Festschrift für Eberhard Vetter 9783504386306

Aktienrecht vom Feinsten! Aufgrund der Vollendung des 70. Lebensjahres von Eberhard Vetter, einem großen Freund und K

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German Pages 946 Year 2019

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Festschrift für Eberhard Vetter
 9783504386306

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Festschrift für Eberhard Vetter

FESTSCHRIFT FÜR

EBERHARD VET TER ZUM 70. GEBURTSTAG herausgegeben von

Barbara Grunewald Jens Koch Jörgen Tielmann

2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06053-4 ©2019 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Eberhard Vetter wurde am 15. September 1949 in Heidelberg geboren und wuchs in einer Unternehmerfamilie in Schwetzingen auf. Dort betrieb die mütterliche Familie unseres Jubilars bis 1978 die 1731 erstmalig erwähnte Schwanenbrauerei, die sein Urgroßvater Martin Kleinschmitt 1882 erworben hatte und die bereits 1922 in die Rechtsform der Aktiengesellschaft umgewandelt worden war. Sein Großvater Dr. Otto Kleinschmitt war deren Alleinvorstand, seine Mutter gehörte dem Aufsichtsrat an. Vielleicht sind auch deshalb die Aktiengesellschaft und ihre Corporate Governance zu einem Teil der DNA von Eberhard Vetter geworden. Nach dem 1969 in Bonn-Bad Godesberg abgelegten Abitur nahm er das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn auf, das er später an der Universität zu Köln fortsetzte. Parallel hierzu studierte er vier Semester lang Volkswirtschaftslehre. Sein erstes juristisches Staatsexamen legte er 1974 vor dem Oberlandesgericht Köln ab und das zweite Staatsexamen 1977 vor dem Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf – beide mit Prädikat. Seine Dissertation zur inneren Ordnung des Aufsichtsrats nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976, die er bei Professor Dr. Herbert Wiedemann an der Universität zu Köln schrieb, ist neben der familiären Vorprägung ein weiterer Vorbote seines späteren beruflichen und wissenschaftlichen Wirkens. Mit dieser Arbeit wurde sein Interesse am Recht des Aufsichtsrats und dessen praktischer Arbeit geweckt und frühzeitig die Grundlage für die später in Wissenschaft und Praxis vertiefte Expertise gelegt. Die aus der Beschäftigung mit dem mitbestimmten Aufsichtsrat gewonnenen Erkenntnisse waren in seinen weiteren beruflichen Stationen nicht nur für die Tätigkeit als Mitglied bzw. Vorsitzender des Aufsichtsrats verschiedener börsennotierter und kapitalmarktferner Aktiengesellschaften, sondern auch für die anwaltliche Beratung zu Fragen des Vorstands und Aufsichtsrats hilfreich. Eberhard Vetter begann seine berufliche Karriere 1977 in der zentralen Rechtsabteilung der Deutsche Bank AG in Frankfurt mit dem Arbeitsschwerpunkt Internationales Kreditgeschäft. Von 1981 bis 1988 war er sodann in der Rechtsabteilung der Klöckner Humboldt Deutz AG in Köln tätig. In seine Zuständigkeit fiel dort die rechtliche Unterstützung des internationalen Industrieanlagengeschäfts einschließlich der Betreuung der damit zwangsläufig verbundenen komplexen Schiedsverfahren im In- und Ausland. Die praktischen Erfahrungen aus dieser Tätigkeit haben Eingang gefunden in mehrere Aufsätze, Zeitschriften- und Buchbeiträge zu spezifischen Fragen des internationalen Industrieanlagengeschäfts. Dieses Praktikerwissen stand vorher weit­ gehend unter Verschluss. Eberhard Vetter machte es mit seinen Beiträgen öffentlich zugänglich. Insoweit knüpfte Eberhard Vetter an eine Familientradition an: Sein Onkel Otto Heinrich Kleinschmitt hatte 1944 mit einem Beitrag über das ihm aus seiner beruflichen Praxis vertraute Thema „Der nichtgenehmigte Bierlieferungsvertrag, ein Beitrag zum Verhältnis der Marktordnung des Reichsnährstandes zum Bürgerlichen Gesetzbuch“ promoviert. V

Vorwort

1989 wurde Eberhard Vetter zum Leiter der Rechtsabteilung der Klöckner Humboldt Deutz AG befördert und 1991 zu deren Chefsyndikus bestellt. Schon ab 1988 hatte er verschiedene Aufsichtsratsmandate in Beteiligungsgesellschaften des Konzerns im In- und Ausland inne. Im Jahre 1995 wechselte er zur CKAG Colonia Konzern AG in Köln (der späteren AXA Colonia AG) als Direktor, dem die Leitung der Rechtsabteilung der Holding oblag. Auch hier übernahm Eberhard Vetter ab 1997 verschiedene Aufsichtsratsmandate in Konzerngesellschaften. 2003 wagte unser Jubilar im Alter von 54 Jahren den Wechsel vom Unternehmensjuristen in die Anwaltschaft und trat dem Kölner Büro der heutigen Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH als Partner bei. Bei Luther ist er bis heute nicht nur seinen Mandanten, Aktiengesellschaften und deren Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, sondern auch allen Kollegen und Nachwuchsjuristen ein geschätzter Ansprechpartner für die Lösung und Vertiefung aktienrechtlicher Fragestellungen. Zudem wirkte er langjährig als Dozent bei der kanzleiinternen Ausbildung zum Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht mit. Gerade in den letzten Jahren empfahl die Kombination einer tiefen aktienrechtlichen Expertise mit einer persönlich souveränen und ausgeglichen vermittelnden Art Eberhard Vetter mehrfach als gewählten oder gerichtlich bestellten Versammlungsleiter von Hauptversammlungen – eine Rolle, mit der er sich erst jüngst in seinem Festschriftbeitrag für Alfred Bergmann mit dem Titel „Unternehmensexterne Versammlungsleiter der Hauptversammlung“ ausgiebig beschäftigt hat. Die im Anhang dokumentierte Vielzahl von Veröffentlichungen und Kommentierungen im Aktienrecht legen Zeugnis von seinem umfangreichen wissenschaftlichen Wirken ab. Seine vielfältigen Beiträge tragen zur aktienrechtlichen Diskussion und Rechtsfortentwicklung bei. So schloss sich der BGH in seiner Grundsatz-Entscheidung vom 19. Februar 2013 (Az.: II ZR 56/12) der zuvor insbesondere von Eberhard Vetter vertretenen, als Mindermeinung geltenden Auffassung (E. Vetter, ZIP 2012, 701, 707 ff.) an, dass das anfechtbar oder nichtig gewählte Aufsichtsratsmitglied für die Frage der Beschlussfassung des Aufsichtsrats unter seiner Mitwirkung wie ein Dritter zu behandeln sei. Neben seiner beruflichen Praxis und seinem publizistischen Wirken ist auch der Einsatz von Eberhard Vetter als Mitglied der ständigen Deputation des Deutschen Juris­ tentags im Zeitraum vom 1996 – 2008 hervorzuheben. Ab 2000 war er dort Schatzmeister und Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses. Beim 66. Deutschen Juristentag in Stuttgart 2006 diente er als Vorsitzender der wirtschaftsrechtlichen Abteilung zur Reform des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes. Er war zudem ­Repräsentant des Deutschen Juristentags bei den Eröffnungsveranstaltungen der Auslandsfassung der vielbeachteten Wanderausstellung „Anwalt ohne Recht“ zur Erinnerung an das Schicksal der verfolgten, vertriebenen oder ermordeten jüdischen Anwälte im Dritten Reich in USA, Kanada und Mexiko unter dem Titel: „Lawyers without rights“ in den Jahren 2004 bis 2007.

