniert werden, steigt kontinuierlich. Grund hierfür ist das Interesse der Parteien, die Konfliktlösung effizienter zu gestalten. Der Wechsel in die Mediation bietet den Parteien trotz der Einleitung eines Schiedsverfahrens die Chance, eine schnelle und kostengünstige Einigung zu erzielen.1 Eine spezielle Variante der Hybrid-Verfahren stellen die sog. „Arb-MedArb“-Verfahren2 dar. Bei diesen Verfahren wird zunächst ein klassisches *

Für wertvolle Vorarbeit bedanken wir uns bei Herrn Ass. jur. Robin Azinovic. Vgl. Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 103 f., 111; Berger/ Jensen International Commercial Arbitration Review 2017, 58, 65; Fremuth-Wolf ASA Bulletin 2016, 301, 302; Nigmatullina Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 7 f., 21 f., 44; Rombach/ Shalbanava SchiedsVZ 2019, 53, 59; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 93 f. 2 Teilweise werden diese Verfahren auch mit dem Begriff „Mediation Window“ umschrieben, vgl. Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 202 f. 1

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Schiedsverfahren eingeleitet. Im Regelfall wird dann vor Beginn der Beweisaufnahme der Versuch unternommen, den Streit außerhalb des Schiedsverfahrens in einem gesonderten Mediationsverfahren beizulegen.3 Kommt in der Mediation keine Einigung zustande, wird das Schiedsverfahren fortgeführt und ein Schiedsspruch erlassen.4 In den meisten Arb-Med-Arb-Verfahren wird ein an dem Schiedsverfahren unbeteiligter Dritter zum Mediator bestellt („different neutral“).5 Es kommt aber auch vor, dass die Parteien das Schiedsgericht oder einen der Schiedsrichter bitten, die Rolle des Mediators zu übernehmen („same neutral“).6 Auf den ersten Blick scheint es vorteilhaft zu sein, dieselbe Person in demselben Verfahren als Schiedsrichter und zugleich auch als Mediator auszuwählen: Der Schiedsrichter-Mediator kennt die Parteien, den Sachverhalt und die rechtliche Problematik des Konflikts. Daher muss er sich bei einem Wechsel der Verfahrensart nicht erst in den Fall eindenken. Aus Sicht der Parteien spart dies Zeit und Geld und macht das Streitbeilegungsverfahren somit insgesamt effizienter.7 Jedoch stößt die Personenidentität von Schiedsrichter und Mediator auch auf Bedenken, insbesondere wenn die Mediation scheitert und das Schiedsverfahren fortgeführt werden muss.

II. Zulässigkeit der Doppelfunktion des Schiedsrichter-Mediators Den rechtlichen Rahmen für die Frage, ob ein Schiedsrichter zugleich auch als Mediator tätig sein und bei einem Scheitern der Mediation in seine Rolle als Schiedsrichter zurückwechseln darf, bilden die Vorschriften über das Schiedsverfahren und über das Mediationsverfahren sowie die Regeln des soft law.8

3 Die Entscheidung, statt eines klassischen Schiedsverfahrens ein Arb-Med-Arb-Verfahren durchzuführen, kann vor Einleitung des Schiedsverfahrens oder ad hoc getroffen werden, vgl. Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 228 f. 4 Vgl. Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 202 f.; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 227 ff. 5 Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 199 f.; Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 50, 60, 75. 6 Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 299; Nigmatullina Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 11. 7 Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 200 f.; Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 299; Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 62; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229; Trappe SchiedsVZ 2012, 79, 83. 8 Die Autorinnen haben die wichtigsten Schiedsordnungen, Schiedsverfahrensgesetze und Mediationsregelungen untersucht. Ein Anspruch auf eine umfassende und abschließende Darstellung wird nicht erhoben.

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1. Schiedsordnungen und Schiedsverfahrensgesetze Überraschenderweise regeln die wichtigsten europäischen Schiedsordnungen die Frage der Zulässigkeit der Doppelfunktion eines SchiedsrichterMediators nicht. Weder die Regeln der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS SchO 2018) noch die Swiss Rules (2012), die Vienna Rules (2018), die Schiedsordnung der International Chamber of Commerce (ICC 2017), der Stockholm Chamber of Commerce (SCC 2017) und des London Court of International Arbitration (LCIA 2014) enthalten diesbezügliche Regelungen. Auch die meisten Schiedsverfahrensgesetze, so z.B. die deutsche Zivilprozessordnung oder der englische Arbitration Act 1996, schweigen dazu. Andere internationale Schiedsordnungen und Schiedsverfahrensgesetze enthalten jedoch durchaus Regelungen zu der Frage nach der Zulässigkeit einer Personalunion von Schiedsrichter und Mediator. Übereinstimmend gelangen diese zu dem Schluss, dass ein Schiedsrichter als Mediator tätig werden kann, wenn die Parteien sich hierauf einigen.9 Dahinter steht der Grundsatz der Privatautonomie, der es den Parteien als den Herrschern des Schieds- und des Mediationsverfahrens gestattet, selbst darüber zu bestimmen, wer in welcher Form über ihren Rechtsstreit entscheidet.10 Nur in China ist nach Art. 51 des Chinesischen Schiedsverfahrensgesetzes für die Überleitung des Schiedsverfahrens in ein Mediationsverfahren unter derselben personellen Leitung keine Vereinbarung der Parteien erforderlich.11 Vielmehr kann das Schiedsgericht kraft eigener Kompetenz in die Mediation überleiten.12 Nach Art. 47 Abs. 1 S. 1 der Arbitration Rules der China Interna9 Sec.33 Hong Kong Arbitration Ordinance 2001; Sec. 63 Singapore Arbitration Act 2001; Sec.17 Singapore International Arbitration Act 2002; Art. 38 Abs. 4 des japanischen Law on Arbitration (2003). Die International Arbitration Rules (IAR) des International Centre for Dispute Resolution (ICDR) der American Arbitration Association (AAA) und die Commercial Arbitration Rules der Japan Commercial Arbitration Association (JCAA) sind etwas differenzierter. Danach müssen Schiedsrichter und Mediator in einem Verfahren verschiedene Personen sein, sofern die Parteien nichts anderes vereinbaren, vgl. Art. 5 S. 3 ICDR IAR 2014; Art. 58 Abs. 1 S. 2 und Art. 59 JCAA 2019; vgl. hierzu insgesamt auch Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 143; Nigmatullina Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 15. 10 Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 114 ff., 122 f., 126 f., 130; Marriott in van den Berg, New Horizons in International Commercial Arbitration and Beyond, 2005, 533, 538 f., 541, 544; Nigmatullina Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 45; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 228 ff.; Plant Journal of International Arbitration 2000, 143, 145; Schneider in van den Berg, International Dispute Resolution: Towards an International Arbitration Culture, 1998, 57, 81; Trappe SchiedsVZ 2013, 167, 170. 11 Art. 51 Arbitration Law (1994) lautet in der englischen Übersetzung: „The arbitration tribunal may carry out conciliation prior to giving an award. The arbitration tribunal shall conduct conciliation if both parties voluntarily seek conciliation. If conciliation is unsuccessful, an arbitration award shall be made promptly.“ [Hervorhebungen d. d. Verf.], zitiert nach: Nigmatullina Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 15. 12 Mourre Asian Dispute Review 2016, 94, 96.

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tional Economic and Trade Arbitration Commission (CIETAC 2014) ist der Wechsel in das Mediationsverfahren dagegen nur dann möglich, wenn beide Parteien dies wünschen, oder eine Partei die Überleitung beantragt und das Schiedsgericht die Zustimmung der anderen Partei einholt.13 Bemerkenswerterweise finden sich aber, soweit ersichtlich, nur in den Schiedsverfahrensgesetzen Australiens14 und in der Schiedsordnung des New Zealand International Arbitration Centre (NZIAC 2018)15 nähere Bestimmungen zu einer Personalunion von Schiedsrichter und Mediator. Dort wird jeweils gefordert, dass die Parteien nicht nur dem ersten Wechsel des Schiedsrichters in das Amt des Mediators zustimmen müssen, sondern dass nach der Beendigung der Mediation eine zweite, zusätzliche Zustimmung der Parteien erforderlich ist, welche die weitere Tätigkeit des Mediators als Schiedsrichter in dem wiederaufgenommenen Schiedsverfahren deckt.16 2. Mediationsordnungen und Mediationsgesetze Für die Rück-Überleitung von dem Mediationsverfahren in das Schiedsverfahren, die in Arb-Med-Arb-Verfahren nach einem Scheitern der Mediation grundsätzlich erfolgt, ist zusätzlich auf die Vorschriften der Mediationsordnungen und Mediationsgesetze abzustellen. Auch die meisten Mediationsordnungen lassen offen, ob der Mediator in derselben Sache (wieder) als Schiedsrichter tätig werden darf.17 Sofern Regelungen existieren, stellen auch diese – parallel zu den Schiedsregelungen – die spätere Tätigkeit des Mediators als Schiedsrichter unter den Vorbehalt einer entsprechenden Parteivereinbarung.18 13 Art. 47 Abs. 1 CIETAC Arbitration Rules 2014 lautet in der englischen Übersetzung: „Where both parties wish to conciliate, or where one party wishes to conciliate and the other party’s consent has been obtained by the arbitral tribunal, the arbitral tribunal may conciliate the dispute during the arbitral proceedings. The parties may also settle their dispute by themselves.“ 14 Sec. 27D Abs. 4 des New South Wales Commercial Arbitration Act (NSW CAA 2010). Entsprechende Regelungen finden sich auch in Sec. 27D der jeweiligen Commercial Arbitration Act (CAA) aller States bzw. Territories Australiens, vgl. Northern Territory CAA 2011; Queensland CAA 2013; South Australia CAA 2011; Tasmania CAA 2011; Victoria CAA 2011; Western Australia CAA 2012; Australian Capital Territory CAA 2017. Der vorranging geltende International Arbitration Act 1974 des Commonwealth of Australia und die Schiedsordnung des Australian Centre for International Commercial Arbitration (ACICA 2016) enthalten dagegen keine Regelungen zu Arb-Med-Arb-Verfahren. 15 Sec. 33 Arbitration Rules des New Zealand International Arbitration Centre (NZIAC 2018). 16 Siehe zum Erfordernis einer zweiten Zustimmung ausführlich unten unter Ziff. III. 6. 17 So die DIS-Mediationsordnung (2010), die Swiss Mediation Rules (2019), die Vienna Mediation Rules (2018), die Londoner LCIA Mediation Rules (2012), die ICDR International Mediation Rules (2014) und die SIMC Mediation Rules (2014). Auch das deutsche MediationsG (2012) regelt die Frage nicht. 18 Vgl. Art. 10 Abs. 3 ICC Mediation Rules (2014); Art. 7 Abs. 2 SCC Mediation Rules (2014); Regel 8 JCAA International Commercial Mediation Rules (2009).

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Im Gegensatz zu den Regelungen über Schiedsverfahren verbieten jedoch einige wenige Mediationsregeln eine spätere Tätigkeit des Mediators als Schiedsrichter ausdrücklich. So ist in § 16 Abs. 1 S. 1, 2 des österreichischen Zivilrechts-Mediations-Gesetzes (ZivMediatG2004)19 und in Art. 20 der australischen ACICA Mediation Rules (2007) explizit geregelt, dass ein Mediator den Fall nicht als Schiedsrichter entscheiden darf. 3. Soft law Regelungen über Arb-Med-Arb Verfahren finden sich schließlich auch in den Guidelines on Conflicts of Interest in International Arbitration der International Bar Association (IBA Guidelines 2014) und den Rules on the Efficient Conduct of Proceedings in International Arbitration (Prague Rules 2018). Nach Art. 4 lit. d) IBA Guidelines20 und Art. 9 Abs. 2 Prague Rules ist es einem Schiedsrichter gestattet, in einem anschließenden Mediationsverfahren als Mediator tätig zu sein, wenn die Parteien dem vorher ausdrücklich bzw. schriftlich zustimmen. Darüber hinaus regelt Art. 9 Abs. 3 Prague Rules, dass der Mediator im Anschluss an das Scheitern der Mediation nur dann wieder als Schiedsrichter tätig werden darf, wenn beide Parteien seiner weiteren Tätigkeit am Ende der Mediation erneut schriftlich zustimmen. Ohne diese zweite Zustimmung der Parteien muss der Schiedsrichter-Mediator sein Mandat niederlegen.

III. Bedenken gegen eine Personalunion von Schiedsrichter und Mediator Die Zulässigkeit der Personalunion von Schiedsrichter und Mediator in Arb-Med-Arb-Verfahren löst eine Vielzahl an Bedenken aus. Ausgangspunkt dieser Bedenken ist die in Mediationsverfahren typische und wesentliche Technik des private caucusing. Im Rahmen von private caucuses führt der Mediator Einzelgespräche mit den Parteien in Abwesenheit der jeweils anderen Partei,21 um die Beweggründe der Parteien zu verstehen und so eine Einigung zielgerichtet zu unterstützen. Der Inhalt der Gespräche ist regel19 Allerdings wird auch vertreten, dass § 16 Abs. 1 S. 1, 2 ZivMediatG abdingbar seien, so Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 228. 20 Die Mediation durch den Schiedsrichter stellt einen „einwilligungsfähigen Umstand“ im Sinn der IBA Guidelines dar, vgl. Ziff. 2.1.2 der „Roten Liste der einwilligungsfähigen Umstände“ der IBA Guidelines: „Der Schiedsrichter war in der Vergangenheit mit der Streitsache befasst.“ 21 Vgl. Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 199 f.; Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 298; Thümmel in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2018, Art. 5 ICDR Rn. 1.

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mäßig vertraulich.22 In Schiedsverfahren sind ex parte Gespräche demgegenüber unzulässig, weil sie gegen den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör verstoßen und die Unparteilichkeit des Schiedsgerichts gefährden.23 1. Private caucusing Das Führen vertraulicher Einzelgespräche während der Mediationsphase eines Arb-Med-Arb-Verfahrens kann problematisch werden, wenn das Schiedsverfahren zu einem späteren Zeitpunkt von derselben Person in Kenntnis der vertraulichen Informationen fortgeführt wird. Aus diesem Grund wird teilweise vertreten, dass im Rahmen von Hybridverfahren auf Einzelgespräche vollständig verzichtet werden müsse.24 Dies überzeugt jedoch nicht, weil dadurch die positiven Effekte und die Effizienzsteigerung, die sich die Parteien durch die Unterbrechung des Schiedsverfahrens und den Wechsel in das Mediationsverfahren erhoffen, stark eingeschränkt würden. Denn die Erfolgsaussichten der Mediation hängen ganz wesentlich von der Möglichkeit des private caucusing ab.25 Aus diesem Grund ermöglichen auch viele Regelwerke explizit die Durchführung von Einzelgesprächen in der Mediationsphase eines Arb-Med-Arb-Verfahrens, entweder mit Zustimmung der Parteien26 oder sogar unabhängig vom Parteiwillen.27 2. Keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Werden in der Mediation vertrauliche Einzelgespräche geführt, wirft dies die Frage nach einem Verstoß gegen den (verfassungsrechtlich) verankerten 22 Berger RIW 2001, 881, 883; Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 199; Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 298; Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 61. 23 Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 298; Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 61; Thümmel in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2018, Art. 5 ICDR Rn. 1. 24 Nach Sec. 33 Abs. 2 NZIAC Arbitration Rules (2018) sind dem SchiedsrichterMediator Einzelgespräche untersagt; so auch Mourre Asian Dispute Review 2016, 94, 98. 25 Vgl. Markert SchiedsVZ 2016, 15, 20; Mason Journal of International Arbitration 2011, 541, 550. 26 Nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 JCAA Commercial Arbitration Rules (2019) steht das Verbot von Einzelgesprächen zur Disposition der Parteien; nach Art. 47 Abs. 2 CIETAC (2014) sind Einzelgespräche bei Zustimmung der Parteien erlaubt; vgl. auch den USamerikanischen Guide to Judicial Management of Cases in ADR (2002), S. 78 ff.; ebenso Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 200; Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 298; Marriott in van den Berg, New Horizons in International Commercial Arbitration and Beyond, 2005, 533, 541; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 92; Schneider in van den Berg, International Dispute Resolution: Towards an International Arbitration Culture, 1998, 57, 85, 87. 27 Sec. 27D Abs. 2 lit. a) NSW CAA 2010; Sec. 33 Abs. 3 lit. a) Hong Kong Arbitration Ordinance 2001; Sec. 63 Abs. 2 lit. a) Singapore Arbitration Act 2001; Sec. 17 Abs. 2 lit. a) Singapore International Arbitration Act 2002.

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Anspruch auf rechtliches Gehör auf.28 Denn die Parteien haben während der private caucuses nicht die Möglichkeit, auf den Sachvortrag der Gegenseite zu erwidern. Deshalb wird von einigen Autoren vertreten, dass vertrauliche Einzelgespräche in der Mediationsphase – unabhängig von einer Zustimmung der Parteien – nicht geführt werden dürfen.29 Dies überzeugt jedoch ebenfalls nicht. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht nur in (Schieds-) Gerichtsverfahren, nicht aber in Mediationsverfahren. Die Mediation ist kein Rechtsprozess, in dem ein Streitschlichter eine Entscheidung trifft, sondern ein Kommunikations- und Verhandlungsprozess.30 Bei einem ArbMed-Arb-Verfahren laufen Schiedsverfahren und Mediation nacheinander ab, wobei die einzelnen Verfahrensabschnitte streng zu trennen sind.31 Die verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsätze beanspruchen aber nur für den Verfahrensabschnitt Geltung, auf dessen Verfahren sie auch Anwendung finden. Sofern sich die Einzelgespräche also auf die Mediationsphase beschränken, besteht für eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör selbst dann kein Anhaltspunkt, wenn ihr Inhalt später nicht Gegenstand des Schiedsverfahrens wird.32 3. Umgang mit vertraulichen Informationen Erlangt der Schiedsrichter-Mediator während der Mediation im Rahmen von vertraulich geführten Einzelgesprächen vertrauliche Informationen, die die Parteien im Schiedsverfahren nicht offenbart hätten, stellt sich die Frage, wie mit diesen Informationen umzugehen ist, wenn das Schiedsverfahren nach gescheiterter Mediation fortgeführt wird. Die Bandbreite der hierzu vertretenen Ansichten reicht von der sog. „Chinese method“33, die in den chinesischen CIETAC Arbitration Rules geregelt ist,34 bis zur sog. „Hong Kong method“ der Hong Kong Arbitration Ordinance.35 28 In Deutschland ist dieser Grundsatz in Art. 103 Abs. 1 GG verankert. In der internationalen Literatur wird dieser Gedanke auch unter den Stichworten natural justice, equal treatment oder fair trial diskutiert. 29 So z.B. Mourre Asien Dispute Review 2016, 94, 98. 30 Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 197; Mason Journal of International Arbitration 2011, 541, 541; Plant in Newman/Hill, The Leading Arbitrators' Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 244. 31 Berger RIW 2001, 881, 884. 32 So auch Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 93. 33 Auch „Mainland-China-Approach“, vgl. Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 144; Trappe SchiedsVZ 2012, 79, 83. 34 Art. 47 Abs. 9 CIETAC (2014). 35 Sec. 33 Abs. 4 Hong Kong Arbitration Ordinance 2001; zum Begriff Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 144.

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Nach der „Chinese method“ bleibt die Vertraulichkeit der Mediation auch im nachfolgenden Schiedsverfahren gewahrt. Der Inhalt der private caususes darf also nicht zum Gegenstand des Schiedsverfahrens gemacht werden.36 Nach der „Hong Kong method“ ist der Schiedsrichter-Mediator im Falle des Scheiterns der Mediation dagegen sogar verpflichtet, alle entscheidungserheblichen und somit auch die vertraulichen Informationen offenzulegen, die er während der Mediation erlangt hat. Eine solche Offenlegungspflicht enthalten auch die Schiedsverfahrensgesetze von Singapur37 und Australien38. Zwischen diesen beiden Extremen werden viele vermittelnde Positionen vertreten. Meistens sehen diese vor, dass der Inhalt der Mediation vertraulich bleibt, die Tatsache, dass ein Einzelgespräch stattgefunden hat,39 bzw. dass vertrauliche Informationen mitgeteilt worden sind,40 aber jeweils offenzulegen ist. Die Vertraulichkeit von Informationen, die die Parteien dem Mediator mitteilen, gehört zum Wesen der Mediation41 und erhöht ihre Erfolgschancen erheblich.42 Aus diesem Grund sollte der Schiedsrichter-Mediator, vorbehaltlich eines anderen, explizit geäußerten Parteiwillens, alle Informationen, die er während der Mediation erhält, vertraulich behandeln.43 Um die Vertraulichkeit der Mediation zu wahren, sollten die Parteien den Schiedsrichter-Mediator daher explizit von der Pflicht befreien, während der Mediation erlangte Informationen, offenzulegen.44 36 Obwohl dies nach dem Wortlaut des Art. 47 Abs. 9 CIETAC nur für die Parteien gilt, ist das Schiedsgericht ebenfalls erfasst, vgl. Brödermann/Etgen in Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2018, CIETAC Art. 47 Rn. 6; Leung Asian Dispute Review 2012, 109, 109 f.; Stricker-Kellerer/Moser in Schütze, Institutional Arbitration, 2013, CIETAC Art. 47 Rn. 157; kritisch Yuen/Chalk Asian Dispute Review 2006, 68, 71. 37 Sec. 63 Abs. 3 Singapore Arbitration Act 2001; Sec. 17 Abs. 3 Singapore International Arbitration Act 2002. 38 Sec. 27D Abs. 7 NSW CAA 2010. 39 So Art. 59 Abs. 2 S. 2 JCAA Commercial Arbitration Rules (2019). 40 So Sec. 33 Abs. 6 lit. a) NZIAC Arbitration Rules (2018). 41 Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 61; Vorpeil RIW 2014, 37, 40. 42 Markert SchiedsVZ 2016, 15, 20; Mason Journal of International Arbitration 2011, 541, 550; Nigmatullina Journal of International Arbitration 2016, 37, 57 f., 68; Nigmatullina, Belgian Review of Arbitration 2019, 7, 14 f.; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 100; Yuen/Chalk Asian Dispute Review 2006, 68, 70 f. 43 So auch Plant Journal of International Arbitration 2000, 143, 146; Plant in Newman/ Hill, The Leading Arbitrators’ Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 255 f.; Schneider in van den Berg, International Dispute Resolution: Towards an International Arbitration Culture, 1998, 57, 68; Vorpeil RIW 2014, 37, 40. 44 So Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 96. Diese Befreiung soll sich nach Rosoff bereits konkludent aus der Vereinbarung ergeben, ein Arb-Med-Arb-Verfahren mit vertraulicher Mediation unter Leitung derselben Person durchzuführen.

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Dieser Ansatz wird im Regelfall auch dem Interesse der Parteien an einer effizienten Streitbeilegung gerecht. Denn die Parteien würden gegenüber dem Mediator nicht offen und unbefangen sprechen, wenn sie wüssten, dass der Inhalt dieser Gespräche später der anderen Partei mitgeteilt wird. Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Parteien ausdrücklich auf die Vertraulichkeit der Mediation verzichten, oder die vertraulichen Informationen später selbst in das Schiedsverfahren einbringen.45 4. Unparteilichkeit des Schiedsrichters Erlangt der Schiedsrichter-Mediator während der Mediation vertrauliche Informationen, die er nach erfolgloser Durchführung des Mediationsverfahrens in dem Schiedsverfahren nicht berücksichtigen darf, ruft dies die Sorge hervor, der Schiedsrichter-Mediator könne den Fall nicht mehr unparteiisch entscheiden. In der Tat wird es dem Schiedsrichter-Mediator nur schwer möglich sein, den Inhalt der Mediation im nachfolgenden Schiedsverfahren völlig auszublenden.46 Dies steht der Personalunion von Schiedsrichter und Mediator aber nicht prinzipiell entgegen. Denn auch in „einfachen“ Schiedsverfahren muss ein Schiedsrichter unzulässig eingeführte Beweismittel oder öffentliche Presseberichte bei der Entscheidung unberücksichtigt lassen. Dies stellt seine Unparteilichkeit normalerweise aber nicht in Frage.47 Wenn die Informationen einem vertraulichen Einzelgespräch entstammen, rechtfertigt das keine andere Beurteilung. Im Gegenteil: in diesen Fällen ist sich der Schiedsrichter-Mediator umso mehr bewusst, dass es sich bei den Informationen um einseitige Darstellungen einer Partei handelt.48 Unabhängig davon bleibt der Schiedsrichter-Mediator natürlich zur Unparteilichkeit verpflichtet. Hält er sich nach dem Mediationsverfahren selbst – aus welchen Gründen auch immer – für befangen, muss er dies den Parteien mitteilen und sein Mandat niederlegen.49 45 Vgl. Art. 3 Abs. 1 SCC Mediation Rules (2014); Marriott in van den Berg, New Horizons in International Commercial Arbitration and Beyond, 2005, 533, 544; Plant Journal of International Arbitration 2000, 143, 146; Plant in Newman/Hill, The Leading Arbitrators' Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 254 ff. 46 Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 201; Dendorfer SchiedsVZ 2009, 276, 281; Goldberg/Sander/Rogers/Cole Dispute Resolution, 4. Aufl. 2003, S. 293; Kun Journal of International Arbitration 2012, 715, 720; Mourre Asian Dispute Review 2016, 94, 98; Pitkowitz/ Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229; Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 145. 47 Plant in Newman/Hill, The Leading Arbitrators' Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 255; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 97; Schneider in van den Berg, International Dispute Resolution: Towards an International Arbitration Culture, 1998, 57, 94. 48 So auch Schneider in van den Berg, International Dispute Resolution: Towards an International Arbitration Culture, 1998, 57, 94. 49 Vgl. bspw. Art. 9 Abs. 1 DIS SchO (2018); § 1036 Abs. 1 ZPO; Art. 9 Abs. 1 Swiss Rules (2012); Art. 11 Abs. 1 ICC Arbitration Rules (2017); Art. 24 Abs. 1 JCAA Commer-

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5. Verzicht auf die Befangenheitsrüge Ein echtes Risiko für ein Arb-Med-Arb-Verfahren, das unter der Leitung derselben Person durchgeführt wird, liegt aber darin, dass eine Partei den Schiedsrichter-Mediator nach der Durchführung der Mediation für befangen hält und daher als Schiedsrichter für das (fortgesetzte) Schiedsverfahren ablehnt. Denn gerade während der Mediation kann bei einer Partei der Eindruck entstehen, dass der Schiedsrichter-Mediator nicht neutral ist.50 Dieses Problem scheint auf den ersten Blick gelöst, weil die Parteien nach gängiger Lesart vor Beginn des Arb-Med-Arb-Verfahrens nicht nur dem Wechsel der Verfahrensarten zustimmen, sondern zudem darauf verzichten, den infolge der Mediation möglicherweise entstehenden Anschein der Befangenheit geltend zu machen und hierauf ein Ablehnungsverfahren zu stützen.51 Dieser Verzicht wird teilweise unmittelbar an die Zustimmungserklärung der Parteien zur Durchführung eines Arb-Med-Arb-Verfahrens unter derselben personellen Leitung geknüpft.52 Daneben wird vertreten, dass die Parteien einen solchen Verzicht ausdrücklich53 oder konkludent54 erklären müssen. Der vorherige Verzicht der Parteien, nach der Mediation die Befangenheitsrüge gegen den Schiedsrichter-Mediator zu erheben, kann aber nur Situationen erfassen, in denen der Anschein der Befangenheit durch die Medicial Arbitration Rules (2019); Sec. 2 lit. a) und 4 lit. d) IBA Guidelines on Conflicts of Interest in International Arbitration (2014); Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 127; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 93, 96; Yuen/Chalk Asian Dispute Review 2006, 68, 71. 50 Vgl. Dendorfer SchiedsVZ 2009, 276, 282; Goldberg/Sander/Rogers/Cole Dispute Resolution, 4. Aufl. 2003, 293; Horvath SchiedsVZ 2005, 292, 298 f.; Lew/Mistelis/Kröll Comparative International Commercial Arbitration, 2002, Rn. 1–48; Mason Journal of International Arbitration 2011, 541, 545; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 225. 51 Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 122; Dendorfer/Lack SchiedsVZ 2007, 195, 201; Plant Journal of International Arbitration 2000, 143, 146; Plant in Newman/Hill, The Leading Arbitrators' Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 255; Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 89 ff., 93 ff. 52 Dies gilt v.a. für die Schiedsregelungen, die Arb-Med-Arb-Verfahren unter derselben personellen Leitung ausdrücklich vorsehen: Art. 59 Abs. 1 S. 2 JCAA Commercial Arbitration Rules (2019); Sec. 33 Abs. 5 NZIAC Arbitration Rules (2018); Sec. 33 Abs. 5 Hong Kong Arbitration Ordinance 2001; Sec. 63 Abs. 4 Singapore Arbitration Act 2001; Sec. 17 Abs. 4 Singapore International Arbitration Act 2002. 53 Sec. 4 lit. d) IBA Guidelines on Conflicts of Interest in International Arbitration (2014); ebenso Plant Journal of International Arbitration 2000, 143, 146; Plant in Newman/Hill, The Leading Arbitrators' Guide to International Arbitration, 2. Aufl. 2008, 241, 255. 54 Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 94 f. Danach soll für die konkludente Vereinbarung die Abrede der Parteien ausreichen, dieselbe Person als Schiedsrichter und Mediator auszuwählen. In der Tat ist es nur schwer vorstellbar, dass die Parteien sich hierauf verständigen, ohne dabei zugleich einen entsprechenden Rügeverzicht zu beabsichtigen.

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ation als solche begründet wird. Wenn jedoch erst das Verhalten des Schiedsrichter-Mediators während der Mediation eine Partei dazu veranlasst, seine Unparteilichkeit in Frage zu stellen, muss es der Partei trotz des bereits erklärten Rügeverzichts möglich sein, den Schiedsrichter-Mediator abzulehnen.55 Die Beurteilung der Frage, ob der (subjektive) Eindruck der Befangenheit auf der Tätigkeit des Schiedsrichter-Mediators als solcher oder auf seinem konkreten Verhalten während der Mediation beruht, ist abgesehen von den Fällen gravierender Pflichtverstöße und dem offensichtlichen Missbrauch seiner Doppelfunktion jedoch ausgesprochen schwierig.56 Die Abgrenzung wird noch schwieriger, wenn vertrauliche Einzelgespräche geführt werden und die jeweils andere Partei daher nicht genau weiß, was der Schiedsrichter-Mediator während des Mediationsverfahrens erfahren, und wie er sich dabei verhalten hat.57 Dies begründet das hohe Risiko, dass sich eine Partei nach dem Scheitern der Mediation ungerecht behandelt fühlt und behauptet, es gebe berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Schiedsrichter-Mediators. Solche Situationen können durch den anfänglich erklärten Rügeverzicht nicht vermieden werden. Denn die Parteien entscheiden zu einem sehr frühen Verfahrenszeitpunkt, dass sie den Schiedsrichter-Mediator auch mit der Führung des Mediationsverfahrens und im Fall dessen Scheiterns mit der Fortführung des Schiedsverfahrens und der Abfassung eines Schiedsspruchs betrauen wollen. Zu diesem frühen Zeitpunkt können die Parteien nicht wissen, wie der Schiedsrichter-Mediator bei der Mediation konkret vorgeht, wie er sich verhält und wie er mit den vertraulichen Informationen, die ihm anvertraut werden, umgeht.58 Ein „informed consent“ zu einem umfassenden Verzicht auf eine spätere Befangenheitsrüge ist vor der Durchführung des Mediationsverfahrens daher nicht möglich.59 6. Erforderlichkeit eines zweiten Verzichts auf die Befangenheitsrüge Diese Unsicherheiten können nur durch eine zweite, zusätzliche Erklärung der Parteien am Ende des Mediationsverfahrens ausgeräumt werden. Stimmen die Parteien nach Durchführung der Mediation in voller Kenntnis aller Vorgänge und Umstände des bisherigen Verfahrens der Fortsetzung des Schiedsverfahrens durch den Schiedsrichter-Mediator zu, erkennen sie 55 So auch Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 124, 126, 1239; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229. 56 Vgl. Almoguera in Liber Amicorum Bernardo Cremades, 2010, 101, 124, 126, 129; Marriott in van den Berg, New Horizons in International Commercial Arbitration and Beyond, 2005, 533, 544; Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229. 57 Vgl. Rosoff Journal of International Arbitration 2009, 89, 97 f. 58 Vgl. Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229. 59 So auch Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 144 f.

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damit das Mediationsverfahrens als ordnungsgemäß durchgeführt an und verzichten zugleich darauf, eine Befangenheitsrüge gegen den Schiedsrichter-Mediator zu erheben.60 Dieser zweite Verzicht auf die Befangenheitsrüge basiert auf einer umfassenden Informationsgrundlage, so dass die Parteien eine spätere Ablehnung des Schiedsrichters nicht mehr auf das Mediationsverfahren selbst oder auf das Verhalten des Schiedsrichter-Mediators während des Mediationsverfahrens stützen können. Durch diesen zweiten Verzicht auf die Befangenheitsrüge kann somit ausgeschlossen werden, dass eine Anfechtung des Schiedsspruchs im Zusammenhang mit der Mediation Erfolg haben wird. Dieser Gedanke findet sich auch in den Schiedsverfahrensgesetzen von Australien, der neuseeländischen Schiedsordnung NZIAC und den Prague Rules.61. Danach darf der Schiedsrichter-Mediator nach einem Scheitern der Mediation das Schiedsverfahren nur dann fortführen, wenn die Parteien nach dem Abschluss der Mediation der Fortsetzung des Schiedsverfahrens ausdrücklich erneut zustimmen. Andernfalls muss der SchiedsrichterMediator sein Mandat niederlegen.

IV. Fazit Ein Schiedsrichter kann in ein und demselben Verfahren als Schiedsrichter und als Mediator tätig sein, wenn die Parteien dies ausdrücklich wünschen. Erfolgversprechend ist eine solche Vereinbarung aber nur dann, wenn es dem Schiedsrichter-Mediator gestattet ist, in der Mediationsphase Einzelgespräche zu führen, und die in diesen Gesprächen geteilten Informationen auch nach dem Ende der Mediation vertraulich bleiben. Gerade dies löst jedoch oft Unbehagen bei den Parteien aus, wenn das Mediationsverfahren scheitert und der Schiedsrichter-Mediator den Fall streitig entscheiden muss. Die vor Durchführung der Mediation erteilte Zustimmung der Parteien zu einem Arb-Med-Arb-Verfahren unter derselben personellen Leitung kann nicht als umfassender Verzicht auf jegliches Ablehnungsrecht nach der Mediation gewertet werden. Es ist deshalb erforderlich, dass die Parteien der weiteren Tätigkeit des Mediators als Schiedsrichter am Ende der Mediation erneut zustimmen. 60 So im Ergebnis auch Falk/Koren Zivilrechts-Mediations-Gesetz Kommentar zum ZivMediatG, 2005, Art. 16, Kap. 8.5.6, S. 133 ff., zitiert nach Pitkowitz/Richter Schieds VZ 2007, 225, 229; Sato Journal of International Arbitration 2005, 141, 144 f.; wohl auch Berger RIW 2001, 881, 884; a.A. Pitkowitz/Richter SchiedsVZ 2009, 225, 229, deren Argumentation wegen der dargestellten Abgrenzungsschwierigkeiten jedoch nicht verfängt. 61 Sec. 27D Abs. 4 NSW CAA; Sec. 33 Abs. 6 lit. b) NZIAC Arbitration Rules; Art. 9 Abs. 3 der Prague Rules.

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Für den Schiedsrichter-Mediator birgt das Erfordernis dieser zweiten Zustimmung erhebliche Risiken. So ist unklar, was passiert, wenn eine Partei den Schiedsrichter-Mediator nach der Durchführung des Mediationsverfahrens ablehnt oder den zweiten Verzicht auf die Befangenheitsrüge verweigert. Dem Schiedsrichter-Mediator wird dann oft nichts anderes übrigbleiben, als sein Amt niederzulegen. Dann aber muss unter Umständen das gesamte Schiedsverfahren von Neuem durchgeführt werden, was zu erheblichen Verzögerungen und Kostensteigerungen führt. Das eigentliche Ziel der gewählten Hybrid-Verfahrensart wird also nicht nur verfehlt, sondern ins Gegenteil verkehrt. Auch für den Schiedsrichter-Mediator selbst ist das Risiko hoch, droht doch der Verlust seines Schiedsrichter-Honorars. Dies ist weder für die Parteien noch für den Schiedsrichter-Mediator noch für das Schiedsgericht ein zufriedenstellendes Ergebnis. Ein Schiedsrichter, der vor der Entscheidung steht, ob er in demselben Verfahren zugleich als Mediator tätig werden soll, sollte sich dieses Risikos bewusst sein.

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Der unabhängige Beirat und Aufsichtsrat aus der Sicht eines Nicht-Juristen

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Der unabhängige Beirat und Aufsichtsrat aus der Sicht eines Nicht-Juristen Rudolf X. Ruter

Der unabhängige Beirat und Aufsichtsrat aus der Sicht eines Nicht-Juristen1 RUDOLF X. RUTER

I. ‚Personal-Governance‘ als Basis einer nachhaltigen Unternehmensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolgreiche Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Es benötigt einen Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . II. Normale und gelebte Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . 1. Normale, materielle Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . 2. Normale, finanzielle Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . 3. Normale, emotionale Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . 4. Normale, persönliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . 5. Gelebte Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterschied zwischen innerer Unabhängigkeit in der Tat und äußeren Unabhängigkeit in der Erscheinung . . . . . IV. Wohl des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Geistige Unabhängigkeit durch Reflexion . . . . . . . . . . . VI. Tapferkeit und Mut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht nur eine Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unabhängigkeit ist Ethos, kein Regulativ . . . . . . . . . . .

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„Beirat und Aufsichtsrat müssen allein zum Wohle und im Sinne des Unternehmens entscheiden können, ohne Rücksichtnahme auf persönliche Bindungen oder eigene Interessen.“ I. ‚Personal-Governance‘ als Basis einer nachhaltigen Unternehmensführung 1. Erfolgreiche Führung Erfolgreiche Führung ist immer mit Blick auf die Zukunft, also nachhaltig in der zeitlichen Dimension, ausgestaltet. Dazu ist vor allem Mut zur Verant1 In diesem Beitrag eines Nicht-Juristen gibt es keine Paragraphen, Fußnoten oder sonstige Ablenkungen, da es in diesem Beitrag im Kern um den gesunden Menschenverstand geht und nicht um juristische Spitzfindigkeiten.

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wortung gefragt: Mut über das Tagesgeschäft oder den Quartalsbericht Kernfragen hinaus zu denken. Mut dem Wichtigen im Zweifel Vorrang vor dem Dringlichen zu geben. Mut entscheiden zu wollen. Mut die daran folgenden Konsequenzen zu tragen. Das bedeutet nicht nur das Abwägen zwischen kurzfristigen und langfristigen Folgen, sondern auch das Verfolgen verschiedener Zieldimensionen ausschließlich und stets zum Wohle des Unternehmens. Gewinnerzielung, Umweltschonung und Mitarbeiterorientierung müssen ausbalanciert werden. Das erfordert Mut und Tapferkeit. Neben allen Mitgliedern der Geschäftsführung müssen sich auch alle Mitglieder des Beirats und Aufsichtsrat stetig fragen: Bin ich tapfer genug? Bin ich mutig genug? Habe ich stets alle Informationen erforscht? Frage ich immer engagiert nach? Will ich entscheiden? Das sind insbesondere für den ehrbaren Beirat und den ehrbaren Aufsichtsrat die Kernfragen, die er sich in seiner Überwachungs- und Beratungsverantwortung stellen muss. Tapferkeit hat weniger mit Risiken und Gefahren zu tun denen man sich aussetzt, sondern vor allem mit der eigenen Überzeugung und der persönlichen Sinn- und Werte-Orientierung. Wofür setze ich mich ein? Wofür stehe ich? Lohnt es sich dafür im ethischen Sinne mutig zu kämpfen? Habe ich Rückgrat? 2. Es benötigt einen Perspektivenwechsel Was ist nun die Basis für diese Tapferkeit und für diesen Mut? Wo schöpfen der ehrbare Beirat und Aufsichtsrat diese Kraft? Meiner Meinung nach ist Unabhängigkeit neben Persönlichkeit und Charakter die entscheidende Kraftquelle für gelebte Tapferkeit und Mut. Wir brauchen in der fortlaufenden Corporate-Governance-Diskussion einen Perspektivenwechsel: von der Governance des Unternehmens zur persönlichen Governance des Topmanagers. Es geht dabei um ein neues Managementverständnis: um reflektierte Selbsteinschätzung und Selbstüberprüfung, um ethisches Management. Eine in vielen Belangen vielfältige und umfassende Unabhängigkeit ist dabei der wichtigste aller „Personal-Governance-Grundsätze“, die die eigenen und fremden Ansprüche an Haltung und Verhalten von Beiräten und Aufsichtsräten (und natürlich auch Vorständen und sonstigen Führungskräften) konkretisiert. Unabhängigkeit ist kein Regulativ. Unabhängigkeit muss für Mitglieder von Aufsichtsorganen Ethos sein. Eine vom Bewusstsein sittlicher Werte geprägte Gesinnung. Manche nennen es auch Persönlichkeit oder Gesamthaltung.

II. Normale und gelebte Unabhängigkeit Der Begriff der ‚normalen‘ oder ‚formalen‘ Unabhängigkeit ist im Aktiengesetz nicht klar definiert. Relevante Rechtssprechung zu den Anforderun-

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gen an die Unabhängigkeit gibt es bisher nicht. In umfangreicher Literatur wird die rechtliche Frage der ‚normalen, materiellen‘ Unabhängigkeit allerdings immer ausführlicher diskutiert. Insbesondere nach der Neuformulierung bzw. Konkretisierung der bisherigen rudimentären Anforderungen an die Unabhängigkeit von Aufsichtsräten wird die ‚materielle‘ Unabhängigkeit intensiv definiert und interpretiert (vgl. hierzu die Umfangreiche Literatur zur aktuellen Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex). Im Kern geht es aber gar nicht um juristische Spitzfindigkeiten, sondern um den gesunden Menschenverstand. In der Regel weiß jeder Betroffene, wann er in welcher Situation abhängig bzw. unabhängig entscheidet und handelt. Es geht also neben der ‚legalen‘ Unabhängigkeit vielmehr immer auch um die ‚legitime‘ Unabhängigkeit, die sich in vielfältigen Formen und Ausprägungen zeigt: materielle, finanzielle, emotionale und persönliche Unabhängigkeit mit wesentlichen zu klärenden Fragen und potentiellen Konflikten; z.B.: 1. Normale, materielle Unabhängigkeit Bestehen wesentliche direkte oder indirekte Beziehungen zu einem größeren, möglicherweise kontrollierenden (Mehrheits-) Gesellschafter bzw. Aktionär, der eventuell auch noch konkrete Einfluss- und Weisungsrechte wahrnimmt? Steht man möglicherweise selbst als wesentlicher Lieferant, Kunde, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Finanzgeber oder gar als Konkurrent in Geschäftsbeziehung zum Unternehmen? Besteht ein wesentlicher Interessenskonflikt, der die eigene Urteils- und Entscheidungsfähigkeit ‚zum Wohle des zu beaufsichtigen Unternehmens‘ maßgeblich beeinträchtigt? 2. Normale, finanzielle Unabhängigkeit Inwieweit sind finanzielle Honorierungen für Aufsichtsgremienarbeiten für den einzelnen Beirat und Aufsichtsrat relevante persönliche Einkünfte, auf die der Einzelne nur schwer verzichten kann oder will und die er nicht durch ‚unliebsame‘ Entscheidungen und Handlungen gefährden will? Gibt es ein selbstständiges, durch die Satzung oder Hauptversammlungsbeschluss festgelegtes Budget für den Beirat und Aufsichtsrat für die selbstständige Vergabe von Gutachten, Hinzuziehung von sachverständigen Dritten oder sonstiger überwachungs- und beratungsrelevanten Aufwendungen? Ohne ein solches Budget muss der Überwacher beim Überwachten um die Finanzierung nachfragen und bitten, da der Gesetzgeber bisher im AktG mit keinem Wort gewürdigt hat, welche finanziellen Mittel in diesem Zusammenhang durch die Gesellschaft zu tragen sind.

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3. Normale, emotionale Unabhängigkeit Existieren verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zu wesentlichen Entscheidungsträgern aus dem Gesellschafter- oder Vorstandskreis, die eine eigene Unabhängigkeit maßgeblich beeinträchtigen? Wie oft sind Mitglieder des Beirats und Aufsichtsrats eingeladen und eingebunden in repräsentative Ereignisse des Unternehmens oder treten in der Öffentlichkeit gar als Stellvertreter für Mitglieder des Vorstands und der Geschäftsführung (bei Golfturnieren, Fußballlogen, Opernpremieren etc.) in Erscheinung? 4. Normale, persönliche Unabhängigkeit Gefährdet eine eingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit mit gleichzeitiger Unterschätzung des erforderlichen Zeitbedarfs für die persönliche Vorbereitung der Sitzungsteilnahme, Sitzungsteilnahme selbst, Nachbereitung der Sitzungsteilnahme, zwischenzeitliche Verfügbarkeit (insbesondere in Krisensituationen mit erhöhter Sitzungsfrequenz) und Kommunikation mit den Gremiumskollegen, zusätzliche persönliche Informationsversorgung (z.B. Studieren der Branchenfachnachrichten), Fort- und Weiterbildung (z.B. in der sich schnell ändernden Gesetzgebung und Rechtssprechung) die Unabhängigkeit des einzelnen Beirats und Aufsichtsrat? Besteht eine ausreichende fachliche Kompetenz um eigenverantwortlich auch komplexe Situationen und Sachverhalte wahrzunehmen, zu beurteilen und zu entscheiden? 5. Gelebte Unabhängigkeit Die persönliche Unabhängigkeit von Mitgliedern des Aufsichtsgremiums ist die grundlegende Basis, um Entscheidungen losgelöst von jeglichen Eigeninteressen treffen zu können. Entscheidend in der Alltagssituation ist neben der ‚normalen‘ oder ‚formalen‘ Unabhängigkeit allerdings viel mehr die tatsächliche, ‚(vor-)gelebte‘ Unabhängigkeit. Immer mehr weisen Governance-Experten zu Recht darauf hin, dass zur Vermeidung gravierender Prüfungs- und Governance-Unfälle die ‚gelebte‘ Unabhängigkeit zumindest gleichgewichtig ist zur ‚formalen‘ Unabhängigkeit. Dazu gehört neben der Fachkompetenz und der Bereitschaft zu unabhängiger Analyse sowie intensiver Diskussion auch ausreichende Standfestigkeit. Also Mut und Tapferkeit als Königsdisziplin der Tugenden sind erforderlich. Persönlichkeit und Gesamthaltung. Haltung bedeutet aber immer auch persönlicher Aufwand in Form von Zeit, Geduld und letztendlich Geld.

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Der wesentliche Unterschied zwischen ‚formaler‘ und ‚gelebter‘ Unabhängigkeit kann am besten aus der Perspektive des fremden Dritten gemessen werden.

III. Unterschied zwischen innerer Unabhängigkeit in der Tat und äußeren Unabhängigkeit in der Erscheinung Die ‚gelebte, echte‘ bzw. ‚innere‘ Unabhängigkeit zeigt sich in derzeitigen und zukünftigen Entscheidungen bzw. in Handlungen selbst (‚Unabhängigkeit in der Tat‘). Dabei müssen der ehrbare Beirat und Aufsichtsrat gewährleisten, dass er sowohl gegenüber Einflüssen von außen als auch vom eigenen Wesen frei ist von jeglichen Interessens- und Rollenkonflikten bzw. muss diese gegebenenfalls sofort transparent offenlegen. Wer eitel, selbstherrlich oder selbstgerecht entscheidet, ist ungeeignet. Die Fähigkeit der inneren Unabhängigkeit (‚independence in mind‘) steht für Selbstbestimmung, Entscheidungsfreiheit und Selbstständigkeit. Bei der ‚äußeren‘, wahrgenommenen Unabhängigkeit (‚independence in appearance‘) ist die Perspektive des fremden Dritten entscheidend. Der ehrbare Beirat und Aufsichtsrat muss jedwede Umstände vermeiden, welche einen Dritten dazu veranlassen könnten, seine Objektivität und Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen. Das Nichtbestehen der Besorgnis der Befangenheit steht hierbei im Vordergrund. Diese äußere Unabhängigkeit ist deshalb so wichtig, weil ein fremder Dritter (‚von außen‘) in der Regel Schwierigkeiten haben wird, festzustellen, ob ein Beirats- und Aufsichtsratsmitglied tatsächlich finanziell, emotional und persönlich unabhängig ist. In der Regel ist es unmöglich, die mentale Einstellung und die persönliche Integrität einer Person zu beobachten und zu messen. Aus diesem Grund ist die wahrgenommene äußere Unabhängigkeit von solcher Wichtigkeit für die Reputation und Ehrbarkeit des Beirats und Aufsichtsrats. Unabhängig zu Entscheiden und zu Handeln (‚Unabhängigkeit in der Tat‘) ist immer leichter als die ‚Unabhängigkeit im Erscheinen‘ (ohne im Moment des Scheines beobachtbare Handlung). Aufkommende Zweifel an dieser äußeren Unabhängigkeit führen oft zum baldigen Ende der tatsächlichen, inneren Unabhängigkeit.

IV. Wohl des Unternehmens Ausgehend von dem Postulat, dass alle Aktionäre und Gesellschafter, sowohl Groß- als auch Kleinaktionäre, institutionelle oder aktivistische Investoren, stets das Wohl und das Interesse des Unternehmens bei ihren Entscheidungen und Handlungen zugrunde legen, ist das einzelne Mitglied des

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Beirats und Aufsichtsrats bei der inneren und äußeren Unabhängigkeit ebenfalls ausschließlich dem Wohl des Unternehmens – nicht einzelner Stakeholder – verpflichtet. Frei von jeglichen Einflüssen Dritter muss selbstständig entschieden und gehandelt werden. Eigene persönliche Interessen oder gar Interessen anderer Unternehmen dürfen nicht entscheidend sein. Es zählt nicht der konkrete Konflikt sondern auch und insbesondere der potenzielle Interessens- und Rollenkonflikt. Geschäftschancen, die dem Unternehmen zustehen, dürfen nicht für sich selbst genutzt werden. Dass kann dann gegebenenfalls zu einer sofortigen Mandatsniederlegung und zu einem Nicht-Mandatsantritt (‚Cooling-off-Period‘) führen, d.h. ein Mandat in einem Aufsichtsgremium kann nicht übernommen werden, wenn die Umsetzung einer Strategie zu überwachen ist, die man in den letzten Jahren maßgeblich mitentwickelt bzw. geprägt hat.

V. Geistige Unabhängigkeit durch Reflexion Ehrbare Beiräte und Aufsichtsräte haben die Fähigkeit zur (Eigen-) Reflexion, des Überdenkens und Unterbrechens, weil sie emotional, materiell und persönlich unabhängig sind. Unabhängigkeit bedeutet im Wesentlichen geistige Freiheit: Freiheit, die es jedem tapferen und mutigen Mitglied des Beirats und Aufsichtsrats ermöglicht, ungestraft Kritik an den bestehenden Verhältnissen und agierenden Personen zu üben und auszusprechen. Ehrbare Beiräte und Aufsichtsräte verstehen sich als Verantwortungsträger und akzeptieren neben der inneren auch externen persönlichen Evaluation und Beurteilung durch andere. Durch diese (externe) Reflexion beugen sie einer eventuellen Selbsttäuschung und einer eigenen Fehleinschätzung vor. Diese tatsächliche Unabhängigkeit des Geisteszustandes, indem sie sich befinden, ist maßgeblich, wie sie in bestimmter Situation entscheiden und handeln. Sie erlaubt ihnen, bei Bedarf auch den Aufsichtsratsvorsitzenden und/oder den Mehrheitsaktionär (einschließlich Vertretern von sogenannten Private Equity Häusern) zum Wohle des Unternehmens zu kritisieren und zu widersprechen – ganz im Sinne des griechischen Staatsmanns Perikles (ca. 490 v. Chr.–429 v. Chr.) ‚Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut‘.

VI. Tapferkeit und Mut 1. Nicht nur eine Tugend Tapferkeit ist die menschliche Fähigkeit als Person oder als Gruppe Gleichgesinnter einer komplexen und schwierigen, mit Nachteilen verbun-

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denen Situation trotz evtl. Rückschläge furchtlos entgegen zu treten und an seinem Erfolgswillen festzuhalten. „Mut und Tapferkeit sind nicht einfach nur eine der Tugenden, sondern die Form, die jede Tugend im entscheidenden Augenblick annimmt und das heißt: im Augenblick höchster Wirklichkeit“ definierte C. S. Lewis (1898–1963), irischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Der Tapfere ist bereit, für höhere Werte Opfer zu bringen und Gefahren auf sich zu nehmen. Er ist mutig und kennt aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse die Risiken und die Angst, kann diese aber überwinden. Tapferkeit hat weniger mit Risiken und Gefahren zu tun, denen man sich aussetzt, sondern vor allem mit der eigenen Überzeugung und der persönlichen Sinn- und Werte-Orientierung. Wofür setze ich mich ein? Wofür stehe ich? Lohnt es sich dafür im ethischen Sinne mutig zu kämpfen? Habe ich Rückgrat? 2. Unabhängigkeit ist Ethos, kein Regulativ Im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und gesellschaftlichen Rahmenbedingen und der Sinn- und Werte-Orientierung ihrer Unternehmen müssen ehrbare Beiräte und Aufsichtsräte ihren Mandatsverantwortlichkeiten professionell, unabhängig und selbstbestimmt nachkommen. „Ein Mann muss immer streben, unabhängig in sich dazustehen“ formuliert es schon der deutsche Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Sofern ein Gefühl des Unwohlseins bzgl. des eigenen Urteilsvermögens oder ein keimender Zweifel an der eigenen Unabhängigkeit aufkommt, ist der ehrbare Beirat und Aufsichtsrat gut beraten, eventuell sich entwickelnde oder bereits schon vorhandene Interessens- und Rollenkonflikte deutlich und vor allem schnell umfangreich offenzulegen und allen wesentlichen Stakeholdern transparent zu machen. Gegebenenfalls legt der ehrbare Beirat oder Aufsichtsrat in letzter Konsequenz sein Mandat nieder – zum Wohl und Interesse des Unternehmens. Unabhängigkeit ist Ethos, nicht Regulativ. Ein ehrbarer Aufsichtsrat und Beirat muss stets ein Leuchtturm der Verlässlichkeit und Unabhängigkeit eines Unternehmens sein.

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A comparison of the recognition and enforcement of foreign decisions Klaus Sachs und Marcus Weiler

A comparison of the recognition and enforcement of foreign decisions under the 1958 New York Convention and the 2019 Hague Judgments Convention KLAUS SACHS

UND

MARCUS WEILER

I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Conceptual approaches to recognition and enforcement . . . 1. Scope of application . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definition of arbitral awards and court judgments . . . . . . . 3. Eligibility for recognition and enforcement . . . . . . . . . . . 4. Reciprocity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bilateralisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Further reservations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Interim conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Refusal of recognition and enforcement . . . . . . . . . . . . . . 1. Ongoing review in the state of origin or at the seat of arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annulment in the state of origin or at the seat of arbitration 3. Review of jurisdiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Res judicata and lis pendens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Procedural unfairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Public policy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Interim conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Relationship of the two conventions . . . . . . . . . . . . . . . . V. Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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In his remarkable career, Professor Dr. Roderich Thümmel has made numerous significant contributions to the resolution of complex disputes before national courts and international arbitral tribunals. We wish to pay tribute to his outstanding achievements as party counsel, arbitrator and legal scholar by focussing on a topic at the intersection of litigation and arbitration. In this contribution, we seek to compare the recognition and enforcement of foreign court judgments and arbitral awards under the 2019 Hague Judgments Convention and the 1958 New York Convention.

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I. Introduction The last few years have seen a significant increase in the number of specialized international commercial courts on different continents, with recent launches of the Singapore International Commercial Court in 2015, the China International Commercial Courts in 2018 and the Netherlands Commercial Court in 2019. A 2018 study prepared for the European Parliament’s Committee on Legal Affairs speaks of a “global competition for international commercial disputes that has gained momentum over recent years and triggered the establishment of international commercial courts around the world”.1 This development has not gone unnoticed by the arbitration community and led to some debate as to whether commercial courts pose a threat to the prominent role of arbitration in international dispute settlement.2 In this debate, the almost global enforceability of arbitral awards in 161 member states by way of the 1958 Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards (“New York Convention”) has often been hailed as the hallmark of international commercial arbitration and instrumental to its prevalence and popularity.3 Advocates of international arbitration could so far take comfort in the fact that there was no significant international convention on the recognition and enforcement of foreign court judgments.4 This may have changed on 2 July 2019 when the delegates of the 22nd Diplomatic Session of the Hague Conference on Private International Law adopted the 2019 Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil or Commercial Matters (“Judgments Convention”). Building upon the 2005 Hague Choice of Court Convention, the new Hague Convention seeks to establish a comprehensive and global framework for the recognition and enforcement of foreign court judgments inde1 Study for the European Parliament’s Committee on Legal Affairs (JURI Committee), Building Competence in Commercial Law in the Member States, authored by Prof. Dr. Giesela Rühl, 14 September 2018, available at http://www.europarl.europa.eu/RegData/ etudes/STUD/2018/604980/IPOL_STU(2018)604980_EN.pdf (last accessed 6 November 2019), p. 9. 2 See e.g. Michael Hwang, Commercial courts and international arbitration – competitors or partners?, 31 Arbitration International 2015, pp. 193–212; Dorothee Ruckteschler, Tanja Stooß, International Commercial Courts: A Superior Alternative to Arbitration?, 36 Journal of International Arbitration 4(2019), pp. 431–450. 3 Dorothee Ruckteschler, Tanja Stooß, International Commercial Courts: A Superior Alternative to Arbitration?, 36 Journal of International Arbitration 4(2019), p. 448. 4 While the members of the Hague Conference on Private International Law already concluded a Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil and Commercial Matters on 1 February 1971, it has only ever been ratified by five states (Albania, Kuwait, the Netherlands, Portugal and Cyprus).

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pendent of whether they are based on a choice-of-court agreement. While the Judgments Convention is yet to enter into force (a process that may take several years, as the example of the Hague Choice of Court Convention shows5), it could in the long term strengthen the role of state courts in the “global competition for international commercial disputes”. The global potential of the Judgments Convention is underscored by the diverse membership of the Hague Conference on Private International Law comprising 82 states on six continents. Although the Judgments Convention is not modelled after the New York Convention, the subject matter of both conventions is closely related. In this contribution, we seek to compare the conceptual approaches of the two conventions (II.) and their grounds for refusal of recognition and enforcement of foreign awards or judgments (III.). In the final part of this contribution, we will address the relationship of the two conventions (IV.). II. Conceptual approaches to recognition and enforcement At the heart of both conventions lies the obligation for member states to recognize and enforce foreign arbitral awards or foreign court judgments pursuant to the rules and procedures set out in the conventions (Article III New York Convention, Article 4(1) Judgments Convention). Both conventions set a minimum standard under which foreign arbitral awards or court judgments are to be recognized and enforced and which may not be deviated from by domestic law (Article V(1) New York Convention, Article 4(1) Judgments Convention). Nevertheless, the two conventions allow domestic laws to provide for more favourable conditions for the recognition and enforcement of foreign decisions6 than those set out in the conventions (Article VII(1) New York Convention, Article 15 Judgments Convention).7 In that sense, the conventions both adopt a bottom-up approach providing “a floor, not a ceiling”.8 5 The Hague Convention on Choice of Court Agreements was concluded on 30 June 2005 and entered into force on 1 October 2015 after ratification by Mexico and the European Union. Meanwhile, further states (Singapore, Denmark, Montenegro and the United Kingdom) have ratified the convention; see the status table of the Hague Conference on Private International Law at https://www.hcch.net/en/instruments/conventions/statustable/?cid=98 [last accessed 12 December 2019]. 6 In this article, we use the terms “decisions” or “foreign decisions” as umbrella terms referring to both arbitral awards and court judgments. 7 Article 6 Judgments Convention contains one notable exception to this principle providing that a judgment on rights in rem in immovable property shall be recognized and enforced only if the property is situated in the state of origin of the judgment. 8 Louise Ellen Teitz, Another Hague Judgments Convention? Bucking the Past to Provide for the Future, 29 Duke Journal of Comparative & International Law 2019, p. 503 (with respect to the Judgments Convention).

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Yet there are (at least) six notable differences in the conventions’ conceptual approaches to recognition and enforcement of foreign decisions. 1. Scope of application First, the conventions’ way of defining their respective scope of application is fundamentally different. The Judgments Convention only applies to judgments in civil or commercial matters (Article 1(1) Judgments Convention) and excludes from its scope of application a number of subject matters (Article 2(1) Judgments Convention). Most notably, following lengthy and controversial discussions, all intellectual property matters have been excluded from the convention’s ambit.9 Antitrust matters are excluded except where the judgment is based on conduct that constitutes an anti-competitive agreement or concerted practice and such conduct and its effect both occurred in the state in which the judgment was rendered. By contrast, the New York Convention need not exclude certain subject matters from its scope of application as the convention leaves it entirely to the member states to define which subject matters they consider incapable of settlement by arbitration (Article V(2)(a) New York Convention). Notably, most jurisdictions do not per se exempt intellectual property and competition matters from arbitration.10 2. Definition of arbitral awards and court judgments Second, the New York Convention does not define the term “arbitral award” whereas the Judgments Convention contains an explicit definition of “judgment”. Under Article 3(1)(b) Judgments Convention, a judgment means “any decision on the merits given by a court, whatever that decision may be called, including a decree or order, and a determination of costs or expenses of the proceedings by the court (including an officer of the court), provided that the determination relates to a decision on the merits which may be recognised or enforced under this Convention.” Notably, the provision also comprises non-monetary judgments. 9 Nadia de Araujo, Marcelo De Nardi, 22ª Sessão Diplomática da Conferência da Haia, 7 Rev. Secr. Trib. perm. revis. 2019, p. 198, p. 207; David Stewart, The Hague Conference Adopts a New Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil or Commercial Matters, 113 American Journal of International Law 2019, p. 772, p. 777. 10 The resolution of antitrust claims by arbitration has increased significantly since the landmark decisions of Mitsubishi Motors Corp. v. Soler Chrysler-Plymouth, Inc., 473 US 614 (1985) and Eco Swiss China Time v Benetton Int’l, Case No C-126/97, [1999] E.C.R. I-3055 (E.C.J.).

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Whereas an interim measure of protection does not qualify as a judgment under Article 3(1)(b) Judgments Convention, the convention also applies to judicial settlements approved by a court or concluded in the course of court proceedings which are enforceable in the same manner as a judgment in the state of origin (Article 11 Judgments Convention). While the New York Convention leaves it to the national courts to define what qualifies as arbitral awards, the Judgments Convention’s express definitions provide for more certainty and might lead to a more uniform interpretation by national courts. 3. Eligibility for recognition and enforcement Third, the two conventions treat the eligibility of foreign decisions for recognition and enforcement differently. The process for recognition and enforcement under the Judgments Convention is twofold. First, there is a jurisdictional filter under which only judgments based on a limited number of jurisdictional grounds are eligible for recognition and enforcement (Article 5 Judgments Convention). Roughly, these eligible indirect grounds of jurisdiction can be divided into three categories: (i) the court’s jurisdiction was based on a connection between the respondent and the court’s state of origin (such as the respondent’s habitual residence or principal place of business was in the state of origin the state of origin); (ii) the court’s jurisdiction was based on consent (e.g. the respondent expressly consented or argued on the merits without contesting the court’s jurisdiction); and (iii) the court’s jurisdiction was based on a connection between the claim and the state of origin (e.g. the place of performance of a contract was in the state of origin or the tortious act or omission causing harm occurred in the state of origin).11 Notably, these indirect grounds of jurisdiction concern only the recognition and enforcement of judgments under the convention and do not affect the direct jurisdiction of the courts of the state of origin which remains to be determined by national law.12 The purpose of Article 5 Judgments Convention is 11 Mayela Celis, Conclusion of the HCCH Judgments Convention: The objectives and architecture of the Judgments Convention, a brief overview of some key provisions, and what’s next?, available at http://conflictoflaws.net/2019/conclusion-of-the-hcch-jud gments-convention-the-objectives-and-architecture-of-the-judgments-convention-a-briefoverview-of-some-key-provisions-and-whats-next/ [last accessed 14 December 2019]; David Stewart, The Hague Conference Adopts a New Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil or Commercial Matters, 113 American Journal of International Law 2019, p. 772, pp. 777–778. 12 HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], para. 144.

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thus to find common ground among the diverse and potentially expansive grounds of jurisdiction that exist in the member states’ national laws. In a second step, the Judgments Convention provides for a limited set of grounds based on which recognition and enforcement of generally eligible judgments may still be refused (Article 7 Judgments Convention). In contrast to that, the New York Convention treats all arbitral awards that fall within its scope of application as eligible for recognition and enforcement. Given that in all instances the arbitral tribunal’s jurisdiction arises from an arbitration agreement, there is no need for an indirect jurisdictional filter under the New York Convention. The same goes for the Hague Choice of Court Convention which only governs the recognition and enforcement of judgments given by a court of a contracting state designated in an exclusive choice-of-court agreement (Article 8(1) Hague Choice of Court Convention). 4. Reciprocity The fourth notable difference relates to the issue of reciprocity. While the Judgments Convention is premised on the idea that its member states are only obliged to recognize and enforce such judgments that originate in other member states (Article 1(2) Judgments Convention), the New York Convention takes a more liberal approach and generally applies to all arbitral awards independent of their origin. To accommodate for possible concerns arising out of a lack of reciprocity, the New York Convention permits its member states to declare upon accession to the convention that they will only recognize and enforce awards issued in the territory of another member state (Article I(3) sentence 1 New York Convention). While a number of member states have deposited such a declaration,13 this no longer plays any role in practice given the convention’s wide membership. 5. Bilateralisation While the New York Convention does not allow its member states to make any reservations as to awards originating from certain member states, Article 29 Judgments Convention contains a bilateralisation clause. Under that clause, a member state may notify the depositary that the convention shall not apply in the relations with another member state.

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See http://www.newyorkconvention.org/countries [last accessed 12 December 2019] for a list of declarations. Some member states have also declared that they will apply the New York Convention also to non-member states to the extent that they grant reciprocal treatment.

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The opt-out approach under Article 29 Judgments Convention marks a step forward as compared to the 1971 Hague Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil and Commercial Matters, which required member states to conclude bilateral supplementary agreements for the convention to have effect.14 Yet the bilateralisation clause still bears the risk of undermining the convention’s purpose of creating a “uniform set of core rules … to facilitate the effective recognition and enforcement”15 of judgments and adding to the fragmentation of international law. 6. Further reservations Apart from the above-mentioned reservation as to awards originating in non-member states, the New York Convention only permits its member states to make one further substantial reservation regarding non-commercial disputes (Article I(3) sentence 2). By contrast, the Judgments Convention permits further reservations in addition to the far-reaching bilateralisation clause in Article 29. For example, Article 17 Judgments Convention permits its member states to make a reservation regarding judgments whose parties were resident in the requested state16 and where all other elements relevant to the dispute (except for the location of the court of origin) were connected with the requested state only. Additional reservations may be made with regard to specific subject matters (Article 18 Judgments Convention) and judgments concerning state parties (Article 19 Judgments Conventions). 7. Interim conclusion The above comparison shows that the Judgments Convention’s definitions of its scope of application and of eligible judgments are far more complex than under the New York Convention. The Judgments Convention also permits more reservations by member states than the New York Convention. The most significant conceptual difference, however, follows from the bilateralisation clause in Article 29 Judgments Convention. While this may have been included to increase acceptance of the Judgments Convention in the international community, it risks undermining the convention’s objectives of legal harmonization and unification.

14 Article 21 of the 1971 Hague Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil and Commercial Matters. 15 Preamble to the Judgments Convention, para. 3. 16 We use the term “requested state” as referring to the state in which the recognition and enforcement of the foreign judgment is sought.

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III. Refusal of recognition and enforcement In this section, we seek to compare the grounds for refusal of recognition and enforcement under the New York Convention (Article V) and the Judgments Convention (Articles 4, 7). At the outset, it should be noted that both conventions follow a “proenforcement” policy. Three examples shall illustrate this. First, each convention provides for an exhaustive and narrow list of refusal grounds. Second, neither convention compels its member states to deny recognition and enforcement of a foreign decision if the requirements of a refusal ground are met in any given case. Rather, the decision to refuse recognition and enforcement is entirely discretionary (“may be refused”, Article 7(1) Judgments Convention, Article V(1) New York Convention).17 Third, neither convention permits national courts to review the merits of the decision the recognition and enforcement of which is sought (révision au fond).18 Yet there is a notable difference between the two conventions as regards the powers of the requested court19 to consider any refusal grounds on its own motion (ex officio). The New York Convention only allows this for two of its seven refusal grounds, namely the arbitrability and public policy exceptions under Article V(2). The remaining refusal grounds under Article V(1) New York Convention may only be considered at the request of the party against whom the award is invoked. That party also bears the burden of proof for establishing the facts relevant to the different refusal grounds. The Judgments Convention, on the other hand, is silent on the question of whether the requested courts may consider any of the refusal grounds on its own motion. Article 13(1) Judgments Convention provides that the procedure for recognition, declaration of enforceability or registration for enforcement, and the enforcement of the judgment, are governed by the law of the requested state unless the convention provides otherwise. With regard to a similarly worded provision in the Hague Choice of Court Convention, it has been suggested that the issue of the ex officio powers of the requested court is governed by the court’s lex fori.20 Arguably, this also applies under the Judgments Convention. Turning to the individual refusal grounds, it is not surprising that some of these grounds are specific to either arbitration (e.g. Articles V(1)(a), (c), (d), 17

With the exception of Article 4(3) Judgments Convention. This is explicitly stated in Article 4(2) Judgments Convention. 19 We use the term „requested court” as referring to the court that has been seized to recognize and enforce a foreign court judgment or arbitral award. 20 Matthias Weller, Haager Übereinkommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen, in: Thomas Rauscher (ed.), Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht (vol. II, 4th ed. 2015, Verlag Dr. Otto Schmidt), p. 705, p. 725. 18

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V(2)(a) New York Convention) or court litigation (e.g. Article 7(1)(d) Judgments Convention) and have no direct equivalent in the other convention. Nevertheless, the recognition and enforcement of foreign arbitral awards and court judgments raises a number of similar issues, some of which we will examine in more detail below: 1. How do the requested courts deal with an ongoing review of the decision to be recognised and/or enforced in the court’s state of origin or at the seat of the arbitration? 2. How do the requested courts deal with a decision that has been annulled in the court’s state of origin or at the seat of the arbitration? 3. To what extent do the requested courts review the jurisdiction of the arbitral tribunal or the original court? 4. How do the requested courts handle issues of res judicata and lis pendens when the decision to be recognised and/or enforced is allegedly at odds with a prior decision or a pending parallel proceeding dealing with the same issue? 5. How do the requested courts address due process concerns that arose in the original proceedings? 6. How do the requested courts deal with potential violations of public policy? For each of these six issues, we will seek to identify and compare the approaches of the two conventions. 1. Ongoing review in the state of origin or at the seat of arbitration Both conventions contain express rules on the impact of an ongoing review on the enforceability of an award or judgment in other member states. Article V(1)(e) New York Convention provides that recognition and enforcement of the award may be refused if the award has not yet become binding on the parties, eliminating the double exequatur requirement.21 Furthermore, Article VI New York Convention authorizes courts that have been seized to recognize and enforce an arbitral award to adjourn, if 21 Some commentators have suggested an autonomous definition of the term „binding“ holding that „an award should be considered ,binding‘ when the parties’ arbitration agreement provides that it is binding, regardless of the possibility of judicial challenges in the arbitral seat (or elsewhere)“; see Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), p. 3609. Others have suggested that an award should only be considered binding if it is binding under the law of its country of origin; see Nadia Darwazeh, Article V(1)(e), in Herbert Kronke, Patricia Nacimiento et al. (eds.), Recognition and Enforcement of Arbitral Awards: A Global Commentary on the New York Convention (2010, Kluwer Law International), p. 313.

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they consider it proper, the decision on the enforcement of the award pending set-aside or suspension proceedings at the seat of the arbitration. The provision also allows the courts to order the other party to provide security upon the application of the party claiming enforcement of the award. Notably, the discretion to adjourn the decision on enforcement is independent of the effect of the pending set-aside or suspension proceedings on the enforceability of the award at the arbitral seat. In contrast to that, the Judgments Convention defers to the enforceability of the judgment under review in the state of origin. Under Article 4(3) Judgments Convention, a judgment shall be recognised only if it has effect in the state of origin and shall be enforced only if it is enforceable in the state of origin. Article 4(4) Judgments Convention provides that recognition or enforcement may be postponed or refused if the judgment is the subject of review in the state of origin or if the time limit for seeking ordinary review has not expired. The provision further clarifies that a refusal does not prevent a subsequent application for recognition or enforcement of the same judgment. These provisions are mindful of the different impact that review or appeal proceedings may have on the effectiveness or enforceability of judgments under various legal systems. If the state of origin does not permit the enforcement of judgments subject to (ongoing or potential) review, such judgments may not be enforced in other member states either. If, however, the state of origin permits the enforcement of judgments under review, the requested court enjoys discretion under the Judgments Convention to grant, postpone or refuse the recognition or enforcement of such judgments.22 2. Annulment in the state of origin or at the seat of arbitration Under Article V(1)(e) New York Convention, recognition and enforcement may be refused, at the request of the party against whom it is invoked, if that party proves that the award has been set aside or suspended by a competent authority of the country in which, or under the law of which, that award was made. Crucially, the requested court enjoys discretion whether to recognize and enforce an award that has been set aside at the seat of the arbitration. This discretion to enforce an award set aside at the arbitral seat is rooted in the fact that the New York Convention does not put any limits on the grounds on which an award may be set aside by the courts at the arbitral seat.23 22 HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], paras. 115–118. 23 Blackaby Nigel, Constantine Partasides et al., Redfern and Hunter on International Arbitration (6th ed. 2015, Oxford University Press), para. 11.90.

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By contrast, Article 4(3) Judgments Convention does not permit recognition and enforcement of a judgment that has been annulled in the state of origin. During the drafting history of the Judgments Convention, it appears to have been uncontroversial that “a judgment that is no longer enforceable in the State of origin because, for example, it has been overturned on appeal should not thereafter be enforceable in another State”.24 This major difference between the two conventions is arguably due to the principle of finality of arbitral awards: while arbitral awards are generally assumed to be final and only subject to annulment in extraordinary circumstances, no such general presumption exists for judgments of lower courts. As a corollary of this principle, the New York Convention gives less deference to set-aside decisions of the courts at the arbitral seat than the Judgments Convention gives to judgments of the appellate courts in the state of origin. 3. Review of jurisdiction Both conventions provide for a full review of the jurisdiction of the arbitral tribunal or the court in the state of origin. The review of the arbitrators’ jurisdiction is addressed in two subparagraphs of Article V New York Convention. First, Article V(1)(a) New York Convention deals with the invalidity of arbitration agreements and thus the lack of jurisdiction. Under that provision, recognition and enforcement may be refused if the parties to the arbitration agreement were, under the law applicable to them, under some incapacity or if the arbitration agreement is not valid under the law to which the parties have subjected it or, failing any indication thereon, under the law of the country where the award was made. Second, Article V(1)(c) New York Convention addresses an excess of jurisdiction (ultra petita) and permits the non-recognition and non-enforcement of arbitral awards that deal with a difference not contemplated by or not falling within the terms of the submission to arbitration or that contain decisions on matters beyond the scope of the submission to arbitration. In practice, recognition courts tend to apply Article V(1)(c) New York Convention in a restrictive manner and give substantial deference to the arbitrators’ decision on the scope of their jurisdiction.25 As explained above, the jurisdictional review under the Judgments Convention is twofold: the court first needs to examine whether the judgment 24 HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], para. 112. 25 Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), pp. 3542–3550.

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falls within one of the thirteen indirect jurisdictional bases under Article 5 Judgments Convention; in a second step, the court may still refuse recognition and enforcement if the proceedings in the court of origin were contrary to an agreement, or a designation in a trust instrument, under which the dispute in question was to be determined in a court of a state other than the state of origin (Article 7(1)(d) Judgments Convention). This refusal ground thus only becomes relevant if the judgment satisfies one of the jurisdictional bases under Article 5 Judgments Convention. Other than the New York Convention, the Judgments Convention does not provide for an explicit ultra petita review. 4. Res judicata and lis pendens The Judgments Convention expressly addresses possible issues of res judicata. Under Article 7(1)(e) Judgments Convention, recognition and enforcement may be refused if the judgment is inconsistent with a judgment given by a court of the requested state in a dispute between the same parties. Article 7(1)(f) Judgments Convention allows this in case the judgment is inconsistent with an earlier judgment given by a court of another state between the same parties on the same subject matter, provided that the earlier judgment fulfills the conditions necessary for its recognition in the requested state. In contrast to that, the New York Convention is silent on the preclusion of claims and its impact on the enforceability of arbitral awards. The drafting history shows that the issue of res judicata was considered by the delegates but not further pursued. Notably, the Italian proposal to add another ground to refuse recognition and enforcement in the event that “[t]he arbitral award is incompatible with a judicial decision, applying to the same parties and the same subject matter, rendered in the territory of the State where the award is relied upon” was rejected.26 In the absence of an express refusal ground, it has been suggested that the refusal of an arbitral tribunal to apply principles of res judicata and to consider a prior ruling between the same parties on the same subject matter amounts to a violation of public policy in the sense of Article V(2)(b) New York Convention.27 Yet it can equally be argued that there is no reason to treat the incorrect application of res judicata principles differently than any 26 UNCITRAL, Consideration of the Draft Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards (Item 4 of the Agenda), U.N. Doc. E/CONF. 26/L.38 (1958); see Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), p. 3681 fn. 1443. 27 See Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), p. 3680 fn. 1442 for a list of court decisions.

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other errors of substantive law and that recognition and enforcement may therefore not be refused.28 Likewise, the New York Convention does not address the issue of pending parallel proceedings (lis pendens). The Judgments Convention, on the other hand, provides in its Article 7(2) that recognition or enforcement may be postponed or refused if proceedings between the same parties on the same subject matter are pending before a court of the requested state, where this court was seized before the court of origin and where there is a close connection between the dispute and the requested state. 5. Procedural unfairness Pursuant to Article V(1)(b) New York Convention, awards may be denied recognition and enforcement on grounds of procedural unfairness if the party against whom the award is invoked was either not given proper notice of the the appointment of the arbitrator or of arbitrator or of the arbitration proceedings or was otherwise unable to present his case. Article V(1)(b) New York Convention does not specify what national or international laws or standards should apply to the procedural unfairness exception. It has been suggested that either the law of the recognition forum or international standards should apply.29 The absence of a proper notification is also treated as a ground for refusal of recognition and enforcement by the Judgments Convention. In essence, Article 7(1)(a) Judgments Convention permits non-recognition and nonenforcement either if the document instituting the proceedings was not notified to the defendant in sufficient time or if it was notified to the defendant in the requested state in a manner that is incompatible with fundamental principles concerning service of documents in that state. The Judgments Convention does not include a separate refusal ground for violations of due process. Yet the public policy exception in Article 7(1)(c) Judgments Convention explicitly includes “situations where the specific proceedings leading to the judgment were incompatible with fundamental principles of procedural fairness of that State” referring to the state in which recognition and enforcement is sought. Under the Judgments Convention, there is no expectation of uniformity as to the content of such principles in each member state.30 Consequently, what might be considered a violation of a fundamental principle of proce28

Ibid., pp. 3680–3681. Ibid., p. 3500. 30 HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], para. 294. 29

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dural fairness in one member state might not hinder recognition and enforcement in another member state. 6. Public policy Finally, both conventions contain an ordre public exception that allows the requested court to refuse recognition and enforcement based on violations of public policy in the state where recognition and enforcement is sought (Art. V(2)(b) New York Convention, Art. 7(1)(c) Judgments Convention). While the public policy exception under the New York Convention is rather short (“The recognition and enforcement of the award would be contrary to the public policy of that country”), the equivalent provision under the Judgments Convention is more detailed, contains an additional requirement of a “manifest” incompatibility and includes two non-exhaustive examples (“recognition or enforcement would be manifestly incompatible with the public policy of the requested State, including situations where the specific proceedings leading to the judgment were incompatible with fundamental principles of procedural fairness of that State and situations involving infringements of security or sovereignty of that State”). In addition to that, the Judgments Convention contains specific provisions on two issues which the New York Convention is silent on and which, if at all, would only fall within the latter’s public policy exception. The first one concerns punitive damages. Under Article 10(1) Judgments Convention, recognition and enforcement may be refused if and to the extent that the judgment awards damages, including exemplary or punitive damages, that do not compensate a party for actual loss or harm suffered. Article 10(2) Judgments Convention requires the requested court to take into account whether and to what extent the damages awarded by the court of origin serve to cover costs and expenses related to the proceedings. Under the New York Convention, some courts have found punitive damages to be contrary to public policy whereas others have declined to do so.31 Yet the discretionary nature of Article 10(1) Judgments Convention raises the question which criteria the requested courts will apply in exercising their discretion and whether this will be any different from an ordinary public policy analysis. The second issue relates to fraud. Article 7(1)(b) Judgments Convention explicitly states that recognition and enforcement may be refused if the judgment was obtained by fraud. The introduction of this explicit provision 31 See e.g. German Federal Supreme Court, Judgment of 4 June 1992, IX ZR 149/91 refusing recognition and enforcement; see also Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), pp. 3679–3680, fn. 1439–1440.

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was motivated by the fact that some legal systems may not consider procedural fraud to form part of their public policy.32 It is noteworthy that the convention also treats this as a discretionary decision and does not enjoin its member states from recognizing and enforcing judgments tainted by fraud. Again, the New York Convention is silent on the issue of fraud, but in many jurisdictions courts will address this as part of the public policy exception under Article V(2)(b).33 7. Interim conclusion From the above comparison, three conclusions can be drawn: first, the Judgments Convention contains more specific and nuanced rules on some potential bars to recognition than the New York Convention, notably on the issues of res judicata, lis pendens, punitive damages and fraud. Second, the Judgments Convention is more deferential to the sovereignty of the recognition forum by leaving it to the national legislator to decide whether any of the refusal grounds may be considered by the courts ex officio. The New York Convention, on the other hand, permits this only in two instances. Third, although the Judgments Convention facilitates the recognition and enforcement of foreign judgments significantly, the process is unlikely to be as speedy as the recognition and enforcement of arbitral awards. Under the Judgments Convention, the requested court always needs to fully assess and be convinced that the judgment to be recognized falls within one of the thirteen jurisdictional bases. In many cases, this will raise complex factual issues (such as determining the place of performance in a cross-border contract). The Judgments Convention is silent on whether the requested court, in its decision on these factual questions, may or shall take the evidence gathered by the court of origin into account. By contrast, the validity of an arbitration agreement need only be assessed under the New York Convention at the instigation of the party against whom the award is invoked.

IV. Relationship of the two conventions In this final section, we will examine the interplay between the Judgments Convention and the New York Convention and address possible consequences for the recognition and enforcement of judgments rendered in violation of an arbitration agreement. 32 HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], para. 285. 33 Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), p. 3704.

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Article 2(3) Judgments Convention explicitly provides that the convention shall not apply to arbitration and related proceedings. This exemption from the convention’s scope of application is important as otherwise the provisions of the New York Convention on the recognition and enforcement of arbitral awards could have easily been undermined by resorting to the Judgments Convention. Notably, it follows from Article 2(3) Judgments Convention that a judgment by the courts at the arbitral seat that confirms or annuls an arbitral award need not be recognized in any member state.34 The discretion under Article V(1)(e) New York Convention to enforce awards that had been set aside at the arbitral seat remains unaffected by the Judgments Convention. As a corollary, the Judgments Convention also does not apply to the recognition and enforcement of court decisions giving assistance to the arbitral process (e.g. by compelling arbitration, appointing or dismissing arbitrators or declaring arbitration agreements valid or invalid).35 Pursuant to the Revised Draft Explanatory Report of December 2018, the exclusion of arbitration also applies to arbitration-related preliminary questions that were addressed in the court proceedings.36 Consequently, the Judgments Convention would not apply to the recognition and enforcement of a judgment if the proceedings were contrary to an arbitration agreement and if the court of origin ruled on the validity of an arbitration agreement as a preliminary question. The recognition and enforcement of that judgment would then be governed by national law or other international conventions. The Revised Draft Explanatory Report even goes one step further and states that the Judgments Convention also does not apply to a judgment contrary to an arbitration agreement when the court of origin did not even rule on the validity of the agreement as a preliminary question (e.g. in a default judgment).37 By contrast, if the defendant argued on the merits without invoking the arbitration agreement and without contesting the court’s jurisdiction, such judgment would, according to the report, be governed by the Judgment Convention. This is because in that event, the judgment would not be con34

HCCH, Judgments Convention: Revised Draft Explanatory Report, December 2018, available at https://assets.hcch.net/docs/7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf [last accessed 14 December 2019], para. 66. 35 Ibid. 36 Ibid., para. 67. Article 2(2) Judgments Convention provides that “[a] judgment is not excluded from the scope of this Convention where a matter to which this Convention does not apply arose merely as a preliminary question in the proceedings in which the judgment was given, and not as an object of the proceedings.” However, according to the Revised Draft Explanatory Report, these provisions do not apply to arbitration as they “refer to ‘matters’ in the sense of subject matters, whilst the exclusion of arbitration is a different nature and included in a separate provision” (fn. 58). 37 Ibid.

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trary to the court’s obligation to refer the parties to arbitration under Article II(3) New York Convention.38 In conclusion, a judgment that was rendered in violation of an arbitration agreement falls outside the scope of the Judgments Convention and may or may not be recognized and enforcement under the respective national laws. This general exclusion has been justified by the purpose of “not interfer[ing] with arbitration”.39 While this purpose is commendable, the question remains whether this objective would not have been better served by including the violation of a valid arbitration agreement as another ground for refusing recognition and enforcement. Article 7(1)(d) Judgments Convention, which currently deals with the breach of choice-of-court agreements, could have easily been extended to arbitration agreements. This would have ensured a coherent approach to judgments rendered in disregard of a valid arbitration agreement across the convention’s member states.40 V. Conclusion Whether the Judgments Convention will become a serious competitor to the New York Convention remains to be seen. This will depend significantly on how many members will accede to the convention which is not least a political question. From a legal point of view, the Judgments Convention contains detailed and nuanced rules on the recognition and enforcement of foreign judgments that specifically address some potential bars to recognition which were omitted from the New York Convention. Nevertheless, recognition and enforcement proceedings under the Judgments Convention are likely to raise more factual issues and to be lengthier than under the New York Convention. From an arbitration perspective, it is regrettable that the Judgments Convention does not address the non-recognition and non-enforcement of judgments rendered in violation of a valid arbitration agreement.

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Ibid. Ibid. 40 The prevailing view is that such judgments would be in violation of Articles II(1) and II(3) New York Convention and should not be recognized; see e.g. Swiss Federal Tribunal, Judgment of 19 December 1997, Compañia Minera Condesa SA et Compañia de Minas Buenaventura SA v. BRGM-Pérou SAS, DFT 124 III p. 83, pp. 86–87; Gary Born, International Commercial Arbitration (2nd ed. 2014, Kluwer Law International), p. 1289; Kilian Bälz, Stephan Marienfeld, Missachtung einer Schiedsklausel als Anerkennungshindernis i.S.v. Art. 34–35 EuGVVO und § 328 ZPO?, RIW 2003, pp. 51–55. Yet the New York Convention does not contain any express prohibition of the recognition or enforcement of judgments rendered in breach of a valid arbitration agreement. 39

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Das niederländische summarische Schiedsverfahren – Innovation für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit? JAN K. SCHÄFER

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das niederländische gerichtliche und schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das gerichtliche Kort Geding-Verfahren als Rollenmodell . . . 2. Übertragung des Kort Geding-Verfahrens in die niederländische Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das NAI Arbitraal Kort Geding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Praxiserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Innovation für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit? . . . . . . .

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I. Einleitung Auf der Suche nach Innovationen für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit ist der rechtsvergleichende Blick auf ausländische Schiedstraditionen mitunter hilfreich für neue Gedankenanstöße. Oftmals reicht bereits der Blick über die Grenze. Ein Beispiel ist das niederländische summarische Schiedsverfahren, das Arbitraal Kort Geding. Es handelt sich dabei um ein summarisches Verfahren, das einem Institut des niederländischen Zivilprozessrechts, dem Kort Geding – kurzes Verfahren – nachgebildet wurde und 1986 erstmals Eingang in das niederländische Schiedsverfahrensrecht gefunden hat. Im Ausland ist es allerdings weithin unbekannt. Das Kort Geding-Verfahren vor einem staatlichen Gericht oder Schiedsgericht wird in den Niederlanden dem Eilrechtsschutz zugeordnet, da es eine Eilbedürftigkeit vorausgesetzt und kurzfristig eine vorläufige Regelung trifft. Die getroffenen Maßnahmen können allerdings die Hauptsache vorwegnehmen, wenn auch nur vorläufig. Entsprechend beliebt ist das Verfahren zum Einklagen von Forderungen. Es hat sich in den Niederlanden zunächst als schnelle, informelle und kostengünstige Alternative zu dem herkömmlichen Zivilprozess etabliert, die mit der Schiedsrechtsform 1986 auch in die Schiedsgerichtsbarkeit übertragen wurde. Es kann entweder vor, parallel oder nach einem Hauptsacheverfahren angestrengt werden. Ein Kort

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Geding-Verfahren zwingt aber nicht zur Einleitung eines Hauptsacheverfahrens. Bei einem Kort Geding-Verfahren handelt es sich um ein summarisches Verfahren, bei dem Ansprüche nicht vertieft geprüft werden und die Beweisregeln nicht gelten. Vielmehr entscheidet der zuständige Kort Geding-Richter in der staatlichen Gerichtsbarkeit oder ein Kort GedingSchiedsrichter nach mündlicher Anhörung der Parteien und Abwägung ihrer Interessen, was eine sinnvolle Antwort auf die dringliche Streitfrage ist. Die angeordneten Maßnahmen können vollstreckt werden, sind aber nicht final. In einem Hauptsache(schieds)verfahren kann die Kort GedingEntscheidung nämlich überprüft werden. Oft akzeptieren die Parteien jedoch die Entscheidung im Kort Geding-Verfahren oder nutzen diese als Grundlage für einen Vergleich. Soweit ein niederländischer Schiedsort vereinbart ist, sperrt die Schiedsvereinbarung das gerichtliche Kort Geding-Verfahren anders als ein gerichtliches Hauptsacheverfahren nicht, soweit der beantragte Rechtsschutz in einem Schiedsverfahren nicht oder nicht rechtzeitig genug erlangt werden kann. Die Durchführung eines schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahrens setzt allerdings einen niederländischen Schiedsort und eine entsprechende Parteivereinbarung voraus, d.h. es kann – anders als eine einstweilige Maßnahme durch das Schiedsgericht in der Hauptsache oder ein staatliche Gericht – ohne entsprechende Parteivereinbarung nicht neben einem Schiedsverfahren durchgeführt werden. Die Schiedsgerichtsordnung des Nederlands Arbitrage Instituut (NAI) sieht seit 1998 ein Kort Geding-Verfahren vor; Parteien, die sich auf die NAI-Schiedsgerichtsordnung verständigt haben, können demnach auf ein schiedsgerichtliches Kort Geding-Verfahren zusätzlich zum regulären Schiedsverfahren zurückgreifen. In diesem Beitrag wird das niederländische summarische Schiedsverfahren vorgestellt und für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit als weitere informelle und schnelle Rechtsschutzform empfohlen. Wie sich das Kort Geding-Verfahren in das durchaus komplexe System des staatlichen und schiedsrichterlichen Eilrechtsschutzes in den Niederlanden einpasst, ist hingegen nicht Gegenstand des Beitrages.

II. Das niederländische gerichtliche und schiedsrichterliche Kort GedingVerfahren Das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren ist dem gerichtlichen Kort Geding-Verfahren nachgebildet. Entsprechend wird als Hintergrund zunächst das Vorbild aus der staatlichen niederländischen Gerichtsbarkeit skizziert (unter 1.). Sodann stellt der Beitrag die gesetzlichen Regelungen zum schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren vor, die erstmalig 1986

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eingeführt und 2015 reformiert wurden (unter 2.). Mit seiner Umsetzung in der NAI-Schiedsgerichtsordnung ab 1998 erlangte das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren echte Praxisrelevanz (unter 3.). Aktuelle empirische Untersuchungen zum NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahren geben einen guten Überblick über seine heutige Bedeutung (unter 4.). 1. Das gerichtliche Kort Geding-Verfahren als Rollenmodell Das für staatliche Prozesse geltende Kort Geding-Verfahren ist eine Möglichkeit, kurzfristig – innerhalb von wenigen Stunden bis zu regelmäßig zwei Monaten – einen eilbedürftigen Sachverhalt zu regeln. Dieses Verfahren erfreut sich bei unserem westlichen Nachbarn großer Beliebtheit, da es sich als kostengünstige und schnelle Alternative zur Durchführung eines Hauptverfahren erwiesen hat.1 a) Gesetzliche Grundlage Die gesetzlichen Regelungen finden sich in Art. 254–259 der niederländischen ZPO (Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering) (Rv.). Es handelt sich zwar nur um wenige Vorschriften, dafür ist die Rechtsprechung dazu umso umfangreicher.2 Art. 254 Abs. 1 Rv. enthält die grundlegende Zuständigkeitsnorm. In deutscher Übersetzung lautet diese:3 „In allen dringenden Fällen, in denen im Hinblick auf die Interessenslage der Parteien eine unmittelbare Regelung im Wege einer einstweiligen Maßnahme erforderlich ist, ist der Maßnahmenrichter (voorzieningen rechter) dafür zuständig.“ b) Zuständigkeit Funktional zuständig für das gerichtliche Kort Geding-Verfahren ist auf der Ebene des Landgerichts (Rechtbank) der Gerichtspräsident oder einer seiner Vertreter, mithin sehr erfahrene Richter. c) Verhältnis zum Hauptsacheverfahren Ein Kort Geding-Verfahren kann vor Einleitung eines Hauptsacheverfahrens (Bodemprocedure) anhängig gemacht werden, aber auch noch während oder nach einem regulären Zivilprozess. Da die Einleitung eines Kort Geding-Verfahrens, anders als etwa § 926 ZPO für den deutschen Eilrechts1 Der Autor war im Jahr 1997 Praktikant beim Landgericht Utrecht in der Abteilung, die sich mit Kort Geding-Verfahren befasst. 2 Eine systematische Darstellung bietet Boonekamp, Asser Procesrecht 6 Het kort geding, Deventer 2020. 3 In Übersetzung des Autors. Eine deutsche Übersetzung der niederländischen Zivilprozessordnung gibt es nach Kenntnis des Autors nicht.

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schutz, nicht zur Einleitung eines Hauptsacheverfahrens zwingt, kann das Kort Geding-Verfahren als eine Alternative zum Hauptsacheverfahren genutzt werden. Allerdings steht die Kort Geding-Entscheidung unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit, da diese im Hauptsacheverfahren revidiert werden kann. Sollte sich eine Entscheidung eines Kort Geding-Richters im Hauptsacheverfahren als von Anfang an ungerechtfertigt erweisen, greift eine Schadensersatzpflicht vergleichbar mit § 945 ZPO. d) Verhältnis zu einer schiedsgebundenen Streitigkeit Das 2015 reformierte niederländische Schiedsverfahrensrecht stellt in Art. 1022a Rv.4 klar, dass eine Schiedsvereinbarung den Zugang zum staatlichen Eilrechtsschutz nicht sperrt. Hierbei wird ausdrücklich auch auf das Kort Geding-Verfahren nach Art. 254 Rv. Bezug genommen. Allerdings relativiert Art. 1022c Rv. den Zugang zu den staatlichen Gerichten für Eilmaßnahmen. Wendet sich eine Partei unter Berufung auf die Schiedsvereinbarung gegen ein staatliches Eilverfahren, ist das staatliche niederländische Gericht nur zuständig, soweit der beantragte Rechtsschutz „nicht oder nicht rechtzeitig genug in einem Schiedsverfahren erlangt werden kann.“5 Damit ist der staatliche Eilrechtschutz in den Niederlanden – anders als in Deutschland – subsidiär zum schiedsrichterlichen Eilrechtsschutz ausgestaltet. Nach niederländischem Recht ist schiedsrichterlicher Rechtsschutz beispielsweise nicht verfügbar, soweit ein sichernder Arrest (conservatoir beslag) beantragt wird. Dieser kann in den Niederlanden ausschließlich durch ein staatliches Gericht angeordnet werden.6 Im Zusammenhang mit einem ICC-Schiedsverfahren mit niederländischem Sitz wurde jüngst ein staatliches Kort Geding-Verfahren als unzulässig abgewiesen, da die ICCSchiedsgerichtsordnung nunmehr das Emergency Arbitrator-Verfahren vorsieht, mit dem im Rahmen der Schiedsgerichtsbarkeit „rechtzeitig“ gehandelt werden konnte.7 e) Voraussetzungen Die Gesetzesvorschriften sprechen lediglich von der Eilbedürftigkeit, stellen aber ansonsten keine inhaltlichen Voraussetzungen auf. Gemäß Art. 256 4 Auf der Homepage des NAI ist eine englische Übersetzung der Gesetzesvorschriften des niederländischen Schiedsverfahrensrechts abrufbar (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020). 5 In Übersetzung des Autors. 6 Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1022a, S. 183 mwN. 7 Vgl. Salger/Trittmann/Schäfer, Internationale Schiedsverfahren, München 2019, § 24, XI. „Niederlande“, Rn. 1419 f. Der Autor war Emergency Arbitrator in dem im Anschluss an diese gerichtliche Entscheidung eingeleiteten ICC Emergency Arbitrator-Verfahren.

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Rv. kann ein Kort Geding-Richter das Verfahren abweisen, wenn er es nicht für eine summarische Entscheidung geeignet hält. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Partei ein Gestaltungs- oder Feststellungsurteil begehrt.8 Diese Entscheidungen sind einem Hauptsacheverfahren vorbehalten. In den Niederlanden muss, anders als bei uns, für eine einstweilige Verfügung kein Verfügungsanspruch dargelegt werden.9 In dem Kort GedingVerfahren wird eine Lösung unter Abwägung der widerstreitenden Parteiinteressen gesucht. Dabei kann die Hauptsache vorläufig vorweggenommen werden, ohne dass es dafür besonderer Umstände bedürfte. Mithin ist der Kort Geding-Richter bei der Gestaltung seiner vorläufigen Lösung sehr flexibel. Allerdings wird erwartet, dass er sich dabei an dem wahrscheinlichen Ergebnis eines Hauptsacheverfahrens orientiert.10 f) Anwendungsbereich Der Anwendungsbereich der Kort Geding-Verfahren ist in der Praxis sehr weit. Er reicht von Zahlungsbegehren, der Anordnung der Weiterbelieferung, der Übertragung von Unternehmensanteilen bis hin zur Verurteilung von Versicherungen, eine Schadensregulierung vorzunehmen. Inkassoforderungen werden regelmäßig im Kort Geding-Verfahren eingeklagt. Auch sehr öffentlichkeitswirksame Streitigkeiten werden gerne in Wege eines Kort Geding-Verfahren behandelt, wie beispielsweise eine Klage des Lufthafens Schiphol gegen Streikandrohungen der öffentlichen Verkehrsbetriebe.11 g) Mündliches Verfahren Anders als in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren spielen neben der Antragsschrift vorbereitende Schriftsätze in einem Kort Geding-Verfahren meist keine Rolle und die Zeugen- oder Sachverständigenbeweisregeln gelten nicht. Es handelt sich im Wesentlichen um ein informelles mündliches 8 Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1043b, S. 361 mwN. 9 Verhoeven-de Vries/Schellaars, „Arbitral Emergency Proceedings – à la Hollandaise: Twenty Years of Practice, Tijdschrift van Arbitrage (TvA) 2020/3, S. 17 („[...] not required to apply any condition pertaining to the liklihood of success of the claims in proceedings on the merits.“) mwN. 10 Vgl. Oberster Gerichtshof (Hoge Raad), Nederlandse Jurisprudentie (NJ) 1996, S. 462 mit Anm. Verkade („In het algemeen geldt dat de in kord geding beslissende rechter zich heeft te richten naar de waarschijnlijke uitkomst van de bodemprocedure“ (Im Allgemeinen gilt, dass sich der im Wege des Kort Geding beschließende Richter nach dem wahrscheinlichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens richten soll). 11 Z.B. Zeitungsartikel im Algemeen Dagblad vom 18. August 2018 „Schiphol wil met kort geding staking voorkomen” (Schiphol will einen Streik mit einem Kort Geding verhindern).

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Verfahren, das in einem kurzfristig angesetzten Termin durchgeführt wird, der auch außerhalb des Gerichtsgebäudes und sogar an einem Sonntag stattfinden kann, wie Art. 254 Abs. 2 Rv. ausdrücklich festlegt. Die Parteien tragen mündlich vor, reichen aber ihre durchaus umfangreichen schriftlichen Plädoyer-Notizen (sog. Pleitnota) zur Akte. Der Kort Geding-Richter kann noch in der mündlichen Verhandlung seine Entscheidung erlassen, üblich ist allerdings ein Zeitraum von einem Tag bis einigen Wochen für eine schriftliche Abfassung. h) Kostengünstige Alternative zum Hauptsacheverfahren Oftmals kommt es nach erfolgreicher Durchführung eines Kort GedingVerfahren nicht mehr zu einem Hauptsacheverfahren, jedenfalls soweit nicht (auch) eine Feststellung oder Gestaltung begehrt wird, die bekanntlich nur in einem Hauptsacheverfahren erstritten werden können. Nach Abschluss eines Kort Geding-Verfahrens ist der Streit oft bereits zufriedenstellend gelöst und es kommt nicht mehr zu einem Hauptsacheverfahren. Das Kort Geding-Verfahren ist damit eine zeiteffiziente und kostengünstige Alternative zu einem lang andauernden Gerichtsverfahren, ohne auf die Möglichkeit eines Hauptsacheverfahrens per se verzichten zu müssen. 2. Übertragung des Kort Geding-Verfahrens in die niederländische Schiedsgerichtsbarkeit Das Kort Geding-Verfahren als Erfolgsmodell in der staatlichen Gerichtsbarkeit wurde auch in die niederländische Schiedsgerichtsbarkeit übertragen. a) Erste gesetzliche Regelung in der Schiedsrechtsreform 1986 In der ersten grundlegenden niederländischen Schiedsrechtsreform seit 1838 wurde 1986 – in einer in vielerlei Hinsicht sehr innovativen Überarbeitung der Gesetzesvorschriften – zum ersten Mal einem Schiedsgericht die Kompetenz durch den Gesetzgeber übertragen, ein summarisches Kort Geding-Verfahren durchzuführen. Anfangs wurde bezweifelt, ob überhaupt Bedarf für dieses neue prozessuale Institut in der Schiedsgerichtsbarkeit besteht, da die Parteien seinerzeit trotz einer Schiedsvereinbarung weiterhin unbeschränkten Zugang zum beliebten gerichtlichen Kort Geding-Verfahren hatten.12 Nach einem etwas zögerlichen Beginn hat sich inzwischen gezeigt, dass auch die schiedsgerichtliche Alternative gut angenommen wird. 12

Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1043b, S. 359.

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b) Praxisrelevanz mit Einführung in der NAI-Schiedsgerichtsordnung 1998 Tatsächlich hat das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren erst ab 1998 seinen Durchbruch in der Praxis erlebt, als die führende niederländische Schiedsinstitution, das Nederlands Arbitrage Instituut (NAI) in Rotterdam,13 eigene Regeln für ein schiedsgerichtliches Kort-Geding-Verfahren erlassen hat, das NAI Arbitraal Kort Geding, dazu sogleich unter 3. Von 1998 bis Ende 2018 wurden 145 dieser Verfahren geführt.14 c) Neufassungen in der 2015 Schiedsrechtsreform In der letzten niederländischen Schiedsrechtsreform von 2015 gab es Änderungen an den gesetzlichen Grundlagen für ein schiedsrichterliches Kort Geding-Verfahren. Nunmehr finden sich die relevanten Vorschriften in Art. 1043b Rv. Im Einzelnen sind dies die folgenden Regelungen:15 − Art. 1043b Abs. 2 Rv.: „Im Wege einer Vereinbarung können die Parteien ein eigenständiges, dafür zu konstituierendes Schiedsgericht innerhalb der Grenzen von Art. 254 Abs. 1 die Zuständigkeit übertragen, und zwar unabhängig davon, ob ein Schiedsverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist, auf Antrag einer Partei eine vorläufige Maßnahme zu erlassen, mit Ausnahme von vorläufigen Maßnahmen i.S. des 4. Titels des 3. Buches [sichernde Arreste].“ − Art. 1043b Abs. 3 Rv.: „Das Schiedsgericht i.S. der vorstehenden Absätze 1 und 2 kann im Zusammenhang mit der vorläufigen Maßnahme von jeder Partei die Stellung einer angemessenen Sicherheit verlangen.“ − Art. 1043b Abs. 4 Rv.: „Soweit das Schiedsgericht es nicht anders bestimmt, gilt eine Entscheidung des Schiedsgerichts über den Antrag auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme als Schiedsspruch; […].“ − Art. 1043b Abs. 5 Rv.: „Das Schiedsgericht kann, auf gemeinsamen Antrag der Parteien hin und unter Bezugnahme auf diesen Antrag, statt einer Entscheidung über eine vorläufige Maßnahme auch sofort eine Entscheidung in der Hauptsache treffen. Eine entsprechende Entscheidung in der Hauptsache gilt als ein Schiedsspruch; […].“ − Art. 1043b Abs. 6 Rv.: „Das Schiedsgericht kann, auf gemeinsamen Antrag der Parteien hin und unter Bezugnahme auf diesen Antrag, einen 13 Internet-Auftritt unter (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020). S. auch Salger/Trittmann/Schäfer, Internationale Schiedsverfahren, München 2019, § 24, XI. „Niederlande“, Rn. 1431 ff. 14 Schellaars/Verhoeven-de Vries, NAI summary arbitral proceedings, Dezember 2019, S. 3 veröffentlicht auf der Homepage des NAI (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020). 15 In Übersetzung des Autors.

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Schiedsspruch i.S. von Abs. 4 in einen Schiedsspruch i.S. von Abs. 5 umwandeln.“ aa) Parteivereinbarung als Voraussetzung Der Zugang zum schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren setzt eine Parteivereinbarung voraus. Diese kann entweder bereits in der Schiedsvereinbarung getroffen werden, z.B. durch Verweis auf eine Schiedsgerichtsordnung, die ein schiedsrichterliches Kort Geding-Verfahren vorsieht, oder nach Auftreten der Streitigkeit. Der Opt-in Charakter stellt für die praktische Anwendung in der ad hoc Schiedsgerichtsbarkeit allerdings eine hohe Hürde dar. bb) Personalunion von Kort Geding-Schiedsrichter und Schiedsrichter im Hauptsacheschiedsverfahren? Der Hinweis auf ein eigenständiges Schiedsgericht in Art. 1043b Abs. 2 Rv. bedeutet in der niederländischen Praxis nicht, dass es keine Personalunion der Schiedsrichter im Kort Geding-Verfahren und einem späteren oder parallelen Hauptsache-Schiedsverfahren geben darf. Es kann sich um die gleichen Personen handeln. Soweit parallel zu einem bereits anhängigen Hauptsache-Schiedsverfahren noch ein zusätzliches schiedsrichterliches Kort Geding-Verfahren eingeleitet wird, wird der Literatur vorgeschlagen, den Vorsitzenden im Hauptsache-Schiedsverfahren mit der Entscheidung im schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren zu betrauen.16 cc) Verweis auf die Voraussetzungen für ein gerichtliches Kort Geding-Verfahren Das niederländische Schiedsrecht verweist in Art. 1043b Abs. 2 auf Art. 254 Rv. Entsprechend sind Dringlichkeit und Geeignetheit der streitigen Frage zur Behandlung in einem Kort Geding-Verfahren ebenfalls Voraussetzungen in einem schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren. Feststellungsund Gestaltungsurteile können bekanntlich nicht getroffen werden. Der Verweis auf das gerichtliche Kort Geding-Verfahren eröffnet die Heranziehung der umfangreichen Rechtsprechung zum richterlichen Kort GedingVerfahren, was zumindest bei Parteien, die mit der niederländischen Rechtsprechung vertraut sind, für bessere Vorhersehbarkeit sorgt. dd) Der Kort Geding-Schiedsspruch als vorläufige Entscheidung Soweit nicht anders vom Kort Geding-Schiedsrichter angeordnet, wird die vorläufige Maßnahme gemäß Art. 1043b Abs. 4 Rv. im Wege eines Schieds-

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Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1043b, S. 362.

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spruches erlassen, der allerdings nicht bindend im Sinne von § 1055 ZPO ist, weil er in einem späteren oder parallel bereits anhängigen Hauptsacheverfahren wieder abgeändert werden kann. Allerdings verweist Art. 1043b Abs. 4 Rv. u.a. auf die Regeln zur Vollstreckbarerklärung. Ob ein Kort GedingSchiedsspruch allerdings auch unter das New Yorker Übereinkommen zur Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Schiedssprüchen fällt, wird unterschiedlich beantwortet.17 ee) „Kortsluiting“ und „Omzetting“ Bei übereinstimmendem Parteiwillen kann ein Kort Geding-Schiedsrichter statt eines vorläufigen Schiedsspruchs direkt einen Endschiedsspruch erlassen und damit ein nachfolgendes oder paralleles Hauptverfahren ausschießen bzw. beenden (in der Terminologie von Henk Snijders „Kortsluiting“ – Kurzschluss, Art. 1043b Abs. 5 Rv).18 Gleiches gilt, wenn eine erlassene vorläufige Maßnahme später in einen Endschiedsspruch umgewandelt wird (in der Terminologie von Henk Snijders „Omzetting“ – Umwandlung, Art. 1043b Abs. 6 Rv).19 Diese Flexibilität macht das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren attraktiv, da es im Wege der Parteivereinbarung auch eine rechtssichere finale Klärung der Streitigkeit herbeiführen kann. 3. Das NAI Arbitraal Kort Geding Im Jahre 1998 hat das NAI eigene Regelungen zum schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren in die Schiedsgerichtsordnung aufgenommen (NAISchO). Diese Regelungen finden Anwendung, wenn die NAI-Schiedsgerichtsordnung vereinbart wurde. Entsprechend liegt damit ein Opt-in i.S.v. Art. 1043b Abs. 2 Rv. vor. Im Rahmen der Schiedsrechtsreform 2015 wurde auch die NAI-Schiedsgerichtsordnung überarbeitet. Die Revision ist zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten. Nunmehr finden sich die Regelungen zum NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahren in Art. 35 und 35 der NAI-SchO.20

17 Für die Anwendbarkeit des New Yorker Übereinkommens: Schellaars, “NAI arbitraal kort geding – kort, goed en met executabel resultaat, TvA 2013, S. 15 ff.; dagegen: Kröll, „NAI Summary Arbitral Proceedings: Enforceability under the NYC?, TvA 2012, S. 19 ff. 18 Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1043b, S. 365. 19 Snijders, Nederlands Arbitragerecht, 5. Aufl., Deventer 2018, Art. 1043b, S. 365. 20 Eine deutsche Übersetzung der NAI-SchO gibt es bislang nicht. Auf der Homepage des NAI ist eine englische Fassung der NAI-SchO abrufbar unter (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020).

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a) Art. 35 der NAI-SchO In Art. 35 der NAI-SchO werden im Wesentlichen die gesetzlichen Regelungen aus Art. 1043b Rv. wiederholt mit einigen Ergänzungen. aa) Niederländischer Schiedsort als Voraussetzung Art. 35 Abs. 2 S. 1 der NAI-SchO legt zunächst fest, dass das summarische Verfahren unter der NAI-Schiedsgerichtsordnung nur verfügbar ist, soweit der Schiedsort in den Niederlanden belegen ist. Soweit noch kein Schiedsort bestimmt wurde, wird Rotterdam als Schiedsort für das summarische Verfahren festgelegt (Art. 35 Abs. 2 S. 2 der NAI-SchO). bb) Sicherheitsleistung Die Sicherheitsleistung wird ausdrücklich auf die klage- und widerklageweise geltend gemachten Ansprüche als auch eine Prozesskostensicherheit für das Hauptsacheverfahren erstreckt und konkretisiert damit die gesetzliche Regelung. cc) Form der Entscheidung Während Art. 1043b Abs. 4 Rv. dem Schiedsgericht Ermessen einräumt, ob es seine vorläufige Entscheidung im schiedsgerichtlichen Kort GedingVerfahren als Verfahrensverfügung oder Schiedsspruch erlässt, bestimmt Art. 35 Abs. 4 S. 2 der NAI-SchO, dass ein Schiedsgericht auf Antrag einer Partei und nach Anhörung der Gegenpartei eine zunächst im Wege der Verfahrensverfügung getroffene Anordnung in einen Schiedsspruch umwandeln kann. Dies hat für den Antragssteller den Vorteil der Vollstreckbarkeit. dd) „Kortsluiting“ und „Omzetting“ Die Regelungen aus dem niederländischen Schiedsverfahrensrecht zum Erlass einer Entscheidung im Kort Geding-Verfahren als Endschiedsspruch in Art. 35 Abs. 6 der NAI-SchO bzw. zur Umwandlung eines vorläufigen Schiedsspruchs in einen Endschiedsspruch in Art. 35 Abs. 7 der NAI-SchO gespiegelt. Soweit es in einem schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren zu einem Endschiedsspruch kommt, sind darin auch alle Kostenentscheidungen zu treffen. b) Art. 36 der NAI-SchO Art. 36 der NAI-SchO enthält sodann spezielle Verfahrensregeln für das NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahren und einen Verweis auf andere einschlägige Regelungen der Schiedsgerichtsordnung.

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aa) Einleitung des Verfahrens Art. 36 Abs. 2 der NAI-SchO stellt die Anforderungen an den Einleitungsschriftsatz auf, u.a. ist der Gegenstand der Streitigkeit und seine Dringlichkeit darzulegen. Mit seinem Eingang bei der Schiedsinstitution beginnt das NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahren. bb) Benachrichtigung der Gegenseite Laut Art. 36 Abs. 3 der NAI-SchO hat der Antragsteller nachzuweisen, dass er den Antragsgegner über seinen Antrag unterrichtet hat. Der Nachweis ist spätestens bei der mündlichen Verhandlung zu erbringen. cc) Bestellung des Kort Geding-Schiedsrichters Gemäß Art. 36 Abs. 4 der NAI-SchO bestellt die Schiedsinstitution so schnell wie möglich nach Erhalt des Einleitungsschriftsatzes einen Kort Geding-Schiedsrichter. Es handelt sich dabei immer um einen Einzelschiedsrichter, soweit die Parteien in der Schiedsvereinbarung nicht ausdrücklich festgelegt haben, dass sich die Wahl von drei Schiedsrichtern auch auf das Kort Geding-Verfahren beziehen soll, was in der Praxis jedoch selten vorkommt. Die NAI bestellt oft schon innerhalb von 24 Stunden einen Kort Geding-Schiedsrichter.21 Dabei gibt es keine Beschränkungen hinsichtlich der Nationalität. Mithin kann auch ein Niederländer zum Kort GedingSchiedsrichter bestellt werden, wenn nur eine Partei aus den Niederlanden stammt. Anders als bei einer Ersatzbestellung eines Einzelschiedsrichters im Rahmen eines Schiedsverfahrens zur Hauptsache gemäß Art. 14 Abs. 4 der NAI-SchO kann im schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren keine Partei demnach die Bestellung eines Einzelschiedsrichters mit der Nationalität einer der Parteien verhindern. dd) Mündliche Verhandlung und vorbereitende Schriftsätze Art. 36 Abs. 5 der NAI-SchO legt fest, dass der Kort Geding-Schiedsrichter den Termin und Ort der mündlichen Verhandlung festlegt und auch bestimmen kann, ob den Parteien noch vorbereitende Schriftsätze gewährt werden. ee) Zuständigkeitsrüge Gemäß Art. 36 Abs. 6 der NAI-SchO ist eine Zuständigkeitsrüge von dem Antragsgegner spätestens während der mündlichen Verhandlung und 21 Schellaars/ Verhoeven-de Vries, NAI summary arbitral proceedings, Dezember 2019, S. 4 veröffentlicht auf der Homepage des NAI (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020).

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dann sofort zu erheben. Wurde dem Antragsgegner eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme vor dem Termin eingeräumt, muss er darin zuerst die Zuständigkeitsrüge erheben. ff) Widerklage Auch im Rahmen des Kort Geding-Verfahrens kann eine Widerklage erhoben werden (Art. 36 Abs. 7 der NAI-SchO). Diese muss in schriftlicher Form spätestens am Anfang der mündlichen Verhandlung erhoben werden. Dabei ist ein Nachweis des Zugangs bei der Gegenseite zu erbringen. gg) Verfahrensvorschriften Hinsichtlich der Gestaltung des Kort Geding-Verfahrens verweist Art. 36 Abs. 8 der NAI-SchO auf bestimmte Vorschriften für NAI-Schiedsverfahren in der Hauptsache. Beispielsweise sind die Parteien gleich zu behandeln und rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 21 Abs. 2 der NAI-SchO); der Kort Geding-Schiedsrichter soll Verzögerungen des Verfahrens verhindern und kann dazu die notwendigen Maßnahmen ergreifen (Art. 21 Abs. 3 der NAI-SchO); soweit sich eine Partei beispielsweise einer schiedsrichterlichen Verfügung verweigert, kann der Kort Geding-Schiedsrichter daraus seine Schlüsse ziehen (Art. 21 Abs. 5 der NAI-SchO); und im Übrigen gelten die Vorschriften aus Art. 26–34 der NAI-SchO, u.a. zu Beweismitteln, Ergänzungen von Klagebegehren und Rücknahme von Anträgen. hh) Ablehnen einer Entscheidung Soweit ein Kort Geding-Schiedsrichter den Antrag als nicht ausreichend eilbedürftig oder den Streitstoff als zu kompliziert für ein summarisches Verfahren erachtet, kann er eine Entscheidung ablehnen und die Parteien auf ein Hauptsacheschiedsverfahren verweisen (Art. 36 Abs. 9 der NAISchO). ii) Kosten Für das Kort Geding-Verfahren gibt es eine eigene Kostenordnung. Im Übrigen gelten die Regelungen zu den Kosten im Schiedsverfahren laut Art. 36 Abs. 10 der NAI-SchO. Schiedsrichter werden in NAI-Verfahren nach Stunden vergütet, wobei sich der Stundensatz am Streitwert orientiert. Der Stundensatz eines Schiedsrichters im Kort Geding-Verfahren ist gegenüber demjenigen in einem Hauptsacheverfahren erhöht.22 22 Vgl. die Kostentabelle auf der Homepage des NAI (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2020).

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jj) Vorschüsse Soweit die Vorschüsse nicht einbezahlt wurden, kann der Kort GedingSchiedsrichter gemäß Art. 36 Abs. 11 der NAI-SchO das Kort GedingVerfahren aussetzen. Wird auch auf eine Erinnerung der NAI hin nicht innerhalb der gesetzten Frist gezahlt, gilt das Verfahren als zurückgenommen. 4. Praxiserfahrungen In den letzten Jahren wurden verschiedene empirische Studien anhand des NAI-Fallmaterials zum schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren durchgeführt. Die aktuellste Auswertung erfasst den Zeitraum von 1998 bis Ende des Jahres 2018.23 Als Erkenntnisse wurden von den Autoren der Studie festgehalten: − In 65% der Kort Geding-Verfahren waren nur niederländische Parteien involviert, in weiteren 21% der Verfahren war die Parteimehrheit niederländisch, in 6% war die Parteimehrheit nicht niederländisch und in 8% der Verfahren war überhaupt keine niederländische Partei beteiligt; − 70% der schiedsrichterlichen Kort Geding-Entscheidungen wurden innerhalb von zwei Monaten erlassen; − Kort Geding-Schiedsrichter stellen keine hohen Hürden an die Dringlichkeit auf und weisen auch Verfahren nur selten als ungeeignet für ein Kort Geding-Verfahren ab; − anfangs wurde das Kort Geding-Verfahren als Settlement Tool eingesetzt, um Druck auf die Gegenseite aufzubauen, entsprechend kam es in vielen Fällen gar nicht mehr zu einer Entscheidung des Kort Geding-Schiedsrichters; − in den letzten Jahren hat sich dieser Trend umgekehrt, was die Vermutung nahelegt, dass die Parteien nunmehr tatsächlich an einer schnellen Entscheidung durch den Kort Geding-Schiedsrichter interessiert sind; − die Erfolgsrate ist mit 65% hoch, was dafür spricht, dass die Verfahren nicht leichtfertig eingeleitet werden, aber auch von Antragsgegnern ernst genommen werden müssen; − der Streitwert lag in 26,2% der Fälle über 1 Millionen Euro; und − weiterhin enden viele Streitigkeiten auf der Ebene des Kort Geding-Verfahrens und es folgt kein Schiedsverfahren in der Hauptsache. Die Ergebnisse der Untersuchung unterstreichen die Praxisrelevanz des NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahrens für die nationale niederländische 23 Schellaars/ Verhoeven-de Vries, NAI summary arbitral proceedings, Dezember 2019, veröffentlicht auf der Homepage des NAI (zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2020).

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Schiedsgerichtsbarkeit. Es ist eine sinnvolle Antwort auf das drängende Kosten- und Zeitproblem der Schiedsgerichtsbarkeit.

III. Innovation für die deutsche Schiedsgerichtsbarkeit? Das niederländische schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren erinnert in verschiedener Hinsicht an das ICC Emergency Arbitrator-Verfahren, das 2012 neu in die ICC-Schiedsgerichtsordnung aufgenommen wurde. Anders als dieses oder auch andere Eilschiedsrichterverfahren, die derzeit von vielen Schiedsinstitutionen ins Angebot genommen werden,24 ist das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren aber ein selbstständiges Verfahren und nicht nur eine Rechtsschutzform zur Überbrückung der Zeitspanne bis zur Konstituierung des Schiedsgerichts. Allerdings kann man beobachten, dass ein Eilschiedsrichterverfahren oft dem gleichen Zweck dient, nämlich innerhalb einer sehr kurzen Zeit eine neutrale Einschätzung zu geben und eine vorläufige Regelung zu treffen, die dann Grundlage für eine endgültige Streitbeilegung sein kann. Ein selbstständiges summarisches Verfahren steht zwischen einem Eilschiedsrichterverfahren und einem beschleunigten Hauptsacheverfahren (z.B. die „Expedited Procedures“ der 2017 ICC-Schiedsgerichtsordnung). Ein summarisches Kort Geding-Verfahren ist jedoch konzeptionell etwas anders. Es führt dabei weder dazu, dass die üblichen Verfahrensschritte in ein engeres zeitliches Korsett gepresst werden, was mitunter der Qualität abträglich ist; noch zwingt es zur zusätzlichen Einleitung eines Schiedsverfahrens mit den entsprechenden Kostenfolgen. Das NAI Arbitraal Kort Geding-Verfahren eröffnet die Möglichkeit, mit Hilfe einer vorläufigen Entscheidung eines neutralen Dritten schnell und kostengünstig zu einer akzeptablen Lösung im Hinblick auf die widerstreitenden Parteiinteressen zu kommen. Wenn dies gelingt, ist allen gedient – auch außerhalb der Niederlande könnte diese Lösung attraktiv sein, da Zeitund Kostenthemen generelle Kritikpunkte sind. Zwar entstammt das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren der niederländischen Prozesstradition und ist in diese eingebettet, allerdings sollte dies nicht die Übertragbarkeit über die Grenzen hinweg ausschließen. Die Erfahrung in den Niederlanden hat gezeigt, dass erst das Angebot einer Schiedsinstitution das schiedsrichterliche Kort Geding-Verfahren attraktiv gemacht hat. Entsprechend wäre in Deutschland an die DIS als Anbieter zu denken. Hierzu bedarf es keiner komplexen Ergänzungen der DISSchiedsgerichtsordnung, wie die wenigen Regelungen in der NAI-Schieds24 Vgl. Salger/Trittmann/Schäfer, Internationale Schiedsverfahren, München 2019, § 5, IV. „Der Eilschiedsrichter“, Rn. 19 ff.

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gerichtsordnung zeigen. Es kommt vielmehr entscheidend auf die Auswahl des richtigen Kort Geding-Schiedsrichters durch die Schiedsinstitution an, um die Akzeptanz des Verfahrens bei den Parteien und seinen Erfolg sicherzustellen. Dies ist vergleichbar mit einer Mediation; auch hier entscheidet meist allein die Überzeugungskraft des Mediators über den Erfolg oder Misserfolg. Anders als eine Mediation hat ein schiedsrichterliches Kort GedingVerfahren zumindest im niederländischen Modell vorläufig „Biss“ als vollziehungsfähige Entscheidung. Zwar ähnelt ein Kort Geding-Verfahren im Hinblick auf seine Vorläufigkeit auch einem Dispute Review Board, es geht allerdings in den Niederlanden darüber hinaus, in dem die Entscheidung nicht nur vertragliche, sondern auch prozessuale Bindungswirkung hat. Diese prozessuale Bindungswirkung kann allerdings nur der Gesetzgeber sicherstellen. Soweit in einer deutschen Reform des 10. Buches der ZPO sowieso gesetzliche Regelungen zum Institut des Eilschiedsrichters geschaffen werden, sollte überlegt werden, eine Vollziehungsmöglichkeit auch für einen selbstständigen, vorläufigen schiedsrichterlichen summarischen Rechtsschutz im Kontext von § 1041 ZPO zu schaffen. Möglichkeiten zur Umgestaltung einer vorläufigen Entscheidung in eine bindende Endentscheidung i.S.v. § 1055 ZPO könnten an die Regelungen zum Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut angelehnt werden. Es ist an der Zeit, auch in Deutschland das niederländische Modell als eine innovative Lösung für eine schnelle und kostengünstige Streitbeilegung zu entdecken und das Angebot der Schiedsgerichtsbarkeit mit einer neuen Verfahrensform eines schiedsrichterlichen Kort Geding-Verfahren, das zu einer vorläufigen, aber vollziehungsfähigen Entscheidung führt, zu ergänzen.

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Verschärfte Rechtsprechungsanforderungen an die Begründung

Verschärfte Rechtsprechungsanforderungen an die Begründung Peter F. Schlosser

Verschärfte Rechtsprechungsanforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen PETER F. SCHLOSSER Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frankreich und Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. England und Wales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle Zusammenfassung und Abstrahlung des Ergebnisses auf Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhaltsleere Begründung von Schadensummen . . . . . . . . 2. Pauschale Abweisung der Klage „im Übrigen“ . . . . . . . .

. . . . . . . .

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Einleitung Im Allgemeinen wurde bis vor Kurzen gelehrt, dass selbst dann, wenn eine Begründung des Schiedsspruchs durch Gesetz oder Parteivereinbarung angeordnet ist, die Tragfähigkeit der Begründung durch das staatliche Gericht nicht überprüft werden kann. Dies würde, allgemein ausgedrückt, in der Tat auf eine revision au fond hinauslaufen, die das Schiedsverfahrensrecht gerade ausschließt. Infolgedessen sollte es nur darauf ankommen, auf den Punkt gebracht ausgedrückt, dass dem Schiedsspruch ein Text beigefügt ist, der beansprucht eine Begründung des Schiedsspruchs darzustellen. Spöttisch hat man diese Lehre als „Telefonbuchtheorie“ bezeichnet, weil es – auf die Spitze getrieben – genüge, eine Seite aus dem Telefonbuch als Begründung des Schiedsspruchs anzufügen. Natürlich hat man so extrem diese Lehre nicht zu Ende gedacht, aber gleichwohl hat man Defizite in der Begründung eines Schiedsspruchs immer hingenommen, vor allem dann, wenn zu einzelnen Ansprüchen gar nichts gesagt worden ist oder aus dem Rest der Begründung erschlossen werden kann. Diese Betrachtungsweise ist aber in den letzten Jahren kontinuierlich aufgeweicht worden. Man hat eingesehen, dass ein Schiedsspruch auch dann, wenn eine Begründung nicht speziell vorgeschrieben ist, vor allem aber

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dann, wenn sie durch Gesetz oder Parteivereinbarung vorgeschrieben ist, oder sich mittelbar aus dem Gesetz oder den Pateivereinbarungen ergibt, ein Mindestmaß an Erklärungen enthalten muss, warum das Schiedsgericht zu seiner Überzeugung gelangt ist. Das ist für einige in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wichtige Länder im Folgenden aufzuzeigen:

Einzelne Staaten 1. Die Schweiz Den Anfang mit einem signifikanten Einbruch in die überkommene Lehre machte das Schweizerische Bundesgericht. Ursprünglich hatte es zwar betont entschieden1, dass das maßgebende Gesetz eben kein Erfordernis der Begründung eines Schiedsspruchs aufstelle. Aber bald darauf machte es eine Ausnahme dazu für einen scheinbar eng einzuordnenden Ausnahmefall2. Das schweizerische Bundesgericht hat darin nämlich entschieden, dass ein Schiedsspruch gegen den ordre public verstößt, wenn er den Grundsatz „pacta sunt servanda“ in der Weise missachtet, dass das Schiedsgericht eine Vertragsklausel als wirksam ansieht, sie dann aber doch nicht anwendet. In der maßgebenden Entscheidung hat das Schweizerische Bundesgericht allerdings generell den Inhalt des ordre public näher bestimmt und scheint nicht auf einzelne Aspekte dieser Aussage einzugehen. Es unterscheidet den ordre public matériel und den ordre public procédural und betont, dass zu letzterem in der westlichen Welt allgemein anerkannte Grundsätze eines fairen Verfahrens gehörten. Insoweit soll sich der ordre public suisse und der ordre public transnational nicht unterscheiden: „.dans la plupart des cas – en particulier dans le domaine commercial ou contractuel – le choix de l’ordre public suisse en matière international plutôt que d’un ordre public transnational ne devrait conduire à un résultat différent“3. Dabei aber hatte das schweizerische Bundesgericht festgehalten, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz „pacta sunt servanda“ nur dann vorliegt, wenn der Schiedsrichter erkennt, dass eine vertragliche Bindung vorliegt, sich aber weigert, sie anzuwenden; oder umgekehrt die Existenz einer wirksamen Vertragsklausel leugnet, aber sie seinem Urteil dennoch zugrunde legt4. Da aber noch nie ein Fall zur Entscheidung anstand, in dem der letztere Teil der Lehre ein Rolle gespielt hätte, hat sich das Schweizeri1

BGE 116 II 373. BGE 120, 155 – Berühmter Fall Westland Helicopter Urteil vom 14. April 1994. Zuletzt Urteil vom 2. Dezember 2016 4A_522/2016, Bulletin de l’Association Suisse de l’arbitrage (künftig „ASA-Bulletin“) 2019, 158, 161. 3 BGE 120 II 155, 168. 4 Urteil vom 11. Mai 1992, Bulletin ASA 1992, 381. 2

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sche Bundesgericht niemals zu einer näheren Spezifizierung seiner These aufgerafft .5 Bei kurzem Nachdenken fällt nämlich auf, dass gerade nicht der Grundsatz „pacta sunt servanda“ verletzt wurde, wenn eine nichtige Vertragsklausel angewendet wurde, sondern das Gegenteil, also schlicht und einfach der Widerspruch in der Entscheidungsbegründung zur Aufhebbarkeit des Schiedsspruchs führen soll. Denn wenn festgestellt ist, dass eine Vertragsklausel unwirksam ist, die auf ihrer Grundlage ergehende Entscheidung aber dann doch ausgeführt werden soll, geht es gerade nicht um Verkennung der Bindung an einen Vertrag. Da die entsprechende These des Bundesgerichts beiläufig aufgestellt wurde, hat es lange gedauert, bis dies klar wurde. Erst in der Entscheidung vom 2. Dezember 20166 ist dies geschehen. Dort ist einmal die Verpflichtung zur Begründung der schiedsrichterlichen Entscheidung betont. Es muss in dem Schiedsspruch nicht nur ein Text stehen, der beansprucht, das Entschiedene zu erläutern, sondern, so wörtlich „das Prinzip der Vertragstreue, das durch den Spruch ‚pacta sunt servanda’ wiedergegeben wird, … ist nur verletzt, wenn das Schiedsgericht sich weigert, eine Vertragsklausel anzuwenden, obwohl es annimmt, dass sie die Parteien bindet, oder im Gegenteil wenn das Schiedsgericht den Parteien den Respekt einer Vertragsklausel abverlangt, … obwohl es annimmt, dass sie die Parteien nicht bindet“. In anderen Worten: das Schiedsgericht muss eine Vertragsklausel angewendet haben, oder sich geweigert haben, sie anzuwenden, indem es sich in Widerspruch zu seiner eigenen Interpretation des Rechtsaktes setzt. Man könnte sagen, eine widersprüchliche Begründung hebe sich gegenseitig auf, so dass dieser Fall dem Fehlen einer Begründung gleich zu erachten ist. Das schweizerische Bundesgericht hat also auf den inneren Widerspruch der Entscheidungsbegründung abgestellt und übersehen, dass dies unmöglich mit dem Prinzip „pacta sunt servanda‘“ in Verbindung gebracht werden kann. Dann muss aber auch außerhalb der Vertragsbindung ein innerer Widerspruch in der Begründung des Schiedsspruchs zu entscheidenden Elementen der Erläuterungen des Schiedsgerichts zur Aufhebung des Schiedsspruchs führen. Dies ist zwar in der Entscheidung vom 2. Dezember 2016 noch nicht geschehen, weil es dem Kläger nicht gelungen war, eine überzeugende Begründung für die Aufhebung zu liefern. Dies ist aber geschehen in der Entscheidung vom 12. November 20187. Der Schiedsspruch war allerdings in einer innerschweizerischen Angelegenheit ergangen. Dafür sind die Aufhebungsgründe etwas anders formuliert. 5

Fortführung seiner These Urteil vom 13. Nov. 1998, Bulletin ASA 1999, 529, 533; 4A_46, 2011 4.3.1. ; Urteil v. 5.1.2016 4A_319 (2015) ASA-Bulletin 2016, 744. 6 Urteil v. 2.12.2016 4A_522/2016 ASA Bulletin 2019, 158. 7 4A_642/2017 ASA-Bulletin 2019, 384.

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Nach § 393 Schweizerische ZPO kann der Schiedsspruch aufgehoben werden, „wenn er im Ergebnis willkürlich ist, weil er auf offensichtlich aktenwidrigen tatsächlichen Feststellungen oder einer offensichtlichen Verletzung des Rechts oder der Billigkeit beruht“. Architekten hatten ihr Honorar eingeklagt. Das Schiedsgericht hat einen Teil davon abgewiesen, weil der „maître de l’ouvrage“ von den Architekten noch keine Detailpläne erhalten habe. Das Schiedsgericht hatte jedoch an anderer Stelle festgestellt, dass die Architekten die Pläne vollständig vorgelegt hatten. Die Behauptung, die Pläne seien nicht vorgelegt worden, stand also in offensichtlichem Widerspruch zu den Feststellungen des Schiedsgerichts. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum ein Widerspruch zu den Feststellungen des Schiedsgerichts nur dann zur Aufhebung des Schiedsspruchs führen soll, wenn es um die Wirksamkeit einer Vertragsklausel oder die Erfüllung einer Mitwirkungshandlung des Gläubigers geht. Außerdem machten die meisten anderen Rechte jedenfalls bei der prozessualen Korrektheit den Unterschied zwischen inländischen und internationalen Verfahren der Schiedsgerichtsbarkeit nicht, so dass die schweizerische Einstellung zum ordre public bei innerschweizerischen Schiedssprüchen durchaus übernommen werden kann. Ergebnis zur Schweiz: Eine widersprüchliche Urteilsbegründung wurde zunächst mit der Vertragsbindungsformel aufgefangen, ein Schiedsgericht könne nicht die Bindung an eine vertragliche Vereinbarung feststellen und dann doch nicht zu der aus der fraglichen Vertragsklausel stammenden Leistung verurteilen. Unter der Hand wurde diese Formel dann erweitert auf die Aussage ein Schiedsgericht könne nicht die Bindung an eine vertragliche Klausel leugnen und dann doch zu ihrer Einhaltung verurteilen. Erst jüngst – aber immerhin jetzt – hat man gemerkt, dass mit der Formal „pacta sunt servanda“ die Widerspruchsfreiheit des Schiedsspruchs und seiner Begründung nicht gemeistert werden kann, sondern diese ein essenzielles Element einer Rechtsordnung ist, die auch für die Schiedsgerichtsbarkeit gilt. 2. Die Niederlande Noch einen Schritt weiter gingen die niederländischen Gerichte, zunächst das niederländische Oberste Gericht in der sogenannten Nannini-Entscheidung8, und dann nur wenig später, das Den Haager Berufungsgericht in dem Verfahren Aldo van den Nuiewelaar v. UMS.Pastoe BV. 8 Urteil des Hoge Raads vom 9.1.2004, R02/0661HR/AT Hoge Rad NJ 2005,190, ECLI:NL:HR:2004:AK 8380, veröffentlicht in NJ 2005, 190. Der Verfasser arbeitete nach einer englischen Übersetzung. Nannini v. SFT-Bank.

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a) In der Nannini-Entscheidung ist das Fehlen eines wichtigen Begründungselements selbst als Verstoß gegen den prozessualen ordre public gewertet worden. Hierbei war zunächst das Fehlen einer Entscheidungsbegründung in einem zentralen Punkt fraglich gewesen. In dieser Hinsicht finden sich in der Entscheidungsbegründung Sätze wie „… that the award does not meet the minimum requirements for motivation“ ; oder „even though a statement of reasons has been given, it is not possible to recognize any valid explanation for the decision in question“. Es ging, kurz gesagt, um Folgendes: In einem Grundstückskaufvertrag auf den niederländischen Antillen hat der Verkäufer verschiedene Garantien abgegeben u.a. für die Belastungsfreiheit mit einer Ausnahme. Es heißt zusätzlich: „if one or more of the statements as guaranteed under item 7 appear(s) to be incorrect or incomplete or is not complied with by the seller, the seller shall be obliged to compensate any damage resulting therefrom”. Das Grundstück erwies sich als stärker belastet, als im Vertrag angegeben. Der Käufer behauptete, deshalb habe er das Grundstück nicht zu einem bestimmten Preis weiterverkaufen können. Der Verkäufer erwiderte, auch wenn das Grundstück unbelastet gewesen sei, hätte es nicht zu diesem Preis weiterverkauft werden können, bzw. trotz der Belastung hätte das Grundstück verkauft werden können. Das Schiedsgericht ließ den Punkt der Kausalität der unrichtigen Garantie für den Schaden unerwähnt und setzte die Kausalität einfach voraus, weil es ein vorangehendes Urteil eines staatlichen Gerichts falsch interpretierte9. Das vom Hoge Raad aufrecht erhaltene Berufungsurteil hob den Schiedsspruch auf und machte dabei die wiedergegebenen Äußerungen. Es kam freilich hinzu, dass der Verkäufer den Mangel der Kausalität gerügt hatte und das Schiedsgericht diesen Punkt nicht angesprochen hat, was zu einem Verstoß gegen das Prinzip des rechtlichen Gehörs führte. Der Hoge Raad fügte aber hinzu: „The annulement of an arbitral decision is not only possible on the grounds stated in these two provisions [altes Recht der niederländischen Antillen] but also – as the Court of Appeals has taken as its starting point – on the ground the arbitrators have violated fundamental principles of procedural law“ wozu nach Ansicht des Hoge Raads die Begründung aller wesentlichen Punkte der Entscheidung gehöre. b) Dies hat wenig später die Entscheidung Aldo van den Nieuwelaar v. UMS-Pastoe BV des Berufungsgerichts von Den Haag vom 14. Oktober 9 Die unrichtige Interpretation des Urteils bestand darin, dass die fehlerhafte Garantie den Weiterverkauf des Grundstücks verhindert hätte.

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2004 bestätigt10. Es ging um einen Rechtsstreit über ein Recht des gewerblichen Rechtsschutzes. Pastoe und van den Nieuwelaar schlossen einen Lizenzvertrag über das sogenannte Amsterdamer Cabinet [= eine Art von Vitrine]. Pastoe produzierte die Fiber Cabinets in zwei Versionen, eine mit durchsichtigen und eine mit undurchsichtigen Gleit-türchen. Darin sah Nieuwelaar eine Verletzung seines Geschmackmuster-Rechts und des Lizenzvertrags. Pastoe erhob negative Feststellungsklage dahin, dass er keine Verletzung begangen habe. Nieuwelaar entgegnete mit einer entsprechenden Widerklage. Im Schlussschiedsspruch verlor Nieuwelaar in Bezug auf das durchsichtige Cabinet, nachdem in einem Zwischenschiedsspruch ihm das Recht verbhalten war, zu beweisen, dass er in Bezug auf die durchsichtige Türvariante ein Geschmackmuster hatte. Die Klage wurde wegen des Ausbleibens eines Beweises abgewiesen. Die Beweislast sah das staatliche Gericht bei Pastoe. Dieser konnte den Beweis durch Vorlage des nicht mehr auffindbaren Sitzungsprotokolls nicht erbringen, und wollte stattdessen ihn durch Zeugenbeweis führen. Dies gestattete das Schiedsgericht nicht mit der Begründung, ein Zeugenbeweis könne niemals einen Urkundenbeweis entkräften, obwohl in diesem Fall der Urkundenbeweis gar nicht erhoben werden konnte. Das staatliche Gericht sagte, die Argumentation des Schiedsgerichts sei „incomprehensible“ (unverständlich) und ungenügend und verletze somit due process. Dabei nahm es auch auf das Nannini-Ur teil Bezug und sagte: „ this reasoning is defective because it is unclear why witness testimony does (never) outweigh what could have been derived from (unknown) documentary evidence. The fact, that the absence of such documentation should be for Pastoes risk does not affect that conclusion. Given the whole of the legal debate between the parties, this is a fundamental matter, directly related to awarding or rejecting a significant part of the claim, the conclusion must be that the award does not contain reasons as required by section 1065 subs. d CCP under the circumstances and by not allowing Pastoe to provide evidence the tribunal has acted in breach of due process which (also) justifies the setting aside on the basis of breach of public policy”. Ergebnis zu den Niederlanden: In den Niederlanden wird ein Schiedsspruch wegen des Fehlens einer Begründung zu einem wichtigen Teil des Schiedsspruchs auch dann aufgehoben, wenn die „Begründung“ fundamentalen Prinzipien des Prozessrechts verletzt, weil die nicht offensichtlich neben der Sache liegende Begründung eines wesentlichen Punktes des Rechtsstreits zu den fundamentalen Elementen der prozessualen Fairness gehört, vor allem wenn die „Begründung“ von 10 02/16 Praktigids 2005, 14. Auch insoweit hat der Verfasser mit einer englisch Übersetzung gearbeitet.

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offensichtlich falschen Voraussetzungen ausgeht oder offensichtlich falsche Annahmen zur Zulässigkeit eines Beweismittels enthält. 3. Österreich Später, aber dafür sehr deutlich gelang der Durchbruch in Österreich, nachdem die österreichischen Gerichte vorher immer die Frage als unerheblich gewertet hatten, weil sie an der Tauglichkeit der Begründung nicht rütteln wollten. Dies geschah durch die Entscheidung des OGH vom 28.9.201611. Dort finden sich folgende Sätze: „Nach § 611 Abs. 2 Ziff. 5 ist ein Schiedsspruch aufzuheben, wenn das Verfahren in einer Weise durchgeführt wurde, die Grundwertungen des österreichischen Rechts widersprechen … Einen Anhaltspunkt bilden dabei die Nichtigkeitsgründe des Zivilprozesses … Auf dieser Grundlage kann auch ein mangelnde Begründung des Schiedsspruchs gegen den ordre public verstoßen … Dabei besteht zwar Einigkeit, dass an die Begründung eines Schiedsspruchs nicht jene Maßstäbe angelegt werden können, die für Urteile staatlicher Gerichte gelten. Die Begründung darf aber nicht widersinnig sein oder in Widerspruch zur Entscheidung stehen; sie dürfen sich auch nicht auf inhaltsleere Wendungen beschränken und müssen zu den wesentlichen (Angriffs-) und Verteidigungsmitteln der Parteien Stellung nehmen … Hingegen können Schiedssprüche nur in den Grenzen des § 611 Abs. 2 Ziff. 8 nachgeprüft werden … Umso bedeutender ist daher die formale Qualität der Begründung. Allein ihr kann entnommen werden, ob die Entscheidung auf einer rechtsstaatlich gebotenen Auseinandersetzung mit dem Streit der Parteien oder auf Willkür beruht … Zwar ist die Begründung inhaltlich nicht zu überprüfen. Sie muss jedoch in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, auf welchen wesentlichen Erwägungen – insbesondere auch auf welchen Sachverhaltsannahmen – die Entscheidung beruht. Inhaltlich leere Floskeln genügen hier nicht … Stützt sich das Schiedsgericht auf Erwägungen, die weder von den Parteien vorgebracht noch im Verfahren erörtert wurden, wird es seine Gründe im Schiedsspruch ausführlich darlegen müssen…“ Das Gericht führt dann noch aus, dass der Schiedsspruch nicht aufgehoben werden kann, wenn die Parteien von der Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht haben, den Schiedsspruch durch das Schiedsgericht interpretieren zu lassen. Diese Erwägungen führten den öOGH dazu, den angegriffenen Schiedsspruch in einem Teil aufzuheben. Der Kläger hatte einen Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung geltend gemacht. Außer dem geltend gemachten Vorgang waren nach dem Vertrag auch „andere Geschäfte“ provisionspflichtig. Das Schiedsgericht behandelte den auf „andere Geschäfte“ gegründeten 11

180 Cg3/161, Jbl 2017, 330.

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Auskunftsanspruch nicht, weil der Antrag „zu breit“ sei. Das staatliche Gericht sah aber, dass nach der Fassung im Ausgangsvertrag der Kläger keinen engeren Antrag stellen konnte. Eine Begründung, dass das Begehren „zu breit“ gewesen sein sollte, gab das Schiedsgericht nicht. Da die Klägerin zudem keinen Hinweis erhielt, wie sie ihren Antrag hätte enger fassen können, war ihr in diesem Punkt der Rechtsweg vorenthalten. Ergebnis zu Österreich: Offensichtlich nichtssagende und völlig an der Substanz der behandelnden zentralen Punkte vorbeigehende Urteilsgründe sind einem Fehlen von Urteilsgründen gleichgestellt und führen zur Aufhebung eines Schiedsspruchs. 4. Frankreich und Belgien Für Frankreich ließen sich allerdings lange Zeit nur versteckte Spuren dafür finden, dass ein Begründungsmangel zur Aufhebung eines Schiedsspruchs führen kann. Jedoch zeigen diese Spuren, dass in dringenden Fällen auch in Frankreich so gedacht wird, wie für einige übrige Länder ausgeführt wurde. In der Revue de l’arbitrage werden neben den textlich voll veröffentlichten Entscheidungen auch in „sommaires de jurisprudence“ zahlreiche Entscheidungen nur in kurzen Auszügen veröffentlicht – allerdings ohne Sachverhaltsangeben. In einer 2006 veröffentlichten Entscheidung der Cour d’appel von Paris steht Folgendes12: „L’exécution d’une sentence est incompatible avec l’ordre public international procédural lorsque les pricipes fondamentaux du procès ont été violées, cequi serait notemment le cas si les arbitres statuaint de manière contradictoire dans une mème sentence ou dans plusieurs“13. Noch aussagekräftiger ist eine in der französischen Doktrin fast in Vergessenheit geratene Entscheidung aus dem Jahre 198814. Dort heißt es: „Si, dans le cadre de l’arbitrage international, l’absence de motivation ne heurte pas nécessairement l’ordre public, il en est différemment si la procédure d’arbitrage relève d’une loi exigent l’obligation de motivation“15. 12 Revue de l’arbitrage 2006, 89. Eigene Übersetzung: die Vollstreckung eines Schiedsspruchs ist unvereinbar mit dem internationalen prozesualen ordre public, wenn die grundlegenden Prinzipien des Prozesses verletzt worden sind, was vor allem dann der Fall ist, wenn die Schiedsrichter in einer und derselben Entscheidung oder in mehreren Entscheidungen in sich widersprüchlich entschieden haben. 13 Übersetzung: Die Vollstreckung des Schiedsspriuchs ist unvereinbar mit dem ordre public international, wenn fundamentale Grundsätze des Prozessrechts verletzt wurden, was insbesondere dann der Fall wäre, wenn die Schiedsrichter in einer in sich widersprüchlichen Weise in einem und demselben Schiedsspruchs urteilten. 14 Socété Total Chine c/ sociétés EMU et GSC, Revue de l’arbitrage 1989, 328.

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Es war auf das Schiedsverfahren die Anwendung französischen Rechts vereinbart worden, das in der Tat auch und gerade für internationale Fälle eine Begründung des Schiedsspruchs verlangt. Es war auch nicht so, dass der Schiedsrichter überhaupt keine Begründung gegeben hätte. Sein Schiedsspruch war im Gegenteil ausführlich begründet. Aber der Punkt der Verurteilung in französischen Franken war nicht begründet. Dieser Teil des Schiedsspruchs würde wegen fehlender Begründung aufgehoben. Auch hat sich die Cour d’Appel von Paris abermals in einer neueren Entscheidung vom 2. April 201916 für die Notwendigkeit einer Entscheidungsbegründung stark gemacht und gesagt: „L’exigence de motivation des décisions de justice est un élément du droit à un procès équitable. Les arbitres qui s’abstiennent de motiver leur décision méconnaissent l’étendue de leur mission et la reconnaissance d’une sentence dépourvue de motifs heurte la conception française de l’ordre public international“. Es ist unklar, ob in diesem Fall eine Entscheidungsbegründung ganz fehlte oder ob sie nur gravierende Lücken auswies. Es ist aber unweigerlich, dass in dieser Prämisse dieselbe Schlussfolgerung steckt wie in der Entscheidung des Österreichischen Obersten Gerichtshofes. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die französischen Gerichte mit der Hinzufügung eines beliebigen Textes als Begründung des Spruches zufrieden geben würden. Schließlich ist auch noch erwähnenswert ein Urteil der Cour d’appel von Paris in einer Investitionsstreitigkeit17. Dort wurde ein Schiedsspruch teilweise aufgehoben, weil das Schiedsgericht einen Schadensposten berücksichtigt hatte, für den es aus zeitlichen Gründen nicht zuständig war. Ich habe alle Nummern der Revue de l’arbitrage, die seit 2006 publiziert wurden, durchgesehen, aber keine anderen Bezugnahmen mehr auf diese Entscheidungen entdeckt. Sie werden auch in der französischen Literatur nicht erwähnt. Man kann davon ausgehen, dass alle wichtigen Entscheidungen in der Revue de l’arbitrage veröffentlicht werden, mindestens in den sommaires de jurisprudence. Schließlich sei noch auf ein Urteil der belgischen Cour de Cassation (Pasicrisie Belge 2011 Nr. 33 RG c. 10 030 2 F) hingewiesen, das einen Wider15 Eigene Übersetzung: Wenn auch in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit das Fehlen einer Entscheidungsbegründung nicht notwendigerweise den ordre public verletzt, so sind die Dinge anders, wenn das Schiedsverfahren von einer Gesetzgebung beherrscht wird, die das Erfordernis der Begründung eines Schiedsspruchs verlangt. 16 Revue d l’arbitrage, 2019, 304, sommaires de jurisprudence. Eigene Übersetzung: „Das Erfordernis der Begründung einer Entscheidung ist ein Element des Rechts auf einen fairen Prozess. Die Schiedsrichter, die ihrer Entscheidung keine Begründung beifügen, verkennen ihren Auftrag und die Anerkennung einer Entscheidung ohne Begründung verletzt die französische Auffassung des ordre public international.“ 17 Urteil vom 20.1.2019 IPrax 2019 , 2019, 270.

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spruch in den Entscheidungsgründen dem Fehlen einer Begründung gleich erachtete, wenn sich der Widerspruch auf den Urteilstenor ausgewirkt hat. Ergebnis zu Frankreich: Leider sind die neueren einschlägigen Entscheidungen nur in Auszügen veröffentlicht, sodass man nicht sagen kann, ob die Schiedssprüche aufgehoben wurden oder nicht. Nur in einem länger zurückliegenden Fall wurde tatsächlich ein Teil eines Schiedsspruchs aufgehoben, weil er keine Begründung enthielt. Aus den Prämissen von drei Entscheidungen der Cour d’appel von Paris lassen sich aber klar Schlussfolgerungen ziehen, dass nicht substanziell oder widersprüchlich begründete Schiedssprüche gegen den „ordre public transnational“ verstoßen und aufgehoben werden müssen. 5. Deutschland In Deutschland ist ein einschlägiger Rechtsprechungsfall bisher nicht bekannt geworden. In der Literatur ist man aber von der ursprünglichen Fixierung auf die „Telefonbuchtheorie“ abgekommen. Nicht interessant sind allerdings in vorliegendem Zusammenhang Entscheidungen zum materiellen ordre public, worauf sich der Erörterungen der Autoren im Wesentlichen beschränken. Maßgebend ist vielmehr der prozessuale ordre public und welche Anforderungen an die Begründung eines Schiedsspruchs zu stellen sind. Theoretisch macht heute auch die Rechtsprechung solche Ausführungen. Der BGH betont immer wieder, dass die Begründung eines Schiedsspruchs nur, aber immerhin gewissen Mindestanforderungen entsprechen muss. So hat er in einem Urteil aus dem Jahre 198518 wörtlich gesagt: „Die Begründung eines Schiedsspruchs muss lediglich gewissen Mindestanforderungen entsprechen19. Sie darf nicht offenbar unsinnig sein oder in Widerspruch zur Entscheidung stehen. Sie darf sich nicht auf inhaltslose Wendungen beschränken und muss zu den wesentlichen Vorbringen der Parteien Stellung nehmen“. Dies ist heute in der Literatur allgemeine Meinung20. In einer neueren Entscheidung (BGH 18 III ZR 16/84, Urteil vom 26.9.1985, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ) 96, 47 = Neue Juristische Wochenschrift 1986, 1436; Recht der Internationalen Wirtschaft 1986, 970. 19 So schon in Wertpapiermitteilungen 1983, 1207. 20 Zöller/Geimer Kommentar zur Zivilprozessordnung, 32. Aufl., § 1054 Rn. 8 – jedenfalls betont er, „jedenfalls bedürfen die Punkte, die unmittelbar von der Entscheidungsformel erfasst werden, einer Begründung“; Münchner Kommentar zur ZPO/Münch, 5. Aufl., § 1054 Rn. 28 f. mit umfangreichen weiteren Nachweisen; Lachmann Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl., 2008 Rn. 1711; Schütze Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 6. Aufl. (2016) Rn. 220; Gottfried Hammer Überprüfung von Schiedsverfahren durch staatliche Gerichte in Deutschland (2018) Rn. 697; Hanefeld-Nedden in Salger/Trittmann Internationale Schiedsverfahren (2918) S. 534. Weniger bestimmt Böckstiegel u.a. Arbitration in Germany, 3. Aufl., (2015) Rn. 89 und § 1054 Rn. 9 ff.

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SchiedsVZ 2020, 46) stellt der BGH zwar im Ausgangspunkt auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das OLG ab, aber gerade weil es die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Schiedsgericht nicht gesehen hat und der BGH darin einen Begründungsmangel sah. So wörtlich: ,Das Schiedsgericht ist im Streitfall bei der rechtlichen Beurteilung des Hauptantrags der Schiedsklägerin nicht nur nicht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags der Schiedsklägerin eingegangen, sondern hat statt dessen einen von der Schiedsklägerin nicht gehaltenen Vortrag zugrunde gelegt‘. Es ist nicht zu sehen, wie sich die Rechtslage in Deutschland von der in Österreich oder der Schweiz unterscheiden soll. Sehr lehrrreich ist in diesem Zusammenhang, dass der Oberste Österreichische Gerichtshof sich auch auf deutsche Literatur stützt. So heißt es unter 3.4.a: „… ist hingegen nach deutschem Verfahrensrecht – wenngleich auf anderer gesetzlicher Grundlage – anerkannt, dass die fehlende oder grob mangelhafte Begründung den Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 1 lit d oder AQb s. 2 lit. b verwirklichen kann“ ( Zitat Geimer, Schütze, Münch wie hier Fn. 19, Stein/Jonas/Schlosser, 23. Aufl., § 1054 Rn. 17, Schab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl., Kap. 24 Rn. 25. Die Begründung darf nicht widersinnig sein oder in Widerspruch zur Entscheidung stehen. Sie darf auch nicht aus inhaltsleeren Wendungen bestehen und muss zu den wesentlichen Angriffs- und Verteidigungsmitteln Stellung nehmen. Für diese Aussage beruft sich der öOGH auf die auch hier zitierte Entscheidung des BGH III ZR 16/84, NJEW 1986, 1436. Ergebnis zu Deutschland: Obwohl es noch an einer gerichtlichen Entscheidung fehlt, die den Schiedsspruch wegen grob mangelhafter Begründung aufgehoben hätte, werden in der Literatur einhellig die gleichen Prämissen gesetzt, aus denen der österreichische Oberste Gerichtshof die Aufhebbarkeit eines Schiedsspruchs hergeleitet hat. 6. England und Wales In England ist die Rechtsgrundlage etwas anders. Ein Schiedsspruch kann auch aufgehoben werden, wenn ihm eine ‚serious procedural irregularity‘ anhaftet, Art. 68 Arbitration Act 1996. Für die hier behandelten Fragestellungen sind besonders einschlägig Art. 68 (2)(a) – failure to comply with general duty – und Art. 68 (2)(d) – failure by the tribunal to deal with the issues that were put to it. Das staatliche Gericht kann auch das Schiedsverfahren an die Schiedsrichter zurückverweisen, was dazu führt, dass die psychische Hemmschwelle vor Aufhebung eines Schiedsspruchs erheblich geringer wird. Gleichwohl erfreut sich England als Schiedsland großer Beliebtheit. Die Aufhebbarkeit eines Schiedsspruchs hat also die große Be-

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liebtheit von England als Schiedsplatz nicht beeinträchtigt. in einer Entscheidung der Chancery Division des High Court sind die wichtigsten Grundsätze festgehalten21. Es ging um die Bestimmung des Pachtzinses für ein Anwesen. Das Gericht setzte sich mit dem Erfordernis einer Begründung des Schiedsspruchs auseinander und sagte: „The reasons that are set out must be reasons which will not only be intelligible but which deal with the substantial points that have been raised“. Das Gericht führt weiter aus: „an arbitrator should explain why he has decided the essential issues in the way in which he has“. Dabei wird Donaldson, Master of the Rolls, zitiert, der Folgendes gesagt hatte22: „All that is necessary is that the arbitrators should set out what, on their view of the evidence, did or did not happen and should explain succinctly why, in the light of what happened, they have reasoned their decision and what that decision is“. „The reasons for a decision must be intelligible and they must be adequate. They enable the reader to understand why the matter was decided as it was … The reasoning must not give rise to a substantial doubt as to whether the decision maker erred in law, for example by misunderstanding some relevant policy or some other important matter … or by failing to reach a rational decision on relevant grounds …“ In Secretary of State for the Home Department and Raytheon Systems Ltd in Urteilen vom 19. Dezember 2014 und vom 16. Januar 201523 wurde ein Schiedsspruch aufgehoben, weil der Schiedsrichter verschiedene issues ignoriert hatte, wobei nicht übersehen werden darf, dass ein „issue“ ein wesentlicher Gesichtspunkt ist und nicht mit dem Klageantrag verwechselt werden darf. Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass „serious irregularity“ ziemlich mit dem auf dem europäischen Kontinent üblichen Begriff des prozessualen ordre public gleichläuft.

Generelle Zusammenfassung und Abstrahlung des Ergebnisses auf Deutschland Es ist unverkennbar, dass die staatlichen Gerichte in den Anforderungen an die Begründung eines Schiedsspruchs zwar nach wie vor zurückhaltend sind aber sich zunehmend aufraffen, inhaltsleere Formeln und Widersprüche 21

EWHC 1101 (Ch) Case No 11CO4434 Compton Beauchamp Estates Ltd and James Killian Mills Spence, Urteil vom 1.5.2013. 22 In Bremer Handelsgesellschaft v. Westzucker (No 2) s. 132, 133. 23 EWAC 311 (TTC)und EWAC 4375 (TTC).

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nicht zu dulden. Im Allgemeinen arbeiten Schiedsgerichte zwar sorgfältig. Daher ist es erklärlich, dass die Gerichte von manschen Rechtsordnungen noch keine Gelegenheit fanden, Schiedssprüche wegen grob mangelhafter Begründung oder inhaltlicher Widersprüchlichkeit aufzuheben. Gegen die neue Tendenz hat sich in der Literatur auch kein Widerspruch erhoben. In klaren Fällen haben die Gerichte aber die Lehre, es genüge ein Text, der den Anspruch erhebt, eine Begründung des Schiedsspruchs zu sein, auch aufgegeben und nicht gezögert, einen Schiedsspruch auch aufzuheben, ohne dass sich dagegen Widerspruch erhoben hätte. Für Juristen, die mit der Schiedsgerichtsbarkeit vertraut sind, ist es sicherlich keine Überraschung, wenn festgestellt wird, dass auch in Deutschland gelegentlich Schiedssprüche gefällt werden, die inhaltlich leere Begründungsformeln gebrauchen. Es sei zum Schlusse nur auf zwei Erscheinungen eingegangen, die in diesen Kontext fallen: Die Begründung von Schadenssummen und die Abweisung des „Restes“ der Klageanträge. 1. Inhaltsleere Begründung von Schadensummen Gelegentlich kann man lesen, dass die Schiedsrichter gar nicht unterscheiden, ob sie einen Schaden feststellen oder nur eine Schätzungsbefugnis in Anspruch nehmen. Sie sagen einfach global, unter Würdigung aller Beweise kommt das Schiedsgericht zu der Schlussfolgerund, das der Schaden € … xy … betrage. Dabei werden dann noch beiläufig Schadenshöhen genannt, die einmal im Laufe des Verfahrens artikuliert worden waren, ohne dass angegeben würde, ob es sich wirklich um den geltend gemachten Schaden handele. Das sind inhaltsleere Formeln, die zur Aufhebung des Schiedsspruchs führen müssen. In Fällen, in denen das Gericht das Vertrauen in die Schiedsrichter nicht verloren hat, kann es das Verfahren an die Schiedsgerichte zurückverweisen und ihnen aufgeben, die Schadenshöhe näher zu begründen (§ 1059 Abs. 4 ZPO). Es ist allerdings nicht klar, ob das Schiedsgericht dann nur an die Aufhebungsgründe gebunden ist, oder ob es das Schiedsverfahren dann insgesamt neu aufrollen kann. Im Allgemeinen wird man aber davon ausgehen können, dass sich das Schiedsgericht an die Aufhebungsgründe hält und die Schiedsrichter kein neues Honorar verlangen können. Das ist sicherlich korrekt, wenn nicht zulässigerweise neue Tatsachen vorgetragen werden. Der Schiedsspruch ist aufgehoben, und die Schiedsrichter müssen das Schiedsverfahren zu den alten Bedingungen weiterführen. Ist allerdings ein Zeithonorar vereinbart, dann muss die insgesamt aufgewendete Zeit vergütet werden. 2. Pauschale Abweisung der Klage „im Übrigen“ Eine arge Unsitte in der Schiedsgerichtsbarkeit besteht darin, dass häufig „zur Sicherheit“ gesagt wird: alle übrigen Ansprüche der Parteien werden

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abgewiesen, ohne dass Ausführungen dazu gemacht würden, um welche Ansprüche es sich handelt. Hat das Schiedsgericht keinen Anspruch übersehen, wo geht eine solche Formel ins Leere. Hat das Schiedsgericht aber einen Anspruch übersehen, so ist diese „Abweisung“ nicht geeignet, einen Anspruch zu treffen. Es handelt sich um eine Leerformel, die nicht aufrecht erhalten werden kann. Das Schiedsgericht hat seine Mission nicht zu Ende gebracht und muss über den verbleibenden Anspruch neu entscheiden. Eventuell muss sogar ein neues Schiedsgericht bestellt werden, da keine formell rechtskräftige Entscheidung vorliegt.

neue rechte Seite!

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Was, um Himmels willen, ist eine „Kardinalpflicht“? Was, um Himmels willen, ist eine „Kardinalpflicht“? Franck Schmidt-Husson

Was, um Himmels willen, ist eine „Kardinalpflicht“? – Zum Wissentlichkeitsausschluss in der D&O-Versicherung FRANCK SCHMIDT-HUSSON

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Terra cognita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Pflichtenprogramm eines Geschäftsleiters . . . . . . . . 2. Der Wissentlichkeitsausschluss in der D&O-Versicherung III. Hic sunt leones: Kardinalpflichten und KardinalpflichtenJudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Kardinalfrage bei den Geschäftsleiterpflichten . . . . . 2. Die „Kardinalpflichten“-Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Normative is where the evidence is bad . . . . . . . . . . . . . 1. Prozessrechtliche Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materiell-rechtliche Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rückkehr auf den Boden der Tatsachen . . . . . . . . . . . . . VI. Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung In Glaubensdingen herrscht oft tröstliche Gewissheit. Kein Zweifel ist etwa daran, dass Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei (1. Kor. 13, 13), die göttlichen, der Seele der Gläubigen eingegossenen Tugenden sind. Unverändert steht seit der von den Kirchenvätern rezipierten Antike auch der Kanon der menschlichen Tugenden: Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperentia). Der Heilige Ambrosius von Mailand nannte sie in seiner an die kirchlichen Amtsträger gerichteten Pflichtenlehre die vier Haupttugenden (virtutes principales),1 andernorts die Kardinaltugenden (virtutes cardinales).2 Als solche sind sie bis auf uns gekommen, und so können wir Heutigen, wenn wir uns entsprechend befragen, von Roderich Thümmel, den wir mit dem vorliegenden Band ehren

1 2

In: De Officiis Ministrorum 1, 115, 252. In: Expositio in Lucam 5, 49; und De Excessu Fratris Satyri 1, 57.

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wollen, getrost sagen, dass er mit einem erklecklichen Quantum einer jeden von ihnen ausgestattet ist. Den vier Kardinaltugenden stehen die sieben Hauptlaster (vitia capitales) gegenüber. Aus ihnen wiederum erwachsen die Sünden, lässliche und Todsünden (peccata venialia bzw. mortifera). Von göttlichen Pflichten oder Kardinalpflichten ist in der Theologie nicht die Rede. Der Mensch ist vielmehr zur Freiheit berufen und das ganze Gesetz im Gebot der Nächstenliebe erfüllt (Gal. 5, 13–14). Schon für Ambrosius war selbst die Befolgung der zehn Gebote nur ein officium medium, eine Pflicht zweiten Grades.3 Gut elf Jahrhunderte später lehrte dann Luther, die Heilige Schrift gebiete zwar vieles, durch den Glauben jedoch sei der Christenmensch von ihren Gesetzen und Geboten „gewiss entbunden“.4 In weltlichen Angelegenheiten herrschen Zweifel und Streit. Das gilt auch und gerade für das die menschlichen Verhältnisse ordnende positive Recht. Das ist zwar gesetzt und meist auch geschrieben, um ein gewisses Maß an Verlässlichkeit zu schaffen. Was aber im einzelnen Fall Recht ist, wird letztlich erst im Streit erkannt: im Streit um Behauptungen über Tatsachen, um Rechtssätze, um deren Existenz, Anwendbarkeit und gehöriges Verständnis und um die Subsumtion der relevanten Tatsachen unter die maßgeblichen Rechtssätze. Um Tugend und Tugendhaftigkeit kümmert sich das Recht nicht, auch wenn es manchmal anders klingt, wie zum Beispiel in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG oder § 43 Abs. 1 GmbHG, wenn dort vom „ordentlichen und gewissenhaften“ Geschäftsleiter bzw. vom „ordentlichen“ Geschäftsmann die Rede ist. Das Recht kennt nur Rechte und Pflichten, Gebote und Verbote. Von „Kardinalpflichten“ indes macht es sich keinen Begriff. Als Rechtsbegriff existiert der Ausdruck nicht, der Sprache des Gesetzes ist er unbekannt. Gelegentlich taucht er aber in der juristischen Argumentation auf. Die einen gebrauchen ihn dabei mit argloser Selbstverständlichkeit, andere markieren ihre Distanz, indem sie von „sog.“ Kardinalpflichten sprechen, wieder andere wollen ihn ganz verdammt sehen. In der Rechtsprechung des BGH taucht der Ausdruck seit längerem in Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB) auf.5 Neuerdings findet er sich beim BGH auch in versicherungsrechtlichem Kontext, wenn es um Bedingungen geht, die „wissentliche Pflichtverletzungen“ von der Deckung unter einer Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung ausschließen.6 Manch einer glaubt, aus der Rechtsprechung des BGH ableiten zu können, dass bei Verletzung einer beruflichen „Kardinalpflicht“ stets eine wissentliche Pflichtverletzung im Sinne des versicherungsvertraglichen Aus3

De Officiis Ministrorum 1, 36. Vgl. Von der Freiheit eines Christenmenschen, 8–10, 13, 23. 5 Vgl. etwa BGH WM 2000, 426, 428. 6 BGH NJW 2015, 947, 948 = VersR 2015, 181, 182. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist der topos allerdings schon früher aufgetaucht. 4

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schlusstatbestands vorliege, so dass der Versicherer dort, wo der Versicherte einem Dritten wegen Verletzung einer solchen Pflicht auf Schadenersatz haftet, nicht zur Deckung verpflichtet sei. Das freilich ist ein Irrglaube. Am Beispiel der Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung für Mitglieder von Geschäftsführungs- und Aufsichtsorganen juristischer Personen (D&OVersicherung) soll das hier gezeigt und dabei der verführerische topos der Kardinalpflichtverletzung beleuchtet werden. II. Terra cognita Bevor die Rechtsprechung zum Versicherungsschutz bei Verletzung beruflicher „Kardinalpflichten“ erkundet werden soll, erscheint es sinnvoll, zunächst das bekannte und gesicherte Terrain abzustecken. Zum einen: Was sind die Pflichten des Geschäftsleiters einer Aktiengesellschaft oder GmbH (auf ihn und sie konzentriere ich mich hier), und wie lassen sie sich ordnen? Zum anderen: Was besagt die in D&O-Versicherungsverträgen üblicherweise verwendete Klausel zum Ausschluss wissentlicher Pflichtverletzungen, und wie funktioniert sie im Streitfall? 1. Zum Pflichtenprogramm eines Geschäftsleiters Pflichten hat der Geschäftsleiter einer AG oder GmbH viele, und es werden ständig mehr. Eine Berufsordnung, in der diese Pflichten kodifiziert wären, existiert – anders als etwa bei den Rechtsanwälten, Steuerberatern oder Notaren – nicht. Nur wenige der Geschäftsleiterpflichten sind überhaupt geschrieben. Sie finden sich insbesondere im AktG bzw. GmbHG, im HGB oder in der InsO. Die allermeisten Geschäftsleiterpflichten sind hingegen ungeschrieben. Sie liegen verborgen in Generalklauseln und Blanketten und sind in den betreffenden Normen (insbesondere §§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und 43 Abs. 1 GmbHG) von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft erst entdeckt, kunstvoll aus ihnen abgeleitet und entfaltet worden. a) Sorgfaltspflicht im weiteren Sinne Dreh- und Angelpunkt des organschaftlichen Pflichtenregimes ist für den Vorstand § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, für den Geschäftsführer § 43 Abs. 1 GmbHG. Die beiden Generalklauseln sind Pflichtenmaßstab und Pflichtenquelle zugleich. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben haben Vorstand und Geschäftsführer die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Die gesetzliche Sorgfaltserwartung ist streng objektiv, doch zugleich eine relative.7 Der Geschäftsleiter hat die Fähigkeiten 7 Vgl. etwa Thümmel Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 220; Paefgen in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rz. 36 ff.

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und Kenntnisse zu haben, die das ihm anvertraute Amt objektiv verlangt. Persönliche Inkompetenz und Unwissenheit sind ebenso irrelevant wie allgemeine oder branchenübliche Standards. Anderseits ist das, was das jeweils übernommene Amt objektiv verlangt, nicht apriorisch vom „Wesen“ des Geschäftsleiteramts vorgebeben, sondern von verschiedenen Faktoren abhängig und daher relativ. So können die Anforderungen je nach Zuschnitt des anvertrauten Amts, nach Gegenstand und Größe des Unternehmens oder dessen wirtschaftlicher und finanzieller Situation variieren. Fleischer spricht deshalb von der „Volatilität“ der Sorgfaltserwartung.8 b) Sorgfaltspflicht im engeren Sinne Die allgemeine Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung umfasst zum einen die sog. Legalitätspflicht, zum anderen die Sorgfaltspflicht im engeren Sinne. Letztere betrifft den Bereich, in dem das Handeln des Geschäftsleiters weder durch Gesetz noch durch das Binnenrecht der Gesellschaft gebunden ist, sondern Spielraum für freie (unternehmerische) Entscheidungen besteht. Hierher zählt auch die „Leitung“ der Gesellschaft. Als herausgehobener Teil der Geschäftsführung bildet sie den unveräußerlichen Kern der Aufgaben eines Vorstands (§ 76 Abs. 1 AktG) und kann darum dessen vornehmste Pflicht genannt werden.9 In der GmbH obliegt sie dem Geschäftsführer, soweit sie ihm nicht von den Gesellschaftern abgenommen worden ist. Bei der Leitung der Gesellschaft und allen anderen ungebundenen Entscheidungen trifft den Geschäftsleiter (nur) die Pflicht, die Grenzen des ihm eingeräumten unternehmerischen Ermessens einzuhalten. Diese ergeben sich aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (ggf. in analoger Anwendung). Danach hat er auf angemessener Informationsgrundlage und nach gehöriger Abwägung der Vor- und Nachteile zu entscheiden und sich dabei allein am Gesellschaftswohl auszurichten. c) Legalitätspflicht Überall dort, wo Gesetz, Satzung oder sonstiges Binnenrecht Vorgaben machen, trifft den Geschäftsleiter die Pflicht, sich an die ihm gemachten Vorgaben zu halten und außerdem dafür Sorge zu tragen, dass die von ihm geleitete Gesellschaft die ihr gemachten Vorgaben beachtet (Legalitätspflicht). Gesetzestreues Verhalten der Gesellschaft nach außen sicherzustellen ist eine dem Geschäftsleiter im Innverhältnis zur Gesellschaft obliegende Pflicht. Über §§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG als Blankettnormen ist damit die gesamte Rechtsordnung in das organschaftliche Pflichtenprogramm transponiert. In MüKo-GmbHG 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 48. Die Leitungsverantwortung hat vier Teilaspekte: (i) Planungs- und Steuerungsverantwortung, (ii) Organisationsverantwortung, (iii) Finanzverantwortung und (iv) Informationsverantwortung, vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 52 ff. 8 9

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Von den unmittelbar dem Geschäftsleiter auferlegten Pflichten heben das AktG und das GmbHG einige hervor, indem sie in textlicher Nähe zur Statuierung der allgemeinen Sorgfalts- und Schadenersatzpflicht des Geschäftsleiters bestimmen, dass dieser in bestimmten Fällen „insbesondere“ haftbar sein soll (§§ 93 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 AktG, 43 Abs. 3 Satz 1 GmbHG). Die Pflichten, deren Verletzung die besondere Ersatzpflicht auslösen soll, ergeben sich allerdings nicht direkt aus den Katalogen der genannten Vorschriften, sondern erst aus den dort jeweils in Bezug genommenen weiteren Regelungen des AktG bzw. GmbHG. Neben diesen der Verhinderung unzulässiger Kapitalabflüsse, insbesondere der Kapitalerhaltung dienenden sog. „Sonderpflichten“10 enthalten nicht nur AktG und GmbHG, sondern auch andere Gesetze weitere dem Geschäftsleiter11 auferlegte sog. „Einzelpflichten“. Diese sind ebenso zahlreich wie mannigfaltig. Es geht dabei vor allem um (i) Pflichten bei Gründung der Gesellschaft (§§ 33, 36 ff. AktG, 7 ff. GmbHG), (ii) Loyalitätspflichten wie Verschwiegenheit und Unterlassung von Wettbewerb (§§ 88 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG), (iii) Interorganpflichten (z.B. §§ 83, 92 Abs. 1, 124 Abs. 3, 131, 170 Abs. 1 und 2 AktG, 42 a Abs. 1, 49 Abs. 2 und 3 GmbHG), (iv) Organisationspflichten wie die Sorge für ordnungsgemäße Buchführung und Maßnahmen zur Risikofrüherkennung (§§ 91 AktG, 41 GmbHG), (v) verschiedene Berichts- und Rechenschaftspflichten (z.B. §§ 90, 162 AktG, 51a Abs. 1 GmbHG, 264 Abs. 1 HGB), (vi) Publizitätspflichten (z.B. §§ 195 Abs. 1 Satz 1 AktG, 325 HGB), (vii) Pflichten gegenüber dem Fiskus (§ 34 Abs. 1 AO) sowie nicht zuletzt (viii) die Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 InsO). Was die Einhaltung der untergesetzlichen Normen des Binnenrechts der Gesellschaft anlangt, so steht dem Geschäftsleiter ebenfalls kein Ermessen zu. Vielmehr erstreckt sich die Legalitätspflicht auch auf die Beachtung der Satzung sowie der auf ihrer Grundlage beschlossenen weiteren Regelungen des Binnenrechts (namentlich Geschäftsordnungen). Insbesondere hat der Geschäftsleiter den satzungsmäßigen Gegenstand des Unternehmens der Gesellschaft zu respektieren (§§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG, 3 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) und sich ohne Wenn und Aber an die interne Kompetenzordnung mit den dort etwa vorgesehenen Beschränkungen seiner Geschäftsführungsbefugnis zu halten (§§ 82 Abs. 2 AktG, 37 Abs. 1 GmbHG). Solche Beschränkungen ergeben sich oft aus Ressortzuweisungen oder aus Zustimmungsvorbehalten zugunsten anderer Organe. In der GmbH verengen schließlich auch ad hoc erteilte Gesellschafterweisungen den Bereich ungebundener unternehmerischer Entscheidungen.