VI

Vorwort

Auch den schönen Künsten gilt das Interesse und Engagement von Eberhard Vetter. Beispielhaft hierfür sind die Brühler Schlosskonzerte. Dem Vorstand des Förderkreises Brühler Schlosskonzerte e.V. mit Sitz in Köln gehört er seit vielen Jahren an. Die Vollendung seines 70. Lebensjahres am 15. September 2019 ist für uns der freudige Anlass, Eberhard Vetter mit dieser Festschrift gebührend zu würdigen. Die überwiegende Anzahl der Beiträge dieser Festschrift entstammt dem Tätigkeitsbereich des Jubilars, dem Aktien- und Konzernrecht, oder steht damit jedenfalls in einem engen Zusammenhang. Diese Ehrung verbinden wir mit herzlichen Wünschen für weitere Schaffenskraft für seine beruflichen und wissenschaftlichen Projekte und für Lebensfreude im Kreise seiner Familie, Freunde und Kollegen. Die Herausgeber danken dem Verlag Dr. Otto Schmidt, insbesondere Herrn Rüdiger Donnerbauer und Frau Silke Schloßmacher, für die reibungslose, redaktionelle Umsetzung sowie der Mitarbeiterin der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft Frau Swana Johst für ihre organisatorische Unterstützung. Köln, Bonn und Hamburg, im September 2019 Barbara Grunewald

Jens Koch

Jörgen Tielmann

VII

Inhalt

Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Holger Altmeppen Notleidender Verlustausgleichsanspruch und Haftungsfolgen im ­Vertragskonzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gregor Bachmann Weisungsbindung der Aufsichtsratsmitglieder in der nicht mitbestimmten GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Richard Backhaus Der Prokurist als Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Walter Bayer Der Missbrauch der Vertretungsmacht unter besonderer Berücksichtigung des Handels- und Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Alfred Bergmann Entsprechende Geltung des § 179a AktG bei der KGaA? . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Christian E. Decher Strittige Related Party Transactions als Bremse für Verschmelzung und Squeeze out? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Jens Ekkenga Über die erweiterten Kontrollpflichten des Aufsichtsrats nach der CSR-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Holger Fleischer Geschäftsleiterpflichten bei der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Tim Florstedt Aktienrechtsuntreue und Aktienrechtsakzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Barbara Grunewald Die Vollmacht bei der Beschlussfassung – ein Beispiel für einen allgemeinen Teil des Rechts der Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

IX

Inhalt

Mathias Habersack Organverantwortlichkeit und rechtmäßiges Alternativverhalten . . . . . . . . . . 183 Wilhelm Happ und Frauke Möhrle Zur Erledigung des Versicherungsfalls in der D&O- Versicherung . . . . . . . . 193 Rafael Harnos Inhaltsfehler und unternehmerisches Ermessen bei Beschlüssen der ­Verwaltungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Marc Hermanns Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und ­Eigengeschäfte des Vorstands der AG – Das Verhältnis von § 181 BGB zu § 112 AktG – . . . . . . 233 Heribert Hirte und Jean Mohamed Die Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden zwischen ­Mitbestimmungsrecht und öffentlichem Recht – Ein „Werkstattbericht“ zum interdisziplinären Bezug des Aufsichtsratsrechts – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Peter Hommelhoff Selbstschutz der GmbH-Minderheit bei Bildung eines faktischen Konzerns 259 Hans-Christoph Ihrig und Jens Stadtmüller Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat in streitigen ­Verfahren – Bestandsaufnahme und ausgewählte Einzelfragen . . . . . . . . . . . 271 Alexander Kiefner Insolvenzvermeidende Wirkung des Unternehmensvertrags bei der ­Untergesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Peter Kindler Vereinfachter Bezugsrechtsausschluss und Gleichbehandlung der Aktionäre – Eine Nachlese zu BGH AG 2018, 706 („Hyrican Informationssysteme AG“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Jens Koch Die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts – eine Nachlese zum 72. Deutschen Juristentag – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Michael Kort Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens – ein Beitrag zur Auslegung von §§ 90, 109 und 111 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Gerd Krieger Abführung der Aufsichtsratsvergütung durch Gewerkschaftsmitglieder . . . 363 Peter Kunz, Katrin Chladek und Wolfgang Stenzel Interessenkonflikte im Aufsichtsrat. Ein Exkurs in das österreichische ­Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 X

Inhalt

Patrick C. Leyens Die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmens­führung durch den Aufsichtsrat (§ 289f HGB) – Betriebswirtschaftliche Forderung und rechtsdogmatische Ausfüllung – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Jan Lieder Virtuelle Versammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Hanno Merkt „Know your shareholder“ oder: Vom schleichenden Ende der Inhaberaktie 447 Sebastian Mock Die Bilanz(sonder)prüfung – zur Pflicht und zum Recht auf eine nachträgliche Prüfung von ­Unternehmensabschlüssen – . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Hans-Friedrich Müller Die Angemessenheit von Related Party Transactions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Stefan Mutter Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ­Intersexualität auf das Aktien- und GmbH-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Ulrich Noack Der digitale Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Hartmut Oetker Innere Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Walter G. Paefgen Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB) . . . . . . . 527 Andreas Pentz Zur Rechtsstellung des Aufsichtsrats in der Eigenverwaltung . . . . . . . . . . . . . 541 Marc Peters Aktuelle Fragen der Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 MAR . . . . . . . . . . . . . . . 563 Hans-Joachim Priester Grenzen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Jochem Reichert Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern und die Anwendung der Business Judgement Rule bei Interessenkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Jörg Rodewald und Susanne Abraham Nutzung sozialer Medien – namentlich eines Blogs – zur Vermarktung fachlicher Inhalte im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619

XI

Inhalt

Markus Roth Vergütung und Kosten des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Carsten Schäfer Zustimmungspflichtige Geschäfte nach BGH II ZR 24/17 . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Alexander Schall Compliance-Pflicht als Loyalitätspflicht – weist Delaware einen Weg zur ­Haftungsbegrenzung ohne Übernahme des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Matthias Schatz Ausgewählte Rechtsfragen der Venture-Capital-­Finanzierung in der ­Aktiengesellschaft – zugleich eine Betrachtung zum Verhältnis von Gesetz und ­schuldrechtlicher Nebenabrede im Aktienrecht – . . . . . . . . . 681 Jessica Schmidt Unionsrechtliche Determinanten für den Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Uwe H. Schneider Der Verdacht: Ein wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäfts­führers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 Matthias Schüppen Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre . . . . . . . . . 737 Ulrich Seibert ARUG II – Die Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Gerald Spindler Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 Robert von Steinau-Steinrück und Nils Jöris Beschäftigung und Vergütung des abberufenen GmbH- Geschäftsführers . . 785 Gregor Thüsing und Melanie Jänsch Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 Jörgen Tielmann Der Bezugspreis – Ein Beitrag zu den rechtlichen Maßgaben für seine Festsetzung – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 Jochen Vetter Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 Johannes Wertenbruch Wahrung der Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG bei Nachschieben von Anfechtungsgründen im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 XII

Inhalt

Harm Peter Westermann Zur vertraglichen Regelung des Ausscheidens eines Partners aus einer überregionalen Berufsausübungsgesellschaft, besonders bei an ihn persönlich gebundenen Mandaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Friedrich Graf von Westphalen Beschaffungsverträge der öffentlichen Hand im Spannungsfeld zwischen Vergabe- und AGB-Recht – ein wegweisendes Urteil des OLG Celle . . . . . . 887 Hartmut Wicke Kompetenzgefüge der AG und Vorstandshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907 Veröffentlichungen Eberhard Vetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919

XIII

Autorenverzeichnis

Abraham, Susanne Rechtsanwältin, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Berlin Altmeppen, Holger Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht der Universität Passau Bachmann, Gregor Dr. iur., LL.M. (Michigan), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin Backhaus, Richard Dr., LL.M. (Edinburgh), Rechtsanwalt/Syndikusrechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Head of Legal der Drägerwerk AG & Co. KGaA, ­Lübeck Bayer, Walter Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Privatversicherungsrecht und Internationales Privatrecht, Friedrich-­ Schiller-Universität Jena, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht, Richter am Thüringer OLG a.D.; Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofs Bergmann, Alfred Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Honorarprofessor an der ­Johannes Gutenberg Universität Mainz Chladek, Katrin Mag., Rechtsanwältin, Kunz Wallentin Rechtsanwälte, Wien Decher, Christian Dr., Rechtsanwalt und Of Counsel, Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Frankfurt/M. Ekkenga, Jens Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Justus-Liebig-Universität Gießen, Counsel Covington Burling LLP, Frankfurt a.M., vereidigter Buchprüfer Fleischer, Holger Dr. iur., Dr. h.c., Dipl.-Kfm., LL.M. (Michigan), Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, Affiliate Professor an der Bucerius Law School