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So Thümmel a.a.O. (Fn. 7), Rz. 104a. Und nicht etwa nur der Gesellschaft, dem „Kaufmann“, dem „Unternehmer“, dem „Arbeitgeber“ oder dem „Emittenten“. 11

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2. Der Wissentlichkeitsausschluss in der D&O-Versicherung Auf dem Gebiet der D&O-Versicherung sind mit Blick auf den Ausschluss subjektiver Risiken Klauseln gebräuchlich, die auch in anderen Sparten der Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung verwendet werden, insbesondere in den Berufshaftpflichtversicherungen der Rechtsanwälte, Steuerberater oder Notare. Von § 103 VVG abweichend regeln die betreffenden Klauseln im Kern folgendes: „Ausgeschlossen vom Versicherungsschutz sind Ansprüche aufgrund von wissentlichen Pflichtverletzungen.“12

Über das Verständnis und die Funktionsweise des Wissentlichkeitsausschlusses herrscht spartenübergreifend weitgehende Einigkeit. Klar ist zunächst, dass Wissentlichkeit mindestens dolus directus zweiten Grades verlangt. Klar ist sodann, dass sich solches Wissen lediglich auf den Pflichtverstoß beziehen muss und sich nicht zusätzlich auf etwa eingetretene Schadenfolgen zu erstrecken braucht. Klar ist schließlich auch, dass im Streitfall der Versicherer darlegen und notfalls beweisen muss, dass die Pflichtverletzung wissentlich begangen wurde. a) Zum Inhalt des Deckungsausschlusses Der Wissentlichkeitsausschluss setzt direkten Vorsatz in Bezug auf die Pflichtverletzung voraus. Er greift demnach nicht ein, wo der Versicherte einen Pflichtverstoß bloß für möglich hielt und billigend in Kauf nahm (Eventualvorsatz).13 Er greift erst recht nicht ein, wo der Versicherte damit rechnete, dass er mit seinem Handeln gegen eine Pflicht verstoßen könnte, dabei aber darauf vertraute, sein Handeln werde schon keine Pflichtverletzung darstellen, mithin sehenden Auges das Risiko eines Rechtsirrtums einging (bewusste Fahrlässigkeit).14 Der Ausschluss greift auch dort nicht ein, wo der Versicherte im Hinblick auf die Beachtung einer bestimmten Pflicht 12 Die Musterbedingungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) für die D&O-Versicherung lauten hierzu wie folgt: „Ausgeschlossen vom Versicherungsschutz sind Haftpflichtansprüche wegen vorsätzlicher Schadenverursachung oder durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Beschluss, Vollmacht oder Weisung oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“ (Ziff. A-7.1 AVB D&O in der Fassung von Mai 2019). Im Markt werden solchermaßen lautende Bedingungen jedoch kaum verwendet. Insbesondere wird kaum jemals an vorsätzliche Schadenverursachung angeknüpft. Die Anknüpfung an „wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Beschluss, Vollmacht oder Weisung“, die im Markt oft verwendet wird, dürfte neben der stets folgenden subsidiären Anknüpfung an eine „sonstige wissentliche Pflichtverletzung“ ohne Bedeutung sein. 13 Statt aller: BGH VersR 2006, 106, 108; Gädtke in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2013, AVB-AVG 2011/2013, Ziff. 5 Rz. 43, 51. 14 Wie Fn. zuvor.

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die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzte, indem er einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellte und dasjenige außer Acht ließ, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (grobe Fahrlässigkeit).15 Pflichtvergessenheit, Rechtsblindheit und Leichtfertigkeit sind vielmehr grundsätzlich versichert. Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind erst solche Pflichtverletzungen, die der Versicherte in dem sicheren Wissen beging, gegen seine Pflichten zu verstoßen. Erforderlich ist positive Kenntnis.16 Die Einstandspflicht des Versicherers entfällt nur, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (i) Existenz einer Pflicht (Frage: Was genau war die Handlungsvorgabe und unter den gegebenen Umständen also konkret zu tun oder zu unterlassen?),17 (ii) Verstoß gegen diese Pflicht (Frage: Inwiefern wich das tatsächliche Handeln von dem ab, was die Pflicht verlangte?), (iii) Pflichtbewusstsein (Frage: Kannte der Versicherte die Pflicht und wusste er also, wie er sich konkret zu verhalten hatte?),18 (iv) Pflichtverletzungsbewusstsein (Frage: Wusste der Versicherte, dass sein tatsächliches Tun oder Unterlassen den Anforderungen dieser Pflicht nicht genügte?19). Es reicht freilich nicht jede wissentliche Pflichtverletzung, um den Versicherer leistungsfrei werden zu lassen. Vielmehr muss die in Rede stehende wissentliche Pflichtverletzung auch für den Schaden kausal geworden sein, auf dessen Ersatz der Dritte den Versicherten in Anspruch nimmt. Was der Versicherte im Hinblick auf die schädlichen Folgen seines pflichtwidrigen Handelns wusste, ist hingegen irrelevant. War er diesbezüglich ahnungslos, so rettet ihm das den Versiche15 Statt aller: Sieg in Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. 2017, § 17 Rz. 154. 16 Statt aller: BGH VersR 2006, 106, 108; 2001, 1103, 1104 (st. Rspr.); Gädtke a. a. O. (Fn. 13), Rz. 51. 17 Unzulässig wäre es, hier an eine Norm anzuknüpfen, die nur eine mehr oder weniger abstrakte Zielvorgabe macht, nicht aber ein konkretes Tun oder Unterlassen verlangt. Nicht angeknüpft werden kann deshalb an jede Art von Generalklausel oder Blankett oder an abstrakte Vorgaben wie die Legalitätspflicht, die Kapitalerhaltungspflicht oder die Organisationspflicht des Geschäftsleiters. Solche Normen und Vorgaben sind vielmehr herunterzubrechen auf das im Einzelfall konkret aus ihnen abzuleitende Gebot oder Verbot. Vgl. dazu BGH NJW-RR 1987, 472, 473; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537, 540; Gädtke a. a. O. (Fn. 13), Rz. 51, 56; Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 5 AVB-AVG Rz. 3; Lange DStR 2002, 1674, 1677; ders. D&O Versicherung, § 11 Rz. 46; von Rintelen in VersR-HdB, 3. Aufl. 2015, § 26 Rz. 242a. 18 Der BGH spricht davon, der Versicherte müsse die Pflicht „zutreffend gesehen“ bzw. „inhaltlich zutreffend beurteilt“ haben, vgl. BGH VersR 2015, 181, 182; NJW 2006, 289, 291; NJW-RR 1991, 145, 146; ebenso OLG München r+s 2016, 123, 124; Gädtke a.a.O. (Fn. 13), Rz. 51. 19 Zu beachten ist, dass zum Pflichtverletzungsbewusstsein auch ein voluntatives Element gehört: der Entschluss (Willen), trotzdem zu handeln, sich also über die erkannte Pflicht hinwegzusetzen, vgl. dazu BGH NJW-RR 2001, 1311, 1312; OLG München r+s 2016, 123, 124; OLG Saarbrücken ZfS 2007, 522, 523; Gädtke a.a.O. (Fn. 13), Rz. 51; Seitz VersR 2007, 1476, 1477.

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rungsschutz ebenso wenig, wie wenn er darauf baute, dass ein Schaden nicht entstehen werde, oder er sonst in guter Absicht handelte, insbesondere davon überzeugt war, zum Wohl des Dritten zu handeln.20 b) Zur Darlegungs- und Beweislast im Deckungsprozess In D&O-Fällen wird der Wissentlichkeitsausschluss fast immer erst dann relevant, wenn der Haftpflichtprozess zwischen dem geschädigten Dritten und dem Geschäftsleiter beendet und in ihrem Verhältnis (Haftungsverhältnis) rechtskräftig entschieden ist, dass der Geschäftsleiter eine Pflichtverletzung begangen hat. Dass eine bestimmte, den Geschäftsleiter treffende Pflicht existierte, diese verletzt und hierdurch dem Dritten ein Schaden zugefügt wurde, steht damit auch für das Deckungsverhältnis zwischen dem Geschäftsleiter als Versichertem und dem Versicherer fest (Bindungswirkung des Haftpflichturteils). Kaum jemals steht dagegen für das Deckungsverhältnis die Verschuldensform fest. Im Haftungsverhältnis reicht zumeist eine fahrlässig begangene Pflichtverletzung, um die Ersatzpflicht des Geschäftsleiters auszulösen. Darauf, ob der Geschäftsleiter seine Pflicht nicht nur fahrlässig, sondern mit bedingtem oder gar mit direktem Vorsatz verletzte, kommt es im Haftungsverhältnis nur selten an. Wo es aber nicht darauf ankommt, haben im Haftpflichturteil dennoch getroffene Feststellungen überschießenden Charakter, so dass sie für das Deckungsverhältnis keine Bindungswirkung entfalten.21 Im Deckungsprozess ist es am Versicherer, die tatsächlichen Voraussetzungen für das Eingreifen von Deckungsausschlüssen darzulegen und, sofern sie bestritten werden, zu beweisen. Das gilt auch für den Wissentlichkeitsausschluss. Dabei ist die Frage nach dem Pflichtbewusstsein des Versicherten von der Frage nach seinem Pflichtverletzungsbewusstsein zu trennen. Will der Versicherer wissentliche Pflichtverletzung einwenden, hat er nicht nur darzulegen und zu beweisen, dass die verletzte Pflicht dem Versicherten positiv bekannt war, sondern auch, dass der Versicherte wusste, dass er mit seinem Handeln gegen die ihm bekannte Pflicht verstieß. Im Moment des objektiven Pflichtverstoßes muss der Versicherte das betreffende Gebot oder Verbot, und zwar in seiner konkreten Ausprägung,22 zutreffend gesehen und sich bewusst darüber hinweggesetzt haben. Für den Versicherer sind das hohe Hürden. Positive Kenntnis ist von vornherein ein strenger Maßstab. Hinzu kommt, dass die Kenntnis von der Pflicht und der Wille, sie zu missachten, innere Tatsachen sind, die unmit20 Viele im D&O-Markt verwendete Bedingungswerke sehen für den Fall eines Handelns zum Wohle des Unternehmens allerdings Sonderregeln vor; vgl. dazu Lange D&OVersicherung, § 11 Rz. 21 f. 21 Vgl. BGH r+s 2004, 232, 233; 2007, 641. 22 Siehe nochmals oben Fn. 17.

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telbar nicht bewiesen werden können. Vielmehr kann ein Beweis nur mittelbar über äußere Tatsachen als Indizien geführt werden. Der Indizienbeweis gelingt dem Versicherer nur dann, wenn er Tatsachen (Hilfstatsachen) vorträgt, die allein oder zusammen mit anderen auf positive Kenntnis beim Versicherten (die zu beweisende Haupttatsache) schließen lassen, und er diese Hilfstatsachen auch beweisen kann. Welche Kraft ein Indiz hat, darüber kann nur die Lebenserfahrung Auskunft geben. Der Deckungsrichter, der die vom Versicherer vorgetragenen und bewiesenen Indizien verwertet, muss dazu alle Umstände des konkreten Falles berücksichtigen und gegeneinander abwägen, auch solche, die gegen die vom Versicherer zu beweisende Haupttatsache sprechen. Am Ende muss ihm die Gesamtschau und Gesamtwürdigung aller Indizien und Gegenindizien die volle Überzeugung von der Wahrheit Haupttatsache verschaffen. Dazu muss ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit erreicht sein, der etwaigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.23 Ein Anscheinsbeweis kommt für die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung dagegen nicht in Betracht.24 Innere Umstände und Vorgänge, Geistesverfassungen, Einstellungen, Überlegungen, Beweggründe, Antriebe und Entschlüsse eines Individuums sind dieser Art des Beweises nicht zugänglich.25 Das gilt namentlich für subjektive Merkmale wie Vorsatz26 oder grobe Fahrlässigkeit.27 Menschliches Verhalten ist nicht derart gleichförmig, programmiert oder gar determiniert, dass sich gesicherte Erfahrungssätze bilden ließen, wonach aus einem bestimmten äußeren Verhalten auf dessen inneren Hintergrund zu schließen sei. Mit den Mitteln des prima-facie-Beweises bleibt der menschliche Ratschluss deshalb unergründlich. Darum hilft es dem Versicherer im Deckungsprozess nicht, wenn er auf die im Haftpflichturteil bereits festgestellte Tatsache des objektiven Pflichtverstoßes verweist und vorträgt, nach der allgemeinen Lebenserfahrung würden derartige 23

BGH NJW 1970, 946, 948; 2018, 150. Vgl. BGH NJW-RR 2005, 466, 467; 1997, 1112, 1113; VersR 1990, 894; VersR 1986, 647; NJW 1988, 2040, 2041; OLG Köln r+s 2012, 172, 173; VersR 1994, 339; 1990, 193, 194; OLG Hamm r+s 2006, 493, 494; 2004, 145, 147; OLG Karlsruhe r+s 1995, 408; OLG Frankfurt NVersZ 2000, 439, 440; Koch in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2013, § 103 Rz. 92; Baumann in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, § 81 Rz. 168 f.; Gädtke a.a.O. (Fn. 13), Rz. 50, 53; Littbarski in MüKo-VVG, 2. Aufl. 2017, § 103 Rz. 60; Looschelders in MüKo-VVG, 2. Aufl. 2016, § 81 Rz. 172 f.; Voit a.a.O. (Fn. 17), Ziff. 5.1 AVB-AVG Rz. 4; Langheid in Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 103 Rz. 20; Diller Berufshaftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2017, § 4 AVB-RSW Rz. 63; Schmidt in Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kap. 36, Rz. 49. 25 Vgl. Ahrens in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286 Rz. 80, 107; Prütting in MüKo-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 Rz. 79; Greger in Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, vor § 284 Rz. 31; Lehmann r+s 2016, 1, 9. 26 Vgl. BGH NJW 2002, 1643, 1645; Oetker in MüKo-BGB, 8. Aufl. 2019, § 249 Rz. 495. 27 Vgl. BGH VersR 1983, 1011; 1967, 909, 910; Oetker a.a.O. (Fn. 26), § 249 Rz. 495; Grundmann in MüKo-BGB, 8. Aufl. 2019, § 276 Rz. 189. 24

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Pflichtverstöße typischerweise mit direktem Vorsatz begangen. Aus dem Umstand, dass ein objektiver Pflichtverstoß vorliegt, lässt sich schlechterdings keine tatsächliche Vermutung dahin ableiten, dass der Versicherte wusste, wie er sich im gegebenen Fall zu verhalten hatte, und sich außerdem darüber bewusst war, dass er so, wie er sich tatsächlich verhielt, die entsprechende Vorgabe nicht erfüllte. Eine mit solcher Vermutung verbundene Erleichterung seiner Beweislast bleibt dem Versicherer damit versagt.

III. Hic sunt leones: Kardinalpflichten und Kardinalpflichten-Judikatur 1. Zur Kardinalfrage bei den Geschäftsleiterpflichten Bei der Frage, was die „Kardinalpflichten“ eines Vorstands oder Geschäftsführers sind, kann als bekannt allenfalls gelten, dass so gut wie nichts bekannt ist. Das Gesetz schweigt, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft haben bisher ebenfalls keine oder unbefriedigende Auskunft gegeben. So ist das Gebiet der Kardinalpflichten auf der Landkarte der Organpflichten ein weißer Fleck geblieben. Vielleicht ist es sogar ein Nichtort (outopía). Der Gesetzgeber hat die Geschäftsleiterpflichten nur in Generalklauseln und ansonsten nur verstreut geregelt. Auf eine Systematisierung hat er verzichtet. Insbesondere findet sich weder im AktG noch im GmbHG eine Rangordnung. An der in §§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG statuierten Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung (Sorgfaltspflicht im weiteren Sinne) sind zwar alle anderen Geschäftsleiterpflichten gewissermaßen „aufgehängt“. Im scholastischen Sinne könnte man diese Pflicht deshalb eine kardinale nennen. Mit einer solchen Qualifizierung wäre aber nicht nur nichts gewonnen, sondern der Kardinalpflichtgedanke überhaupt ad absurdum geführt: Jede einzelne jemals aus der Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung abgeleitete oder noch abzuleitende konkrete Pflicht wäre dann ebenfalls als „Kardinalpflicht“ einzustufen. Immerhin hat der Gesetzgeber aber einige Geschäftsleiterpflichten speziell geregelt und so besonders hervorgehoben, jedenfalls sichtbarer gemacht.28 Man wird diese Pflichten aber nicht allein deswegen für die Kardinalpflichten eines Vorstands oder Geschäftsführers halten dürfen. Offenkundig nämlich sind sie von sehr unterschiedlichem Gewicht. Neben dem Zahlungsverbot aus §§ 92 Abs. 2 AktG, 64 GmbHG etwa oder der Pflicht, für ordnungsgemäße Buchführung zu sorgen (§§ 91 Abs. 1 AktG, 41 GmbHG), nehmen sich andere Pflichten wie die Auskunftspflicht in der Hauptversammlung (§ 131 AktG) oder die Offenlegungspflicht nach § 325 HGB eher unbedeu28

Sonderpflichten und Einzelpflichten im Sinne von oben II.1.c.

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tend aus. Wer das als subjektive Bewertung abtun will, liegt damit nicht falsch. Er muss dann aber auch die jährliche Erklärung zum Corporate Governance Kodex (§ 161 AktG) als Kardinalpflicht behandeln. Und er muss sich fragen lassen, warum der Gesetzgeber einen Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht mit Freiheitsstrafe bedroht (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO), einen Verstoß gegen die Offenlegungspflicht nach § 325 HGB aber nicht einmal als ordnungswidrig brandmarken und mit Geldbuße sanktioniert sehen, sondern ihm bloß mit einem Ordnungsgeld begegnen will (§ 335 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HGB). Für die Gesellschaftsrechtswissenschaft ist die Frage, wie fundamental die einzelnen Geschäftsleiterpflichten sind, welche nebensächlich, von mittlerer, großer oder gar von „kardinaler“ Bedeutung sind, nicht nur schwer zu fassen, sondern auch ohne Relevanz. Das Thema mag für Managerfibeln, insbesondere unter dem praktischen Gesichtspunkt der Haftungsvermeidung, wichtig sein. Der Wissenschaft dürfte es aber schon am nötigen Erkenntnisinteresse fehlen und jenseits davon auch an geeigneten Maßstäben. Sie hat die Vielzahl der Geschäftsleiterpflichten zwar durchaus unter bestimmten Aspekten zu sortieren und für didaktische und literarische Zwecke in eine gewisse Ordnung zu bringen vermocht.29 Eine Pflichtenhierarchie hat sie aber nicht entwickelt.30 Dennoch werden hier und da bestimmte Geschäftsleiterpflichten als „Kardinalpflichten“ bezeichnet. Im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum geschieht das selten. So rechnet Fleischer „zuvörderst“ die Legalitätspflicht zum Kreis der „Kardinalpflichten“,31 daneben aber auch die Pflichten aus § 93 Abs. 3 AktG,32 die Treuepflicht,33 die Pflicht zur beständigen Prüfung der Vermögens- und Finanzlage der Gesellschaft34 sowie die bei Insolvenzreife entstehende Pflicht zur Massesicherung.35 Ein Kardinalpflichten-System schlägt er 29 Vgl. nur Thümmel a.a.O. (Fn. 7), Rz. 103 ff. mit Schaubild auf S. 78; Fleischer in Spindler/Stilz (Fn. 9), § 93 Rz. 11 f.; ders. in MüKo-GmbHG (Fn. 8), § 43 Rz. 12; ders. in Handbuch des Vorstandsrechts, § 7 Rz. 1 ff. 30 So auch Sieg a. a. O. (Fn. 15), § 17 Rz. 156. 31 In MüKo-GmbHG (Fn. 8), § 43 Rz. 21; in Spindler/Stilz (Fn. 9), § 93 Rz. 14; in Handbuch des Vorstandsrechts, § 7 Rz. 4; NJW 2009, 2337. Der BGH hat die Pflicht des Geschäftsleiters einer Genossenschaft, bei Wahrnehmung seiner Leitungsaufgabe Gesetz und Satzung zu achten, als zu seinen „Kardinalpflichten“ gehörig bezeichnet (WM 2004, 486, 487). Die Legalitätspflicht als Kardinalpflicht einzustufen mag auf den ersten Blick etwas für sich haben, ist aber angesichts ihrer Abstraktheit und ihres Blankett-Charakters sinnlos. Da die Legalitätspflicht die gesamte Rechtsordnung ins Pflichtenprogramm des Geschäftsleiters inkorporiert, wäre die Einhaltung jeder einzelnen Norm der Rechtsordnung eine Kardinalpflicht des Geschäftsleiters und damit am Ende alles gleichermaßen „kardinal“. 32 In Spindler/Stilz (Fn. 9), § 93 Rz. 9b. 33 In MüKo-GmbHG (Fn. 8), § 43 Rz. 163; in Spindler/Stilz (Fn. 9), § 93 Rz. 124. 34 In MüKo-GmbHG (Fn. 8), § 43 Rz. 298. 35 Wie Fn. zuvor.

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dabei aber ebenso wenig vor wie er das Kriterium benennt, anhand dessen er jeweils die Einordnung vornimmt. Im versicherungsrechtlichen Schrifttum wird ebenfalls von gewissen „Kardinalpflichten“ der Vorstände und Geschäftsführer gesprochen, dort allerdings bereits mit Blick auf den Risikoausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung. Lange36 erkennt einem guten Dutzend von Pflichten den Rang einer Kardinalflicht zu, darunter dem Gebot, (i) die Satzung zu beachten, (ii) auf der Hand liegende Zustimmungsvorbehalte zu respektieren,37 (iii) Gesellschafterbeschlüsse zu befolgen, (iv) das Gesellschaftsvermögen nicht für unternehmensfremde Zwecke zu verwenden, (v) weder sich noch Dritten Vorteile zu gewähren, auf die kein Anspruch besteht, (vi) keine Vorleistungen zu erbringen, ohne dass die Gegenleistung sichergestellt ist, (vii) bei zweifelhafter Bonität keine ungesicherten Darlehen zu gewähren, (viii) keine schwarzen Kassen zu unterhalten, (ix) für vollständige und richtige Buchführung zu sorgen, (x) Wettbewerb zu unterlassen, (xi) an die Gesellschafter keine Zahlungen aus dem zur Kapitalerhaltung erforderlichen Vermögen zu leisten, (xii) die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft zu überwachen, (xiii) rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen, (xiv) die Insolvenzmasse nicht zu schmälern, (xv) wesentliche Entscheidungen auf informierter Grundlage und nicht aus dem Bauch heraus oder ohne fachkundige Beratung ins Blaue hinein zu treffen und (xvi) sich bei unternehmerischen Entscheidungen nicht von unsachlichen Gesichtspunkten leiten zu lassen.38 Alle diese Gebote sind für Lange nur Beispiele für Kardinalpflichten. Wie sich der Rang einer bestimmten Pflicht ermitteln lässt und woraus sich insbesondere ergibt, dass es sich bei ihr um eine Kardinalpflicht handelt, sagt Lange nicht. 2. Die „Kardinalpflichten“-Judikatur Der Wissentlichkeitsausschluss ist als das „Nadelöhr“ der D&O-Versicherung bezeichnet worden.39 Wer als Versicherer hindurch will, um ins Reich der Leistungsfreiheit zu gelangen, befindet sich in misslicher Lage: Der strenge Maßstab des Tatbestands macht den Durchgang eng, die Last des Beweises für innere Tatsachen erschwert ihn zusätzlich. Die Gerichte aber sind durchaus geneigt, dem Versicherer aus seiner Beweisnot zu helfen. 36 In Veith/Gräfe/Brügge, Versicherungsprozess, 4. Aufl. 2020, § 21 Rz. 89, 91; in D&O-Versicherung, § 11 Rz. 36 ff. 37 Ebenso Sieg a. a. O. (Fn. 15), § 17 Rz. 156. 38 Sieg sieht auf dem Feld unternehmerischer Entscheidungen offenbar keine Kardinalpflichten (vgl. a. a. O. (Fn. 15), § 17 Rz. 156); anders ders./Zeidler in Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, 3. Aufl. 2016, § 3 Rz. 30. 39 Lange DStR 2002, 1674, 1676.

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Die Rechtsprechung zur Frage der Wissentlichkeit bei Verletzung beruflicher „Kardinalpflichten“ reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Um juristisches Neuland handelt es sich also nicht mehr. Der BGH hat das Terrain allerdings erst mit einem Urteil vom 17.12.201440 erstmals betreten. Zuvor waren nur die Oberlandesgerichte dorthin vorgedrungen und hatten dabei folgenden Pflock eingeschlagen: Ist ein objektiver Verstoß des Versicherten gegen eine berufliche Kardinalpflicht gegeben, so ist damit die Wissentlichkeit des Verstoßes indiziert, so dass sich der Versicherte (regelmäßig) den entsprechenden subjektiven Risikoausschluss entgegenhalten lassen muss.41 In keinem der zugrunde liegenden Fälle ging es um Deckung unter einer D&O-Versicherung. Den Ausdruck „Kardinalpflicht“ scheint das OLG Saarbrücken ins Spiel gebracht zu haben,42 der BGH hat ihn dann aufgegriffen.43 Statt von Kardinalpflichten sprachen die Oberlandesgerichte bis dahin meist von „grundsätzlichen Pflichten“, „grundlegenden Vorschriften“, „fundamentalen Grundregeln“, oder von „Grund-“, „Elementar-“ oder „Primitivwissen“ des jeweiligen Berufsstands. Seit dem Urteil des BGH vom 17.12.2014 ist die „Kardinalpflicht“ auf dem Vormarsch.44 Hatte der Versicherte objektiv gegen eine fundamentale Berufspflicht verstoßen oder berufliches Elementarwissen außer Acht gelassen, so sollte nach der obergerichtlichen Rechtsprechung die Kenntnis dieser Pflicht bzw. das Vorhandensein dieses Wissens „vorausgesetzt“ oder „unterstellt“ und „ohne Weiteres“ auch auf das Maß der Vorwerfbarkeit geschlossen werden können.45 „Ohne jeden Zweifel“ lasse der objektive Verstoß dann auf die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung schließen.46 Hier und da knüpfte die Rechtsprechung für den Schluss auf die Wissentlichkeit daneben oder stattdessen an die „Krassheit“, „Hand40 Az. IV ZR 90/13 (NJW 2015, 947 ff. = VersR 2015, 181 ff. = r+s 2015, 133 ff. = ZIP 2015, 184 ff.). 41 Vgl. OLG Köln r+s 2012, 172 ff.; 1997, 105 ff.; 1997, 496 ff.; 1990, 232 f.; VersR 2009, 58 f.; OLG Hamm r+s 2007, 279 f.; 1999, 500 ff.; VersR 1996, 1006 ff.; OLG Frankfurt BeckRS 2011, 15929; NVersZ 2000, 439 f.; OLG Saarbrücken NJOZ 2008, 3483 ff.; ZfS 2007, 522 ff.; VersR 1993, 85; OLG Karlsruhe VersR 2005, 1681 f.; IBRRS 2006, 1104; KG VersR 2007, 1076. Aus der Zeit nach dem einschlägigen BGH-Urteil vgl. OLG Köln r+s 2017, 348 ff.; OLG Düsseldorf VersR 2019, 537 ff.; OLG Karlsruhe r+s 2018, 70 ff. 42 Vgl. ZfS 2007, 522, 523. 43 Die versicherungsrechtliche Literatur benutzte ihn schon seit längerem, vgl. etwa Lange in Veith/Gräfe, Versicherungsprozess, 2. Aufl. 2010, § 16 Rz. 143. 44 Vgl. aus jüngerer Zeit OLG Düsseldorf VersR 2019, 1491, 1495; 2019, 537, 539; OLG Köln r+s 2017, 348, 349; OLG Karlsruhe r+s 2018, 70, 72. 45 So OLG Köln VersR 2009, 58, 59. Mit der Wendung „ohne Weiteres“ meinte der Senat offenbar insbesondere: ohne weitere Beweiserhebung, anscheinend aber auch: ohne weitere Beschäftigung mit gegenteiligem Vortrag. Ähnlich OLG Köln r+s 1990, 232; OLG Saarbrücken ZfS 2007, 522, 523; VersR 1993, 85; OLG Hamm r+s 2007, 279, 280. Deutlich weniger apodiktisch: OLG Köln r+s 2012, 172, 173. 46 So OLG Köln r+s 1997, 496. Zustimmend OLG Karlsruhe VersR 2005, 1681.

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greiflichkeit“ oder „Eindeutigkeit“ des Verstoßes47 oder auch ganz allgemein an dessen „Gewicht“, „Schwere“ oder „Ausmaß“ an.48 Alle diese Formeln zielen darauf zu begründen, wie das Gericht die Überzeugung davon gewinnen konnte, der Versicherte habe die von ihm verletzte Pflicht gekannt und die Pflichtverletzung gewollt. Ihre Quintessenz lautet: Was in dem betreffenden Beruf derart fundamental ist, dass es dort jeder wissen muss, das weiß dort auch jeder; und was jeder weiß, das wusste auch derjenige, der hier Deckung begehrt. Es überrascht nicht, dass nicht wenige der obergerichtlichen Urteile einigermaßen apodiktisch daherkommen. Stand objektiv ein Pflichtverstoß fest und wurde die betreffende Pflicht als „fundamental“ qualifiziert, was – soweit ich sehe – stets ohne nähere (eigentlich: ohne jegliche) Begründung geschah, so konnte es passieren, dass eine wissentliche Pflichtverletzung im Sinne des vertraglichen Risikoausschlusses ohne viel Federlesens festgestellt und der Versicherte mit seinem Deckungsanspruch abgewiesen wurde. Ein Urteil des OLG Köln vom 29.11.201149 hat die KardinalpflichtenJudikatur zumindest in prozeduraler Hinsicht verfeinert. Liegt ein objektiver Kardinalpflichtverstoß vor, so wird dort klar, steht damit keineswegs zugleich und auch nicht nach der logischen Sekunde, die es für den Schluss von der äußeren Hilfstatsache auf die innere Haupttatsache braucht, die Wissentlichkeit des Verstoßes fest. Vielmehr soll der Versicherer dann nur seiner primären Darlegungslast ledig sein und keine zusätzlichen Indizien vortragen müssen, die auf eine wissentliche Pflichtverletzung hindeuten. Es soll dann am Versicherten sein darzulegen, wie es zu dem objektiven Pflichtverstoß gekommen ist, und so plausibel zu machen, dass er seine Pflichten nicht wissentlich verletzte (sekundäre Darlegungslast). In seinem Urteil vom 17.12.2014 hat sich der BGH der Linie des OLG Köln angeschlossen.50 Die einschlägige Passage lautet:51 „Aus der grundsätzlichen Darlegungs- und Beweislast des Versicherers folgt […], dass dieser zunächst einen Sachverhalt vorzutragen hat, der auf eine Wissentlichkeit der Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers zumindest hin47 So etwa OLG Köln VersR 2009, 58, 59; OLG Frankfurt NVersZ 2000, 439, 440; OLG Saarbrücken ZfS 2007, 522, 523; KG VersR 2007, 1076 (Anscheinsbeweis bei eindeutigem Pflichtverstoß). 48 So etwa OLG Köln VersR 2009, 58, 59; r+s 1997, 105, 106; OLG Frankfurt BeckRS 2011, 15929 Rz. 18. 49 Siehe r+s 2012, 172 ff. = VersR 2012, 560 ff. 50 Das zugrunde liegende Berufungsurteil war indessen eines des OLG Celle (unveröffentlicht). Zu beachten ist im Übrigen, dass das BGH-Urteil einen Fall behandelt, in dem das Ausgangsgericht gerade keine Kardinalpflichtverletzung festgestellt, sondern offenbar nur eine gewöhnliche Pflichtverletzung angenommen hatte. Die vom BGH für den Fall eines Kardinalpflichtverstoßes getroffenen Aussagen sind damit bloße obiter dicta. 51 Klammerzusatz im Original, siehe NJW 2015, 947, 948 = VersR 2015, 181, 182 = r+s 2015, 133, 134.

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deutet. Dabei wird der Vortrag weiterer zusätzlicher Indizien dann entbehrlich sein, wenn es sich um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handelt, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden kann, so wie dies etwa in einem vom OLG Köln entschiedenen Fall gewesen ist ([…] OLG Köln, VersR 2012, 560). Jenseits der Fälle der Verletzung von beruflichen Kardinalpflichten, in denen vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge geschlossen werden kann, ist es aber Aufgabe des beweispflichtigen Versicherers, Anknüpfungstatsachen vorzutragen, die als schlüssige Indizien für eine wissentliche Pflichtverletzung betrachtet werden können. Erst wenn dieses geschehen ist, obliegt es dem Versicherungsnehmer im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Umstände aufzuzeigen, warum die vorgetragenen Indizien den Schluss auf eine wissentliche Pflichtverletzung nicht zulassen.“

Der BGH dispensiert den Versicherer in Fällen objektiver Kardinalpflichtverstöße lediglich davon, zusätzlich zu den einen solchen Verstoß begründenden Tatsachen weitere Indizien vorzutragen, die auf die Wissentlichkeit der Pflichtverletzung hindeuten, und auch dies nur vorläufig. Mitnichten ist in derartigen Fällen „ohne Weiteres“ auf die Wissentlichkeit zu schließen. Vielmehr soll der Versicherer nur die Station der ihm obliegenden primären Darlegungslast überspringen dürfen mit der Folge, dass der Prozessgegner am Zug ist. Erst wenn es diesem daraufhin gelingt, seiner sekundären Darlegungslast zu genügen, ist der Versicherer aufgerufen, zusätzliche Indizien vorzutragen. Dann allerdings befindet er sich prozessual in der gleichen Situation wie in Fällen, in denen es nicht um einen Kardinal-, sondern bloß um einen Normalpflichtverstoß geht.

IV. Normative is where the evidence is bad Obwohl die Kardinalpflichten-Judikatur kein Neuland mehr ist, lauern dort für den Rechtsanwender beträchtliche Gefahren, die aber – obwohl durchaus berufstypisch – bisher kaum bemerkt worden zu sein scheinen. In der Literatur ist die Rechtsprechung jedenfalls zustimmend zur Kenntnis genommen worden.52 Warnendes oder Kritisches findet sich wenig.53 Im Gegenteil: Manch einer schießt bei der Rezeption weit übers Ziel hinaus. So meint Ihlas etwa, der Beweis für eine wissentliche Pflichtverletzung gelte als erbracht, wenn das Primär- oder Elementarwissen eines Organmitglieds missachtet worden sei.54 Bei Langheid heißt es sogar, bei Kardinalpflichtver52 Vgl. nur Diller a. a. O. (Fn. 24), AVB-RSW § 4 Rz. 61; Lange in Veith/Gräfe/Gebert (Fn. 36), § 21 Rz. 88 f., 91; Lücke in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, AVB Verm, § 4 Rz. 19; Sieg a. a. O. (Fn. 15), Rz. 156. 53 Siehe aber immerhin Lange DStR 2002, 1674, 1676; Gädtke a.a.O. (Fn. 13), Rz. 55. 54 In MüKo-VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung Rz. 618.

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stößen müsse der Versicherer den Deckungsausschluss überhaupt nicht beweisen;55 wo gegen berufliche Kardinaltugenden (sic!) verstoßen worden sei, sei immer (sic!) von einem wissentlichen Verstoß auszugehen.56 Ganz so kurzen Prozess wird man nicht machen können. Das sollte spätestens seit dem Urteil des OLG Köln vom 29.11.2011 klar sein. Das Problem, das die Kardinalpflichten-Judikatur bewältigen will, ist das der schwierigen Erweislichkeit einer bestimmten inneren Tatsache. Der hierzu gewählte Ansatz ist allerdings seinerseits problematisch und verführt zu Kurzschlüssen. Vom amerikanischen Ökonomen Robert J. Barro stammt das Bonmot: Normative is where the evidence is bad.57 Wo es an Fakten mangelt, kommt Sollen ins Spiel. Das trifft die Sache auch hier ziemlich gut. Denn das Kardinalpflichten-Argument ist nichts anderes als eine Flucht ins Normative. Das hiermit umschriebene Problem ist rechtstheoretischmethodologischer Natur, seine Symptome zeigen sich auf der Ebene sowohl des Prozess- als auch des materiellen Rechts. 1. Prozessrechtliche Befunde Im Prozess kommt das Kardinalpflichten-Argument dort ins Spiel, wo es um die gehörige Darlegung und den Beweis des direkten Vorsatzes beim Versicherten geht. Hat dieser objektiv gegen eine Pflicht von besonderem Gewicht (sog. „Kardinalpflicht“)58 verstoßen, soll dies den direkten Vorsatz in Bezug auf den Pflichtverstoß indizieren und – zumindest fürs erste – auch ein hinreichendes Indiz für solchen Vorsatz sein. Der Schluss vom (abstrakten) Rang einer Pflicht auf ihre (individuelle) Bekanntheit ist in mehrfacher Hinsicht seltsam. Wo das Kardinalpflichten-Argument ins Feld geführt wird, so fällt zunächst auf, wird ihm gerne das Bekenntnis vorausgeschickt, dass für den Beweis einer inneren Tatsache der Anscheinsbeweis anerkanntermaßen ausscheide.59 Wozu dieser Hinweis? Er ist in rechtlicher wie argumentativer Hinsicht überflüssig und wirkt, als habe da jemand das Bedürfnis, Methodenbewusstsein zu demonstrieren. Tatsächlich ist es so, dass im Kardinalpflichten-Argument Indizien- und Anscheinsbeweis verschwimmen.60 Das Argument fußt auf einem einzigen „Erfahrungssatz“, der auf folgende ForIn Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 103 Rz. 20. Langheid/Müller-Frank NJW 2015, 2311, 2312. 57 Zitiert nach Kaube in F.A.S. Nr. 3 v. 19.1.2020, S. 18. 58 Synonyme: „Elementarpflichten“, „fundamentale Pflichten“, „Grundregeln“ usw. 59 Vgl. nur OLG Hamm r+s 2007, 279, 280; OLG Köln BeckRS 2018, 43719 Rz. 70; r+s 2012, 172, 173; r+s 1990, 232; OLG Saarbrücken BeckRS 2008, 2348 Rz. 46. 60 Ähnlich Gädtke a.a.O. (Fn. 13), Rz. 55, der deshalb zu genereller Zurückhaltung mahnt. Zur Verwandtschaft und Abgrenzung der beiden Beweisformen vgl. Ahrens a.a.O. (Fn. 25), § 286 Rz. 47 ff.; Thole in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 286 Rz. 213 ff., 224; Foerste in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 286 Rz. 25. 55 56

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mel gebracht werden kann: Was im einschlägigen Berufsstand besonders wichtig ist, ist dort allgemein geläufig und den Berufsangehörigen typischerweise bekannt.61 Leicht erkennt man hierin den modus operandi des Anscheinsbeweises, der zur Feststellung innerer Tatsachen, namentlich Vorsatz, als verpönt gilt. Nicht selten gerät der objektive Pflichtverstoß, der doch bestenfalls als Indiz für einen – stets nachvollziehbar zu machenden – Schluss auf Vorsatz herhalten kann, sogar zum Ansatzpunkt für eine Vermutung oder Fiktion. In manchem Deckungsurteil wird aus dem im Haftungsprozess festgestellten objektiven Pflichtverstoß und dem besonderen Gewicht der verletzten Pflicht nicht mehr auf Wissentlichkeit geschlossen. Diese wird dort vielmehr „vorausgesetzt“62 oder „unterstellt“.63 Dass direkter Vorsatz zu vermuten oder zu fingieren sei, sagen die betreffenden Urteile zwar nicht. Der Sache nach passiert jedoch genau das. Muss man deshalb daran erinnern, dass der Anscheinsbeweis schnell zum Einfallstor für Vorurteile wird?64 Vielleicht nicht – wohl aber daran, dass die Figur der vom Anscheinsbeweis schwer zu unterscheidenden sog. tatsächlichen Vermutung gern als Mantel für diskrete Fortbildung des materiellen Rechts dient.65 Das Verblüffendste am Kardinalpflichten-Argument bleibt aber, dass überhaupt vom Rang einer Pflicht auf ihre Bekanntheit bei einer bestimmten Person geschlossen werden können soll.66 Denn auf Tatsachen lässt sich grundsätzlich nur aus Tatsachen schließen. Ob eine Person etwas wusste, ist eine Tatfrage. Was der Rang von etwas, zumal einer Pflicht (eines Sollens) ist, ist hingegen eine Wertungsfrage. Weil es für den Beweis positiven Wissens häufig an geeigneten Anknüpfungstatsachen fehlt, macht das Kardinalpflichten-Argument aus einer Tatfrage kurzerhand eine Wertungsfrage: Eine wissentliche Pflichtverletzung sei anzunehmen, wenn gegen eine berufliche „Kardinalpflicht“ verstoßen wurde. Gegen den Befund, hier würden Tatfragen mit Wertungsfragen vermischt, erstere durch letztere sogar ersetzt, 61 Aus welchen einzelnen Elementen sich der dem Kardinalpflichten-Argument zugrunde liegende Schluss genau zusammensetzt, ist der einschlägigen Judikatur nicht zu entnehmen. 62 So etwa BGH NJW 2015, 947, 948 = VersR 2015, 181, 182 = r+s 2015, 133, 134; OLG Köln r+s 2017, 348, 349; OLG Karlsruhe r+s 2018, 70, 72; ähnlich OLG Köln r+s 2012, 172, 173; 1997, 496 (es könne von Wissentlichkeit „ausgegangen“ werden). 63 So etwa OLG Köln VersR 2009, 58, 59. 64 Vgl. Oetker a.a.O. (Fn. 26), § 249 Rz. 496; Prütting a.a.O. (Fn. 25), § 286 Rz. 62. 65 So Foerste a.a.O. (Fn. 60 ), § 286 Rz. 21a, 25. Vgl. auch J. Prütting NJW 2019, 2661, 2663. Ähnliches konstatiert Hartmann (in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 75. Aufl. 2017, Anh. zu § 286 Rz. 15) für den Anscheinsbeweis, von dem die erhebliche Versuchung ausgehe, unter Berufung auf so schillernde Begriffe wie den der Lebenserfahrung oder des typischen Geschehensablaufs dem Prozess die erwünschte Richtung zu geben. 66 Skeptisch damals noch Lange DStR 2002, 1674, 1676; wohl ebenfalls Looschelders VersR 2018, 1413, 1415.

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lässt sich nicht einwenden, der objektive Pflichtverstoß sei doch schon im Haftungsprozess festgestellt worden und dem Deckungsprozess darum als (Norm- bzw. juristische) Tatsache vorgegeben. Mit dem Rang der verletzten Pflicht hat sich das Haftpflichturteil nämlich nicht befasst. Die „Kardinalfrage“ stellt sich vielmehr erstmals im Deckungsprozess. Auch der Einwand, es werde nicht aus dem besonderen Rang der verletzten Pflicht, sondern aus deren allgemeiner Geläufigkeit auf ihre individuelle Bekanntheit und von dort auf die Wissentlichkeit ihrer Verletzung geschlossen, hilft nicht. Denn auf die allgemeine Geläufigkeit der verletzten Pflicht wird ja ebenfalls aus ihrem besonderen Rang geschlossen. Letztlich führt das Kardinalpflichten-Argument dazu, richterliche Überzeugungsbildung durch Subsumtion zu ersetzen. Jedenfalls verführt es dazu. Statt sich zu fragen, ob und warum genau die vorgetragenen Tatsachen (Indizien) auf direkten Vorsatz schließen lassen und einen solchen Schluss in ihrer Gesamtschau sogar erzwingen, überlegt der Richter, ob die verletzte Pflicht unter den unbestimmten „Begriff“ der Kardinalpflicht fällt. Der (vermeintliche) Erfahrungssatz, wonach die fundamentalen Pflichten eines Berufsstands jedem seiner Angehörigen bekannt sind (und ein Verstoß also in Kenntnis der Pflicht begangen wird), mutiert so zum (vermeintlichen) Rechtssatz. Befördert werden derartige Mutationen durch die Leitsätze, die vielen Gerichtsentscheidungen, insbesondere höchstrichterlichen,67 für die Zwecke ihrer Veröffentlichung beigegeben werden und nicht selten von den Spruchkörpern selbst stammen.68 Da die individuelle Kenntnis von der objektiv verletzten Pflicht nur dort „vorausgesetzt“ werden können soll, wo es sich bei der verletzten Pflicht um eine berufliche Kardinalpflicht handelt, ist der Richter gezwungen, zwischen Normal- und Kardinalpflichten zu unterscheiden, letztere also irgendwie zu definieren. Diese Operation kann ihn, und zwar unabhängig davon, ob sie der Anwendung eines Erfahrungs- oder eines Rechtssatzes vorausgeht, leicht auf begriffsjuristische Abwege bringen. In der Praxis der Kardinalpflichten-Judikatur ist das nach meiner Beobachtung bisher zwar nicht vorgekommen. Eine Definition der Kardinalpflicht (oder ihrer Synonyme) ist mir allerdings auch nirgends begegnet.69 Dass die verletzte Pflicht 67 So auch dem „Kardinalpflichten“-Urteil des BGH vom 17.12.2014; siehe aber auch oben Fn. 50. 68 Vgl. dazu Fleischer NZG 2018, 241, 246; NZG 2015, 769, 770 f.; Rüthers Rechtstheorie, 1. Aufl. 1999, Rz. 909; ders. Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012, S. 457 ff. 69 Wohlgemerkt: Das Merkmal der allgemeinen Geläufigkeit taugte nicht zur Definition, weil wir mit ihm nur einen Zirkelschluss vorbereiten würden: Die allgemeine Geläufigkeit würde uns im Gewand der Jedermann-Bekanntheit wiederbegegnen und uns von dort auf individuelle Bekanntheit schließen lassen. Weitere Bemerkung: Wer den Kardinalpflichtbegriff von vornherein nicht für einen der Definition zugänglichen abstrakten Klassen-Begriff halten wollte, sondern für einen sog. „Typenbegriff“, unter den man nicht subsumieren, sondern dem man nur „wertend zuordnen“ könne, der sei zur methodologi-

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eine Kardinalpflicht sei, wird stets nur behauptet. Kriterien, die eine Pflicht in den Rang einer Kardinalpflicht erheben und die entsprechende Bewertung der im konkreten Fall verletzten Pflicht nachvollziehbar machen, werden nicht angegeben. Möglicherweise hat das mit der Eigenart der jeweils entschiedenen Fälle zu tun. Die überragende Bedeutung der verletzten Pflicht mag dort stets derart „evident“ gewesen sein,70 dass sich jener „Glücksfall der Intuition“71 einstellte, der allein die Natur der Dinge zu offenbaren vermag. Aus Entscheidungen in solchen Fällen dürfen dann aber keine Sätze herauspräpariert werden, die in anderen Fällen als Obersätze dienen. Hard cases make bad law. Dass die Gerichte (und auch das Schrifttum) bei der Kardinalfrage derart wortkarg sind, dürfte aber auch daran liegen, dass sich rationale Kriterien für eine Unterscheidung von Kardinal- und Normalpflichten nur schwer oder gar nicht finden lassen. So aber führt die Flucht ins Normative geradewegs ins Irrationale. Im AGB-Recht lässt sich eine ähnliche Misere besichtigen. Die Abgrenzung von Neben- und sog. Kardinalpflichten, auf die es bei der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB ankommen soll,72 dürfte sich dort inzwischen als undurchführbar herausgestellt haben. Eine Kardinalpflichten-Inflation hat dazu geführt, dass sogar Neben- als Kardinalpflichten durchgehen können.73 Welche Pflichten kardinale sind und welche nicht, werde von den Gerichten, so lautet eine Diagnose, mehr „erfühlt“ als begründet.74 Der BGH hat den Kardinalpflichtbegriff irgendwann selbst für intransparent erklärt und seine Verwendung in AGB für einen Verstoß gegen § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB gehalten.75 Spätestens seitdem der BGH den Begriff zum bloßen „Schlagwort“ herabgestuft hat,76 bewegt sich, wer ihn zu Abgrenzungszwecken benutzt, auf „verminte[m] Gelände“,77 genau genommen sogar off limits.

schen Fragwürdigkeit des Typenbegriffs verwiesen auf Rüthers Rechtstheorie, 1. Aufl. 1999, Rz. 931 ff. 70 Vgl. nur den Fall, der dem Urteil des OLG Köln v. 29.11.2011 (r+s 2012, 172 ff.) zugrunde lag. 71 Radbruch Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1956, S. 99. 72 Vgl. etwa BGH NJW-RR 1998, 1426, 1427; WM 2000, 426, 428; NJW 2002, 673, 674 f.; BeckRS 2002, 4275. 73 Siehe etwa BGH NJW 1985, 914, 916. 74 Wurmnest in MüKo-BGB, 8. Aufl. 2019, § 309 Nr. 7 Rz. 26. Zur Kritik an der Kardinalpflichten-Rechtsprechung im AGB-Recht: Coester in Staudinger, 2013, § 307 Rz. 275 f.; Renner AcP 213 (2013), 677 ff. 75 BGH NJW-RR 2005, 1496, 1505. 76 Wie Fn. zuvor sowie NJW 2013, 292, 296. 77 Siehe Graf von Westphalen in Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 43. EL 2019, Freizeichnungs- und Haftungsbegrenzungsklauseln Rz. 48, der den Ansatz deshalb komplett aufgegeben hat.

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2. Materiell-rechtliche Befunde Auf der Ebene des materiellen Rechts hat die Kardinalpflichten-Judikatur eine Veränderung der Darlegungs- und Beweislast zur Folge. Im Hinblick auf die Wissentlichkeit einer Pflichtverletzung haben die Parteien des Versicherungsvertrags diese Last dem Versicherer auferlegt. Das Risiko der Nichterweislichkeit der betreffenden inneren Tatsache ist vertraglich dem Versicherer zugewiesen. In diese Risikoverteilung greift die Kardinalpflichten-Judikatur ein, indem sie gewisse Fragen ins Normative verschiebt, wo sie leichter zu entscheiden scheinen. Dem Versicherer soll hierdurch aus seiner Beweisnot geholfen werden.78 Allein, warum solche Hilfe sein soll, welcher Rechtssatz sie gebietet oder zumindest rechtfertigt, bleibt im Dunkeln. Gründe müssten umso mehr angegeben werden, als die Parteien des Versicherungsvertrags das Risiko der schwierigen Erweislichkeit positiven Wissens als einer inneren Tatsache von vornherein im Blick hatten. Eine stillschweigende Berufung auf zivilprozessuales Gewohnheitsrecht, richterrechtliche Grundsätze, Treu und Glauben oder Ähnliches genügt hier nicht. Die Flucht ins Normative erweist sich noch unter weiteren Gesichtspunkten als gefahrgeneigt. Zum einen droht eine Verwechslung von Fahrlässigkeit und direktem Vorsatz, zum anderen eine Vernachlässigung des voluntativen Elements des Vorsatzes. Von letzterem ist in der Kardinalpflichten-Judikatur kaum die Rede. War der objektive Pflichtverstoß einmal als Verstoß gegen eine Kardinalpflicht qualifiziert, was bedeutete, dass die verletzte Pflicht als allgemein bekannt zu gelten hatte, so wurde meist sogleich eine wissentliche Pflichtverletzung angenommen.79 Eine solche setzt freilich Pflichtbewusstsein und Pflichtverletzungsbewusstsein voraus. Dieses geht nicht notwendigerweise mit jenem einher, auch nicht bei „groben“ oder gar „abenteuerlichen“ Verstößen.80 Für derartige Feinheiten aber scheint das Kardinalpflichten-Argument unempfänglich zu machen. Auch die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit droht verloren zu gehen. Die Idee hinter dem Kardinalpflichten-Argument ist: Was in einem Beruf so elementar ist, dass es dort jeder wissen muss, das weiß dort auch jeder; und was jeder weiß, das wusste auch der Berufsangehörige, um 78 Von „Hilfe“ angesichts der Unmöglichkeit eines Anscheinsbeweises spricht Lehmann, Mitglied des für Versicherungsvertragsrecht zuständigen IV. Zivilsenats des BGH, in r+s 2016, 1, 9. 79 Vgl. etwa OLG Karlsruhe r+s 2018, 70, Rz. 62; OLG Köln r+s 2017, 348, 349; 2012, 172, 174; 1997, 496 f.; 1990, 232 f.; OLG Hamm r+s 2007, 279, 280; OLG Saarbrücken r+s 1992, 336, 337; anders dagegen OLG Saarbrücken NJOZ 2008, 3483, 3486 f.; OLG Karlsruhe IBRRS 2006, 1104 ff. (unter II.B.6). 80 Vgl. BGH NJW 2016, 2024, 2030 f. Skeptisch gegenüber der Annahme von Wissentlichkeit selbst bei „geradezu abenteuerlichem“ Pflichtverstoß OLG Hamm r+s 1996, 16.

Was, um Himmels willen, ist eine „Kardinalpflicht“?

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dessen Versicherungsschutz es im Einzelfall geht. Man sieht, was die Achillesferse des Arguments ist und warum ihm strukturell eine Tendenz zur Einebnung der Grenze zwischen (grober) Fahrlässigkeit und direktem Vorsatz innewohnt. Ein Urteil des OLG Frankfurt aus dem Jahr 1999 zeigt, wie real die Verwechslungsgefahr ist. Nachdem es die tatbestandlichen Voraussetzungen des einschlägigen Wissentlichkeitsausschlusses zutreffend referiert hatte, meinte das Gericht, aus dem objektiven Verstoß gegen eine Berufspflicht könne auf entsprechende Kenntnis geschlossen werden, wenn der Verstoß so naheliegend gewesen sei, dass er sich förmlich habe aufdrängen müssen.81 Die Frage, was der Versicherte wusste, wird dabei verwechselt mit der Frage, was er habe wissen müssen. Zugleich wird damit eine tatsächliche durch eine normative Frage ersetzt.

V. Rückkehr auf den Boden der Tatsachen Der mit dem Kardinalpflichten-Argument eingeschlagene Pfad hat sich in vielerlei Hinsicht als ziemlich slippery erwiesen. Es empfiehlt sich deshalb, den „juristischen Begriffshimmel“ der Kardinalpflicht (und ihrer Synonyme) zu verlassen und auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Dorthin wird ohnehin geholt, wer sich zunächst dort oben bewegt. Denn auch für den, der den Schluss von der „Kardinalität“ einer Pflicht auf deren individuelle Bekanntheit mitgehen will, bleiben bei der Prüfung des Wissentlichkeitsausschlusses immer noch Fragen offen, die eine Beschäftigung mit den Tatsachen des zu entscheidenden Falls unumgänglich machen. Den Mühen der Ebene lässt sich mit dem Kardinalpflichten-Argument jedenfalls nicht ganz entkommen. Das fängt bei der vermeintlich bereits geklärten Frage nach dem Pflichtbewusstsein an und setzt sich bei der Frage nach dem Pflichtverletzungsbewusstsein fort. Selbst wenn im Einzelfall davon auszugehen wäre, dass der Versicherte die von ihm objektiv verletzte Pflicht positiv kannte, so wäre damit noch nicht geklärt, ob er auch erkannt hatte, dass sich diese Pflicht gerade in der Situation, in der er handelte, aktualisiert hatte und sie die von ihr geforderte Handlung nun konkret gebot oder verbot. Man kann eine Pflicht kennen und trotzdem nicht wissen, dass sie gerade jetzt etwas von einem verlangt. Man kann eine Pflicht auch kennen und trotzdem nicht wissen, was genau sie von einem verlangt. Mischfälle sind ebenfalls denkbar. Während das Kardinalpflichten-Argument über das zuletzt genannte Problem vielleicht noch hinweghelfen könnte, muss es beim zuerst genannten zwangsläufig versagen. Weder dem Rang einer Pflicht noch ihrer allgemeinen Geläufigkeit lässt sich auch nur irgendwie entnehmen, dass die Pflicht im konkreten Ein81

OLG Frankfurt NVersZ 2000, 439, 440.

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zelfall aktiviert war. Einem Geschäftsführer zum Beispiel, der die Pflichten aus §§ 15a Abs. 1 Satz 1 InsO, 64 GmbHG kennt und ferner weiß, was diese Pflichten unter welchen Umständen genau von ihm zu tun bzw. zu unterlassen verlangen, kann trotzdem entgangen sein, dass die Gesellschaft zahlungsunfähig geworden ist. Man sieht, wo im Hinblick auf das Pflichtbewusstsein dieses Geschäftsführers die Musik spielt: in den Tatsachen des Lebenssachverhalts, die die Insolvenzantrags- und Massesicherungspflichten für ihn erst zur Entstehung bringen. Die genannten Pflichten mögen von noch so überragender Bedeutung und jedem Geschäftsführer einer GmbH geläufig sein. Nie kann dies aber darauf hindeuten, dass dieser Geschäftsführer positive Kenntnis vom Eintritt der Zahlungsunfähigkeit seiner GmbH hatte. Das Kardinalpflichten-Argument ist hier völlig unbrauchbar. Auch im Hinblick auf das Pflichtverletzungsbewusstsein, insbesondere das darin enthaltene voluntative Element des direkten Vorsatzes ist das Kardinalpflichten-Argument eo ipso unergiebig. Geltung kann es allenfalls für die kognitive Seite des Vorsatzes beanspruchen: Was sehr wichtig ist, weiß jeder und wusste also auch der Versicherte. Über das Bewusstsein und den Willen hingegen, sich über die abstrakt bekannte und konkret erkannte Pflicht hinwegzusetzen, ohne die der Wissentlichkeitsausschluss nicht eingreifen kann, sagen Rang und allgemeine Geläufigkeit einer Pflicht nicht das Geringste aus. Selbst ein grober Pflichtverstoß, so der BGH, rechtfertigt nicht den Schluss auf gesteigertes personales Verschulden.82 Insbesondere gebe es keinen Satz der Lebenserfahrung, wonach derjenige, der dem für seinen Berufsstand unentbehrlichen Kenntnisstand objektiv zuwider handle, dies im Bewusstsein einer Pflichtverletzung tue.83

VI. Erkenntnis Die Kardinalpflichten-Judikatur krankt an einer Reihe schwerwiegender Fehler. Sie sollte aufgegeben, jedenfalls nicht auf das Gebiet der D&OVersicherung ausgedehnt werden. Ihr Kardinalfehler ist methodologischargumentationstheoretischer Art. Auf der Ebene des Prozessrechts wie auf der Ebene des materiellen Rechts zeigen sich Folgefehler. Die Ursünde besteht darin, eine Tatfrage (Vorhandensein von Wissen) durch eine Wertungsfrage (Rang der verletzten Pflicht) zu ersetzen, um aus der Antwort auf letztere die Antwort auf erstere gewinnen zu können. Wer diesen Pfad einmal eingeschlagen hat, verstrickt sich dann schier unausweichlich in eine argumentative Todsünde. Aus der „Kardinalität“ einer Pflicht auf individuelles Pflichtbewusstsein zu schließen gelingt nur deshalb so geschmeidig, 82 83

NJW 2016, 2024, 2030 f. BGH VersR 1986, 647.

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weil man in das Kriterium der „Kardinalität“ hineingelegt hat, was man hinterher wieder aus ihm hervorholt. Aus der einer Kardinalpflicht zugeschriebenen allgemeinen Geläufigkeit (eigentlich auch nur ein BekanntseinMüssen) wird zunächst eine Jedermann-Bekanntheit gemacht und sodann auf individuelles Wissen „gefolgert“. Die suggestive Kraft des Kardinalpflichten-Arguments verdankt sich damit nichts anderem als einer petitio principii. Auf die Frage, was denn eine Kardinalpflicht sei, will ich Roderich Thümmel zuliebe dennoch eine Antwort geben, indem ich mit von Bülow wenigstens sage: „Da regt mich ja die Frage schon auf.“84

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Aus: Die Jodelschule (1978), abgedruckt in: Loriot Gesammelte Prosa, 2006, S. 215 ff.

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Die Pflicht zur Ad-hoc – Publizität bei Verdacht Die Pflicht zur Ad-hoc – Publizität bei Verdacht Uwe H. Schneider

Die Pflicht zur Ad-hoc – Publizität bei Verdacht UWE H. SCHNEIDER

I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Verdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die gesetzliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . 1. Emittent von Finanzinstrumenten . . . . . . . . . . 2. Insiderinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wissen des Emittenten . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der bestätigte und der nicht bestätigte Verdacht . V. Der Ausschluss von der Veröffentlichungspflicht VI. Selbstbefreiung bei Verdacht . . . . . . . . . . . . . . VII. Eine schwierige Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ausgangslage Ein Verdacht mag sich langsam zur Gewissheit entwickeln – oder sich als falsch herausstellen. So mag beim Vorstand eines Emittenten der Verdacht einer Bilanzmanipulation bestehen, dass Bestechungszahlungen geleistet wurden, dass sich Mitarbeiter an cum-ex Geschäften beteiligt oder beraten haben oder dass ein Produkt möglicherweise fehlerhaft ist. Ob sich der Verdacht bewahrheitet, wird sich erst später herausstellen. Solange besteht Unsicherheit, bestehen Fragen und Zweifel. Nicht jedes Gerücht bestätigt sich. Wenn sich der Verdacht aber bestätigt, ja schon wenn er bekannt wird, kann schwerer Schaden entstehen, Betroffenheit bei den Beteiligten und Ratlosigkeit bei den Nichtbeteiligten, zumal wenn man dem Verdacht nicht zeitnah und energisch nachgegangen ist. Die rechtlichen Folgen eines Verdachts sind ganz unterschiedlich, im Vertragsrecht, im Arbeitsrecht, im Familienrecht, im Gesellschaftsrecht, im Strafprozessrecht, im Kapitalmarktrecht und an anderer Stelle. Im Blick auf Art. 17 MAR1, nämlich die Regelung zur Pflicht zur Ad-hoc-Publizität und im Blick auf den Entwurf des Emittentenleitfadens2 stellt sich die Frage, ob 1 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 vom 16.4.2014 über Marktmissbrauch… (Marktmissbrauchsverordnung); Überblick bei Klöhn, AG 2016, 432. 2 Emittentenleitfaden, Modul C, 5. Aufl. 2019; Kumpan/Misterek, EuZW 2019,961.

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nur die sichere Kenntnis des Sachverhalts oder auch schon ein Verdacht, also etwa einer Bilanzmanipulation in der Vergangenheit oder die Änderungen in der gegenwärtigen operativen Geschäftsentwicklung, eine Insiderinformation sein kann und ob – dies unterstellt – der Verdacht „in einer Art und Weise veröffentlich werden muss, die der Öffentlichkeit einen schnellen Zugang und eine vollständige, korrekte und rechtzeitige Bewertung ermöglicht“. Der Marktteilnehmer gerät, wenn er dieser Frage nachgeht, in eine höchst unerfreuliche Zwangslage. Zum einen besteht große Unsicherheit bei Auslegung und Anwendung von Art. 7 und Art. 17 MAR3. Zum anderen muss er mit dem Vorwurf der Marktmanipulation nach Art. 12 MAR rechnen, wenn er die Veröffentlichung unterlässt.4 Und er muss umgekehrt bei einer vorschnellen, überstürzten Veröffentlichung mit dem Vorwurf rechnen, dass eine Veröffentlichung nicht notwendig gewesen wäre. Und der Marktteilnehmer gerät in das bislang nicht geklärte Problem der Wissenszurechnung im Rahmen der Ad-hoc-Publizität nämlich die Frage, ob eine entsprechende Publizitätspflicht Kenntnis des geschäftsführenden Organes verlangt oder eine Pflicht zur Wissensorganisation im Unternehmen begründet. Die folgenden Überlegungen sind Roderich Thümmel gewidmet, der im Wirtschaftsrecht erfahren und als Anwalt und Berater für Gesellschaftsrecht und Schiedsverfahren die hohe Anerkennung in Wissenschaft und Praxis erfährt. Der Autor dieser Zeilen teilt mit ihm das Interesse an der praktischen Rechtsanwendung, der Beratung der Betroffenen und der Rechtsentwicklung zu den Pflichten und der Haftung von Vorständen, Geschäftsführern und Mitgliedern von Aufsichtsräten.

II. Der Verdacht Verdacht ist nicht Verdacht. Anders formuliert jeder Verdacht ist anders. Klöhn5 unterscheidet vier Fälle, nämlich die sichere Information über sichere Umstände, die sichere Information über unsichere Umstände, die unsichere Information über sichere Umstände und die unsichere Information über unsichere Umstände. Für die folgenden Überlegungen im Vordergrund steht dabei vor allem der zweite Fall, nämlich die sichere Information über ungesicherte Umstände. Dabei kann es sich um Umstände in der Vergangenheit, Umstände in der Gegenwart und Umstände in der Zukunft handeln. Das bedeutet: Zu unterscheiden ist, worauf der Verdacht beruht, was Gegenstand des Verdachts ist und wer bereits umfassende Kenntnis der Vorgänge hat. Der Verdacht beruht auf einem Urteil. Das verlangt, dass man 3

Siehe dazu Jochen Vetter/Enge/Lauterbach, AG 2019, 160. S. dazu BGH v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, NJW 2012, 1800; Habersack, in Klöhn/ Mock, Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S.217. 5 Klöhn, in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 Rz. 35. 4

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zwischen den Sachverhaltselementen, die den Verdacht begründen, also etwa das Ergebnis der Analyse der chemischen Gesteinsproben („Verdachtsanlass“) einerseits und dem Sachverhalt andererseits unterscheidet, worauf sich der Verdacht bezieht („Verdachtsgrund“) etwa, dass mit einem Fund von Erdöl oder Erdgas zu rechnen ist. Der Verdacht kann sich dabei auf unterschiedliche Gegenstände beziehen, nämlich einen bestimmten Sachverhalt z.B. ob eine Straße befestigt oder unbefestigt ist. Er kann sich aber auch auf das Verhalten einer Person z.B. ihrer Fähigkeiten beziehen, ihr Verhalten oder ihren Zustand z.B. die Möglichkeit einer schweren Erkrankung. Weiter ist zu fragen, ob die Quelle des Verdachts auf eigenen Ermittlungen beruht oder auf Erkenntnissen eines Dritten. Dem schließt sich die Frage an, ob sich der Verdacht in der Folgezeit bestätigt („bestätigter Verdacht“) oder sich herausgestellt, dass der Verdacht nicht begründet war („nicht bestätigter Verdacht“). Und endlich ist nach Verdachtsstufen zu unterscheiden, also einem Anfangsverdacht, einem hinreichendem Verdacht und einem dringendem Verdacht. Soweit verhält sich der Verdacht wie eine aufsteigende Leiter. Diese Unterscheidung ist nicht nur in der Strafprozessordnung von Bedeutung, sondern auch im Kapitalmarktrecht. Ein Anfangsverdacht verlangt das Vorliegen von konkreten Tatsachen, die es als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt. Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn die Verurteilung des Beschuldigten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Bei dringendem Tatverdacht ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Beschuldigte ein Täter oder ein Teilnehmer einer Straftat ist. Dabei darf der Tatverdacht nicht auf bloßen Vermutungen beruhen, sondern muss sich aus bestimmten Tatsachen ergeben. Diese Unterscheidung im Strafprozessrecht begegnet auch dem Marktteilnehmer im Kapitalmarktrecht. Dabei wird auch im Rahmen der Compliance durch den Emittenten der Frage nachzugehen sein, welche Pflichten den Emittenten treffen, den Verdacht weiter aufzuklären und gegebenenfalls auch zu veröffentlichen, wenn sich der Verdacht als gegenstandslos erweist.

III. Die gesetzliche Ausgangslage Nach Art. 17 Abs. 1 MAR ist ein Emittent von Finanzinstrumenten verpflichtet, unverzüglich der Öffentlichkeit Insiderinformationen, die diesen Emittenten unmittelbar betreffen, bekannt zu geben. Voraussetzung für die Veröffentlichungspflicht ist somit – das Vorliegen einer Insiderinformation, – die den Emittenten „unmittelbar“ betrifft,

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– und die geeignet ist, den Kurs von Finanzinstrumenten spürbar zu beeinflussen (Kursbeeinflussungspotential), – wenn die Insiderinformation öffentlich bekannt wird6 – und kein rechtlich anerkannter Grund vorliegt, von der Veröffentlichung abzusehen. Jedes dieser Tatbestandsmerkmale ist im Blick auf den konkreten Verdacht zu untersuchen. 1. Emittent von Finanzinstrumenten Adressat der Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 MAR ist ein Emittent von Finanzinstrumenten, eine juristischen Person des privaten oder des öffentlichen Rechts, die Finanzinstrumente emittiert oder deren Emission vorschlägt. Ein Finanzinstrument bezeichnet nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 MAR ein Finanzinstrument im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 15 der Richtlinie 2014/65 EU.7 Das bedeutet, dass Personen, auch wenn sie einen handfesten Verdacht haben, jedenfalls nicht ad-hoc-publizitätspflichtig sind, wenn sie kein Emittent von Finanzinstrumenten sind. 2. Insiderinformation Voraussetzung für eine Veröffentlichungspflicht ist nach Art. 17 MAR, dass der Verdachtsanlass eine Insiderinformation darstellt. Was eine Insiderinformation ist, wird in Art. 7 Abs. 1 MAR definiert. Voraussetzung ist, – eine präzise Information, – die nicht öffentlich bekannt ist , – die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betreffen und – die geeignet wäre, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Kurs dieser Finanzinstrumente oder damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen. Das bedeutet, dass die Verordnung vom „Konzept der Parallelität“ ausgeht, also ein einheitlicher Informationsbegriff für das Insiderrecht einerseits und die Ad-hoc-Publizität andererseits besteht.8 Allerdings besteht die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität nur, wenn die Information den Emittenten „unmittelbar“ betrifft. 6

S. dazu Klöhn, ZHR 180 (2016), 707. Die Frage wird im Folgenden nicht untersucht. Richtlinie 2014/65/EU vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente, Abl. EU L 173/349 vom 12.6.2014. 8 Assmann, in: Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR, Rz. 30. 7

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a) Die präzise Information Eine präzise Information liegt nach Art. 7 MAR nur vor, wenn die dort genannten Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Die Information ist „präzise“, wenn die Umstände bereits gegeben sind oder man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass die Umstände und Ereignisse vorlagen oder jetzt vorliegen oder man vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. Sie müssen zudem bestimmt genug sein, dass sie, wenn sie dem Markt bekannt sind, Auswirkungen auf die Kursentwicklung erwarten lassen. Das bedeutet erstens dass noch keine präzise Information vorliegt, wenn der Verdachtsanlass also etwa die rechtswidrige Kartellabsprache noch völlig ungeklärt und vage ist. Ebenso wie beim bloßen Gerücht9 sind damit alle vagen, haltlosen, ohne nähere Begründung gemachten Äußerungen aktivistischer Aktionäre, Äußerungen von Finanzanalysten oder der Presse nicht hinreichend präzise, wenn lediglich das vage Gerücht bzw. der ganz und gar unbestimmte Verdacht verbreitet wird. Nicht entscheidend sind an dieser Stelle für die Bewertung als präzise Insiderinformation die Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit der Kursentwicklung; denn es geht nur um die Frage, ob die Information präzise ist10 und nicht um die Kurserheblichkeit. Anders formuliert: Es gibt auch Informationen, die völlig haltlos also nicht präzise sind, aber gleichwohl schon Auswirkungen auf den Kurs haben. Ausgeschlossen sind damit zweitens Informationen, die nicht hinreichend spezifisch sind. Davon ist auszugehen, wenn sich keine Schlussfolgerung hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkung auf den Kurs des betreffenden Finanzinstruments ziehen lässt11. b) Der Verdachtsanlass als präzise Information Der Verdachtsgrund mag noch keine Insiderinformation sein, weil insoweit die Information noch nicht präzise ist. Ja, es mag sich später herausstellen, dass der Verdachtsgrund gar nicht verwirklicht ist, die Kartellabsprache nicht getätigt oder die Bestechungszahlung nicht geleistet worden war. Unwahre „Tatsachen“ können nicht Gegenstand einer Insiderinformation sein.12 Vom „Verdachtsgrund“ ist aber der „Verdachtsanlass“ zu unterscheiden, also die bereits bestehenden Umstände, die den Verdacht begründen, Art. 7 9 Assmann, in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR, Rz. 30. 10 BaFin, Emittentenleitfaden, Modul C, 5. Aufl. 2019, Nr. I.2.1.2. 11 EuGH v. 11.3.2015 – C 628/13, AG 2015, 388 LS 398 f Rz. 30. 12 Str.; a.A. etwa Meunicke/Jakovou, in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 13, Rz. 45; differenzierend, Klöhn, in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 Rz. 116.

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Abs. 2 S. 1 Var. 1 MAR. Und der Verdachtsanlass kann sich auch auf einen in der Wirklichkeit nicht bestehenden Verdachtsgrund beziehen. Ob der Verdachtsanlass, also die konkreten Umstände, die den Verdacht begründen, eine präzise Insiderinformation darstellen kann, ist selbständig zu prüfen. Zwar könnte man die Ansicht vertreten, die Veröffentlichung des Verdachtsanlasses verunsichere den Markt; denn der Verdachtsgrund sei noch gar nicht erwiesen. Deshalb sei bei sich langfristig entwickelnden Sachverhalten nur das letzte Ergebnis also die Bestätigung des Verdachts meldepflichtig. Dem ist nicht zu folgen. Der auf sicherer oder verlässlicher Grundlage bestehende Verdachtsanlass ist ebenso wie bestehende Pläne und Prognosen über künftige Umstände13 eine Information. Insoweit bedarf es allerdings weitergehender Anforderungen dafür, dass eine Insiderinformation vorliegt. Dafür spricht auch Art. 7 Abs. 3 MAR. Hiernach werden auch Zwischenschritte in einem gestreckten Vorgang als Insiderinformation angesehen, falls sie für sich genommen die Kriterien für eine Insiderinformation erfüllen. Dabei geht es nicht nur um mehrstufige Entscheidungsvorgänge wie etwa die Zustimmung des Aufsichtsrats zu Maßnahmen des Vorstands sondern auch um sonstige tatsächliche Zwischenschritte in der Entwicklung des Sachverhaltes. Das bedeutet, dass bei einer schrittweisen Aufklärung zu jedem Zeitpunkt im Laufe der Aufklärung selbstständig geprüft werden muss, ob der Verdachtsanlass eine Insiderinformation darstellt. Insoweit ist allerdings durch die Geltl – Entscheidung des EuGH vom 28.6.201214 und die Praxis der BaFin Unsicherheit entstanden. In der Entscheidung des EuGH vom 24.6.2012 und in den FAQs der BaFin vom 31. Januar 201915 und vom 28. Mai 201916 heißt es, dass es für die Beurteilung des Kursbeeinflussungspotenzials des Zwischenschritts ausreiche, wenn der Eintritt des Endergebnisses „zumindest wahrscheinlich sei“. Zu einer entsprechenden Prüfung kommt man aber erst, wenn feststeht, dass die Information eine Insiderinformation und folglich präzise ist. Präzise ist die Information erst, wenn in Kenntnis und bei umfassender Würdigung aller Umstände des Verdachtsanlasses vernünftigerweise zu erwarten ist, dass der Verdachtsgrund, also der Umstand, auf den sich der Verdacht bezieht, eintreten wird. Hiermit ist gemeint, „das mit hinreichen13

Siehe dazu Emittentenleitfaden 2019, Nr. I.2.1.4.4. EuGH v. 28.6.2012 – C-19/11, AG 2012, 555 Rn. 49. Zum Ganzen: Klöhn, in Klöhn/ Mock, Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S. 523, 536. 15 BaFin Art.17 MAR – Veröffentlichung von Insiderinformationen, FAQ, Stand 31.1. 2019, Nr. 5.b). 16 BaFin Art.17 MAR – Veröffentlichung von Insiderinformationen, FAQ, Stand 29.5.2019, Nr. III; sowie Entwurf des Emittentenleitfadens, Modul C, 5. Aufl., 2019, Nr. I.2.1.2. 14

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der Wahrscheinlichkeit vom Ergebniseintritt ausgegangen werden muss“. Die BaFin geht hier von einem Maßstab 50% + x (überwiegende Wahrscheinlichkeit) aus.17 Das bedeutet, dass es bei der Ermittlung, ob der Verdachtsanlass eine Insiderinformation darstellt, nicht darauf ankommt, ob sich die Tatsachen aus eigenen Ermittlungen ergeben haben oder aus Ermittlungen eines Dritten z.B. eines aktivistischen Aktionärs oder der Medien. Und es kommt auch nicht darauf an, ob sich später der Verdacht bewahrheitet. Allein entscheidend ist, ob der Verdachtsanlass sich so verdichtet hat – im Strafprozess würde man von einem hinreichenden Tatverdacht sprechen -, dass mit dem Eintritt des Verdachtsgrundes mit hinreichender Gewissheit zu rechnen ist. c) Nicht öffentlich bekannt Die Information ist nicht öffentlich bekannt, wenn Sie dem breiten Anlegerpublikum noch nicht durch Medien, ein elektronisches Informationsverbreitungssystem oder auf sonstige Weise zugänglich ist. Sie ist erst öffentlich bekannt, wenn der interessierte Marktteilnehmer in seiner Eigenschaft als Anleger die Möglichkeit hat, von der Information Kenntnis zu nehmen. Daher, so heisst es mit Recht im Entwurf des Emittentenleitfaden 2019 unter I.2.1.1. , reicht eine Information in einem nur in bestimmten Kreisen einschlägigen (Börsen-) Informationsdienst, in einem Newsboard , in einer Pressekonferenz des Unternehmens , in sozialen Netzwerken oder in der Lokalpresse nicht aus, damit die Information öffentlich bekannt ist. Das gilt entsprechend auch für den Verdachtsanlass. d) Kursbeeinflussungspotenzial Die Veröffentlichungspflicht besteht nur, wenn die Informationen, wenn sie öffentlich bekannt werden würde, geeignet wären, den Kurs von Finanzinstrumenten spürbar zu beeinflussen, Art. 7 Abs. 4 MAR. Dazu heißt es in der Entscheidung eines englischen Gerichts in der Sacha Massey: „We have not found the statutory wording easy to understand“.18 Abgestellt wird auf den Zeitpunkt der Kenntnis der Umstände des Verdachtsanlasses und die hieran anknüpfende Anlageentscheidung („ex-antePrognose“)19 des „durchschnittlich börsenkundigen Anlegers“. Das ist ein Anleger, der auf nachvollziehbarer Grundlage seine Anlageentscheidung trifft. Er sollte mit den Marktusancen vertraut sein. Ob dazu auch Grundkenntnisse des Unternehmensrecht gehören, mag man diskutieren. Jeden17 BaFin, Art. 17 MAR – Veröffentlichung von Insiderinformation, FAQ Stand 31.1.2019; Emittentenleitfaden, Modul C, 5. Aufl., 2019, Nr. I.2.1.2. 18 Massey (2011), UKUT 49 (TCC), Rz. 38 (zit. nach Langenbucher, AG 2016, 417, 421). 19 BGH vom 13.12.2011 – XI ZR 51/10, NJW 2012, 1800.

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falls bezieht er die gegenwärtige und die künftige Finanz- und Ertragskraft des Unternehmens in seine Anlageentscheidung mit ein und berücksichtigt weitere Elemente, die Auswirkungen auf den künftigen Kurs haben. Beim Kursbeeinflussungspotential sind, wenn man der BaFin folgt „grundsätzlich auch solche Informationen zu berücksichtigen, die eine nur kurzfristige erhebliche Kursbewegung auslösen können, selbst wenn unklar ist, in welcher Richtung der Kurs ausschlägt“.20 Dabei ist davon auszugehen, dass er die Information zur Grundlage einer Anlageentscheidung machen würde.21 Anders formuliert: Abzustellen ist auf die Information und ihre Bedeutung für das Unternehmen, die Gesamttätigkeit des Emittenten, auf die Branche und die Kursentwicklung insoweit vergleichbarer Anlagen. Nicht entscheidend ist, wie sich der Kurs in der Folgezeit tatsächlich entwickelt hat. Die zu erwartende Kursentwicklung kann in jede Richtung gehen, sowohl nach oben als auch nach unten.22 Spürbar ist daher der Kursanschlag, wenn der Anleger in voller Kenntnis der Umstände bei rationaler Betrachtung aufgrund eines Verdachts mit einer erheblichen Kursentwicklung rechnen muss. So sind beim Kursbeeinflussungspotential eines Verdachtsanlasses auch die Glaubwürdigkeit des Verdachts, deren Quelle und die Nachprüfbarkeit der den Verdachtsanlass begründenden Umstände zu berücksichtigen. e) Unmittelbare Betroffenheit Eine Ad-hoc-Publizitätspflicht besteht nur, wenn der Emittent von der Insiderinformation unmittelbar betroffen ist. Das folgt aus dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 MAR. Verlangt wird damit insbesondere, dass die Information emittentenbezogen ist oder – anders formuliert – im Tätigkeitsbereich des Emittenten eingetreten ist. Die Eignung zur Kursbeeinflussung muss auf den Auswirkungen auf die Vermögens- oder Finanzlage oder dem allgemeinen Geschäftsverlauf beruhen.23 Das ist nicht bei solchen Informationen der Fall, die von außen kommende Umstände darstellen, etwa sich auf den gesamten Markt oder eine Gruppe von Emittenten beziehen.24 Das gilt auch für den Verdachtsanlass und den Verdachtsgrund. Er ist nicht emittentenbezogen, wenn er sich etwa auf den politischen Rahmen, die Markt- und Wettbewerbsbedingungen oder allgemeingültige disruptive Produkt- und Produktanwendungsbedingungen bezieht. 20 BaFin, FAQ Stand 31.1.2019 – Klöhn, in Klöhn/Mock, Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S. 545. 21 EuGH vom 28.6.2012 – Rs. C – 19/11, AG 2012, 555. 22 EuGH v. 1.3.2015 – Rs.C – 628/13, AG 2015, 383 (Lafonta); Langenbucher, AG 2016, 417, 421. 23 VGH vom 10.7.2018 – II ZB 24/14, NJW RR 2018, 38, Rz. 52. 24 Klöhn, in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17, Rz. 81 ff.; Meyer, in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl., 2019, Rz. 12.342.

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3. Wissen des Emittenten Die Pflicht des Emittenten zur Ad-hoc-Publizität bei Verdacht ist davon abhängig, welche Kenntnis das Gesetz vom Emittenten verlangt. Die Frage ist höchstrichterlich nicht geklärt und in der Lehre und Praxis streitig. Abzulehnen ist die Ansicht, dass es auf eine Kenntnis von der ad-hocpublizitätspflichtigen Information beim Emittenten nicht ankomme. Die Veröffentlichungspflicht entstehe bereits mit dem Eintritt der Insiderinformation und nicht erst mit der Kenntniserlangung.25 Das überzeugt nicht; denn eine kapitalmarktrechtliche Pflicht beim Emittenten macht nur Sinn, wenn das Unternehmen Kenntnis hat oder fahrlässig nicht hat und dieser Pflicht auch folgen kann oder könnte.26 Möglich wäre sodann einerseits eine Auslegung von Art. 17 MAR, dass es bei der Ad-hoc-Publizität allein und nur auf die Kenntnis des geschäftsführenden Organs oder mindestens eines Organmitglieds ankommt.27 Zu denken wäre aber andererseits daran, dass für die Ad-hoc-Publizitätspflicht zwar nicht Voraussetzung ist, dass das geschäftsführende Organ Kenntnis hat, dass aber bei angemessener Compliance-Organisation das geschäftsführende Organ hätte informiert sein müssen.28 Das würde bedeuten, dass es für die Entstehung der Ad-hoc-Publizitätspflicht ausreicht, wenn mindestens ein Mitarbeiter – welche Qualifikation dieser Mitarbeiter hat, müsste noch geklärt werden – den Verdachtsgrund oder den Verdachtsanlass kennt, aber versäumt hat, den Vorstand zu informieren. Geht man hiervon aus, so ist für die Kenntnis des Unternehmens Voraussetzung, dass der Vorstand das Unternehmen angemessen organisiert und auf diese Weise sicherstellt, dass er über die ad-hoc-publizitätspflichtige Information informiert wird. Das gilt nicht nur für die Ad-hoc-Publizität sondern auch für andere kapitalmarktrechtliche Pflichten, etwa für die Beteiligungspublizität29 oder die Informationspflichten im Übernahmerecht. 25 LG Stuttgart vom 28.2.2017 – 22 AR 1/17, Akp, WM 2017, 1451 Tz. 158; Roye/Fischer zu Cramburg, in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl., § 15 WpHG, Rn. 6; Spindler/Speier, BB 2005, 231, 232. 26 Fuchs/Pfüller, Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG, Rn. 328: Positive Kenntnis oder zumindest grob fahrlässige Unkenntnis; Wittmann, Informationspflicht im Konzern, Diss. Bonn 2007, S. 102; Schlitt/Mildner, in Klöhn/Mock, Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S. 370. 27 So Koch, AG 2019, 273. 28 Klöhn, in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17, Rz. 116; Assmann, in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR, Rz. 50 ff.; Ihrig, ZHR 181 (2017) 381 ff. 29 Siehe dazu Uwe H. Schneider, in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 33 WpHG, Rz. 125 ff.

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Koch30 hat in einem Beitrag, der auf einem Rechtsgutachten beruht, gezeigt, dass der Wortlaut von Art. 17 MAR nicht weiterhilft. Er zeigt sodann die Rechtsfolgen, wenn es notwendig wäre, dass der Vorstand bei gehöriger Sorgfalt über die Information hätte verfügen können und damit in Art. 17 MAR eine Wissensorganisationspflicht „hineingedeutet würde“. Die Argumente für diese Überlegungen werden an dieser Stelle nicht übersehen. Wer sich aber am Kapitalmarkt bedient, hat besondere Pflichten. Dazu gehören die kapitalmarktrechtlichen Compliance-Pflichten im Unternehmen und Pflichten im Verhältnis zum Markt, dass der Kapitalmarkt zuverlässig informiert wird. Da dürfen die Pflichten nicht dem Grunde nach in Frage gestellt werden, sondern zu betrachten ist der Inhalt und der Umfang der Pflichten, also die Anforderungen an die Wissensorganisationspflicht. Und dabei kann es nur um Mindestanforderung gehen. Das gilt für die Beteiligungspublizität aber auch für die Ad-hoc-Publizität.