XV

Autorenverzeichnis

Florstedt, Tim Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht sowie Bankrecht, EBS Universität Wiesbaden Grunewald, Barbara Emeritierte Professorin an der Universität zu Köln, Direktorin des Instituts für ­Gesellschaftsrecht Habersack, Mathias Dr., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Happ, Wilhelm Dr., Rechtsanwalt und ehem. Partner von Möhrle Happ Luther, Hamburg Harnos, Rafael Dr., Habilitand am Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Hermanns, Marc Dr., Notar in Köln Hirte, Heribert Dr., LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg, Mitglied des Deutschen Bundestages, stv. Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht Hommelhoff, Peter Dr. iur, Dr. h.c. mult. (Krakau, Montpellier, Hochschule für Jüdische Studien), Professor, em. Ordinarius der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Altrektor, Richter am Oberlandesgericht a.D. in Hamm Ihrig, Hans-Christoph Dr. iur. utr., Rechtsanwalt, Partner bei Ihrig & Anderson Rechtsanwälte, Mannheim, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Jänsch, Melanie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn (Lehrstuhl Thüsing) Jöris, Nils Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Berlin Kiefner, Alexander Dr., Rechtsanwalt und Partner, White & Case LLP, Frankfurt/Main

XVI

Autorenverzeichnis

Kindler, Peter Dr. iur. Dr. h.c. (Università del Molise), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der LMU München, Leiter der Forschungsstelle für Italienisches Recht Koch, Jens Dr., Universitätsprofessor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Kort, Michael Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Arbeitsrecht der Universität Augsburg Krieger, Gerd Dr., Rechtsanwalt, Hengeler Mueller, Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Kunz, Peter Dr., Rechtsanwalt und Gründungspartner, Kunz Wallentin Rechtsanwälte, Wien Leyens, Patrick C. Dr., LL.M. (London), Universitätsprofessor (ehrenamtl.), Rotterdam Institute of Law and Economics, School of Law, Erasmus University Rotterdam/Lehrstuhlvertreter, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg Lieder, Jan Dr., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor, Direktor der Abteilung Wirtschaftsrecht am Institut für Wirtschaftsrecht, Arbeits- und Sozialrecht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Richter am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht Merkt, Hanno Dr., LL.M. (Univ. of Chicago), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht, Abteilung II, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Richter am Oberlandesgericht Karls­ ruhe im zweiten Hauptamt Mock, Sebastian Dr., LL.M. (NYU), Universitätsprofessor, Attorney-at-Law (New York), Institut für Unternehmensrecht, Department für Privatrecht, Wirtschaftsuniversität Wien Mohamed, Jean Dr., zum Zeitpunkt der Erstellung des Beitrages wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht (geschäftsführender Direktor Heribert Hirte) der Universität Hamburg

XVII

Autorenverzeichnis

Möhrle, Frauke Dr., Rechtsanwältin und Fachanwältin für Handels- und Gesellschaftsrecht, Partnerin, Möhrle Happ Luther, Hamburg Müller, Hans-Friedrich Dr., LL.M. (Bristol), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Trier, Richter am OLG Koblenz Mutter, Stefan Dr. iur., Rechtsanwalt und Partner, Mutter & Kruchen Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Düsseldorf Noack, Ulrich Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Oetker, Hartmut Dr., Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Wirtschaftsrecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie Richter am Thüringer Oberlandesgericht Paefgen, Walter G. Dr., Außerplanmäßiger Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Pentz, Andreas Dr. iur., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Partner der Rechtsanwaltskanzlei Rowedder Zimmermann Hass, Honorarprofessor an der Universität Mannheim Peters, Marc Dr., LL.M. oec., Rechtsanwalt und Counsel, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln Priester, Hans-Joachim Dr., Notar a.D., Honorarprofessor, Hamburg Reichert, Jochem Dr., Rechtsanwalt und Partner, Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Rodewald, Jörg Dr., Dipl. Kfm., Rechtsanwalt und Partner Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Berlin, Honorarprofessor an der Universität Potsdam Roth, Markus Dr., Universitätsprofessor an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Rechtswissenschaften, Institut für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht

XVIII

Autorenverzeichnis

Schäfer, Carsten Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Unternehmensrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Mannheim Schall, Alexander Dr., M.Jur. (Oxford), Universitätsprofessor, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Unternehmensrecht sowie Rechtsvergleichung an der Leuphana Law School, Leuphana Universität Lüneburg Schatz, Matthias Dr., LL.M. (Harvard), Attorney-at-Law (NY), Rechtsanwalt und Partner, Schnittker Möllmann Partners, Köln Schmidt, Jessica Dr. iur., LL.M. (Nottingham), Universitätsprofessorin, Inhaberin des Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches, europäisches und internationales Unternehmensund Kapitalmarktrecht (Zivilrecht I) an der Universität Bayreuth Schneider, Uwe H. Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Schüppen, Matthias Dr. iur., Diplom-Ökonom, Honorarprofessor der Universität Hohenheim, Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Graf Kanitz, Schüppen & Partner, Stuttgart/München Seibert, Ulrich Dr., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf Spindler, Gerald Dr. iur., Dipl. Oek., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen Stadtmüller, Jens Rechtsanwalt und Partner, Ihrig & Anderson Rechtsanwälte, Mannheim von Steinau-Steinrück, Robert Dr., Rechtsanwalt und Partner, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Berlin, Honorarprofessor, Lehrauftrag an der Universität Potsdam Stenzel, Wolfgang LL.M. (WU), Rechtsanwaltsanwärter, Kunz Wallentin Rechtsanwälte, Wien

XIX

Autorenverzeichnis

Thüsing, Gregor Dr., LL.M. (Harvard), Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn Tielmann, Jörgen Dr. iur., LL.M. (Manchester), Rechtsanwalt und Partner der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Hamburg Vetter, Jochen Dr. iur., Dipl.-Ökonom, Rechtsanwalt und Partner der Hengeler Mueller Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, München, und Honorarprofessor an der Universität zu Köln Wertenbruch, Johannes Dr., Universitätsprofessor, Institut für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht, Philipps-Universität Marburg Westermann, Harm Peter Dr. jur., Dres. jur. h. c., Universitätsprofessor (em.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Rechtsanwalt und Beiratsmitglied bei der SZA Schilling, Zutt und Anschütz, Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Mannheim Westphalen, Friedrich Graf von Dr., Rechtsanwalt bei Friedrich Graf von Westphalen & Partner, Köln, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld Wicke, Hartmut Dr., LL.M. (Univ. Stellenbosch), Notar, Notare Wicke Herrler, München, Honorarprofessor für Unternehmensrecht und Recht der privaten Vermögensplanung sowie Vertragsgestaltung an der Ludwig-Maximilians-Universität München

XX

Holger Altmeppen

Notleidender Verlustausgleichsanspruch und Haftungsfolgen im Vertragskonzern Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Verlustausgleichspflicht und Kapital­ erhaltung 1. Meinungsstand a) Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs entbehrlich b) Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs als Geschäftsgrundlage der Pflichten der vertraglich konzer­ nierten Gesellschaft 2. Stellungnahme a) Zur Grenze der Existenzgefährdung

b) Zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vertragspflichten der Tochtergesellschaft und ihrem Verlustausgleichsanspruch 3. Unzulässigkeit der Stundung eines nicht vollwertigen Verlustausgleichsanspruchs III. Die Haftung der Geschäftsleiter bei ­Insolvenz der Konzernmutter 1. Haftung der Geschäftsleiter der Tochter 2. Die Haftung des Geschäftsleiters der Mutter IV. Resümee

I. Einleitung Der Vertragskonzern hat seine historischen Wurzeln in der steuerlichen Organschaft.1 Der Verlustausgleichsanspruch war schon nach der Rechtsprechung des RFH das zentrale Merkmal dieser Rechtsfigur2 und ist seit dem AktG von 1965 zwingender Inhalt eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrages (§§  291, 302 AktG). Der Anspruch soll die abhängige Gesellschaft vor der Auszehrung ihres Vermögens schützen. Werden Unternehmensverträge i.S.d. § 291 AktG praktiziert, obwohl der Verlustausgleichsanspruch nicht uneingeschränkt vollwertig ist, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen. Ist die Tochtergesellschaft noch an den Vertrag gebunden, wenn sich Solvenzprobleme der Muttergesellschaft abzeichnen? Darf der Anspruch bei Liquiditätsproblemen der Mutter gestundet werden? Welche Informationspflichten bestehen im Hinblick auf diesen Krisenfall? Wer haftet, wenn die Tochtergesellschaft am Ende mit ihrem Verlustausgleichsanspruch ganz oder teilweise ausfällt? Der Jubilar ist Spezialist des Gesellschaftsrechts und namentlich auch des Konzernrechts. Er berät deutsche und internationale Großunternehmen, die so gut wie immer in einem Konzern organisiert sind. Eine Klärung der bis auf den heutigen Tag sehr 1 Näher Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, Einl. §§ 291 ff. Rz. 10 ff.; Altmeppen in Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel Bd. 2, 2007, S. 1027 Rz. 5 f. 2 RFHE 54, 102 m.w.N.

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unterschiedlich bewerteten Rechtslage im Fall einer (drohenden) Krise der Konzernmutter ist geeignet, den Jubilar zu interessieren.

II. Verlustausgleichspflicht und Kapitalerhaltung 1. Meinungsstand a) Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs entbehrlich Bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrages sind die Kapitalerhaltungsregeln in der AG und GmbH außer Kraft gesetzt (§§  57 Abs.  1 S.  3, 1. Alt.; 291 Abs. 3 AktG; § 30 Abs. 1 S. 2, 1. Alt. GmbHG). Die Annahme, dass dies im Interesse des Schutzes der Tochtergesellschaft, insbesondere ihrer außenstehenden Gesellschafter und Gläubiger nur gilt, wenn der Verlustausgleichsanspruch (§  302 AktG) uneingeschränkt vollwertig ist, scheint selbstverständlich zu sein, entspricht aber keineswegs herrschender Meinung. Zahlreiche Autoren argumentieren, die Aufhebung der Kapitalschutzregeln bei Bestehen eines Beherrschungs- und/oder Gewinn­ abführungsvertrages könne nicht von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs abhängen, wie sich insbesondere aus der 2. Alt. der relevanten gesetzlichen Regelung ergebe. Danach kommt es nur dann auf Vollwertigkeit eines Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruchs der Kapitalgesellschaft gegen ihren Gesellschafter für die erbrachte Leistung an, wenn kein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag besteht (§ 57 Abs. 1 S. 3, 2. Alt. AktG, § 30 Abs. 1 S. 2, 2. Alt. GmbHG). Der Umkehrschluss aus dem Gesetzestext scheint diesen Autoren zu genügen.3 Seine Plausibilität soll sich daraus ergeben, dass es dem Gesetzgeber ein Leichtes gewesen wäre, die Aufhebung der Kapitalbindungsregeln in der 1. Alt. von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs abhängig zu machen, so wie in der 2. Alt. der genannten Vorschrift die Vollwertigkeit des Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruchs verlangt ist.4 Weiter wird argumentiert, die Freistellungsnorm hätte im Falle der 1. Alt., also bei Bestehen von Beherrschungs- oder Gewinnabführungsverträgen, praktisch überhaupt keinen Anwendungsbereich, weil bei Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs in aller Regel die Befreiung schon aus der 2. Alt. abzuleiten wäre.5 Endlich soll sich aus § 291 Abs. 3 AktG ergeben, dass der gesamte § 57 im Vertragskonzern nicht anzuwenden sei, „… einschließlich der Anforderungen nach Abs. 1 S. 3 3 Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 30 GmbHG Rz. 62: „Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs … ist für die Privilegierung nicht vorausgesetzt“; so auch Habersack in UHL, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 30 GmbHG Rz. 89; Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 30 GmbHG Rz. 270; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 30 GmbHG Rz. 48; Habersack in FS Schaumburg, 2009, S. 1291, 1298  f.; Bayer in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, §  57 AktG Rz.  135; Fleischer in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 57 AktG Rz. 37 jew. m.w.N. 4 Habersack in UHL, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 89. 5 Fleischer in K. Schmidt/Lutter, o. Fn. 3, § 57 AktG Rz. 37; Bayer in MünchKomm. AktG, o. Fn. 3, § 57 AktG Rz. 135; Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 270.

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der Vorschrift an die Vollwertigkeit von Rückgewähr- oder Gegenleistungsansprüchen…“.6 Das in der Sache ausschlaggebende Argument der h.M. soll ein historisches sein, das zugleich teleologisch gerechtfertigt wird: Eine Vollwertigkeitsprüfung soll nach dem Willen des Reformgesetzgebers des MoMiG gerade nicht erforderlich sein, weil sie „entgegen dem Willen des Reformgesetzgebers … den Leistungsaustausch im Vertragskonzern erheblich erschweren“ würde.7 Schon das Gebot der Rechtssicherheit verlange die Anerkennung des Gesetzeswortlauts, mit dem auch ein suspendierendes Leistungsverweigerungsrecht der Tochter wegen voraussichtlicher Ausgleichsunfähigkeit des herrschenden Unternehmens vor einer fristlosen Kündigung des Unternehmensvertrages nicht vereinbar sei.8 Andererseits soll der Geschäftsleiter der abhängigen Gesellschaft berechtigt und verpflichtet sein, fortlaufend zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung des Unternehmensvertrages nach § 297 AktG eingetreten seien, weil das herrschende Unternehmen voraussichtlich nicht dazu in der Lage sein werde, den Verlustausgleich an die Gesellschaft zu leisten.9 Eine Grenze des Weisungsrechts ergebe sich im Übrigen nur bei existenzgefährdenden Weisungen.10 Teilweise wird sogar das geleugnet, weil der Wortlaut des § 308 AktG lediglich die Förderung des Konzern­ interesses, nicht den Erhalt der Existenzfähigkeit der abhängigen Gesellschaft im Sinne einer absoluten Grenze verlange. In den Gesetzesmaterialien werde mehrfach auf die Existenzgefährdung des Beherrschungsvertrages für die abhängige Gesellschaft hingewiesen. Die Einheit des Vertragskonzerns gestatte es bisweilen, „… einzelne Glieder zu opfern, wenn dies erforderlich scheint, um andere zu retten.“11

6 Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 57 AktG Rz. 136. 7 So ausdrücklich Fleischer in K. Schmidt/Lutter, o. Fn.  3, §  57 AktG Rz.  37; vgl. auch Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, o. Fn. 6, § 57 AktG Rz. 136: „… Durchführung von Unternehmensverträgen mit nicht hinnehmbarer Rechtsunsicherheit belastet, wenn die Geschäftsleitung der Gesellschaft bei jedem Geschäft mit dem anderen Vertragsteil dessen voraussichtliche Solvenz prüfen und bei Zweifeln den Geschäftsabschluss auch entgegen einer Weisung verweigern dürfte“. 8 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 48; Fleischer in Henssler/ Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 30 GmbHG Rz. 8; so wohl auch OLG Frankfurt a.M., NZI 2014, 363, 365. 9 Fleischer in K. Schmidt/Lutter, o. Fn. 3, § 57 AktG Rz. 37; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 49; abl. Habetha, ZIP 2017, 652, 654: Keine Verpflichtung zur Ermittlung der Vermögenssituation der Obergesellschaft. 10 Fleischer in K. Schmidt/Lutter, o. Fn. 3, § 57 AktG Rz. 37; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/ Stilz, o. Fn. 6, § 57 AktG Rz. 136; Bayer in MünchKomm. AktG, o. Fn. 3, § 57 AktG Rz. 136; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, o. Fn.  3, §  30 GmbHG Rz.  49; Hirte in GroßKomm AktG, 2013, § 308 AktG Rz. 42; OLG Düsseldorf, ZIP 1990, 1333, 1338 jew. m.w.N. 11 Koppensteiner in Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2004, § 308 AktG Rz. 50.