IV. Der bestätigte und der nicht bestätigte Verdacht Entsprechend zu beurteilen ist auch der in der Folgezeit bestätigte bzw. der nicht bestätigte Verdacht. Stellt sich im Laufe der weiteren Entwicklungen heraus, dass sich der Verdacht bestätigt, so ist im Rahmen der laufenden Ermittlungen zu fragen, ob eine neue „präzise Information“ eingetreten ist, ob sie den Emittenten unmittelbar betrifft und geeignet ist, den Kurs des Finanzinstrument spürbar zu beeinflussen. Davon ist auszugehen, wenn sich aus den erfolgten Ermittlungen ergibt, dass sich mit an Sicherheit gehender Wahrscheinlichkeit der Verdacht bestätigt. Wenn diese Umstände, aus denen dies folgt, noch nicht bekannt sind, sind sie zu veröffentlichen. Das Umgekehrte gilt, wenn sich im Laufe der Zeit ergibt, dass sich der Verdacht nicht bestätigt. Löst sich der Verdacht auf, zeigt sich, dass man einer Chimäre, also einem Hirngespinst aufgesessen ist, so ist auch dies eine präzise Information, die – wenn die Voraussetzungen vorliegen – geeignet sein kann, den Kurs des Finanzinstruments erheblich zu beeinflussen. Gegebenenfalls ist auch dies ad-hoc-publizitätspflichtig.

V. Der Ausschluss von der Veröffentlichungspflicht Von der Pflicht zur Veröffentlichung ist abzusehen, wenn Gesetz und Recht der Veröffentlichung entgegenstehen. Das kann der Schutz der Persönlichkeit einer natürlichen Person sein, etwa eine bisher nicht bekannte 30

Koch, Die AG 2019, 273.

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schwere Krankheit. Das Entsprechende gilt für das Selbstbelastungsverbot; denn niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten.31 Das gilt jeweils auch, wenn sich die Veröffentlichungspflicht auf einen entsprechenden Verdacht bezieht, wie etwa den Verdacht einer schweren Erkrankung des Vorsitzenden des Vorstands, vorausgesetzt, dass durch die Veröffentlichung das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzt würde.

VI. Selbstbefreiung bei Verdacht Bei Prognosen, Plänen und bei Vorliegen eines Verdachtsanlasses ist unsicher, ob die Voraussagen, die Verwirklichung der Pläne oder der Verdachtsanlass dazu führen, dass der Verdachtsgrund bestätigt wird. Da mag man zweifeln, ob eine Veröffentlichung im Kapitalmarkt Sinn macht, wenn noch – und mag sie noch so gering sein – die Möglichkeit besteht, dass sich der Verdacht nicht bewahrheitet.32 Daher verdient gerade der Verdachtsanlass über eine Selbstbefreiung nachzudenken. Art. 17 Abs. 4 MAR erlaubt dem Emittenten von der Veröffentlichung abzusehen, wenn sämtliche in Art. 14 Abs. 4 MAR genannten Voraussetzungen vorliegen. Diese Möglichkeit der Selbstbefreiung ist mit Zurückhaltung anzuwenden. Sie ist andererseits mit guten Gründen vorgesehen. So kann das Unternehmen von der Veröffentlichung absehen, wenn diese die berechtigten Interessen des Emittenten beeinträchtigen würde. Eine nicht abschließende Liste solcher berechtigter Interessen findet sich in den ESMA, MAR-Leitlinien – Aufschub der Offenlegung, Rz. 8.33

VII. Eine schwierige Aufgabe Die Überlegungen zeigen, dass dem Emittenten eine schwere Aufgabe aufgebürdet ist, wenn er mit einem Verdacht konfrontiert wird. Man kann es auch schöner sagen: „Von drückenden Pflichten kann uns nur die gewissenhafteste Ausübung befreien.“34 Und hoffentlich wird der Emittent in diesem Fall gut beraten.

31 Siehe dazu näher Assmann, in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 VO Nr. 596/2014, Rz. 70 ff. 32 S. zuletzt Kunitz/Rathert, in Klöhn/Mock, Festschrift 25 Jahre WpHG, 2019, S. 599. 33 Siehe dazu Krämer/Kiefner, AG 2016, 621. 34 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Erstes Buch, Siebtes Kapitel.

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Falsches Recht richtig angewendet – richtiges Recht falsch angewendet Falsches Recht richtig angewendet – richtiges Recht falsch angewendet Rolf A. Schütze

Falsches Recht richtig angewendet – richtiges Recht falsch angewendet Betrachtungen zur Anwendung von Kollisionsnormen und materiellem Recht im Schiedsverfahren ROLF A. SCHÜTZE

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das kollisionsrechtlich zur Anwendung berufene Recht im internationalen Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 1051 ZPO als echte Kollisionsnorm . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Anwendung der Rom I-VO . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unrichtige kollisionsrechtliche Anknüpfung . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen unrichtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung II. Die Anwendung materiellen Rechts im internationalen Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unrichtige Anwendung des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgen unrichtiger Rechtsanwendung . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Jubilar ist einer der Grossen der nationalen und internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Er hat als Schiedsrichter, Vorsitzender von Schiedsgerichten und Parteivertreter in zahllosen Fällen zum guten Ruf der Schiedsgerichtsbarkeit als Rechtsschutzform neben den staatlichen Gerichten – diesen gleichwertig – beigetragen und mit seinen wissenschaftlichen Publikationen die Diskussion befruchtet. Ihm ist diese kleine Studie als Zeichen der Freundschaft aus vielen Jahren gewidmet.

Einleitung Der Staat misstraut den Schiedsgerichten. Deshalb leiht er seine Hand zur Durchsetzung ihrer Sprüche nur nach vorheriger Überprüfung durch die staatlichen Gerichte. Diese sind jedoch nicht zu einer sachlichen Überprüfung der schiedsgerichtlichen Entscheidung befugt. Das Verbot der révision

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au fond ist eines der Grundprinzipien der Aufhebung oder Vollstreckbarerklärung von Schiedssprüchen. Die Schiedsgerichtsbarkeit kann ihre Funktion als echte Rechtsprechungsalternative zu den staatlichen Gerichten nur erfüllen, wenn sie nicht in den Instanzenzug der staatlichen Gerichte eingegliedert ist und die Entscheidungen der Schiedsgerichte nicht der vollen Überprüfung durch die staatlichen Gerichte unterliegen. Es ist deshalb anerkannt, dass die sachliche Überprüfung auf die Richtigkeit einer schiedsgerichtlichen Entscheidung ausgeschlossen ist.1 Fraglich mag sein, ob dies auch bei unrichtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung oder unrichtiger Anwendung des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen Rechts gelten kann. Denn das Verbot der révision au fond bezieht sich zunächst nur auf die Anwendung materiellen Rechts. Für das IPR der Schiedsgerichtsbarkeit mögen andere Grundsätze gelten.

I. Das kollisionsrechtlich zur Anwendung berufene Recht im internationalen Schiedsverfahren 1. § 1051 ZPO als echte Kollisionsnorm Art. 28 des Modellgesetzes regelt das IPR des Schiedsverfahrens. Die Regelung ist in § 1051 ZPO in das deutsche Recht übernommen worden2. § 1051 ZPO ist eine echte Kollisionsnorm zur Bestimmung des im Schiedsverfahren anwendbaren materiellen Rechts3. Das Schiedsgericht hat nach deutschem Recht kein Ermessen bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts4. Das von Sandrock5, Solomon6 und anderen früher favorisierte kollisionsrechtliche Ermessen der Schiedsrichter ist nach geltendem Recht nicht 1 Vgl. BGH MDR 1999, 1281; BGHZ 151, 79 = SchiedsVZ 2003, 39 mit Anm. Münch ebenda, 41 ff.; BayObLG DIS Datenbank 4 Z Sch 13/04; Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. (2008), Rn. 2172; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. (2005); Kap. 24, Rn. 1; Zöller/Geimer, Kommentar zur ZPO, 33. Aufl. (2020), § 1059 Rn. 74. 2 Vgl. dazu Calavros, Das UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (1989), S. 122 ff.; Granzow, Das UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1985 (1988), S. 166 ff.; Hußlein-Stich, Das UNCITRAL-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (1990), S. 141 ff. 3 Vgl. dazu Schack, Sonderkollisionsrecht für private Schiedsgerichte? FS Schütze II (2014), S. 511 ff. 4 Vgl. Pfeiffer, Die Abwahl des deutschen AGB-Rechts in Inlandsfällen bei Vereinbarung eines Schiedsverfahrens, NJW 2012, 1169 ff. 5 Vgl. Sandrock, Welche Kollisionsnormen hat ein internationales Schiedsgericht anzuwenden?, RIW 1992, 785 ff. 6 Vgl. Solomon, Das vom Schiedsgericht in der Sache anzuwendende Recht nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts, RIW 1987, 961ff. (986ff.).

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mehr als ein Ausflug in die Gefilde des rechtlich Wünschbaren. Dort sind diese Meinungen – die zugegebener Weise aus der Zeit vor Inkrafttreten der Novellierung des 10. Buchs der ZPO stammen – gut aufgehoben. 2. Keine Anwendung der Rom I-VO Ist nun § 1051 ZPO eine echte Kollisionsnorm, so ist die Regelung abschließend. § 1051 ZPO ist zwar Art. 27 EGBGB und der diese Bestimmung ersetzenden Rom-I VO nachgebildet, was völkerrechtlichen Notwendigkeiten der Regelung entspricht. Das ändert aber nichts an der eingeständigen und abschließenden Rechtsnatur des § 1051 ZPO. Deshalb ist die Rom-I VO neben oder an Stelle dieser Norm nicht anwendbar7. Insbesondere sind die Privilegien für Verbraucher in Art. 6 Rom- I VO unanwendbar8. 3. Unrichtige kollisionsrechtliche Anknüpfung Das Schiedsgericht mit Sitz in Deutschland hat deutsches Kollisionsrecht – also § 1051 ZPO – anzuwenden. Dabei kann es irren und auf mannigfache Weise Fehler machen, was zu unterschiedlichen Rechtfolgen hinsichtlich der Zulässigkeit einer Überprüfung durch die staatlichen Gerichte im Aufhebungs- oder Vollstreckbarerklärungsverfahren führen mag. a) Nichtberücksichtigung der Rechtswahl durch die Parteien § 1051 Abs. 1 ZPO knüpft kollisionsrechtlich – Art. 28 ModellG folgend – in erster Linie an den Parteiwillen an. Für eine Rechtswahl – ausdrücklich oder konkludent – gelten die allgemeinen Grundsätze des deutschen 7 Vgl. Hausmann, Anwendbares Recht vor deutschen und italienischen Schiedsgerichten – Bindung an die Rom I-Verordnung oder Sonderkollisionsrecht?, FS von Hoffmann (2011), S. 971 ff. (977 f.); Kronke, Internationales Schiedsverfahren nach der Reform, RIW 1998, 257 ff. (262 f.) (für das EVÜ); Pörnbacher/Baur, Rechtswahl und ihre Grenzen in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, FS Schütze II (2014), S. 431 ff. (439 f.); Salger/ Trittmann/Pfeiffer, Internationale Schiedsverfahren (2018), § 15, Rn. 11; Schack, Sonderkollisionsrecht für private Schiedsgerichte?, FS Schütze II (2004), S. 511 ff.; Wegen, Zur Möglichkeit des Ausschlusses einfach zwingenden Rechts durch Schiedsklauseln bei Inlandssachverhalten mit AGB Bezug, FS Prütting (2018), S. 913 ff.; Wieczorek/Schütze/ Schütze, ZPO, 5. Aufl. (2019), § 1051, Rn.13 a; a.A. Mankowski Schiedsgerichte und die Verordnungen des europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, FS von Hoffmann (2011); S. 1012 ff. (1023 ff.); Mankowski, Schiedsgerichte und die Rom I-VO, RIW 2018, 1 ff. (mit umfangreichen Nachweisen); Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl. (2019), § 1051, Rn.1. Münch passt die ganze Diskussion nicht. Er meint, dass der deutsche Gesetzgeber übersehen habe, dass § 1051 für Handelsgeschäfte gedacht war und fordert eine teleologische Reduktion der Anwendung der Norm, vgl. MünchKomm/Münch Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. (2017), § 1051 Rn. 16 ff. 8 Vgl. Pfeiffer Die Abwahl deutschen AGB-Rechts in Inlandsfällen bei Vereinbarung eines Schiedsverfahrens, NJW 2012, 1169 ff.

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IPR9. In der Rechtswahl liegt zugleich eine Verfahrensvereinbarung der Parteien. Nach § 1042 Abs. 3 ZPO sind die Parteien, vorbehaltlich der in § 1042 ZPO gezogenen Grenzen, frei, das anwendbare materielle Recht, die Verfahrensmaximen, Art und Umfang der Beweisaufnahme, Notwendigkeit und Durchführung von Zustellungen, Fristen für Verfahrenhandlungen etc. zu bestimmen. Soweit die Verfahrensvereinbarung vor Bestellung des Schiedsgerichts abgeschlossen wird, darf das Schiedsgericht hiervon nicht abweichen. Die Schiedsrichter haben nur die Möglichkeit, das Schiedsrichteramt abzulehnen, wenn sie sie sich nicht in der Lage sehen, das Schiedsverfahren unter der Verfahrensvereinbarung sachgemäß durchzuführen, etwa weil eine Schiedssprache gewählt wird, die sie nicht verstehen. Nach Bestellung des Schiedsgerichts ist eine Änderung der Verfahrensvereinbarung nur mit Zustimmung des Schiedsgerichts zulässig10. Denn die Schiedsrichter haben ihr Amt auf der Grundlage der Vereinbarungen der Parteien in der Schiedsvereinbarung oder gesonderten Absprachen übernommen. Sie müssen sich nach Annahme des Amtes keine weiteren Verfahrensregeln aufzwingen zu lassen. So können die Parteien später die Schiedssprache nicht mehr ohne Zustimmung ändern oder etwa vereinbaren, dass eine bestimmte institutionelle Schiedsordnung oder die UNCITRAL Regeln Anwendung finden sollen. Die Schiedsrichter müssen das Verfahren nach den Regeln führen, die kraft Parteivereinbarung vor Konstituierung des Schiedsgerichts gelten sollten. Danach bedarf jede Regelung ihrer Zustimmung. Missachten die Schiedsrichter eine Rechtswahl der Parteien nach § 1051 Abs. ZPO, etwa weil sie die Rechtswahl für unzweckmäßig halten, so verletzen sie damit zugleich eine Verfahrensvereinbarung. Die Nichtbeachtung einer Verfahrensvereinbarung stellt einen Aufhebungsgrund i.S. des § 1059 Abs. 1 Nr. 1 lit.d ZPO dar11. Nun gibt es in der Praxis Fälle, in denen das Schiedsgericht zwar vorgibt, eine Rechtswahl der Parteien zu beachten, es in der Praxis aber nicht tut. Das war der Fall in einem deutsch-koreanischen Streitfall über die Lieferung einer Anlage von Deutschland nach Korea. Das Schiedsgericht anerkannte die Rechtwahl von deutschem Recht in dem zugrunde liegenden Vertrag, wandte dann aber koreanisches Recht an, weil einige Arbeiten an der streitgegenständlichen Anlage in Korea ausgeführt worden waren. In einem solchen Fall kommt es auf die effektive Rechtsanwendung an. Auch in den Fällen, in denen das Schiedsgericht behauptet nach einer Rechtswahlvereinbarung der

9 Vgl. Wieczorek/Schütze/Schütze Großkommentar zur ZPO, 5. Aufl. (2020), § 1051, Rn. 14. 10 Vgl. Schütze, Die Bestimmung des schiedsrichterlichen Verfahrens, FS Nikas, (2018), S. 1055 ff. 11 Vgl. OLG Frankfurt/Main, SchiedsVZ 2013, 49.

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Parteien zu verfahren, es aber nicht tut, liegt eine Verletzung einer Verfahrensvereinbarung vor. Der Verfahrensmangel allein genügt aber nicht als Aufhebungsgrund. Der Schiedsspruch muss gerade auf dem Verfahrensmangel beruhen12, es jedenfalls möglich ist, dass der Verfahrensfehler den Schiedsspruch beeinflusst hat13. Letzteres ist bei Übergehen der Rechtswahl der Parteien immer der Fall. Denn auch in den Fällen in denen das gewählte Recht mit dem vom Schiedsgericht fehlerhafterweise angewendet Recht in der streitentscheidenden Frage übereinstimmen, mag die Auslegung des entsprechenden Rechtssatzes in beiden Rechten unterschiedlich sein. b) Fehlerhafte Anwendung der Kriterien des § 1051 ZPO Haben die Parteien keine Rechtswahl nach § 1051 Abs. 1 ZPO getroffen – sei es, dass sie eine solche für überflüssig hielten, sei es, dass sie die Rechtswahl vergessen haben, sei es dass sie sich nicht über das anwendbare Recht einigen konnten, so geht das Bestimmungsrecht für das anwendbare Recht auf das Schiedsgericht über (§ 1051 Abs. 2 ZPO). Letzteres war bei Verträgen mit den früheren sowjetischen Außenhandelsorganisationen die Regel14. Bei equal power of bargaining stimmte die sowjetische Seite zwar der Vereinbarung der Zuständigkeit des Stockholmer Schiedsgerichts anstelle des Schiedsgerichts bei der Allunionskammer Moskau zu, weigerte sich aber, auch eine Rechtswahlklausel zu vereinbaren. („Das wird man später sehen“, „Wir werden uns schon noch einig werden“). Im Streitfall geschah dann folgendes: Jede Partei benannte einen Schiedsrichter, die Außenhandelsgesellschaft einen sowjetischen Juristen, der westliche Vertragspartner einen Juristen aus seinem Heimatland. Der sowjetische Schiedsrichter verweigerte sich regelmäßig einer gemeinsamen Bestimmung des Vorsitzenden. So bestellte die Stockholmer Schiedsgerichtsinstitution damals regelmäßig einen schwedischen Obmann15. Über das schwedische IPR kam mangels Rechtswahl in der Regel sowjetisches Recht zur Anwendung16. Konnten sich die Schiedsrichter nicht über den Inhalt eines sowjetischen Rechtssatzes einigen – was oft vorkam –, so musste der Vorsitzende entscheiden. Dieser hatte die Wahl dem Schiedsrichter zu folgen, der sein „eigenes“ Recht auslegte oder dem, 12

Vgl. BGH NJW 1959, 2213; 1952, 27. Vgl. BGH NJW1959, 213; Schütze/Tscherning/Wais, Handbuch des Schiedsverfahrens, 2. Aufl. (1990), Rn. 541. 14 Vgl. Schütze, Rechtswahl- und Gerichtsstandsklauseln bei equal bargaining power der Parteien, FS Manfred Wolf (2011), S. 551 ff.; Schütze, Die Besetzung eines internationalen Schiedsgerichts und das anwendbare Recht, FS Kaissis (2012), S. 887 ff. (890 ff.); Stumpf/Lindstaedt, Vereinbarungen über das anzuwendende Recht und das zuständige Schiedsgericht in Handelsverträgen mit osteuropäischen Ländern, AWD 1972, 228 ff. 15 Heute werden auch Schiedsrichter aus anderen Nationen bestellt. 16 Vgl. Stumpf/Lindstaedt, AWD 1972, 228 ff. 13

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für den das anwendbare Recht „fremdes“ Recht war. Die Antwort liegt auf der Hand. Der sowjetische Schiedsrichter bestimmte in der Regel, was der Inhalt des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen sowjetischen Rechts war. War die Anwendung des sowjetischen Rechts in diesen Fällen unrichtig, so hätte kein Verstoß gegen § 1051 ZPO vorgelegen. Denn die Anwendung sowjetischen Rechts entsprach dem IPR der lex fori – also schwedischem Recht als Sitzrecht. Anders ist die Situation, wenn das Schiedsgericht § 1051 Abs. 2 ZPO fehlerhaft angewendet hat, etwa die engsten Verbindungen des Streitgegenstandes in Schweden anstelle von Deutschland lokalisiert und deshalb schwedisches anstelle von deutschem Rechts angewendet hat. Hier liegt zwar eine falsche kollisionsrechtliche Entscheidung vor, die möglicherweise zu einer materiell falschen Entscheidung führt, wenn die Rechtsfrage nach schwedischem anders als nach deutschem Recht zu entscheiden ist. Die fehlerhafte Rechtsanwendung mag zu unrichtiger Entscheidung führen; das ist aber hinzunehmen. c) Fehlerhafte Bestimmung des Kollisionsrecht Angesichts des wissenschaftlichen Disputes über die abschließende Regelung des IPR im Schiedsverfahren durch § 1051 ZPO mag es vorkommen, dass ein Schiedsgericht – nach der hier vertretenen Ansicht zu Unrecht – die Rom I-VO anwendet, insbesondere die darin statuierten Verbraucherprivilegien. Hier ist zu differenzieren: Haben die Parteien eine Rechtswahl nach § 1051 Abs. 1 ZPO getroffen, wendet das Schiedsgericht aber bei grundsätzlicher Anerkennung der Wirksamkeit der Rechtswahl Verbraucherprivilegien der Rom I-VO an, so liegt eine Verletzung einer Verfahrensvereinbarung vor. Es genügt nicht, dass die Schiedsrichter eine Rechtswahl berücksichtigen, sie müssen es in der Weise tun, die § 1051 Abs. 1 ZPO vorschreibt. Das ist es, was sie vereinbart haben. Eine andere Situation ergibt sich, wenn das Schiedsgericht nach § 1051 Abs. 2 ZPO verfährt, aber neben dem nach dieser Norm ermittelten materiellen Recht die Verbraucherprivilegien nach der Rom I-VO anwendet. Hier liegt lediglich eine unrichtige Entscheidung vor, die – gemäß dem Grundsatz des Verbots der révision au fond – hinzunehmen ist. Es gilt dasselbe wie bei fehlerhafter Anwendung der Kriterien des § 1051 Abs. 2 ZPO. d) Durchbrechung des Grundsatzes des Verbots der révision au fond entsprechend der Ausnahmen von der Nichtrevisibilität fremden Rechts? Im Prozess vor staatlichen Gerichten gilt der Grundsatz, dass ausländisches Recht nicht revisibel ist. Trotz der Aufhebung dieses zum Dogma erhobenen Prinzips – manifestiert in § 545 ZPO (§ 549 a.F. ZPO) – durch das

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FGG-Reformgesetz hält der BGH daran fest17. Die Rechtsprechung lässt aber bei besonderen Konstellationen Durchbrechungen zu. Es erscheint überlegenswert, ob die Grundsätze der Nachprüfungsbefugnis fremden Rechts durch das Revisionsgericht im Verfahren vor den staatlichen Gerichten nicht eine Entsprechung in der Nachprüfungsmöglichkeit fremden Rechts im Aufhebungs- oder Vollstreckbarerklärungsverfahren von Schiedssprüchen durch das Oberlandesgericht haben. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Nachprüfungsverbot des § 545 ZPO um die Feststellung und Anwendung materiellen ausländischen Rechts handelt während Gegenstand dieser Betrachtung die unrichtige Anwendung von Kollisionsrecht ist. Aber auch, wenn eine direkte Analogie sich verbietet, mag es sich lohnen zu untersuchen, ob nicht die Situationen, in denen die Rechtsprechung eine Durchbrechung des Nachprüfungsverbots im Revisionsverfahren – zumindest teilweise – zulässt, eine Durchbrechung des Verbots der révision au fond in der Schiedsgerichtsbarkeit rechtfertigen. aa) Die Nichtanwendung von Kollisionsrecht Hat der Instanzrichter die kollisionsrechtliche Frage übersehen und bei einem internationalen Fall unter Auslassung der Bestimmung des anwendbaren Rechts entschieden, so ist die Rechtsanwendung revisibel. Denn hier wird nicht über die Auslegung und Anwendung einer ausländischen Norm entschieden, sondern darüber ob deutsches Kollisionsrecht angewendet wurde. Dieselbe Konstellation kann auch im schiedsgerichtlichen Verfahren auftreten. In einem Schiedsverfahren über ein Bauprojekt in den Golfstaaten umging das Schiedsgericht die Entscheidung der kollisionsrechtlichen Frage und wandte die VOB auf die streitentscheidende Frage an, weil – so die schiedsrichterliche Begründung – die VOB „Weltrecht“ sei. Hier hatte das Schiedsgericht nicht das internationale Privatrecht falsch, sondern überhaupt nicht angewendet. Es lag in Wirklichkeit eine Entscheidung nach § 1051 Abs. 3 ZPO vor. Das Schiedsgericht hatte den Inhalt der VOB als „recht und billig“ angesehen. Zu einer solchen Vorgehensweise hätte es aber des Einverständnisses der Parteien bedurft. Es lag ein Verfahrensfehler nach § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit d ZPO vor, der die Überprüfung der Entscheidung öffnete und die Entscheidung aufhebbar machte18. Aden19 sieht offenbar bei Nichtanwendung von Kollisionsrecht einen Verstoß gegen eine Verfahrensvereinbarung und fasst zusammen: 17 Vgl. BGH NJW 2013, 3656 = WM 2013, 1894, vgl dazu eingehend Prütting, Die Überprüfung ausländischen Rechts in der Revisionsinstanz, FS Schütze II, 2014, S. 459 ff. 18 Vgl. Schwab/Walter, Kap. 19, Rn. 15; Wieczorek/Schütze/Schütze § 1051, Rn. 40. 19 Vgl. Aden Wrong Anwers to Wrong Questions? A New Approach to Judicial Review of International Arbitral Awards, Revista Brasileira de Arbitragem Bd. XII (2013), 55 ff.

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The arbitrator must (….) apply the substantive law in the same way as the state court judge of that jurisdiction would do. In the reasons of the award the arbitrator must show that he did this.

Ob man das Vorliegen eines Verfahrensfehlers annimmt oder die Missachtung einer Verfahrensvereinbarung ist letztlich egal. Beides macht den Spruch überprüfbar. bb) Die Nichtanwendung unbekannter Norm § 545 Abs. 1 ZPO hindert die Nachprüfung einer ausländischen Norm dann nicht, wenn der Tatsachenrichter sie nicht angewendet hatte,20 sei es weil sie ihm unbekannt war,21 sei es, dass sie erst nach Urteilserlass in Kraft getreten ist.22 Eine solche Konstellation führt nicht zu einer Durchbrechung des Prinzips des Verbots der révision auf fond. Das Schiedsgericht entscheidet aufgrund der Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung. Tritt eine Rechtsnorm danach in Kraft, so darf das Schiedsgericht diese nicht berücksichtigen. Der unterlegenen Partei bleibt nur die von der h.L. abgelehnte, von Schlosser favorisierte Wiederaufnahme23 oder ein Verfahren nach § 826 BGB. cc) Der unfähige Gutachter Der BGH24 nimmt eine Revisionsbefugnis auch bei mangelnder Qualifikation des Sachverständigen an.25 Das ist für die Frage der Durchbrechung des Verbots der révision au fond grundsätzlich bedeutungslos. Die Berücksichtigung des Gutachtens eines ungeeigneten Sachverständigen mag zu einem unrichtigen Spruch führen. Das ist aber nach deutschem Schiedsverfahrensrecht hinzunehmen. Es mögen Ausnahmefälle vorliegen, etwa wenn das Schiedsgericht einen Sachverständigen ohne jegliche Qualifikation und Kenntnisse für die Beweisfrage bestellt. Das war in einem Verfahren der Fall, in dem es um den Zustand von Wassertanks ging und der Sachverständige erklärte, er könne die Tanks von innen nicht besichtigen, da er Höhenangst habe und die Leiter nicht heraufsteigen könne. Der Sachverständige verließ sich auf Zurufe der Parteivertreter, die die Tanks erklommen. In sol20 Vgl. Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 7. Aufl. (2017), Rn. 725; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. (2020), Rn. 2610. 21 Vgl. BGHZ 40, 197. 22 Vgl. BGHZ 36, 348. 23 Vgl. Schlosser, Schiedsgerichtsbarkeit und Wiederaufnahme, FS Gaul (1997), S. 680 ff.; Schlosser, Die Wiederaufnahme im Recht der Schiedsgerichtsbarkeit, FS Prütting (2018), S. 877 ff. 24 Vgl. BGH EWS 1991, 396. 25 Vgl. dazu Schütze, EWS 1991, S. 372 f.; Samtleben, Der unfähige Gutachter und die ausländische Rechtspraxis, NJW 1992, 3057 ff.

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cher Situation war der Spruch aufhebbar, nicht weil der Sachverständige unfähig war, sondern seine Aufgabe aus körperlichen Gründen nicht erfüllen konnte und deshalb ein Verfahrensfehler vorlag. In den beiden zur Nichtrevisibilität vom BGH entschiedenen Fällen waren beide Sachverständige hochqualifiziert. Der BGH wollte nur das Ergebnis, das ihm nicht passte, korrigieren26. dd) Das gemissbilligte Ergebnis Im Rahmen von § 545 ZPO durchbricht der BGH den Grundsatz der Nichtrevisibilität ausländischen Rechts dann, wenn ihm das Ergebnis nicht gefällt. So war es in der BGH Entscheidung vom 13.5.199727. Hier ging es um die Wirksamkeit einer Bankgarantie auf 1. Anfordern nach luxemburgischen Recht, die nach der Ansicht eines Gerichtsgutachters in der Instanz auch von Privatleuten wirksam ausgelegt werden konnte. Das ging dem BGH gegen den Strich und so schrieb er dem Tatrichter ins Stammbuch, dass er in dem Fall, dass auch weitere Ermittlungen zum luxemburgischen Recht kein anderes Ergebnis brächten, ein Verstoss gegen den ordre public zu prüfen sei. Der Fall eines gemissbilligten Ergebnisses bei Anwendung einer Rechtsnorm bringt im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung eines Schiedsspruchs keine Probleme. § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit b ZPO statuiert den Verstoß gegen den ordre public als Aufhebungsgrund. Das Verbot der révision au fond hindert nicht die Überprüfung des Schiedsspruchs auf einen Verstoss gegen den deutschen ordre public. Das gilt sowohl für den materiellrechtlichen wie den verfahrensrechtlichen ordre public28 in allen Ausgestaltungen. Der ordre public wird in Rechtsprechung und Literatur wie ein Chamäleon behandelt, das Form und Farbe ständig wechselt. Der ordre public soll als ordre public transnational, ordre public international ordre public interne29, kollisionsrechtlicher und anerkennungsrechtlicher ordre public30, ordre public atténué31 wechselnde Intensität haben. Das ist mit rationalen Argumenten kaum zu rechtfertigen. Denn der ordre 26 Vgl. dazu Samtleben, Der unfähige Gutachter und die ausländische Rechtspraxis, NJW 1992, 3057 ff.; Schütze, Der Abschied von der Nichtrevisibilität ausländischen Rechts?, EWS 1991, 372 f.; Sommerlad, Grundsätze für die Ermittlung ausländischen Rechts im Zivilprozess, RIW 1991, 856. 27 Vgl. BGH TIW 1997, 687 = DZWIR 1997, 329 mit Anm. Schütze. 28 Vgl. Wieczorek/Schütze/Schütze § 1059, Rn. 58. 29 Vgl. dazu Kornblum, „Ordre public transnational“, „ordre public international“ und „ordre public interne“ im Recht der privaten Schiedsgerichtsbarkeit, FS Nagel (1987), S. 140 ff. 30 Vgl. dazu Geimer, der anerkennungsrechtliche Ordre Public, FS Aeropag, Bd, V (2007), S. 107 ff. 31 Vgl. Sandrock, „Scharfer“ ordre public interne und „laxer“ ordre public international?, FS Sonnenberger (2004), S. 615 ff.

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public ist unteilbar. Entweder verstößt die Wirkungserstreckung eines Schiedsspruchs gegen grundlegende Prinzipien des deutschen Rechts oder sie tut es nicht. Das allein ist die Messlatte für die Anwendung des ordre public. 4. Rechtsfolgen unrichtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung Haben die Parteien eine zulässige Rechtswahl getroffen, so führt deren Nichtberücksichtigung zu einer Abweichung von einer Verfahrensvereinbarung. Die unrichtige kollisionsrechtliche Anknüpfung führt in diesem Fall zur Überprüfung der Rechtswahlvereinbarung und Aufhebung des Schiedsspruchs nach § 1059 Abs. 1 Nr. 1 lit d ZPO. Dasselbe gilt bei der unrichtigen Anwendung des Kollisionsrechts nach § 1051 Abs. 1 ZPO, wenn das Schiedsgericht die Rom I-VO neben oder anstelle des § 1051 ZPO anwendet, weil es die Regelung in § 1051 ZPO nicht für abschließend hält. Auch wenn das Schiedsgericht eine kollisionsrechtliche Entscheidung vermeidet, weil es diese für überflüssig hält oder unfähig ist, eine solche Entscheidung zu fällen, ist der Spruch überprüfbar. Es liegt in Wahrheit ein Spruch nach § 1051 Abs. 3 ZPO vor, der – wenn die Parteien die Schiedsrichter nicht zu einer Billigkeitsentscheidung ermächtigt haben, aufhebbar ist. Würde die Wirkungserstreckung des Schiedsspruches zu einem für die deutsche Rechtsordnung unerträglichen Ergebnis führen, so liegt ein Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit b ZPO vor. In allen anderen Fällen unrichtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung ist eine Überprüfung des Schiedsspruchs ausgeschlossen. Das Verbot der révision au fond gilt uneingeschränkt. Fehlentscheidungen müssen hingenommen werden.

II. Die Anwendung materiellen Rechts im internationalen Schiedsverfahren 1. Unrichtige Anwendung des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen Rechts Fehler bei der Entscheidung unter Anwendung des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen Rechts bleiben folgenlos. Die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts fällt unter das Verbot der révision au fond. Unrichtige Schiedssprüche sind ebenso hinzunehmen wie unrichtige Urteile staatlicher Gerichte.

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Aden32 vertritt scheinbar eine abweichende Meinung, wenn er eine – teilweise – Überprüfung der richtigen Anwendung des kollisionsrechtlich zur Anwendung berufenen Sachrechts zulassen will mit der Begründung, Schiedsklausel und Rechtswahl seien dahin auszulegen, dass die Parteien nur unter der Bedingung auf staatlichen Rechtschutz verzichten, dass das Schiedsgericht das berufene Recht richtig anwendet. Das entspricht seiner früher entwickelten Geprägetheorie.33 Aden geht aber nicht so weit, das Verbot der révision au fond in Frage zu stellen. Er will nur in extensiver Auslegung von § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. d ZPO die falsche Rechtsanwendung als Verfahrensverstoß werten. Aber auch das geht zu weit. Damit wird einer Überprüfung durch die staatlichen Gerichte Tür und Tor geöffnet. 2. Rechtsfolgen unrichtiger Rechtsanwendung. Die unrichtige Anwendung kollisionsrechtlich anwendbaren ausländischen Sachrechts führt nicht zu einer Überprüfung über die in § 1059 ZPO normierten Fälle hinaus. Das Verbot der révision au fond gilt für Schiedssprüche nach fremdem Recht ebenso wie für Schiedssprüche nach deutschem Recht. Die Grenze ist da, wo das Ergebnis der Anwendung fremden Rechts zu einem Verstoß gegen den ordre public führt. Hier eröffnet § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO eine Überprüfungsmöglichkeit. Hierunter sind auch die Fälle zu fassen, in denen dem BGH im Revisionsverfahren das Ergebnis der Anwendung fremden Rechts nicht gefallen und ausländisches Recht für revisibel gehalten hat.

III. Fazit 1. § 1051 ZPO ist eine echte Kollisionsnorm, neben der die Rom I-VO keine Anwendung findet. 2. Für die Überprüfung der schiedsgerichtlichen Entscheidung auf die richtige Anwendung des Kollisionsrechts und des materiellen Rechts gilt der Grundsatz der Verbots der révision au fond. Falsche schiedsgerichtliche Entscheidungen müssen hingenommen werden, solche von Schiedsgerichten ebenso wie solche von staatlichen Gerichten. 3. Dieser Grundsatz erleidet mehrere Durchbrechungen: Hat das Schiedsgericht entgegen der Rechtswahl der Parteien nach § 1051 Abs. 1 ZPO nach 32 Vgl. Aden Verfahrensverstoß durch fehlerhafte Rechtsanwendung im Schiedsgerichtsverfahren, DZWIR 2011, 400 ff. in ähnlicher Weise Aden, Wrong Anwers to Wrong Questions? A New Approach to Judicial Review of International Arbitral Awards, Revista Brasileira de Arbitragem Bd. XII (2013), 55 ff. 33 Vgl. Aden Die Anwendung materiellen Rechts durch den Schiedsrichter, RIW 1984, 934 ff.

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einem anderen als dem von den Parteien gewählten Recht entschieden, so liegt eine Verletzung einer Verfahrensvereinbarung vor, die zur Aufhebbarkeit der schiedsgerichtlichen Entscheidung nach § 1059 Abs. 1 Nr. 1 lit d ZPO führt. Hat das Schiedsgericht unter rechtsirriger Anwendung von § 1051 Abs. 2 ZPO ein nichtanwendbares Recht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, so kann das nicht nachgeprüft werden. Die möglicherweise unrichtige Entscheidung ist hinzunehmen. Hat das Schiedsgericht entschieden, ohne eine kollisionsrechtliche Anknüpfung vorzunehmen, so liegt in Wahrheit eine Anwendung des § 1051 Abs. 3 ZPO vor, die zur Aufhebung der schiedsgerichtlichen Entscheidung führt, wenn keine Zustimmung der Parteien vorliegt. Würde die Wirkungserstreckung des Schiedsspruches – unabhängig von aber auch bei unrichtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung – zu einem für die deutsche Rechtsordnung unerträglichen Ergebnis führen, so liegt ein Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit b ZPO vor. Die unrichtige Anwendung des unter richtiger kollisionsrechtlicher Anknüpfung bestimmten Rechts, eröffnet nicht die Durchbrechung des Grundsatzes des Verbots der révision au fond. Der so ergangene Schiedsspruch unterliegt keiner sachlichen Nachprüfung.

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Disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH – gesellschaftsrechtl. Todsünde? 859 Disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH – gesellschaftsrechtl. Todsünde? Wolfgang Servatius

Disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH – gesellschaftsrechtliche Todsünde? WOLFGANG SERVATIUS

I. II. III. IV. V.

Einführung, Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unergiebiges Meinungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht begründbare Analogie zu § 53 Abs. 3 GmbHG . . . Verfehlter Rückgriff auf die überholte Kernbereichslehre Zustimmungserfordernis auf Grund des Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches Zustimmungsrecht der benachteiligten Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahme bei sachlicher Rechtfertigung . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung, Problemstellung Im Mittelpunkt gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten stehen vielfach Konflikte zwischen Mehrheit und Minderheit über die Beteiligung am Ergebnis – sei es bei der Teilhabe am periodischen Gewinn, bei der Ermittlung des Abfindungsbetrags nach Ausscheiden oder bei der Vermögensverteilung nach Auflösung der Gesellschaft. Die gesetzliche Ausgangslage ist ziemlich eindeutig: Die vermögensmäßige Beteiligung richtet sich nach den Nennbeträgen der übernommenen Geschäftsanteile, vgl. nur § 29 Abs. 3 S. 1 und § 72 S. 1 GmbHG. In der Praxis gibt es indessen aus verschiedenen Gründen Ansätze, hiervon abzuweichen.1 Dies ist auch prinzipiell nicht zu beanstanden (vgl. § 29 Abs. 3 S. 2 und § 72 S. 2 GmbHG). Als besonders problematisch erscheint es aber, solche Abweichungen nachträglich mittels Satzungsänderung zu verwirklichen, wenn nicht alle einverstanden sind. In diesen Fällen stellt sich grundlegend die Frage, ob die von einer disquotalen Ergebnisverteilung nachteilig betroffenen Gesellschafter hierbei zwingend 1 Dieser Beitrag beruht auf Überlegungen des Verf. zu einem konkreten Fall aus der Praxis.

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ein individuelles Zustimmungsrecht jenseits der ohnehin erforderlichen Beschlussfassung haben oder ob es nicht vielmehr geboten ist, die Minderheiteninteressen unmittelbar im Rahmen der Beschlussfassung und damit innerhalb der gesetzlich angelegten Mehrheitsherrschaft angemessen zu berücksichtigen. Die Bedeutung dieser Differenzierung ist keineswegs akademisch: Ein jenseits der Beschlussfassung angesiedeltes individuelles Zustimmungserfordernis begründet eine externe Wirksamkeitsvoraussetzung für die Beschlussfassung, welche hierdurch zu einem erweiterten Gesamttatbestand wird.2 Fehlt die Zustimmung, liegt Unwirksamkeit der Beschlussfassung vor, welche eine auch im Aktienrecht nicht geregelte Kategorie des Beschlussmängelrechts ist. Ein diesbezüglicher Mangel kann daher jederzeit im Wege der allgemeinen Feststellungsklage geltend gemacht werden.3 Gelangt man indessen zu der Erkenntnis, dass der Minderheitenschutz allein bei der rechtlichen Würdigung des Mehrheitsbeschlusses zu erfolgen hat, wäre es konsequent, etwaige Mängel auch gerichtlich nach Maßgabe der §§ 241 ff. AktG (analog) zu beurteilen, was insbesondere wegen der Anfechtungsfrist relevant ist. Für einen derartigen Ansatz stehen durchaus etablierte gesellschaftsrechtliche Instrumente bereit, vor allem die Treuepflicht und der Gleichbehandlungsgrundsatz. Nachfolgend ist daher der Frage nachzugehen, welche rechtlichen Vorgaben bestehen, wenn eine disquotale Ergebnisverteilung bei der GmbH nachträglich mittels Satzungsänderung eingeführt werden soll. II. Unergiebiges Meinungsspektrum Die Analyse des bisherigen Meinungsspektrums hierzu fällt bei genauerer Betrachtung etwas ernüchternd aus. Man kann zunächst eine durchaus herrschende Meinung erkennen, wonach bei einer Modifizierung des Ergebnisverteilungsschlüssels die nachteilig betroffenen Gesellschafter zustimmen müssen. So tendiert in diese Richtung einmal die Rechtsprechung. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 führte das BayObLG aus, dass eine Satzungsbestimmung, welche eine abweichende Verteilung des ausgeschütteten Gewinns gemäß § 29 Abs. 3 S. 2 GmbHG durch gesonderte Beschlussfassung ermögliche (Öffnungsklausel), unbedenklich sei, wenn die entsprechenden nachfolgenden Beschlussfassungen „von der Zustimmung des Betroffenen“ abhingen.4 Das OLG München entschied im Jahr 2011 ähnlich. Auch dort ging es um die rechtliche Beurteilung einer satzungsmäßigen Öffnungsklausel, welche eine abweichende Gewinnverteilung gemäß § 29 2 3 4

Vgl. etwa Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 20. Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 22. BayObLG MittBayNot 2002, 201, 201 f.

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Abs. 3 S. 2 GmbHG ermöglichen sollte. Das Gericht entschied, dass wegen der in diesem Fall tatsächlich erfolgten Zustimmung aller Gesellschafter die „für eine Umgestaltung des gesetzlichen oder satzungsmäßigen Verteilungsmaßstabs erforderliche Zustimmung aller Gesellschafter“ gegeben sei.5 Auch die einschlägige Literatur sieht dies im Wesentlichen gleichermaßen: Eine gemäß § 29 Abs. 3 S. 2 GmbHG grundsätzlich zulässige Abweichung vom Verteilungsschlüssel gemäß § 29 Abs. 3 S. 1 GmbHG sei durch entsprechende nachträgliche Satzungsregelung möglich.6 In den Fällen, in denen die Gesellschafter hierdurch ungleich betroffen sind, ist aber nach einhelliger Meinung auch die Zustimmung aller jeweils gegenüber der bisherigen Regelung zurückgesetzten Gesellschafter erforderlich.7 Im Hinblick auf eine satzungsmäßigen Modifizierung der Vermögensverteilung bei Liquidation gemäß § 72 S. 2 GmbH stellt sich das Meinungsbild ähnlich dar: Wiederum gehen die meisten Literaturansichten davon aus, dass eine nachträgliche Modifizierung auch der Zustimmung der hierdurch benachteiligten Gesellschafter bedarf.8 Wenngleich es somit durchaus der herrschenden Meinung entspricht, ein Zustimmungserfordernis der hiervon nachteilig betroffenen Gesellschafter bei entsprechenden Satzungsänderungen gemäß § 29 Abs. 3 S. 2 GmbHG bzw. § 72 S. 2 GmbHG zu bejahen, ist die dogmatische Grundlage hierfür keinesfalls klar. Vielmehr ergibt eine Analyse der betreffenden Ausführungen ein kontroverses und recht oberflächliches Bild: Die o.g. Entscheidung des BayObLG aus dem Jahr 2001 lässt jedenfalls nicht erkennen, auf welcher dogmatischen Grundlage das in Rede stehende Zustimmungserfordernis beruht. Vielmehr wird allein recht pauschal angeführt, die „Frage des Minderheitenschutzes stelle sich nicht“, wenn eine Zustimmung, wie im dort zu entscheidenden Fall, satzungsmäßig vorgesehen sei.9 Welche konkreten rechtlichen Minderheitenschutzinstrumente gemeint sind, wird nicht deutlich. Auch die Entscheidung de OLG München aus dem Jahr 2001 lässt diese Frage offen, wenn es lediglich heißt, die „für eine Umgestaltung des 5

OLG München MittBayNot 2011, 416, 417. Unstreitig, vgl. nur Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, § 29 Rn. 53. 7 Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, § 29 Rn. 53; MünchKomm GmbHG/Ekkenga § 29 Rn. 193; Bork/Schäfer/Witt, GmbHG, § 29 Rn. 30; Hommelhoff, in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 29 Rn. 30; Henssler/Strohn/Strohn, GesR, § 29 GmbHG Rn. 49; Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt/Mock, GmbHG, § 29 Rn. 214; Rowedder/SchmidtLeithoff/Pentz, GmbHG, § 29 Rn. 109; Pörschke DB 2017, 1165. 8 Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 72 Rn. 12; Michalski/Heidinger/Leible/ J. Schmidt/Nerlich, GmbHG, § 72 Rn. 26; Roth/Altmeppen, GmbHG, § 72 Rn. 4; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Gesell, GmbHG, § 72 Rn. 13; MünchKomm GmbHG/Müller § 72 Rn. 18; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 72 Rn. 14; Henssler/Strohn/Büteröwe, GesR, § 72 GmbHG Rn. 11; Hoffmann GmbHR 1976, 258, 267; wohl auch Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 72 Rn. 10. 9 BayObLG MittBayNot 2002, 201, 201 f. 6

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gesetzlichen oder satzungsmäßigen Verteilungsmaßstabs erforderliche Zustimmung aller Gesellschafter“ müsse gegeben sein.10 Wiederum wird noch nicht einmal ansatzweise deutlich, auf welcher rechtlichen Grundlage und in welchem Umfang das postulierte Zustimmungserfordernis beruht. Die Literaturansichten stellen, wenn überhaupt, im Wesentlichen auf drei Argumentationsmuster ab: Einige sprechen sich dafür aus, das Zustimmungserfordernis in Analogie zu § 53 Abs. 3 GmbHG zu begründen.11 Andere begründen die notwendige Zustimmung auf der Grundlage der gesellschaftsrechtlichen Kernbereichslehre,12 wiederum andere aufgrund des gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes.13 Im Hinblick auf eine satzungsmäßige Veränderung der Vermögensverteilung zeigt sich ein vergleichbares Bild, sofern überhaupt auf eine dogmatische Begründung eingegangen wird.14 Angesichts dieser indifferenten und keineswegs hinreichend konkretisierten Rechtslage zu den Zustimmungsbedürfnissen bei der nachträglichen satzungsmäßigen Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung ist daher im Hinblick auf die erforderliche Rechtssicherheit genauer herauszuarbeiten, welche Betrachtung die zutreffende ist und welche Konsequenzen hieraus resultieren. Hierbei wird sich zeigen, dass für die hier in Rede stehende Problematik richtigerweise allein die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht und der Gleichbehandlungsgrundsatz sedes materiae für die rechtliche Beurteilung der Zustimmungserfordernisse sind.

III. Nicht begründbare Analogie zu § 53 Abs. 3 GmbHG Die Literaturansichten, welche sich auf § 53 Abs. 3 GmbHG stützen, vermögen nämlich nicht hinreichend darzulegen, dass die methodischen Voraus10

OLG München MittBayNot 2011, 416, 417. Roth/Altmeppen, GmbHG, § 29 Rn. 49, 6; missverständlich aber Roth/Altmeppen, GmbHG, § 53 Rn. 45, wenn er die Fälle der Entziehung von Rechten als „jenseits von § 53 Abs. 3 GmbHG“ einordnet; Bork/Schäfer/Witt, GmbHG, § 29 Rn. 30; MünchKomm GmbHG/Ekkenga § 29 Rn. 194; Hommelhoff, in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 29 Rn. 39. 12 M. Winter, Mitgliedschaftliche Treuebindungen, S. 137; Ulmer/Casper, in Ulmer/ Habersack/Löbbe, GmbHG, § 53 Rn. 69; Henssler/Strohn/Gummert, GesR, § 53 GmbHG Rn. 32. 13 Scholz/Verse, GmbHG, § 29 Rn. 76; Henssler/Strohn/Strohn, GesR, § 29 GmbHG Rn. 49; Müller, in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 29 Rn. 80; Baumbach/Hueck/ Kersting, GmbHG, § 29 Rn. 33, 53; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Pentz, GmbHG, § 29 Rn. 109, freilich undeutlich im Hinblick auf die Adressaten des Zustimmungsrechts (alle oder nur die Betroffenen?). 14 Für Rückgriff auf Kernbereichslehre Henssler/Strohn/Büteröwe, GesR, § 72 Rn. 10; auf Gleichbehandlungsgrundsatz abstellend Rowedder/Schmidt-Leithoff/Gesell, GmbHG, § 72 Rn. 13 (unter Hinweis auf RG JW 1915, 355). 11

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setzungen für eine Analogie oder entsprechende Anwendung vorliegen. Den Ausgangspunkt für diese Betrachtung liefert eine genaue Analyse der Literaturstimmen, die sich im Ergebnis für eine Anwendung von § 53 Abs. 3 GmbH auf die Fälle des § 29 Abs. 3 S. 2 GmbHG durch nachträgliche Satzungsänderung aussprechen. Hierbei zeigt sich, dass eine methodengeleitete Begründung dieses Ergebnisses keineswegs mit der hinreichenden Präzision ausgeführt wird. Es zeigt sich vielmehr umgekehrt, dass die betreffenden Ansichten es geradezu vermeiden, eindeutig herauszuarbeiten, auf welcher methodischen Grundlage § 53 Abs. 3 GmbHG Geltung beanspruchen soll. Manche behaupten das entsprechende Zustimmungsbedürfnis ohne jegliche Begründung und gelangen so zur Konsequenz, es bedürfe keines Rückgriffs auf Treuepflicht oder Gleichbehandlungsgrundsatz.15 Andere behelfen sich mit undeutlichen Aussagen, § 53 Abs. 3 GmbHG sei „entsprechend“ anwendbar16 oder der „Rechtsgedanke von § 53 Abs. 3 GmbHG“ sei maßgeblich.17 Wiederum andere führen an, § 53 Abs. 3 GmbHG sei „extensiv dahin auszulegen“, dass auch Eingriffe in mitgliedschaftliche Vermögensrechte erfasst seien.18 Andere schließlich lassen die Problematik der Abgrenzung von § 53 Abs. 3 GmbHG in unmittelbarer oder analoger Anwendung sowie das Verhältnis zum Gleichbehandlungsgrundsatz ausdrücklich in Gänze offen, weil es hierauf im praktischen Ergebnis nicht ankomme.19 Dass keine dieser pauschalen Begründungsansätze geeignet ist, im Ergebnis § 53 Abs. 3 GmbHG auf den Fall nachträglicher disquotaler Ergebnisverteilungsregelungen anzuwenden, dürfte auf der Hand liegen. Es bedarf vielmehr einer methodengeleiteten Untersuchung, auf welche Weise der ggf. zu verwirklichende Minderheitenschutz gewährleistet wird. Hierbei muss indessen von vornherein klargestellt werden, dass § 53 Abs. 3 GmbHG eine völlig andere, nämlich umgekehrte Gefahrenlage regelt: Die Zustimmungspflicht knüpft an die „Vermehrung der den Gesellschaftern nach dem Gesellschaftsvertrag obliegenden Leistungen“ an. Bei der hier in Rede stehenden nachträglich eingeführten disquotalen Ergebnisverwendung geht es indessen nicht darum, dass die betroffenen Gesellschafter hierdurch etwas (mehr)leisten müssen, sondern um eine Verkürzung ihrer bisherigen Rechte. Es liegt somit ein evidentes Aliud vor, welches bereits für sich genommen ein sehr starkes Indiz dafür ist, dass es an einer vergleichbaren Rechts- und Interessenlage für eine Analogie oder entsprechende Anwendung fehlt.20 Für Michalski/Heidinger/J. Schmidt/Mock, GmbHG, § 29 Rn. 214. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 29 Rn. 39. 17 Bork/Schäfer/Witt, GmbHG, § 29 Rn. 30. 18 MünchKomm GmbHG/Ekkenga § 29 Rn. 194. 19 Henssler/Strohn/Gummert, GesR, § 53 GmbHG Rn. 30. 20 Dies überhaupt nicht problematisierend Henssler/Strohn/Gummert, GesR, § 53 GmbHG Rn. 30; wie hier aber im Ergebnis Michalski/Heidinger/J. Schmidt/Hoffmann, GmbHG, § 53 Rn. 87, freilich mit wenig überzeugender Begründung, wonach die gesell15 16

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eine telelogische Extension gilt dies erst recht, immerhin wird der Wortlaut hier nicht erweitert, sondern contra legem ins Gegenteil verkehrt. Dieser Befund wird unter teleologischen Aspekten dadurch untermauert, dass § 53 Abs. 3 GmbHG nicht an das Bedürfnis nach Gleichbehandlung anknüpft und diese gewährleistet. Vielmehr wird hierdurch ein völlig anderes, hiervon unabhängiges zwingendes Strukturprinzip des gesamten Gesellschaftsrechts absichert, nämlich das Verbot ungewollter Nachschusspflichten.21 Im Einklang mit § 707 BGB und § 180 Abs. 1 AktG ordnet die Regelung an, dass eine (durchaus weit zu verstehende!)22 Leistungsvermehrung zu Lasten eines Gesellschafters oder aller Gesellschafter von deren individueller Zustimmung abhängt. Es geht somit nicht um eine im Mehrheitsprinzip angelegte Schranke der Beschlussfassung, sondern um die aus Art. 2 Abs. 1 GG in Gestalt der negativen Vertragsfreiheit folgende absolute Grenze, dass niemandem gegen seinen individuellen Willen („Zustimmung“) weitere gesellschaftsvertragliche Leistungspflichten auferlegt werden dürfen (vgl. insofern auch die verallgemeinerungsfähige Regelung gemäß § 54 Abs. 1 AktG). Sieht man daher, wie bei der hier in Rede stehenden nachträglichen Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung, richtigerweise keine Leistungsvermehrung, sondern eine negative Beeinträchtigung bereits bestehender Mitgliedschaftsrechte, verdeutlicht sich auch aus dieser Perspektive, dass für die im Wege der Analogie zu begründende Zustimmung gemäß § 53 Abs. 3 GmbHG mangels vergleichbarer Interessenlage kein Raum ist. Der Verlust eines Rechts ist vielmehr strukturell anders ausgestaltet als die Begründung weiterer Leistungspflichten. Ersteres kann durchaus Gegenstand eines Mehrheitsbeschlusses sein, was der Extremfall des Verlusts der Mitgliedschaft infolge Ausschlusses verdeutlicht;23 Letzteres geht prinzipiell nur mit Zustimmung es Betroffenen.24 Eine analoge Anwendung von § 53 Abs. 3 GmbHG mit einem hieraus begründeten Zustimmungserfordernis der durch die disquotale Ergebnisverteilung benachteiligten Gesellschafter scheidet daher auch aus diesem Grund aus. Konsequenterweise können auf dieser Grundlage keine rechtlichen Erwägungen für die Rechtmäßigkeit der nachträglichen Einführung einer disquo-

schaftsfreie Sphäre in diesen Fällen unberührt bleibe; Rowedder/Schmidt-Leithoff/ Schnorbus, GmbHG, § 53 Rn. 71; vgl. auch BGH NJW 1992, 892. 21 Dies anerkennend auch Roth/Altmeppen, GmbHG, § 53 Rn. 47. 22 Vgl. nur MünchKomm GmbHG/Harbarth § 53 Rn. 134. 23 Vgl. hierzu nur Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, Anh. § 34 Rn. 9 (m.w.N.). 24 Vgl. hierzu im Hinblick auf Nachschüsse statt aller nur Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, § 26 Rn. 7; im Rahmen des „Sanierens oder Ausscheidens“ bei Personengesellschaften auch Henssler/Strohn/Servatius, GesR, § 707 BGB Rn. 10; MünchKomm BGB/ Schäfer, § 707 Rn. 10, auch unter Hinweis auf den historischen Gesetzgeber (Mot. Bei Mugdan II, S. 333 f.).

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talen Ergebnisverteilung folgen. Vor allem ist es richtigerweise nicht möglich, gestützt auf § 53 Abs. 3 GmbHG (analog) ein jenseits der notwendigen Beschlussfassung angesiedeltes individuelles Zustimmungserfordernis der Gesellschafter zu etablieren, welches der Wirksamkeit der Satzungsänderung als Gesamttatbestand dauerhaft entgegen stehen könnte.

IV. Verfehlter Rückgriff auf die überholte Kernbereichslehre Die Ablehnung einer analogen Anwendung von § 53 Abs. 3 GmbHG lenkt den Blick auf die Kernbereichslehre, welche nach anderen Teilen der Literatur die dogmatische Grundlage für Zustimmungserfordernisse sein soll. Diesen Ansichten ist im Ausgangspukt zuzugeben, dass die Kernbereichslehre, anders als § 53 Abs. 3 GmbHG, durchaus ein geeignetes Mittel ist, den Entzug von Gesellschafterrechten rechtlich auszugestalten. So hat sich unter dieser Bezeichnung über Jahrzehnte hinweg (vornehmlich bei den Personengesellschaften, aber durchaus verallgemeinerungsfähig) eine herrschende Meinung herausgebildet, wonach der Eingriff in unentziehbare Gesellschafterrechte oder in den Kernbereich der Mitgliedschaft aufgrund Satzungsänderung nur mit Zustimmung der nachteilig Betroffenen zulässig sei.25 Wenngleich es letztlich niemals gelungen ist, die relevanten Tatbestandsmerkmale für die „Wesentlichkeit“ eines Gesellschafterrechts oder den „Kernbereich“ der Mitgliedschaft allgemein gültig herauszuarbeiten, muss doch anerkannt werden, dass dieser Ansatz jedenfalls eine taugliche dogmatische Grundlage sein kann, die Zulässigkeit der Beeinträchtigung der Vermögensrechte eines Gesellschafters einzuschränken, wenn und soweit die Zustimmung nicht erteilt wurde. Gleichwohl ist zu bedenken, dass die Kernbereichslehre mittlerweile entgegen der vielfachen Wahrnehmung in der (GmbH-rechtlichen) Literatur keineswegs mehr die Bedeutung hat, wie es den Anschein haben könnte. Dies gilt insbesondere für einen hierauf gestützten Versuch, die Unzulässigkeit einer Beschränkung mittels Mehrheitsbeschlusses oder umgekehrt das Bestehen eines Zustimmungserfordernisses der Betroffenen hieraus gleichsam kategorisch abzuleiten. Vielmehr zeigt sich bei einer genaueren Analyse der Rechtsentwicklung, dass bei den hier in Rede stehenden relativ unentziehbaren Rechten26 keine Alles-oder-nichts-Betrachtung angezeigt ist, wonach gleichsam formal das Vorliegen der gebotenen Zustimmung als Rechtmäßigkeits- bzw. Wirksamkeitserfordernis erachtet wird. Geht es nämlich 25 Grundlegend BGH NJW 1956, 1198 (zum Recht der Personengesellschaften); zum Ganzen etwa MünchKomm BGB/Schäfer § 709 Rn. 91 ff.; zur GmbH Baumbach/ Hueck/Fastrich, GmbHG, § 14 Rn. 14. 26 Vgl. zur Unterscheidung der absolut oder relativ unentziehbaren Rechte statt anderer MünchKomm GmbHG/Reichert/Weller § 14 Rn. 81.

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nicht um einen vollständigen Rechtsentzug (Ausschluss der Minderheit von Gewinn- und Vermögensverteilung), sondern lediglich um eine nachteilige modifizierende Gestaltung des Mitgliedschaftsrechts, ist es nach verbreiteter Meinung keinesfalls unmöglich, dies durch Mehrheitsbeschluss auch ohne Zustimmung des nachteilig Betroffenen herbeizuführen. Auch unter dem Aspekt der Kernbereichslehre bemisst sich die Bedeutung der (fehlenden) Zustimmung in diesen Fällen vielmehr sehr differenziert und einzelfallbezogen nach den allgemeinen beweglichen Schranken der Mehrheitsmacht, mithin der Treuepflicht, des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der guten Sitten.27 Die Rechtsprechung sieht dies ebenso. Für das Personengesellschaftsrecht, aber richtigerweise durchaus verallgemeinerungsfähig, hat der BGH nämlich im Ergebnis einer anders verstandenen Kernbereichslehre eine Absage erteilt.28 Anstelle einer geradezu kategorischen oder fallgruppenartig konkretisierten Begrenzung der Einschränkbarkeit von Gesellschafterrechten und -positionen geht die Rechtsprechung richtigerweise bereits seit längerem auf der Grundlage eines individuellen, treuepflichtgesteuerten Ansatzes davon aus, dass die Unzulässigkeit im Einzelfall zu beurteilen ist. Die Kriterien sind vor allem, ob der Eingriff im Interesse der Gesellschaft geboten und dem Gesellschafter unter Berücksichtigung seiner eigenen schutzwürdigen Belange zumutbar ist.29 Für die umgekehrte Begründung etwaiger Zustimmungsrechte der Betroffenen gilt spiegelbildlich dasselbe: Liegen die Voraussetzungen für eine Einschränkbarkeit des Gesellschafterrechts vor, kann diese auch mittels Mehrheitsbeschlusses erfolgen, mithin ohne das Erfordernis einer individuellen Zustimmung. Hierdurch rückt die Rechtsprechung von einem (möglicherweise falsch verstandenen) früheren Verständnis der Kernbereichslehre als Grundlage für eine Pauschal-Argumentation ab und beurteilt die Rechtmäßigkeit von Beeinträchtigungen der Gesellschafter nunmehr allein anhand einer treuepflichtgesteuerten Inhaltskontrolle.30 Flankiert wird dieser Individualschutz naturgemäß durch den Gleichbehandlungsgrundsatz als spezielle Ausprägung der Treuepflicht,31 sofern dieser tangiert wird. Selbst die Literatur, welche die Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung anhand der Kernbereichslehre im Ausgangspunkt kritisch beurteilt, lässt bei genauerer Betrachtung erkennen, dass diese keinesfalls eine generelle Zustimmungspflicht zu begründen sucht. So führen etwa Ulmer/Casper aus, dass explizit bei der Änderung des Ergeb27 Vgl. insofern auch MünchKomm GmbHG/Reichert/Weller § 14 Rn. 81; Raiser, in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 14 Rn. 39; Michalski/Heidinger/J. Schmidt/Ebbing, GmbHG, § 14 Rn. 66. 28 Vgl. etwa BGH NZG 2014, 1296. 29 Vgl. BGH NZG 2014, 1296 Rn. 19. 30 In diese Richtung bereits BGH NZG 2009, 193. 31 Henssler/Strohn/Verse, GesR, § 14 GmbHG Rn. 73.

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nisverteilungsschlusses nur „in aller Regel“ die Zustimmung der Betroffenen erforderlich sei, mithin nicht stets.32 Auf dieser Grundlage ist es daher angesichts der jüngeren Entwicklung der Rechtsprechung des BGH und Teilen der Literatur nicht (mehr) zutreffend, Einschränkungen unter pauschalem Rückgriff auf die sog. Kernbereichslehre zu begründen oder unter pauschaler Behauptung, es läge ein Eingriff in den Kernbereich der Mitgliedschaft vor, um hieraus bereits unmittelbar Folgen für die Zulässigkeit der nachträglichen Einführung disquotaler Ergebnisverteilungen abzuleiten. Im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH hat vielmehr eine einzelfallbezogene Beurteilung der Rechtmäßigkeit dahingehend zu erfolgen, ob der durch die Mehrheit herbeigeführte Eingriff in die Mitgliedschaft bzw. Gesellschafterposition der Minderheit unter Berücksichtigung der Treuepflicht und des Gleichbehandlungsgebots rechtmäßig ist oder nicht. Kommt man hierbei zur Bejahung der Rechtmäßigkeit, kann die nachteilige modifizierende Gestaltung eines relativ unentziehbaren Mitgliedschaftsrechts konsequenterweise auch ohne Zustimmung der betroffenen Gesellschafter wirksam und rechtmäßig herbeigeführt werden. Für das Personengesellschaftsrecht hat der BGH dies bereits in diesem Sinne entschieden, indem er ausführte, die von der Gesellschaftermehrheit beschlossene Einschränkung oder gar Beseitigung eines Mitgliedschaftsrechts könne nur Bestand haben, wenn sie „im Gesellschaftsinteresse geboten und“ dem Betroffenen „unter Berücksichtigung seiner eigenen schutzwürdigen Belange zumutbar wäre“.33 Diese für das Personengesellschaftsrecht ergangene rechtliche Würdigung kernbereichsrelevanter Einschränkungen von Mitgliedschaftsrechten mittels Mehrheitsbeschlusses lässt sich auf das GmbH-Recht mittels eines Erst-recht-Schlusses übertragen, weil der Minderheitenschutz hier strukturell eher schwächer ist als bei einer rein personal begründeten Mitgliedschaft. Es wäre nämlich wertungswidersprüchlich, wenn im Personengesellschaftsrecht die wohl ausdifferenzierte Argumentation des BGH maßgeblich wäre und im Recht der GmbH geradezu pauschal unter Hinweis auf den Kernbereich eine Zustimmungspflicht folgen würde. Richtigerweise kann daher eine pauschal verstandene Kernbereichslehre keine Vorgaben für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Satzungsänderung über die nachtägliche Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung begründen, insbesondere etwaige Zustimmungserfordernisse als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Beschlussfassung. Es bedarf vielmehr einer nach Maßgabe der Rechtsprechung erfolgende Einzelfallbeurteilung, welche Ulmer/Casper, in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, § 53 Rn. 69. BGH NJW 1995, 194, 195 (bezogen auf das Informationsrecht, aber erklärtermaßen verallgemeinerungsfähig). 32 33

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sich neben den vom BGH genannten Kriterien vor allem auch nach den Vorgaben des gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes richtet, weil die Satzungsänderung eine Verschiebung der Beteiligungsquoten innerhalb des Gesellschafterkreises hervorruft.34

V. Zustimmungserfordernis auf Grund des Gleichbehandlungsgrundsatzes Indem somit weder eine Analogie zu § 53 Abs. 2 GmbHG überzeugend ist noch ein konturenloser Hinweis auf etwaige Zustimmungspflichten infolge eines Eingriffs in den „Kernbereich der Mitgliedschaft“, ist die Frage einer etwaigen Zustimmungspflicht der durch die disquotale Ergebnisverteilung benachteiligten Gesellschafter und letztlich die inhaltliche Rechtmäßigkeit der Beschlussfassung allein anhand der Vorgaben des gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu beurteilen.35 1. Grundsätzliches Zustimmungsrecht der benachteiligten Gesellschafter Der allgemein anerkannte und verallgemeinernd in § 53 a AktG gesetzlich geregelte gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt im Ausgangspunkt, dass bei einer Satzungsänderung, die die Gesellschafter ungleich behandelt, diejenigen zustimmen müssen, die von den Folgen nachteilig betroffen sind.36 Es steht außer Frage, dass die nachträgliche Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung zum Nachteil einzelner Gesellschafter eine formale Ungleichbehandlung darstellt37 und daher im Hinblick auf eine rechtmäßige Beschlussfassung grundsätzlich deren Zustimmung bedarf. Liegt diese nicht vor, macht die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes einen Gesellschafterbeschluss anfechtbar, nicht (schwebend) unwirksam.38 Nach Ablauf der Anfechtungsfrist kann dieser Mangel nicht mehr geltend gemacht werden.39

Ähnlich Scholz/Verse, GmbHG, § 29 Rn. 76. So auch Scholz/Verse, GmbHG, § 29 Rn. 76; Henssler/Strohn/Strohn, GesR, § 29 GmbHG Rn. 49. 36 Scholz/Verse, GmbHG, § 29 Rn. 76; Henssler/Strohn/Strohn, GesR, § 29 GmbHG Rn. 49; zum Ganzen Henssler/Strohn/Verse, GesR, § 14 Rn. 69 ff. 37 Hierzu Henssler/Strohn/Verse, GesR, § 14 Rn. 81. 38 HM, vgl. nur Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 13 Rn. 35 (m.w.N.); Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 91; teilw. abw. bei Eingriffen in Vorzugs- oder Sonderrechte Michalski/Heidinger/J. Schmidt/Lieder, GmbHG, § 13 Rn. 128. 39 Vgl. BGHZ 111, 224. 34 35

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2. Ausnahme bei sachlicher Rechtfertigung Es ist indessen aber unstreitig, dass nicht jede Ungleichbehandlung mangels Zustimmung der Betroffenen automatisch rechtswidrig ist. Vielmehr gilt, wie allgemein bei rechtlichen Geboten zur Gleichbehandlung, dass Ungleichbehandlungen nicht unzulässig sind, wenn für die Differenzierung eine hinreichend sachliche Rechtfertigung besteht.40 Diese setzt voraus, dass die Ungleichbehandlung geeignet ist, dem Gesellschaftsinteresse zu dienen.41 Beim Eingriff in Mitgliedschaftsrechte, ist, wie bereits oben erwähnt, zudem erforderlich, im Rahmen einer Abwägung auch die Beeinträchtigung des betroffenen Gesellschafters („schützenswerte Belange“)42 im Hinblick auf die Erforderlichkeit zur Zielverwirklichung und unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zu würdigen.43 3. Ergebnis Gelangt man hierbei zu dem Ergebnis, dass die sachliche Rechtfertigung gegeben ist, wofür im Streitfall die Gesellschaft die Beweislast trifft,44 ist die Ungleichbehandlung rechtmäßig, so dass insofern kein Beschlussmangel vorliegt. Übertragen auf die hier in Rede stehende Einführung einer disquotalen Ergebnisverteilung würde dies bedeuten, dass die Satzungsänderung auch ohne Zustimmung der hierdurch (formal) benachteiligten Gesellschafter erfolgen darf. Dies gilt zum einen für Änderungen der periodischen Gewinnverteilung gemäß § 29 Abs. 3 S. 2 GmbHG. Es gilt aber auch für Veränderungen der Vermögensverteilung gemäß § 72 S. 2 GmbHG und für Satzungsregelungen über die Ermittlung eines Abfindungsanspruchs infolge Ausscheidens aus der GmbH. Einer kategorischen Zustimmungsbefugnis der betroffenen Gesellschafter darf daher entgegen der scheinbar überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht das Wort geredet werden.

VI. Konsequenzen Die praktischen Anwendungsfälle für eine entsprechende Rechtmäßigkeitskontrolle der nachträglichen Einführung einer disquotalen Ergebnisbeteiligung können nur skizziert werden. Als Beispiel sei etwa genannt, dass 40 Vgl. nur BGH NJW 1992, 892 (Willkürverbot); Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 13 Rn. 32; Scholz/Seibt, GmbHG, § 14 Rn. 58; allgM. 41 Vgl. nur Henssler/Strohn/Verse, GesR, § 14 Rn. 84. 42 BGH NJW 1995, 194, 195. 43 Vgl. nur Henssler/Strohn/Verse, GesR, § 14 Rn. 84. 44 Michalski/Heidinger/J. Schmidt/Lieder, GmbHG, § 13 Rn. 123.

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eine „virtuelle Kapitalerhöhung“ durchgeführt werden soll. Hierbei wird nicht der Weg der §§ 55 ff. GmbHG eingeschlagen, sondern die Finanzierung durch Leistung des Kapitals in die Kapitalrücklage gemäß § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB. Wollen an dieser Kapitalzufuhr nicht alle Gesellschafter teilnehmen, ist es wirtschaftlich betrachtet keineswegs eine Benachteiligung, wenn die künftige Ergebnisverteilung anhand der Beteiligung der Gesellschafter am gesamten hierdurch gebildeten Eigenkapital der GmbH bemessen wird und eine Modifizierung des auf das satzungsmäßige Stammkapital bezogenen Verteilungsschlüssels erfolgt. Nimmt man nämlich an, dass die GmbH im unmittelbaren Nachgang zu dieser Kapitalzufuhr aufgelöst werden würde, mithin ohne Änderung des auf die Nennbeträge der Geschäftsanteile in bezogenen Ergebnisverteilungsschlüssels, würde der leistende Kapitalgeber weniger zurückerhalten als kurz zuvor er geleistet hätte, wohingegen die nicht partizipierenden Gesellschafter mehr zurückerhielten als es ihrem Anteil am satzungsmäßigen Stammkapital entspricht. Vor diesem Hintergrund ist es daher konsequent, dass die einseitige Eigenkapitalzufuhr eines Gesellschafters sich auch in einer entsprechenden (!) Änderung des Ergebnisverteilungsschlüssels wiederspiegelt. Nur auf diese Weise lässt sich gewährleisten, dass dem Kapitalgeber keine einseitigen Nachteile im Hinblick auf das Schicksal seiner Eigenkapitalzufuhr entstehen und umgekehrt den übrigen Gesellschaftern keine ungerechtfertigte Besserstellung (sog. windfall profit) widerfährt. Im Kern lässt sich durch eine entsprechende satzungsmäßige Veränderung des Ergebnisverteilungsschlüssels nämlich genau das verwirklichen, was sich auch durch eine entsprechende ordentliche Erhöhung des Stammkapitals hätte verwirklichen lassen. Dies betrifft die periodische Gewinnverteilung ebenso wie die Vermögensverteilung nach Auflösung der GmbH oder die Berechnung des Abfindungsguthabens bei Ausscheiden. Als weiteres Beispiel ließe sich etwa anführen, dass im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung Unternehmen oder sonstige Betriebsmittel eingebracht werden, die das Bedürfnis nach sich ziehen können, „tracking stocks“ zu schaffen, mithin die auf Unternehmensteile bezogene Ergebnispartizipation der Gesellschafter. Auch die in der Literatur angeführten Sondervergünstigungen bzw. „Treueprämien“ zur Abgeltung geleisteter Sanierungsbeiträge oder für die Aufrechterhaltung einer wichtigen Geschäftsbeziehung45 lassen sich nachträglich mittels Satzungsänderung einführen. In allen Fällen wäre es somit verfehlt, diese Gestaltungen kategorisch und zwingend an die Zustimmung der benachteiligten Gesellschafter zu knüpfen. Vielmehr ist im rahmend er durch Treuepflicht und Gleichbehandlungsgrundsatz konturierten beweglichen Schranken der Mehrheitsmacht zu würdigen, ob die Maßnahme rechtmäßig ist, so dass sie auch gegen den Widerstand der benachtei45

Vgl. nur MünchKomm GmbHG/Ekkenga § 29 Rn. 189.

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ligten Gesellschafter beschlossen werden kann, wenn die Voraussetzungen hierfür im übrigen vorliegen.

VII. Zusammenfassung Die im Ausgangspunkt an den Nennbetrag der gehaltenen Geschäftsanteile geknüpfte Ergebnisbeteiligung der Gesellschafter einer GmbH kann auch durch Satzungsänderung modifiziert werden (§§ 29 Abs. 3 S. 2, § 72 S. 2 GmbHG). Soll hierbei eine disquotale Ergebnisverteilung herbeigeführt werden, haben die benachteiligten Gesellschafter entgegen der überwiegenden Meinung kein zwingendes Zustimmungsrecht. Es überzeugen nämlich weder eine Analogie zu § 53 Abs. 3 GmbHG noch ein pauschaler Rückgriff auf eine falsch verstandene Kernbereichslehre. Richtigerweise ist der entsprechende Minderheitenschutz allein anhand der Treuepflicht und des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu verwirklichen. Hieraus folgt, dass ein qualifizierter Mehrheitsbeschluss eine disquotale Ergebnisverteilung auch ohne Zustimmung der Benachteiligten wirksam und rechtmäßig herbeizuführen vermag, wenn er sachlich gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn der Eingriff im Interesse der Gesellschaft geboten und dem Gesellschafter unter Berücksichtigung seiner eigenen schutzwürdigen Belange zumutbar ist.

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Das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen von 2019

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Das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen von 2019 Dennis Solomon

Das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen von 2019 und die internationale Anerkennungszuständigkeit DENNIS SOLOMON I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Zuständigkeitsgründe und verwandte Figuren 1. Anknüpfungsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vertrags- und Deliktsgerichtsstand . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Delikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gerichtsstandsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schwächerenschutz: Verbraucher und Arbeitnehmer . . . VI. Immobiliargerichtsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausschließliche Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrierende Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Nach jahrzehntelangen Mühen hat die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht am 2. Juli 2019 schließlich ihr Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Ziviloder Handelssachen (HAVÜ)1 beschlossen.2 Nachdem das ursprüngliche Bestreben, eine convention double zu erarbeiten, die sowohl die internationale Entscheidungszuständigkeit als auch die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen zum Gegenstand hat, mit dem Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005 (HGÜ)3 nur hinsichtlich ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen 1

Abrufbar unter www.hcch.net/en/instruments/conventions/full-text/?cid=137. Zur Entstehungsgeschichte näher Schack IPRax 2020, 1 (1 f.); Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (538–540); Wagner, IPRax 2016, 97 (97–99); Garcimartín/Saumier, Revised Draft Explanatory Report, 2018, Rn. 2–5, abrufbar unter assets.hcch.net/docs/ 7d2ae3f7-e8c6-4ef3-807c-15f112aa483d.pdf. 3 Abrufbar unter www.hcch.net/en/instruments/conventions/full-text/?cid=98. 2

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verwirklicht werden konnte, hat man sich letztlich mit einer convention simple begnügt: Gegenstand des neuen Übereinkommens ist demnach allein die Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, die in ihrem Grundsatz in Art. 4 HAVÜ niedergelegt ist. Die in den Vorarbeiten besonders streitige Frage der internationalen Zuständigkeit wurde dementsprechend nur geregelt, soweit es um die Voraussetzungen der Anerkennung4 einer ausländischen Entscheidung geht, also nur in Form der „indirekten“ Zuständigkeit („compétence indirecte“) oder Anerkennungszuständigkeit.5 Die Schaffung eines einheitlichen Regimes, das auch die „direkte“ Entscheidungszuständigkeit mit einbezieht, bleibt damit weiterhin Zukunftsmusik. Immerhin repräsentiert aber die Regelung zur Anerkennungszuständigkeit in Art. 5 und 6 des Übereinkommens den wohl aktuellsten Stand dessen, was sich in unserer Zeit rechtsvereinheitlichend auf dem Gebiet des internationalen Kompetenzrechts für allgemeine Zivil- und Handelssachen bewerkstelligen lässt. Insofern lohnt ein näherer Blick darauf, zu welchen Lösungen man im Haag für diesen Kernbereich des internationalen Verfahrensrechts gekommen ist. Im Zentrum der Betrachtung steht damit das Herzstück der Konvention, Art. 5 HAVÜ. Nach dessen Abs. 1 kommt eine dem Übereinkommen unterliegende Entscheidung nur dann zur Anerkennung in Betracht, wenn einer der im Folgenden abschließend aufgezählten Zuständigkeitsgründe (sog. „bases for recognition and enforcement“) gegeben ist.6

II. Allgemeine Zuständigkeitsgründe und verwandte Figuren 1. Anknüpfungsmomente Einen „allgemeinen Gerichtsstand“, wie ihn etwa die Brüssel Ia-Verordnung7 in Art. 4 Abs. 1 am Wohnsitz des Beklagten vorsieht, kennt das Haager Übereinkommen nicht. Ihm nahe kommt allerdings die Regel des Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ, wonach eine Entscheidung anzuerkennen ist, wenn die 4

Da es im Folgenden allein um die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen nach dem HAVÜ geht, soll der Einfachheit halber nur von Anerkennung gesprochen werden; die Ausführungen gelten aber grundsätzlich gleichermaßen für Anerkennung wie auch Vollstreckung. 5 Zur Begrifflichkeit Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 4.6 f.; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 7. Aufl. 2017, Rn. 216. 6 Hinzu kommt eine abschließende Liste von Einwendungen gegen die Anerkennung, die – abgesehen vom Verstoß gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung gem. Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ (dazu unten IV) – nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. 7 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. L 351, S. 1.

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Partei, gegen die die Anerkennung verfolgt wird, im Urteilsstaat ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Ein wesentlicher Unterschied zu Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia besteht darin, dass Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ nicht darauf abstellt, dass gerade der Beklagte im Urteilsstaat ansässig war. Vielmehr trägt Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ die Anerkennung gegen jede Partei des Ausgangsverfahrens, gegen die überhaupt anerkennungs- oder vollstreckungsfähige Wirkungen in Frage kommen.8 Geht es um eine Anerkennung gegen den im Urteilsstaat unterlegenen Beklagten, so kommt Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ in der Tat einem allgemeinen Gerichtsstand wie Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia gleich.9 Anders ist es jedoch bei der Anerkennung einer dem Kläger ungünstigen Entscheidung, insbesondere einer Klageabweisung. Insofern ist der gewöhnliche Aufenthalt des Beklagten nach Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ von vornherein unerheblich. Vielmehr kommt es dann nach Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ auf die Person des Klägers an: Hatte dieser im Urteilsstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt, so kommt eine Anerkennung auf Grundlage von Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ in Betracht. Allerdings ist der siegreiche Beklagte hierauf nicht angewiesen, da Art. 5 Abs. 1 lit. c HAVÜ die Anerkennung einer Entscheidung gegen den Kläger ganz generell, unabhängig vom Vorliegen bestimmter Verknüpfungen zum Urteilsstaat, erlaubt. Die Regelung beruht auf dem Gedanken, dass der Kläger sich mit der Zuständigkeit des Urteilsstaates abfinden musste, bei konkurrierenden Zuständigkeiten sich sogar bewusst für den Urteilsstaat entschieden hat, so dass er sich später nicht berechtigt gegen die Anerkennung der in dem von ihm angerufenen Forum gegen ihn ergangenen Entscheidung wehren kann.10 Für die Widerklage ist die Anwendung des Art. 5 Abs. 1 lit. c HAVÜ indes ausdrücklich ausgeschlossen, da insofern eine differenzierte Anwendung der allgemeinen Grundsätze nach Art. 5 Abs. 1 lit. l HAVÜ vorgesehen ist. Festgehalten wird der Kläger und Widerbeklagte an der Wahl des Forums gem. Art. 5 Abs. 1 lit. l (i) HAVÜ zunächst hinsichtlich von konnexen Widerklagen.11 Im Übrigen findet der in Art. 5 Abs. 1 lit. a und lit. c HAVÜ niedergelegte Grundsatz spiegelbildliche Anwendung: Die erfolgreiche Widerklage ist gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ anzuerkennen, wenn der Kläger/Widerbeklagte im Urteilsstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Wird die Widerklage abgewiesen, so ist sie gegen den Beklagten/Widerkläger gem. Art. 5 Abs. 1 lit. l (ii) HAVÜ grundsätzlich ohne weitere Verknüpfung zum Urteilsstaat anzuerkennen. Hiervon ausgenommen sind jedoch Widerklagen, 8

Vgl. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 147, 149. Vgl. auch Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (550). 10 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 160; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (553). 11 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 215. – Konnexität i.S.d. Art. 5 Abs. 1 lit. l (i) HAVÜ setzt voraus, „that the counterclaim arose out of the same transaction or occurrence as the claim”; vgl. dazu auch Garcimartín/Saumier, ebd., Rn. 216. 9

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die nach dem Recht des Urteilsstaates zur Vermeidung eines Anspruchsverlusts erhoben werden mussten („compulsory counterclaims“).12 Hier hängt die Anerkennungsfähigkeit gegen den Widerkläger davon ab, dass ein anderer Zuständigkeitsgrund nach Art. 5 Abs. 1 HAVÜ gegeben ist, etwa dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Urteilsstaat hatte. Nicht ausreichend für die Anerkennung einer Entscheidung gegen den Widerkläger ist bemerkenswerterweise die Konnexität der Widerklage, da diese nach Art. 5 Abs. 1 lit. l (i) HAVÜ nur die Anerkennung zugunsten des Widerklägers trägt. Als Anknüpfungsmoment für die Zuständigkeit entscheidet sich Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ erfreulicherweise bei natürlichen Personen für den gewöhnlichen Aufenthalt.13 Diese Orientierung an anderen Rechtsakten der Haager Konferenz14 ist vorzugswürdig gegenüber dem Abstellen auf einen nach nationalem Recht zu bestimmenden Wohnsitz, wie er für die Brüssel Ia-Verordnung noch immer maßgeblich ist (Art. 62 Brüssel Ia).15 Für andere als natürliche Personen, namentlich juristische Personen und sonstige Gesellschaften, wird der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 3 Abs. 2 HAVÜ nach dem Vorbild des Art. 63 Abs. 1 Brüssel Ia aufgespalten in die alternative Anknüpfung an den satzungsmäßigen Sitz, das Gründungsrecht,16 die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung. Allerdings sieht das HAVÜ auch für natürliche Personen einen alternativen Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit in Art. 5 Abs. 1 lit. b HAVÜ vor: Danach sind auch Entscheidungen des Staates anzuerkennen, in dem eine natürliche Person, gegen die die Anerkennung erfolgen soll, ihre Hauptniederlassung hatte, wenn die Klage auf der betreffenden geschäftlichen Tätigkeit der Person beruhte. Für geschäftlich tätige natürliche Personen wird damit eine sinnvolle Annäherung an sonstige Parteien bewirkt, für die Art. 3 Abs. 2 HAVÜ alternative Gerichtsstände vorsieht.17

12 Siehe Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 213, 217. Paradebeispiel ist Rule 13a der U.S. Federal Rules of Civil Procedure. Vgl. auch Niehoff, Verfahrenskonzentration durch compulsory counterclaims in den US-amerikanischen Zivilprozessordnungen, 2014. 13 Zustimmend auch Schack IPRax 2020, 1 (4); vgl. ferner Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (550 f.). 14 Vgl. insofern Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 150. 15 Kritisch etwa Schack, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 275; Linke/Hau, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 2.33, 7.3; Hau, GS Wolf 2011, 409 (419 ff.). 16 Die Anknüpfung an das Gründungsrecht bedeutet eine Erweiterung gegenüber Art. 63 Abs. 1 Brüssel Ia. Inhaltlich übernimmt Art. 3 Abs. 2 HAVÜ die Regelung des Art. 4 Abs. 2 HGÜ; siehe insofern näher Hartley/Dogauchi, Explanatory Report on the 2005 Hague Choice of Court Agreements Convention, Hague Conference on Private International Law, Proceedings of the Twentieth session, Tome III, S. 784 ff., Rn. 117–123, abrufbar unter www.hcch.net/en/publications-and-studies/details4/?pid=3959. 17 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 156; vgl. auch Jacobs ZfRV 2017, 24 (27).