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b) Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs als Geschäftsgrundlage der Pflichten der vertraglich konzernierten Gesellschaft Schon vor 20 Jahren wurde umgekehrt vertreten, dass ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag gar nicht praktiziert werden dürfe, wenn der Verlustausgleichsanspruch der abhängigen Gesellschaft nicht unzweifelhaft vollwertig ist.12 Das entscheidende Argument lautete, dass die Verlustausgleichspflicht eine Überlebensgarantie für die Tochtergesellschaft begründen solle, die aber nicht mehr funktioniere, sobald der Verlustausgleichsanspruch nicht mehr vollwertig oder dies zumindest möglich ist.13 Andere gewähren der abhängigen Gesellschaft ein Leistungsverwei­ gerungsrecht (§§  273, 320 BGB), wenn das herrschende Unternehmen den Verlustausgleich nicht leistet.14 Schließlich wird unter Hinweis auf den Grundgedanken der Verlustausgleichspflicht darauf hingewiesen, der Leistungsaustausch könne nach allgemeinen Kapitalerhaltungsregeln unzulässig sein und den Geschäftsleiter der Tochtergesellschaft nach diesen Regeln (§ 43 Abs. 3 GmbHG; § 93 Abs. 3 Nr. 1 AktG) in die Haftung bringen, wenn das herrschende Unternehmen voraussichtlich nicht dazu in der Lage sei, seiner Verpflichtung auf Verlustausgleich vollständig nachzukommen.15 2. Stellungnahme a) Zur Grenze der Existenzgefährdung Beginnend mit der am weitesten gehenden These, nach welcher das vertraglich herrschende Unternehmen bisweilen die Konzerntochter „opfern“ dürfe, wenn das Konzerninteresse dieses Opfer als vertretbar erscheinen lasse, trifft die Behauptung nicht zu, dass der Gesetzgeber dies in den Gesetzesmaterialien erkennbar für zulässig er-

12 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2000, § 302 AktG Rz. 38. 13 S. Altmeppen, o. Fn. 12; wohl zust. Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 30 GmbHG Rz. 45; Verse in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 30 GmbHG Rz. 75; Langenbucher in K. Schmidt/Lutter, o. Fn. 3, § 291 AktG Rz. 71 „… Nur so lange als unkritisch anzusehen wie die Vollwertigkeit des Verlustausgleichs nach § 302 AktG gegeben ist“; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 57 AktG Rz. 21: „Vollwertigkeit zu fordern“; Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 287: „… Privilegierungen … unter dem Vorbehalt …, dass der Verlustausgleichsanspruch … gesichert ist“; Veil in Spindler/Stilz, o. Fn. 6, § 308 AktG Rz. 33: „Vorstand … verpflichtet, einer nachteiligen Weisung die Gefolgschaft zu verweigern.“; Schluck-Amend in FS Marsch-Barner, 2018, S. 491, 492. 14 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 308 AktG Rz. 69; Veil in Spindler/Stilz, o. Fn. 6, § 308 AktG Rz. 32 Fn. 90 jew. m.w.N. 15 Fastrich in Baumbach/Hueck, o. Fn. 13, § 30 GmbHG Rz. 45; Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, §  30 GmbHG Rz.  14; Thiessen in Bork/Schaefer, GmbHG, 3.  Aufl. 2015, §  30 GmbHG Rz. 116 f.; anders Ekkenga in MünchKomm. GmbHG, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 270; Habersack in UHL, o. Fn. 3, § 30 GmbHG Rz. 89 jew. m.w.N.: „Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag hinreichende Legitimation für die Außerkraftsetzung des § 30 Abs. 1 S. 1…“; davon unberührt bleibe „Pflicht der GmbH-Geschäftsführer, die Solvenz und Liquidität des anderen Vertragsteils fortwährend zu prüfen…“.

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achtet habe.16 Die entsprechenden Passagen in der Regierungsbegründung beziehen sich ausschließlich auf die Existenzgefährdung im Zeitraum nach Beendigung des Vertragskonzerns. Der Gesetzgeber hat die naheliegende Gefahr gesehen, dass die vertraglich konzernierte Gesellschaft nach Vertragsbeendigung möglicherweise nicht dazu im Stande sein wird, ohne die Überlebenshilfe in Gestalt des Verlustausgleichs, der ihr während der Vertragsdauer garantiert war, bestehen zu können.17 Daraus zu schließen, dass der Gesetzgeber schon während des bestehenden Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages eine „Opferung“ der Konzerntochter für möglich erachtet habe, ist methodisch nicht haltbar. Einzuräumen ist, dass die Muttergesellschaft bisweilen in ihrer eigenen Existenz gefährdet sein kann, wenn und weil sie den Verlustausgleichsanspruch der Tochtergesellschaft bedienen muss. Unterstellt man, dass die Mutter in dieser Lage aufgrund des Beherrschungsvertrages dazu befugt sei, die Tochtergesellschaft „insolvent werden zu lassen, wenn dies für die weitere Existenz anderer Konzernmitglieder erforderlich und verhältnismäßig ist“,18 könnte das Weisungsrecht nicht von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs abhängig sein. Die umgekehrte These lautet, dass der Mutter das Recht abgeht, ihre vertraglich konzernierte Tochtergesellschaft „insolvent werden zu lassen“, aus welchen verständlichen Motiven auch immer. Dann aber muss das Weisungsrecht von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs abhängig sein. Die dies bestreitende Lehre geht denn auch konsequent dahin, dass es nur die von ihr befürwortete Alternative gebe, der Muttergesellschaft das Recht zuzuerkennen, die vertraglich konzernierte Tochtergesellschaft notfalls „opfern“ zu dürfen, um die eigene Existenz oder diejenige anderer Konzernmitglieder zu retten.19 Dem steht aber entgegen, dass die Gläubiger der Tochtergesellschaft in ihrem Vertrauen darauf, ihre Schuldnerin werde nicht „geopfert“, unbedingten Vorrang vor dem Interesse der Gläubiger der Muttergesellschaft oder anderer Konzerngesellschaften haben, sich auf Kosten der den Gläubigern der Tochtergesellschaft gewidmeten Masse befriedigen zu können. Kurzum: Der Vertragskonzern ermächtigt die Muttergesellschaft gewiss nicht dazu, ihren Gläubigern den Vorrang vor denen ihrer Tochtergesellschaft einzuräumen, es verhält sich umgekehrt: Die Muttergesellschaft muss die Masse der Tochtergesellschaft unangetastet lassen und sogar eine besondere Rücklage bilden (§§ 300 ff. AktG). Jede andere Betrachtungsweise stellt die Dinge auf den Kopf.

16 So aber Koppensteiner in Kölner Kommentar, o. Fn. 11, § 308 AktG Rz. 50 mit Hinweis auf RegBegr Kropff, AktG 1965, zu § 303 und 305, S. 393, 397. 17 RegBegr zu §§ 303, 305 AktG bei Kropff, AktG 1965, S. 397: „… bei Beendigung des Vertrages nicht mehr fähig, … auf eigenen Füßen zu stehen.“ S. 393: „… zweifelhaft … ob … noch lebensfähig.“ 18 So Koppensteiner in Kölner Kommentar, o. Fn. 11, § 308 AktG Rz. 49. 19 Koppensteiner in Kölner Kommentar, o. Fn. 11, § 308 AktG Rz. 49 f.

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b) Zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vertragspflichten der Tochtergesellschaft und ihrem Verlustausgleichsanspruch aa) Historische Auslegung Der Gesetzgeber des MoMiG soll die Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs (§ 302 AktG) verbreiteter Ansicht nach nicht zur Voraussetzung der Vertragspflichten der abhängigen Gesellschaft (§§ 291, 301, 308 AktG) gemacht haben.20 Es soll dem Willen des Gesetzgebers entsprochen haben, bis zur Grenze existenzgefährdender Weisungen die Vollziehung des Vertragskonzerns in das Ermessen der Muttergesellschaft zu legen, auch wenn ihre Verbindlichkeit aus § 302 AktG nicht uneingeschränkt vollwertig ist, weil eine derartige Prüfung zu Rechtsunsicherheiten und anderweitigen praktischen Durchführungsproblemen führe.21 Auch zu dieser Lehrmeinung (zu der offenbar auch das OLG Frankfurt a.M. tendiert22) bestätigt sich, dass die Berufung auf die Gesetzesmaterialien ohne Fundierung ist.23 Nicht eine einzige Passage in den Gesetzesmaterialien des MoMiG spricht für diese Meinung. In Wirklichkeit ist von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs in den gesamten Gesetzesmaterialien gar nicht die Rede. Dort wird nur davon gehandelt, dass der Gesetzgeber zur bilanziellen Betrachtungsweise zurückkehren wolle. Deshalb genüge dem Kapitalschutz ein vollwertiger Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den eine Leistung empfangenden Gesellschafter: „Das Stammkapital ist eine bilanzielle Ausschüttungssperre. Der Entwurf kehrt daher eindeutig zum bilanziellen Denken zurück. Für die Berechnung gelten die allgemeinen Bilanzierungsgrundsätze. Bei einer Leistung, die durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückerstattungsanspruch gedeckt wird, wird danach ein Aktivtausch vorgenommen. Die Durchsetzbarkeit der Forderung ist Teil der Definition des Begriffs der Vollwertigkeit und bedarf daher keiner besonderen Erwähnung. Spätere, nicht vorhersehbare negative Entwicklungen der Forderung gegen den Gesellschafter und bilanzielle Abwertungen führen nicht nachträglich zu einer verbotenen Auszahlung.“24

Der Verlustausgleichsanspruch wird noch nicht einmal im Zusammenhang mit der im Gesetzgebungsverfahren erfolgten Korrektur erwähnt, nach der die Ausnahme vom Kapitalerhaltungsverbot nicht auf Leistungen zwischen den Vertragsteilen beschränkt sein soll. Zur Begründung dieser Korrektur wurde ausgeführt, es gehe oft „um Leistungen an Dritte auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens, beispielsweise an andere Konzernunternehmen oder an Unternehmen, die mit dem herrschenden Unternehmen oder anderen Konzernunternehmen in Geschäftsverbindungen stehen“.25 20 S. die Nachw. o. Fn. 3 ff. 21 S. die Nachw. o. Fn. 7 f. 22 OLG Frankfurt v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363. 23 S. zur Existenzgefährdung bereits die Nachw. Fn. 16 f. 24 RegBegr MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 41. 25 BT-Drucks. 16/9737 S. 56: „Die neue Formulierung ‚bei Bestehen‘ stellt sicher, dass auch solche Leistungen vom Verbot der Einlagenrückgewähr freigestellt sind.“

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Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich danach nur, dass der Gesetzgeber die Aufhebung der Kapitalerhaltungsregeln im Vertragskonzern offenkundig im Zusammenhang mit dem Verlustausgleichsanspruch gesehen hat, der freilich gar nicht erwähnt wird, geschweige denn der Fall seiner mangelnden Vollwertigkeit. Wäre es nur um den Leistungsaustausch zwischen den Vertragsparteien gegangen, so wie in der ursprünglichen Entwurfsregelung, hätte der Gesetzgeber nach seiner Konzeption aber entweder auf die Vollwertigkeit des Gegenleistungsanspruchs aus dem Austauschgeschäft oder auf die Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs i.S.d. § 302 AktG abstellen müssen, weil dies nach den Grundsätzen der bilanziellen Betrachtungsweise geboten gewesen wäre. Insbesondere kann der Gesetzgeber nach seiner Prämisse (bilanzielle Betrachtungsweise) nicht angenommen haben, die Mutter sei im Vertragskonzern dazu berechtigt, Leistungen von der Tochter zu beziehen, ohne dass dieser jeweils ein vollwertiger Gegenleistungs- oder aber ein vollwertiger Verlustausgleichsanspruch am Ende der Abrechnungsperiode i.S.d. Pauschalausgleichs zusteht. bb) Grammatische Auslegung Von dem angeblichen historischen Argument der herrschenden Meinung26 bleibt nach allem nur das grammatische Argument übrig, dass die Befreiung von den Kapitalerhaltungsregeln in der 1. Alt. keine Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs verlangt, in der 2. Alt. jedoch die Vollwertigkeit von Gegenleistungs- oder Rückgewähransprüchen gegen den Gesellschafter, der eine Leistung empfangen hat (§§ 57 Abs. 1 S. 3 AktG, 30 Abs. 1 S. 2 GmbHG). Das grammatische Argument der herrschenden Meinung läuft insoweit auf den Umkehrschluss hinaus, der Gesetzgeber hätte die Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs in der 1. Alt. der Befreiung hervorgehoben, wenn er ihr Bedeutung beigemessen hätte, so wie in der 2. Alt. betreffs des Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruchs. Das ausschließlich am Wortlaut orientierte argumentum e contrario ist aber generell schwach, wenn es nicht durch andere canones der Gesetzesauslegung gestärkt wird.27 Zu unserer Frage ist die Schwäche des argumentum e contrario evident, weil der Gesetzeswortlaut – ebenso wie die Gesetzesmaterialien – gar nicht von dem Verlustausgleichsanspruch der Gesellschaft i.S.d. § 302 AktG handelt. Wird aber der Anspruch im Gesetzestext überhaupt nicht erwähnt, kann es nicht überraschen, wenn der Gesetzgeber zugleich darauf verzichtet hat, Anforderungen an diesen Anspruch in den Gesetzestext aufzunehmen. Die im Umkehrschluss aufgestellte Behauptung, der Gesetzgeber habe keine Anforderungen an diesen im Gesetzestext gar nicht erwähnten Anspruch gehabt, geht dann ins Leere, weil der Gesetzeswortlaut nur besagt, dass der Gesetzgeber im Vertragskonzern auf vollwertige Ansprüche der Gesellschaft gegen ihren Gesellschafter oder Dritte im Zuge von Austauschverträgen verzichtet.

26 Dazu Fn. 7. 27 Statt aller Gustav Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Bd. II/1, dogmengeschichtliche Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 1951, S. 169 ff., 173.

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Ganz fehl geht die Deutung, die 1. Alt. habe keinen Anwendungsbereich, wenn man die Befreiung von einer Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs der Gesellschaft abhängig mache.28 Dies zeigt insbesondere die nach der Gesetzeskorrektur erfasste Fallgruppe des Leistungsaustauschs zwischen der Gesellschaft und anderen, am Vertragskonzern nicht beteiligten Unternehmen: Die Befreiung von den Kapitalerhaltungsregeln hängt in diesen Fällen nicht davon ab, dass die Ansprüche gegen die Vertragspartner vollwertig sind, weil deren etwaige Insolvenz nur dazu führt, dass sich der Verlustausgleichsanspruch der vertraglich konzernierten Tochtergesellschaft gegen die Mutter zu gegebener Zeit entsprechend erhöht. Das verlustreiche Geschäft mit einem anderen konzernangehörigen Unternehmen geht ohnehin ausschließlich zulasten der Muttergesellschaft, die den Schaden der Tochter als Folge ihres Ausfalls mit Gegenleistungs- oder Rückgewähransprüchen gegen ein anderes konzernangehöriges Unternehmen reguliert, indem sie den Verlust der Tochter am Ende der Abrechnungsperiode pauschal ausgleicht. Das genügt in der Tat auch den Grundsätzen der Kapitalerhaltung, immer vorausgesetzt, der Ausgleich erfolgt tatsächlich in der geschuldeten Weise (§ 302 AktG). An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass auch das grammatische Argument der herrschenden Meinung i.S.d. argumentum e contrario im Ansatz untauglich ist. Dahingestellt bleibe, ob der Gesetzgeber besser daran getan hätte, die erste Variante der Frei­ stellungsregelung zu präzisieren, um den begrifflich-positivistischen Auslegungsstreit um die Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs im Ansatz zu vermeiden. cc) Teleologische Auslegung Das stärkste Argument der herrschenden Meinung ist ein teleologisches: Der Vertragskonzern soll nicht mehr funktionieren, wenn die abhängige Gesellschaft einer Weisung den (drohenden) Ausfall betreffs des nicht vollwertigen Verlustausgleichsanspruchs soll entgegenhalten können. Die Annahme, das herrschende Unternehmen könne ohnehin dazu anweisen, diese Bedenken beiseite zu lassen,29 ist freilich eine methodisch unzulässige petitio principii, solange nicht geklärt ist, ob die Vertragspflichten der Tochter gerade von der Vollwertigkeit ihres Verlustausgleichsanspruchs abhängen. Unstreitig muss der Geschäftsleiter der Tochter die Weisung zwar sogar dann befolgen, wenn sie mangels eines entsprechenden Konzerninteresses rechtswidrig, dies aber nicht offenkundig ist (§ 308 Abs. 2 S. 2 AktG). Daraus ist aber nicht zu schließen, die Weisungsgebundenheit ende erst dann, wenn „… offensichtlich ist, dass das herrschende Unternehmen seine Verlustübernahmepflicht nicht wird erfüllen können“.30 Denn die evidente Unzulässigkeit einer Weisung als Grenze der Weisungsgebundenheit ist ein Spezifikum der Abwägung zwischen einer Schädigung der abhängigen ­Gesellschaft und dem diese Schädigung kompensierender Konzerninteresse: Die Ge28 Dazu die Nachw. Fn. 5. 29 So Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, o. Fn. 6, § 57 AktG Rz. 136. 30 So Pöschke, ZGR 2015, 550, 566 mit Fn. 74; ähnlich Grigoleit/Rachlitz in Grigoleit, AktG, 2013, § 57 AktG Rz. 4: „Wertlosigkeit muss sicher und offenkundig sein“.