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Einen Gerichtsstand hinsichtlich von Streitigkeiten, die sich aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung ohne eigene Rechtspersönlichkeit ergeben, enthält schließlich, in Anlehnung an Art. 7 Nr. 5 Brüssel Ia, Art. 5 Abs. 1 lit. d HAVÜ. Im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 1 lit. a-c HAVÜ kommt der Zuständigkeitsgrund jedoch nur bezogen auf den Beklagten zum Tragen. 2. Maßgeblicher Zeitpunkt Bemerkenswert ist die Regelung der Art. 5 Abs. 1 lit. a-d HAVÜ hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunktes: Das zuständigkeitsbegründende Anknüpfungsmoment muss in dem Zeitpunkt vorgelegen haben, in dem die betreffende Person Partei des Verfahrens wurde. Für Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ kommt es also darauf an, dass etwa der Beklagte bei Verfahrensbeginn18 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Urteilsstaat hatte. Die Regelung setzt damit unmittelbar den Gedanken der perpetuatio fori um und ist insofern im Interesse des Klägerschutzes19 zu begrüßen. Allerdings ist es nach Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ nicht nur ausreichend, sondern auch erforderlich, dass der gewöhnliche Aufenthalt bei Erlangung der Parteistellung im Gerichtsstaat war.20 Ein erst während des Verfahrens im Gerichtsstaat begründeter gewöhnlicher Aufenthalt bildet damit keinen die Anerkennung tragenden Zuständigkeitsgrund. Das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu dem zumindest in Deutschland anerkannten Grundsatz, dass es für die internationale Zuständigkeit genügt, wenn der sie begründende Umstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gegeben ist.21 Auch wenn die Brüssel Ia-Verordnung keine ausdrückliche Regelung zum maßgeblichen Zeitpunkt trifft, geht man hierzulande davon aus, dass es auch hier ausreicht, wenn die Zuständigkeit im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung begründet ist.22 Dafür spricht insbesondere, dass es wenig interes18 Nach welchen Regeln die Erlangung der Parteistellung im Einzelnen zu bestimmen ist, wird im HAVÜ nicht gesagt; man wird insofern auf das Verfahrensrecht des Urteilsstaates abzustellen haben. 19 Bzw. – angesichts der nicht parteispezifischen Fassung von Art. 5 Abs. 1 lit. a–c HAVÜ – des Schutzes der jeweiligen Gegenpartei. 20 So auch Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 151. 21 Vgl. nur Schack, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 447; Linke/Hau, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 4.73. 22 BGH (1.3.2011, XI ZR 48/10), BGHZ 188, 373 (Rn. 13–21) (betr. Art. 2 Brüssel I); Rauscher/Mankowski, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Band I, 4. Aufl. 2016, Art. 4 Brüssel Ia-VO Rn. 7. Daneben ist natürlich auch im Rahmen der Brüssel IaVerordnung eine perpetuatio fori anzuerkennen: EuGH (5.2.2004, C-18/02), ECLI:EU: C:2004:74 (Rn. 35–38) (betr. Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ); BGH (17.4.2013, XII ZR 23/12), BGH, NJW 2013, 2597 (Rn. 20–22) (betr. Art. 5 Nr. 2 Brüssel I); Rauscher/Mankowski (a.a.O.), Art. 4 Brüssel Ia-VO Rn. 6; Linke/Hau, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 4.75; auch hinsichtlich einer erst während des Verfahrens begründeten Zuständigkeit BGH (1.3.2011, XI ZR 48/10), BGHZ 188, 373 (Rn. 22–27) (betr. Art. 2 Brüssel I). – In England wird demgegenüber betont,

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sengerecht erscheint, eine Klage zunächst wegen fehlender Zuständigkeit bei Verfahrenseinleitung als unzulässig abzuweisen, wenn der Kläger angesichts der inzwischen bestehenden Zuständigkeit sogleich erneut ein Verfahren mit Erfolg einleiten könnte. Von diesen Grundsätzen weichen indes Art. 5 Abs. 1 lit. a–d HAVÜ ab, ohne dass recht ersichtlich würde, warum eine erst während des Verfahrens begründete Zuständigkeit nicht als ausreichend angesehen wird. Dies bedeutet aber jedenfalls, dass ein Sachurteil eines deutschen Gerichts, das sich in solchen Fällen nach dem Gesagten für zuständig erachten würde, jedenfalls nicht nach Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ anerkennungsfähig ist. Damit scheitert die Anerkennung, sofern sich kein anderer Zuständigkeitsgrund findet. In Betracht kommt aber immerhin noch eine Anerkennung nach günstigerem nationalen Recht gem. Art. 15 HAVÜ.

III. Vertrags- und Deliktsgerichtsstand Was besondere Gerichtsstände anbelangt, soll im Folgenden das Augenmerk auf die „Klassiker“ des Vertrags- und des Deliktsgerichtsstandes gelegt werden.23 1. Vertrag Bei vertragsrechtlichen Streitigkeiten erkennt Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ einen Gerichtsstand in dem Staat an, in dem die streitige Verpflichtung erfüllt wurde oder hätte erfüllt werden müssen. Wie nicht zuletzt die Erfahrungen aus dem europäischen Prozessrecht verdeutlichen, stellt sich bei diesem Anknüpfungsmoment das grundsätzliche Problem, wie der Erfüllungsort im zuständigkeitsrechtlichen Sinn zu bestimmen ist.24 Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ verweist insofern in erster Linie auf die Vereinbarung der Parteien, hilfsweise auf das Vertragsstatut. Damit fällt das HAVÜ, wenn man so will, auf den Stand des EuGVÜ zurück,25 indem sich der Gerichtsstand dass es für die internationale Zuständigkeit auf den Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens ankommt; Dicey, Morris and Collins, The Conflict of Laws, 15. Aufl. 2012, Vol. 1, Rn. 11– 256; Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, 15. Aufl. 2017, S. 213. In der einschlägigen Entscheidung des House of Lords, Canada Trust Co. v. Stolzenberg (No. 2), [2002] 1 A.C. 1 (zum Luganer Übereinkommen), ging es jedoch um eine perpetuatio fori, nicht um einen erst während des Verfahrens begründeten inländischen Wohnsitz. 23 Ein besonderer Gerichtsstand für Trusts ist darüber hinaus enthalten in Art. 5 Abs. 1 lit. k HAVÜ; dazu näher Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 206–212. 24 Vgl. etwa Schack, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 299–309. 25 Vgl. Schack IPRax 2020, 1 (4); Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (555). – Zur Lage unter Geltung von Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ siehe insb. EuGH (6.10.1976, C-12/ 76), ECLI:EU:C:1976:133; EuGH (6.10.1976, C-14/76), ECLI:EU:C:1976:134.

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spezifisch nach der jeweils streitgegenständlichen Primärleistungspflicht richtet26 und der Erfüllungsort nach dem kollisionsrechtlich berufenen Vertragsstatut bestimmt wird.27 Nicht nachvollzogen wird damit die Entwicklung unter Art. 5 Nr. 1 lit. b Brüssel I (bzw. nunmehr Art. 7 Nr. 1 lit. b Brüssel Ia) hin zu einem einheitlichen Gerichtsstand, der sich für alle Ansprüche aus dem Vertrag nach dem grundsätzlich autonom zu bestimmenden Erfüllungsort der vertragscharakteristischen Leistung richtet.28 Probleme können sich für das HAVÜ insbesondere hinsichtlich von Zahlungsklagen ergeben, da ein spezifisch für die Zahlungspflicht bestimmter Erfüllungsort die unter dem Gesichtspunkt der Beweisnähe besonders bedeutsame Beziehung zur Sachleistung (um deren vertragsgemäße Erbringung es häufig gehen wird) vermissen lässt.29 Für derartige Fälle mag jedoch ein Ausweg in einem besonderen Vorbehalt liegen, unter den Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ den Vertragsgerichtsstand stellt: Der Erfüllungsort vermag die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung nämlich nicht zu tragen, wenn die Tätigkeiten des Beklagten im Zusammenhang mit dem Geschäft offensichtlich keine gezielte und erhebliche Beziehung zum Urteilsstaat begründeten („unless the activities of the defendant in relation to the transaction clearly did not constitute a purposeful and substantial connection to that State“). Damit finden die in den USA aus dem verfassungsrechtlichen Gebot eines fairen Verfahrens („due process“)30 abgeleiteten Anforderungen eines „purposeful availment“31 Eingang in das Haager Zuständigkeitsrecht.32 Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass die Zuständigkeit auf zufällige oder nicht hinreichend gewichtige Be26 Zur getrennten Bestimmung für Leistung und Gegenleistung insb. Garcimartín/ Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 190; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (555). 27 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 193–194; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (555). 28 EuGH (3.5.2007, C-386/05), ECLI:EU:C:2007:262 (Rn. 23–26); Rauscher/Leible (oben Fn. 22), Art. 7 Brüssel Ia-VO Rn. 55 f., 73. 29 Vgl. auch Linke/Hau, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 522. – Notorisch ist außerdem der sich beim internationalen Warenkauf aus Art. 57 Abs. 1 lit. a CISG (UN-Übereinkommen vom 11. April 1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf, BGBl. 1989 II, S. 588) ergebende Klägergerichtsstand für Kaufpreisklagen. 30 Verfassung der Vereinigten Staaten, Fifth Amendment, Fourteenth Amendment Section 1. 31 Die Formel wurde begründet in Hanson v. Denckla, 357 U.S. 235, 253 (1958) im Anschluss an International Shoe Co. v. State of Washington, 326 US. 310, 319 (1945). Vgl. auch Burger King Corp. v. Rudzewicz, 471 U.S. 462, 472 ff. (1985); zur Entwicklung der Rechtsprechung in den USA Hay/Borchers/Symeonides/Whytock, Conflict of Laws, 6. Aufl. 2018, S. 336 ff. (§ 5.11). 32 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 190; Schack IPRax 2020, 1 (5); Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (556 f.). – Eine Verwandtschaft besteht aber auch zum Erfordernis einer „real and substantial connection“ nach kanadischem Recht; dazu Beals v. Saldanha, 2003 SCC 72 = [2003] 3 SCR 416; Club Resorts Ltd. v. Van Breda, 2012 SCC 17 = [2012] 1 SCR 572.

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ziehungen zum Vertragsverhältnis der Parteien gestützt wird.33 In welchen Fällen die Einschränkung konkret zum Tragen kommen soll, bleibt indes unklar.34 Diese Unbestimmtheit zeigt sich auch im vorläufigen Bericht zum Übereinkommen. Dort heißt es allgemein: „In cases where the parties have not designated the place of performance and have not chosen an applicable law, the place of performance designated by the requested State’s choice of law rules may point to a place that is arbitrary, random or insufficiently related to the transaction between the parties.“35

Nun muss man sich nicht unbedingt daran stören, dass die Kollisionsnormen des Vollstreckungsstaates bei strenger Betrachtung nicht selbst den Erfüllungsort der vertraglichen Verpflichtung bestimmen werden, sondern erst das durch diese Kollisionsnormen bestimmte Vertragsstatut. In der Sache zweifelhaft erscheint vielmehr, warum gerade ein unter objektiver Anknüpfung bestimmtes Vertragsstatut besonders suspekt erscheinen soll, wenn es um die Bestimmung eines geeigneten Erfüllungsortes geht, während eine Rechtswahl der Parteien insofern keinen weiteren Zweifeln ausgesetzt zu sein scheint. Man wird im Allgemeinen kaum annehmen können, dass die Parteien eine Rechtswahl gerade im Hinblick darauf treffen, ob das gewählte Recht einen für sie interessengerechten Erfüllungsort vorsieht. Soweit ihnen an dieser Frage gelegen ist, werden sie vielmehr unmittelbar eine entsprechende Erfüllungsortvereinbarung treffen. Dementsprechend hat denn auch das im Bericht genannte Beispiel eines online durchgeführten Vertrags36 nichts damit zu tun, ob das auf diesen Vertrag anwendbare Recht durch die Parteien oder im Wege objektiver Anknüpfung bestimmt wird. Selbst eine Erfüllungsortvereinbarung der Parteien würde man in einem solchen Fall, was eine reale Beziehung zu dem betreffenden Staat anbelangt, als eher wenig aussagekräftig erachten; immerhin ergäbe sich aus ihr aber der Wille der Parteien, die Vertragserfüllung diesem Staat zuzuordnen.37 Vielmehr besteht die Problematik von Online-Geschäften darin, dass die mit dem Gerichtsstand des Erfüllungsortes verbundenen Interessen der Sach- und Beweisnä33 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 196 („The terms ‘purposeful and substantial’ are meant to avoid jurisdiction being based on geographical links that are arbitrary, random or insufficiently related to the transaction between the parties.“). 34 Mangelnde Rechtssicherheit beklagt insb. Schack IPRax 2020, 1 (4 f.) („kann nur Streit und Rechtsunsicherheit auslösen“); vgl. auch Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/ 19), 537 (557). 35 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 195. 36 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 195 („For example, in the case of contracts performed online the connection with the State of origin may be merely virtual and therefore insufficient to justify circulation of the judgment under the draft Convention.“). 37 Vom Übereinkommen und dem Bericht nicht weiter thematisiert wird das Problem der kompetenzrechtlichen Behandlung „fiktiver“ Erfüllungsortvereinbarungen; vgl. dazu Schack, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 311 f.; Linke/Hau, IZVR (oben Fn. 5), Rn. 6.27.

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he häufig kaum zu einem konkreten Staat führen werden. Insofern ist die Situation heute ähnlich wie bei der Bestimmung des Erfüllungsortes von Geldschulden, wo die Regelung des Erfüllungsortes auf materiell-rechtlicher Ebene zwar noch gewisse Bedeutung für die Kosten- und Gefahrtragung haben mag (vgl. insofern im deutschen Recht § 270 BGB), in zuständigkeitsrechtlicher Hinsicht aber nur geringe Aussagekraft hat. Vor diesem Hintergrund mag man den Vorbehalt des Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ dazu nutzen, in derartigen Fällen einen für die Zuständigkeitsfrage wenig aussagekräftigen Erfüllungsort auszuscheiden. Wenig überzeugend erscheint jedoch die hieran geknüpfte Rechtsfolge: Die Fassung des Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ („unless“) legt nahe, dass der Vertragsgerichtsstand gänzlich entfallen soll, so dass die Anerkennung nur noch auf die allgemeinen Gerichtsstandsregeln gestützt werden kann. Insofern wäre wohl doch die Konzentrationslösung des Art. 7 Nr. 1 lit. b Brüssel Ia auch für die indirekte Zuständigkeit im Rahmen des HAVÜ vorzugswürdig gewesen. Auf den ersten Blick erscheint bemerkenswert, dass der Vorbehalt einer „purposeful and substantial connection“ zum Urteilsstaat im HAVÜ gerade nur in Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ für vertragliche Streitigkeiten gemacht wird, während er für Klagen aus unerlaubter Handlung (Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ) fehlt – und das, obwohl gerade bei der Anknüpfung an den Tatort einer unerlaubten Handlung eine besondere Gefahr unvorhersehbarer, „flüchtiger“ Zuständigkeiten besteht.38 Dies beruht jedoch auf der besonderen Ausgestaltung des Deliktsgerichtsstandes in Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ, die es nun genauer zu betrachten gilt. 2. Delikt Anders als etwa Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia betrifft der besondere Gerichtsstand des Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ dem Wortlaut nach nicht nur Entscheidungen über Klagen aus unerlaubten Handlungen (oder solchen gleichgestellten Handlungen), sondern Entscheidungen über außervertragliche Schuldverhältnisse im Allgemeinen. Insofern scheint die Regelung zunächst auf einen breiteren Anwendungsbereich zu zielen, wie etwa auch – auf dem Gebiet des IPR – die Rom II-VO.39 Schon bei letzterer geht es aber in der Hauptsache um unerlaubte Handlungen, und auch bei Art. 5 Abs. 1 lit. j 38 Paradigmatisch ist die US-amerikanische Entscheidung World-Wide Volkswagon Corp. v. Woodson, 444 U.S. 2816 (1980); vgl. dazu Hay/Borchers/Symeonides/Whytock (oben Fn. 31), S. 339. 39 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. L 199, S. 40. – Darüber, was im Einzelnen unter „außervertragliche Schuldverhältnisse“ i.S.d. Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ zu verstehen sein soll, schweigt auch der Draft Explanatory Report (abgesehen von dem Verweis auf die nach Art. 20 HAVÜ gebotene autonome Auslegung); Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 202.

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HAVÜ ergibt sich aus seinem weiteren Inhalt, dass er im Wesentlichen unerlaubte Handlungen im Blick hat: Denn gegenständlich erfasst werden allein Ansprüche aus Tötung, Körperverletzung sowie Beschädigung oder Verlust körperlicher Gegenstände. Insofern sind zwar auch Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder culpa in contrahendo denkbar, das Gros der Fälle wird aber in Entscheidungen über Ansprüche aus unerlaubter Handlung oder Gefährdungshaftung bestehen. Auch bei Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ findet sich eine vor allem für den im europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht heimischen Betrachter eine bemerkenswerte Neuerung: Denn als Anknüpfungsmoment für die Zuständigkeit haben sich die Verfasser des Übereinkommens für den Handlungsort entschieden. Damit weicht die Regelung zum einen von Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia ab, der immer noch dem traditionellen Ubiquitätsprinzip verschrieben ist, wonach Handlungs- oder Erfolgsort alternativ die Zuständigkeit begründen können.40 Während eine solche alternative Anknüpfung im Zuständigkeitsrecht durchaus sinnvoll sein kann, wurde im Kollisionsrecht die systematische Begünstigung des Geschädigten durch das Ubiquitätsprinzip seit geraumer Zeit kritisch betrachtet.41 Die Rom IIVerordnung hat sich dementsprechend in ihrem Art. 4 Abs. 1 zu Recht für eine Grundanknüpfung allein an den Erfolgsort im Sinne des Ortes der Primärschädigung entschieden, wobei der Handlungsort ausdrücklich für unerheblich erklärt wird.42 Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ beschreitet nun gerade den anderen Weg: Auch hier soll nur eine Anknüpfung maßgeblich sein, die Verfasser des Übereinkommens haben sich aber nicht für den Erfolgsort, sondern für den Handlungsort entschieden. Das mag aus der Sicht des europäischen Rechts überraschend sein, erklärt sich aber, zumindest zum Teil, aus der besonderen gegenständlichen Beschränkung des Deliktsgerichtsstandes im Besonderen und des Haager Übereinkommens im Allgemeinen. Wie bereits gesagt, gilt Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ nur für physisch wirkende Verletzungen, namentlich die Tötung, Körper- oder Gesundheitsverletzung eines Menschen sowie die Beschädigung oder den Verlust einer Sache. In diesen Fällen wird es sich aber regelmäßig um Platzdelikte handeln, bei denen Handlungs- und Erfolgsort im selben Staat liegen. Etwas anderes gilt im Wesentlichen für Fälle der Produkthaftung, und gerade hier mag der konkrete Ort der Primärschädigung oftmals als zufällige Anknüpfung erscheinen, die 40 EuGH (30.11.1976, C-21/76), ECLI:EU:C:1976:166; EuGH (16.7.2009, C-189/08), ECLI:EU:C:2009:475 (Rn. 23). – Zur Abweichung von Brüssel Ia auch Garcimartín/ Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 204. 41 Vgl. nur v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2019, § 2 Rn. 114 ff. 42 Die alternative Anwendung des Handlungsortes zugunsten des jeweils Geschädigten findet sich aber nach wie vor bei der Haftung für Umweltschädigungen in Art. 7 Rom II.

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den Hersteller hinsichtlich des anwendbaren Rechts oder der Gerichtspflichtigkeit einem kaum vorhersehbaren Staat unterwirft. Im Internationalen Privatrecht hat dies dazu geführt, dass man sich in Art. 5 Rom II um eine Eindämmung von schädigungsbezogenen Anknüpfungen durch den Filter des Inverkehrbringens bemüht hat.43 In der Brüssel Ia-Verordnung stehen dem Hersteller dagegen keine Schutzmöglichkeiten hinsichtlich der gerichtlichen Inanspruchnahme an einem für ihn nicht voraussehbaren, fernen Erfolgsort zur Verfügung.44 Im Haager Übereinkommen mag man eine Lösung der Problematik darin gesehen haben, auf die mitunter fragwürdige Anknüpfung an den Erfolgsort ganz zu verzichten.45 Erkauft wird dies freilich durch eine beträchtliche Einschränkung des zuständigkeitsrechtlichen Geschädigtenschutzes:46 Der Geschädigte kann eine nach dem HAVÜ anerkennungsfähige Entscheidung gegen den Hersteller (sofern er mit ihm nicht vertraglich verbunden ist) nur an dessen Sitz (Art. 5 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 3 Abs. 2 HAVÜ, im Einzelfall unter Umständen erweitert durch Art. 5 Abs. 1 lit. b oder d HAVÜ) erstreiten, sofern er nicht einen relevanten Handlungsort in einem anderen Staat auszumachen vermag, was in vielen Fällen nicht möglich sein wird.47 Was denkbare Distanzdelikte in den von Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ erfassten Fällen anbelangt, ist sodann fraglich, ob auch mittelbare Gesundheitsverletzungen wie insb. sog. „Schockschäden“ noch unter den Begriff des „physical injury“ fallen. Falls ja, wäre über Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ immerhin ein Urteil aus dem Staat des unmittelbaren Unfallortes anzuerkennen;48 falls nein, bliebe dem mittelbar Geschädigten überhaupt nur die Möglichkeit, gegen den potentiellen Schädiger in dessen Aufenthaltsstaat vorzugehen, wenn ihm an der Anerkennungsfähigkeit nach dem HAVÜ gelegen ist. Darüber hinaus ist unklar, ob nicht sogar mittelbare Vermögensschäden von Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ erfasst sind, sofern sie nur „aus“ der Tötung oder Verletzung einer Person folgen, wie etwa die Schadensersatzansprüche nach Art der §§ 844 f. BGB,49 oder ob Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ 43 Siehe etwa MünchKomm BGB/Junker, 7. Aufl. 2018, Art. 5 Rom II-VO Rn. 2–4; BeckOK/Spickhoff (Stand: 1.2.2020), Art. 5 Rom II-VO Rn. 1. 44 Vgl. insb. EuGH (16.7.2009, C-189/08), ECLI:EU:C:2009:475 (Rn. 25–32). Im Schrifttum wird zum Teil vertreten, die Einschränkungen des Art. 5 Rom II in kollisionsrechtlicher Hinsicht auch auf die Zuständigkeitsfrage zu übertragen; vgl. etwa Rauscher/Leible (oben Fn. 22), Art. 7 Brüssel Ia-VO Rn.123. Dies dürfte aber mit dem Normtext des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia kaum zu vereinbaren sein. 45 Vgl. auch Schack ZEuP 2014, 824 (838). 46 Vgl. auch Schack IPRax 2020, 1 (5) („sehr eng und schuldnernah“). 47 Vgl. auch Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 205. 48 Dies deckt sich dann im Ergebnis mit der Bestimmung des Erfolgsortes i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Rom II durch EuGH (10.12.2015, C-350/14), ECLI:EU:C:2015:802. 49 Entsprechendes gilt auch für das sog. „Hinterbliebenengeld“ des § 844 Abs. 3 BGB, das einen immateriellen Schaden des Angehörigen ausgleichen soll und damit nicht selbst in den gegenständlichen Regelungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ fällt.

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auf solche Ansprüche zu beschränken ist, mit der die Verletzung in einem eigenen Rechtsgut der dort genannten Art geltend gemacht wird.50 Jedenfalls nicht anwendbar ist Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ aufgrund seiner gegenständlichen Beschränkung auf „reine Vermögensschäden“.51 Insofern bleibt damit nur der Rückgriff auf die allgemeinen Gerichtsstandsregeln. Auch insofern entscheidet das Übereinkommen also beklagtenfreundlich, vermeidet die Nöte um die angemessene Bestimmung des deliktischen Gerichtsstandes bei reinen Vermögensschäden52 und überlässt die Anerkennungsfähigkeit von Entscheidungen, die in einem anderen Forum ergangen sind, nationalem Recht über Art. 15 HAVÜ. Auch die Problematik von „cybertorts“ wird durch die gegenständliche Beschränkung des Art. 5 Abs. 1 lit. j HAVÜ ausgespart, allerdings sind die hier besonders relevanten Fälle der Persönlichkeits- und Immaterialgüterrechte schon von vornherein weitgehend vom Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgeschlossen (Art. 2 Abs. 1 lit. k–m HAVÜ). Hier verpflichtet das Übereinkommen also noch nicht einmal zur Anerkennung von Entscheidungen, die am Sitz des Beklagten ergangen sind, sondern überlässt die Frage vollständig nationalem Recht. Insgesamt muss also festgestellt werden, dass das Übereinkommen für den Bereich der Schadensersatzklagen wegen unerlaubter Handlungen letztlich die meisten problematischen Fälle weiträumig umschifft und bestenfalls ein Minimum an Anerkennungssicherheit gewährleistet, die stark auf den kompetenzrechtlichen Schutz des Beklagten ausgerichtet ist.

IV. Gerichtsstandsvereinbarungen Nachdem es sich beim HAVÜ nur um eine convention simple handelt, geht es in Bezug auf Gerichtsstandsvereinbarungen53 allein um ihre Auswirkungen auf die Anerkennung ausländischer Entscheidungen. Auch für die indirekte Zuständigkeit kommen aber sowohl die prorogierende Wirkung als auch die derogierende Wirkung einer Gerichtsstandsvereinbarung zum Tragen: erstere ist in Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ angesprochen, letztere in Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ. 50

Vgl. dazu Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 204. Schack IPRax 2020, 1 (5). 52 Zur problematischen Bestimmung insbesondere des Erfolgsortes vgl. EuGH (10.6. 2004, C-168/02), ECLI:EU:C:2004:364; EuGH (28.1.2015, C-375/13), ECLI:EU:C:2015: 37; EuGH (16.6.2016, C-12/15), ECLI:EU:C:2016:449. 53 Hier nicht näher untersucht wird die Zuständigkeit kraft ausdrücklicher Zustimmung während des Verfahrens (Art. 5 Abs. 1 lit. e HAVÜ) und kraft rügeloser Einlassung (Art. 5 Abs. 1 lit. f HAVÜ); vgl. dazu Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 168– 188; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (552 f.). 51

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Nach Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ sind Entscheidungen durch das in einer Vereinbarung der Parteien bestimmte Gericht grundsätzlich anzuerkennen. Dies gilt jedoch nur, sofern es sich nicht um eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung handelt. Deren Definition übernimmt Art. 5 Abs. 1 lit. m UAbs. 2 HAVÜ aus Art. 3 lit. a HGÜ. Die beiden Abkommen sollen folglich, was Gerichtsstandsvereinbarungen als Grundlage der indirekten Zuständigkeit anbelangt,54 grundsätzlich getrennt nebeneinander stehen: Bei ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen soll die Anerkennung auf der Grundlage von Art. 8 HGÜ erfolgen, bei nicht ausschließlichen auf der von Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ.55 Daraus folgt aber zugleich, dass das Anerkennungsregime des HAVÜ im Hinblick auf Gerichtsstandsvereinbarungen lückenhaft ist. Denn ein Staat, der lediglich dem HAVÜ beitritt, ist allein daraus nicht verpflichtet, Entscheidungen anzuerkennen, die in einem anderen Vertragsstaat aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung ergangen sind – sofern nicht ein zufällig eine andere Zuständigkeitsverknüpfung gem. Art. 5 Abs. 1 HAVÜ zu diesem Staat besteht. Tatsächlich müssen sowohl der Urteilsstaat als auch der Anerkennungsstaat dem HGÜ beigetreten sein, da auch für dieses das Gegenseitigkeitsprinzip gilt (Art. 8 Abs. 1 HGÜ). Anderenfalls kommt eine Anerkennung solcher Entscheidungen wieder nur nach nationalem Recht über Art. 15 HAVÜ in Betracht. Man mag dies damit rechtfertigen, dass das HAVÜ nur als Ergänzung des HGÜ gedacht ist und die Staaten beiden Übereinkommen beitreten sollen,56 erkauft wird diese Marketingmaßnahme für das HGÜ aber dadurch, dass das HAVÜ für den wichtigen Bereich der Gerichtsstandsvereinbarungen nur ein unbefriedigend unvollständiges Regelungsregime bereithält.57 Die Beachtlichkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen als Einwand gegen die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung ist Gegenstand des Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ. Danach können Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung versagt werden, wenn das Verfahren im Ursprungsstaat unter Verstoß gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung betrieben wurde. Anders als Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ macht Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ keine Ausnahme für ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen. Als Grundlage eines Einwandes gegen die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung kommen daher sowohl ausschließliche als auch nicht aus54

Vgl. im Übrigen Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 420–425. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 220. – Allerdings sieht Art. 22 HGÜ die Möglichkeit vor, das HGÜ durch Erklärung der Vertragsstaaten auf nicht ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen zu erstrecken. Insofern käme es zu Überschneidungen mit dem HAVÜ, die hier nicht weiter verfolgt werden können. 56 Vgl. auch Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (554). 57 Positiver wird die Regelungslücke mit einer Vermeidung von Überschneidungen gerechtfertigt von Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 220, vgl. auch Rn. 420. 55

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schließliche Gerichtsstandsvereinbarungen in Betracht.58 Tatsächlich ist gerade der Verstoß gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung geeignet, einen Anerkennungsversagungsgrund zu begründen. Doch kommt der Einwand auch bei nicht ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen im Sinne des Übereinkommens in Betracht.59 Damit füllt wiederum Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ eine wesentliche Lücke des HGÜ: Denn während jenes die Beachtlichkeit einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung bei Verfahrenseinleitung (Art. 5, 6 HGÜ) und als Grundlage für die Anerkennung der Entscheidung des prorogierten Gerichts (Art. 8, 9 HGÜ) anerkennt, schweigt es zur Versagung der Anerkennung von Entscheidungen, die unter Verstoß gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung ergangen sind.60 Hierfür bildet nunmehr Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ den einschlägigen Versagungsgrund.61 Auch abgesehen von der Ausgrenzung ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen aus dem Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ ist die Regelung des Übereinkommens indes unvollständig: So fehlt eine parallele Regelung zur Vermutung der Ausschließlichkeit nach Art. 3 lit. b HGÜ ebenso wie eine Aussage zur Selbständigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung, wie sie in Art. 3 lit. d HGÜ enthalten ist.62 Ist der Anerkennungsstaat auch dem HGÜ beigetreten, so wird man die betreffenden Regelungen wohl auch auf das HAVÜ übertragen können.63 Ist er das nicht, so mag eine solche Übertragung schon zweifelhafter erscheinen. Andererseits geht es nicht an, die Auslegung eines multilateralen Staatsvertrags wie des HAVÜ für jeden Staat eigenständig danach vorzunehmen, ob er einem anderen Übereinkommen (hier dem HGÜ) beigetreten ist oder nicht. Insofern wird man die allgemeinen Grundsätze des HGÜ hinsichtlich von Gerichtsstandsvereinbarungen in das HAVÜ hineinlesen müssen. Dieselben Probleme stellen sich hinsichtlich der Gültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung. Aus Art. 3 lit. c HGÜ übernimmt Art. 5 Abs. 1 lit. m HAVÜ immerhin die autonome Regelung der Formerfordernisse für Ge58

Vgl. auch Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 298–299. So werden etwa auch alternative, aber im Übrigen ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen (z.B. „Proceedings under this contract may be brought before court A in State X or court B in State Y, to the exclusion of all other courts“) als nicht ausschließlich im Sinne des HGÜ und des HAVÜ angesehen; vgl. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 222; Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 109. 60 Vgl. auch Pertegás in van Calster (Hrsg.), European Private International Law at 50, 2018, S. 67 (76). 61 Schack IPRax 2020, 1 (2). 62 Vgl. in beiderlei Hinsicht auch die ausdrücklichen Regelungen in Art. 25 Abs. 1 S. 2 und Abs. 5 Brüssel Ia. 63 In diesem Sinne hinsichtlich der Vermutung der Ausschließlichkeit auch Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 221. 59

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richtsstandsvereinbarungen.64 Keine Aussage trifft das HAVÜ dagegen hinsichtlich der materiellen Gültigkeit. Das HGÜ verweist insofern allgemein auf das Recht des prorogierten Gerichts (Art. 5 Abs. 1, Art. 6 lit. a, Art. 9 lit. a HGÜ).65 Eine besondere Regel gilt nach dem HGÜ jedoch für die Fähigkeit einer Partei zum Abschluss einer Gerichtsstandsvereinbarung: Insofern berufen Art. 6 lit. b und Art. 9 lit. b HGÜ das Recht des angerufenen Gerichts.66 Nach dem Bericht zum HGÜ soll durch diese Vorschriften indes unberührt bleiben, dass die Geschäftsfähigkeit der Parteien nach dem durch Art. 5 Abs. 1, Art. 6 lit. a, Art. 9 lit. a HGÜ bestimmten allgemeinen Gültigkeitsstatut der Gerichtsstandsvereinbarung zu beurteilen sein soll.67 Vielmehr soll die Geschäftsfähigkeit in anderen Staaten als dem des vereinbarten Gerichts zusätzlich den Anforderungen ihrer lex fori unterworfen werden.68 Der zusätzliche Verweis auf die jeweilige lex fori ist zweifellos unglücklich, da er selbst im Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten des HGÜ dazu führen kann, dass die Gültigkeit ein und derselben Gerichtsstandsvereinbarung nach unterschiedlichen Maßstäben zu beurteilen sein kann. Völlig unklar ist, ob diese Grundsätze auch für nicht ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen im Rahmen des HAVÜ zur Anwendung kommen sollen. Zumindest für die Übernahme der allgemeinen Verweisung auf das Recht des prorogierten Gerichts spricht, dass diese einem verbreiten Grundsatz entspricht, wie er auch in Art. 25 Abs. 1 S. 2 Brüssel Ia Eingang gefunden hat. Andererseits geht der vorläufige Bericht zum HAVÜ im Zusammenhang mit der Versagung der Anerkennung nach Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ davon aus, dass die Gültigkeit der Gerichtsstandsvereinbarung nach dem Recht des Anerkennungsstaates (einschließlich seines IPR) zu beurteilen sei.69 Dies wäre indes nicht mit der diesbezüglichen ausdrücklichen Regelungen im HGÜ zu vereinbaren. Insofern ist zu beachten, dass Art. 7 Abs. 1 lit. d HAVÜ nach dem Gesagten gerade auch in Bezug auf ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen zur Anwendung kommt. Zur Vermeidung schwerwiegender Normwidersprüche zwischen HAVÜ und HGÜ wird man daher auch im Rahmen des HAVÜ die kollisionsrechtliche Anknüpfung von Gerichtsstandsvereinbarungen wie beim HGÜ vorzunehmen ha64

Zu den Formerfordernissen näher Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 110–114. 65 Die Verweisung soll sich auch auf das Kollisionsrecht des betreffenden Gerichts beziehen; Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 94, 125, Rn. 149 Fn. 184, Rn. 183 Fn. 219. 66 Auch hier einschließlich des Kollisionsrechts; Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 150, 184. 67 Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 149, 183. 68 Hartley/Dogauchi, Report (oben Fn. 16), Rn. 150, 184. Daraus erklärt sich denn auch, dass in Art. 5 Abs. 1 HGÜ keine Sonderregelung für die Geschäftsfähigkeit enthalten ist; Hartley/Dogauchi, a.a.O., Rn. 126 mit Fn. 159. 69 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 299.

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ben – und sich damit wohl oder übel auch dessen unglückliche Handhabung der Geschäftsfähigkeit einhandeln. V. Schwächerenschutz: Verbraucher und Arbeitnehmer Was Entscheidungen über Streitigkeiten mit Verbrauchern oder Arbeitnehmern anbelangt, enthält das HAVÜ in Art. 5 Abs. 2 eine deutliche schlankere Regelung als die Brüssel Ia-Verordnung. Dies ergibt sich für Verbraucher zunächst daraus, dass (im Gegensatz zu Art. 17 Brüssel Ia) keine weiteren sachlichen oder situativen Voraussetzungen für das Eingreifen des Sonderregimes bestehen.70 Es genügt, dass die Anerkennung der Entscheidung gegen einen Verbraucher oder einen Arbeitnehmer erfolgen soll. Zumindest dem Wortlaut nach sind auch Verfahren unter ausschließlicher Verbraucherbeteiligung („C2C“-Geschäfte) erfasst.71 Inhaltlich wird der kompetenzrechtliche Schwächerenschutz im HAVÜ dadurch bewirkt, dass gem. Art. 5 Abs. 2 lit. b HAVÜ bei der Anerkennung von Entscheidungen gegen einen Verbraucher oder Arbeitnehmer die Regelungen in Art. 5 Abs. 1 lit. f, g und m HAVÜ keine Anwendung finden: Die indirekte Zuständigkeit kann damit weder auf den Erfüllungsort (lit. g) noch auf eine Gerichtsstandsvereinbarung (lit. m) oder rügelose Einlassung (lit. f) gestützt werden. Eine nach dem Übereinkommen anerkennungsfähige Entscheidung gegen den Verbraucher/Arbeitnehmer kann dessen Partner als Kläger daher grundsätzlich nur in dessen Aufenthaltsstaat erwirken (Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ).72 Klagt der Unternehmer/Arbeitgeber demgegenüber am Erfüllungsort oder vor dem vereinbarten Gericht, so hat er einen erheblichen strategischen Nachteil: Gewinnt er, so ist das Urteil wegen Art. 5 Abs. 2 lit. b HAVÜ nicht nach dem Übereinkommen anzuerkennen (wohl aber kommt auch hier eine Anerkennung nach nationalem Recht gem. Art. 15 HAVÜ in Betracht). Unterliegt er, so ist die Entscheidung jedoch gegen ihn gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c HAVÜ anzuerkennen. Der beklagte Verbraucher/Arbeitnehmer kann sich zudem, was das Übereinkommen anbelangt, unbesorgt auf das Verfahren einlassen, um nach Möglichkeit eine ihm günstige Entscheidung zu erwirken, da auch eine rügelose Einlassung (Art. 5 Abs. 1 lit. f HAVÜ) gem. Art. 5 Abs. 2 lit. b HAVÜ als Zuständigkeitsgrund ausgeschlossen ist. Nur eine ausdrückliche, dem Gericht gegenüber erklärte Zustimmung zu dessen Zuständigkeit vermag in solchen Fällen (neben dem gewöhnlichen Aufenthalt) gem. Art. 5 Abs. 1 lit. e i.V.m. Abs. 2 lit. a HAVÜ die Anerkennung einer Entscheidung gegen den Verbraucher/

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Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 226. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 227. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 230.

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Arbeitnehmer zu tragen.73 Der Unternehmer/Arbeitgeber ist nach alledem gut beraten, gegen den Verbraucher/Arbeitnehmer nur in dem Staat vorzugehen, in dem dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Umgekehrt ergeben sich für Klagen des Verbrauchers/Arbeitnehmers keine Besonderheiten aus Art. 5 Abs. 2 HAVÜ. Erheben diese mit Erfolg eine Klage in den in Art. 5 Abs. 2 lit. b HAVÜ genannten Gerichtsständen, so können sie die Entscheidung ohne Weiteres nach den allgemeinen Regeln durchsetzen, da Art. 5 Abs. 2 lit. b HAVÜ insofern keine Schranken setzt.74 Unterliegen sie mit ihrer Klage, so ist die Entscheidung gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c HAVÜ anzuerkennen, der von Art. 5 Abs. 2 HAVÜ unberührt bleibt. Was Verbrauchersachen anbelangt, ergibt sich hierbei allerdings ein Unterschied zu Art. 17 ff. Brüssel Ia: Denn während dort (unter den Voraussetzungen des Art. 17 Brüssel Ia) die Zuständigkeit auf den Wohnsitz des klagenden Verbrauchers (oder des beklagten Unternehmers) gestützt ist (Art. 18 Abs. 1 Brüssel Ia), kommt für das HAVÜ neben dem gewöhnlichen Aufenthalt des beklagten Unternehmers gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ nur der Erfüllungsort gem. Art. 5 Abs. 1 lit. g HAVÜ in Betracht. Insofern kommt es für den Verbraucher nur dann zu einem Klägergerichtsstand, wenn in dessen Staat auch der – materiell-rechtliche75 – Erfüllungsort liegt.

VI. Immobiliargerichtsstand Schließlich soll noch ein Blick auf einen „klassischen“ Sonderfall des internationalen Kompetenzrechts gelegt werden, namentlich Streitigkeiten über Rechte an unbeweglichen Sachen, für die regelmäßig ein besonderer, meist sogar ausschließlicher Gerichtsstand besteht. 1. Ausschließliche Zuständigkeiten Dementsprechend sieht auch Art. 6 HAVÜ eine ausschließliche Zuständigkeit des Belegenheitsstaates zur Entscheidung über dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen vor. Danach sind ausschließlich Entscheidungen des Belegenheitsstaates anzuerkennen; die Anwendung von Art. 5 HAVÜ wird ausdrücklich ausgeschlossen. Allerdings enthält Art. 6 HAVÜ nicht die einzige Regelung eines ausschließlichen Immobiliargerichtsstandes. Eine weitere findet sich, etwas versteckter, in Art. 5 Abs. 3 HAVÜ, wonach auch bei Entscheidungen über Wohnraummietverhältnisse („residential lease of im73 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 231; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (558). 74 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 226; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (557). 75 Oben III 1, bei Fn. 27.

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movable property“) oder die Eintragung von unbeweglichen Sachen („registration of immovable property“)76 ausschließlich eine Zuständigkeit des Belegenheitsstaates anerkannt wird. Mit der Erstreckung auf Wohnraummietverhältnisse wird teilweise ein Anschluss an Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia bewirkt,77 wobei letzterer aber sowohl die private wie auch die gewerbliche Miete erfasst.78 Diese Aufspaltung der ausschließlichen Immobiliargerichtsstände in zwei verschiedene Vorschriften ist auf den ersten Blick verwirrend. Sie erklärt sich jedoch aus der Fassung des Günstigkeitsprinzips in Art. 15 HAVÜ: Danach steht das Übereinkommen der Anerkennung von Entscheidungen nach nationalem Recht nur unter dem Vorbehalt von Art. 6 nicht entgegen. Für die von Art. 6 HAVÜ erfassten Fälle soll also nicht nur im Rahmen des Übereinkommens die ausschließliche Zuständigkeit auf den Belegenheitsstaat beschränkt sein, die Ausschließlichkeit soll sich vielmehr auch gegenüber einer möglicherweise liberaleren Haltung des Vertragsstaates, insbesondere auch des Belegenheitsstaates selbst, durchsetzen.79 Entscheidet ein Gericht des Staates A über dingliche Rechte an einem in Staat B belegenen Grundstück, so ist die Entscheidung also in Staat B (oder einem anderen Vertragsstaat des HAVÜ) selbst dann nicht anzuerkennen, wenn Staat B nach seinem nationalen Recht insofern gar keine ausschließliche Zuständigkeit in Anspruch nimmt. Für eine derart restriktive Haltung lässt sich nicht wirklich eine sachliche Rechtfertigung finden. Man mag sich allenfalls damit trösten, dass für die von Art. 6 HAVÜ erfassten Fälle die meisten Staaten ohnehin traditionell eine ausschließliche Zuständigkeit in Anspruch nehmen.80 Indem nun die Wohnraummiete (neben der Eintragung von unbeweglichen Sachen) aus Art. 6 HAVÜ herausgenommen und in Art. 5 Abs. 3 HAVÜ geregelt wurde, nimmt sie an diesem Ausschluss des Günstigkeitsprinzips nicht teil. Dementsprechend ist die Zuständigkeit des Belegenheitsstaates nach dem Übereinkommen zwar nach wie vor ausschließlich, dies steht jedoch einer Anerkennung von Entscheidungen anderer Staaten als des Belegenheitsstaates nach nationalem Recht nicht entgegen.81 Dies ist 76

In letzterer Hinsicht besteht ein unklares Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 lit. j HAVÜ, wonach die Gültigkeit von Eintragungen in öffentliche Register von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgeschlossen ist. Dieser Frage kann hier nicht weiter nachgegangen werden. 77 Vgl. auch Pertegás (oben Fn. 59), S. 73–74. 78 Rauscher/Mankowski (oben Fn. 22), Art. 24 Brüssel Ia-VO Rn. 26. 79 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 256, 264, 369; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (559). – Abgesichert wird Art. 6 HAVÜ auch gegenüber sonstigem inter- oder supranationalem Recht in Art. 23 Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 lit. b HAVÜ. 80 Vgl. Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 265 („a common and uncontroversial category of exclusive jurisdiction in many legal systems“). 81 Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (560); Schack IPRax 2020, 1 (5).

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eine deutlich vorzugswürdige Regelung. Noch differenzierter (wenn auch nicht auf die Wohnraummiete beschränkt) war die Regelung von Entscheidungen in Mietsachen nach dem Entwurf vom Mai 2018:82 Nach dessen Art. 6 lit. c wurde eine ausschließliche Zuständigkeit nur für Mietverhältnisse über sechs Monate und nur unter dem Vorbehalt anerkannt, dass der Belegenheitsstaat selbst eine ausschließliche Zuständigkeit in Anspruch nimmt.83 Schon nach dem Entwurf von 2018 bestand der Vorbehalt im Hinblick auf die Haltung des Belegenheitsstaates indes nur hinsichtlich von Miet- und Pachtverhältnissen, während die ausschließliche Zuständigkeit für Entscheidungen über dingliche Rechte im Übrigen ohne Einschränkung (auch gegenüber nationalem Recht, vgl. Art. 16 des Entwurfs) durchgesetzt wurde. Besser wäre es gewesen, wenn man denn überhaupt an der Ausschließlichkeit des Gerichtsstandes festhalten möchte,84 die Entscheidung über die Inanspruchnahme ausschließlicher Entscheidungszuständigkeit generell dem Belegenheitsstaat zu überlassen. 2. Konkurrierende Zuständigkeiten Deutlich weniger kontrovers sind demgegenüber die übrigen konkurrierenden Zuständigkeiten im Hinblick auf unbewegliche Sachen: So erkennt Art. 5 Abs. 1 lit. h HAVÜ für die Miete oder Pacht von unbeweglichen Sachen eine Zuständigkeit des Belegenheitsstaates an. Da es sich lediglich um eine konkurrierende Zuständigkeit handelt, sind daneben insbesondere auch Entscheidungen am gewöhnlichen Aufenthalt einer Partei gegen diese nach Art. 5 Abs. 1 lit. a HAVÜ anzuerkennen.85 Vorbehalten bleibt aber die Wohnraummiete, für die ein ausschließlicher Gerichtsstand nach Art. 5 Abs. 3 HAVÜ besteht. Ferner besteht nach Art. 5 Abs. 1 lit. i HAVÜ eine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs hinsichtlich von Entscheidungen über vertragliche Verbindlichkeiten, die durch ein dingliches Recht gesichert sind. Dies erlaubt dem Inhaber eines durch ein Grundpfandrecht gesicherten Anspruchs, auch den persönlichen Anspruch im Belegenheitsstaat (der für das dingliche Recht gem. Art. 6 HAVÜ ausschließlich zuständig ist) geltend zu machen und von der Anerkennungspflicht des Übereinkommens zu profitieren.86

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Abrufbar unter assets.hcch.net/docs/9faf15e1-9c36-4e57-8d56-12a7d895faac.pdf. Zu diesen Einschränkungen näher Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 270–272. 84 Zur Kritik an einem ausschließlichen Immobiliargerichtsstand Solomon, FS von Hoffmann 2011, 727–745. 85 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 198, 269; Bonomi/Mariottini YbPIL 20 (2018/19), 537 (559). 86 Garcimartín/Saumier, Report (oben Fn. 2), Rn. 199. 83

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VII. Fazit Die Nöte bei der Erzielung eines Kompromisses im Recht der internationalen Zuständigkeit spiegeln sich zwangsläufig auch im neuen Haager Übereinkommen von 2019 wider: Die Gerichtsstände, die die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen nach dem Übereinkommen tragen, sind tendenziell beklagtenfreundlich ausgestaltet. Viele problematische Bereiche bleiben schon aus dem sachlichen Anwendungsbereich ausgespart. Vertragsstaaten, die sich anerkennungsrechtlich weiter hinaus wagen wollen, können dies über das Günstigkeitsprinzip des Art. 15 HAVÜ tun, haben aber umgekehrt keine staatsvertragliche Gewähr, dass andere Vertragsstaaten ihrem Beispiel folgen. Der gemeinsame Nenner, auf dem die internationale Zuständigkeit im Rahmen des HAVÜ geregelt wurde, ist damit noch immer recht klein. Auch wenn mit dem Übereinkommen der „große Wurf“ noch nicht gelungen sein mag, existiert aber doch immerhin eine Basis, auf der man aufbauen kann. Ob und wie die beiden Haager Übereinkommen von 2005 und 2019 weiter entwickelt werden können, ist noch nicht abzusehen. Es bleibt spannend.

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„Getting to Yes“ in China „Getting to Yes“ in China Sabine Stricker-Kellerer

„Getting to Yes“1 in China SABINE STRICKER-KELLERER I. II. III. IV.

Trenne Mensch und Problem Interessen, nicht Positionen . Emotionen und Taktik/List . Zu guter Letzt . . . . . . . . . .

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„Am Ende einen Kompromiss zu finden, das ist keine Schwäche, sondern das zeichnet uns aus! Die Fähigkeit zum Kompromiss ist die Stärke der Demokratie.“ Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, Weihnachtsansprache 2018

Als Roderich Thümmel 1983 sein Studium an der Harvard Law School aufnahm, war dort gerade das „Program on Negotiation“ gegründet worden; zum ersten Mal wurde die Kunst des Verhandelns Bestandteil des Curriculum mehrerer Fakultäten. Die Gründer dieses Programms hatten vorher den bis heute beliebten und wichtigen Bestseller geschrieben: „Getting to Yes“; der Inhalt ist heute als „das Harvard-Konzept“ Teil jeder Verhandlungsstrategie. Die Methode betont „sachgerecht verhandeln“, heute spricht man eher von „interessenbasiertem“ Verhandeln. Das Thema ist aktueller denn je: der US-China Handelsstreit sucht eine Lösung; die internationalen Institutionen müssen reformiert, aber vor allem gestärkt werden; bei schwächelnder Wirtschaft steigt die Streitfreude unter Vertragspartnern. All dies kann nur auf dem Verhandlungsweg geschehen. China und chinesische Verhandlungspartner spielen dabei eine wichtige Rolle. Im Folgenden sollen einige Aspekte des Harvards-Konzepts den klassischen Verhandlungsparametern und -taktiken bei Vertragsverhandlungen westlicher Unternehmen mit chinesischen Partnern gegenübergestellt werden. 1 “Getting to Yes, Negotiating Agreement without Giving in”, Roger Fisher and William Ury, 1981, revised edition with Bruce Patton, 2011; deutsche Fassung: “Das HarvardKonzept”, Roger Fischer, William Ury, Bruce Patton, 1991.

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I. Trenne Mensch und Problem „Every negotiator has two kinds of interests: in the substance and in the relationship”2. Die klare Trennung der zwischenmenschlichen Aspekte von den zu lösenden Problemen ist die Kernaussage des Harvard-Konzepts. Der menschliche Aspekt von Verhandlungen kann hilfreich, kann aber auch desaströs sein, und daher muss man sich mit den beiden Aspekten getrennt auseinandersetzen: den zwischenmenschlichen Bereich und das Problem zwar gemeinsam sehen, aber separate Strategien der Problemlösung erarbeiten. Auf der menschlichen Ebene muss man sich dabei ebenso mit der Perzeption (der eigenen sowie der Perzeption des Gegenübers und der Frage, wie das Gegenüber uns sieht) befassen. Es geht um Fragen von Emotionen sowie der Kommunikation. Dieses Prinzip der Trennung finden wir so weder traditionell noch in der Moderne in China wieder. Die Verhandlungspartner stehen dort im Mittelpunkt. Die Beziehung zum Gegenüber ist Schwerpunkt chinesischer Verhandlungstaktik. Diese Besonderheit führt häufig dazu, dass der westliche Partner dies so interpretiert, dass alleine die Beziehung und ihr zwischenmenschlicher Charakter einem endgültigen, feinsäuberlich ausgearbeiteten Vertrag vorzuziehen ist. Oft heißt es in China-Verhandlungen, dass dann, wenn die Beziehung zwischen beiden Parteien gefestigt ist, der vertragliche Inhalt schneller verhandelbar ist – oder noch mehr: überhaupt weniger relevant ist. Aber es sollte dieser menschliche Aspekt in keinem Falle wichtiger als das Problem selbst sein, sondern man muss eine Kombination von beidem finden. Offen ist, ob diese andere Gewichtung auf chinesischer Seite kulturelles Erbe oder doch nur Taktik ist. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind wesentliche Bestandteile einer Verhandlungsbeziehung und des späteren Vertragsverhältnisses. Ihre Bedeutung darf natürlich nicht bei der Bewertung des Konzepts der Trennung von Menschen und Problemen untergehen. Hat man die Probleme und Ziele beider Seiten definiert, so ist es Teil der Risikoanalyse, ob auch ein ausreichendes Vertrauen zwischen den Parteien besteht. Es ist quasi ein Teil des Problems3. So hat auch Henry Kissinger besonders die Kombination von Problemlösung und Beziehung zum Menschen betont4, als er in Interviews mit heutigen Vertretern des „Program on Negotiation“, eben auch das Problem und die menschlichen Beziehungen voneinander trennte. Er unterscheidet bei Verhandlungsvorbereitungen und Verhandlungstaktik zwischen Momenten 2

S. Fußnote 1, S. 21. „Trusting others is a matter of risk analysis”, in „Beyond Reason – Using Emotions as You Negotiate”, Roger Fisher and Daniel Shapiro, 2005, S. 162. 4 “Kissinger the Negotiator”, Sebenius, Burns, Mnookin, 2018, S.190, 194. 3

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des „zooming in“ auf die Menschen und des „zooming out“ auf das Problem und die Strategie; er unterscheidet so zwischen dem aktuellen Verhandlungsverhalten hinsichtlich des Machbaren und den langfristigen und übergeordneten Zielen. Zusätzlich teilt er Verhandlungen in zwei Teile: Verhandlungen „at the table“ und „away from the table“. Die Verhandlung „away from the table“ dient gerade auch dazu, mit Blick auf das weitere Umfeld und die handelnden Personen in anderer Umgebung das Problem und die Interessenlage zu verstehen, also nicht nur mit dem Gegenüber in langen Sitzungen oder Banketten eine Beziehung herzustellen. Eine Situation, in der der Mensch und das Problem relativ stark vermengt werden, und oft nicht klar genug das Problem im Vordergrund steht, sind die sogenannten Vier-Augen-Gespräche. Wird bei einem solchen CEOGespräch der Vorstand bestens vorbereitet, mit allen Hintergrundinformationen und Strategieüberlegungen und -optionen gewappnet, bleiben VierAugen-Gespräche doch sehr personenbezogen. Sie bringen viele Risiken mit sich, u.a. dass beide Individuen zu eben diesem Zeitpunkt nicht die Probleme in den Vordergrund stellen, sondern das gegenseitige Verhältnis und Vertrauen und/oder dann Entscheidungen treffen, bei denen nicht alle Parameter des Verhandlungs- und Streitgegenstandes ausreichend bedacht sind. Solche Ergebnisse von Vier-Augen-Gesprächen müssen dann von den jeweiligen Teams wieder „eingefangen“ werden. Das oft hierarchische Denken chinesischer Verhandlungspartner betont allerdings und wertschätzt solche Vier-Augen-Gespräche. Fehlt aber im Gespräch die begleitende kritische Betrachtung durch das Verhandlungsteam, so kann es nach dem Gespräch zu einem Punktgewinn der chinesischen Seite nach dem Grundsatz „divide et impera“ kommen. Vergleichbares gilt für manchen China-Kenner in Unternehmen. Ein vielleicht emotional begeisterter „Mr. China“ kann einem Unternehmen Vorteile bringen, um ein Projekt schnell voranzutreiben und zügig zum Abschluss zu kommen; er kann allerdings auch Ergebnisse erzielen, die nicht die ganze Bandbreite der Interessen und Probleme abdecken. So ist es auch eine in China übliche Taktik, aufgrund der guten Beziehungen zum Gegenüber Themenblöcke zu spalten: unliebsame kritische Themen bzw. Vertragsstreitigkeiten von Neuprojekten abzukoppeln, erstere an andere zu delegieren und nur letztere von der guten Beziehung auf „Chef-Ebene“ profitieren zu lassen. Zur Problemerkennung gehört auch, dass ein Ziel nicht statisch ist. Häufig ändern sich die Themen im Laufe der Verhandlungen oder auch nach Abschluss der Verträge. Die notwendige Flexibilität kann man sich nur bewahren, wenn man auf das Problem fokussiert war und ist und nicht auf die im Zeitpunkt der Verhandlungen handelenden Personen, die sich ja jederzeit ändern können. Diese Flexibilität ist sicher zu unterscheiden von einer reinen Verhandlungstaktik, die oft chinesischen Gegenübern zugesprochen wird, nämlich: „the signing of a contract is the beginning of the next round

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of negotiations“. Erfahrungsgemäß wissen chinesische Vertragspartner sehr genau, was in den Verträgen verabredet wurde, wollen sich aber die taktische Flexibilität im Fortgang der Projektimplementierung erhalten. Eine Unterscheidung zwischen Vertragsbruch einerseits und Flexibilität zu Interpretation der Neuverhandlung andererseits ist hier manchmal schwer. Interessenbasiertes, zukunftsorientiertes Verhandeln kann die Risiken reduzieren. Überbetont man die Beziehung der Vertragsparteien untereinander bereits in der Verhandlungsphase, können Probleme in der Regel nicht klar genug angesprochen werden, Problemlösungen nicht detailliert dargestellt werden und vor allem mögliche zukünftige Probleme nicht in das Verhandlungskonzept eingebaut werden, sie bleiben wage und werden meist offengelassen. Der Druck, bei einzelnen Vorschlägen nicht mehr „Nein“ sagen zu können, ist dann zu groß, und statt nach vorne blickend Fragestellungen zu antizipieren, kehrt man sie eher unter die Decke der langfristigen Freundschaft und der blühenden Wiesen. Auch verhandelt man in China selten nur mit einer Person oder Personengruppe, sondern viele Beteiligte sind wichtig genug, einbezogen zu werden. So sind auch die Interessenlagen auf chinesischer Seite selten homogen: seien es die des unmittelbaren verhandelnden Gegenübers, des Unternehmens, seiner Muttergesellschaft, bei staatseigenen Unternehmen die des Staates, der Partei, der lokalen Behörden oder der Zentralbehörden. Mit einer guten sachbezogenen Lösung ist hier mehr gewonnen als durch gute Beziehungen. Muss diese chinesische Herangehensweise unbedingt immer zum Nachteil westlicher Verhandlungspartner sein? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, da die chinesische Seite in Verhandlungen und bei der Projektimplementierung meist einen Heimvorteil hat, und so auch oft die heranziehenden grauen Wolken vor Ort schneller erkennen kann. Interessenbasiert Verhandeln bedeutet allerdings auch, dass man Probleme offen anspricht, eigene Interessenlagen artikuliert und Optionen für Lösungen von Problemen auf den Tisch legt und diskutiert. Das ist bei Verhandlungen mit chinesischen Vertragspartnern nicht immer üblich. Verhandlungstaktik und -strategie, einschließlich viel diskutierte Aspekte der List5, basieren nicht auf dem Prinzip der vollen Transparenz. Es scheint auf den ersten Blick widersprüchlich: Betonung der Beziehung, Sich-Einlassen auf das Gegenüber einerseits und strategische Intransparenz zur eigenen Interessenlage andererseits. Aber es schließt sich strategisch nicht aus. Dies zu durchbrechen und das Problem und die Interessenlagen herauszuarbeiten, anzusprechen und eine Win-Win-Situation zu schaffen, ist die hohe OstWest-Verhandlungskunst. 5 „The Art of Strategy“, A New Translation of Sun Tzu’s Classic „The Art of War“, R. L. Wing, 1988.

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II. Interessen, nicht Positionen Eine weitere Kernaussage des Harvard-Konzepts ist, dass die Interessen im Mittelpunkt stehen sollen und nicht die Positionen der Verhandlungspartner. Position beziehen ist zunächst einfacher. Man kann seine eigene Position definieren, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Interessen des anderen. Im Extremfall riskiert man allerdings dann, wenn man eine Position aufgeben muss, einen Gesichtsverlust; ein Konzept, das nicht nur in China weit verbreitet ist. Das macht einen Rückzug von der eigenen Position schwerer. Mit guter Strategie führt es aber umgekehrt dazu, dass das Gegenüber in die Enge getrieben wird und dem, der Position bezogen hat, keinen Gesichtsverlust zumuten will – gerade wenn auch die persönliche Beziehung so (über-)betont wurde. So versetzt es auch den ausländischen Verhandlungspartner in China in eine schwierige Situation: Hat der chinesische Vertragspartner eine Position besetzt und ist ein Abweichen davon ein Gesichtsverlust, bleibt faktisch kein Verhandlungsspielraum. Interkulturelle Überbetonung des Gesichtsverlusts auf chinesischer Seite führt zu nicht ausbalancierten Verhandlungen. Letztendlich bedeutet eben jedweder Positionsverlust, sei es in westlicher oder asiatischer Kultur, ein Nachteil. Dies wiederum sollte uns gerade zeigen, dass eben die interessenbasierte Verhandlungstaktik hier emotionale Klippen wesentlich besser umschiffen kann. Interessen zu modifizieren, zu adaptieren, an konkrete Umstände oder auch an die Ziele des Gegenübers anzupassen, ist ein sachliches Vorgehen und letztlich auch einfacher zu bewerkstelligen als eine Positionsaufgabe. Im Rahmen des US-Chinesischen Handelsstreits bzw. Handelskriegs, übergab 2018 zu Beginn die amerikanische Seite der chinesischen Seite ein Papier, genannt „Balancing the Trade Relationship“6, das mit 8 Kapiteln eine Art Entwurf einer Rahmenvereinbarung sein sollte. Dieses Dokument enthielt allerdings keinerlei Darstellung von Interessen, geschweige denn eine Abwägung derselben, sondern war alleine ein amerikanisches Positionspapier. Kernbestimmung jedes Kapitels war eine einseitige Pflicht Chinas („China commits …“, „China undertakes …“ etc.). Wie schwierig ein Abrücken von solchen Positionen ist, zeigten auch die sich daran anschließenden Verhandlungen. Ein Teil der Definition der eigenen Interessen und vor allem auch der Versuch, die Interessen der Gegenseite zu verstehen, ist es, zu definieren, was in diesem Rahmen nicht verändert werden kann, worauf z. B. der chinesische Verhandlungspartner keinen Einfluss hat. 6

www.xgdoc.imedao.com/16329faoc862da913fc9058b.pdf.

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Ein anderer Aspekt, der in der Vorbereitung von Verhandlungen abgewogen werden muss ist, ob man mit weitestmöglichen Forderungen in die Verhandlung geht, um viel Potenzial für Zugeständnisse zu haben, oder ob man mit realistischeren Aussagen die Verhandlungen beginnt. Generell gesprochen bevorzugen deutsche Verhandler in China den realistischeren, interessenbasierten Ansatz, bei dem man seine Interessen dann auch relativ gut am Anfang der Gespräche erläutern kann; chinesische Verhandler hingegen haben den Ruf, recht weit auszuholen. Es ist allerdings nicht ein Ost-West Thema, dass z. B. chinesische Verhandler meist mit extremen Positionen beginnen. Auch die bereits genannten US-Chinesischen Handelsstreitigkeiten zeigten, wie der Präsident der USA mit weitestgehenden, extremen, nicht erreichbaren Forderungen die Verhandlungen beginnt. Im Gegenzug dazu, hat Henry Kissinger7 generell empfohlen „to reconsider the concept of “state high, concede slowly””. Der Win-Win-Gedanke, der so häufig in chinesischer Terminologie verwandt und in Verhandlungen betont wird, ist nicht nur in der östlichen Welt Grundlage für langfristigen Erfolg. Richtig strukturiert, ist eine WinWin-Situation das Ergebnis einer genauen Definition und Berücksichtigung der Interessen beider Seiten. III. Emotionen und Taktik/List Auch das Team des „Program on Negotiation“ verkennt nicht, dass Emotionen in Verhandlungen eine wesentliche Rolle spielen. So publizierte es nach „Getting to Yes“ dann in 2005 auch einen weiteren Klassiker: „Beyond Reason – Using Emotions as You Negotiate“8. Es argumentiert für eine klare Analyse von positiven und negativen Emotionen. Positive Emotionen, das Gefühl Seite an Seite eine Vereinbarung zu erzielen, bergen die Gefahr, die inhaltlichen Interessen zu vernachlässigen. Negative Emotionen können dem Erfolg im Weg stehen, aber positive eben auch. „Although positive emotions may help you produce a mutually satisfying agreement, there is a danger that you may feel so comfortable that you make unwise concessions or act with overconfidence.”9 Bevor man eine Vereinbarung endgültig eingeht, muss auch dann die Frage stehen, ob sie interessensgerecht ist. Ein Beispiel für das Risiko positiver Emotionen ist der oben im ersten Kapitel beschriebenen „Mr. China“. Völlig unabhängig von der Trennung von Mensch und Problem bleibt die Kunst, bei dem Vertragspartner bzw. Gegenüber Druck aufzubauen durch den Terminkalender, Reiseplanungen, echten oder vorgetäuschten Presse7 8 9

S. Fußnote 4, S 280 ff. S. Fußnote 3. S. Fußnote 3, Seite 8.

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konferenzen, Mitarbeitereinbindung oder betriebswirtschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Wirtschaftspläne. Klassischer Teil von China-Verhandlungen ist auch, das Gegenüber rein und raus aus seiner Komfortzone zu bewegen. Werden die menschlichen Beziehungen (über-)betont, durch Banquette, Sightseeing, persönliche Nähe, so können dann überraschende Änderungen des erwarteten Szenarios zu Irritationen führen, z.B. eine plötzliche Änderung des Verhandlungsteams, des Ortes der Verhandlung, der Zeitvorgaben, einem Wiederaufrollen erledigter Themen etc. Dies sind taktische Aspekte, keine strategischen, aber auch sie müssen sachbezogen behandelt werden. Dieses „in and out of comfort zone“ ist seit Jahrhunderten Teil der Beschreibung der Komplexität von Verhandlungen in China. So beschreibt Tim Clissold 2014 seine Erfahrungen zunächst mit einem Blick in die Geschichte – als George Macartney 1793 als 1. Britischer Diplomat zum chinesischen Kaiser Qianlong entsandt wurde, um Handelsbeziehungen zu ermöglichen: “When I first read about Macartney’s expedition, it was as if a string of firecrackers had exploded about my head. Despite the passage of more than two hundred years, almost every detail of his visit to China was instantly familiar from our trip to Quzhou: The experience of being kept waiting for hours and then receiving demands for an immediate meeting; never knowing who is really in charge; being abandoned by intermediaries and translators; the swapping of personnel with no explanation; the pointless meetings with local officials for exchanging meaningless pleasantries while the clock ticks away …”10.

IV. Zu guter Letzt Einerseits muss man Verhandlungen so vorbereiten, dass einem das Gegenüber bestmöglich bekannt, wenn nicht vertraut ist. Andererseits kann man jedoch nicht übervorbereitet sein, wenn es um das Problem und die zu lösenden Fragen geht. Das gilt im West-West-Kontext genauso wie bei Ost-West-Verhandlungen. So wird schon Abraham Lincoln zitiert: „If I had eight hours to chop down a tree, I’d spend six sharpening my axe.“11 Und dem Taktik- und Strategiemeister Suntse wird die Aussage zugeschrieben: „Know yourself and know the other, and you will survive a hundred battles“12. 10 11 12

„Chinese Rules“, Tim Clissold, 2014, S. 63. www.goodreads.com/quotes/7890929-if-i-had-eight-hours-to-chop-down-a-tree. S. Fußnote 10, S. 233.

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Das chinesische Wort für einen Kompromiss, den Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache 2018 besonders betonte, setzt sich zusammen aus den Zeichen für „angemessen, geeignet, zweckmäßig“ und „Vereinbarung“. Dass chinesische Zeichen für „Zugeständnisse“, die Aufgabe von Positionen, kommt hier nicht vor. Ein Kompromiss ist eben angemessen für beide Seiten, er ist auch in China etwas Positives. Am Ende steht auch heute für mich immer noch an 1. Stelle der Rat, den Professor Jerome A. Cohen 1983 an der Harvard Law School uns allen mit auf den Weg gab: PPP- Patience, Persistence, Perseverance.

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Stand und Perspektiven des Kartellzivilprozesses Stand und Perspektiven des Kartellzivilprozesses Stefan Thomas

Stand und Perspektiven des Kartellzivilprozesses STEFAN THOMAS*

I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . Anreizstrukturen Nachweisfragen . Ausblick . . . . . .

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I. Einleitung Der Kartellschadensersatz hat sich zu einer eigenständigen Teildisziplin des Kartellrechts entwickelt. Die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs zur Aktivlegitimation von „jedermann“1 hat dazu ebenso beigetragen wie die Fortentwicklung des Rechts durch den Bundesgerichtshof und nicht zuletzt die EU-Kartellschadensersatzrichtlinie2, die mit der neunten GWB-Novelle3 umgesetzt wurde. Rechtsinstrumente wie die sogenannte Feststellungswirkung in § 33b GWB4 oder die gesetzlichen Schadensvermutungen5 haben klägerseitige Interessen gestärkt und die Anspruchsdurchsetzung gefördert. Während Kartellschadenersatzprozesse wegen Verstößen * Ich danke Prof. Dr. Stefan Huber, LL.M., Prof. Dr. Roman Inderst und RA Prof. Dr. Gerhard Wiedemann für wertvolle Kommentare. The usual disclaimer applies. 1 EuGH 20.9.2001, Rs. C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465, Rn. 26 – Courage und Crehan; EuGH 13.7.2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, ECLI:EU:C:2006:461, Rn. 60 – Manfredi u.a./Lloyd Adriatico u.a. 2 Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349/1 (im folg. „Rili“); zur Rili Weitbrecht NJW 2017, 1574 ff.; Bischke/Brack NZG 2016, 99; Ascheberg JA 2016, 1101; Pipoh (Bericht zum Forum Unternehmensrecht), NZKart 2016, 226; zur Richtlinie bereits Schweitzer NZKart 2014, 335; Stauber/Schaper NZKart 2014, 346; zu Fragen einer möglichen „Vorwirkung“ der Richtlinie siehe Schnitzler WuW 2015, 992. 3 Siehe dazu BegrRegE 9. GWB-Novelle, BT-Drucks. 18/10207. 4 Vor der 9. Novelle geregelt in § 33 Abs. 4 GWB. 5 Vgl. die allgemeine Schadensvermutung in § 33a Abs. 2 GWB sowie zur Weiterwälzung § 33c Abs. 2 GWB. Entsprechende gesetzliche Vermutungstatbestände gab es vor der 9. Novelle nicht. Es wird insoweit nach der Rspr. des Bundesgerichtshofs auch nicht von einem Anscheinsbeweis ausgegangen BGH 12.12.2018, Az.: KZR 26/17 – Schienenkartell.

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gegen das europäische und deutsche Kartellverbot noch vor 15 Jahren selten waren, ist die Zahl mittlerweile deutlich gestiegen.6 Auch ausländische Prozessfinanzierer haben Kartellklagen vor deutschen Gerichten als Investitionsobjekt erkannt und sind dem Vernehmen nach in erheblichem Umfang im deutschen Markt aktiv. Gleichwohl ist die Zahl erfolgreicher Leistungsklagen, in denen konkrete Schadenssummen zugesprochen werden, nach wie vor sehr gering7, und es betrifft dann vor allem Fälle, in denen sich der Schadensnachweis wegen vertraglicher Pauschalen erübrigte.8 In den meisten Fällen werden die Leistungsklagen9 abgewiesen, oder es ergehen lediglich Grundurteile nach § 304 Abs. 1 ZPO10. Ob dieser Befund Ausdruck eines Rechtsfortschritts ist, etwa, weil auf Basis der Grundurteile Vergleichsverhandlungen geführt werden können, oder ob die Private-Enforcement-Welle im Sand der deutschen Zivilprozessordnung gleichsam versickert, wird in der Praxis unterschiedlich beantwortet. Fest steht aber, dass die Entwicklung durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet ist: Einerseits stehen die jedenfalls theoretisch sehr weitgehenden Wirkungen, die ein Kartell ökonomisch auslösen kann, und andererseits existiert eine Zivilprozessordnung, die für den Ausgleich schwer quantifizierbarer Streuschäden nicht ausgelegt zu sein scheint. Vor diesem Hintergrund ist der Versuchung zu widerstehen, Radikallösungen das Wort zu re6 Siehe zu einem rechtvergleichenden Überblick über die Praxis der Kartellschadensersatzansprüche Laborde Cartel damages actions in Europe: How courts have assessed cartel overcharges (2019 ed.), Concurrences N° 4-2019. 7 Zu diesem Befund statt aller Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 2 f. 8 LG Berlin 16.12.2014, Az.: 16 O 384/13 Kart, juris-Rn. 56 ff. – Pauschalierter Schadensersatz; OLG Karlsruhe 31.7.2013, Az.: 6 U 51/12 (Kart) – Feuerwehrfahrzeuge. 9 Feststellungsanträge sollen nach der neuesten Rspr. des Bundesgerichtshofs grds. nicht mehr in Betracht kommen, BGH 12.6.2018, Az.: KZR 56/16, Tz. 18 – Grauzement II; ferner BGH 12.12.2018, Az.: KZR 26/17 – Schienenkartell. 10 Zur Zulässigkeit von Grundurteilen im Kartellschadensersatzprozess LG Hannover 18.12.2017, Az.: 8 O 8/17, juris-Rn. 60 ff. – LKW Kartell Göttingen; LG Dortmund 28.6. 2017, Az.: 8 O 25/16 (Kart), juris-Rn. 42 ff. – Schienenkartell; LG Dortmund 21.12.2016, Az.: 8 O 90/14 (Kart), juris-Rn. 70 – Schienenkartell: „Aus Gründen der Verfahrensökonomie macht die Kammer im Hinblick auf den mit dem zulässigen Klageantrag zu 1) geltend gemachten bezifferten Schadensersatz von der Möglichkeit Gebrauch, über den Grund der Haftung vorab zu entscheiden (§ 304 Abs. 1 ZPO). Es besteht insoweit sowohl über den Grund als auch über die Höhe des Anspruchs Streit. Die Kammer kann insoweit über den Grund der Haftung vorab entscheiden und das Teil-Grundurteil mit einem Endurteil zu den übrigen Klageanträgen verbinden.“; dazu Anm. Lesinska IR 2017, 90 f.; LG Hannover 31.5.2016, Az.: 18 O 418/14, BeckRS 2016, 12506, sub I.3.b) – Rohspanplatten; Thüringer OLG 22.2.2017, Az.: 2 U 583/15 Kart, juris-Rn. 44 f. – Schienenkartell; LG Hannover 31.5.2016, Az.: 18 O 259/14, juris-Rn. 24 ff. – Kartellschadensersatz; LG Hannover 31.5.2016, Az.: 18 O 418/14, BeckRS 2016, 12506 – Spanplattenkartell; LG Berlin 6.8.2013, Az.: 16 O 193/11 Kart – Fahrtreppen; OLG Düsseldorf 29.1.2014, Az.: VI-U (Kart) 7/13, juris-Rn. 83 – Intertemporales Verjährungsrecht: dort betreffend eine KostenPreis-Schere.

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den, die zu den je nach Parteiinteresse gewünschten Lösungen führen. Vielmehr kann es innerhalb der deutschen Dogmatik nur darum gehen, tragende Prinzipien des materiellen Schadensrechts und des Zivilprozessrechts den besonderen Herausforderungen des Kartellprozess behutsam anzupassen. Der Jubilar ist im materiellen Haftungsrecht ebenso wie im Zivilverfahrensrecht einer der herausragenden Vertreter der wirtschaftsrechtlichen Schiedsverfahrens- und Beratungspraxis, der seine Erfahrungen nicht nur im wissenschaftlichen Schrifttum, sondern auch in die Lehre einbringt. Es ist daher aus Sicht des Verfassers nur naheliegend, die Wertschätzung gegenüber dem Jubilar mit einem Beitrag zu diesem Thema zum Ausdruck zu bringen. Hierzu sollen im Folgenden zunächst die Anreizstrukturen zur Erhebung von Kartellklagen gewürdigt werden (II.). In einem anschließenden Teil soll auf die Nachweisschwierigkeiten beim Kartellschadensersatz eingegangen werden, die derzeit den größten Streitstoff bieten (III.). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick (IV.).

II. Anreizstrukturen Kartelle sind in der Lage, breite Schadenswirkungen bei einer Vielzahl von Personen auszulösen.11 Dies betrifft direkte Abnehmer, sogenannte Umbrella-Kunden12, indirekte Abnehmer13 ebenso wie theoretisch Kunden auf Substitutionsmärkten14 oder gar Lieferanten15. Die EU-Kartellschadensersatzrichtlinie hat – im Einklang mit der bereits existierenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs16 – die Aktivlegitimation indirekter Abnehmer klargestellt.17 Ferner ist eine entsprechende Weiterwälzungsvermutung mit § 33c Abs. 2 GWB in das Gesetz aufgenommen worden, wonach unter den dort geregelten Voraussetzungen und vorbehaltlich einer Widerlegung davon ausgegangen werden kann, dass indirekte Abnehmer jedenfalls einen Teil des Kartellschadens erlitten haben.18 Für die Kartellanten soll diese 11 Für einen Überblick siehe Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 31 ff. 12 EuGH 5.6.2014, Rs. C-557/12, ECLI:EU:C:2014:1317 – Kone. 13 Dazu BGH 28.6.2011, Az.: KRZ 75/10, WuW/E DE-R 3431 – ORWI. 14 Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 178. 15 Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 58. 16 BGH 28.6.2011, Az.: KRZ 75/10, WuW/E DE-R 3431 – ORWI. 17 Vgl. Art. 14 der Richtline sowie nun § 33c GWB. 18 Nach zutreffender Ansicht bezieht sich diese Vermutung nur auf das „Ob“ der Weiterwälzung, nicht jedoch auf den Umfang, vgl. Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 341. Vereinzelte Stimmen im Schrifttum vertreten zwar die Ansicht, dass sich die Vermutung auf die Weiterwälzung des ganzen Preisaufschlags beziehe, so jedenfalls noch zur Auslegung der Richtline Kersting/Preuß Umsetzung der Kartellscha-

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Weiterwälzungsvermutung indes nicht in gleicher Weise entlastend wirken. Ihnen wird vom Gesetz scheinbar nach wie vor abverlangt, ohne Vermutung zu beweisen, dass und inwieweit eine Weiterwälzung tatsächlich stattgefunden hat, wenn sie dies gegenüber den Klagen direkter Kartellkunden entlasten soll.19 Während also die materiellrechtlichen Weichen dahingehend gestellt sind, dass möglichst viele Beteiligte nachgelagerter Abnehmerstufen bis hin zum Endverbraucher Kartellklagen erheben können, so steht die Praxis vor der Schwierigkeit, Ansprüche effizient zu bündeln, um sie durchzusetzen.20 Die Instrumente der Streitgenossenschaft, der Verfahrensverbindung und der Nebenintervention sind zur Zusammenfassung einer großen Anzahl von Anspruchsinhabern nur bedingt geeignet.21 Als Alternative werden mitunter Forderungen an ein Klagevehikel abgetreten, so dass sie in einem Prozess aus eigenem Recht geltend gemacht werden können. Die Rechtsprechung hat aber hohe Anforderungen an solche Abtretungsmodelle gestellt, insbesondere hinsichtlich der Gewährleistung ausreichender Ressourcen zur Übernahme der Kosten des Gegners im Falle des Prozessverlustes, um nicht dem Einwand der Sittenwidrigkeit der Abtretungen ausgesetzt zu sein.22 Mit der Einführung effektiver Mechanismen zur kollektiven Anspruchsgeltendmachung bei Streuschäden im Wirtschaftsrecht, einschließlich des Kartellschadensersatzes, tut man sich auf EU-Ebene und in Deutschland weiterhin schwer.23 Der Entwurf einer EU-Richtlinie für kollektive Rechtsdurchsetzungsmechanismen24 erfasst zwar Verstöße gegen diverse Regelwerke von densersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, Rn. 49; Kersting, VersR 2017, 581, 587. Diese Sehweise ist aber nicht mit § 33c Abs. 5 GWB und Art. 12 Abs. 5 Rili vereinbar, wonach der Umfang der Schadensabwälzung selbständig zu schätzen ist. Für die lex lata dann aber wohl ebenfalls davon ausgehend, dass die Vermutung in § 33c Abs. 2 GWB nur das „Ob“ betrifft Kersting in: Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, 2017, Kap. 7 Rn. 109. 19 Dazu Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 353 mit Vorschlägen zur Auflösung des Beweislastproblems, welches darin liegt, dass sich zwar indirekte Abnehmer auf eine Vermutung berufenen können, den Kartellanten dies aber zur Verteidigung verwehrt sein soll, obwohl es um dieselbe Tatsachenfrage geht. 20 Dazu Stancke WuW 2018, 59 ff. 21 Vgl. auch Raphael Koch MDR 2018, 1409, 1410. 22 LG Düsseldorf 17.12.2013, Az.: 37 O 200/09 (Kart) – WuW/E DE-R 4087 – CDC; dazu Uphoff BB 2014, 149; Langen/Teigelack BB 2014, 1795; Makatsch/Abele WuW 2014, 164 ff.; sodann OLG Düsseldorf 18.2.2015 Az.: VI-U (Kart) 3/14, U (Kart) 3/14 – CDC; dazu kritisch Thole ZWeR 2015, 93 ff.; siehe auch LG Mannheim 24.1.2017, Az.: 2 O 195/15, juris-Rn. 83 ff. – Zementkartell; ferner Kainer/Persch WuW 2016, 2 ff.; Astrid Stadler WuW 2018, 189; allgemein zu Fragen der Inkassodienstleistungen Hartung BB 2017, 2825. 23 Mit Vorschlägen de lege ferenda Bien NZKart 2013, 12 ff.; mit Anmerkungen zu USSammelklagen die europäische Rechtslage betrachtend Brand NJW 2012, 1116 ff.; dazu ebenfalls Harald Koch WuW 2013, 1059 ff. 24 European Parliament legislative resolution of 26 March 2019 on the proposal for a directive of the European Parliament and of the Council on representative actions for the protection of the collective interests of consumers, and repealing Directive 2009/22/EC

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Bedeutung für das Funktionieren des Binnenmarktes. Verstöße gegen die EUWettbewerbsregeln sollen indes nicht in den Kollektivrechtsschutzrahmen einbezogen werden.25 Eine Begründung dafür, weshalb die EU-Kartellschadensersatzrichtlinie einerseits die indirekten Abnehmer stärkt (etwa durch die Weiterwälzungsvermutung i.S.d. § 33c Abs. 2 GWB), der Richtlinienentwurf zum Kollektivrechtsschutz diese dann aber von den Möglichkeiten kollektiver Geltendmachung ausnimmt, wird seitens der EU nicht gegeben. Die deutsche Musterfeststellungsklage26 in §§ 606 ff. ZPO27 enthält demgegenüber keinen Ausschuss für Kartellschadensersatzansprüche. Sie ist indes so strukturiert, dass die Anreize für kollektive Anspruchsdurchsetzung sehr gering gehalten werden: Mit der Durchsetzung können nur sog. „qualifizierte Einrichtungen“, d.h. Verbraucherverbände ohne Gewinnerzielungsabsicht, betraut werden.28 Dadurch werden alle professionellen und effektiven Durchsetzungsorganisationen, wie namentlich spezialisierte Unternehmen oder Rechtsanwaltskanzleien, vom Gesetz ausgeschlossen. Der Bundesgerichtshof hat ferner gegen die Beteiligung von Prozessfinanzierern bei Klagen von Verbraucherverbänden Einwände erhoben.29 Außerdem erwächst den Anspruchsinhabern auch im Falle des Obsiegens kein Leistungstitel, der unmittelbar durchgesetzt werden könnte, sondern alle sind auf eine erneute Klageerhebung angewiesen.30 Schließlich beschränkt sich die Musterfeststellungsklage auf Verbraucher und schließt somit all jene Fälle aus, in denen eine Vielzahl gewerblicher Abnehmer durch Kartellzuwiderhandlungen geschädigt wurde.31 In der Praxis bleibt es daher einstweilen dabei, dass von nachgelagerten Abnehmerstufen mitunter keine Anspruchsdurchsetzung zu erwarten ist, wenn der Ertrag einer einzelnen Kleinst-Forderung in keinem Verhältnis zu den Prozesskosten steht. Das kann dann im Einzelfall faktisch zur Enthaftung der Kartellanten führen, wenn diese sich erfolgreich auf eine Passingon-Defence berufen können.32 Die Rechtsprechung hat darauf mitunter in (COM(2018)0184 – C8-0149/2018 – 2018/0089(COD)), verfügbar unter http://www. europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0222_EN.pdf. 25 Vgl. die Auflistung der erfassten Sachgebiete in Annex I des Richtlinienentwurfs, List of Provisions of Union Law referred to in Article 2(1), wo das Kartellrecht nicht erwähnt wird. Dazu auch Mengden NZKart 2018, 398, 399. 26 Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt am 17.7.2018, überwiegend in Kraft getreten am 1.11.2018, BGBl. 2018 Teil I Nr. 26, S. 1151. 27 Dazu mit einem Überblick Raphael Koch MDR 2018, 1409 ff. 28 Vgl. § 606 Abs. 1 ZPO. 29 BGH 13.9.2018, Az.: I ZR 26/17, Rn. 38. 30 Vgl. § 613 ZPO. 31 Vgl. § 606 Abs. 1 ZPO. 32 Können sie dies nicht, bleibt es freilich bei ihrer Haftung. Darauf im hiesigen Kontext hinweisend Kredel/Brückner BB 2015, 2947 ff. Die Autoren sehen deshalb kein Bedürfnis für gesetzliche Sammelklagemöglichkeiten, weil das Haftungsrisiko für Kartellanten auch ohne solche Regelungen hinreichend groß sei.

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der Weise reagiert, dass die Passing-on-Defence33 losgelöst von der Frage der ökonomischen Weiterwälzung mit normativen Erwägungen ausgeschlossen wurde. Dies betrifft etwa die Argumentation, dass es bei regulierten Branchen, wie etwa dem ÖPNV, an einem echten Anschlussmarkt im kartellrechtlichen Sinne fehle, auf dem die Fahrgäste Nachfrager seien.34 Wettbewerbsökonomisch ist eine solche Begründung freilich mit Zweifeln behaftet, weil auch auf regulierten Absatzstufen Verträge geschlossen werden, was Kennzeichen eines Marktes ist, und was dann zu einer Weiterwälzung führen kann.35 Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass legislatorisch offenbar kein Interesse daran besteht, die Möglichkeit der Anspruchsbündelung durch Ausweitung der kollektiven Rechtsschutzinstrumente zu stärken. Diese Haltung fügt sich ein in die weitverbreitete Wahrnehmung, dass die Ausweitung des private enforcement auf Kosten der Wirksamkeit der Kronzeugenprogramme gehen kann, was letztlich die Aufdeckung von Kartellen durch die Behörden zu erschweren droht.36

33 Rechtsdogmatisch handelt es sich dabei um einen Fall der Vorteilsausgleichung, für den der Schuldner, d.h. der Kartellant, die Beweislast trägt. Die Vorteilsausgleichung kann darin liegen, dass der Abnehmer, der aufgrund des Kartells zwar einen höheren Preis gezahlt hat, seinerseits auf einem nachgelagerten Markt die Preise angehoben und so den Kartellschaden bildlich gesprochen weitergewälzt hat. Sofern ihm die Weiterwälzung nur gelingt, weil die meisten anderen Wettbewerber ebenfalls von überhöhten Kartellpreisen betroffen waren, kann man von einem kartellbedingten Vorteil sprechen, der den Schadensersatzanspruch gegen den Kartellanten mindert oder ausschließt. Reflexartig wird dann freilich der Abnehmer des Kartellkunden anspruchsberechtigt, auf den der Schaden abgewälzt wurde. 34 LG Dortmund 21.12.2016, Az.: 8 O 90/14 (Kart), juris-Rn. 131 – Schienenkartell: „Die Beklagten können nicht mit dem Einwand gehört werden, die Klägerin habe den Schaden an die nächste Marktstufe, nämlich – womöglich im Wege der Fahrpreiserhöhung – an ihre Kunden weitergegeben.“; siehe auch LG Dortmund 28.6.2017, Az.: 8 O 25/16 (Kart) – Schienenkartell. 35 Dazu unlängst Maier-Rigaud, Auf dem Holzweg: Zu Streuschäden, Betroffenheit und Zurechnung im Rahmen von Schadensersatzklagen, WuW 2020, 62. 36 Die gegenläufigen Anreizstrukturen von Kronzeugenprogrammen einerseits und effektiver Kartellschadensersatzdurchsetzung andererseits sind ein Problem, das im europäischen und deutschen Kartellrecht nie befriedigend gelöst wurde. Der Grund liegt darin, dass die europäische und deutsche Kartellrechtsordnung im Schwerpunkt auf sehr hohe unternehmensbezogene Geldbußen setzen, nicht jedoch auf Individualsanktionen natürlicher Personen, wie dies etwa in den USA oder anderen EU-Rechtsordnungen der Fall ist. Daher fließt in das unternehmerische Kalkül zur Stellung eines Kronzeugenantrags sowohl die Möglichkeit der Bußgeldbefreiung als auch die Folge eines unternehmensbezogenen Schadensersatzes ein, wodurch sich die Präventionswirkungen beider Instrumente partiell aufheben. Auf dieses Problem des europäischen und deutschen Kartellrechts ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen. Es gibt dazu ein mittlerweile kaum noch überschaubares Schrifttum, ohne dass freilich bahnbrechende Lösungen gefunden worden wären.