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wichtung der konfligierenden Interessen der abhängigen Gesellschaft und des Konzerns i.S. einer wirtschaftlichen Einheit der verbundenen Unternehmen soll nicht der Geschäftsleiter der abhängigen Gesellschaft, sondern soll der Geschäftsleiter der Konzernspitze vornehmen.31 Die These, dieser Aspekt dürfe auf den Grad der Wahrscheinlichkeit der Insolvenz der Muttergesellschaft übertragen werden, ist unschlüssig. Unzweifelhaft richtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass der Geschäftsleiter der Tochter umfassende Aufklärung zu den Umständen verlangen kann, die für die Beurteilung der Solvenz der Mutter eine Rolle spielen.32 Doch die Vorfrage lautet, ob die vertragstypischen Pflichten der Tochter von der Solvenz der Mutter abhängen. Bei genauer Betrachtung ist dies selbstverständlich. Die herrschende Meinung verstellt sich den Blick auf das evident richtige Ergebnis durch ihre Unterscheidung zwischen gewöhnlichen nachteiligen und existenzgefährdenden Weisungen:33 Es gibt überhaupt keine existenzgefährdenden Weisungen, solange die Muttergesellschaft solvent ist. Insbesondere ergibt sich aus der Verlustausgleichspflicht die Existenzgarantie für die Tochtergesellschaft.34 Aus der Verlustausgleichspflicht folgt auch ein Anspruch der Tochter auf aconto-Zahlungen während der Abrechnungsperiode, wenn sie erforderlich sind, um den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, einmal abgesehen davon, dass sich die Tochter Liquidität am Kapitalmarkt jederzeit unter Hinweis auf ihren vollwertigen Verlustausgleichsanspruch am Jahresende beschaffen kann.35 Ein weiteres Scheinproblem der herrschenden Meinung kreist um die Frage, ob sich der Geschäftsleiter der Tochter womöglich weigern könne, eine Weisung zu befolgen, indem er zu Unrecht (drohende) Insolvenz der Mutter am Ende der Rechnungsperiode entgegenhalte.36 Das kommt in der Praxis ohnehin nie vor. Sollte der Geschäftsleiter ausnahmsweise zu Unrecht Solvenzprobleme der Mutter zum Anlass nehmen, die Vertragspflichten der Tochter zu leugnen, bleibt der Mutter neben personellen Sanktionen (§ 84 Abs. 3 AktG; § 38 GmbHG) die gerichtliche Durchsetzung. Zur Beweislast gilt, dass die Weigerung, eine vertragliche Leistungspflicht zu erfüllen, nach allgemeinen Grundsätzen nicht mit einer ins Blaue hinein aufgestellten Behauptung zur mangelnden Solvenz des Vertragspartners zu rechtfertigen ist. Andererseits kann es nicht richtig sein, dass die Vertragspflichten der Tochter unabhängig von der Solvenz der Mutter erst im Falle der fristlosen Kündigung des Unternehmensvertrags enden sollen, wie die herrschende Meinung unter Hinweis auf Rechtssicherheit und reibungsloses Funktionieren fordert.37 Dagegen spricht, dass die Aufhebung der Kapitalerhaltungsregeln im Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag die Solvenz 31 Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 308 AktG Rz. 145 ff. m.w.N. 32 Statt vieler Pöschke, ZGR 2015, 550, 560 ff. m.w.N.; dazu schon Altmeppen in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2000, § 302 Rz. 38: „Die Gesellschaft hat ständig einen Anspruch darauf, dass das herrschende Unternehmen seine Solvenz darlegt.“ 33 Nachw. Fn. 10. 34 Näher Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 302 AktG Rz. 37 ff. m.w.N. 35 S. dazu bereits Altmeppen, DB 1999, 2453, 2455 f. 36 S. die Nachw. o. Fn. 7 f. 37 S. die Nachw. o. Fn. 3 ff.

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der Muttergesellschaft voraussetzt, weil nur ein vollwertiger Verlustausgleichsanspruch ein taugliches Äquivalent ist.38 Es steht außer Frage, dass die Durchführung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen zulasten der Tochtergesellschaft illegal ist, wenn der Kapitalschutz wegen mangelnder Solvenz der Muttergesellschaft gar nicht mehr funktioniert. Auf illegales Verhalten kann kein Rechtsanspruch gegen die Tochtergesellschaft bestehen, unabhängig davon, ob und wann die Tochtergesellschaft die Unternehmensverträge aus wichtigem Grund gekündigt hat. Nach allem geht auch das teleologische Argument der herrschenden Meinung fehl, die Unternehmensverträge müssten vor fristloser Kündigung auch bei (drohender) Insolvenz der Muttergesellschaft erfüllt werden: Das darf sogar im Falle der Einmann-Tochtergesellschaft keinesfalls geschehen, weil zwingende Gläubigerinteressen der Kapitalerhaltung dies verbieten. 3. Unzulässigkeit der Stundung eines nicht vollwertigen Verlustausgleichsanspruchs Nach herrschender Meinung entsteht der Verlustausgleichsanspruch zum Bilanzstichtag und wird auch gleichzeitig fällig.39 Die Frage, ob der Verlustausgleichsanspruch gestundet werden darf, wird unter Hinweis auf das Verzichtsverbot i.S.d. § 302 Abs. 3 AktG meist generell verneint.40 Ob dies zutrifft, ob insbesondere eine Stundung jenseits einer Krise der Muttergesellschaft stets an § 302 Abs. 3 AktG scheitern muss, kann letztlich dahingestellt bleiben. Denn es geht hier nur darum, ob eine Stundung des Verlustausgleichsanspruchs trotz Krise der Mutter zulässig sein kann. Die Antwort ergibt sich aus zwingenden Kapitalerhaltungsregeln, die bei Bestehen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages nur deshalb aufgehoben sind, weil es einen vollwertigen Verlustausgleichsanspruch gibt. In der Tat ist die Vorstellung indiskutabel, die Konzerntochter dürfe ihren Verlustausgleichsanspruch deshalb stunden, weil die Mutter ihn trotz Fälligkeit nicht erfüllen kann: Unter keinen Umständen darf der Vertrag dann weiterhin praktiziert werden. Dies hätte schon vor dem Bilanzstichtag wegen Insolvenz der Muttergesellschaft nicht mehr geschehen dürfen, wie hinreichend dargetan wurde.41

38 Näher II 2 a, b, aa, bb. 39 BGHZ 142, 382, 385 f. = NJW 2000, 210; bestätigt durch BGH, ZIP 2005, 834; Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 302 AktG Rz. 72 ff.; Koch in Hüffer/Koch, o. Fn. 13, § 302 AktG Rz. 13; Veil in Spindler/Stilz, o. Fn. 6, § 302 AktG Rz. 21; Emmerich in Emmerich/ Habersack, o. Fn. 14, § 302 AktG Rz. 40; wohl a.A. Stefan in K. Schmidt/Lutter, o. Fn. 3, § 302 AktG Rz. 42 f. jew. m.w.N. 40 Vgl. Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 302 AktG Rz. 74; Emmerich in Emmerich/Habersack, o. Fn. 14, § 302 AktG Rz. 40c; Krieger in Münch HdB AG, 4. Aufl. 2015, §  71 Rz.  76; Krieger, NZG 2005, 787, 789; Hölters/Deilmann, AktG, 3.  Aufl. 2018, §  302 AktG Rz. 20; für eine maximale Stundungsfrist von drei Wochen freilich Bärenz/Fragel in FS Görg, 2010, S. 13, 16 ff. 41 Näher II 2.