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III. Nachweisfragen Die größte Herausforderung im Kartellschadensersatz ist weiterhin der Nachweis des Schadens. Der Umstand, dass die meisten Klagen abgewiesen oder durch Grundurteile entschieden werden, zeigt, dass die Wirkung der legislatorischen und judikatorischen Hilfestellungen für Kläger hier an ihre Grenzen kommt. Bei der rechtspolitischen Bewertung dieses Befundes wird vielfach implizit davon ausgegangen, die Ursache zeige die mangelnde Leistungsfähigkeit des existierenden Rechtsrahmens beim Schadensnachweis. Dieser Betrachtung ist jedoch entgegenzutreten. Vielmehr sind die Arten und Wirkungen von Kartellzuwiderhandlungen so verschieden, dass sich keine allgemeinen Aussagen zur Wahrscheinlichkeit bestimmter Schäden aufstellen lassen. Dies hat die Rechtsprechung mehrfach zurecht klargestellt.37 Es ist daher ohne weiteres denkbar, dass bei klageabweisenden Urteilen tatsächlich kein messbarer Schaden vorlag. Nicht jede Klageabweisung im Kartellschadensersatzbereich ist auf ein Versagen der Rechtsordnung zurückzuführen. Zwar soll der Kartellschadensersatzanspruch auch eine abschreckende Wirkung entfalten. Diese muss jedoch als Rechtsreflex zur Kompensationswirkung verstanden werden.38 Das Kartellschadensersatzrecht ist nicht eine zivilrechtliche Strafsanktion, die losgelöst vom Nachweis eines Schadens eingreifen kann. Dies macht auch die EU-Kartellschadensersatzrichtlinie deutlich, die das Ziel einer Verhinderung von Überkompensation in Art. 12 Abs. 2 ausdrücklich festschreibt und zudem in Begründungserwägung 47 ausführt, Vermutungen zur Höhe bestimmter Schäden sollten im nationalen Recht nicht festgeschrieben werden. Ein Bedürfnis für einen vom Schadensnachweis abgelösten eigenständigen Sanktionszweck ist auch vor dem Hintergrund der erheblichen Bußgeldvolumina im europäischen und deutschen Kartellrecht nicht gegeben. Die Herausforderungen der Schadensschätzung liegen unter anderem darin, dass jeder einzelne Bezugsvorgang einen einzelnen Schadensersatzanspruch auslöst, der einer eigenständigen materiellrechtlichen Bewertung und auch Schätzung nach § 287 ZPO unterliegt. Die Rechtsprechung hat zu Recht klargestellt, dass bei einem fortdauernden Kartellrechtsverstoß Schä37 So zur Betroffenheit indirekter Abnehmer LG Düsseldorf 9.11.2015, Az.: 14d O 4/ 14, juris-Rn. 212 – Autoglas-Kartell: Angesichts der Vielgestaltigkeit möglicher Kartellwirkungen stelle die „abstrakte Möglichkeit der Kartellbetroffenheit“ (a.a.O. Rn. 214) kein taugliches Eingrenzungskriterium für eine berechtigte Annahme dahingehend dar, der Anspruchsteller habe tatsächlich einen Schaden erlitten (unter Berufung auf Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 1. Aufl., S. 122). 38 Dazu eingehend Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 265.

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den durch Zahlungen an das kartellrechtswidrig handelnde Unternehmen jeweils ein „neues Schuldverhältnis“ begründen.39 Aus der Entscheidung des KG im Fall „Berliner Transportbeton“ folgt nichts anderes, weil die dortigen Passagen die Frage der Bestimmtheit der Klage und einer Teilklagerücknahme betrafen.40 Das ist aber nicht dasselbe wie der Anspruch i.S.d. Legaldefinition des § 194 Abs. 1 BGB, um den es im Rahmen der Begründetheit bzw. bei der Schadensschätzung geht. Auch das LG Hannover hat zu Recht jeden Bezugsvorgang eines Kunden von einem Kartellanten als eigenen Anspruch angesehen.41 Und so ist zuletzt im Fall „Schienenkartell“ auch der Bundesgerichtshof hinsichtlich der dort in Rede stehenden Schäden infolge der einzelnen Beschaffungsvorgänge von „geltend gemachten Ansprüchen“ 42 ausgegangen. Er bezieht sich auf die „Aufträge zu den Beschaffungsvorgängen, auf die die Klägerin ihre Ansprüche stützt“43, so dass abhängig vom Zeitpunkt des Beschaffungsvorgangs und dem geltenden Recht sogar unterschiedliche materielle Anspruchsgrundlagen greifen können.44 Auch die Literatur sieht das so.45

39 OLG Karlsruhe 27.8.2014, Az.: 6 U 115/11 (Kart), Rn. 180: „Zwar war das Schuldverhältnis durch die Zahlung am 22.2.2005 bereits entstanden, wegen des andauernden Verstoßes gegen § 19 GWB durch das Verlangen einer unangemessenen Gegenwertzahlung, dauerte die Rechtsverletzung jedoch an und begründete mit jeder weiteren Zahlung ein neues Schuldverhältnis.“ (Hervorheb. nur hier). 40 KG 1.10.2009, Az.: 2 U 17/03 Kart, Rn. 33 u. 35 – Transportbeton Berlin. 41 LG Hannover 18.12.2017, Az.: 18 O 8/17, Rn. 107 – LKW-Kartell Göttingen: „Für die Entstehung des Schadensersatzanspruches ist auf den jeweils kartellbetroffenen Beschaffungsvorgang abzustellen, sodass hinsichtlich der Beschaffungsvorgänge Nr. 7–10 die 10-jährige Verjährungsfrist an sich im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits abgelaufen gewesen wäre.“ 42 BGH 11.12.2018, Az.: KZR 26/17 – Schienenkartell (Hervorheb. nur hier), Rn. 29: „Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche betreffen zum Teil Geschäfte, die bereits vor dem 1. Juli 2005 und damit vor dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle und der mit dieser einhergehenden Änderungen der Regelungen über die Verjährung von Schadensersatzansprüchen wegen Verstößen gegen Bestimmungen des Kartellrechts abgeschlossen wurden.“, und Rn. 32: „War danach die Rechtslage hinsichtlich einer möglichen Verjährung aus der Sicht der Klägerin kaum zuverlässig einzuschätzen, musste sie ernsthaft in Betracht ziehen, dass die Erhebung der Einrede der Verjährung jedenfalls insoweit Erfolg haben könnte, als Ersatzansprüche betroffen sind, die vor Inkrafttreten der 7. GWBNovelle entstanden sind. Unter diesen Umständen war die Klägerin befugt, ihre Schadensersatzansprüche insgesamt durch Erhebung einer positiven Feststellungsklage gegen die drohende Verjährung zu sichern, ohne das Ergebnis eines zeit- und kostenaufwändigen Gutachtens abzuwarten (BGH WRP 2018, 941 Rn. 19 ff. - Grauzementkartell II).“ Soweit der BGH an anderen Stellen vom „Anspruch“ spricht, ist dies daher im Lichte jener Passagen als exemplarische Referenz auf einzelne Forderungen gemeint. Siehe ferner Rn. 99 zur Frage der Verjährung einzelner Ansprüche aus einzelnen Beschaffungsvorgängen. 43 BGH 11.12.2018, Az.: KZR 26/17, Rn. 44 – Schienenkartell. 44 BGH 11.12.2018, Az.: KZR 26/17, Rn. 44 – Schienenkartell. 45 Siehe nur Fritzsche/Klöppner/Schmidt NZKart 2016, 501, 502; Denzel/Holm-Hadulla in: Kartellverfahren und Kartellprozess, 2017, § 26 Rn. 410; Inderst/Thomas Scha-

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Es kann daher klägerseitig nicht genügen, zu mehreren getrennten Bezugsvorgängen lediglich Durchschnittsschätzungen als Grundlage eines Leistungsbegehrens anzugeben. Stets ist zu berücksichtigen, dass jeder einzelne Anspruch ein eigenes rechtliches Schicksal nehmen kann, nicht zuletzt hinsichtlich der Verjährung oder infolge einer Abtretung. Es muss daher feststehen, wie hoch der Schaden bei jedem einzelnen Anspruch war. Zurecht ist der Gesetzgeber entsprechenden Vorschlägen der Literatur nicht gefolgt, Vermutungen zur Schadenshöhe in das Gesetz aufzunehmen. Dies widerspräche nicht nur Begründungserwägung 47 der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie. Vielmehr gibt es für eine typische Schadenshöhe bei Kartellen auch keine empirische Evidenz.46 Ohnehin ist zweifelhaft, ob die These, dass die gesetzlichen Nachweisanforderungen an die Schadenshöhe überzogen oder unpraktikabel sind, zuträfe. Ein Kernproblem der Prozesse scheint vielmehr nach wie vor in den „Übersetzungsschwierigkeiten“ zwischen den juristischen Nachweisanforderungen in den Bereich der ökonomischen Sachverständigengutachten und in umgekehrter Richtung zu sein. Ökonomen müssen wissen, was für eine Schätzung sub specie iuris gefordert wird, und Juristen müssen anerkennen, welche Aussage ein ökonomisches Gutachten enthält und welche nicht. Diese Übersetzungsschwierigkeiten sind durch weitere interdisziplinäre Forschung zu schließen. Fraglich erscheint, ob eine richterliche Schadensschätzung ohne Prüfung von Vergleichsmärkten oder andere marktbezogene Anhaltspunkte für die Höhe wettbewerbskonformer Preise allein auf die Art der Zuwiderhandlung gestützt werden kann.47 Denn die Wettbewerbsökonomie zeigt, wie dargelegt, dass es keine allgemeingültigen Aussagen zu bestimmten Schadenshöhen bei Kartellen gibt. Außerdem hängen die Kartellwirkungen nicht nur von der Art der Zuwiderhandlung, sondern von weiteren Faktoren ab, wie etwa dem Nachfrageverhalten der Marktgegenseite oder Ausweichmöglichkeiten auf Substitute etc. Allerdings kann die Art der Zuwiderhandlung mitunter Aufschluss über die Schadensgeneigtheit eines Falls geben, was dazu beitragen kann, die Ergebnisse ökonometrischer Schätzmethoden besser einzuordnen. So ist eine große Herausforderung aus juristischer Sicht nach wie vor der richtige Umgang mit Signifikanzen in ökonomischen Sachverständigengutdensersatz bei Kartellverstößen, 2. Aufl. 2018, S. 76 verweisen auf LG Hannover 18.12. 2017, Az.: 18 O 8/17, Rn. 107 – LKW-Kartell Göttingen. 46 Erneut LG Düsseldorf 9.11.2015, Az.: 14d O 4/14, juris-Rn. 212 – Autoglas-Kartell unter Berufung auf Inderst/Thomas Schadensersatz bei Kartellverstößen, 1. Aufl., S. 122. 47 In diese Richtung Kühnen NZKart 2019, 515 ff., der allerdings auch auf die Besonderheiten des Einzelfalls verweist und keineswegs einen allgemeintypischen Kartellschaden im Sinne eines starren Prozentsatzes annehmen will.

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achten. Schnell verleitet der Umstand, dass das Signifikanzniveau einer Schätzung einer bestimmten Fehlerwahrscheinlichkeit entspricht, zu der unzutreffenden Schlussfolgerung, dass damit etwas zur Wahrscheinlichkeit des Eintritts konkreter Schäden gesagt sei.48 Ein solches Fehlverständnis von Signifikanz kann zu gravierenden Fehleinschätzungen führen. So kann ein insignifikantes Ergebnis schlicht aufgrund einer mangelnden Datenfülle vorliegen, selbst wenn ein hoher Schaden geschätzt wurde und selbst wenn die Gesamtumstände für einen Schaden ggf. sogar in ähnlicher Höhe sprechen. Andererseits kann in einem Fall, in dem keine hinreichende Schadenstheorie vorgelegt wurde und auch nur ein geringer (prozentualer) Schaden geschätzt werden konnte, letzterer doch hoch signifikant sein aufgrund der vorliegenden Datenfülle. Die üblicherweise vorgelegten Gutachten und Schätzmethoden unterscheiden hierbei auch nicht zwischen der Schadensbegründung und der Schadensschätzung. Aktuell scheinen sich allerdings die Ökonomen dieser „Übersetzungsschwierigkeiten“ bewusst zu werden und legen zum Teil ergänzende Ansätze vor. So wird vorgeschlagen, genauer zu analysieren, warum ein Schätzergebnis statistisch insignifikant ist, und hierbei auch Analysen des Fehlers zweiter Art mit einzubeziehen, d.h. mit welcher Wahrscheinlichkeit man selbst beim Vorliegen eines tatsächlichen substantiellen Schadens aufgrund der geringen Datenmenge oder aber der mangelnden Güte des verwendeten statistischen Modells kein hinreichend signifikantes Ergebnis erzielt hätte.49 Auch wird vorgeschlagen, die vorhandene statistische Information umfassender zu verwenden, als dies nur durch die Feststellung der statistischen Signifikanz geschieht. Dadurch soll beispielsweise festgestellt werden, wie „schwer“ (im Sinne von Wahrscheinlichkeiten) die vorhandene statistische Evidenz gegen verschiedene mögliche Hypothesen (eines höheren oder niedrigeren Schadens) wiegt. 50

48 Konkret betrifft dies den sog. Fehler erster Art. Ausgangspunkt ist dabei die sog. „Nullhypothese“, dass kein Schaden eingetreten ist. Wird nun ein positiver Schaden geschätzt, ist zu fragen, ob diese Hypothese verworfen werden kann. Aufgrund der prinzipiellen Fehleranfälligkeit von Schätzungen kann dies nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Der Fehler erster Art gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit, gegeben der vorliegenden Daten und unter Annahme der Richtigkeit des gewählten Datenmodells, beim Verwerfen dieser Hypothese, d.h. wenn nun von einem Schaden ausgegangen wird, diese Schlussfolgerung falsch war. Kann die Hypothese beispielsweise auf einem Signifikanzniveau von 5% verworfen werden, so geht man davon aus, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit unter 5% liegt im Falle eines Verwerfens der Nullhypothese „kein Schaden“. 49 So Frank/Inderst/Oldehaver ZWeR 2019, 39. 50 So Bönisch/Inderst Overcharge Estimation: Making Statistical Evidence More Meaningful, erscheint in Journal of Competition Law and Practice 2019, 499.

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IV. Ausblick Die Zukunft des Kartellschadensersatzrechts in Deutschland wird auch von Faktoren bestimmt werden, die außerhalb der Ausgestaltung der Nachweisanforderungen oder der Mechanismen zur kollektiven Geltendmachung liegen. Ein Problem scheint die personelle und sachliche Ausstattung der Justiz zur Bewältigung großer Schadensersatzklagen zu sein. Das erhebliche Datenvolumen ist oft im Rahmen der normalen Geschäftsgänge der Spruchkörper kaum zu bewältigen. Dem Vernehmen nach sind beispielsweise bei Klageeinreichung in den Gerichten mitunter zunächst Fragen der Baustatik und des Brandschutzes zu klären, bevor mit der juristischen Arbeit begonnen werden kann. Der schiere Aktenumfang wird zum physikalischen Problem, weil in den Justizgebäuden nicht mehr ausreichend stabiler Lagerraum dafür zur Verfügung steht. Der flächendeckende Einsatz der elektronischen Akte hat in der deutschen Justiz zwar begonnen. Allerdings wäre zur inhaltlichen Durchdringung der Datenmengen nicht nur der Einsatz zusätzlicher Juristinnen und Juristen erforderlich. Vielmehr könnte auch die Verwendung von Legal-tech-Instrumenten helfen, die auf den Prinzipien maschinellen Lernens beruhen. Solche Instrumente stehen den Gerichten derzeit aber wohl noch nicht zur Verfügung.51 Eine personelle und finanzielle Stärkung der Justiz ist für den Erhalt der internationalen Bedeutung der Kartelljurisdiktion Deutschland wichtig. Es muss ein Ziel sein, die hohe Qualität der Rechtsprechung durch hervorragend qualifizierte Richterinnen und Richter sowie eine gefestigte und differenzierte Dogmatik im materiellen Recht und Prozessrecht für die komplexe Materie des Kartellschadensersatzes optimal zu nutzen. Schiedsverfahren eignen sich zur Bewältigung massenhafter Schädigungen, insbesondere von Abnehmern auf nachgelagerten Stufen, namentlich Verbrauchern, oft nicht, schon weil es in diesen Fällen meistens an entsprechenden Schiedsklauseln 51 Vgl. dazu Abschlussbericht der Länderarbeitsgruppe Legal Tech, S. 69 ff., verfügbar unter: https://schleswig-holstein.de/DE/Schwerpunkte/JUMIKO2019/Downloads/ 190605_beschluesse/TOPI_11_Abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Der Bericht widmet sich den verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des Einsatzes künstlicher Intelligenz mit dem Ziel der besseren Strukturierung des Prozessstoffs in Umfangsverfahren. Es wird dort auch auf bereits vorhandene tools eingegangen, etwa den „Normfall Manager“ (dazu Köbler, DRiZ 2013, 76, 77 f.). Konkrete Lösungen zur Bewältigung der Datenmengen bei großen Kartellklagen zeichnen sich für die Justiz aber noch nicht ab. Vielmehr wird folgendes Zwischenfazit gezogen: „Eine wirkliche Arbeitserleichterung für das Gericht wäre jedoch eine Software, die in der Lage wäre, sich den in herkömmlicher Weise gehaltenen Parteivortrag selbstständig inhaltlich zu erschließen und ihn nach bestimmten Gesichtspunkten automatisiert zu strukturieren. Die Anhörung von Experten durch die Arbeitsgruppe ergab jedoch, dass es eine solche Software derzeit noch nicht gibt. Ihre Entwicklung für den Einsatz bei Gericht ist auch nicht absehbar.“

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im Verhältnis zu den Kartellanten fehlt. Für Ansprüche direkter Abnehmer kommen Schiedsverfahren bei Kartellverstößen allerdings in Betracht, was sich in der Praxis auch bereits niederschlägt.52 Infolge des Brexit könnte der Justizstandort Deutschland für Kartellklagen noch größere Bedeutung erlangen. Umso deutlicher muss die Forderung nach zusätzlichen Investitionen in die Gerichtsbarkeit in diesem Bereich gestellt werden. Von all diesen Faktoren wird es abhängen, ob die europäische Entwicklung des Kartellschadensersatzes auch in Zukunft durch die deutsche Dogmatik geprägt wird. Insofern kann möglicherweise durch eine bessere Ausstattung der Justiz mehr erreicht werden als durch kleinteilige Änderungen der §§ 33 ff. GWB. Ein hochkomplexes und ausdifferenziertes Kartellschadensersatzregime wird sich als Referenzmodell im europäischen Wettbewerb der Jurisdiktionen nicht durchsetzen, wenn die praktischen Umsetzungsschwierigkeiten aufgrund der genannten Defizite so groß sind, dass sich Prozessfinanzierer und mit ihnen spezialisierte Anwaltskanzleien und zuletzt Kläger aus dem deutschen Markt zurückziehen. Auch für potentiell betroffene Beklagte mit Sitz in Deutschland wäre ein solcher Rückzug aus dem deutschen Forum kein Grund zur Freude, weil die Verfahren sich ins Ausland verlagern dürften, was die Verteidigung für deutsche Unternehmen erschweren und verteuern kann.

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52 Hier kann mitunter Streit über die Auslegung von Schiedsklauseln entstehen hinsichtlich der Frage, ob auch kartelldeliktsrechtliche Ansprüche von ihr erfasst werden. Dazu Thole, ZWeR 2017, 133.

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Die Sachverhaltsermittlung im Schiedsverfahren Die Sachverhaltsermittlung im Schiedsverfahren Rolf Trittmann

Die Sachverhaltsermittlung im Schiedsverfahren: IBA Rules, Prague Rules and keine Alternative? ROLF TRITTMANN

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sachverhaltsermittlung in ad hoc Verfahren . . . . . . . . . III. Sachverhaltsermittlung in Verfahren nach der DISSchiedsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sachverhaltsermittlung im Verfahren nach der ICCSchiedsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Einfluss der Lex Arbitri? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Einfluss des im Schiedsverfahren anwendbaren materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Unterschiedliche Ansätze im nationalen und internationalen Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Softlaw-Angebot 1: IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration . . . . . . . . . . IX. Softlaw-Angebot 2: Die Prague Rules . . . . . . . . . . . . . . X. Vergleich der Softlaw-Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Eigener Ansatz und Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Es dürfte allgemein bekannt sein, dass für den Ausgang eines streitigen Verfahrens meist die Beurteilung des Sachverhalts ausschlaggebend ist. Da es im Schiedsverfahren keinen Instanzenzug gibt und das Schiedsgericht entsprechend endgültig entscheidet, ist es von erheblicher Bedeutung, dass der relevante Sachverhalt vollständig ermittelt, dargelegt und gegebenenfalls in der Beweisaufnahme aufgeklärt wird. Das Schiedsgericht kann,– anders als ein staatlicher Richter – gegebenenfalls auch selbst ermitteln, wenn es dies nach dem Vortrag der Parteien für erforderlich hält. Unabhängig davon, ob das Verfahren als ad hoc-Verfahren oder als von einer Schiedsinstitution administriertes Verfahren geführt wird ist die Sachverhaltsermittlung ebenso wie die Beweisaufnahme selbst jedoch nur sehr kursorisch geregelt. Entsprechend sind die Gestaltungsmöglichkeiten groß, was im Gegenzug aber auch bedeutet, dass die Parteien nicht auf ein detailliertes Regelwerk zurückgrei-

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fen können. Im Folgenden werden die Regelungen vorgestellt und ergänzend erläutert, welche Möglichkeiten bestehen, die vorhandenen Regelungslücken zu füllen. Die Darstellung kann hierbei nur kursorisch sein. Dabei kommt vor allem die inzwischen als Best Practice weitverbreiteten und als Soft Law bezeichneten IBA Rules for the Taking of Evidence in International Arbitration („IBA-Rules“) in Frage. Diese stellen einen Kompromiss zwischen dem kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Zivilprozesssystem dar. Eine eher kontinentaleuropäische Gruppe von Schiedsrechtlern hat daraufhin eine Art Gegenmodell entwickelt, die Prague Rules. Der eher kontinentaleuropäisch geprägte Autor vertritt die Auffassung, dass beide Regelwerke für viele Schiedsverfahren keine zufriedenstellende Lösung darstellen, wenn sie vollständig für anwendbar erklärt werden. Mit diesem Beitrag wird deshalb vorgeschlagen, ein eigenes Modell zu entwickeln, das insbesondere bei kontinentaleuropäischen Nutzern der Schiedsgerichtsbarkeit, vielleicht aber darüber hinaus Akzeptanz finden könnte. II. Sachverhaltsermittlung in ad hoc Verfahren Wer im UNCITRAL Model Law oder in dessen deutschen Umsetzung im 10. Buch der ZPO nach Regelungen sucht, die die Ermittlung des Sachverhalts durch die Parteien oder das Schiedsgericht sucht, wird kaum fündig. § 1046 Abs. 1 sieht vor, dass die Parteien den aus Ihrer Sicht relevanten Sachverhalt vortragen und dazu Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen können. Darüber hinaus können die Parteien mit Zustimmung des Schiedsgerichts gemäß § 1050 ZPO beim zuständigen ordentlichen Gericht einen Antrag auf Durchführung einer Beweisaufnahme stellen, wenn diese Beweisaufnahme ordentlichen Gerichten vorbehalten ist. Letztlich enthält § 1049 noch Regelungen zur Einbindung von Sachverständigen im Verfahren. Weitere Regelungen zur Beweisermittlung oder einer Durchführung einer Beweisaufnahme existieren für Parteien und Schiedsrichter nicht. Ergänzend enthält § 1042 Abs. 4 ZPO allerdings eine durchaus bemerkenswerte Regelung, die besagt, dass das Schiedsgericht über die Zulässigkeit einer Beweisaufnahme zu entscheiden hat und entsprechend Beweis erheben bzw. bewerten kann. Ob das Schiedsgericht dabei an Beweisanträge der Parteien gebunden ist oder auch selbst den Sachverhalt ermitteln kann, ergibt sich aus dieser Regelung nicht eindeutig. Allgemein wird aber angenommen, dass zwar kein Untersuchungsgrundsatz gilt1, das Schiedsgericht aber eine Aufklärungspflicht unabhängig von den Beweisangeboten der Parteien hat.2 1 Siehe BGHZ 94, 92 und Lionnet in FS Glossner, 1994, 209 sowie Semler SchiedsVZ 09, 148. 2 Siehe hierzu ausführlich MünchKommZPO/Münch, § 1042, Rn. 104 ff.; begrifflich wird dies als „beschränktem Untersuchungsgrundsatz“ oder „gemäßigtem Amtsermittlungsgrundsatz“ bezeichnet.

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Ansonsten geht die ZPO davon aus, dass die Parteien im Rahmen der Privatautonomie durch Festsetzung individueller Verfahrensregeln (Variante 1 „selbst“) oder abstrakter Verweisung (Variante 2 „Bezugnahme“) das Verfahren unter Berücksichtigung des in § 1042 Abs. 2 ZPO verankerten Mindeststandards regeln bzw. regeln können. Konkret muss das Gebot der Gleichbehandlung und die Gewähr rechtlichen Gehörs gesichert sein. Diese Regelungsfreiheit umfasst die Möglichkeit der Bezugnahme auf konkrete institutionelle Schiedsregeln wie auch eine Bezugnahme auf sogenanntes Softlaw in Form z.B. der IBA Rules oder die Prague Rules.

III. Sachverhaltsermittlung in Verfahren nach der DIS-Schiedsordnung Die Schiedsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit eV („DIS“) wurde im Jahre 2017/2018 komplett überarbeitet und trat in der jetzt gültigen Fassung am 1.3.2018 in Kraft. Die Vorfassung stammte aus dem Jahre 1998 und beruhte auf den Regelungen des in demselben Jahr in Kraft getretenen Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetzes. Die DIS-SchiedsO hat entsprechend den obigen Ausführungen die Regelung der Verfahrensgestaltung wie auch der Sachverhaltsermittlung im Wesentlichen den Parteien überlassen. Auch im DIS-Verfahren müssen jedoch zumindest bei Durchführung eines Verfahrens mit Sitz in Deutschland3 die verbindlichen Regelungen des 10. Buchs wie § 1042 ZPO eingehalten werden. Dies sieht Art. 21 Abs. 4 DIS-SchiedsO ausdrücklich vor und wiederholt in Abs. 1 auch noch den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie die Erforderlichkeit des rechtlichen Gehörs. Ansonsten sind die Parteien gemäß Art. 21 Abs. 3 DIS-SchiedsO aber frei das Verfahren selbst zu regeln. Tun sie dies nicht, entscheidet das Schiedsgericht nach Anhörung der Parteien. Art. 27 DIS-SchiedsO in Verbindung mit Anhang 3 und 4 sehen im Rahmen der nunmehr angestrebten Steigerung der Effizienz des Verfahrens die Möglichkeit vor, einzelne Elemente des Verfahrens inklusive der Ermittlung des Sachverhalts in Form des schriftsätzlichen Vortrages näher zu regeln. Dazu gehört die Begrenzung des Umfangs und der Anzahl der Schriftsätze, etwaiger schriftlicher Zeugenaussagen und von den Parteien vorgelegter Sachverständigengutachten. Ebenfalls erwähnt wird die Möglichkeit die Vorlage von Dokumenten von der jeweiligen Gegenseite unabhängig von Beweislast zu verlangen. Diese Möglichkeit wird allerdings nicht als gegeben unterstellt, sondern stellt eine Öffnung der DIS-SchiedsO gegenüber Parteien aus Jurisdiktionen dar, in denen Document Requests Teil der geübten Praxis und der zugrundeliegenden Zivilprozesssysteme sind. Dazu zählen 3

Siehe § 1025 Abs. 1 ZPO.

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insbesondere die Staaten des sogenannten Common Law, d.h. vor allem angelsächsische Parteien. Zu erwähnen ist auch die in Art. 28 DIS-SchiedsO vorgesehene Möglichkeit des Schiedsgerichts seinerseits den Sachverhalt auf Grundlage des Vortrages der Parteien ergänzend zu ermitteln, soweit der Sachverhalt für die Entscheidung des Schiedsgerichts relevant ist. Art. 28 Abs. 2 DIS-SchiedsO regelt entsprechend, dass das Schiedsgericht „unter anderem“ die Möglichkeit hat auf eigene Initiative Sachverständige zu ernennen, und unabhängig von Beweisangeboten Zeugen zu vernehmen und die Vorlage von (auch elektronischen) Dokumenten zu verlangen. Dieser beschränkte Untersuchungsgrundsatz ist bemerkenswert und überrascht häufig, da er über die Befugnisse eines Richters an einem ordentlichen Zivilgericht in Deutschland doch deutlich hinausgeht. Insbesondere bei Sachverhalten, bei denen beide Parteien zu relevanten Sachverhalten nicht ausreichend vortragen, ist diese durch Art. 28 DIS-SchiedsO eingeräumte Möglichkeit jedoch eine wertvolle Unterstützung für das Schiedsgericht den relevanten Sachverhalt im erforderlichen Umfange einer Entscheidung zu Grunde zu legen. Dies gilt z.B. bei kartellrechtlich-relevanten Sachverhalten, in denen beide Parteien ein Interesse haben, den Sachverhalt nicht vollständig vorzutragen, aber auch in anderen Konstellationen, bei denen das Schiedsgericht zur Sicherstellung einer Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs den vollständigen Sachverhalt kennen muss. Ein weiteres Beispiel sind Korruptionssachverhalte, die von beiden Parteien nicht vorgetragen werden. Aber auch bei anderen Sachverhalten, zu denen die Parteien nicht ausreichend vorgetragen haben, kann es Situationen geben, in denen das Schiedsgericht es für erforderlich erachtet zusätzliche Sachverhaltsermittlungen vorzunehmen.4

IV. Sachverhaltsermittlung im Verfahren nach der ICC-Schiedsordnung Die Sachverhaltsermittlung nach den Regeln der ICC ähnelt den oben dargestellten Prinzipien. Art. 25 ICC-SchiedsO regelt, dass die Parteien, aber auch das Schiedsgericht den relevanten Sachverhalt schnellstmöglich ermitteln sollen. Dabei hat das Schiedsgericht die Möglichkeit seinerseits die Parteien aufzufordern weitere Beweismittel vorzulegen, nach Abstimmung mit den Parteien eigene Sachverständige zu benennen oder den Sachverhalt aus4 Dies können z.B. Sachverhalte sein, bei denen sich aus dem Vortrag der Parteien ergibt, dass weitere Erkenntnisquellen zwar existieren, aber nicht ins Verfahren eingebracht werden. Hier stellt sich eventuell für das Schiedsgericht die Frage, ob sie versuchen wollen diese Erkenntnisquellen durch zu nutzen. Denkbar wäre zunächst eine Aufforderung an die Parteien hierzu weiter Stellung zu nehmen bzw. im nächsten Schritt den Sachverhalt zu untersuchen soweit dies möglich ist.

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schließlich auf der Grundlage von Dokumenten zu entscheiden, wenn die Parteien dem nicht widersprechen. Diese Regelungen in Art. 25 ICCSchiedsO sind ähnlich den Regelungen im UNCITRAL-Modellgesetz oder anderen institutionellen Schiedsordnungen nur sehr pauschal und lassen viel Flexibilität für die konkrete Gestaltung des Verfahrens. Auch die ICCSchiedsO orientiert sich jedoch nicht strikt am vor allem kontinentaleuropäischen verankerten reinen Beibringungsgrundsatz, sondern räumt dem Schiedsgericht durchaus die Möglichkeit ein selbst ergänzend den Sachverhalt zu ermitteln5 Wie oben am Beispiel der DIS-SchiedsO ausgeführt wird damit dem Schiedsgericht auch zur Sicherung einer vollstreckbaren Entscheidung, die den Anforderungen des New Yorker UN-Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche6 („New York Convention“) genügt, die Möglichkeit eingeräumt den Sachverhalt selbst zu ermitteln, wenn der Vortrag der Parteien nicht ausreicht einen vollstreckbaren Schiedsspruch zu verfassen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn beide Parteien einen Sachverhalt nicht vortragen, der wie im Falle einer Geldwäsche berücksichtigt werden muss. Im Übrigen gilt auch im Hinblick auf den Vortrag des Sachverhalts der Grundsatz der Parteiautonomie. Einigen die Parteien sich auf einen Sachverhalt7 ist dieser vom Schiedsgericht seiner Entscheidung zu Grunde zu legen, es sei denn dadurch würden verbindliche Regelungen am Schiedsort verletzt.

V. Einfluss der Lex Arbitri? Die Grenze der Parteiautonomie im Hinblick auf die Verfahrensgestaltung sind die verbindlichen Regelungen der lex arbitri. Diese bestimmen sich nach dem Schiedsort. Liegt dieser z.B. in Deutschland (§ 1043 ZPO), bestimmt § 1025 Abs. 1 ZPO, dass das 10. Buch der ZPO anwendbar ist. Dieses schafft einen Rahmen für Schiedsverfahren, der sicherstellt, dass Schiedssprüche die Prozessmaximen des Schiedsrechts wie Parteiautonomie, Gleichbehandlung der Parteien, Gewährung rechtlichen Gehörs, sowie Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beachten.8 Die lex arbitri hat jedoch insoweit nur eine Auffangfunktion als Parteivereinbarungen grundsätzlich vorgehen.9 Die Parteien können im Rahmen der Sachverhaltsermittlung deshalb eine pre-trial-Phase nach angelsächsischem Vorbild vorsehen oder eine bestimmte Schiedsord5 See Baumann, Practitioner´s Handbook on International Commercial Arbitration, 3rd edition 2019, S. 1080. 6 Vom 10.6.1958 (BGBl 1961 II, S. 122). 7 „Agreed Facts“. 8 Siehe insbesondere § 1042 ZPO. 9 Siehe insbesondere auch § 1042 Abs. 3 ZPO und MüKOZPO/Münch, § 1042 Rn. 6, 7.

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nung für anwendbar erklären. Diese Flexibilität ist nur durch § 1042 Abs. 3 ZPO beschränkt.

VI. Einfluss des im Schiedsverfahren anwendbaren materiellen Rechts Häufig wird die Frage, ob bzw. in welchem Umfang z.B. Document Requests in einem Schiedsverfahren zugelassen werden überwiegend ohne Berücksichtigung des anwendbaren materiellen Rechts beurteilt. Dieses ist unabhängig vom anwendbaren Schiedsverfahrensrecht zu bestimmen und wird häufig von den Parteien ausdrücklich vertraglich geregelt. Ist z.B. deutsches Sachrecht anwendbar, ist jedoch zu beachten, dass z.B. das Zivilrecht auf der Prämisse aufbaut, dass das (deutsche) Zivilprozessrecht keine generelle Dokumentenvorlagepflicht kennt und grundsätzlich eine Partei deshalb ihren Vortrag auf den Sachverhaltserkenntnissen aufbauen muss, die ihr zur Verfügung stehen. Die Grundregel ist weiter, dass eine Partei die Behauptungsund Beweislast dafür trägt, dass der Tatbestand der für sie günstigen Rechtsnorm erfüllt ist.10 Entsprechend bauen auch die Beweislastregeln darauf auf, dass in bestimmten Sachverhaltskonstellationen eine Partei ohne die Möglichkeit Informationen von der Gegenseite erhalten zu können ihrer Beweislast nachkommen kann. Besteht Bedarf von der oben dargestellten Grundregel abzuweichen, kann eine Beweislastumkehr gesetzlich vorgesehen werden. Ordnet das Schiedsgericht dann im Schiedsverfahren dennoch eine Dokumentenvorlagepflicht an, sollte es entsprechend berücksichtigen, dass es die vorgenannten materiellrechtlichen Beweislastregeln beachtet, da sonst durch die Dokumentenvorlagenanordnung in Verbindung mit der Beweislastregelung eine der Parteien systemwidrig bevorzugt werden kann. Dieser Umstand wird nach den Erfahrungen des Autors jedoch häufig von Schiedsgerichten nicht beachtet.11 Eine Möglichkeit zur Berücksichtigung besteht darin, dass das Schiedsgericht bei einer Prüfung der Begründetheit eines Antrages auf Dokumentenvorlage nach den IBA-Rules die anwendbaren Beweislastregelungen gemäß Art. 3.3. IBA-Rules bei der Prüfung berücksichtigt. Es ist zu fragen, ob das ersuchte Dokument unter Berücksichtigung der anwendbaren Beweislastregeln „relevant für den Ausgang des Verfahrens“ und eine Vorlagepflicht verhältnismäßig ist.12

Siehe nur Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 2019, Rn. 23 Vorb. § 284. Siehe zu diesem Themenkreis Trittmann, SchiedsVZ 16, 7 ff. und Das Zusammenspiel von Prozessrecht und materiellem Recht im internationalen Schiedsverfahren, in 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt, S. 605. 12 Siehe Trittmann, SchiedsVZ 16, S. 14. 10 11

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VII. Unterschiedliche Ansätze im nationalen und internationalen Schiedsverfahren Im rein nationalen Schiedsverfahren zwischen deutschen Parteien oder unter ausschließlicher Beteiligung inländischer Anwälte und Schiedsrichter ist es möglich, das Verfahren trotz der oben beschriebenen vorhandenen Flexibilität ähnlich einem inländischen Gerichtsverfahren vor einem Zivilgericht zu führen. Dies gilt umso mehr, wenn das Schiedsgericht mit (ehemaligen) Zivilrichtern besetzt ist, die im Ergebnis ihre Gerichtspraxis fortführen. Dies ändert sich regelmäßig, wenn zumindest eine ausländische Partei am Verfahren beteiligt ist und diese Partei von der deutschen Zivilrechtspraxis abweichende Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der Durchführung eines Schiedsverfahrens hat. Ist z.B. eine Partei in einer angelsächsischen Jurisdiktion beheimatet, so ist wahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Zulässigkeit von Document Requests erwartet wird. Dies gilt umso mehr, wenn alle Parteien und/oder deren Parteivertreter bzw. Schiedsrichter dem angelsächsischem Rechtskreis angehören.13 Wie oben ausgeführt ist die Sachverhaltsermittlung im Schiedsverfahren bis auf einige Grundsätze weitgehend ungeregelt. Entsprechend müssen die Parteien das Verfahren selbst regeln, was sie aber bei der Abfassung der Schiedsvereinbarung meist nicht tun, denn der reine Verweis auf eine Schiedsordnung schließt diese Lücken nicht. Entsprechend haben die Parteien bei Beginn eines Verfahrens die Möglichkeit das Verfahren zu regeln. Geschieht auch dies nicht, muss das Schiedsgericht die Verfahrensregelungen bestimmen, was entweder in individueller Form in einer prozessleitenden Verfügung und/oder durch Verweis auf Softlaw möglich ist. Das Angebot besteht hierbei aus den IBA Rules und den 2018 verabschiedeten Prague Rules. VIII. Softlaw-Angebot 1: IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration Die International Bar Association (“IBA”)14 hat 1999 als erste Organisation sich der Aufgabe angenommen mit den IBA Rules15 einen inzwischen weltweit akzeptierten Standard für die Sachverhaltsermittlung bzw. die Beweisaufnahme zu schaffen. Das ist weitgehend gelungen, weil die zur Zeit geltende Fassung vom 29.5.2010 überwiegend als eine „Synthese von anglo13

Siehe hierzu auch Anlage 3, G zu Art. 27 DIS-SchiedsO. Homepage: www.ibanet.org. 15 Abzurufen unter www.ibanet.org/Publications/publications_IBA_guides_and_free_ materials.aspx, auch in deutscher Sprache verfügbar. 14

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amerikanischen und kontinentaleuropäischen Rechtssystemen“16 angesehen wird. Die IBA-Rules stellen nach Ansicht vieler Nutzer der Schiedsgerichtsbarkeit einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Prozesstraditionen dar und schaffen es zugleich „die schiedsgerichtliche Flexibilität der Verfahrensgestaltung aufrecht(zu)erhalten“.17 Entsprechend erläutern die IBA-Rules in der Präambel, dass sie dazu dienen „die Beweisaufnahme in internationalen Schiedsverfahren effizient, kostengünstig und gerecht zu regeln, vor allem in Schiedssachen zwischen Parteien aus unterschiedlichen Rechtskulturen. Sie sollen die gesetzlichen Bestimmungen und die institutionellen ad hoc, oder anderen Verfahrensregeln ergänzen, die auf die Durchführung des Schiedsverfahrens Anwendung finden“.18 Klargestellt wird auch, dass die Parteien oder auch die Schiedsgerichte die IBA-Rules „ganz oder teilweise“ übernehmen können, was weiteren Spielraum für die Verfahrensgestaltung ermöglicht. Die von einer Gruppe von prominenten Praktikern verfassten und im Jahre 2010 überarbeiteten IBA-Rules müssen allerdings von den Parteien oder vom Schiedsgericht für anwendbar erklärt werden. Dies geschieht in der internationalen Praxis durchaus häufig, wobei insbesondere kontinentaleuropäisch besetzte Schiedsrichter sich gerne darauf beschränken zu regeln, dass sie sich an den IBA-Rules bei ihren Entscheidungen „orientieren werden“, was einerseits mehr Spielraum gibt, andererseits eine Unsicherheit mit sich bringt. Eine zentrale Vorschrift der IBA-Rules ist die in Art. 3 dezidiert geregelte Dokumentenvorlage. Zwar enthalten die Regelungen eine gegenüber der Praxis der Gerichte im anglo-sächsischem Rechtskreis durchaus eingeschränkte Möglichkeit der Parteien von der Gegenseite die Herausgabe von Dokumenten zu verlangen, da die verlangten Dokumente bzw. die Kategorie von Dokumenten genau beschrieben werden und für den Ausgang des Verfahrens relevant sein müssen.19 Zudem muss von den Parteien erklärt werden, dass das ersuchte Dokument sich nicht im Besitz der ersuchenden, wohl aber der ersuchten Partei befindet. All dies ist aus kontinentaleuropäischer Sicht jedoch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Herausgabeverlangen an die Gegenpartei sowohl auf prozessualer20 wie auch auf materiellrechtlicher Grundlage z.B. im deutschen Zivilprozessrecht wie im materiellen Recht nur sehr eingeschränkt im Ausnahmefall möglich ist, während die 16 Siehe Kühner, 27JInt Arb 27, 35 (2010) und Sachs, SchiedsVZ 2003, 194 ff.; vergleiche aber auch Shore, SchiedsVZ 2004, 76 ff., der die IBA-Rules mit den Worten zusammenfasst: „……constitute a misguided combination of various aspects of different traditions.“ 17 Wirth, SchiedsVZ 2003, 9 (13). 18 IBA-Rules, Präambel Ziffer 1. 19 Art. 3 Abs. 3 IBA-Rules. 20 Siehe §§ 410 ff. ZPO.

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IBA-Rules diese Möglichkeit als Best Practice voraussetzen und damit einen Ansatz verfolgen, der eher anglo-sächsisch geprägt ist. Im Übrigen gilt auch für die in Art. 4 geregelte Vorgehensweise bei der Einvernahme von Zeugen wie auch für die Einbindung von Sachverständigen in Art. 5, dass grundsätzlich ein anglo-sächsisches Verfahrensmodell mit schriftlichen Zeugenerklärungen und Einvernahme in erster Linie durch die Parteivertreter21 als Grundmodell angenommen wird. Der Austausch von Beweismitteln und hierbei insbesondere Dokumenten erfolgt zunächst zwischen den Parteien. Einigen sich die Parteien wie meist nicht über die Vorlagepflicht, entscheidet das Schiedsgericht hierüber und hat hierbei Gesichtspunkte wie einer Vorlage eventuell entgegenstehende Vertraulichkeit, gesetzliche Verbote oder berufsrechtliche wie standesrechtliche Einschränkungen zu berücksichtigen.22 23 Insgesamt sind die IBA-Rules weltweit zum jetzigen Zeitpunkt diejenigen Softlaw-Regelungen, die am häufigsten in Schiedsverfahren direkt oder indirekt Berücksichtigung finden dürften.

IX. Softlaw-Angebot 2: Die Prague Rules Obwohl die IBA-Rules insgesamt als Erfolg angesehen werden können, da sie zu einer Vereinheitlichung und damit zu einer Vorhersehbarkeit des Verfahrens im Bereich der Sachverhaltsermittlung und Beweisaufnahme geführt haben, ist immer wieder Kritik daran geübt worden, dass das den IBA-Rules zugrunde liegende Verfahrensmodell nicht effizient genug sei und darüber hinaus auch insbesondere für Nutzer der Schiedsgerichtsbarkeit im kontinentaleuropäischen Rechtskreis zu wenig deren verfahrensrechtlichen Modellen entspricht. Insbesondere Praktiker aus Osteuropa haben sich deshalb 2017 mit einem Alternativvorschlag beschäftigt, der Ende 2018 unter dem Namen „Prague Rules“24 veröffentlicht wurde.25 Kern des Vorschlags ist es „Schiedsgerichte zu ermutigen, eine aktivere Rolle bei der Verfahrensführung zu übernehmen (wie es in vielen civil law-Jurisdiktionen“ üblich ist)“.26 Auch die Prague Rules sehen vor, dass Parteien und/oder Schiedsgerichte sie entweder vollständig oder nur in Teilen zum Gegenstand des Schiedsver21

Siehe Art. 8 IBA-Rules. Siehe Art. 9 IBA-Rules. 23 Dabei ist häufig die Frage welches Recht zur Beurteilung von Einschränkungen der Vorlagepflicht anwendbar ist, durchaus schwierig. Das gilt umso mehr, wenn nicht nur das Rechts am Schiedsort sondern auch das jeweilige Heimatrecht am Sitze der Parteien zu berücksichtigen ist. 24 www.praguerules.com, auch in deutscher Sprache verfügbar. 25 Der Autor war Mitglied der Arbeitsgruppe, siehe Prague Rules, Anhang I. 26 Prague Rules, Vorbemerkung der Arbeitsgruppe. 22

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fahrens machen können; ausdrücklich erwähnt wird auch die Möglichkeit einer Nutzung als Richtlinie.27 Zur Steigerung der Effizienz des Verfahrens soll das Schiedsgericht von Anfang an eine proaktive Rolle einnehmen und nicht nur eine Verfahrenskonferenz abhalten, sondern mit den Parteien deren „jeweilige Positionen klären “im Hinblick auf „deren Begehren“, den Tatsachen, „.die von den Parteien außer Streit gestellt sind, und den Tatsachen, die bestritten werden;…“.28 „Sofern es dies für angemessen hält“, „kann“ das Schiedsgericht seine Auffassungen zum streitigen wie unstreitigen Sachverhalt, inklusive Beweismittel mitteilen.29 Zudem kann das Schiedsgericht aber auch „die Maßnahmen, welche die Parteien und das Schiedsgericht ergreifen könnten, um die faktischen und rechtlichen Grundlagen des Anspruchs und der Erwiderung zu ermitteln, erläutern und vorläufige Ansichten zu Beweislast, Begehren, streitigen Fragen und „Gewicht und Relevanz“ der von den Parteien vorgelegten Beweise äußern.30 Ausdrücklich wird dabei darauf hingewiesen, dass die Mitteilung solch vorläufiger Sichtweisen nicht „per se als Beweis für die mangelnde Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Schiedsgerichts“ angesehen werden kann. Art. 3 regelt weiter, dass das Schiedsgericht „berechtigt und dazu aufgerufen“ ist, eine proaktive Rolle (auch) bei der Ermittlung des relevanten Sachverhalts einzunehmen. Entsprechend kann das Schiedsgericht durchaus ermittelnd tätig werden und Parteien auffordern, einschlägige Dokumente vorzulegen oder „sicherzustellen, dass Zeugen in der Beweisverhandlung zur Aussage erscheinen“.31 Weiter können Sachverständige, „auch in Rechtsfragen“ vom Schiedsgericht bestellt werden und das Schiedsgericht kann „zum Zwecke der Tatsachenfeststellung alle sonstigen Maßnahmen ergreifen, die es für angemessen hält.“32 Etwas im Widerspruch zu diesen doch sehr weitreichenden Ermittlungsmöglichkeiten des Schiedsgerichts regelt Art. 4 dann allerdings, dass das Schiedsgericht und die Parteien dazu aufgerufen sind, „jede Form von Dokumentvorlage, einschließlich ediscovery möglichst zu vermeiden“.33 Allerdings wird eine solche Vorlage nicht ganz ausgeschlossen, aber unter die Kontrolle des Schiedsgerichts gestellt.34 Auch die Einvernahme von Zeugen wird mehr nach dem kontinentaleuropäischen Modell geregelt, da diese unter der Kontrolle und der Leitung 27 28 29 30 31 32 33 34

Prague Rules, Präambel und Art. 1.2. Art. 2.2.b. Art. 2.4.a–c. Art. 2.4. e. Art. 3.2. Art. 3.2. (d). Art. 4.2. Art. 4.3. und Art. 4.5.

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des Schiedsgerichts steht.35 Zwar sind die Parteien gehalten mit jedem Schriftsatz auch detaillierte Ausführungen zu den Beweisangeboten durch Zeugen zu machen und schriftliche Zeugenerklärungen vorzulegen, doch entscheidet das Schiedsgericht, wer als Zeuge in der Beweisaufnahme vernommen wird, wobei die Relevanz des Gegenstands der Zeugenaussage für den Ausgang des Verfahrens allein ausschlaggebend ist.36 Im Hinblick auf Sachverständige kann das Schiedsgericht entweder von den Parteien vorgeschlagene Sachverständige mit der Erstellung von Gutachten beauftragen oder selbst nach Anhörung der Parteien eigene Sachverständige bestellen.37 Werden sowohl parteibenannte Sachverständige wie auch vom Schiedsgericht ausgesuchte Sachverständige bestellt, besteht die Möglichkeit diese gemeinsam in einer Konferenz anzuhören, was allgemein unter den Begriffen Expert Conferencing bzw. Hottubbing geübte Praxis in der Schiedsgerichtsbarkeit ist.38 Zum Regelungsbereich der Prague Rules gehören darüber hinaus auch noch Regelungen zu iura novit curia39, sowie zur Beweislast40 und zum rechtlichen Gehör bei Rechtsfragen.41 Ebenfalls „kann“ bei Einverständnis der Parteien das Schiedsgericht die Parteien in jeder Phase des Schiedsverfahrens bei einer gütlichen Beilegung der Streitigkeit unterstützen.42 Dabei kann bei vorheriger schriftlicher Zustimmung auch jedes Mitglied des Schiedsgerichts auch als Mediator auftreten, um bei einer gütlichen Einigung behilflich zu sein. Dieses Mitglied des Schiedsgerichts kann mit Zustimmung aller Parteien im Falle eines Scheiterns der Mediation auch seine Tätigkeit als Schiedsrichter fortführen.43

X. Vergleich der Softlaw-Angebote Sowohl die IBA-Rules wie auch die Prague Rules bieten den Parteien wie auch den Schiedsgerichten unabhängig davon, ob es sich um ein ad hoc oder ein institutionelles Schiedsverfahren handelt, eine Möglichkeit, die sich in den Schiedsordnungen befindlichen Lücken zu schließen. Dabei ähneln sich IBARules und Prague Rules durchaus, da die enthaltenen Elemente wie Document Requests, Zeugeneinvernahme, Sachverständige in beiden Regelwerken zu finden sind, wenn auch mit teilweise unterschiedlichen Ausprägungen. 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Art. 5. Siehe insbesondere Art. 5.9. Art. 6. Art. 6.7. Art. 7. Art. 7.1. Art. 7.2. Art. 9.1. Art. 9.2/9.3.

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Auch wenn die IBA-Rules weltweit betrachtet sicherlich das wesentlich anerkanntere Softlaw-Angebot darstellen, scheint das Grundkonzept der Prague Rules dem Nutzer der Schiedsgerichtsbarkeit, der seine Wurzeln im kontinentaleuropäischen Rechtskreis hat, zunächst vertrauter. Die proaktive Rolle des Schiedsgerichts entspricht der geübten Praxis der ordentlichen Gerichte und ein Fehlen von Cross-Examination sowie eine restriktive Behandlung von Dokumentenvorlageverlangen stört z.B. den deutschen Nutzer der Schiedsgerichtsbarkeit eher nicht. Umgekehrt wird den anglosächsisch geprägten Nutzer das weitgehende Fehlen dieser ihm wichtigen Verfahrenselemente eher stören und dazu führen, dass dieser Nutzer die IBA-Rules bevorzugen wird, sei es durch eine direkte Anwendung oder zumindest als Richtlinie. Auch den Kontinentaleuropäer dürfte jedoch die Einfügung von Regelungen zu iura novit curia und Beweislastregelungen in einem Regelwerk zur Ermittlung und zum Beweis des Sachverhalts verwundern. Auch eine doch sehr weitgehende Möglichkeit des Schiedsgerichts den Sachverhalt selbst zu ermitteln, widerspricht dem Beibringungsgrundsatz und die Möglichkeit des Schiedsgerichts als Mediator in demselben Verfahren tätig zu werden, um einen Vergleich zu ermöglichen, geht über die z.B. in der DISSchiedsO vorgesehene Verpflichtung zur Förderung einer vergleichsweisen Beendigung hinaus.

XI. Eigener Ansatz und Vorschlag Es besteht ein Bedarf die Regelungslücken im Bereich der Sachverhaltsermittlung und Beweisaufnahme im Schiedsverfahren zu schließen. Dies können die Parteien individuell bei Abschluss der Schiedsvereinbarung tun, doch wird dies regelmäßig selten der Fall sein. Noch seltener dürfte eine solche Abstimmung zwischen den Parteien nach Beginn einer konkreten Streitigkeit möglich sein. Entsprechend wird es häufig die Aufgabe des Schiedsgerichts sein diese Lücken zu schließen. Dazu wird es im Regelfall die Parteien anhören, was die DIS-SchiedsO in Art. 27 im Zusammenhang mit Annex 3 und 4 konkret vorschreibt. Ein Schiedsgericht wird häufig in einer durch Erfahrungen in anderen Verfahren geprägten 1. Prozessleitenden Verfügung („PO1“) diese Fragen regeln und dabei die Erwartungen der Parteien berücksichtigen. Hilfreich ist jedoch sicherlich ein SoftlawAngebot, auf das das Schiedsgericht bzw. die Parteien zugreifen können und das in gewissem Umfang auch der Qualitätssicherung dient. Die IBA-Rules sind häufig für Schiedsgerichte (aber auch für Parteien) die bekannteste und damit akzeptabelste Softlaw-Lösung. Schiedsrichter aus unterschiedlichsten Regionen der Welt kennen diese Regelungen und ihr geht der Ruf voraus die Best Practice zu repräsentieren, der man sich ent-

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sprechend auch anschließen kann. Oft wird bei Verfahren insbesondere mit kontinentaleuropäischen oder anderen Parteien aus dem Bereich der civil law-Tradition kaum bzw. nicht in ausreichendem Umfang berücksichtigt, dass wie oben erläutert, das den IBA-Rules zugrunde liegende Verfahrensmodell angelsächsisch geprägt ist und eben Elemente wie Document Requests als gegeben voraussetzt. Selbst wenn für eine z.B. deutsche Partei die Möglichkeit eine Dokumentenvorlage verlangen zu können keinesfalls selbstverständlich und vielleicht auch systemwidrig erscheint, wird sie sich mit der Frage beschäftigen, ob sich daraus für sie in dem jeweiligen Verfahren Vorteile ergeben könnten. In vielen Verfahren wird dies entsprechende Vorlageanträge nach sich ziehen, was ein Verfahren aufwändiger machen kann. Insbesondere für kontinentaleuropäische Parteien könnten die Prague Rules deshalb eine Alternative darstellen. Das Grundmodell eines proaktiven Schiedsgerichts, das auch das Verfahren kontrolliert, indem es Verfahrenskonferenzen abhält, Sachverständige kontrolliert bzw. selbst einsetzt und auch die Zeugeneinvernahme steuert, entspricht in vielen Punkten durchaus dem Verständnis des zB. deutschen Zivilverfahrens. Allerdings enthalten auch die Prague Rules im Kern viele Elemente der IBA-Rules; lediglich die pro-aktive bis inquisitorische Rolle des Schiedsgerichts wird in den Prague Rules deutlich mehr in den Vordergrund gestellt. Zudem finden sich in den Prague Rules einige zusätzliche Regelungen zum anwendbaren Recht, Beweislast und Möglichkeit der Schiedsrichter als Mediator zu agieren, die häufig dazu führen werden, dass auch die Prague Rules nicht als umfassend zufriedenstellende Softlaw-Lösung für die Ermittlung des Sachverhalts erscheinen lassen. Es stellt sich aus Sicht des Autors deshalb die Frage, welche Empfehlung Parteien oder Schiedsgerichten im Hinblick auf die Anwendung von Softlaw-Angeboten im Bereich der Sachverhaltsermittlung und Beweisaufnahme gegeben werden kann. Da weder die IBA-Rules noch die Prague Rules als Ganzes Parteien und Schiedsgerichten ein vollständig zufriedenstellendes Angebot zur Verfügung stellen, können Schiedsgerichte nur entweder individuell in einer prozessleitenden Verfügung Verfahrensregeln aufstellen. Dies ist für die Parteien allerdings zu Beginn des Verfahrens nicht ausreichend transparent. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn es ein SoftlawAngebot gäbe, das die wesentlichen Anforderungen erfüllt und entsprechend vollumfänglich übernommen werden könnte. Wie könnte dieses aussehen? Was wären die Regelungsgegenstände? Wie könnte dies umgesetzt werden? Dieser Festschrift-Beitrag ermöglicht es nicht alle Regelungen detailliert zu diskutieren, geschweige denn im Einzelnen zu formulieren. Dies muss entsprechend an anderer Stelle erfolgen. Möglich ist es jedoch einige Eckpunkte zu nennen, die nach Ansicht des Autors umfasst sein sollten.

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Zunächst ergänzt das Softlaw-Angebot die von den Parteien bestimmten anwendbaren Schiedsregeln, d.h. z.B. die DIS-SchiedsO oder die ICCSchiedsO. Wiederholungen wären deshalb möglichst zu vermeiden. Grundsätzlich sollte das von den Prague Rules favorisierte pro-aktive Schiedsgericht eingefordert werden. Dieses sollte das Verfahren eng begleiten, was z.B. bedeutet, dass Verfahrenskonferenzen zur Fokussierung des Verfahrens nicht nur zu Beginn des Verfahrens, sondern nach jeder Schriftsatzrunde erfolgen sollten. Das Schiedsgericht sollte dabei Hinweise geben, was es für relevant hält und was Gegenstand des weiteren Vortrages sein sollte. Sollten alle Parteien zustimmen, kann das Schiedsgericht diese Hinweise auch auf eine vorläufige inhaltliche rechtliche Bewertung erweitern, um gegebenenfalls eine vergleichsweise Erledigung zu befördern. Beibehalten werden sollte auch die in vielen Schiedsordnungen explizit aufgeführte Möglichkeit den relevanten Sachverhalt auf Grundlage des Vortrags der Parteien weiter aufzuklären, wo dies erforderlich ist. Die eigentliche Einvernahme von Zeugen und Sachverständigen sollte eher in der Hand des Schiedsgerichts verbleiben, verbunden mit einem ergänzenden Fragerecht der Parteien. Hinsichtlich der Einbindung von Sachverständigen erscheint die in den Prague Rules verankerte alternative Einbindung von Parteigutachtern und vom Schiedsgericht im Namen der Parteien bestellten Sachverständigen durchaus überzeugend. Auch hier sollte das Schiedsgericht jedoch eine proaktive Rolle einnehmen und fallbezogen unter Berücksichtigung von Effizienzaspekten die Entscheidung überlassen werden. Aufmerksamkeit sollte auch die Frage erhalten nach welchen Kriterien sich bestimmt, ob Parteien sich auf Weigerungsrechte wie legal privilege, Vertraulichkeit und Betriebsgeheimnisse berufen können. Weiterhin sollten Regelungen aufgenommen werden, die sicherstellen, dass der Vortrag der Parteien, vorgelegte Dokumente und Zeugenerklärungen vom Schiedsgericht auch unter Berücksichtigung anwendbarer datenschutzrechtlicher Anforderungen verwendet werden können. Dies gilt auch im Hinblick auf Zeugenaussagen, deren Verwendbarkeit die Parteien sicherstellen müssen.44 Ebenfalls sollte erwogen werden, eine sichere Kommunikation im Verfahren als Regelungsgegenstand einzubeziehen. Dies gilt umso mehr als in der Zukunft Verfahren zunehmend „papierlos“ werden und Kommunikation zwischen den Parteien und mit dem Schiedsgericht elektronisch erfolgt. In Anbetracht der geregelten45 bzw. meist gewünschten Vertraulichkeit des Verfahrens sollte eine Kommunikation nur in einer geschützten Umgebung 44 Siehe zu den datenschutzrechtlichen Anforderungen im Schiedsverfahren Salger/ Trittmann/S.Müller, Internationales Schiedsverfahren, § 4. 45 Siehe z.B. Art. 44 DIS-SchiedsO.

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erfolgen. Dabei kann gegebenenfalls auf die Ressourcen von Schiedsinstitutionen zugegriffen werden. Alternativ müssten die Parteien oder das Schiedsgericht sich dieser Aufgabe annehmen. Die oben aufgeführten Regelungsbereiche sind nur Beispiele und können ergänzt werden, wenn der Vorschlag ein neues Softlaw-Angebot als Alternative zu den IBA-Rules und Prague Rules Akzeptanz findet. Zu Ehren des Jubilars könnten diese Regelungen dann auch unter dem Namen „Stuttgart Rules“ bekannt werden; vielleicht findet sich aber auch ein anderer Name.

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Can a Non-signatory to an International Arbitration Agreement to Which German Law Applies Be Compelled to Arbitrate Under United States Law — The Pending Question Before the Supreme Court of the United States in GE Power v. Outokumpu Stainless USA H A R R Y P. T R U E H E A R T I. II. III. IV. V. VI.

VII. VIII.

IX. X.

Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Background . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Equitable Estoppel as a Basis for Compelling Arbitration . . Equitable Estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Equitable Estoppel Distinguished from Traditional Estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . GE Energy’s Summary of Non-U.S. Cases that Support the Application of Doctrines Similar to Equitable Estoppel to Compel Arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Outokumpu’s Summary of Non-U.S. Case Law on the Application of Equitable Estoppel to Compel Arbitration . . Does German Law Apply to the Question of Whether GE Energy, a Non-Party to the Arbitration Agreement, Can Compel Outokumpu to Arbitrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . Concluding Comments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Addendum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Introduction I have known Dr. Thümmel through the membership of his firm in Terra-Lex, the global network of business law firms of which I was Chairman for many years. Dr. Thümmel, his partners, and their firm meet TerraLex’s highest standards for membership, and it has been a privilege to work with them over the years. It is a pleasure and honor to contribute to the Festschrift in his honor.

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Dr. Thümmel’s deep experience in international arbitration, the fact that German law plays a role in a currently pending case in the Supreme Court of the United States1 and the recurring question of whether a non-signatory to an international arbitration agreement can be compelled to arbitrate suggested this topic. I make this choice despite the fact that the Petitioners’ Reply Brief has not yet been filed and the Court will not have decided the issue before this article is published. Nevertheless, the issues presented are of current interest because two of the United States Circuit Courts of Appeal approve of compelling participation by non-signatories in international arbitrations (subject to the New York Convention) and two do not. The other seven have not ruled on the issue.

II. Background The New York Convention on the Enforcement of Arbitral Awards (Convention done at New York June 10, 1958, T.I.A.S. No. 6997, 21 U.S.T.2517 (Dec. 29, 1970)) is embodied in United States federal law as part of the Federal Arbitration Act.2 Chapter 1. applies to domestic arbitrations that are subject to federal jurisdiction, while Chapter 2 applies, to the exclusion of state law, to arbitrations subject to the New York Convention. First, a very brief summary of the facts of the case. Petitioner GE Energy is a non-U.S. corporation that sought to compel Respondent Outokumpu Stainless, a U.S. corporation, to arbitrate a dispute that Outokumpu had brought in state court in Alabama directly against GE Energy. Outokumpu was party to a contract (“Consortial Agreement”) with “Fives,” as general contractor, on a project to build steel mills for Outo-kumpu. The Consortial Agreement has its own arbitration clause, which gives Fives the right to join GE Energy to any arbitration under the contracts. The mills incorporated motors made by GE Energy. The motors were subject to catastrophic failures, which shut down the mills, causing large scale damages to Outokumpu. Outokumpu first sued Fives in state court but on motion of Fives was compelled to arbitrate that dispute. Outo-kumpu also sued GE Energy in state court. The Outokumpu complaint against GE Energy was not based on contract, but alleges breaches of duties that tracked to some extent GE Energy’s duties under the Consortial Agreement. GE Energy removed the case to Federal Court, based on the claim that the subject matter of the dispute was subject to an arbitration agreement that was subject to the New 1 GE Energy Power Conversion France SAS, Corp v. Outokumpu Stainless USA, LLC, No. 18-1048 [Supreme Court of the United States], notably the Joint Brief in Opposition dated May 21, 2019; Brief for Petitioner dated September 17, 2019; and Joint Brief for Respondents dated November 22, 2019. 2 9 U.S.C. § 201.

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York Convention, and then moved to compel arbitration. The contract between Outokumpu and Fives defined the seller to include Fives and subcontractors. GE Energy participated in meetings leading up to the contract, was listed in the contract as a possible subcontractor, but was not in contract with Fives at the time it contracted with Outokumpu. The lower court granted GE Energy’s motion to dismiss the lawsuit brought by Outokumpu and compelled it to arbitrate. Among other things it found that because the contract did not clearly exclude Outokumpu from the definition of parties in the Outokumpu/Fives contract, Outokumpu was bound by the arbitration agreement in that contract. On appeal the Eleventh Circuit Court of Appeals reversed the lower court’s decision to compel arbitration reasoning that only if there is an agreement in writing within the meaning of the Convention is a party required to arbitrate.3 The court relied on Article II (2), which defines an “agreement in writing” as “includ[ing] an arbitral clause … signed by the parties or contained in an exchange of letters or telegrams (quoting N.Y. Conv., Art. II (2)).4 The Eleventh Circuit construed this language to mean that GE Energy could not compel Outokumpu to arbitrate because GE Energy’s signature did not appear on the agreement.5 The Supreme Court of the United States granted a writ of certiorari and the appeal is now pending argument. The sole question presented on which the Court granted certiorari is whether the Convention permits a non-signatory to compel arbitration based on the doctrine of equitable estoppel. The Eleventh Circuit opinion6 was based on the court’s narrow reading of Article II of the Convention to the effect that it is a requirement without exception that only signatories to arbitration agreements can be required to arbitrate as argued by the Outokumpu. GE Energy argues that the correct reading for the Convention is that it sets a floor for circumstances in which arbitration can be compelled, particularly that a written agreement exists in some form. Further, the Convention does not set a limit on who can be compelled to arbitrate under domestic law as it may apply to arbitrations subject to the Convention, noting the many instances where domestic law requires arbitration by non-parties through the application of various doctrines, such as principals whose agents signed the agreement, assignees, successor corporations to signatories, alter ego entities, and other doctrines. The arguments may be of interest to other jurisdictions. This note, however, will focus only on the equitable estoppel issues raised by the parties. 3

Outokumpu Stainless USA, LLC v. Converteam SAS, 902 F.3d 1316 (2018). ibid 1325. 5 ibid 1325–1326. 6 ibid. 4

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III. Equitable Estoppel as a Basis for Compelling Arbitration With respect to domestic U.S. arbitrations, there is well-settled law that in some circumstances non-parties to arbitration agreements can be compelled to arbitrate. This can be true whether it is the signatory or the non-signatory that seeks to compel arbitration. One of those circumstances is when the common law doctrine of equitable estoppel applies. The question presented to the Supreme Court in the pending case is whether the New York Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards permits a nonsignatory to an arbitration agreement to compel arbitration based on the doctrine of equitable estoppel. There is a split of authority among the circuit courts, the mid-level appellate courts in the United States, on the issue. IV. Equitable Estoppel Quoting from the Appellant’s Brief to the Supreme Court: In the arbitration context, equitable estoppel allows a non-signatory to enforce an arbitration agreement when “a signatory to the written agreement must rely on the terms of that agreement in asserting its claims against the non-signatory.” 21 WILLISTON ON CONTRACTS § 57:19; see also MS Dealer Serv. Corp. v. Franklin, 177 F.3d 942, 947 (11th Cir. 1999). In addition, “application of equitable estoppel is warranted … when the signatory … raises allegations of … substantially interdependent and concerted misconduct by both the nonsignatory and one or more of the signatories.” MS Dealer, 177 F.3d at 947 (internal quotation marks omitted); see also 21 WILLISTON ON CONTRACTS § 57:19. These circumstances arise in many contexts, including subcontracts, employment agreements, distribution contracts, insurance arrangements, franchise agreements, partnership agreements, and pharmacy provider agreements. See 21 WILLISTON ON CONTRACTS § 57:19 (describing cases involving equitable estoppel); see also, e.g., Aggarao v. MOL Ship Mgmt. Co., 675 F.3d 355, 373–75 (4th Cir. 2012) (employment agreement); Crawford Professional Drugs, Inc. v. CVS Caremark Corp., 748 F.3d 249, 260–61 (5th Cir. 2014) (pharmacy provider agreement). The rationale for allowing non-signatories to compel arbitration in these situations is two-fold. First, equitable estoppel prevents signatories from avoiding the arbitral dispute-resolution process that they agreed to use, simply by suing a non-signatory defendant. That result would render arbitration agreements “meaningless” and undermine “the federal policy in favor of arbitration.” 21 WILLISTON ON CONTRACTS § 57:19. Second, equitable estoppel prevents litigants from “hav[ing] it both ways,” id.—that is, by “rely[ing] on the contract when it works to [their] advantage, and repudiat[ing] it when it works to [their] disadvantage.” Hughes Masonry Co., Inc. v. Greater Clark County Sch. Bldg. Corp., 659 F.2d 836, 838–39 (7th Cir. 1981) (internal quotation marks and alterations omitted).7 7 Brief for Petitioner at 16, GE Energy Power Conversion France SAS, Corp v. Outokumpu Stainless USA, LLC, No. 18-1048 (Supreme Court of the United States September 17, 2019).

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V. Equitable Estoppel Distinguished from Traditional Estoppel Respondents argue that estoppel is generally unknown and rarely applied in the civil law and non-U.S. contexts to compel arbitration with a nonsignatory. Petitioner, GE Energy argues, however, that doctrines analogous to “traditional estoppel,” as it is known under U.S. law, are recognized in various jurisdictions including Germany referring to the doctrine venire contra factum proprium, which Petitioners translate to “no one is allowed to go against the consequences of his own acts.”8 In the context of the instant case, Respondents argue that the doctrine has only been applied where a party manifests actual consent to arbitration by participating in the process, which participation is relied on by the counter-party. This they refer to as a narrow form of traditional estoppel as it is known under U.S. law. GE Energy also asserts that equitable estoppel is a basis for compelling arbitration unconnected with any form of implied consent. Three different non-consensual bases for compelling a non-signatory to arbitrate have been applied under U.S. domestic law. The first is where the issues in the dispute “are intertwined with the contract providing for arbitration.”9 The second is where there is “substantially interdependent and concerted misconduct” between the non-party and the other party to the agreement. The third is based on a “direct benefits” theory under which the non-party can be compelled to arbitrate where it seeks to enforce rights or claims benefits dependent on the contract containing the agreement to arbitrate.10 These contentions, on the one hand based on the narrow concept of “consent-based” traditional estoppel with actions manifesting consent and reliance by the counter party, and on the other hand the broader-based equitable concepts of “fairness” and “inter-connectedness” of the claims to the contract, set the stage for the argument about whether the New York Convention embodied in Chapter 2. of the FAA,11 permits a non-signatory to an arbitration agreement to be compelled or allowed to arbitrate with a signatory.

VI. GE Energy’s Summary of Non-U.S. Cases that Support the Application of Doctrines Similar to Equitable Estoppel to Compel Arbitration GE Energy’s brief cites to examples of where non-U.S. courts have found that the New York Convention’s requirement of a signed agreement to arbi8

ibid 39–41. 1 Domke on Commercial Arbitration § 13:2, at 13–10 (3d ed. June 2019 update). 10 ibid § 13:1, at 13–8. 11 9 U.S.C. § 201. 9

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trate has not prevented the application of domestic law to require nonsignatories to arbitrate. Courts sighted by GE Energy include: The Indian Supreme Court, which stated that “[o]nce it is determined that a valid arbitration agreement exists, it is a different step to establish which parties are bound by it” concluding that third parties not mentioned in an agreement may fall within its scope. Chloro Controls Ltd. v. Severn Trent Water Purification Inc., Sept. 28, 2012, XXXVIII Y.B. Comm. Arb. 392, 112 (2013).12 The Swiss Federal Tribunal concluded that the Convention does not specify “which are the parties which are bound by the agreement.” Born, § 10.04 (quoting Tribunal fédérale [TF] Oct. 16, 2003, 4P.115/2003, X. S.A.L., Y. S.A.L. et A. v. Z, 22 ASA Bull. 364, 386 (2003)); see Nathalie Voser & Luka Groselj, “Extension of arbitration agreement to non-signatory upheld under New York Convention (Swiss Supreme Court),” Practical Law UK Legal Update Case Report w-020-4702 (“Voser & Gro-selj”).13 See also Born, § 10.04 (quoting 22 ASA Bull. at 387).14 GE Energy also cites Alcatel Business Systems v. Amkor Technology, Court of Cassation, 1e civ., Mar. 27, 2007, No. 04-20.842 in which the French Court of Cassation stated that “the effect of an international arbitration agreement extends to the parties directly implicated in the execution of the contract and the litigation that may result.”15 GE Energy further argues that: Applying these sorts of principles, numerous foreign courts have thus enforced arbitration agreements against or at the request of non-signatories, consistent with their domestic law. For example, GE Energy argues that “... foreign courts generally agree that an arbitration agreement signed by an agent may be enforced against the principal. See Born, § 10.02[A]. Likewise, foreign courts rely on domestic principles of legal succession to allow corporate successors to enforce arbitration agreements signed by their predecessors. See id. § 10.02[H]. Similarly, foreign courts often rely on domestic principles of assignment to enforce arbitration at the request of assignees. See id. § 10.02[I]. And the examples do not end there. Piercing the corporate veil, alter ego concepts, the “group of companies” doctrine, third-party beneficiaries, and estoppel are all doctrines that foreign courts often cite in enforcing an arbitration agreement by or against a non-signatory. See generally id. § 10.02; B. Hanotiau, COMPLEX ARBITRATIONS: MULTIPARTY, MULTICONTRACT, MULTI-ISSUE AND CLASS ACTIONS chs. 1–2 (2006); REDFERN & HUNTER 2.42–2.53; S. Brekoulakis, Chapter 8: Parties in International Arbitration: Consent v. Commercial Reality 8.20– 8.100, in S. Brekoulakis, et al., THE EVOLUTION AND FUTURE OF INTERNATIONAL ARBITRATION 122–143 (2016) (“Brekoulakis”).16 12

Brief for Petitioner (n 7) 39. ibid 39. 14 ibid 40. 15 ibid 42. 16 ibid 40. 13

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The GE Energy brief also cites to a decision of the Singapore High Court that addressed equitable estoppel in The Titan Unity, [2014] SGHCR 4, (Feb. 4, 2014).17 That case, governed by the Convention, involved a shipping contract between two companies. A third company performed the contract for one of the parties. The third party was compelled to arbitrate. The decision relied on U.S. cases in applying the doctrine of equitable estoppel and reasoning that it would be unfair to allow the third party the benefits of the contract but not the requirement to arbitrate under it.

VII. Outokumpu’s Summary of Non-U.S. Case Law on the Application of Equitable Estoppel to Compel Arbitration Respondent Outokumpu cites to cases and commentary that support its argument that the application of equitable estoppel is infrequent at best outside of the U.S. and that the underlying bases for applying it to compel arbitration cannot be found in civil law. The cases cited are all in the context of refusal to enforce an award where the party against which enforcement was sought was not a party to the arbitration agreement and the court found no basis in the domestic law of the country in which enforcement was sought to apply the arbitration agreement to the party against which enforcement was sought. Outokumpu’s case summary is quoted below: IMC Aviation Sols. Pty. Ltd. v. Altain Khuder LLC AS, [Supreme Court of Victoria Court of Appeal], Aug. 22, 2011, S APCI 2011 0017 (refusing to enforce award against entity not party to agreement); Javor v. Francoeur, [British Columbia Supreme Court], Mar. 6, 2003, 2003 BCSC 350, 17 (refusing to enforce U.S. arbitration award against individual respondent who was “not a named party to the arbitration agreement”); Dallah Real Estate & Tourism Holding Co. v. Ministry of Religious Alf., Gov’t of Pak., [U.K. Supreme Court], Nov. 3, 2010, 2010 UKSC 46 (refusing to enforce award against entity joined to arbitration under “group of companies” doctrine); Peterson Farms Inc. v. C&M Farming Ltd., [English High Court], Feb. 4, 2004, EWHC 121, 62 (refusing to enforce award against parent of Arkansas poultry farmer under “group of companies” doctrine that “forms no part of English law”); Hussmann (Eur.) Ltd. v. Al Ameen Dev. & Trade Co., [English High Court], Apr. 19, 2000, EWHC 210, II 13, 15, 17, 20 (refusing to enforce award against assignee of party to arbitration agreement where assignment was ineffective under Saudi Arabian law governing agreement); Glencore Grain Ltd. (UK) v. Sociedad Iberica de Molturacion, S.A. (Spain), Tribunal Supremo [Spanish Supreme Court], Jan. 14, 2003, 16508/2003, reported in 2005 Y.B. Comm. Arb., Vol. XXX, at 605-09 (refusing enforcement of award against corporate affiliate of party to arbitration agreement); Judgement of 19 Aug. 2008, [First Civil Law Division of Swiss Federal Tribunal], Aug. 19, 2008, 4A 128/2008, 4.1.2 (refusing to enforce award against non-party under “group of companies” 17

ibid 40–41.

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doctrine; observing that “Swiss law sets some strict requirements as to the extension of an arbitration agreement to a third party not mentioned there”).18

Outokumpu also argues that where arbitration has been required of nonparties, it has been on the basis of either concept related to “privity-based doctrines” such as agency, assignment, succession, or alter ego or where the party has manifested some form of consent by engaging in the arbitration process. It also concedes the existence of, what it describes as analogous to a narrow form of traditional estoppel, venire contra factum proprium, discussed above, but distinguishes it from equitable estoppel.

VIII. Does German Law Apply to the Question of Whether GE Energy, a Non-Party to the Arbitration Agreement, Can Compel Outokumpu to Arbitrate Of further interest in this case is the argument that German law applies to the question. The Contract called for the application of German law. The lex arbitri was designated as Germany in the Contract. While choice of law for the arbitration clause is conceptually separable from the choice of law for the agreement as a whole, Respondent argues that the choice of law provision was directed at the arbitration clause. Petitioner argues in its reply that, for procedural reasons, the issue is not before the court and that if it were, U.S. case law requires that the issues be determined as a matter of U.S. federal common law. The Respondent, while asserting that German law would not recognize equitable estoppel as a basis for permitting a non-party to compel arbitration, cites a single case for that proposition: Bundesgericht-shof, [BGH][Federal Court of Justice], May 8, 2014, III ZR 371/12,19 which, based on Respondent’s description of the holding, is not directly applicable.

IX. Concluding Comments As noted above, this note omits the extensive arguments of the parties under U.S. law on a variety of topics, including the correct rules of interpretation of treaties under U.S. law, expressions of U.S. policy and legislative intent in the FAA, its legislative history and prior court decisions strongly favoring arbitration and especially international arbitration, the implications of U.S. law as it allows the application of equitable estoppel in compelling 18

Joint Brief for Respondents at 37–38, GE Energy Power Conversion France SAS, Corp. v. Outokumpu Stainless USA, LLC, No. 18-1048 (Supreme Court of the United States November 22, 2019). 19 ibid 58

Can a Non-signatory to an International Arbitration Agreement

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non-parties to arbitrate domestic disputes, and the history of the drafting of the Convention. All of these are matters of principal interest to U.S. readers and beyond the allowed length of this note. The case is, however, of general interest in several respects for non-U.S. readers. First, a decision that affirms the Eleventh Circuit literal view of Article II of the Convention as limiting arbitration only to original signatories would be a major step backward in the development of international arbitration. Second, a Supreme Court decision establishing that a foreign nonparty to an arbitration agreement may compel or be compelled to arbitrate where the U S. law of equitable estoppel applies could significantly expand the risk or opportunity for foreign entities that were not parties to an arbitration agreement to compel or be compelled to arbitrate disputes. Third, the inability to compel participation of related non-parties in complex multi-party disputes remains a significant limitation on the utility of arbitration. The decision could be a next small step in expansion of international arbitration to non-parties in other countries.

X. Addendum Following the submission of this article for publication, the Supreme Court of the United States rendered its decision on the pending appeal. GE Energy Power Conversion France SAS v. Outokumpu Stainless USA LLC, No. 18-1048, 2020 WL 2814297 (U.S. June 1, 2020). The Court reversed the Court of Appeals and held that a combined reading of the Federal Arbitration Act and the New York Convention on the Enforcement of Arbitral Awards permits non-signatory parties to be compelled to arbitrate on the principle of equitable estoppel as it may be applied by the courts under United States domestic law. The Court remanded the case to the lower court of an application of the Court’s decision to the facts of the case. In summary the Supreme Court, in the opinion by Justice Thomas, reasoned as follows. Article VII(1) of the New York Convention states that the “Convention shall not ... deprive any interested party of any right he may have to avail himself of an arbitral award in the manner and to the extent allowed by the law or the treaties of the country where such award is sought to be relied upon, Chapter 1 of the Federal Arbitration Act permits the application of the doctrine of equitable estoppel. Further the Court found that Chapter 1 is not in conflict with Chapter 2 of the New York Convention as embodied in Chapter 2 of the FAA,” 9 U.S.C.A. §§ 201–08, because the text of the New York Convention does not address whether non-signatories may enforce arbitration agreements under domestic doctrines such as equitable estoppel and nothing in the text of the Convention could be read to otherwise

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prohibit the application of domestic equitable estoppel doctrines. Finally the court reasoned that while Article II(3) of the New York Convention provided that “courts of a contracting state ‘shall ... refer the parties to arbitration’ when the parties to an action entered into a written agreement to arbitrate, and one of the parties requests referral to arbitration,” there is nothing in this provision which restricts “contracting states from applying domestic law to refer parties to arbitration in other circumstances.” Id. That silence was therefore “dispositive.” Id. It is interesting to note that Justice Thomas in his opinion for the Court looked to the “post-ratification understanding” by other countries concerning the use of domestic law in enforcing the New York Convention. Noting that “courts of numerous contracting states permit enforcement of arbitration agreements by entities who did not sign an agreement.” Id. (citing, e.g., 1 G. Born, International Commercial Arbitration § 10.02, at pp. 1418–84 (2d ed. 2014)). Thus the United States joins other countries in permitting a nonsignatory party to be compelled to arbitrate an international dispute based on principles of domestic law, at least to the extent it is based on application of the doctrine of equitable estoppel.

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Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit in der Ukraine Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit in der Ukraine Alexander Trunk

Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit in der Ukraine: Qualitätssicherung im Schatten des Konflikts ALEXANDER TRUNK

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schiedsordnung und Schiedspraxis des MKAS der HIK der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Nach Wiedererlangung ihrer staatlichen Unabhängigkeit Ende 1991 begab sich auch die Ukraine auf den Weg wirtschaftlicher Reformen. Ein Element der wirtschaftlichen Erneuerung war auch die Einrichtung eines Internationalen Handelsschiedsgerichts (MKAS) bei der neu gegründeten Handelsund Industriekammer der Ukraine im Jahr 1992. Im Jahr 1994 erließ die Ukraine das vom UNCITRAL-Modellgesetz 1985 abgeleitete Gesetz über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, bis heute die Hauptgrundlage der ukrainischen Außenhandelsschiedsgerichtsbarkeit. Weiterhin ist die Ukraine Vertragsstaat verschiedener völkerrechtlicher Abkommen über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, insbesondere des New Yorker UN-Übereinkommens von 19581 und des Europäischen Übereinkommens über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 19612. Angesichts der Größe und des wirtschaftlichen Potentials des Landes3 ist es nicht überraschend, dass der MKAS der Ukraine zu den großen Schieds1 Die Ukraine ist seit dem 8.1.1961 Mitgliedstaat des Übereinkommens, s. https:// uncitral.un.org/en/texts/arbitration/conventions/foreign_arbitral_awards/status2. Die Ukraine war, obgleich Teilrepublik der UdSSR, Mitglied der UN, s. Schwenk, Die Mitgliedschaft Weißrußlands und der Ukraine in der UNO, s. Schwenk, Vereinte Nationen Heft 3/1969, S. 77–81. 2 S. https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXII-2 &chapter=22&clang=_en. 3 S. näher https://de.wikipedia.org/wiki/Ukraine.

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institutionen in Osteuropa zählt, dessen Fallzahlen nicht weit hinter denen des gleichnamigen MKAS der Handels- und Industriekammer Russlands, des bekanntesten institutionellen Schiedsgerichts in Osteuropa, zurückbleiben, ja diese zeitweise sogar übertroffen haben. Gleichwohl sind die ukrainische Schiedsgerichtsbarkeit und der MKAS der Ukraine im Ausland weniger bekannt als nach ihrer tatsächlichen Bedeutung zu erwarten wäre. Hinzu kommt, dass mit Ausbruch des Ukraine-Konflikts Ende 2013 Unsicherheiten entstanden sind, die auch die Funktion der ukrainischen Schiedsgerichte beeinträchtigen. Ebenso führen die anhaltenden Diskussionen über die weit verbreiteten Korruptionserscheinungen in der Ukraine gerade auch aus der Perspektive ausländischer Unternehmen zu Zweifeln, ob die Durchführung eines Schiedsverfahrens in der Ukraine überhaupt zumutbar ist. Ziel des folgenden Beitrages ist es, derartigen Bedenken konkrete Informationen gegenüberzustellen, um eine informierte Entscheidung über die Wahl eines ukrainischen Schiedsgerichts, z.B. des MKAS der Ukraine, zu ermöglichen.

II. Rechtsquellen Zentrale Rechtsquelle des ukrainischen internationalen Schiedsverfahrensrechts ist – wenn man von den bereits genannten völkerrechtlichen Abkommen absieht4 – das Gesetz der Ukraine über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (nachfolgend: IHSG) vom 24.2.19945. Das Gesetz wurde mehrere Male leicht geändert, zuletzt durch Gesetz vom 3.10.20176. Bei der Jahresversammlung der Schiedsrichter des MKAS am 23.1.2020 4 S.o. Fn. 1 und 2. Das Kiewer GUS-Übereinkommen vom 20.3.1992 über das Verfahren der Entscheidung von Streitigkeiten, die mit der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten verbunden sind, findet entgegen seinem teilweise missverständlichen Wortlaut auf die Schiedsgerichtsbarkeit nach zutreffender Ansicht keine Anwendung, s. Chvalej, in: Skvortsov/Savranskiy/Sevastyanov (Hrsg.), Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (russ.), 2. Aufl. (2018), S. 186 f. Außerhalb dieses Beitrags stehen die völkerrechtlichen Verträge der Ukraine auf dem Gebiet der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit (ICSID-Übereinkommen, bilaterale Investitionsschutzabkommen etc.). 5 Die geltende Fassung ist zugänglich (auf Ukrainisch) bei https://zakon.rada.gov. ua/laws/show/4002-12?lang=uk. Auf der Webseite des MKAS der Ukraine ist auch eine englische Fassung des Gesetzes (mit den letzten Änderungen vom 3. Okt. 2017) verfügbar, https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Law-of-Ukraine-On-International-CommercialArbitration-2.pdf. 6 Im Internet zugänglich unter https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2147%D0%B019. Zu den Gesetzesänderungen von 2017 s. Perepelinskaja, Arbitrazhnaja reforma v Ukraine: obzor osnovnych izmenenenij (Die Schiedsverfahrensreform in der Ukraine: Übersicht über die grundlegenden Änderungen) (russ.), https://journal.arbitration.ru/ru/ analytics/arbitrazhnaya-reforma-v-ukraine-obzor-osnovnykh-izmeneniy. Die Reform änderte u.a. gerichtliche Zuständigkeiten im Zusammenhang mit Schiedsverfahren und erweiterte Möglichkeiten einstweiligen Rechtsschutzes (Übernahme einiger Änderungen des UNCITRAL-Modellgesetzes i. d. F. von 2006).

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wurde mitgeteilt, dass der Gesetzgeber derzeit eine weitere Novellierung des IHSG vorbereitet. Parallel zu dem Gesetz über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit besteht ein allgemeines Gesetz über die Schiedsgerichtsbarkeit vom 11.5.2004, das aber grundsätzlich nur die innerstaatliche Schiedsgerichtsbarkeit betrifft7. Das Gesetz über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit wird durch schiedsverfahrensbezogene Vorschriften in der ukrainischen Zivilprozessordnung (ZPO) vom 18.3.20048 sowie in der ukrainischen Wirtschaftsprozessordnung (WPO) vom 6.11.19919 ergänzt. Beide Gesetze wurden ebenfalls vielfach geändert, u.a. im Rahmen der Schiedsverfahrensreform 201710. Die Zivilprozessordnung regelt insbesondere das Verfahren der Aufhebung inländischer Schiedssprüche sowie der Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche (Art. 454–461 ZPO und Art. 474–482 ZPO). Aus der Wirtschaftsprozessordnung ergibt sich (in Ergänzung zum IHSG), welche wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten nach ukrainischem Recht nicht schiedsfähig sind (Art. 22 WPO). Bei der Betrachtung der Rechtsquellen fallen die auch durch die gemeinsame sowjetische Geschichte bedingten Ähnlichkeiten mit dem russischen Recht ins Auge. Die Struktur der schiedsverfahrensbezogenen Regelungen (Unterscheidung zwischen IHSG und allgemeinem Gesetz über die Schiedsgerichtsbarkeit, Systemzusammenhang mit der ZPO und einer davon getrennten Wirtschaftsprozessordnung) stimmt in beiden Ländern überein, und auch im Detail sind zahlreiche Übereinstimmungen festzustellen. Dem stehen auf der anderen Seite wesentliche Unterschiede im Detail gegenüber, auf einige davon soll nachfolgend, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, kurz hingewiesen werden.

III. Schiedsordnung und Schiedspraxis des MKAS der HIK der Ukraine 1. Die führende Schiedsinstitution in der Ukraine ist das Internationale Handelsschiedsgericht (MKAS, eng. ICAC) bei der Handels- und Industriekammer (HIK) der Ukraine in Kiew (Kyiv). Wie in Russland, ist auch in der Ukraine die Institution des Internationalen Handelsschiedsgerichts bei 7 In der geltenden Fassung im Internet verfügbar unter https://zakon.rada.gov.ua/laws/ show/1701-15 (ukr.). 8 In der geltenden Fassung im Internet verfügbar unter https://zakon.rada.gov.ua/laws/ show/1618-15 (ukr.). 9 In der geltenden Fassung im Internet verfügbar unter https://zakon.rada.gov.ua/laws/ show/1798-12 (ukr.). 10 S.o. Fn. 6; ferner Alyoshin/Odnorih, Ukraine, in: The International Arbitration Review – Edition 10, August 2019, http://thelawreviews.co.uk/edition/1001364/the-interna tional-arbitration-review-edition-10, sub I Introduction.

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der HIK in einer Anlage zum IHSG gesetzlich verankert11, und die Handels- und Industriekammer ist befugt, Schiedsordnungen für dieses Schiedsgericht zu erlassen. Zur Zeit gilt die Schiedsordnung vom 27.7.201712, die am 1.1.2018 in Kraft getreten ist („Schiedsordnung 2018“) und die vorherige Schiedsordnung vom 17.4.2007 („Schiedsordnung 2007“) abgelöst hat13. Die Schiedsordnung 2018 besteht aus 72 Artikeln14 sowie einem Anhang über die Schiedsgebühren und Kosten. Der MKAS der Ukraine administriert nur (und die Schiedsordnung 2018 regelt grundsätzlich nur) internationale Wirtschaftsstreitigkeiten zivilrechtlichen Charakters15. Die Schiedsordnung 2018 ist in 9 Abschnitte gegliedert: Allgemeine Bestimmungen (Art. 1– 5), Organisation des MKAS (Art. 6–10), Einreichung und Versendung von Dokumenten, Fristen (Art. 11–12), Beginn des Schiedsverfahrens (Art. 13– 24), Sicherungsmaßnahmen (Art. 25–29), Schiedsgericht (Art. 30–35), Durchführung des Schiedsverfahrens (Art. 36–57), Beendigung des Schiedsverfahrens (Art. 59–67), Schlussbestimmungen (Art. 68–72). Der Aufbau der Schiedsordnung 2018 ähnelt stark der Schiedsordnung 2005 des russischen MKAS16, enthält aber auch deutliche Eigenelemente, z.B. einen besonderen Abschnitt über Sicherungsmaßnahmen (Art. 25–29). Auch der Detailvergleich der beiden Schiedsordnungen zeigt wesentliche Unterschiede, z.B. zur Auslegung von Schiedsklauseln (Art. 2), zur Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Verfahren (Art. 2 Pkt. 4), über Fristen (Art. 12), zur Nutzung von Informationstechnologien im Verfahren (z.B. Art. 11 Pkt. 4 und 5), zur Bestellung der Schiedsrichter (Art. 31), zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schiedsrichter (Art. 32) und vielen weiteren Fragen. 11 Anlage 1 zum IHSG, englische Fassung zugänglich auf der Webseite des MKAS, https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Statute-on-the-ICAC-at-the-UCCI.pdf. 12 Der Text der Schiedsordnung ist auf Ukrainisch, Russisch und Englisch auf der Webseite des MKAS veröffentlicht, s. etwa https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Rulesof-the-ICAC-at-the-UCCI.pdf (eng.). Bei der Jahresversammlung der Schiedsrichter des MKAS am 23.1.2020 wurde mitgeteilt, dass im Zusammenhang mit der geplanten Novellierung des IHSG auch eine Überarbeitung der Schiedsordnung 2018 beabsichtigt ist. 13 Der Text der Schiedsordnung von 2007 ist weiterhin auf der Webseite des MKAS zugänglich, s. https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Rules-of-the-ICAC-at-the-UCCI2007.pdf (eng.). Die Schiedsordnung 2007 trat an die Stelle der Schiedsordnung von 1994, http://search.ligazakon.ua/l_doc2.nsf/link1/FIN629.html. Die erste Schiedsordnung wurde im Jahr 1992 im Zusammenhang mit der Gründung des MKAS verabschiedet, s. https://pravo.ua/articles/mezhdunarodnyj-arbitrazh-sostojalsja/. 14 Schiedsordnung 2007: 59 Artikel. 15 S. Art. 3 Schiedsordnung 2018. Dies entspricht der Rechtslage in Russland vor dem Erlass der dortigen neuen Schiedsordnungen vom Januar 2017. Anders als (heute) der MKAS der HIK Russlands verfügt der MKAS der Ukraine über keine weiteren Schiedsordnungen, z.B. für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten. 16 Die Lektüre der einzelnen Bestimmungen zeigt, dass darüber hinaus offensichtlich auch die neuen Schiedsregeln des russischen MKAS von 2017 zur Kenntnis genommen wurden, zugleich aber an vielen Stellen eigene Lösungen entwickelt wurden.

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2. Der erste, langjährig amtierende Präsident des MKAS, Akad. Prof. Dr. Igor Pobirchenko (1923–2012) hat die Tätigkeit des MKAS seit dessen Gründung im Jahr 1992 bis zum Jahr 2010 geprägt17. Unter seiner Leitung stieg die Zahl der beim MKAS eingereichten Schiedsklagen von 5 (1992) auf 518 (2002)18. Seit 2010 ist der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts der Ukraine, Akad. Prof. Dr. Mykola Selivon, Präsident des MKAS19. Unter seiner Leitung erreichte der MKAS im Jahr 2015 den bisherigen Gipfel seiner Eingangszahlen mit 922 Verfahren. Die Zahlen sind seither kontinuierlich zurückgegangen (2016: 553, 2017: 286), liegen aber immer noch höher als etwa beim MKAS Russlands (2016: 271 für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten)20. Der MKAS betreibt eine sehr informative Webseite in ukrainischer, russischer und englischer Sprache (https://icac.org.ua/en/). Die Webseite enthält neben Angaben zur Struktur des MKAS auch die einschlägigen Regelungen (Schiedsordnungen, gesetzliche und völkerrechtliche Bestimmungen; auch einzelne Entscheidungen staatlicher Gerichte), Statistiken und Jahresberichte sowie aus Sicht des MKAS besonders wesentliche Schiedssprüche im Volltext (z.B. 127 Schiedssprüche in russischer Sprache, allerdings nur 3 in englischer Sprache)21.

IV. Einzelfragen Die Betrachtung des ukrainischen Schiedsverfahrensrechts muss bei den gesetzlichen Vorschriften und der Schiedsordnung des MKAS der Ukraine ansetzen, aber auch die Schiedspraxis und die Rechtsprechung staatlicher Gerichte berücksichtigen. Auf der Ebene der gesetzlichen Vorschriften entspricht das ukrainische Recht durch die Übernahme des UNCITRALModellgesetzes 1985 (mit einem noch andauernden Prozess der Übernahme der Änderungen von 2006) und die Geltung des New Yorker Übereinkom17 Der MKAS hat im Jahr 2003 eine mit zahlreichen Dokumenten versehene Autobiografie von I. Pobirchenko („Vospominania, Dokumenty, Razmyshlenija“) veröffentlicht. 18 So Pobirchenko, Vospominania, Dokumenty, Razmyshlenija (2003), S.119. Im letzten Amtsjahr von I. Pobirchenko (2010) betrug nach der auf der Webseite des MKAS veröffentlichten Statistik die Zahl der eingegangenen Schiedsklagen 446 (2011: 303), s. https://icac.org.ua/ru/statystyka-ta-praktyka/statystyka/. 19 Zur Person von M. Selivon s. z.B. http://www.aprnu.kharkiv.org/Academics/Selivon _M_F.html. 20 S. https://mkas.tpprf.ru/ru/Stat/page.php (auch mit Vergleichszahlen zum LCIA und der SCC). 21 Über weitere Schiedssprüche wird regelmäßig, auch in englischer Sprache, in Praxissammlungen berichtet, z.B. im The Baker & McKenzie International Arbitration Handbook, oder auch im Internet, z.B. im CIS Arbitration Forum, http://www.cisarbitration. com/about-cis-arbitration-forum/.

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mens von 1958 und des Europäischen Übereinkommens von 1961 internationalen Standards22. Im Rahmen verschiedener, nach dem „Euromaidan“ aufgenommener und auch von internationalen Finanzgebern eingeforderter Justizreformen hat der ukrainische Gesetzgeber auch einige Stellschrauben für das Schiedsverfahrensrecht neu gestellt mit dem Ziel, Schiedsverfahren effektiver und das ukrainische Recht schiedsfreundlicher zu gestalten23. So wurde beispielsweise der Instanzenweg staatlicher Gerichte bei Klagen zur Aufhebung von Schiedssprüchen oder für die Vollstreckbarerklärung ausländischer Schiedssprüche dadurch verkürzt, dass für solche Verfahren nunmehr die Appellationsgerichte als Eingangsinstanz zuständig sind (s. Art. 6 Pkt. 2 IHSG). Eine andere Änderung betraf z.B. die Auslegung von Schiedsvereinbarungen, die nunmehr im Zweifel zugunsten ihrer Wirksamkeit erfolgen soll24. Auch der Oberste Gerichtshof der Ukraine hat diesem rechtspolitischen Anliegen jüngst in einem auf der Webseite des MKAS veröffentlichten, umfangreichen Praxishinweis vom 12. Juni 2019 Rechnung getragen, in dem beispielsweise zu einer zurückhaltenden Handhabung des ordre public-Vorbehalts aufgefordert und der Grundsatz der Autonomie der Schiedsvereinbarung vom Hauptvertrag betont wird25. Eine der in diesem Praxishinweis zitierten Entscheidungen betraf übrigens die Vollstreckung eines Schiedsspruchs des MKAS Russlands vom 3.10.2016 zugunsten eines russischen Unternehmens gegen eine ukrainische Schiedsbeklagte. Das Oberste Gericht entschied dort, dass der Umstand, dass die Schiedsklägerin ihren Sitz in Russland habe (und es sich offenbar um ein Unternehmen aus dem Rüstungssektor handelte) nicht ausreichte, um aus politischen Gründen 22 Eine generelle Darstellung des ukrainischen Rechts geben beispielsweise Tsirat, Myzhnarodnij komertsyjnij arbytrazh (2019), kürzer Pritika, in: Dovgert/Kisil‘ (red.), Myzhnarodne Privatne Pravo (ukr.), Kap.31, 2.Aufl. (2014). Hilfreich sind auch die jährlichen Landesberichte über das ukrainische Recht im The Baker & McKenzie International Arbitration Yearbook. Die Ausgabe 2007 (Romanova) enthält auch einen Gesamtüberblick. Einen aktuellen Gesamtüberblick geben Alyoshin/Odnorih, Ukraine, in: The International Arbitration Review – Edition 10, August 2019, http://thelawreviews.co.uk/ edition/1001364/the-international-arbitration-review-edition-10. 23 S. Alyoshin/Odnorih, Ukraine, in: The International Arbitration Review - Edition 10, August 2019, http://thelawreviews.co.uk/edition/1001364/the-international-arbitratioreview-edition-10, sub I Introduction. S. hierzu auch bereits Pil’kov, Ukraine Arbitration Friendly, 2013–2014 Statistical and Analytical Report, http://arbitration.kiev.ua/ru-RU/ Novosti-UAA/Ukraina--druzhestvennaya-arbitrazhu-yurisdikciya-statistiko-analitiches kij-otchet-2013-2014-.aspx?ID=314. 24 Art. 22 Pkt. 3 WPO, s. dazu Alyoshin/Odnorih, Ukraine, in: The International Arbitration Review – Edition 10, August 2019, http://thelawreviews.co.uk/edition/1001364/ the-international-arbitration-review-edition-10, sub I Introduction, ferner Makarenko: Law No. 2147 Addresses Important Issues of Interaction between the International Commercial Arbitration and Public Courts, http://attorneys.ua/en/publications/ievgeniiamakarenko-law-no-2147-addresses-important-issues-of-interaction-between-the-interna tional-commercial-arbitration-and-public-courts/. 25 S. https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Oglyad_ICAC.pdf.

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unter Berufung auf den ordre public eine Vollstreckung des Schiedsspruchs zu versagen26. Man kann darin wohl auch eine grundsätzliche Aussage sehen, dass der bestehende politische Konflikt trotz seiner militärischen Dimension nicht dazu führen soll, den Rechtsverkehr mit russischen Unternehmen generell zu blockieren. Auch die Entscheidungspraxis des MKAS entspricht, soweit man dies an den auf der Webseite des MKAS nachgewiesenen Schiedssprüchen nachvollziehen kann, üblichen professionellen Standards. Freilich ist aus dem Inhalt solcher Entscheidungen, ebenso wenig wie aus dem Wortlaut von Entscheidungen staatlicher Gerichte im Zusammenhang mit Schiedsverfahren, nicht unbedingt zu erkennen, ob das Verfahren in jeder Hinsicht fair verlaufen ist. Es bleibt immer ein Restrisiko, dass ungeachtet aller gesetzlichen Verbote möglicherweise in unzulässiger Weise auf ein Schiedsverfahren oder anschließende Gerichtsverfahren Einfluss genommen wird. Dieses Risiko dürfte freilich nicht nur in der Ukraine bestehen, und auch die Parteien haben einige Möglichkeiten, solchen Risiken entgegenzuwirken. Letztlich geht es um eine Gesamtabwägung, welche Risiken Vertragsparteien in einem Streitfall hinzunehmen bereit sind. Ein Generalverdacht gegen die ukrainische Schiedsgerichtsbarkeit ist sicher nicht berechtigt.

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https://icac.org.ua/wp-content/uploads/Oglyad_ICAC.pdf, S.19 f.

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Im Spannungsfeld zwischen ICC-DOCDEX-Verfahren

Im Spannungsfeld zwischen ICC-DOCDEX-Verfahren Klaus Vorpeil

Im Spannungsfeld zwischen ICC-DOCDEXVerfahren und ICC-Schiedsverfahren KLAUS VORPEIL

I. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statistische Bedeutung von DOCDEX-Verfahren . . . . . . 2. Kosten- und Zeiteffizienz von DOCDEX-Verfahren . . . . 3. Anwendungsbereich der DOCDEX Rules . . . . . . . . . . . 4. Geeignetheit eines Streitfalls für ein DOCDEX-Verfahren 5. DOCDEX-Verfahren vs Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . II. Einlassung auf ein DOCDEX-Verfahren vs Schiedsklausel III. DOCDEX Claim vs Request for Arbitration . . . . . . . . . . IV. Ablauf eines DOCDEX-Verfahrens vs Ablauf eines ICCSchiedsgerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Ausgangssituation 1. Statistische Bedeutung von DOCDEX-Verfahren DOCDEX-Verfahren1 als Instrumentarium zur Konfliktlösung stehen seit deren Einführung durch die Internationale Handelskammer (ICC) im 1 Näheres zu DOCDEX-Verfahren bei Vorpeil Antrag auf DOCDEX-Entscheidung/ Application for DOCDEX Decision, in: Schütze/Weipert/Rieder Münchener Vertragshandbuch, Band 4, Wirtschaftsrecht III, 8. Aufl. 2018, S. 992 ff. (m.w.N.); ders. Die neue ICCSchiedsgerichtsordnung in der Praxis, in: Graf von Bernstorff Praxishandbuch Internationale Geschäfte, Kapitel 4 E7, aktualisiert Mai 2017; ders. DOCDEX – Konfliktlösung bei internationalen Zahlungssicherungs- und Handelsfinanzierungsinstrumenten, AW-Prax 2015, 265 ff.; ders. DOCDEX 3.0 – New disputes meet new rules, RIW 2015, Heft 6 (Editorial); ders. ICC-Konfliktlösungsverfahren für den internationalen Wirtschaftsverkehr, IWB 2014, 154 ff.; ders. Konfliktmanagement bei Akkreditiven, Garantien und Inkassi, S-Firmenberatung, Mai 2013, S. 4 ff.; ders. ICC-Konfliktlösungssysteme für Dokumentenakkreditive, IDR 2006, Heft 2 (Editorial); ders. ICC Rules for Documentary Instruments Dispute Resolution Expertise (DOCDEX), RIW 2003, 370 ff.; ders. Konfliktlösungssysteme der Internationalen Handelskammer bei Dokumentenakkreditiven, AW-Prax 2002, 378 ff.; ders. DOCDEX Rules der ICC zu Dokumenten-Akkreditiven, IWB 1997, 479 f., Fach 10 International, Gruppe 8, S. 191 f.; Schütze/Vorpeil Das Dokumentenakkreditiv im internationalen Handelsverkehr, 7. Aufl. 2016, Rn. 785 ff.; https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/docdex/.

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Schatten ihrer international äußert beliebten „größeren Schwester“, dem ICC-Schiedsverfahren, obwohl sie nicht „unattraktiver“ sind als dieses und ihre „inneren Werte“ je nach dem Sachverhalt des zu entscheidenden Falls sogar gegenüber diesem überwiegen. Nach der Statistik müsste aber Gegenteiliges vermutet werden. So weisen die offiziellen „2017 ICC Dispute Resolution Statistics“2, in denen „DOCDEX“ ganz am Ende nur eine knappe Viertelseite von 14 Seiten gewidmet wird, insgesamt weltweit nur sechs Verfahren für das Jahr 2017 aus. Nicht viel anders sieht es bei den „2018 ICC Dispute Resolution Statistics“3 mit vier DOCDEX-Verfahren aus. Dieser statistische Beinahe-Totalausfall wird auch nicht dadurch aufgewertet, dass 2017 darin insgesamt 18 und 2018 insgesamt 14 Parteien involviert waren. Die fortlaufenden Registernummern von DOCDEX-Verfahren malen zwar kein ganz so düsteres Bild wie die Statistiken aus den letzten beiden Jahren; aus ihnen wird jedoch auch deutlich, dass DOCDEX-Verfahren in der Praxis internationaler Konfliktlösungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wie den Statistiken zu entnehmen ist, sind DOCDEX-Verfahren stärker in Asien nachgefragt, aber was heißt das schon bei insgesamt sechs bzw. vier Verfahren in den beiden genannten Berichtsjahren. Dabei verdienen DOCDEX-Verfahren eigentlich große Beachtung. Wie hier noch näher dargelegt werden wird, stellen DOCDEX-Verfahren in bestimmten Fällen ein ausgezeichnetes Konfliktlösungsverfahren dar. 2. Kosten- und Zeiteffizienz von DOCDEX-Verfahren Wenn der Streitfall in den Anwendungsbereich der DOCDEX Rules fällt und für ein DOCDEX-Verfahren geeignet ist,4 sollte ein solches Verfahren stets in Erwägung gezogen werden. Dies ist dem Verfasser als Mitglied in einem DOCDEX Panel überdeutlich geworden, als – bei in beiden Fällen unstreitigem Sachverhalten – die gleiche und einzige Rechtsfrage im Zusammenhang mit einer Bankgarantie auf erstes Anfordern wie in einem zum Zeitpunkt der Einleitung des DOCDEX-Verfahrens bereits rechtshängigen Rechtsstreit zu entscheiden war, bei dem der Verfasser eine der beiden Streitparteien vertrat. Während die DOCDEX-Entscheidung innerhalb von zwei Wochen zu dem nach der Gebührentabelle der ICC pauschalen Gebührensatz von USD 5.000,005 zuzüglich der nicht bekannten, aber sicher2 Abgedruckt in ICC Dispute Resolution Bulletin 2018, Issue 2, S. 51 ff. DOCDEXVerfahren werden darin auf S. 65 behandelt. 3 Abgedruckt in ICC Dispute Resolution Bulletin 2019, Issue 1, S. 11 ff. DOCDEXVerfahren werden darin auf S. 27 behandelt. 4 Der Anwendungsbereich der DOCDEX Rules und die Geeignetheit von Streitigkeiten für ein DOCDEX-Verfahren werden in den nachfolgenden Kapiteln I. 3 und I. 4 behandelt. 5 Wenn der Streitwert einen Betrag von US $ 1.000.000 nicht übersteigt, beträgt die Grundgebühr bei DOCDEX-Verfahren pauschal US $ 5.000. Die Kosten für ICC-

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lich relativ unbedeutenden Kosten für die bevollmächtigten Rechtsberater erging, musste der besagte Rechtsstreit wegen grober Uneinsichtigkeit der Gegenpartei bei dem zuständigen Landgericht und Oberlandesgericht mit einem etwa gleichhohen, nicht unbedeutenden Streitwert wie in dem DOCDEX-Verfahren nach den Gebührentabellen für Anwälte und Gerichte mit sechsstelligen Gesamtkosten geführt werden, bevor er drei Jahre später mit einer nicht stattgebenden Nichtzulassungsbeschwerde der Gegenpartei hinsichtlich eines Revisionsverfahrens vom BGH kostenpflichtig final abgeschmettert wurde. 3. Anwendungsbereich der DOCDEX Rules Der Anwendungsbereich von DOCDEX-Verfahren ist mit der letzten Überarbeitung der DOCDEX Rules zwar deutlich ausgedehnt worden, enthält aber anders als Schiedsverfahren immer noch eine Beschränkung auf „ICC-typische“ oder gleichgelagerte Sachverhalte. Die DOCDEX Rules umfassen Streitigkeiten bezüglich aller wesentlichen Zahlungssicherungsund Handelsfinanzierungsinstrumente, die im internationalen Handelsverkehr eingesetzt werden. Außer den ausdrücklich in der Neufassung aufgeführten Dokumentenakkreditiven, Standby Letters of Credit, Bank-zuBank Remboursen, Dokumenteninkassi, Demand Guarantees, Forfaitierungen und Bank Payment Obligations zählen hierzu auch „any other trade finance-related instrument, undertaking or agreement“. Neu ist seit der letzten Überarbeitung der DOCDEX Rules, dass diese nun unabhängig davon zur Anwendung gelangen können, ob in dem jeweiligen Streitfall tatsächlich ICC-Richtlinien („ICC Banking Rules“) betroffen sind, wenn – das ist dann allerdings Voraussetzung – beide Parteien damit einverstanden sind. Dies gilt etwa für eine Streitfrage im Zusammenhang mit einer Bankgarantie auf erstes Anfordern, für die nicht die Uniform Rules for Demand Guarantees (URDG 758) der ICC vereinbart worden sind. 4. Geeignetheit eines Streitfalls für ein DOCDEX-Verfahren DOCDEX-Verfahren stellen aufgrund der Tatsache, dass sie in einem reinen schriftlichen Verfahren durchgeführt werden, nur dann eine geeignete Verfahrensart dar, wenn bereits auf der Grundlage der eingereichten Dokumente eine Entscheidung getroffen werden kann. Wenn jedoch die Erörterung des Sachverhalts bzw. von Rechtsfragen oder Beweiserhebungen Schiedsverfahren, die sich aus Kostentabellen in Anhang III der ICC-Schiedsgerichtsordnung ergeben, können mit einem Verfahrenskostenrechner ermittelt werden, der auf der ICC-Website zur Verfügung steht: https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbi tration/costs-and-payments/cost-calculator/.

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erforderlich sind, scheiden sie als Konfliktlösungsverfahren aus. Art. 2 Abs. 4 DOCDEX Rules stellt dementsprechend ausdrücklich klar, dass es sich bei DOCDEX-Verfahren um eine beschleunigte Verfahrensart handelt, bei der keine Möglichkeit der mündlichen Erörterung von Tatsachen und Sachverständigenbeweisen oder mündlichen Verhandlungen besteht, was gegenüber Schiedsverfahren, die nach Art. 26 ICC-Schiedsordnung grundsätzlich eine mündliche Verhandlung vorsehen, eine deutliche Einschränkung bedeutet. 5. DOCDEX-Verfahren vs Schiedsverfahren Einer der vielen Vorteile, der – zu Recht – grundsätzlich für ein Schiedsgerichtsverfahren anstelle eines Rechtstreits vor staatlichen Gerichten angeführt wird, und zwar die Fachkompetenz der Schiedsrichter, gilt uneingeschränkt auch für die Mitglieder eines DOCDEX Panel („Experts“), die über eine Streitigkeit im Rahmen eines DOCDEX-Verfahrens entscheiden. Die ICC führt ein Verzeichnis unabhängiger Experts für DOCDEXVerfahren, die über fundierte Kenntnisse und Erfahrungen mit Handelsfinanzierungsgeschäften verfügen. Gleichzeitig und unabhängig davon wird für ICC-Schiedsverfahren ein Schiedsrichterportal für geeignete Schiedsrichter bei ICC-Schiedsverfahren mit besonderer Sachkunde unterhalten. Bei beiden Verfahrensarten müssen die Experts bzw. Schiedsrichter vor deren Ernennung eine schriftliche Bestätigung über ihre Verfügbarkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bezüglich des konkreten Falls abgeben, sodass die Neutralität des Entscheidungsgremiums bei beiden Verfahrensarten gewahrt ist. Sowohl bei Schiedsverfahren als auch DOCDEX-Verfahren wird die Entscheidung von sachkundigen, erfahrenen Experten gefällt. DOCDEX-Verfahren werden anders als Schiedsverfahren vollständig auf schriftlicher Basis durchgeführt. Sie eignen sich ebenso wie Schiedsverfahren auch für Mehrparteien-Verfahren. Wie bei einem Schiedsverfahren gibt es keine öffentliche Verhandlung, sodass Einzelheiten der Streitigkeiten geheim und vertraulich bleiben.6 Das Merkblatt für die Parteien und das Schiedsgericht über die Durchführung des Schiedsverfahrens nach der ICC6 DOCDEX-Entscheidungen werden wie Schiedsurteile in anonymisierter Form in Entscheidungssammlungen veröffentlicht; zu DOCDEX-Entscheidungen siehe Collyer/ Katz (Hrsg.) Collected DOCDEX Decisions 1997–2003, ICC Publication No. 665; dies. Collected DOCDEX Decisions 2004–2008, ICC Publication No. 696; dies. Collected DOCDEX Decisions 2009–2012, ICC Publication No. 739; zu ICC-Schiedssprüchen siehe Arnaldez/Derains/Hascher Collection of ICC Arbitral Awards 1996–2000, ICC Publication No. 553; dies. Collection of ICC Arbitral Awards 2008–2011, ICC Publication No. 748E; dies. Collection of ICC Arbitral Awards 2012–2015, ICC Publication No. 987EF.

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Schiedsordnung,7 dessen Bestimmungen seit dem 1.1.2019 gelten, sieht jetzt allerdings die grundsätzliche Veröffentlichung von Schiedssprüchen vor, wenn kein Einspruch gegen die Veröffentlichung erhoben oder verlangt wird, dass ein Schiedsspruch ganz oder teilweise anonymisiert oder pseudonymisiert wird oder eine Vertraulichkeitsvereinbarung dem entgegensteht.8 Es steht somit aber dennoch auch bei Schiedsverfahren in der Macht der Parteien, dass das Verfahren als solches und der Schiedsspruch nicht der Öffentlichkeit zugänglich werden. Eine vergleichende Analyse der ICC-Schiedsordnung9 auf der einen Seite und den DOCDEX Rules auf der anderen Seite spricht in den Fällen, die sich für ein DOCDEX-Verfahren eignen, oftmals für die Durchführung eines solchen Verfahrens. Nach den vorgenannten grundsätzlichen Überlegungen wird nachfolgend das Spannungsfeld zwischen DOCDEXVerfahren und ICC-Schiedsverfahren näher beleuchtet, wobei hier letztgenannte Verfahren im Wesentlichen stellvertretend für institutionelle Schiedsverfahren angesehen werden können.

II. Einlassung auf ein DOCDEX-Verfahren vs Schiedsklausel Während im Hinblick auf eine Konfliktlösung dann, wenn ein Schiedsverfahren gewollt ist, insbesondere in internationalen Verträgen ausdrücklich Schiedsklauseln zwischen den betreffenden Parteien schon bei Vertragsschluss vereinbart werden, wird ein DOCDEX-Verfahren in der Praxis regelmäßig erst dann in Betracht gezogen, wenn bereits eine Streitigkeit eingetreten ist. Anders als für Schiedsverfahren, wofür die Schiedsorganisationen Musterklauseln entwickelt haben,10 fehlt es daher an entsprechenden Klauseln für DOCDEX-Verfahren. Es ist aber auch nicht notwendig, dass die Parteien eine DOCDEX-Klausel vereinbaren, um ein DOCDEX-Ver7 Abrufbar in deutscher Sprache unter: https://cms.iccwbo.org/content/uploads/sites/ 3/2017/03/icc-note-to-parties-and-arbitral-tribunals-on-the-conduct-of-arbitration-ger man.pdf. 8 Siehe Merkblatt, Rn. 40 ff.; Näheres hierzu bei Jolley/Cook Revised ICC Note To Parties And Tribunals: Will Publication Of Awards Become The New Normal?, 20.3.2019, http://www.mondaq.com/article.asp?articleid=790836&email_access=on. 9 Näheres hierzu bei Reiner/Pekutė/Kern ICC-Schiedsordnung, in: Schütze, Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2018, S. 21 ff.; Nedden/Herzberg ICC-SchO/DISSchO- Praxiskommentar zu den Schiedsgerichtsordnungen, 2014; Grierson/van Hooft Arbitrating under the 2012 ICC Rules – An Introductory User’s Guide, 2012; Fry/Greenberg/Mazza The Secretariats’s Guide to ICC Arbitration, 2012; Vorpeil Die neue ICCSchiedsgerichtsordnung in der Praxis, in: Graf von Bernstorff Praxishandbuch Internationale Geschäfte, a.a.O. 10 Die ICC-Schiedsklausel ist mit verschiedenen inhaltlichen Ausgestaltungen abrufbar unter: https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbitration/arbitration-clause/.

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fahren durchführen zu können. Dies ist vielmehr auf einseitige Initiative einer jeden der Parteien zu jedem Zeitpunkt möglich.11 Wenn sich der Antragsgegner eines Antrags auf Durchführung eines DOCDEX-Verfahrens12 nicht auf ein solches Verfahren einlässt, wird kein kontradiktorisches Verfahren durchgeführt; es ergeht dann aber auf der Grundlage des einseitigen Vortrags des Antragstellers eine DOCDEX-Entscheidung, die dieser in einem etwaigen späteren Rechtsstreit oder Schiedsverfahren als Privatgutachten einbringen kann.13 DOCDEX-Entscheidungen sind für staatliche Gerichte zwar nicht bindend, von ihnen geht jedoch eine starke faktische Wirkung aus und es kann davon ausgegangen werden, dass die Gerichte solchen Expertenmeinungen folgen werden. In diesem Sinne haben Gerichte auch schon klar zum Ausdruck gebracht, dass DOCDEX-Entscheidungen von „persuasive value” seien.14 Im Ergebnis kann somit festgestellt werden, dass DOCDEX-Entscheidungen auch ohne eine Vereinbarung über eine Durchführung eines solchen Verfahrens von Bedeutung sind. DOCDEX-Entscheidungen wird bei eventuell nachfolgenden Schiedsverfahren oder Rechtsstreitigkeiten eine beachtliche Bedeutung beigemessen. Man kann sie daher auch als „Vorschaltverfahren“ ansehen, um die eigene rechtliche Ausgangssituation in dem nachfolgenden Verfahren zu verbessern. DOCDEX-Entscheidungen sind anders als Schiedssprüche nicht auf der Grundlage des New Yorker Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1958 vollstreckbar, ein Nachteil, der nicht immer eine wesentliche Rolle spielt. Denn die Parteien können sich bilateral darauf verständigen, die Entscheidung für sich als bindend anzusehen. Bei der Beantragung eines DOCDEX-Verfahrens muss dafür in dem dafür vorgesehenen Antragsformular angegeben werden, ob der Antragsteller und der Antragsgegner ihre Zustimmung erteilt haben, dass die DOCDEX-Entscheidung vertraglich bindend für sie sein soll. Liegt diese Voraussetzung vor, kann anschließend leicht ein darauf aufbauendes Urteil erstritten werden, wenn die unterlegene Partei sich nicht an die DOCDEX-Entscheidung halten sollte. Wirtschaftlich gesehen ist eine DOCDEX-Entscheidung daher trotz der mangelnden Vollstreckbarkeit sehr wohl werthaltig.

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Siehe Fry/Greenberg/Mazza a.a.O., Rn. 4–42. Näheres hierzu bei Vorpeil Antrag auf DOCDEX-Entscheidung/Application for DOCDEX Decision, in: Schütze/Weipert/Rieder Münchener Vertragshandbuch, Band 4, Wirtschaftsrecht III, 8. Aufl. 2018, S. 992 ff. 13 Schütze/Vorpeil a.a.O., Rn. 495. 14 So z.B. Abani Trading Pte Ltd. v BNP Paribas, High Court, [2014] SGHC 111 (Singapur); Mizuho Corporate Bank Ltd. v Woori Bank, [2004] SGHC 219 (Singapur); vgl. Abani Trading Pte Ltd. v BNP Paribas, High Court, [2014] SGHC 111 (Singapur). 12

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III. DOCDEX Claim vs Request for Arbitration Der Antrag auf Durchführung eines DOCDEX-Verfahrens ist nach Art. 3 Abs. 1 DOCDEX Rules aus Gründen der Verfahrensökonomie streng an das hierfür vorgesehene, ausschließlich englischsprachige Formular der ICC gebunden. Die offizielle Bezeichnung hierfür ist Formblatt „Form 1 (Claim)“.15 Der Antrag ist bei dem ICC International Centre for ADR (Centre), einer Institution der ICC, zusammen mit den Dokumenten einzureichen, auf die der Antragsteller seinen Anspruch stützt. In dem Formular müssen grob gesagt die Daten zu den Parteien und die Angaben zu dem Streitgegenstand eingesetzt werden. Mit der Zahlung der pauschalierten Verfahrensgebühr ist die Einleitung eines DOCDEX-Verfahrens abgeschlossen. Bei der Einleitung eines ICC-Schiedsverfahrens mit einer Schiedsklage nach Art. 4 ICC-Schiedsordnung sind keine besonderen verfahrenstechnischen Formerfordernisse vorgesehen, aber auch nach dieser Vorschrift spielen die Gesichtspunkte einer angestrebten Kostenreduzierung und Zeitersparnis eine wichtige Rolle. Die Schiedsklage ist bei dem Sekretariat des ICC-Schiedsgerichtshofs einzureichen, und zwar in einem beliebigen der in der Geschäftsordnung des ICC-Schiedsgerichtshofs (Anhang II der ICCSchiedsgerichtsordnung) angegebenen Büros. Wie bei einem DOCDEXVerfahren müssen auch bei einem ICC-Schiedsverfahren grob gesagt die Daten zu den Parteien angegeben werden. Bei beiden Verfahrensarten wird auf die Verfahrensökonomie Wert gelegt. Der Gesichtspunkt der Zeiteffizienz spricht dennoch insbesondere wegen des den Experts eingeräumten Zeitlimits zur Fällung ihrer Entscheidung für ein DOCDEXVerfahren. In Bezug auf den mit der Schiedsklage geltend gemachten Anspruch müssen alle anspruchsbegründenden Tatsachen, und nicht nur die Umstände des Falls, sowie die Anspruchsgrundlage angegeben werden, auf die der geltend gemachte Anspruch gestützt wird. Die Anforderungen sind daher bei einem Schiedsverfahren für den Kläger höher als bei einem Antrag auf Erlass einer DOCDEX-Entscheidung. Ähnlich wie bei einem DOCDEX-Verfahren kann der Kläger mit der Klage weitere Dokumente und Informationen einreichen, soweit er es für geboten hält oder diese zu einer effizienten Streitbeilegung beitragen können. Mit der Zahlung der Gebühr nach der Gebührentabelle zu der ICC-Schiedsordnung ist die Einleitung eins ICCSchiedsverfahrens abgeschlossen. 15 Vgl. Schütze/Vorpeil a.a.O., Rn. 788; Vorpeil Antrag auf DOCDEX-Entscheidung/ Application for DOCDEX Decision, in: Schütze/Weipert/Rieder Münchener Vertragshandbuch, Band 4, Wirtschaftsrecht III, 8. Aufl. 2018, S. 992 ff.

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Auch bei ICC-Schiedsverfahren bestehen Möglichkeiten zur Optimierung des Verfahrensablaufs. Hierzu zählen beispielsweise die Aufteilung von Verfahren, der Erlass von Teilschiedssprüchen bezüglich der Kernpunkte der Streitigkeit, die Identifizierung von Themen, die einvernehmlich zwischen den Parteien geregelt werden können, die Identifizierung von Themen, die nach Aktenlage entschieden werden können, die Vorlage dokumentärer Beweisstücke, die Begrenzung der Länge und des Umfangs von schriftlichen Stellungnahmen, der Einsatz von Telefon- oder Videokonferenzen, soweit ein persönliches Erscheinen nicht von wesentlicher Bedeutung ist, die Durchführung einer Konferenz vor dem Schiedsgericht zeitlich vor der Verhandlung und die Durchführung von Konfliktlösungen im Wege eines ADR-Verfahrens. Das Schiedsgericht und die Parteien haben nach Art. 22 Abs. 1 ICCSchiedsordnung mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, dass das Schiedsverfahren unter Berücksichtigung der Komplexität und des Streitwerts zügig und kosteneffizient geführt wird. Es kann nach Art. 22 Abs. 2 ICCSchiedsordnung nach Anhörung der Parteien grundsätzlich alle Verfahrensmaßnahmen ergreifen. Das Schiedsgericht sollte sich dabei auf die Verfahrensmanagementtechniken gem. Anhang IV der ICC-Schiedsordnung und auf den Bericht der ICC-Kommission für Schiedsgerichtsbarkeit und gütliche Streitbeilegung („Controlling Time and Costs in Arbitration“) beschränken.16 Für die Feststellung offensichtlich unbegründeter Ansprüche oder Einwendungen, die Einhaltung der strengen Fristen nach der ICCSchiedsordnung und die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nach der ICC-Schiedsordnung hat die ICC in ihrem Merkblatt für die Parteien und das Schiedsgericht über die Durchführung des Schiedsverfahrens nach der ICC-Schiedsordnung besondere Leitlinien verfasst, die der Verfahrensökonomie dienen.17 Die in Anhang II der ICC-Schiedsordnung aufgeführte Geschäftsordnung des Internationalen Schiedsgerichtshofs sieht vor, dass der nach Art. 1 Abs. 4 der ICC-Schiedsordnung zu bildende Ausschuss, dem die Befugnis übertragen werden kann, bestimmte Entscheidungen zu treffen, bei einem beschleunigten Verfahren aus nur einem Mitglied zu bestehen braucht (Art. 4 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Internationalen Schiedsgerichtshofs). Auch dies dient der Verfahrensbeschleunigung. Sowohl DOCDEX-Verfahren als auch ICC-Schiedsverfahren sind aus den dargelegten Gründen somit auf eine straffe Verfahrensökonomie ausgerichtet. Wenn der streitige Sachverhalt in den Anwendungsbereich der DOCDEX Rules fällt und für die Durchführung eines DOCDEX16 Abrufbar unter: https://iccwbo.org/publication/icc-arbitration-commission-reporton-techniques-for-controlling-time-and-costs-in-arbitration/. 17 Siehe Merkblatt Rn. 74 ff., 92 und 93 ff.

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Verfahrens geeignet ist, kann ein DOCDEX-Verfahren dennoch einfacher eingeleitet und durchgeführt werden als ein Schiedsverfahren, bei dem eine schlüssige Klageschrift zu erstellen und nicht nur ein Antragsformular auszufüllen ist. Auch wenn die ICC-Schiedsordnung auf Verfahrensökonomie großen Wert legt, spricht der Faktor der Zeiteffizienz für ein DOCDEXVerfahren.

IV. Ablauf eines DOCDEX-Verfahrens vs Ablauf eines ICC-Schiedsgerichtsverfahrens Der Ablauf eines DOCDEX-Verfahrens gestaltet sich zusammengefasst wie folgt: Wenn der in einem DOCDEX-Verfahren geltend gemachte Anspruch nach Prüfung durch das Centre in den Anwendungsbereich der DOCDEX Rules fällt, wird das von dem Antragsteller ausgefüllte Formblatt Form 1 (Claim) der Gegenseite zugestellt. Diese kann mit dem Formblatt Form 2 (Answer) hierzu Stellung zu nehmen. Das Centre setzt eine kurze Frist für die Erwiderung, die im Regelfall nicht mehr als 30 Tage betragen soll. Für die Erwiderung gelten im Wesentlichen dieselben formellen Anforderungen wie für den Antrag auf Einleitung eines DOCDEX-Verfahrens. In Einzelfällen kann das Centre weitere Informationen anfordern, die mit dem Formblatt Form 3 (Supplement) einzureichen sind. Sollte der Antragsgegner von der Möglichkeit einer Erwiderung keinen Gebrauch machen, bekommt er keine Ausfertigung der unabhängig davon dennoch ergehenden DOCDEX-Entscheidung. Die in einem DOCDEXVerfahren bestellten Experts treffen ihre Entscheidung allein auf der Grundlage des Inhalts der eingereichten Formulare sowie der diese begleitenden Dokumente. Es findet weder eine mündliche Verhandlung noch eine Beweisaufnahme statt. Ein DOCDEX-Verfahren ist somit sehr übersichtlich strukturiert, ohne großen Aufwand durchführbar und aufgrund der zwingend vorgeschriebenen Formalitäten hinsichtlich der einzelnen Verfahrensschritte verfahrensökonomisch leicht und zügig abzuwickeln. Die Verfahrensökonomie spielt bei Schiedsverfahren institutioneller Schiedsorganisationen ebenfalls eine sehr bedeutende Rolle.18 So finden sich etwa in Anhang IV der ICC-Schiedsordnung Beispiele für Verfahrensmanagementtechniken, die von dem Schiedsgericht und den Parteien eingesetzt werden können, um die Faktoren Zeit und Kosten bei Schiedsgerichtsverfahren positiv zu beeinflussen.19 Auch wenn weiterhin das ICC-Schiedsgericht den Ablauf eines ICC-Schiedsverfahrens in Händen hat, erlangen die 18

Vgl. Grierson/van Hooft a.a.O., S. 12 ff. Siehe Überblick über den Ablauf eines ICC-Schiedsverfahrens bei Fry/Greenberg/Mazza a.a.O., Rn. 2–1 ff. 19

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Parteien einen maßgeblichen Einfluss darauf, dass bereits in einem frühen Verfahrensstadium eine Verfahrensmanagementkonferenz stattfinden soll, bei der das weitere Verfahren und rechtlich relevante Punkte behandelt werden. Gegenüber einem Rechtsstreit vor einem staatlichen Gericht zeichnen sich Schiedsverfahren durch eine deutlich bessere Verfahrensökonomie aus, etwa aufgrund des zu Beginn des Verfahrens hierfür aufgestellten exakten Zeitplans und der schriftlichen Vorbereitung von Zeugenaussagen. Nicht nur bei DOCDEX-Verfahren, sondern auch bei ICC-Schiedsverfahren wird auf die Einhaltung einer zeitlichen Begrenzung für das Verfahren besonderer Wert gelegt. Art. 30 ICC-Schiedsordnung sieht daher eine grundsätzliche Frist zum Erlass des Endschiedsspruchs des Schiedsgerichts vor. Dieser muss danach grundsätzlich binnen sechs Monaten ergehen, wobei nach Art. 23 Abs. 3 ICC-Schiedsordnung maßgebender Zeitpunkt für den Lauf dieser Frist der Tag der letzten Unterschrift des Schiedsgerichts oder der Parteien unter den Schiedsauftrag oder die Zustellung der Genehmigung des Schiedsauftrags an das Schiedsgericht ist. Dem ICC-Schiedsgerichtshof steht jedoch die Befugnis zu, die Frist auf begründeten Antrag des Schiedsgerichts oder aus eigener Initiative zu verlängern, falls es dies für notwendig erachtet. Art. 5 ICC-Schiedsordnung, der die Klageantwort und die Widerklage regelt, ist spiegelbildlich zu der Klage nach Art. 4 ICC-Schiedsordnung konzipiert; d.h., die in Art. 4 ICC-Schiedsordnung für die Schiedsklage aufgeführten Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens gelten grundsätzlich auch für die Klageantwort und die Widerklage. Es ist genau bestimmt, welche Angaben in einer Klageantwort enthalten sein müssen. Für eine Widerklage gelten grundsätzlich dieselben Voraussetzungen wie für eine Schiedsklage, soweit es anspruchsbegründende Tatsachen, die Anspruchsgrundlage, die Höhe des bezifferten Anspruchs, die Schätzung des Geldwerts sonstiger Ansprüche und die Angabe von einschlägigen Vereinbarungen anbelangt. Der Kläger hat sich innerhalb von 30 Tagen zu der Widerklage zu äußern. Die Frist für den Beklagten, sich zur Klage innerhalb von 30 Tagen zu äußern, gilt ebenso für den Kläger im Fall einer Widerklage. Außerdem sieht Art. 10 ICC-Schiedsordnung zum Zwecke der Verfahrensökonomie unter den dort geregelten Voraussetzungen die Möglichkeit der Verbindung von Schiedsverfahren vor. Die Möglichkeit einer Widerklage oder einer Verbindung von Verfahren besteht bei DOCDEX-Verfahren nicht. Dies ist vordergründig ein Nachteil, der aber durch die Möglichkeit eines weiteren DOCDEX-Verfahrens mit umgekehrten Vorzeichen kompensiert wird, wenn sich der Sachverhalt einer potenziellen Widerklage auch für ein DOCDEX-Verfahren eignet. Mit Art. 29 ICC-Schiedsordnung sowie der damit korrespondierenden Eilschiedsrichterverfahrensordnung als Anhang V zu der ICC-Schiedsordnung wurde erstmals die Figur eines Eilschiedsrichters in die ICC-

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Schiedsordnung eingeführt.20 Damit soll ebenfalls eine Beschleunigung des Verfahrens erreicht werden.21 Die Verfahrensbeschleunigung durch die Einsetzung eines Eilschiedsrichters darf jedoch nicht mit der strengen zeitlichen Vorgabe für die Durchführung eines DOCDEX-Verfahrens verglichen werden. Art. 29 ICC-Schiedsordnung dient lediglich der Durchführung von dringenden Sicherungsmaßnahmen oder vorläufigen Maßnahmen, die nicht bis zur Bildung des Schiedsgerichts warten können.22 Somit bleibt es bei dem Pluspunkt hinsichtlich der Zeiteffizienz zugunsten von DOCDEXVerfahren.

V. Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich Schiedsverfahren trotz aller verfahrensökonomischer Vorteile gegenüber Rechtsstreitigkeiten vor staatlichen Gerichten insgesamt naturgemäß aufwendiger als DOCDEXVerfahren gestalten. Aufgrund des strengen in den DOCDEX Rules geregelten Zeitrahmens sind sie hinsichtlich der Zeiteffizienz von keiner anderen Verfahrensart zu schlagen. Dies gilt aufgrund der pauschalierten geringen Verfahrensgebühren nach dem Anhang zu den DOCDEX Rules auch für die Kosteneffizienz solcher Verfahren. Allerdings eignen sich nur solche Streitigkeiten zur Durchführung eines DOCDEX-Verfahrens, bei denen der gesamte Sachvortrag mit Dokumenten belegt werden kann. Außerdem muss die Streitigkeit in den Anwendungsbereich der DOCDEX Rules fallen. Die Tatsache, das DOCDEX-Entscheidungen nicht vollstreckbar sind, wird bei einer Gesamtbetrachtung zu einem großen Teil dadurch aufgewogen, dass die Parteien die Verbindlichkeit der DOCDEX-Entscheidung für sich vereinbaren können. Sollte sich die unterlegene Partei nicht daran halten, könnte leicht ein vollstreckbarer Titel gegen sie erwirkt werden. Selbst wenn die Verbindlichkeit nicht zwischen den Parteien vereinbart wird, haben DOCDEX-Verfahren den Vorteil, dass die in einem solchen Verfahren ergehenden Entscheidungen als Parteigutachten in einem sich anschließenden Rechtsstreit oder Schiedsverfahren verwendet werden können, dem die internationale Rechtsprechung große Beachtung schenkt, auch wenn sie nicht daran gebunden ist. 20 Zur Effizienz von Eilschiedsrichterverfahren nach der ICC-Schiedsordnung siehe ICC-Bericht „Emergency Arbitrator Proceedings – ICC Arbitration and ADR Commission Report“, abrufbar unter: https://iccwbo.org/publication/emergency-arbitrator-pro ceedings-icc-arbitration-and-adr-commission-report/. 21 Einige andere internationale Schiedsordnungen, wie etwa die Stockholmer Regeln (SCC) sowie die Schiedsordnung des Singapore International Arbitration Centre (SIAC) enthielten bereits eine solche Figur, die sich in der Praxis bewährt hat. 22 Vgl. Nedden/Herzberg a.a.O., S. 472 f.

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Die Kompetenzabgrenzung von Schiedsgerichten und Schiedsgutachtern zur Beantwortung rechtlicher Vorfragen – eine Fallskizze GERHARD WEGEN*

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zuständigkeit des Schiedsgutachters für die Beantwortung rechtlicher Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schiedsgutachten im engeren und im weiteren Sinne . . . . 2. Kompetenz des Schiedsgutachters zur rechtlichen Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Die Parallelität von Schiedsgutachterklauseln und der Einleitung eines Schiedsverfahrens kann sowohl die Parteien als auch das Schiedsgericht zu komplexen Abgrenzungsfragen führen. Dies gilt vor allem, wenn die Beurteilung rechtlicher Vorfragen im Raum steht. Selten werden die Parteien bereits in der Schiedsgutachtervereinbarung genaue Vorgaben hinsichtlich ihrer Beantwortung aufnehmen. Es verbleibt bei der Notwendigkeit, die Grenzziehung der Kompetenzen im Einzelfall zu ermitteln. Nachfolgend soll dies anhand eines Beispielfalls aus dem Bereich der Unternehmenstransaktionen veranschaulicht werden. Ziel von Schiedsgutachterklauseln in Unternehmenskaufverträgen ist es, ausufernde Konflikte über die endgültige Bestimmung des Kaufpreises zu vermeiden.1 Der Jubilar und der Verfasser kennen sich seit vielen Jahren aus parallelen Lebensschritten: Uni Tübingen, Harvard Law School, New York Bar Exam, Lehrbeauftragter an der Export-Akademie Baden-Württemberg und der Eberhard-Karls-Universität Tübingen mit Ernennung zum Professor der * Für wesentliche Mitarbeit danke ich Frau Rechtsreferendarin Laurette Muchow, Gleiss Lutz Stuttgart. 1 Elsing ZVglRWiss 114 (2015), 568, 572.

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Universität Tübingen und der Regional Chairmanship der AmCham Germany. Leider haben wir bisher nie gemeinsam in einem Schiedsgericht gesessen, vielleicht ist dieser kleine Beitrag ja ein Ansporn: ad multos annos, lieber Roderich!

II. Ausgangslage Dem Fall liegt folgende Ausgangslage zugrunde: Die Parteien gerieten in Streit über die Berücksichtigung von Rückstellungskosten in den Closing Accounts im Rahmen der Kaufpreisbemessung für einen Unternehmensverkauf. Sie hatten vereinbart, dass streitige Bilanzierungsposten durch einen Schiedsgutachter zu entscheiden seien. Für die Erstellung des Gutachtens nach billigem Ermessen wurde ihm eine Frist von einem Monat gesetzt. Das Ergebnis des Gutachtens sollte unmittelbaren Eingang in die Bestimmungen der Closing Accounts finden und bindende Wirkung entfalten. Des Weiteren war eine Schiedsklausel enthalten, nach der alle Streitigkeiten durch ein Dreierschiedsgericht nach deutschem Recht zu entscheiden seien. Die Schiedsklägerin lehnte die Durchführung des Schiedsgutachterverfahrens ab und reichte parallel Klage beim Schiedsgericht ein. Sie beantragte festzustellen, dass die Rückstellungskosten bei der Kaufpreisbemessung nicht zu berücksichtigen sind. III. Zuständigkeit des Schiedsgutachters für die Beantwortung rechtlicher Vorfragen Die Schiedsklage könnte als derzeit unbegründet abzuweisen sein,2 wenn dem Schiedsgutachter die Beantwortung rechtlicher Vorfragen übertragen wurde. Grds. steht ihm die Feststellung von Tatsachen oder Elementen einer Entscheidung zu.3 1. Schiedsgutachten im engeren und im weiteren Sinne Die Weite der jeweiligen Befugnisse richtet sich zunächst danach, ob es sich um ein Schiedsgutachten im engeren oder im weiteren Sinne handelt. Die Vereinbarung eines Schiedsgutachtens im engeren Sinne ermächtigt den Schiedsgutachter lediglich zu einer verbindlichen Feststellung von Tatsachen oder Tatbestandsmerkmalen, welche für den Umfang oder die Art der 2 BGH NJW-RR 1988, 1405, ebenda; BGH NJW-RR 2011, 1059, 1060 Rn. 13; BGH NJW-RR 2014, 492, 493 Rn. 28. 3 Schwab/Walter Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 2 Rn. 2.

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Leistung bedeutsam sind. Auf sie finden die §§ 315 ff. BGB unmittelbare Anwendung. Das Schiedsgutachten im engeren Sinne richtet sich nicht auf eine verbindliche Entscheidung der Rechtsfrage im Ganzen. Dem Schiedsgutachter kommt kein Ermessensspielraum zu. Er entscheidet kognitiv und nicht voluntativ.4 Die Tätigkeit des Schiedsgutachters ist mit der Auslegung einer Norm vergleichbar. Schiedsgutachten im engeren Sinne dienen dazu, mittels einer gewissen Sachkunde den Vertragsinhalt festzustellen, welchen die Parteien bereits objektiv bestimmt haben. Sie sind privatrechtlich vereinbarte Sachverständigengutachten außerhalb eines (Schieds-)Gerichtsverfahrens. Dem Schiedsgutachter kommt insoweit nur ausnahmsweise die Befugnis zur Klärung rechtlicher Vorfragen zu.5 Sofern der Schiedsgutachter hingegen die Leistung oder deren Modalitäten bestimmen und in dieser Weise den Vertragsinhalt rechtsgestaltend ergänzen kann, liegt ein Schiedsgutachten im weiteren Sinne vor.6 Insoweit sind die §§ 315 ff. BGB analog anzuwenden.7 Bei der Kaufpreisbestimmung in Unternehmenskaufverträgen ist für die Abgrenzung von Schiedsgutachten im engeren und im weiteren Sinne entscheidend, ob das Schiedsgutachten unmittelbar vertragsergänzende Wirkung entfalten soll und nicht, wie weit der Ermessens- und Beurteilungsspielraum ist, welcher dem Schiedsgutachter eingeräumt wurde. Besteht diese unmittelbar vertragsergänzende Wirkung, so handelt es sich um ein Schiedsgutachten im weiteren Sinne. Der Schiedsgutachter trägt die Verantwortung für die Bestimmung des Kaufpreises ohne weitere Einwirkungen von Seiten der Parteien. Hat er lediglich tatsächliche Fragen der Unternehmensbewertung zu beantworten, welche die Parteien bereits zu der Grundlage der Preisbestimmung gemacht haben, ist von einem Schiedsgutachten im engeren Sinne auszugehen.8 Typischerweise ist bei Schiedsgutachterklauseln hinsichtlich der Kaufpreisbestimmung in Unternehmenskaufverträgen ein Schiedsgutachten im engeren Sinne anzunehmen.9 Würdinger in MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 319 Rn. 14. BGH NJW 2013, 1296, 1297 Rn. 13; Elsing ZVglRWiss 114 (2015), 568, 570 f. 6 BGH NJW 1991, 2761, ebenda; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 317 Rn. 3. 7 BGH NJW 1983, 2244, 2245; BGH NJW 1990, 1231, 1233; BGH NJW 2013, 1296, 1297 Rn. 13; BGH NJW-RR 2014, 492, 492 f. Rn. 27, 33 f.; Sachs in FS Schlosser, 805, 807; Elsing/Nolting-Hauff in Rotthege/Wassermann, Unternehmenskauf bei der GmbH, 2. Aufl. 2020, Rn. 228; Bruski BB Beilage 2005, 19, 29. 8 Habersack/Tröber DB 2009, 44, 45. 9 Sachs in FS Schlosser, 805, 807; Elsing ZVglRWiss 114 (2015), 568, 571; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 317 Rn. 6. Anderer Ansicht: Habersack/Tröber DB 2009, 44, 45. Sie sind der Auffassung, dass der Schiedsgutachter regelmäßig den Kaufpreis mittels der Klärung der umstrittenen Posten der Stichtagsbilanz anhand der typischen Vereinbarung des Vertrages festlegen soll. Seine Entscheidung wirke daher unmittelbar auf eine vertragliche Vereinbarung über eine Hauptpflicht ein und sei nicht lediglich eine tatsächliche Feststellung im Rahmen der Unternehmensbewertung. 4 5

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2. Kompetenz des Schiedsgutachters zur rechtlichen Vertragsauslegung Die Kompetenz des Schiedsgutachters ist – auch betreffend Schiedsgutachten im engeren Sinne – nicht auf die Feststellung einzelner Tatsachen beschränkt, vielmehr kann ihm die Befugnis zu deren rechtlicher Einordnung10 und damit verbunden die Beantwortung von Vorfragen übertragen werden. Zwar vermag dies zur Folge haben, dass die Stellung des Schiedsgutachters derjenigen des Schiedsrichters angenähert wird. Dies genügt allerdings nicht, um dem Schiedsgutachter die rechtliche Beurteilung einer Vorfrage zu versagen, von der die Tatsachenfeststellung abhängt und welche ohne Beantwortung der Vorfrage nicht getroffen werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn der Schiedsrichter ohne die rechtliche Beurteilung nicht in der Lage ist, sein Gutachten zu erstatten.11 a) Übertragung der Entscheidungsbefugnis durch Parteivereinbarung Aus dem Umstand, dass die Beantwortung rechtlicher Vorfragen regelmäßig dem Willen der Parteien entspricht,12 kann nicht abgeleitet werden, dass jeder Schiedsgutachterklausel eine stillschweigende Kompetenzübertragung zu entnehmen ist. Die Grundlage des Schiedsgutachtens ist eine Vereinbarung zwischen den Parteien.13 Mit der Schiedsgutachtervereinbarung soll dem Schiedsgutachter die Feststellung von Tatsachen übertragen werden. Die Kompetenz über die rechtlichen Vorfragen zu entscheiden, hat er – v.a. bei einem Schiedsgutachten im engeren Sinne – nur ausnahmsweise und unter der Voraussetzung, dass er sein Gutachten andernfalls nicht erstatten kann. Dementsprechend muss die Befugnis zur Entscheidung über rechtliche Vorfragen dem Schiedsgutachter in der Vereinbarung übertragen werden. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass ein Schiedsgutachten lediglich unter den engen Voraussetzungen des § 319 BGB gerichtlich überprüfbar ist.14 Die Schiedsgutachterklausel enthielt im Ausgangsfall nach ihrem Wortlaut keine ausdrückliche Ermächtigung zu der Entscheidung von Vorfragen durch den Schiedsgutachter. Auch aus dem Verweis auf die Bilanzierungsregeln ergibt sich keine implizite Kompetenzzuweisung, da es sich bei diesen nicht um Regelungen zur Vertragsauslegung, sondern zur bilanzrechtlichen Bestimmung des Kaufpreises handelt. 10 RGZ 152, 201, 204; BGH NJW 1955, 665, ebenda; BGH NJW 1967, 1804, 1805; Sieg VersR 1965, 629, 630. 11 BGH NJW 1967, 1804, 1804 f.; BGH NJW 1975, 1556, ebenda. 12 BGH NJW 1967, 1804, 1805 (für die Anpassung eines Grundstückpachtvertrages); Elsing ZVglRWiss 114 (2015), 568, 578 f. 13 Elsing ZVglRWiss 114 (2015), 568, 571. 14 Sessler in Böckstiegel/Berger/Bredow, Schiedsgutachten versus Schiedsgerichtsbarkeit, 2007, 97, 111.

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b) Feststellung im Einzelfall Haben die Parteien keine eindeutige Regelung getroffen, muss ihr Wille zu einer entsprechenden Kompetenzübertragung durch Auslegung im Einzelfall ermittelt werden.15 Eine Ermächtigung des Schiedsrichters könnte in Betracht zu ziehen sein, wenn die der Tatsachenfeststellung anhängenden Vorfragen typische Fachgebiete des Schiedsgutachters betreffen. Bei Bilanzierungsfragen ist an die Probleme rund um die Erstellung und Bewertung von Bilanzen sowie Jahresabschlüssen einschließlich der Auslegung der damit verbundenen rechtlichen Fragestellungen zu denken. Hier wäre der Schiedsgutachter (zumeist ein Wirtschaftsprüfer) qualifizierter zur Beantwortung der Frage und damit sachnäher als ein Anwalt. Ein Wille zur Befassung mit den hieraus resultierenden Vorfragen kann insbesondere angenommen werden, wenn die Parteien in der Schiedsgutachterklausel entsprechende Qualifikationen hinsichtlich der Person des Schiedsgutachters festgelegt haben, wodurch ihr Vertrauen auf die (umfassende) Entscheidung der Fragen durch eine entsprechend kompetente Person ersichtlich wird. Ferner könnte eine Entscheidung der Vorfragen durch das Schiedsgericht gerade dem mit der Schiedsgutachterklausel verfolgten Zweck einer schnellen und unkomplizierten Streitbeilegung zuwiderlaufen.16 Hingegen vermag der Grundsatz der Prozessökonomie in der nicht weiter zu vertiefenden Fallgestaltung, in welcher die Kaufpreishöhe für die Ermittlung des Schadensbetrages für einen Deckungsverkauf aufgrund eines gescheiterten Vollzuges festgestellt werden muss, für eine umfassende Beurteilung durch das Schiedsgericht zu streiten. Zugleich ist aus der Einigung auf einen juristischen Laien als Schiedsgutachter abzuleiten, dass die Parteien von diesem eben keine Vertragsauslegung vornehmen lassen wollen.17 Ein weiterer Anhaltspunkt, der gegen eine Ermächtigung des Schiedsgutachters spricht, ist die fehlende Regelung von Modalitäten für die Ermittlung der Lösung rechtlicher Fragestellungen. Zu diesen Modalitäten gehört vorrangig die Beweiserhebung. Die Durchführung einer Beweisaufnahme setzt regelmäßig eine materiellrechtliche und verfahrensrechtliche juristische Qualifikation des Schiedsgutachters in diesem Bereich voraus. Könnte er nach eigenem Ermessen auch ohne Beweis15 Sessler in Böckstiegel/Berger/Bredow, Schiedsgutachten versus Schiedsgerichtsbarkeit, 2007, 97, 111. 16 BGH NJW 1984, 43, 44. 17 So auch der BGH BeckRS 2016 04197 Rn. 11, der unter Berufung hierauf die Befugnis eines Schiedsgutachters zur Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen der Geltendmachung von Mängelansprüchen, sowie die Fristsetzung zur Nacherfüllung oder die Unbegründetheit der Verjährungseinrede, abgelehnt hat. Ebenso Sessler in Böckstiegel/Berger/Bredow, Schiedsgutachten versus Schiedsgerichtsbarkeit, 2007, 97, 111.

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aufnahme über die Vorfrage entscheiden, so ist dies ein klares Indiz gegen die Einräumung einer entsprechenden Befugnis. Die Parteien wollen durch die Schiedsgutachterklausel grds. nicht auf die Möglichkeit einer rechtlichen Entscheidung nach den ihnen bekannten Grundsätzen und damit inklusive einer Beweisaufnahme verzichten. Des Weiteren verwischen die Grenzen zwischen Schiedsgutachten und Schiedsverfahren vollständig, wenn der Schiedsgutachter die Befugnis hätte, über das Rechtsverhältnis in seiner Gesamtheit oder den Anspruch selbst zu entscheiden. In diesem Fall können die beiden Verfahren nicht mehr nach sachlichen Kriterien abgegrenzt werden.18 Sofern die Parteien keine subjektive Zwecksetzung vorgenommen haben, muss diese objektiv erfolgen. Ihr lässt sich entnehmen, dass die Parteien eine angemessene Lösung, d.h. eine solche die ihrem materiellrechtlichen Gerechtigkeitsempfinden am besten entspricht, treffen wollten. Dieses Gerechtigkeitsempfinden wird regelmäßig nur dann befriedigt, wenn die Streitigkeit durch das zur Entscheidung berufene Gericht in dem dafür vorgesehenen Verfahren gelöst wird. Diese angemessene Entscheidung hat Vorrang vor der Schnelligkeit, welche mit dem Schiedsgutachterverfahren erstrebt wird.19 Im Zweifel ist daher anzunehmen, dass der Schiedsgutachter nicht befugt ist, einen Unternehmenskaufvertrag mit bindender Wirkung auszulegen. Die Parteien haben im Ausgangsfall zwar in der Schiedsgutachterklausel einen Verweis auf die Bilanzierungsregeln aufgenommen, jedoch ist sie ihrem Wortlaut nach auf die Prüfung eben dieser Regelungen beschränkt. Die Lösung des Schiedsverfahrens erfordert eine umfassende Vertragsauslegung. Es handelt sich um eine vornehmlich rechtliche Tätigkeit, welche dem Schiedsgericht als dem sachnäheren Spruchkörper zugewiesen ist. Zumal die rechtlichen Vorfragen nicht isoliert nach den im Kaufvertrag niedergelegten Bilanzierungsregelungen beantwortet werden können. Der Zweck der Schiedsgutacherklausel lag auch hier in einer schnellen Entscheidung. Das Ergebnis des Schiedsgutachtens sollte unmittelbar in der Bilanz umgesetzt werden. Die Parteien hatten sich für die Erstattung des Schiedsgutachtens auf eine kurze Frist geeinigt. Gleichzeitig haben sie die Beantwortung komplexer Rechtsfragen hier nicht nur einer Einzelperson, sondern einem Dreierschiedsgericht übertragen. Insbesondere die Verfahrensgestaltung und der Beschleunigungsgrundsatz der Schiedsgutachterklausel sprechen gegen eine Ermächtigung zur Entscheidung von Rechtsfragen durch den Schiedsgutachter. Zumal im Schiedsverfahren eine Beweisaufnahme mit Zeugenanhörung erforderlich gewesen wäre. Der hierfür erforderliche Aufwand steht diametral zu der 18

Kurth NJW 1990, 2038, 2040. Im Ergebnis ebenso: Peter/Greineder in Kläsener, The Guide to M&A Arbitration, 2. Aufl. 2019, 27, 37 f. 19

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zeitlichen Begrenzung für die Erstattung des Schiedsgutachtens. Dementsprechend folgt aus der Auslegung der Schiedsgutachterklausel im Ausgangsfall keine Ermächtigung des Schiedsgutachters zur Beantwortung der streitgegenständlichen Rechtsfrage. Die Klage ist folglich weder als vorübergehend unzulässig noch als unbegründet abzuweisen, sondern voll zu verhandeln.

IV. Zusammenfassung Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass im Falle eines Schiedsgutachtens über die Kaufpreisbestimmung in Unternehmenskaufverträgen dem Schiedsgutachter nur ausnahmsweise die Kompetenz zur Beantwortung rechtlicher Vorfragen zukommt. Ist die entsprechende Befugnis nicht vertraglich vereinbart, muss ihre Einräumung anhand einer Auslegung im Einzelfall ermittelt werden. Allerdings sind an die Annahme einer Kompetenz des Schiedsgutachters strenge Anforderungen zu stellen. Um Streitigkeiten über die Befugnisse des Schiedsgutachters zu vermeiden, ist es den Parteien zu empfehlen, den Umfang der Beurteilung rechtlicher Vorfragen durch den Schiedsgutachter möglichst genau in der Schiedsgutachterklausel festzulegen.

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Ordre public in International Arbitration Ordre public in International Arbitration Marc-Philippe Weller and Cecilia De Micheli

Ordre public in International Arbitration MARC-PHILIPPE WELLER

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CECILIA DE MICHELI*

I. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. From neutrality to politics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ordre public as a legal instrument to implement societal policies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Conflict of Laws in international arbitration . . . . . . . . . . 1. Principles of designation concerning the law applicable to the merits of the dispute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Limits to the application of foreign law: Ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. The two sides of the ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ordre public - negative function (= public policy exception) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exception to the “recognition of foreignness as such” (Goldschmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. No definition of “public policy” in the Rome Regulations . 3. National public policy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. European public policy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. The public policy exception in international arbitration . . V. Ordre public – Positive Function (= Overriding mandatory provisions) . . . . . . . . . . . . . . 1. Positive function . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definition in Art. 9 Rome I Regulation . . . . . . . . . . . . . 3. German overriding mandatory provisions . . . . . . . . . . . 4. European overriding mandatory provisions . . . . . . . . . . 5. Overriding mandatory provisions in international arbitration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Conclusions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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The article reproduces a lecture held by Marc-Philippe Weller at the conference on international arbitration in Budapest in 2019. The authors thank Madeleine Petersen Weiner, Heidelberg University, for reviewing the article as an English native speaker, as well as Dr. Maximilian Pika, for his valuable input as legal advise in arbitration proceedings.

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I. Introduction 1. From neutrality to politics Today, Private Law and Conflict of Laws are increasingly political.1 While, the former neutral, universal and multilateral approach of Savigny’s classical conflict of laws-doctrine is steadily given up, an evolution from neutrality to politics can be observed.2 In the following, this policy-impact shall be discussed with regard to international arbitration and to the ordre public. Initially, the factors leading to the evolution from neutrality to politics need to be determined. a) Political Interests of States Firstly, it is to be stated that societal and political interests of States are increasingly enforced not only by the means of public regulation, but also by the means of private law.3 For instance, embargoes against countries violating values of public international law – like North Korea, Russia or Iran4 – are enforced today by the means of private law. To this extent, embargoes are classified as overriding mandatory provisions and, thus, void all forbidden contracts concluded with firms of embargo-states irrespective of the applicable lex contractus.5 b) Constitutionalization Secondly, private law is increasingly influenced by constitutional core values. Thereby, the Law of the European Union can be named as an example.6 The European Private International Law is particularly constitutionalized by the principle of non-discrimination, as well as the EU fundamental rights.7 Indeed, Art. 3 of the Treaty on European Union provides that free 1 Weller/Schulz, ‘Political Private International Law - How European are Overriding Mandatory Provisions and Public Policy Exceptions?’ in: v. Hein/Kieninger/Rühl (eds.), How European is European Private International Law? Sources, Court Practice, Academic Discourse, 2019, 285, 286. 2 Ibid. 3 Art. 3(5) Treaty on European Union (TEU): “In its relations with the wider world, the Union shall uphold and promote ist values and interests and contribute to the protection of its citizens“. 4 http://eeas.europa.eu/archives/docs/cfsp/sanctions/docs/measures_en.pdf> last accessed 16.12.2019. 5 Maultzsch in Gsell/Krüger/Lorenz et al. (eds), Beck’scher Großkommentar Zivilrecht, 46th ed., C.H.Beck. München 2018, Art. 9 Rom I-VO, paras. 244–45. 6 Meeusen, Instrumentalisation of Private International Law, 2007, p. 287. 7 Michaels, The New European Choice-of-Law Revolution (2008), p. 1607; see also Meeusen, Instrumentalisation of Private International Law (2007), p. 287: “The ensuing transformation could be labelled instrumentalization”.

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competition, gender equality, and the protection of the weaker party are principles which need to be promoted in Europe. As a consequence, these political values are implemented in private law relationships, as well.8 And indeed, in the Eco Swiss case the European Court of Justice highlighted that, for example, antitrust laws influence contracts between private parties in arbiration proceedings.9 2. Ordre public as a legal instrument to implement societal policies In the following, the evolution of Private Law from a neutral to a political subject shall be depicted with regard to the most political instrument of Private International Law: the ordre public. As the legal instrument to implement societal policies, the ordre public operates by a negative technique, known as the public policy exception, and a positive technique in the form of overriding mandatory provisions.10 These two sides and functions of the ordre public will be discussed after examining the particularities of designating the applicable law in international commercial arbitration.

II. Conflict of Laws in international arbitration By definition, international arbitration proceedings have connections with more than one State. Thus, the body of substantive rules applicable to the merits has to be designated. This poses a choice of law problem which has to be solved by conflict rules. 1. Principles of designation concerning the law applicable to the merits of the dispute While state courts apply the conflict rules of their national law, the lex fori, arbitral tribunals do not have a lex fori and, therefore, no predetermined body of conflict rules.11 Thus, the dispute arises as to which conflict rules are applicable in international arbitration. 8

Weller/Schulz, above n.1, 285, 286. ECJ, 1.6.1999, Case C-126/97, Eco Swiss China Time Ltd v. Benetton International NV, ECLI:EU:C:1999–269; Bermann, ‘International Arbitration and Private International Law – General Course on Private International Law’, Recueil des cours de l’Académie de droit international de La Haye, 2015 (281) 41, para. 482. 10 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 287, 291. 11 Pfeiffer, in: Salger/Trittman (eds.), Internationale Schiedsverfahren, Praxishandbuch, 2019, § 15 para. 10. 9

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a) Conflict rules of the law of the seat of the arbitration In the past, the prevailing opinion consisted of applying the conflict rules of the law of the arbitration situs.12 For instance, if the arbitration was seated in Geneva, the applicable law would have to be determined by the conflict rules codified in the Swiss Code of Private International Law. However, in the meanwhile this opinion was widely abandoned.13 As of today, only a few remaining scholars still advocate the seat-based approach in arbitration with regard to European conflict rules.14 Pursuant to this reasoning, the law of the European Union takes prevalence over national (arbitration) law. As a consequence, the conflict rules stated in the Rome I and Rome II-Regulation are deemed applicable to all arbitration proceedings seated within the European Union. However, this assumption is not convincing due to two factors: First, Article 1 Section 2 lit. (e) Rome I-Regulation explicitly states, that “arbitration agreements” are excluded from the scope of the Regulation. Second, and even under the assumption that the exclusion only refers to the arbitration agreement in itself and not to the substantive dispute between the parties, there is still no indication that the Rome I-Regulation is intended to mandatorily apply to the merits in arbitration proceedings.15 Therefore, the Regulation can only function as “persuasive authority”, while it cannot legally bind the arbitral tribunal.16 b) Multiple choice of law techniques In fact, arbitrators have broad discretion in adopting one of the different choice of law techniques: First, they are free to rely on the conflict rules of the law of the seat of the arbitration.17 Second, they can adopt the conflict rules considered most closely connected to the legal issue.18 Finally, the arbitration tribunal can apply the substantive law deemed to be most appropriate to solve the issue directly, i.e. without resorting to any specific conflict rule.19 The third technique is referred to as “voie directe”.20

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See Emmanuel Gaillard, Legal Theory of International Arbitration, 2010, para. 101. Ibid. 14 See Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 11. 15 Ibid. 16 Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 11; see also Bermann, in Rec. des cours (2015) 381, para. 352. 17 Bermann, above n. 9, para. 382. 18 Bermann, above n. 9, paras. 382, 388. 19 Bermann, above n. 9, paras. 382, 395. 20 Ibid. 13

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c) Choice of the parties However, in accordance with the fundamental principle of party autonomy which dominates international arbitration, in most arbitration laws and rules of arbitration institutions the applicable law is determined by the party agreement.21 In contrast to proceedings before state courts, in which only the law of a certain state is applicable, in arbitration proceedings the parties are free to choose even a non-state legal framework, e.g. the UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts or the lex mercatoria.22 For example, pursuant to Art. 28 Section 1 UNCITRAL Arbitration Model Law the arbitral tribunal shall decide the dispute in accordance with such rules of law as are chosen by the parties as applicable to the substance of the dispute. Pursuant to Section 2, the Tribunal shall apply the law determined by the conflict of laws rules which it considers applicable, as far as a designation by the parties is missing.23 Further, in accordance with the UNCITRAL Model Law, Article 32 of the new Hungarian Rules of Proceedings 2018 of the Arbitration Court attached to the Hungarian Chamber of Commerce and Industry (ACHCCI) provides that the dispute shall be decided in accordance with the rules of law agreed upon by the parties. 2. Limits to the application of foreign law: Ordre public Since choice of law rules typically lead to the substantive law with the closest connection to the case, as a consequence, foreign substantive law can be applicable.24 As already highlighted by Werner Goldschmidt, this outcome is consistent with the classical understanding of Private International Law: “The dignity of private international law is based on the recognition of foreignness as such.”25 However, the application of foreign law can generate solutions which are incompatible with the domestic perception of justice and fairness.26 A way to enforce domestic political interests is the ordre public. This instrument is necessary as a correction mechanism in a multilateral choice of law-system.27 21

Pica, Third-Party Effects of Arbitral Awards, 2019; Bermann, above n. 9, paras. 353,

358. Pfeiffer, above n. 11, § 15 paras. 35, 37. Gaillard, above n. 12, para. 104. 24 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 291. 25 Goldtschmidt, Die philosophischen Grundlagen des IPR, in: FS Wolff, 1952, 203, 213: “Die Würde des IPR beruht gerade auf der Anerkennung des Fremden als solchem.” 26 Wurmnest, Public Policy, in: Leible (ed.), General Principles of European Private International Law, 2016, 305. 27 Ibid. 22 23

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In fact, Savigny already denied the applicability of foreign provisions which contradict the forum state’s interests28 (today referred to as “public policy exception”).29 Further, Savigny emphasized the need for a different approach with regard to certain national provisions due to their mandatory nature30 (“Gesetze von streng positiver, zwingender Natur”), a concept today described as “overriding mandatory provisions”.31

III. The two sides of the ordre public Today, two sides of the ordre public need to be distinguished: the negative and the positive one. Whereas, in the French terminology, both sides are defined as “ordre public international”, in German, the negative side is referred to as “ordre public” and the positive side as “Eingriffsnormen”. In the English terminology, the negative side of the ordre public is referred to as public policy exception. The public policy exception allows the competent courts to refrain from applying rules of foreign substantive law in order to safeguard the basic principles of the domestic legal order.32 Thereby, it functions negatively as a “shield” after the applicable law has already been determined.33 Thus, it constitutes a “(…) defence against foreign laws.”34 28 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts. 8th Volume (1849), 54 et seq. (§ 349): „Rechtsinstitute eines fremden Staates, deren Dasein in dem unsrigen überhaupt nicht anerkannt ist, die also deswegen auf Rechtsschutz in unserm Staate keinen Anspruch haben.“ 29 Weller/Schulz, above n.1, 285, 290. 30 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts. 8th Volume (1849), 54 et seq. (§ 349): Dieser Grundsatz aber muss nunmehr beschränkt werden mit Rücksicht auf manche Arten von Gesetzen, deren besondere Natur einer so freien Behandlung der Rechtsgemeinschaft unter verschiedenen Staaten widerstrebt. Bei solchen Gesetzen wird der Richter das einheimische Recht ausschließender anzuwenden haben, als es jener Grundsatz gestattet, das fremde Recht dagegen unangewendet lassen müssen, auch wo jener Grundsatz die Anwendung rechtfertigen würde. Daraus entsteht eine Reihe von Ausnahme fällen wichtiger Art, deren Grenzen festzustellen vielleicht die schwierigste Aufgabe in dieser ganzen Lehre sein mag. (…) Ich will es versuchen, die angedeuteten Ausnahmen auf zwei Klassen zurückzuführen: „Gesetze von streng positiver, zwingender Natur, die eben wegen dieser Natur zu jener freien Behandlung, unabhängig von den Grenzen verschiedener Staaten, nicht geeignet sind“ (…). 31 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 290. 32 Franzina, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 21, para. 3. 33 Hay, Comments on Public Policy in Current American Conflicts Law, in: Babtge/ v. Hein/v. Hinden (eds.), Festschrift Kropholler, Mohr Siebeck, Tübingen 2008, p. 89; Weller/Schulz, above n. 1, 285, 291. 34 Wurmnest, above n. 25, 305, 313.

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In contrast, the positive side of the ordre public is represented by overriding mandatory provisions which operate positively like a “sword” and must be applied irrespective of the lex causae.35 IV. Ordre public - negative function (= public policy exception)36 1. Exception to the “recognition of foreignness as such” (Goldschmidt) The ordre public with its negative function is addressed in Art. 21 Rome I Regulation.37 Pursuant to Art. 21, the application of a foreign provision may only be refused if such application is manifestly incompatible with the public policy (ordre public) of the forum.38 Thus, these rules shall only establish a rare exception39 to the principle of closest connection and to the “recognition of foreignness as such” brought forward by Werner Goldschmidt.40 2. No definition of “public policy” in the Rome Regulations Further, since Art. 21 Rome I Regulation does not provide for a definition of public policy, the notion of ordre public is to be interpreted by the respective authorities.41 3. National public policy When defining the content of public policy, consideration is primarily given to the national law.42 Indeed, since public policy aims at preserving the national legal order, it is mainly to be understood as a national concept.43 And, in fact, the EU-Regulations refer expressly to the public policy “of the forum”. 35

Weller/Schulz, above n. 1, 285, 291. See for the following already Weller/Schulz, above n. 1, 285, 290 et seqq. 37 Regulation 593/2008. 38 Within the Regulation’s scope of application, Art. 21 replaces national conflict of law rules such as Art. 6 EGBGB which are functionally adequate; cf. Ferrari/Omlor, Rome I Regulation: Pocket Commentary, Art. 21, para. 1. 39 Accordning to recital No. 37, the courts of the member states should only apply exceptions based on public policy and overriding mandatory provisions in “exceptional circumstances”; cf. also Franzina, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 21, para. 13. 40 Goldtschmidt, Die philosophischen Grundlagen des IPR, in: FS Wolff, 1952, 203, 213: “Die Würde des IPR beruht gerade auf der Anerkennung des Fremden als solchem.”. 41 Franzina, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 21, para. 12. 42 Franzina, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 21, para. 17. 43 Franzina, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 21, para. 17; Ferrari/Omlor, Rome I Regulation: Pocket Commentary, Art. 21, para. 4. 36

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4. European public policy a) Enrichment of the national public policy by European values However, it is disputed whether in addition to this national understanding, an autonomous and exclusive European public policy can be affirmed.44 This question might be of particular relevance in the case of preliminary rulings of the European Court of Justice, since the Court would only be entitled to define the scope of a European public policy.45 In fact, some scholars acknowledge the existence of a European public policy.46 By contrast, others argue that the national concept of public policy is partially “enriched”47 by the European values.48 b) Barrier function of European values: limitation of the national public policy Nevertheless, it is widely admitted that European values and the basic freedoms of the internal market49 are not only increasingly influencing domestic public policies, but also setting barriers for the national public policy exceptions.50 Indeed, this was emphasized in the rulings of the European Court of Justice51 on the limits of public policy exceptions in cases of recognition and enforcement of foreign judgments under the Brussels I Regulation and, in particular, in the Krombach case.52 5. The public policy exception in international arbitration To this extent, one major problem appears in international arbitration since a domestic perspective of the arbitral tribunal – which is the starting 44 V. Hein, Münchener Kommentar BGB, Art. 6 EGBGB, paras. 154 et seq; see also Wurmnest, ‘Ordre public’, in Leible/Unberath (eds), ‘Braucehn wir eine Rom 0-VO?’, Sellier European Law Publishers 2013, pp. 461 et seq. 45 V. Hein, Münchener Kommentar BGB, Art. 6 EGBGB, paras. 153. 46 Basedow, FS Sonnenberger, 2004, 291 ff.; Corthaut, EU Ordre Public, 2012, 411 ff.; NK/Schulze, EGBGB, Art. 6, paras. 13 et seq.; differentiating Bamberger/Roth/Lorenz, Art. 6 EGBGB, para. 9 („bleibt abzuwarten“); Kropholler, IPR § 36 III 2c; Ferrari/Omlor, Rome I Regulation: Pocket Commentary, Art. 21, para. 6 („an autonomous and exclusive EU public policy has therefore not yet become reality). 47 „Anreicherung“, see Bar/Mankowski IPR I § 7 Rn. 271; Kropholler, IPR § 36 III 2d; Stürner, FS v. Hoffmann, 2011, 463 (464); Wurmnest, Ordre public, p. 461. 48 NK/Doehner, Rom-Verordnungen, Art. 21 Rome I, para. 3. 49 Ferrari/Omlor, Rome I Regulation: Pocket Commentary, Art. 21, para. 5; V. Hein, Münchener Kommentar BGB, Art. 6 EGBGB, paras. 154 et seq. 50 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 294. 51 ECJ, Trade Agency Ltd v. Seramico Investments Ltd Case, C‑619/10 (2012); Krombach v. André Bamberski Case C‑7/98 (2000); Renault v. Maxicar SpA, Orazio Formento, Case C‑38/98 (2000); Apostolides v. Orams, Case C‑420/07 (2009). 52 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 295.

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point for invoking the ordre public – is not easy to determine.53 Whereas, State courts can rely on the core values of the lex fori, i.e. the legal order of the state where the court proceedings take place, arbitral tribunals are detached from a specific legal order and, therefore, have no lex fori.54 a) Ordre public of the arbitral situs Thus, some scholars advocate that the arbitral tribunal is bound by the ordre public of the arbitral situs, i.e. the legal order of the state where the arbitration takes place.55 This approach is supported by the fact that, “[…] the courts of the arbitral situs have authority to annul an award, and violation of forum public policy is universally admitted as a ground that justifies doing so”.56 And indeed, as stated in the Eco Swiss57 decision of the European Court of Justice, arbitrators have an obligation to apply mandatory EU law, e.g. competition law, if an arbitration proceeding takes place within the European Union.58 However, two exceptions are made from applying the ordre public of the arbitral situs: First, the arbitral tribunal is not obliged to respect the ordre public of the place of arbitration when its notions of public policy “[…] are so idiosyncratic or so hostile to international arbitration as a dispute settlement mechanism that they do not command respect”.59 In that case, the arbitrators are not obliged to rely on the ordre public of the seat of arbitration even though this might lead to an annulment of the award by a court at the arbitral seat, since – under such circumstances – even the annulment might not constitute an obstacle for the recognition and enforcement of the award by the courts of a divergent jurisdiction.60 Second, the public policy of the arbitral situs is deemed inapplicable, if the arbitral seat has an insufficient connection to the issue or to the transaction in question since under such circumstances the prerequisites for the application of the ordre public – the genuine link to the respective State – are not met.61

53

See Gaillard, above n. 12, para. 107; Bermann, above n. 9, paras. 473 et seq. Bermann, above n. 9, para. 473. 55 Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 26; Bermann, above n. 9, para. 476. 56 Bermann, above n. 9, para. 476. 57 ECJ, 1.6.1999, Case C-126/97, Eco Swiss China Time Ltd v. Benetton International NV, ECLI:EU:C:1999–269. 58 Bermann, above n. 9, para. 483. 59 Bermann, above n. 9, para. 477. 60 Ibid. 61 Bermann, above n. 9, para. 477. 54

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c) Ordre public of the state of enforcement of the award Some scholars advocate that the arbitral tribunal shall respect the ordre public of the state where the award will probably be enforced.62 In fact, pursuant to Art. V Section (2) (b) of the New York Convention the recognition and enforcement of the award may be refused if the competent authority finds that the recognition or enforcement would be contrary to the public policy of that country.63 However, to us it seems to be rather a question of practicability, usefulness and sense of purpose than a question of a binding obligation to apply the ordre public of the foreseeable state of enforcement, in particular, as arbitrators will typically have an incentive to issue an enforceable award. d) Transnational ordre public Finally, some scholars advocate an obligation of the arbitral tribunal to respect a “truly international public policy”, also referred to as the transnational ordre public.64 Although the arbitral tribunal does not belong to any national legal system and has no body of public policy of its own, it is, nevertheless, part of a system of international dispute resolution which can develop and embrace public policy limitations on the autonomy of parties that have recourse to it.65 Thereby, the transnational ordre public is defined as a set of universally recognized legal core values which “[…] consists of norms that are considered so basic to a just and decent society that they cannot be derogated from either by the parties or the arbitral tribunal […]”.66 However, the transnational public policy only encompasses a very limited category of provisions, i.e. prohibitions on nowadays internationally condemned practices like “[…] slavery, piracy, bribery, and gross human rights violations”.67 For example, in ICC case No. 5622/623 the arbitral tribunal resorted to the transnational ordre public to declare the contract in question null and void.68 In the case in question, the defendant – replying to an invitation for bids – submitted an offer to the Algerian authorities. However, in order to get the contract with the authorities, the defendant had to enter an advisory Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 26. Bermann, above n. 9, para. 476. 64 Gaillard, above n. 12, para. 115; see also Pfeiffer, above n. 11, § 15 paras. 27 et seq; Bermann, above n. 9, para. 478. 65 Bermann, above n. 9, para. 478. 66 Bermann, above n. 9, para. 479. 67 Ibid. 68 Bermann, above n. 9, para. 480. 62 63

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agreement with the claimant which put the defendant under the obligation to pay fees. In the following, Claimant initiated ICC arbitration proceedings requesting the agreed advisory fees. Although bribery could not be proven, the ICC tribunal, nevertheless, found that “undue influence peddling”,69 had taken place. Since the applicable law did not contain a provision on influence peddling, the ICC tribunal invoked the transnational ordre public as the need to prohibit traffic in influence from commercial life in order to promote high ethics in commercial transactions as part of such.70

V. Ordre public – Positive Function (= Overriding mandatory provisions)71 1. Positive function Overriding mandatory provisions and public policy exceptions have one essential functional aspect in common, as both aim at preserving political core values and interests of the national legal order.72 However, overriding mandatory provisions operate by a different technique as they positively break through the otherwise applicable law, thereby, leading to an accumulation of foreign and domestic law.73 2. Definition in Art. 9 Rome I Regulation While the Rome Regulations do not provide for a definition of public policy, overriding mandatory provisions are, by contrast, defined in Art. 9 Rome I Regulation. In order to qualify as an overriding mandatory provision, the national provision must meet the requirements provided under Art. 9 (1) Rome I Regulation. First, the national provision must be “regarded crucial by a country for safeguarding its public interests” (“criterion of interest”74) as was emphasized 69

Influence peddling, also known as traffic of influence or trading in influence, is the illegal practice of using one's influence in government or his connections to authorities to obtain a preferential treatment for another, usually in return for payment. 70 ICC Case No. 5622/623, p. 118, para. 45; Bermann, above n. 9, para. 480. 71 See for the following already Weller/Schulz, above n. 1, 285, 296 et seq. 72 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 296. 73 Overriding mandatory provisions aim to ensure a balance between a multilateral choice of law-approach leading to an application of foreign law, on the one hand, and the safeguard of political interests of the forum state, on the other hand, Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para.42. 74 Fuchs in P. Huber, Rome II Regulation: Pocket Commentary, Sellier European Publishers, München 2011, Art. 16, para. 7.

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by the European Court of Justice in its Arblade decision.75 Second, the national provision must be applicable “irrespective of the law otherwise applicable to the contract” (“overriding-criterion”76).77 The two criteria were combined in the definition now stated under Art. 9 Rome I Regulation.78 3. German overriding mandatory provisions Overriding mandatory provisions will usually be part of the national legal system of a specific country.79 a) German Foreign Trade Act Indeed, overriding mandatory provisions can be found in the German Foreign Trade Act (Außenwirtschaftsgesetz) as import and export restrictions which enable the Federal Ministry of Economics (Bundesministerium für Wirtschaft) to review and prohibit investments made by foreigners in German companies across all sectors.80 For instance, if a foreign investor acquires a German company or a direct or indirect participation of at least 25 percent of the voting rights, the acquisition can be prohibited by the Ministry, if it poses a threat to the public order or security.81 However, these national investment restrictions are limited by the European market freedoms and, in particular, by the free movement of capital granted in Art. 63 of the Treaty on the Functioning of the European Union.82 Therefore, German import and export restrictions only apply to third state investments, i.e. investments made by an EU- or EFTA-foreign investor, and not to investments by EU citizens.83

75 ECJ, Arblade and Leloup, Case C-369/96 and C-376/96 (1999); see also Huber, Rome II Regulation, Art. 16, Para. 7; Renner, Ordre public und Eingriffsnormen, p. 363; Dickinson, The Rome II Regulation, para. 15.17; Weller/Schulz, above n. 1, 285, 296. 76 Huber/Fuchs, Rome II Regulation, Art. 16, para. 7. 77 Huber, Rome II Regulation, Art. 16, para. 7; see also Dickinson, The Rome II Regulation, para. 15.14; Weller/Schulz, above n. 1, 285, 296. 78 Huber, Rome II Regulation, Art. 16, para. 7: “Matching both criteria is the new element brought about by the definition in Art. 9 Rome I Regulation”. 79 Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para. 45. 80 Weller/Kaller, Wake Forest Law Review 2017, 1027, 1028 ff.; Martiny, Münchener Kommentar BGB, Art. 9 Rome I Regulation, para. 58 et seq. 81 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 297. 82 Weller/Schulz, above n. 1, 285, 298. 83 Ibid.

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c) Co-determination Act84 Further, the German Co-determination Act (Mitbestimmungsgesetz) can be classified as an overriding mandatory provision. The Co-determination Act provides that employees are given seats in the supervisory board of a company or – in companies with a one-tier management system – in the board of directors. Hence, the question arises whether the Codetermination Act is also applicable to foreign companies operating mainly in Germany, like the former air carrier Air Berlin or the drugstore chain Müller, which are both limited companies incorporated in England. This would only be the case if the Co-determination Act qualified as overriding mandatory provision. Pursuant to the majoritarian view, the Codetermination Act qualifies as company law and, therefore, only applies to companies of which the legal statute is governed by German company law.85 However, if the Act was classified as internationally mandatory it would not only apply to German companies, but also to foreign companies operating mainly in Germany, like the drugstore chain Müller.86 b) Gender quotas in stock corporations Finally, the gender quota in supervisory boards of large stock corporations as provided in Section 96 of the German Stock Corporation Act (Aktiengesetz) qualifies as an overriding mandatory provision. Hence, the gender quota rules are not only legally binding to German companies, but are also applicable to foreign companies whose place of central administration is located in Germany.87

84 See for the following already Weller, ‘Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften’ in Erle/Goette/Kleindiek et al. (eds.) Festschrift Hommelhoff, Dr. Otto Schmidt, Köln 2012, pp. 1275 et seq.; Weller/Schulz, above n. 1, 285, 298. 85 L. Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung von Gesellschaften aus ‘nicht-privilegierten Drittsaaten’, Nomos, Baden-Baden 2010, p. 235; F. Eberspächer, ‘Unternehmerische Mitbestimmung in zugezogenen Auslandsgesellschaften: Regelungsmöglichkeiten des deutschen Gesetzgebers?’ (2008) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1951. 86 Weller, ‘Unternehmensmitbestimmung für Auslandsgesellschaften’ in Erle/Goette/ Kleindiek et al. (eds.) Festschrift Hommelhoff, Dr. Otto Schmidt, Köln 2012, pp. 1275 et seq. 87 E.g. Air Berlin PLC; cf. Weller/Harms/Rentsch/Thomale, Der internationale Anwendungsbereich der Geschlechterquote für Großunternehmen, ZGR 2015, 361 ff.; Weller, Zukunftsperspektiven der Rechtsvergleichung p. 191, 200; Weller/Schulz, above n. 1, 285, 298.

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4. European overriding mandatory provisions88 In addition to the overriding mandatory provisions to be found in the legal system of a specific country, the law of the European Union provides for overriding mandatory provisions.89 Firstly, overriding mandatory provisions are stated in the EU Regulations. For example, the Embargo-Regulation against the Russian Federation90 is classified as internationally mandatory.91 Secondly, national provisions based on EU directives qualify as overriding mandatory provisions, as has been widely accepted since the decisions of the Court of Justice in the “Ingmar”92 and “Unamar”93 cases.94 In the Ingmar decision, the Court decided that – due to their mandatory nature – Art. 17 and 18 of the Commercial Agents Directive and the national implementation of these rules were applicable to a commercial agent even if the principal was established in a non-member state and the contract was governed by the law of that country.95 In the Unamar case, the Court held that the qualification of national rules implementing EU directives as overriding mandatory provisions was within the discretion of the national courts.96 88

Weller/Schulz, above n. 1, 285, 299. ECJ, Ingmar GB Ltd v. Eaton Leonard Technologies Inc., Case C-381/98 (2000); ECJ, United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV v. Navigation Maritime Bulgare, Case C‑184/12 (2013). 90 E.g. Council Regulation (EU) No 692/2014 of 23 June 2014 concerning restrictions on the import into the Union of goods origination in Crimea or Sevastopol, in response to the illegal annexation of Crimea and Sevastopol; Council Regulation (EU) No. 833/2014 of 31 July 2014 concerning restrictive measures in view of Russia’s actions destablishing the situation in Ukraine. 91 Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para. 52: “Trade embargos and or other personal economic sanctions adopted by the United Nations are a good example for that”. 92 ECJ, Ingmar GB Ltd v. Eaton Leonard Technologies Inc., Case C-381/98 (2000). 93 United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV v. Navigation Maritime Bulgare, Case C‑184/12 (2013). 94 Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para. 47. 95 ECJ, Ingmar GB Ltd v. Eaton Leonard Technologies Inc., Case C-381/98 (2000): “Articles 17 and 18 of Council Directive 86/65 3/EEC of 18 December 1986 on the coordination of the laws of the Member States relating to self-employed commercial agents, which guarantee certain rights to commercial agents after termination of agency contracts, must be applied where the commercial agent carried on his activity in a Member State although the principal is established in a non-member country and a clause of the contract stipulates that the contract is to be governed by the law of that country”; see also Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para. 48. 96 United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV v. Navigation Maritime Bulgare, Case C‑184/12 (2013): “Articles 3 and 7(2) of the Convention (…) must be interpreted as 89

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5. Overriding mandatory provisions in international arbitration In international arbitration it is nowadays acknowledged that, in principle, arbitrators must apply overriding mandatory provisions – in particular, rules of competition law, anti-corruption law and embargoes – while deciding on the merits.97 However, it is yet to be determined which states’ overriding mandatory provisions must be applied by the arbitral tribunal. a) Overriding mandatory provisions of the lex arbitri First, the overriding mandatory provisions of the lex arbitri – i.e. the provisions deriving from the legal order of the arbitral situs – could be deemed applicable.98 However, while the lex arbitri is chosen by the parties mainly with regard to procedural issues, overriding mandatory provisions typically affect the substance of the dispute.99 Thus, it seems reasonable to assume that the parties did not intend to choose the law of the arbitral seat to the content of its substantive law, but only with regard to the procedural rules of arbitration.100 b) Overriding mandatory provisions of the lex causae Second, one could refer to the mandatory provisions being part of the lex causae, i.e. the substantive law applicable to the merits.101 c) Overriding mandatory provisions linked to the facts of the dispute Finally, a flexible approach is advocated. Thereby, the arbitral tribunal is deemed entitled to apply all mandatory provisions linked to the dispute irrespective of the legal system they belong to; thus, mandatory provisions of a third country can be applicable as far as they have a particular “entitlemeaning that the law of a Member State of the European Union which meets the minimum protection requirements laid down by Council Directive 86/653/EEC of 18 December 1986 on the coordination of the laws of the Member States relating to self-employed commercial agents and which has been chosen by the parties to a commercial agency contract may be rejected by the court of another Member State (…) owing to the mandatory nature (…) of the rules governing the situation of self-employed commercial agents, only if the court before which the case has been brought finds, on the basis of a detailed assessment, that, in the course of that transposition, the legislature of the State of the forum held it to be crucial, in the legal order concerned, to grant the commercial agent protection going beyond that provided for by that directive, taking account in that regard of the nature and of the objective of such mandatory provisions”; see also Bonomi, European Commentaries on Private International Law, Rome I Regulation, Article 9, para. 49. 97 See Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 66; Bermann, above n. 9, paras. 448, 483. 98 Bermann, above n. 9, paras. 451et seqq. 99 Bermann, above n. 9, para. 453. 100 Ibid. 101 See Pfeiffer, above n. 11, § 15 para. 63.

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ment” to apply to the dispute.102 In order to determine the criterion of entitlement, the nature of the dispute and its connection to the state in question, and whether the provisions would have been realistically taken into consideration in the case of no arbitration agreement, are of particular relevance.103 Indeed, in our view an arbitral tribunal should only be obliged to apply an overriding mandatory provision, when there is a strong link between the purpose of the provisions and the facts of the dispute.

VI. Conclusions Pursuant to what was stated above, the following conclusions can be drawn: (1) The ordre public is a tool to exceptionally block the applicable foreign law. It is necessary to preserve certain core values, like constitutional values or human rights. The ordre public operates by two techniques: i. A negative one as public policy exception and ii. A positive one as overriding mandatory law. (2) Whereas state courts assess the ordre public from the perspective of their own law, the lex fori, arbitral tribunals have to determine whether to apply the ordre public of the arbitral situs, the lex causae, the state of enforcement or a truly transnational concept. (3) Thereby, a mixed approach should be advocated: a) Firstly, internationally accepted core values of a transnational ordre public shall be respected. b) Secondly, the arbitrators should take into consideration, where the contract between the parties is executed and where the award will prospectively be enforced. The core values of those states (state of execution and state of enforcement) should be taken into consideration by the arbitral tribunal.

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This approach was advocated by Luca Radicati di Brozolo who held the General Course in International Private Law at The Hague Academy of International Law in 2018 with the title ‘The legal framework of International Commercial Relations’. 103 Ibid.

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Die Begründung des Schiedsspruchs Rüdiger Wilhelmi

Die Begründung des Schiedsspruchs RÜDIGER WILHELMI

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Maßstab für die Begründung von Schiedssprüchen . . . . 1. Pflicht zur Begründung des Schiedsspruchs aus § 1054 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . 3. Informationsinteresse der Parteien und ordre public als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen . . . 1. Formale Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unerheblichkeit einfacher Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsfolgen der mangelhaften Begründung von Schiedssprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Der hier zu ehrende Jubilar zählt zweifellos zu den Koryphäen des Schiedsgerichtswesens. Aber im Rahmen eines Schiedsverfahrens müssen auch Koryphäen nicht nur souverän die Verhandlung leiten und ebenso souverän die Entscheidung fällen, sondern anschließend auch den Schiedsspruch und – jedenfalls in der Regel – dessen Begründung verfassen, was zwar Anlass zu intellektuellen Höhenflügen und entsprechendem Vergnügen geben kann, häufig genug jedoch eher mit den Mühen der Ebene verbunden ist. Dabei steht die Begründung zwar am Ende des Schiedsverfahrens, ist aber nicht nur insofern wichtig, als Begründungsmängel einen Grund zur Aufhebung oder zur Ablehnung der Vollstreckbarerklärung geben können, sondern auch insofern, als die Begründung auf dem geführten Verfahren beruht und die Entscheidung tragen muss, also erhebliche Vorwirkungen entfaltet. Grund genug, sich hier den Anforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen zu widmen, um die es lange verhältnismäßig ruhig war, mit denen sich aber jüngst der BGH in mehreren Entscheidungen befasst hat. Dazu wird im Anschluss an diese Einleitung zunächst der Maß-

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stab bestimmt, an dem die Begründung von Schiedssprüchen zu messen ist. Darauf aufbauend werden sodann die konkreten Anforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen behandelt. Schließlich wird kurz auf die Rechtsfolgen einer mangelhaften Begründung eingegangen, bevor ein Fazit gezogen wird.

II. Der Maßstab für die Begründung von Schiedssprüchen Ausgangspunkt für die Bestimmung des Maßstabs für die Begründung von Schiedssprüchen ist zunächst die Pflicht des § 1054 Abs. 2 ZPO, den Schiedsspruch zu begründen. Weitere Anforderungen an die Begründung ergeben sich aus dem Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinne des ordre public über § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO, der insbesondere auch die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst. 1. Pflicht zur Begründung des Schiedsspruchs aus § 1054 Abs. 2 ZPO Der Schiedsspruch ist gem. § 1054 Abs. 2 ZPO zu begründen, es sei denn, die Parteien haben einen Verzicht auf eine Begründung vereinbart oder der Schiedsspruch ist ein solcher mit vereinbartem Wortlaut im Sinne des § 1053 ZPO. Der BGH hat dazu in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, dass an die Begründung von Schiedssprüchen nicht dieselben Maßstäbe wie für Urteile staatlicher Gerichte anzulegen seien, da die Begründungspflicht des § 1054 Abs. 2 ZPO allein im Interesse der Parteien existiere und nicht der gerichtlichen Kontrolle des Schiedsspruchs hinsichtlich eine Verstoßes gegen den ordre public oder die guten Sitten diene, wie die Möglichkeit des Verzichts zeige.1 Dem folgen die Instanzgerichte und die Literatur auch unter dem neuen Recht.2 Allerdings hat der BGH in der Folgezeit entschieden, dass die Begründung des Schiedsspruchs die tragenden Erwägungen des Schiedsgerichts erkennen lassen muss.3 Dies entspricht jedoch im Wesentlichen den An1

So zum alten Recht BGHZ 30, 89, 92 = NJW 1959, 1438, 1439; vgl. im Ausgangspunkt auch BGH WM 1983, 1207, 1208; BGHZ 96, 40, 47 = NJW 1986, 1436; BGH NJW 1990, 2199, 2200. 2 So etwa OLG Frankfurt IHR 2003, 93, 96; OLG München SchiedsVZ 2011, 159, 167; Voit in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 1054 Rn. 4; Schlosser in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 1054 Rn. 17; Schütze in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2020, § 1054 Rn. 25, § 1059 Rn. 63; Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 1054 Rn. 8; vgl. im Ausgangspunkt auch OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 307; OLG München SchiedsVZ 2017, 40 Rn. 68; Wilske/Markert in BeckOK ZPO, 34. Ed. 1.9.2019, § 1054 Rn. 11; Münch in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2017, § 1054 Rn. 28. 3 BGH WM 1983, 1207, 1208; BGHZ 96, 40, 47 = NJW 1986, 1436; BGH NJW 1990, 2199, 2200; OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 307; OLG München SchiedsVZ 2017, 40

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forderungen an Entscheidungen staatlicher Gerichte, jedenfalls solchen letzter Instanz. Denn für diese hat zunächst das BVerfG unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs entschieden, dass zwar keine generelle Pflicht zur Begründung besteht, aber trotzdem Mindestanforderungen an die Begründung zu stellen sind.4 Zudem sehen etwa die § 544 Abs. 2 S. 2 und § 564 ZPO für Revisionsentscheidungen und § 313a ZPO für unzweifelhaft nicht rechtsmittelfähige Urteile vor, dass Erleichterungen bei der Begründung gelten. Die für Urteile staatlicher Gerichte geltenden Maßstäbe sind demgemäß nur insoweit nicht an die Begründung von Schiedssprüchen anzulegen, als sie sich auf den Normzweck beziehen, die vollständige Überprüfung der Urteile auf ihre inhaltliche Richtigkeit in der Berufungs- bzw. Revisionsinstanz zu ermöglichen.5 Denn ausweislich der Aufhebungsgründe des § 1059 Abs. 2 ZPO ist eine vollständige Inhaltskontrolle des Schiedsspruchs durch die Gerichte im Sinne einer révision au fond nicht vorgesehen.6 Abgesehen von dem Ausnahmefall der Vereinbarung eines schiedsgerichtlichen Instanzenzugs,7 bedarf es daher nicht der für eine vollständige Überprüfung der Urteile auf ihre inhaltliche Richtigkeit notwendigen Informationen. Demgegenüber dient auch die Begründung der Urteile staatlicher Gerichte dazu, die Parteien über die tragenden Gründe zu unterrichten und ihnen zu ermöglichen, die maßgebenden Erwägungen zu verstehen und nachzuvollziehen.8 Sie dient insoweit dem gleichen Zweck wie die Begründungspflicht des § 1054 Abs. 2 ZPO, so dass insoweit auch vergleichbare Maßstäbe anzulegen sind. 2. Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs Zudem hat der BGH in der Folgezeit entschieden, dass die Begründung von Schiedssprüchen eine Stellungnahme zum wesentlichen Parteivorbringen umfassen muss,9 die wiederum zum Kern des Schutzes des rechtlichen Gehörs zählt, der vom ordre public umfasst ist. Die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs ist verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG geregelt, Rn. 68; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 30; vgl. auch BeckOK ZPO/Wilske/ Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 11; Kröll NJW 2015, 833, 836; ähnlich – kurze Zusammenfassung der tragenden Erwägungen – BGH NJW-RR 2016, 892 Rn 24. 4 Vgl. BVerfG ZIP 2004, 1762, 1763 m.w.N. 5 Vgl. zu § 313 ZPO Musielak in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 313 Rn. 14; zu § 547 ZPO Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 547 Rn. 2. 6 Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1059 Rn. 5, 7; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1059 Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Schütze (Fn. 2), § 1059 Rn. 3. 7 Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 30. 8 Vgl. zu § 313 ZPO Müko ZPO/Musielak (Fn. 5) § 313 Rn. 14. 9 Vgl. BGH WM 1983, 1207, 1208; BGHZ 96, 40, 47 = NJW 1986, 1436; BGH, NJW 1990, 2199, 2200; ähnlich BGHZ 39, 333, 337 = NJW 1963, 2272, 2273.

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der jedoch an sich nicht für private Schiedsgerichte gilt,10 sondern nur für staatliche Gerichte.11 Allerdings ergibt sich die Pflicht auch aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, wo auch die verfahrensrechtlichen Mindeststandards definiert sind, deren Einhaltung wiederum Voraussetzung dafür ist, dass die staatliche Rechtsordnung private Schiedsgerichte anerkennt, so dass diese einer mittelbaren verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs unterliegen.12 Zudem ist die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs für Schiedsgerichte einfachgesetzlich in § 1042 Abs. 1 S. 2 ZPO ausdrücklich normiert und wird durch die Aufhebungsgründe des § 1059 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b und Nr. 2 Buchst. b ZPO sanktioniert.13 Dabei ist allgemein anerkannt, dass das rechtliche Gehör durch Schiedsgerichte im Wesentlichen im gleichen Umfang wie durch staatliche Gerichte zu gewähren ist.14 Die Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst nicht nur die Information der Parteien durch das Schiedsgericht und die Möglichkeit der Parteien, sich vor dem Schiedsgericht zu äußern, sondern auch die Kenntnisnahme der Äußerungen der Parteien durch das Schiedsgericht.15 Diese Kenntnisnahme setzt voraus, dass das Schiedsgericht den wesentlichen Kern des Vorbringens der Parteien nicht nur erfasst, sondern ihn auch in den Gründen bescheidet, soweit er zentrale Fragen des jeweiligen Verfahrens betrifft.16 Das Schiedsgericht muss sich also in der Begründung des Schiedsspruchs mit dem Kern des Parteivortrags zu zentralen Fragen des Falles inhaltlich auseinandersetzen.17

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So aber etwa BGHZ 85, 288, 291 = NJW 1983, 867. So etwa Remmert in Maunz/Dürig, GG, 87. EL März 2019, Art. 103 Abs. 1 Rn. 56 m.w.N. 12 So etwa Maunz/Dürig/Remmert (Fn. 11), Art. 103 Abs. 1 Rn. 56 m.w.N.; vgl. auch MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1042 Rn. 2 m. Fn. 5; zum Ganzen auch Wilhelmi, SchiedsVZ 2020, 30, 31. 13 Näher Wilhelmi, SchiedsVZ 2020, 30, 31. 14 BGHZ 31, 43, 45 = NJW 1959, 2213; BGHZ 85, 288, 291 = NJW 1983, 867; BGHZ 96, 40, 47 = NJW 1986, 1436, 1438; OLG Frankfurt SchiedsVZ 2014, 154, 157; BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1042 Rn. 7; Wieczorek/Schütze/Schütze (Fn. 2), § 1042 Rn. 8; Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1042 Rn. 5. 15 Vgl. BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1042 Rn. 8; näher Wilhelmi, Schieds VZ 2020, 30, 31 ff. 16 Vgl. BVerfG ZIP 2004, 1762, 1763; BGH NJW-RR 2007, 1409 Rn. 5; BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 6; BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 10 ff.; für staatliche Gerichte auch BGH NJW-RR 2016, 78 Rn. 7 m.w.N. 17 Vgl. BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 6; BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 27; ähnlich BGH WM 1983, 1207, 1208; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 30; Stein/Jonas/ Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17; für staatliche Gerichte auch BGH, NJW-RR 2016, 78 Rn. 7 m.w.N.; näher Wilhelmi, SchiedsVZ 2020, 30, 32 f. 11

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3. Informationsinteresse der Parteien und ordre public als Maßstab Die Mindestanforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen ergeben sich demgemäß nicht nur daraus, dass die Begründung das Informationsinteresse der Parteien hinsichtlich der tragenden Erwägungen des Schiedsgerichts zu befriedigen hat, sondern entgegen der älteren Rechtsprechung18 auch daraus, dass sie die gerichtliche Nachprüfung des Schiedsspruchs zumindest am Maßstab des ordre public gem. § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO ermöglichen muss,19 insbesondere hinsichtlich des rechtlichen Gehörs. An die Begründung von Urteilen staatlicher Gerichte sind damit nur dann höhere Anforderungen als an die Begründung von Schiedssprüchen zu stellen, wenn es sich nicht um Urteile letzter Instanz handelt, sie also grundsätzlich einer vollständigen Inhaltskontrolle durch eine Berufungs- oder Revisionsinstanz unterliegen, so dass ihre Begründung auch die für diese Kontrolle notwendigen Informationen umfassen muss. Für die Begründung von Schiedssprüchen gelten somit grundsätzlich vergleichbare Maßstäbe wie für letztinstanzliche Urteile staatlicher Gerichte. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Parteien nach § 1054 Abs. 2 ZPO den Verzicht auf eine Begründung vereinbaren können.20 Denn der Verzicht greift zunächst nur, wenn er auch vereinbart wurde. Zudem betrifft er nur das Informationsinteresse der Parteien, während der ordre public nicht zur Disposition der Parteien steht.21 Ohne den Verzicht gelten demgemäß die skizzierten Maßstäbe. Liegt ein Verzicht vor, ist dies hinsichtlich des Informationsinteresses der Parteien unproblematisch. In Bezug auf den ordre public stellt sich hingegen die Frage, welche Auswirkungen die fehlende Begründung auf die Prüfung eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör hat. Insoweit ist davon auszugehen, dass § 1054 Abs. 2 ZPO lex specialis gegenüber § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO ist, so dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch nicht aus der fehlenden Begründung geschlossen werden kann, sondern auf andere Anhaltspunkte gestützt werden muss und dementsprechend schwer darzulegen und zu beweisen sein wird. Dagegen, dass für die Begründung von Schiedssprüchen grundsätzlich vergleichbare Maßstäbe gelten wie für letztinstanzliche Urteile staatlicher 18

Vgl. oben bei Fn. 1. Vgl. OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 307; OLG München SchiedsVZ 2017, 40 Rn 68. 20 Vgl. zum alten Recht BGHZ 30, 89, 92 = NJW 1959, 1438, 1439; zum neuen Recht vgl. BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 11; Musielak/Voit/Voit (Fn. 2), § 1054 Rn. 4. 21 Vgl. zu § 1051 Abs. 3 ZPO BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1051 Rn. 12; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1051 Rn. 55; Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1051 Rn. 6; anders Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), Anh. § 1061 Rn. 368. 19

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Gerichte, kann auch nicht angeführt werden, dass dies bei der häufigen Besetzung von Schiedsgerichten mit juristischen Laien zu einer Überspannung der Erfordernisse und damit zu einer Gefährdung vieler Schiedsverfahren führe.22 Denn das Interesse der Parteien, über die tragenden Erwägungen des Schiedsgerichts informiert zu werden,23 besteht auch, wenn der Schiedsspruch durch Laien gefällt wird. Ebenso gilt der Schutz des ordre public einschließlich des rechtlichen Gehörs über § 1059 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b ZPO auch gegenüber mit Laien besetzten Schiedsgerichten. Selbst wenn man davon ausginge, dass juristischen Laien eher Fehler bei der Begründung eines Schiedsspruchs unterliefen als juristischen Experten, ist zunächst festzustellen, dass auch ein mit Laien besetztes Schiedsgericht zur Rechtsanwendung berufen ist und sich an den dafür geltenden Maßstäben messen lassen muss. Auch Laien sollten angeben können, wie und warum sie zu ihrer Entscheidung gekommen sind. Vor allem aber bedeutet die Begründungspflicht auch unter den hier skizzierten Maßstäben nicht, dass die Ausführungen des Schiedsgerichts fehlerlos sein müssen (dazu unten), so dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch Laien (wie Experten) noch keine Aufhebbarkeit des Schiedsspruchs begründet. Damit bleibt festzuhalten, dass sich die Mindestanforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen aus der Pflicht des Schiedsgerichts ergeben, das Informationsinteresse der Parteien zu befriedigen, indem es ihnen die den Schiedsspruch tragenden Erwägungen mitteilt, und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren, indem es sich in der Begründung mit dem Kern des Parteivortrags zu zentralen Fragen des Falles inhaltlich auseinandersetzt. Dies entspricht den Maßstäben, die an letztinstanzliche Entscheidungen staatlicher Gerichte anzulegen sind.

III. Anforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen Die konkreten Anforderungen an die Begründung von Schiedssprüchen, die aus den oben entwickelten Maßstäben folgen, lassen sich in eher formale Kriterien und in materielle Anforderungen unterteilen. 1. Formale Anforderungen Die eher formalen Anforderungen ergeben sich daraus, dass überhaupt eine Begründung vorliegen muss. Sie sind in dem Sinne formal, als sie keinen näheren inhaltlichen Bezug zum konkret verhandelten Fall haben müssen.

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So aber Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Auflage 2005, Kap. 19 Rn. 11. Siehe oben bei Fn. 3.

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a) Vorliegen einer Begründung Eine Begründung liegt vor, wenn sich das Schiedsgericht nicht mit dem bloßen Zu- oder Absprechen der streitigen Ansprüche begnügt, sondern seinen materiellen und ggf. auch prozessualen Entscheidungen auch rechtfertigende Darlegungen beifügt, wozu notfalls sogar Stichworte genügen können.24 Zulässig ist auch die inhaltlich Bezugnahme, etwa auf andere veröffentlichte oder den Parteien sonst bekannte und zugängliche Entscheidungen, einen Zwischen- oder Teilschiedsspruch oder Literaturstellen, aber etwa auch auf im Verfahren eingeholte Gutachten, Abrechnungen oder vorangegangenen Parteivortrag.25 b) Keine „groben Formfehler“ Die Ausführungen in der Begründung müssen dazu geeignet sein, überhaupt Entscheidungen zu rechtfertigen. Sie dürfen keine „groben Formfehler“ aufweisen, die dazu führen, dass nicht mehr erkennbar ist, welche Gründe für die Entscheidungen maßgebend waren.26 Daher dürfen die Ausführungen nicht in sich widersinnig sein.27 Auch dürfen sie sich nicht mit inhaltsleeren Formeln begnügen,28 etwa dass das Schiedsgericht das Vorbringen einer Partei zur Kenntnis genommen habe.29 2. Materielle Anforderungen Die materiellen Anforderungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Begründung sich über die formalen Anforderungen hinaus auch auf den konkret verhandelten Fall beziehen muss. a) Inhaltliche Auseinandersetzung mit dem wesentlichen Parteivortrag Das Informationsinteresse der Parteien und die Gewährung rechtlichen Gehörs setzen – wie gezeigt30 – voraus, dass das Schiedsgericht sich in der Begründung des Schiedsspruchs mit dem Kern des Vortrags der Parteien zu MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 28 f. Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 31 m.w.N.; vgl. für Entscheidungen staatlicher Gericht auch BGH NJW 1991, 2761, 2762. 26 Vgl. zu staatlichen Gerichten BGHZ 39, 333, 338 = NJW 1963, 2272, 2273. 27 BGHZ 96, 40, 47 = NJW 1986, 1436, 1437; BGH WM 1983, 1207; OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 307; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 29; Stein/Jonas/ Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 28 BGH WM 1983, 1207; BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 6; OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 307; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 29; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 29 Vgl. BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 11. 30 Siehe oben bei Fn. 16 und 17. 24 25

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den zentralen Fragen des Falles inhaltlich auseinandersetzt. Dies bedeutet, dass sich das Schiedsgericht zwar nicht mit dem gesamten, wohl aber mit dem für den Fall und seine Entscheidung wesentlichen Vortrag der Parteien befassen muss.31 Auf abwegige oder weit hergeholte Gesichtspunkte muss das Schiedsgericht hingegen auch dann nicht eingehen, wenn diese von den Parteien vorgetragen werden.32 Welcher Vortrag wesentlich ist, kann nicht abstrakt, sondern nur konkret für den jeweiligen Fall und die dazu geführte Verhandlung bestimmt werden. Maßgeblich dafür sind die Anträge der Parteien, die dafür in Frage kommenden Rechtsgrundlagen und der Vortrag der Parteien zu Sach- und Rechtsfragen, soweit diese relevant, also bei der Zulässigkeits-, Schlüssigkeits-, Erheblichkeits- oder Beweisprüfung zu berücksichtigen sind. Durch entsprechenden Vortrag können die Parteien damit das Schiedsgericht zu einer Stellungnahme zwingen,33 jedenfalls soweit dieser für die Entscheidung des Falles relevant ist. Die Begründung muss damit zumindest auf die Punkte eingehen, die unmittelbar von der Entscheidungsformel erfasst werden,34 und die Sachverhaltsbasis, auf der die Entscheidung getroffen wurde, und eine Abwägung erkennen lassen.35 Demgemäß muss das Schiedsgericht insbesondere die von der Entscheidung erfassten selbständigen Ansprüche behandeln36 und zu den wesentlichen Angriffs- und Verteidigungsmitteln inhaltlich Stellung nehmen,37 also zu Ansprüchen, Einwendungen und Einreden, insbesondere zur Erfüllung, Aufrechnung und Verjährung.38 Demgegenüber ist auf unselbstständige Angriffs- und Verteidigungsmittel seltener einzugehen,39 was aber nicht bedeutet, dass sie nie zu behandeln wären, maßgeblich ist wie stets der konkrete Fall. Keine inhaltliche Auseinandersetzung stellen pauschale Aussagen dar, wie die, dass das Schiedsgericht das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis genommen habe.40 Ebenso wenig genügt es, wenn das Schiedsgericht sich dar31 Vgl. BGH WM 1983, 1207, 1208; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 31; Stein/ Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 32 Vgl. Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 33 Vgl. für staatliche Gerichte Rimmelspacher in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 540 Rn. 8; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 313 Rn. 69, § 540 Rn. 10. 34 Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1054 Rn. 8. 35 BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 12. 36 So für staatliche Gerichte Zöller/Heßler (Fn. 2), § 547 Rn. 7 m.w.N.; vgl. für die Klagehäufung auch Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 37 So BGH NJW 1986, 1436, 1437; BGH NJW 1990, 2199, 2200; BeckOK ZPO/ Wilske/Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 12; ähnlich BGH WM 1983, 1207, 1208; BGH Schieds VZ 2018, 318 Rn. 12. 38 MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 31. 39 Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 31; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 40 BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 11.

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auf beschränkt, die Schriftsätze aufzulisten oder das Vorbringen und die Positionen der Parteien zusammenzufassen oder wiederzugeben.41 Noch gravierender ist es, wenn sich das Schiedsgericht auf einen von den Parteien nicht gehaltenen Vortrag stützt.42 Demgegenüber kann es für eine inhaltliche Auseinandersetzung auch genügen, wenn diese lediglich in Stichworten geschieht. Demgemäß kann der Vermerk „Berechnung zutreffend“ ausreichen,43 wenn die Parteien nicht näher auf die Berechnung eingegangen sind. Ähnlich bei einer eingeklagten Schadenssumme muss nicht zu jedem Schadensposten etwas gesagt werden,44 wenn die Parteien dazu nicht näher vorgetragen haben. b) Berücksichtigung einer gefestigten Rechtsprechung Im Rahmen des rechtlichen Gehörs muss ein Schiedsgericht ebenso wie ein staatliches Gericht nicht nur das Parteivorbringen, sondern auch eine gefestigte Rechtsprechung berücksichtigen. Will es von dieser abweichen, muss es sich in der Begründung des Schiedsspruchs mit dieser auseinandersetzen und die Gründe für seine abweichende Entscheidung mitteilen,45 um den Vorwurf objektiver Willkür zu vermeiden.46 Anders als sonst47 bleibt es hier nicht dem pflichtgemäßen Ermessen des Schiedsgerichts überlassen, inwieweit es für seine Entscheidung Rechtsprechung und Literatur heranzieht und sich ausdrücklich damit auseinandersetzt. Ein Schiedsgericht ist damit ebenso wenig wie ein staatliches Gericht an eine gefestigte Rechtsprechung in dem Sinne gebunden, dass es einer solchen folgen muss. Aber die Pflicht zur Begründung dürfte eine Abweichung doch erheblich erschweren. c) Vermutung der Gewährung rechtlichen Gehörs? Hat sich das Schiedsgericht in der Begründung des Schiedsspruchs nicht mit dem Kern des Vortrags der Parteien zu den zentralen Fragen des Falles inhaltlich auseinandersetzt, kann in der Regel nicht nachgewiesen werden, dass das Schiedsgericht rechtliches Gehör gewährt hat. Zwar findet sich in Rechtsprechung und Literatur immer wieder die Aussage, dass bei staatlichen Gerichten wie Schiedsgerichten davon auszugehen sei, dass sie rechtli41

BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 20, 25, 27. BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 22, 24. 43 Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 28; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 44 Vgl. Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 45 Vgl. für staatliche Gerichte BVerfG NJW 1992, 2556, 2557; MüKo ZPO/Musielak (Fn. 5), § 313 Rn. 15. 46 Vgl. für § 313 Abs. 1 Nr. 6 ZPO Rensen in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 313 Rn. 22. 47 Vgl. zu staatlichen Gerichten BVerfG NJW 1987, 2499; MüKo ZPO/Musielak (Fn. 5), § 313 Rn. 15. 42

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ches Gehör gewährt haben, so dass sie nicht verpflichtet seien, sich in den Entscheidungsgründen mit jedem Vorbringen der Parteien ausdrücklich zu befassen.48 Aber dies bedeutet nur, dass sie in den Gründen nicht auf jedes einzelne Vorbringen eingehen müssen, unabhängig davon, ob es für den Fall und seine Entscheidung relevant ist. Denn für den wesentlichen Kern des Parteivortrags zu den zentralen Fragen des Falles gehen Rechtsprechung und Literatur für Schiedsgerichte wie für staatliche Gerichte davon aus, dass sie in den Gründen beschieden werden müssen,49 so dass insoweit keine Vermutung greift.50 Eine Vermutung, dass ein Schiedsgericht wie ein staatliches Gericht das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis genommen hat, auch wenn sich in den Gründen dazu nichts findet, gilt demgemäß allenfalls für unwesentliches Vorbringen, das nicht den Kern des Parteivortrags zu zentralen Fragen des Falles darstellt. 3. Unerheblichkeit einfacher Fehler Weder das Informationsinteresse der Parteien, noch der ordre public mit dem rechtlichen Gehör gebieten allerdings, dass die Begründung eines Schiedsspruchs richtig und vollständig sein muss. Vielmehr folgt daraus, dass die Parteien die Entscheidung dem Schiedsgericht überantwortet haben und Schiedssprüche demgemäß keiner révision au fond unterliegen, dass ein Schiedsspruch nicht schon deshalb aufzuheben ist, weil seine Begründung falsch oder lückenhaft ist.51 Dies gilt insbesondere für mit juristischen Laien besetzte Schiedsgerichte,52 aber nach den allgemeinen Grundsätzen nicht nur für diese. Entscheidend ist, ob es sich um einfache Fehler bei der Würdigung des Sachverhaltes oder der Rechtsanwendung handelt oder ob es sich um Fehler handelt, die es aufgrund ihrer Art und Häufigkeit schon überhaupt an einer Begründung mangeln lassen oder die darauf schließen lassen, dass sich das Schiedsgericht gar nicht und nicht nur inhaltlich falsch mit wesentlichem tatsächlichen und rechtlichen Vortrag der Parteien auseinandergesetzt hat.

48 So etwa OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 304; BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1042 Rn. 9; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), Anh. zu § 1061 Rn. 201; für staatliche Gerichte etwa auch BVerfG NJW 1999, 1387, 1388; BVerfG ZIP 2004, 1762, 1763. 49 BGH WM 1983, 1207, 1208; BGH NJW 1990, 2199, 2200; OLG München SchiedsVZ 2015, 303, 304. 50 Vgl. auch Wilhelmi SchiedsVZ 2020, 30, 33. 51 Vgl. MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 29; Musielak/Voit/Voit (Fn. 2), § 1054 Rn. 4; im Ergebnis auch OLG Köln SchiedsVZ 2012, 161, 168; ähnlich Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17. 52 Vgl. BGH LM KWVO § 1a Nr. 1; Schwab/Walter (Fn. 22), Kap. 19 Rn. 11.

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IV. Rechtsfolgen der mangelhaften Begründung von Schiedssprüchen Genügt die Begründung eines Schiedsspruchs nicht den hier skizzierten Anforderungen und beruht die Entscheidung auf dem Mangel53, ohne dass die Begründung nachgeholt wurde,54 die Parteien (nachträglich) auf sie verzichtet haben55 oder Präklusion eingetreten ist,56 bleibt der Schiedsspruch zunächst wirksam, kann aber nach § 1059 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. d oder Nr. 2 Buchst. b ZPO aufgehoben werden.57 Soweit das rechtliche Gehör nicht so gravierend verletzt wurde, dass dies Zweifel an der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Schiedsgerichts aufkommen lässt, kann die Sache auch an das Schiedsgericht zurückverwiesen werden.58 Demgemäß ist auch der Antrag auf Vollstreckbarerklärung inländischer Schiedssprüche unter Aufhebung des Schiedsspruchs nach § 1060 ZPO abzulehnen. Bei ausländischen Schiedssprüchen ist der Antrag auf Anerkennung und Vollstreckbarerklärung, jedenfalls soweit das rechtliche Gehör verletzt wurde, nach § 1061 ZPO i.V.m. Art. V Abs. 2 Buchst. b UNÜ ebenfalls abzulehnen,59 in der Regel auch wegen eines mangelhaften Verfahrens nach § 1061 ZPO i.V.m. Art. V Abs. 1 Buchst. d UNÜ.

V. Fazit Die Pflicht zur Begründung des Schiedsspruchs dient dem Informationsinteresse der Parteien und der Gewährung rechtlichen Gehörs. Die für sie geltenden Anforderungen entsprechen im Wesentlichen den Maßstäben für die Begründung letztinstanzlicher Entscheidungen staatlicher Gerichte. Sie umfassen neben den formalen Anforderungen, dass überhaupt eine Begründung vorliegt und diese keine groben Formfehler enthält, auch materielle Anforderungen, insbesondere die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem wesentlichen Vortrag der Parteien und die Berücksichtigung der gefestigten Rechtsprechung. Diese Begründungspflicht zwingt zu einer sorgfälti53

Vgl. BGH NJW 1990, 2199, 2200; BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 33; Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1059 Rn. 45; kritisch insofern BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 14; Musielak/Voit/Voit (Fn. 2), § 1054 Rn. 5. 54 Vgl. Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 16; Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1054 Rn. 4. 55 Vgl. BeckOK ZPO/Wilske/Markert (Fn. 2), § 1054 Rn. 13; Musielak/Voit/Voit (Fn. 2), § 1054 Rn. 4; im Ergebnis auch MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1052 Rn. 32. 56 Vgl. Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1059 Rn. 45a. 57 Vgl. BGH SchiedsVZ 2018, 318 Rn. 14; MüKo ZPO/Münch (Fn. 2), § 1054 Rn. 18; Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), § 1054 Rn. 17; Zöller/Geimer (Fn. 2), § 1054 Rn. 2, 8, § 1059 Rn. 45, 68. 58 Vgl. Wilhelmi SchiedsVZ 2020, 30, 33 f. zu BGH SchiedsVZ 2020, 46 Rn. 44 ff. 59 Vgl. Stein/Jonas/Schlosser (Fn. 2), Anh. § 1061 Rn. 368.

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geren Rechtsanwendung und führt zu einer gewissen faktischen Bindung an die gefestigte Rechtsprechung und Literatur. Die Vermutung der Gewährung rechtlichen Gehörs gilt wie bei staatlichen Gerichten nur für unwesentliches Parteivorbringen. Auch in der Pflicht zur Begründung des Schiedsspruchs zeigt sich damit, dass das Schiedsgerichtswesen keine „Rechtsprechung light“ ist.

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Mitwirkung an einer juristischen Festschrift Mitwirkung an einer juristischen Festschrift Stephan Wilske

Mitwirkung an einer juristischen Festschrift als Gefahr der Besorgnis der Befangenheit – Ketzerische Anmerkungen zu einem gefährlichen Thema – STEPHAN WILSKE*

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Festschriftbeiträge und Befangenheit des Festschriftautors 1. Die Entscheidung des BGH zu diversen Autoren der Festschrift für Bruno M. Kübler . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine milderen Maßstäbe in der Schiedsgerichtsbarkeit . . 3. Praxisfolgen für Festschriftbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . III. Konklusion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zu vieles Loben, weiß ich wohl, macht dem, der edel denkt, den Lober nur zuwider. (Friedrich Schiller, Iphigenie in Aulis, IV, 3)

I. Einleitung Der Jubilar gehört zu den etablierten Größen der deutschen Schiedsgerichtsbarkeit.1 Das weiß natürlich auch der Autor, der zwar noch kein offizielles gemeinsames Verfahren mit dem Jubilar führte, aber ohne dass dies der Jubilar bis heute wissen dürfte, schon wiederholt von ihm verfasste Schiedssprüche – erfolglos – auf Aufhebungsgründe untersuchte.2 Es würde zur Tradition deutscher Festschriftbeiträge gehören, an dieser Stelle noch einiges zu den speziellen Verdiensten des Jubilars zu sagen, allein dies ist * Der Verfasser dankt dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Philipp Hoffmann (mittlerweile Rechtsassessor und LL.M.-Student in Melbourne) für seine tatkräftige Unterstützung bei der Rechtsprechungs- und Literaturrecherche. 1 Siehe JUVE Handbuch 2019/2020, S. 654 („Mit Namenspartner Thümmel verfügt [Thümmel Schütze & Partner] über einen der anerkanntesten dt. Schiedsrichter“). 2 Siehe auch hierzu JUVE Handbuch 2019/2020, S. 654 zum Jubilar: „exzellente Schiedssprüche, gut für komplexe Streitigkeiten“.

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dem Autor viel zu gefährlich angesichts der drohenden rechtlichen Folgen. Vielmehr muss der Autor schon an dieser Stelle klar und unzweideutig versichern, dass ihm nicht bekannt ist und er keinerlei Kenntnis davon hat, „dass gemeinsames Anliegen der Herausgeber und Autoren die Würdigung von Person und Lebenswerk des [Jubilars] sei“ oder auch nur sein könnte.3 Wahrscheinlich müsste sich der Autor von einem solchen Anliegen geradezu distanzieren angesichts der Gefahr, die zu beschreiben der Autor sich im nächsten Teil bemühen wird – bevor er sich dazu Gedanken macht, wie ein Jubilar in einem Festschriftbeitrag gelobt werden darf, ohne dass der Autor sich der Gefahr aussetzt, in einem späteren Schiedsverfahren mit dem Jubilar als befangen zu gelten.

II. Festschriftbeiträge und Befangenheit des Festschriftautors Die schiedsrichterliche Unabhängigkeit bei wissenschaftlichen Äußerungen war schon mehrfach Gegenstand der Rechtsprechung.4 Gleiches gilt für die Teilnahme eines Richters an Seminaren und Tagungen zu aktuellen Rechtsfragen und dortigen Meinungskundgebungen.5 Dringend notwendig war aber, dass angesichts der reichen Festschrifttradition, insbesondere auch in der Schiedsgerichtsbarkeit – und beileibe nicht nur im deutschsprachigen Raum –,6 die Frage der Befangenheit eines potentiellen Schiedsrichters aufgrund seiner Mitwirkung an einer Festschrift höchstrichterlich untersucht und beurteilt wird. Zum Glück hatte der BGH 3 Siehe BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 5 (rechte Spalte). 4 Siehe zusammenfassend insbesondere Effer-Uhe SchiedsVZ 2018, 75 ff., hierzu Froitzheim SchiedsVZ 2019, 10 ff.; siehe auch Schwab/Hawickenbrauck JZ 2019, 77 ff. 5 Siehe beispielsweise BGH Beschluss vom 25. Mai 2016 – III ZR 140/15, BeckRS 2016, 10831 („Die Teilnahme eines Richters an Seminaren und Tagungen zu aktuellen Rechtsfragen und seine dortigen Meinungskundgebungen (hier: Vortrag) sind grundsätzlich nicht geeignet, eine Befangenheit zu begründen (Anschluss an BGH BeckRS 2016, 02442).“ Siehe aber auch Sanderson/Perry, Billion dollar award in mining fraud dispute, GAR news vom 10. April 2019 („A three-person division appointed by the LCIA …. disqualified Brower on the basis of comments he made about the mining dispute at an international conference that gave rise to justifiable doubts as to his independence and impartiality.“). 6 Siehe hierzu nur die in den letzten Jahren erschienenen Festschriften mit schiedsrechtlichem Fokus für Pieter Sanders (1982), Michel Gaudet (1998), Pierre Tercier (2008), Thomas Wälde (2009), Bernardo Cremades (2010), Ulf Franke (2010), Detlev Vagts (2010), Eric Bergstein (2011), Serge Lazareff (2011), Neil Kaplan (2012), Hans van Houtte (2012), Don Wallace, Jr. (2014), John Beechey (2015), Charles Brower (2015), Ahmed Sadek ElKosheri (2015), Jerzy Rajski (2015), William Laurence Craig (2016) und Herbert Han-Pao Ma (2016). Unrichtig daher Stiefel JZ 1995, 613, 614: „Die Festschrift ist unbrauchbar für Nicht-Deutschsprechende… Der typisch deutsche Geburtstags-Zirkus ist unbekannt im Ausland.“ Dagegen auch Schleicher 48 Tulsa L. Rev. 401 (2012) („the great academic exercise that is the festschrift.“).

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in seiner Entscheidung vom 7. November 2018 Gelegenheit, sich umfassend und detailliert zur früheren Mitwirkung abgelehnter Richter an einer juristischen Festschrift zu äußern.7 1. Die Entscheidung des BGH zu diversen Autoren der Festschrift für Bruno M. Kübler Zu seinem 70. Geburtstag erhielt der bekannte Kölner Insolvenzverwalter Bruno M. Kübler eine Festschrift, die von Reinhard Bork (Professor an der Universität Hamburg), Godehard Kayser (Vorsitzender Richter am BGH) und Frank Kebekus (Rechtsanwalt in Düsseldorf) herausgegeben wurde. Unter den 82 Autoren von insgesamt 69 Beiträgen finden sich von Holger Altmeppen bis Helmut Zipperer Professoren, Rechtsanwälte, Richter (aktiv oder a.D.) an Amtsgerichten, Arbeitsgerichten, Oberlandesgerichten und des Bundesgerichtshofs, eine Ministerialdirektorin und ein Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, ein Wirtschaftsprüfer und Steuerberater sowie ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interdisziplinäre Restrukturierung (iir) e.V. in Berlin. Als der BGH Ende 2018 über einen Rechtsstreit zu entscheiden hatte, in dem Bruno M. Kübler als Beklagter wegen Pflichtverletzung in Anspruch genommen wurde, stellte sich heraus, dass in dem Senat, der über das Rechtsmittel zu entscheiden hatte, ein Mitherausgeber und zwei Autoren der Festschrift für Bruno M. Kübler saßen. Der BGH entschied, dass nach § 42 Abs. 2 ZPO die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit stattfinde, wenn ein Grund vorliege, der geeignet sei, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies sei dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme habe, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnehme, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen könne. Maßgeblich sei, ob aus der Sicht der ablehnenden Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben sei, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln.8 Nach diesen Maßstäben, so der BGH, lag ein Ablehnungsgrund in Bezug auf den Vorsitzenden Richter Kayser vor – der das Geleitwort mitverfasst hatte – wie auch in Bezug auf die Richter Pape und Gehrlein, die beide Beiträge für die Festschrift verfasst hatten. Der 7 Siehe BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309 mit Besprechungen von Conrad MDR 4/2019, 212, Windau RÜ2 7/2019, 148, Fleischer NZG 2019, 1241, 1245 und Lobeshymne in Festschrift führt zu Besorgnis der Befangenheit (Anmerkung der Redaktion), AnwBl 2019, S. 110. Zu einer weiteren hochspannenden Frage, die noch der höchstrichterlichen Rechtsprechung harrt, siehe Wilske Zur Strafbarkeit der unbefugten Offenbarung der Erstellung einer Festschrift, in Luz (Hrsg.) Liber Amicorum José Christian Cascante, 2015, S. 9. 8 BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 1.

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BGH schloss sich der Auffassung der Kläger an, dass eine Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden Richters Kayser sich daraus ergebe, dass dieser als Mitverfasser des Geleitworts einer Festschrift „Person und Lebenswerk [des Jubilars] in heraushebender Weise gewürdigt [habe].“9 Besonders abgehoben wurde dabei darauf, dass der Jubilar in dem Geleitwort charakterisiert wurde als ein Mann, „der sich wie kein zweiter in vielfältiger Weise um das Insolvenzrecht und die angrenzenden Rechtsgebiete verdient gemacht“ habe.10 Weiter wurde aus dem Geleitwort zitiert, dass der Jubilar „zu der seltenen Spezies Insolvenzverwalter gehört, die unternehmerisches Denken mit scharfsinniger juristischer Analyse verbinden können“, der „unternehmerisch mit dem bestmöglichen Bemühen um die Sanierung als die ökonomisch vorzugswürdige Lösung“ vorgehe, „mit seinen Publikationen seine Qualifikation als Vordenker für die Praxis“ beweise und „den Acker ‚Insolvenz und Sanierung‘ in sehr unterschiedlichen, einander aber immer wieder befruchtenden Funktionen bestellt und daraus reiche Ernte hervorgebracht“ habe.11 Hieraus schloss der BGH wörtlich: „Die damit verlautbare Hochachtung nicht nur von Person und Lebenswerk des Beklagten, sondern auch seiner besonderen insolvenzrechtlichen Treffsicherheit und seiner Vorbildfunktion für Insolvenzverwalter, kann bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, in einem Rechtsstreit, in dem der Beklagte wegen angeblicher Pflichtverletzung bei der Ausübung seines Amtes als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die persönliche Verwendung zu Ehren des Beklagten tatsächlich Ausdruck einer besonderen Nähebeziehung ist oder ob die Laudatio etwa nur geschäftsmäßig verfasst oder gar lediglich mitunterzeichnet wurde. Denn maßgeblich ist die Sicht der ablehnenden Partei, die bei vernünftiger Würdigung der äußeren Umstände Zweifel daran haben darf, dass das mit dem Geleitwort zum Ausdruck Gebrachte hinter seinem objektiven Wortsinn zurückbleibt.“12

Angesichts dieser klaren Positionierung des Vorsitzenden Richters Kayser schon beim Geleitwort für den Jubilar kam es schon gar nicht mehr darauf an, dass Kayser auch einen zehnseitigen Beitrag mit dem Titel „Anfechtungsrisiken für Banken und andere Zahlungsmittler“ geschrieben hatte, in dem er den Jubilar aber mit keinem Wort erwähnte und noch nicht einmal in einer der 51 Fußnoten zitierte.13 Für begründet sah der BGH auch die Ablehnungsgesuche gegen die Festschriftautoren Pape und Gehrlein an. Gerhard Pape hatte einen zwölf Seiten umfassenden Beitrag zum Thema „Zum Verhältnis von Insolvenzanfechtung und Insolvenzplanverfahren“ verfasst.14 In 9

BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 3. Bork/Kayser/Kebekus (Hrsg.) Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. V, Satz 1. 11 Bork/Kayser/Kebekus (Hrsg.) Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. Vf. 12 BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 4. 13 Kayser in Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. 321–330. 14 Pape in Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. 487–498. 10

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der Einleitung verwies Pape darauf, dass die mit der Verabschiedung des ESUG gewollte Stärkung der Gläubigerautonomie und deren nähere Inhaltsbestimmung stets eines der Anliegen des Jubilars war.15 Markus Gehrlein hatte dreizehn Druckseiten abgeliefert zum Thema „Verbindungslinien zwischen Eigenkapitalersatz, Insolvenzanfechtung und Deliktshaftung“16 und es ebenfalls geschafft, den Jubilar weder im Text noch in den 96 Fußnoten auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Gehrlein veröffentlichte den gleichen Beitrag vielmehr unter gleichem Titel (und mit gleicher Fußnotenzahl) noch einmal in NZI 2015, 577.17 Der BGH anerkannte zwar, dass die Fachbeiträge der Richter Pape und Gehrlein für sich genommen keine persönliche Würdigung des Jubilars enthielten, dass der äußere Anlass aber durch die mit der Festschrift vorzunehmende Ehrung des Beklagten gesetzt worden sei. Die ablehnende Partei dürfte daher bei vernünftiger Würdigung der äußeren Umstände davon ausgehen, „dass sich die Autoren mit ihrer Teilnahme an der Festschrift in den Dienst einer Sache gestellt haben, die auf eine Ehrung des Jubilars unter Hervorhebung außergewöhnlicher Verdienste ausgerichtet war.“18 Diese Sichtweise werde – so der BGH – durch das Geleitwort vermittelt, „an dessen Ende versichert wird, dass gemeinsames Anliegen der Herausgeber und Autoren die Würdigung von Person und Lebenswerk des Beklagten sei. Aus Sicht der ablehnenden Partei kann dies Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit der Richter bei der hier vorzunehmenden Beurteilung einer möglichen Pflichtwidrigkeit des Beklagten bei der Ausübung seines Amtes als Insolvenzverwalter zu zweifeln.“19 Glück hatte ein weiterer abgelehnter Richter, der als einer von insgesamt 20 Autoren an einem von Bruno M. Kübler mit herausgegebenen Kommentar zur Insolvenzordnung mitwirkte. Hier meinte der BGH, dass die „dadurch vermittelte Verbindung… bei vernünftiger Würdigung aller Umstände keinen Anlass zu geben [vermag], an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung zu zweifeln. Allgemeine berufliche Kontakte des Richters zu einer Partei ohne besondere Nähe oder Intensität genügen dafür nicht […].“20 Sehr pauschal meinte der BGH, dass eine „Mitautorenschaft als solche… weder enge berufliche noch nahe persönliche Kontakte zwischen den Mitautoren und -herausgebern [begründe].“21 Es mag bezweifelt wer15

Pape in Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. 487. Gehrlein in Festschrift Bruno M. Kübler, 2015, S. 181–193. 17 In der NZI 2016, S. 577, hieß es in der *-Fußnote: „Der Aufsatz stellt die aktualisierte und erweiterte Fassung eines Beitrags des Autors in der 2015 erschienenen Festschrift für Bruno M. Kübler zum 70. Geburtstag dar.“ 18 BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 5. 19 BGH ibid. 20 BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309, Rn. 6. 21 BGH ibid. 16

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den, ob ein Beitrag für eine Festschrift – insbesondere dann, wenn es sich bei dem gewidmeten Betrag um eine Zweitverwertung handelt – tatsächlich ein größeres Näheverhältnis schafft als die Mitautorenschaft eines umfangreichen Werkes über einen längeren Zeitraum mit all den Höhen und – vor allem – Tiefen einer solchen Zusammenarbeit. Kann allein ein Geleitwort ein solches Näheverhältnis des Autors knüpfen, wenn zumindest Eingeweihten der Festschrift-Tradition und –Praxis bekannt ist, dass die meisten Autoren einer Festschrift das Geleitwort zum ersten Mal lesen können, wenn sie das gedruckte Werk in den Händen halten? Diese feinen Differenzierungen sollen aber anderen Festschriftautoren zur Untersuchung überlassen bleiben. 2. Keine milderen Maßstäbe in der Schiedsgerichtsbarkeit Muss die Schiedsgerichtsbarkeit die Entscheidung des BGH zur Festschrift Bruno M. Kübler interessieren, denn dort ging es doch ausschließlich um staatliche Richter und den Maßstab der §§ 41 und 42 ZPO? Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Richtern und Schiedsrichtern. Insbesondere die Parteien haben es im Lichte der Privatautonomie in der Hand, sich auf selbstgeschaffene Standards zu verständigen und so beispielsweise auf bestimmte Ablehnungsgründe zu verzichten.22 Nach der Rechtsprechung orientiert sich aber der Maßstab dafür, ob berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit eines Schiedsrichters vorliegen, an dem für die staatliche Gerichtsbarkeit in § 42 Abs. 2 ZPO normierten Ablehnungsgrund wegen Umständen, die Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines staatlichen Richters rechtfertigen.23 Auch in der Literatur wird vorausgesetzt, dass das Gebot der Unabhängigkeit für staatliche Richter und Schiedsrichter gleichermaßen gilt.24 Tatsächlich wird man sich trotz aller Unterschiede zwischen staatlichen Richtern und Schiedsrichtern und dem unterschiedlichen Wortlaut von § 42 Abs. 2 und § 1036 Abs. 2 ZPO schwer tun zu argumentieren, dass die Maßstäbe für Schiedsrichter ganz andere sein sollten als für staatliche Richter.25 Damit würde man der Schiedsgerichtsbarkeit auch keinen Gefallen tun. Zöller/Geimer ZPO 33. Aufl. 2020, § 1036, Rn. 1 und 6. OLG Frankfurt am Main Beschluss vom 24. Januar 2019 – 26 SchH 2/18, BeckRS 2019, 848, Rn. 71 (mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen) und Anmerkung Salger IWRZ 2019, 220 f. 24 Elsing SchiedsVZ 2019, S. 16; Wieczorek/Schütze/Schütze ZPO 4. Aufl. 2014, § 1036, Rn. 2 („... denn die Tatbestände des § 41 ZPO begründen in jedem Fall ‚Zweifel‘ an der Unvoreingenommenheit des Schiedsrichters.“) und Rn. 14. 25 So auch Zöller/Geimer ZPO 33. Aufl. 2020, § 1036, Rn. 10 („§ 1036 verweist nicht auf §§ 41, 42, deren Tatbestände begründen jedoch idR Zweifel iSd § 1036, wenn die Parteien das betr Näheverhältnis nicht gekannt haben…“). 22 23

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Erfahrene Schiedspraktiker, die um einen Beitrag für eine Festschrift gebeten werden, aber auch Jubilare, die eine Festschrift erhalten mit Beiträgen zahlreicher aktiver Schiedsrechtlicher sollten sich daher der Gefahren der Entscheidung des BGH zur Festschrift Bruno M. Kübler bewusst sein. Die Gefahr droht dabei aus zwei Richtungen. Wie im Fall der Festschrift Bruno M. Kübler könnte an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des potenziellen Schiedsrichters gezweifelt werden, wenn dieser vorher in einem Festschriftbeitrag für einen Parteivertreter diesen in die Richtung der juristischen Unfehlbarkeit schrieb. Umgekehrt könnte die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Schiedsrichterkandidaten aber auch dann in Zweifel gezogen werden, wenn ein Beteiligter des Schiedsverfahrens ihm solche „rhetorischen Girlanden“26 geknüpft hat, dass dies entweder auf ein besonderes Näheverhältnis deuten oder den Schiedsrichterkandidaten bei entsprechender Eitelkeit seine Neutralität gegenüber dem Festschriftautor vergessen machen könnte. 3. Praxisfolgen für Festschriftbeiträge Was bedeutet die Entscheidung des BGH zur Festschrift Bruno M. Kübler für Herausgeber und Autoren juristischer Festschriften mit einem Schwerpunkt auf der Schiedsgerichtsbarkeit? Die „genretypischen Lobpreisungen“,27 die gerne auch einmal in Richtung Hagiographie gehen, sind geradezu lebensgefährlich und führen klar zur Besorgnis der Befangenheit. Was sind daher die neuen Regeln „How to Write a Festschrift Piece?“28 Beliebt war bislang die sogenannte „invocatio jubilaris“.29 Aufgegriffen wird dabei eine wissenschaftliche Idee oder ein bereits publizierter Gedanke des Jubilars, der dann weitergesponnen wird.30 Solche „personalisierten Beiträge“ sind ebenfalls viel zu riskant, soweit nicht der Autor klar und glaubwürdig zum Ausdruck bringt, dass er mit seiner Teilnahme an der Festschrift sich keineswegs in den Dienst einer Sache gestellt hat, die auf eine Ehrung des Jubilars unter Hervorhebung außergewöhnlicher Dienste ausgerichtet war.31 Überhaupt nicht mehr zu empfehlen ist daher die „How to Write a Festschrift Piece“-Anleitung von David Schleicher: „First, dole out as much 26

Fleischer NZG 2019, S. 1241, 1245. Fleischer NZG 2019, S. 1241. 28 Schleicher, 48 Tulsa L. Rev. 401 (2013). 29 Schulze-Fielitz, Die Verwaltung 29 (1996), 565, 571. 30 Fleischer NZG 2019, S. 1241, 1244. Dies karikierend N.N. DÖV 1991, 709, 710: „Festschriftenbeiträge von gehobener Art unternehmen freilich den meist nicht sehr erfolgreichen Versuch, an Arbeiten des Geehrten oder dessen Tätigkeit anzuknüpfen, sie gar fortzuführen und jenen als großen Anreger zu feiern, um alsdann ihre eigenen Wege zu gehen und allenfalls am Schluß an das eingangs Gesagte anzuknüpfen und so den Schein einer Rahmenerzählung vorzugaukeln.“ 31 Vgl. BGH Beschluss von 7. November 2018 – XI ZA 16/17, NJW 2019, 308, 309. 27

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fawning praise as you can muster for the honoree and her work. Go all out, as mushy as you can make it, with extra points given out for use of the terms ‘brilliant‘ or ‘inspiring‘ and a triple word score for turning someone’s last name into an adjective.“32 Schluss sein wird auch mit der Feststellung von v. Münch, dass “Festschriften… in Buchform geschwungene Weihrauchfässer [seien]“.33 Bei klarer Distanzierung vom Geleitwort und jeglichem Verzicht auf eine persönliche Würdigung des Jubilars sollte die leider nicht unübliche Zweitverwertung von Aufsätzen, Variationen von Vor- oder Parallelveröffentlichungen,34 ein Aufguss eines bereits erstatteten Gutachtens35 sowie die Maskierung eines laufenden Gutachtens36 aber nach wie vor möglich sein. Am besten unterlässt der Autor jeglichen Hinweis auf den Namen des Jubilars in seinem Festschriftbeitrag. Auch dies rettet ihn aber nicht – wie das erfolgreiche Ablehnungsgesuch gegen den Richter Gehrlein im Kübler-Fall zeigt –, wenn damit nicht klar eine Distanzierung von der Würdigung von Person und Lebenswerk des Beklagten einhergeht. Sicherer ist ein Autor, wenn er einen Beitrag verfasst, der weder etwas mit dem Jubilar noch mit dem Thema der Festschrift überhaupt zu tun hat und bei dem sich möglichst noch die Frage stellt, ob hier nicht das falsche Manuskript eingereicht wurde. Als Beispiel für einen solchen „belt and suspenders“-Festschriftbeitrag könnte der von Alfred Carl Gaedertz in der Festschrift für den Kartellrechtler Rainer Bechtold mit dem programmatischen Titel „Recht und Wettbewerb“ erschienene Beitrag „Field-Marshal Sir Harold Alexander im Blumengarten des Schlosses Caserta“ zu verstehen sein.37

III. Konklusion und Ausblick Was für Schlüsse soll der Autor dieses Festschriftbeitrags hieraus ziehen? Soll er dem schwäbischen Leitmotiv folgen, das nicht geschimpft schon genug gelobt ist, oder gar dem strengen Ijob, der für niemand Partei ergreifen und keinem Menschen schmeicheln wollte.38 Soll er unter fadenscheinigen Ausreden einen Beitrag für die Festschrift des Jubilars vermeiden und auf ein Autorenexemplar und die Teilnahme an einer klassischen Überreichung 32

Schleicher 48 Tulsa L. Rev. 401 (2012) (Fußnoten weggelassen). von Münch NJW 2000, 3253, 3255. 34 Schulze-Fielitz DVBl 2000, 1260, 1263. 35 Siehe Herschel JZ 1980, 222, 224. 36 Siehe Stiefel JZ 1995, 613. 37 Gaedertz Festschrift Rainer Bechtold, 2006, S. 135–138. 38 Ijob 32: 21–22 (Einheitsübersetzung): „Ich ergreife für niemand Partei / und sage keinem Schmeichelworte. Denn ich versteh‘ mich nicht aufs Schmeicheln, / sonst raffte mich mein Schöpfer bald hinweg.“ Vgl. auch Sprichwörter 25:27 (Einheitsübersetzung): „Zu viel Honig essen ist nicht gut: Ebenso spare mit ehrenden Worten!“ 33

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der Festschrift39 oder einer „standesgemäßen“ Übergabe der Festschrift40 verzichten. Hilfreich wäre wohl – wie üblich – die Offenlegung bei einer Schiedsrichteranfrage, dass man als Herausgeber oder Autor an einer Festschrift für einen Beteiligten des Schiedsverfahrens mitgewirkt habe. Geht das Geleitwort über die üblichen „rhetorischen Girlanden“41 deutlich hinaus, sollte ein Schiedsrichterkandidat vielleicht selbst vorab prüfen, ob er nicht besser – angesichts eines vielleicht doch zu irritierenden Näheverhältnisses – das Angebot des Schiedsrichtermandats ausschlagen sollte.42 Handelt es sich um einen Festschriftbeitrag, der nicht die Grenzen zur Hagiographie überschreitet, spricht sehr viel dafür, dass dies schlichtweg akzeptiert wird – insbesondere wenn bei einer Festschrift die gesamte „Szene“ dabei ist. Es bleibt die Hoffnung – entsprechend den zeitlosen Worten des unvergessenen Tom Petty aus „Hope on Board“ –,43 dass der Bundesgerichtshof bei künftigen Entscheidungen zum Thema Mitwirkung an einer Festschrift und Näheverhältnis zwischen Mitwirkendem und Jubilar die Verhältnisse wieder zurecht rückt. Dies mag schon dann der Fall sein, wenn künftig mehr Bundesrichter mit einer Festschrift ausgezeichnet werden und dabei mehr Einblick gewinnen in die Idee und Verwirklichung einer akademischen Ehren- und Jubelgabe.44 Dem Jubilar sei – als Entschädigung für das hier (aus rein taktischen Gründen?) verweigerte Schwingen des Weihrauchfasses – mit den Worten der Glimmer Twins gewünscht: „May the good Lord shine a light on you, warm light the evening sun.“45

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Siehe hierzu Zillig Die Festschrift, 2004, S. 189–194. von Münch NJW 2000, 3253, 3254. Siehe auch Stiefel JZ 1995, 613 („Der glanzvolle Höhepunkt für alle Festschriftler ist die Übergabe und das darauffolgende Bankett.“). 41 Fleischer NZG 2019, S. 1241, 1245. 42 Siehe hierzu Böckstiegel in Festschrift Robert Briner, 2005, 115, 116: „Dare to say ‘No‘ to appointments”. 43 „Hope on Board“ ist ein Stück des Soundtrackalbums von Tom Petty and the Heartbreakers mit dem Titel „She’s the One“, erschienen im August 1996 bei Warner Bros. 44 Als Einstimmung hierzu sei im Übrigen der Roman von Werner Zillig Die Festschrift, 2004, empfohlen. 45 Jagger/Richards Shine a Light (erstmals erschienen auf dem Album Exile on Main Street, Rolling Stones Records/Virgin Records, Mai 1972). 40

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Schriftenverzeichnis Schriftenverzeichnis

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Roderich C. Thümmel Bücher und Buchbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Zeitschriften- und Festschriftenbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Buchbesprechungen, Urteilsanmerkungen . . . . . . . . . . . . . .

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I.

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Schriftenverzeichnis

I. Bücher und Buchbeiträge Das internationale Privatrecht der nichtehelichen Kindschaft, Duncker & Humblot, 1983 Conflict of Laws and Unfair Competition – Comparative Reflections on American and German Legal Concepts, in: Campbell/Rohwer, Legal Aspects of International Business Transactions II, 1985, p. 115–186 (North-Holland) Agency and Distribution Agreements in Germany, in: Clasen, International Agency and Distribution Agreements, 1991, p. Ger-1 – Ger-26 (Butterworth) Beiräte in mittelständischen Familienunternehmen, (zusammen mit Rudolf X. Ruter), Richard-Boorberg-Verlag, 1994, 2. Aufl. 2009 Kommentierung der §§ 916 bis 945 – Arrest und Einstweilige Verfügung, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Walter de Gruyter, 5. Aufl. 2020 Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten – Haftungsrisiken bei Managementfehlern, Risikobegrenzung und D&O-Versicherung, RichardBoorberg-Verlag, 1996, 5. Auflage 2016 Münchener Vertragshandbuch, Internationales Wirtschaftsrecht (Wirtschaftsrecht III), englischsprachige Vertragsmuster mit Kommentierungen zu Letter of Intent, Legal Opinion und Konsignationslagervertrag, C.H. Beck, 8. Aufl. 2018 (Bd. 4) Handbuch des US-amerikanischen Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts (Hrsg.: Assmann/Bungert), Band 1, 5. Kap.: Persönliche und dingliche Sicherungsrechte, C.H. Beck 2001 Praxishandbuch der Unternehmensgestaltung (Hrsg., zusammen mit StB Dr. Andreas Söffing), Verlag Recht und Wirtschaft, 2003 Die Europäische Aktiengesellschaft (SE), Leitfaden für die Unternehmens- und Beratungspraxis, Verlag Recht und Wirtschaft, 2005 Shareholder derivate suits im deutschen Aktienrecht? – Rechtsvergleichende Anmerkungen zu §§ 148, 149 AktG, in: Europäisches Insolvenzrecht, Kollektiver Rechtsschutz (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Vereinigung für Internationales Verfahrensrecht e.V.), Bd. 18, Gieseking-Verlag, 2008 ICDR (AAA) – International Arbitration Rules, in: Schütze (Hrsg.), Institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit, Kommentar, Carl Heymanns Verlag 2006, 3. Aufl. 2018 AAA International Centre for Dispute Resolution (ICDR) – International Arbitration Rules (IAR), in: Schütze (ed), Institutional Arbitration, Article-byArticle Commentary, C.H. Beck 2012 Eskalationsmechanismen bei der Bestimmung des endgültigen Kaufpreises in Unternehmenskaufverträgen, in: Post-M&A-Schiedsverfahren (Hrsg. Wilhelmi/Stürner), Juridicum – Schriften zum Unternehmens- und Wirtschaftsrecht, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2018

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Aufsichtsrat in der AG, in: Handwörterbuch für Aufsichtsräte (Hrsg. Thüsing/ Giebeler/Hey), Handelsblatt Fachmedien GmbH, 2019 International Centre for Dispute Resolution: American Arbitration Association (AAA) in: Max Planck Encyclopedia of International Procedural Law (online), Oxford University Press, 2019

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II. Zeitschriften- und Festschriftenbeiträge Zum Gerichtsstand im Arrestverfahren, NJW 1985, 472 Die internationale Zuständigkeit in Ausländerehesachen nach Neubestimmung des Scheidungsstatuts durch den BGH NJW 1985, 523 Zum Gerichtsstand bei der Vollstreckungsabwehrklage durch Streitgenossen, NJW 1986, 556 Zur Anerkennung und Vollstreckung deutscher Urteile in North Carolina, IPRax 1986, 256 Die Leistungen der US-amerikanischen Social Security und Veterans Administration als Problem der Vorteilsausgleichung im deutschen Recht, VersR 1986, 415 Internationales Wettbewerbsrecht in den USA, RIW 1986, 864 Zum Regress im US-amerikanischen Produkthaftpflichtprozess, RIW 1988, 359 Geschäftliche Betätigung von Ausländern in Tunesien, IWB 1988, Fach 7, Gruppe 3, S. 35 (zusammen mit Prof. Dr. Schütze) Neues zu den Punitive Damages in den USA, RIW 1988, 613 Grundlegende Regelungen und gegenwärtiger Stand des US-amerikanischen Antitrust-Rechts, RIW 1989, 171 Handelsgesellschaften in der Republik Elfenbeinküste, IWB 1989, Fach 7, Gruppe 3, S. 11 (zusammen mit Prof. Dr. Schütze) The Common Market Product Liability Directive in Germany, Comparative Law Yearbook of International Business, 1990 (Vol. 12), 25 Der Arrestgrund der Auslandsvollstreckung im Fadenkreuz des Europäischen Rechts, EuZW 1994, 242 Inlandsvermögen – Achillesferse des Arrestgrundes der Auslandsvollstreckung?, in: Festschrift für Rothoeft, 1994, S. 97 Haftungsrisiken der Vorstände, Geschäftsführer, Aufsichtsräte und Beiräte sowie deren Versicherbarkeit – Anmerkungen zu Directors' und Officers' Policen in Deutschland, DB 1995, 1013 (zusammen mit Dr. Michael Sparberg) Möglichkeiten und Grenzen der Kompetenzverlagerung auf Beiräte in der Personengesellschaft und in der GmbH, DB 1995, 2461 Einstweiliger Rechtsschutz im Auslandsrechtsverkehr, NJW 1996, 1930 Manager- und Aufsichtsratshaftung nach dem Referentenentwurf zur Änderung des AktG und des HGB, DB 1997, 261 Einstweiliger Rechtsschutz im Schiedsverfahren nach dem Entwurf zum Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz, DZWir 1997, 133

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Zu den Pflichten des Aufsichtsrats bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen gegenüber dem Vorstand der AG, DB 1997, 1117 Managerhaftung in Deutschland – ein noch überschaubares Risiko?, PHi 1998, 29 German Product Liability Law, IntBusLawyer 1998, 57 Aufsichtsräte in der Pflicht? – Die Aufsichtsratshaftung gewinnt Konturen, DB 1999, S. 885 Aufsichtsräte in Unternehmen der öffentlichen Hand – professionell genug?, DB 1999, S. 1896 Die Schiedsvereinbarung zwischen Formzwang und favor validitatis – Anmerkungen zu § 1031 ZPO, in: Festschrift für Schütze I, 1999, S. 935 Haftungsrisiken von Vorständen und Aufsichtsräten bei der Abwehr von Übernahmeversuchen, DB 2000, S. 461 Realoptionen zur Strukturierung von M&A-Transaktionen, FB 2000, 665 (zusammen mit Herrn Dr. Dr. Dietmar Ernst) Gestiegene Haftungsrisiken bei Vorständen und Aufsichtsräten – Gesetzgeber und Rechtsprechung reagieren auf Diskussion um Corporate Governance –, StuB Rechtsrundschau 1/2001, S. 48 ff. Haftung für geschönte Ad-hoc-Meldungen: Neues Risikofeld für Vorstände oder ergebnisorientierte Einzelfallrechtsprechung?, DB 2001, S. 2331 Aufgaben und Haftungsrisiken des Managements in der Krise des Unternehmens, BB 2002, S. 1105 Managerhaftung vor Schiedsgerichten, in: Festschrift für Geimer I, 2002, S. 1331 ff. Verhandlungsstrategien und vertragliche Regelungen zur Umsetzung von Realoptionen bei M&A-Transaktionen, M&A Mergers and Acquisitions Review, 12/2002, S. 627 ff. (zusammen mit Herrn Dr. Dr. Dietmar Ernst) Unternehmensführung in Krisenzeiten – Hochkonjunktur für anwaltliche und steuerliche Beratung (Interview zusammen mit Herrn Dr. Söffing), BB 2003, Heft 28/29, S. 1445 ff. Aufsichtsratshaftung vor neuen Herausforderungen – Überwachungsfehler, unternehmerische Fehlentscheidungen, Organisationsmängel und andere Risikofelder, AG 2/2004, S. 83 ff. Organhaftung nach dem Referentenentwurf des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) – Neue Risiken für Manager?, DB 2004, S. 471 ff. Corporate Governance – auch für mittelständische Unternehmen aktuell, BB 2004, Heft 27, I Aufsichtsratshaftung – Steigende Anforderungen, höhere Risiken, Der Aufsichtsrat 07-08/2004, S. 03 ff.

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Das Sitzungsprotokoll des Aufsichtsrats – unscheinbar, aber wichtig, Der Aufsichtsrat 10/2005, S. 02 Offenlegung von Vorstandsbezügen – ist nur der „gläserne Manager“ ein guter Manager?, Kurzinterview BB 2005, Heft 2, S. IV Die Europa-AG nimmt Fahrt auf, BB 2005, Heft 40, S. I Beweisaufnahme im internationalen Schiedsverfahren: Fortsetzung des transatlantischen Justizkonflikts, AG 22/2006, S. 842 ff. Professionelle Aufsichtsräte braucht das Land, Der Aufsichtsrat 05/2007, S. 65 Überwachen und gestalten – Aufsichtsräte stehen heute vor größeren Herausforderungen – haben aber auch mehr Einfluss, Der Aufsichtsrat, Sonderausgabe 01/2008, S. 02 Aktuelle Herausforderungen an die Aufsichtsratspraxis, Der Aufsichtsrat 06/2008, S. 82 ff. Die Abweichung von der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG, CCZ 4/2008, S. 141 ff. Haftungsfallen für den Aufsichtsrat, Der Aufsichtsrat, Sonderausgabe 02/2008, S. 02 Steigende Risiken angesichts neuer Herausforderungen, Finanzplatz, Nr. 3, Mai 2009, S. 13 ff. Haftungsrisiken des Aufsichtsrats und Abwehrstrategien, Der Aufsichtsrat 06/2009, S. 84 ff. Neue Haftungsrisiken für Vorstände und Aufsichtsräte aus § 57 Abs. 1 AktG und § 92 Abs. 2 Satz 3 AktG in der Neufassung des MoMiG (zusammen mit Frau Dr. Anastasia Burkhardt), AG 24/2009, S. 885 ff. Der Anwalt als Beirat im Familienunternehmen, BB 2010, Heft 7, XV Diskussionskultur im Aufsichtsrat, Der Aufsichtsrat, Sonderausgabe 01/2010, S. 02 Corporate Governance Kodex für Familienunternehmen – Neufassung nimmt gegenläufige Interessen von Unternehmen und Inhaberfamilien in den Blick, BB 2010, Heft 40, S. I Ad-hoc-Ausschüsse, Der Aufsichtsrat, 03/2011, S. 41 Aufsichtsratsvorsitzender als Chairman?, Der Aufsichtsrat, 04/2011, S. 49 Gewissensnöte im Aufsichtsrat, Der Aufsichtsrat, 10/2011, Herausgeberkommentar Unabhängigkeit im Aufsichtsrat – Diskussion mit Überhitzungserscheinungen, Der Aufsichtsrat, 05/2012, Herausgeberkommentar Aufsichtsratshaftung – Das überschätzte Risiko, Der Aufsichtsrat, 01/2013, S. 10 Schiedsgericht – Der Aufsichtsrat, 03/2013, S. 44, Das Aktuelle Stichwort

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Machtlose Aufsichtsräte? – Anmerkungen zu Vorstandsbesetzungen (nicht nur) in Staatskonzernen – Der Aufsichtsrat, 03/2014, Herausgeberkommentar Die Vergütung von Aufsichtsräten und Beiräte in Familienunternehmen, Der Aufsichtsrat, 07–08/2014, S. 108 Organhaftung und D&O-Versicherung in der schiedsgerichtlichen Praxis, in: Festschrift für Rolf A. Schütze, II, 2014, S. 633 Aufsichtsgremien in Familiengesellschaften: Die Mischung macht’s, Der Aufsichtsrat, 02/2015, S. 18 ff. Die Company-Reimbursement-Klausel in der deutschen D&O-Versicherung, in: Festschrift für Gerhard Wegen, 2015, S. 549 Zu Wert und Unwert von Written Witness Statements, in: Festschrift für Siegfried H. Elsing, 2015, S. 551 Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, Der Aufsichtsrat, 09/2015, S. 126 ff. Aufsichtsrat: Sonnengott oder Höllenjob?, Der Aufsichtsrat 10/2016, S. 137 (zusammen mit Herrn Prof. Dr. Dr. Manuel R. Theisen) Managervergütung in der Krise?, Der Aufsichtsrat 07–08/2017, Herausgeberkommentar Der Vergleich als Herausforderung für Schiedsgerichte, in: Festschrift für Reinhold Geimer II, 2017, S. 745 Keine Politik im Aufsichtsrat!, Der Aufsichtsrat 09/2017, Herausgeberkommentar Aufsichtsrat in der Krise?, Der Aufsichtsrat 11/2018, Herausgeberkommentar Vorstandshaftung vor Schiedsgerichten, Der Aufsichtsrat 02/2019, Das Aktuelle Stichwort Keine Angst vor der Haftung, Der Aufsichtsrat 09/2019, Herausgeberkommentar

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III. Buchbesprechungen, Urteilsanmerkungen Buchbesprechungen Junker, Discovery im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr, WM 1987, 1087 Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, JR 1988, 85 Heidenberger, Deutsche Parteien vor amerikanischen Gerichten, JR 1990, 87 Lionnet, Handbuch der internationalen und nationalen Schiedsgerichtsbarkeit, NJW 1998, 217 Knapp, Die US-amerikanische Produkthaftung in der Praxis der deutschen Automobilindustrie, RabelsZ 2000, 390 Weitnauer (Hrsg.), Handbuch Venture Capital, Von der Innovation bis zum Börsengang, BB 2001, 631 von Westphalen, Derivatgeschäfte, Risikomanagement und Aufsichtsratshaftung, PHi 2001, 70 Beiner, Der Vorstandsvertrag, Der Aufsichtsrat 07/08 2006, S. 22 Beiner, Der Vorstandsvertrag, ZHR 172 (2008), 115 Stein, Jonas: Kommentar zur Zivilprozessordnung, ZZP 129 (2016), 256 Federico Parise Kuhnle, Effektiver Rechtsschutz im grenzüberschreitenden Handel durch private Schiedsgerichte, ZZP 130 (2017), 393 Rings, Schiedsrichtervertrag und Schiedsrichtervergütung in der Insolvenz einer Schiedspartei, ZZP 132 (2019), 131

Urteilsanmerkungen OLG Hamm, Urteil vom 4.10.1993 – 8 U 123/93 – (Erneuter Lauf der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 ZPO), EWiR 1994, 727 KG, Beschluß vom 11.2.1997 – 1 W 3412/96 – (Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer ausländischen juristischen Person), DZWir 1997, 332 BGH, Urteil vom 9.2.1998 – II ZR 278/96 – (materielle Beschlusskontrolle bei der Kapitalherabsetzung), BB 1998, 911 BGH, Urteil vom 28.6.1999 – II ZR 272/98 – (Finanzplankredit als Kategorie des Eigenkapitalersatzrechts?), BB 1999, 1674 LG Bielefeld, Urteil vom 16.12.1999 – 15091/98 – (Haftung des Aufsichtsrates wegen Verletzung von Kontrollpflichten), BB 1999, 2633 BGH, Urteil vom 29.5.2000 – II ZR 118/98 – (Änderung der BGH-Rechtsprechung zur Kapitalerhaltung: Erstattungsanspruch entfällt nicht bei Wiederherstellung des Gesellschaftskapitals), BB 2000, 1483 BGH, Urteil vom 20.11.2006 – II ZR 279/05 – (Beratungsvertrag zwischen der Aktiengesellschaft und einer Gesellschaft, der ein Aufsichtsratsmitglied angehört), BB 2007, 232 neue rechte Seite!