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Notleidender Verlustausgleichsanspruch und Haftungsfolgen im Vertragskonzern

III. Die Haftung der Geschäftsleiter bei Insolvenz der Konzernmutter 1. Haftung der Geschäftsleiter der Tochter Im Schrifttum wird ausschließlich die Pflicht des Geschäftsleiters der beherrschten Gesellschaft hervorgehoben, die finanzielle Situation der Mutter unter Kontrolle zu halten, und der Kontrollpflicht soll ein entsprechendes Informationsrecht korrespondieren.42 Dabei wird offenbar vorausgesetzt, der Geschäftsleiter der Tochter sei verantwortlich dafür, dass der Unternehmensvertrag rechtzeitig durch fristlose Kündigung wegen (drohender) Insolvenz der Mutter beendet wird, weil die Tochter vorher ihre Vertragspflichten zu erfüllen habe.43 Doch kann der Geschäftsleiter der Tochter nicht primärer Adressat der Pflicht sein, die Solvenz der Muttergesellschaft unter Kontrolle zu halten. Gewiss muss er sich dahin entlasten, seine Kontrollpflicht betreffs der Solvenz der Muttergesellschaft mit der Sorgfalt eines ordentlichen Konzernmanagers erfüllt zu haben. Die Annahme, er müsse den Angaben der Konzernmutter zu ihrer Solvenz aber stets misstrauen, stellt die Dinge einmal mehr auf den Kopf: Der Geschäftsleiter der Konzernmutter ist Dreh- und Angelpunkt des richtigen Pflichten- und Haftungsverständnisses. Auf seine Angaben darf sich der Geschäftsleiter der Tochter grundsätzlich verlassen, ohne eigene Nachforschungen darüber anstellen müssen.44 Das Recht auf Einsicht in Bücher und Schriften bei der Muttergesellschaft mag man bejahen oder nicht, eine Haftung des Geschäftsleiters der Tochter kann davon nicht abhängen. Maßgebend ist ­allein, ob der Geschäftsleiter der Tochter greifbare Anhaltspunkte dafür hatte, den ausdrücklich oder konkludent erklärten Angaben zur Solvenz der Mutter zu misstrauen. Gerade das von der herrschenden Ansicht beschworene Anliegen, das reibungslose Funktionieren des Vertragskonzerns nicht zu gefährden,45 gibt dem Geschäftsleiter der Tochter das Recht, mangels anderer Anhaltspunkte auf korrekte Angaben der Muttergesellschaft zu vertrauen. Diese auf den Geschäftsleiter der Tochter bezogene Sorgfaltspflichtbeurteilung hat mit der Frage der Vertragspflichten der Tochter gar nichts zu tun. Während die herrschende Meinung die Kapitalerhaltungsgrundsätze beiseite tun will, indem die Vertragspflichten der Tochter trotz Insolvenzreife der Mutter bis zur fristlosen Kündigung der Unternehmensverträge Bestand haben sollen, ist zu erkennen, dass jede Praktizierung des Unternehmensvertrages illegal wird, wenn der Pauschalausgleich i.S.d. § 302 AktG als gefährdet erscheint. Der Geschäftsleiter der Tochter muss dies keineswegs erkannt oder fahrlässig verkannt haben, zumal wenn die Mutter – und das ist so gut wie immer der Fall – ausdrücklich oder konkludent ihre Solvenz behauptet.

42 S. die Nachw. Fn. 15, 32. 43 Näher II 1a. 44 Insofern richtig Habetha, ZIP 2017, 652, 654. 45 S. Fn. 7 f.

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2. Die Haftung des Geschäftsleiters der Mutter Der Geschäftsleiter der Mutter hat zwar Leitungsmacht über die Tochter (§ 308 AktG), ist aber nicht deren Organ. Der Mangel der Organbeziehung wird durch § 309 AktG überwunden, doch bereitet die Vorschrift seit jeher Verständnisprobleme.46 Geschädigte ist bei genauer Betrachtung die Muttergesellschaft selbst, nicht nur in Gestalt des Minderwerts ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft, sondern vor allem wegen ihrer unstreitigen Mithaftung gegenüber der eigenen Tochtergesellschaft (§§ 280, 278, 31 BGB; § 309 AktG analog). Erkennt man, dass die Mutter und ihr gesetzlicher Vertreter der Tochter gesamtschuldnerisch haften, ist zumindest das Innenverhältnis geklärt: Reguliert die Mutter den Schaden, was typischerweise in Gestalt der Übernahme des Jahresergebnisses der Tochter geschieht (§§ 301, 302 AktG), hat es betreffs der Haftung ihres Geschäftsleiters sein Bewenden mit dem Gesamtschuldnerregress (§ 426 BGB).47 In der hier interessierenden Fallgruppe kann es dazu gar nicht kommen, weil die Mutter insolvent ist. Dieser für die Tochtergesellschaft katastrophale Befund lässt ihren Verlustausgleichsanspruch zu einer Insolvenzforderung werden und bedeutet nicht selten die Insolvenz auch für die Tochtergesellschaft. Deshalb stellt sich die Frage, wer der Garant dafür ist, diesen schlimmsten denkbaren Fall für die Tochtergesellschaft abzuwenden. Die Antwort ergibt sich nicht unmittelbar aus § 309 AktG, der nur an rechtswidrige Weisungen anknüpft und zudem schädliche Weisungen im Konzerninteresse erlaubt (§ 308 Abs. 1 S. 2 AktG). Die Lösung ergibt sich aus der Geschäftsgrundlage von Beherrschungs- und Gewinn­ abführungsverträgen, die nämlich nur praktiziert werden dürfen, wenn und solange die Muttergesellschaft betreffs ihrer Verlustausgleichspflicht gegenüber der Tochter solvent ist.48 Nur deshalb durfte der Gesetzgeber von den Kapitalerhaltungsregeln Dispens erteilen, nur so sind die gesetzlichen Regelungen schlüssig zu interpretieren, namentlich im Hinblick auf den Schutz der Gläubiger der Tochtergesellschaft.49 Der Garant dieses Schutzes ist nicht die Mutter selbst, wenn es sich nicht ausnahmsweise um den Einzelkaufmann handelt. Im Regelfall ist die Mutter ihrerseits eine Handelsgesellschaft, die durch ihre Organe handelt. Der zuständige Organwalter der Muttergesellschaft muss aber nicht nur deren Interessen verfolgen, zumindest das ergibt sich unzweifelhaft aus § 309 AktG. Der Konzerngeschäftsleiter auf Mutterebene ist der Garant dafür, dass die Unternehmensverträge i.S.d. § 291 AktG legal praktiziert werden. Das dem Geschäftsleiter der Konzernmutter im Beherrschungs- und Gewinnab­ führungsvertrag abverlangte Verhalten besteht nach allem darin, während der Ver­ tragsdauer die Solvenz der Mutter zu gewährleisten oder aber für eine sofortige 46 Statt vieler Mertens, AcP 168 (1968), 225, 231: „ein Fall absurden Rechts.“ 47 Näher Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 309 AktG Rz. 155 m.w.N. 48 Vgl. Altmeppen, ZHR 171 (2007), 320, 328; Altmeppen in Die Haftung des Managers im Konzern, 1998, S. 22. 49 Näher II 2.

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Notleidender Verlustausgleichsanspruch und Haftungsfolgen im Vertragskonzern

Suspendierung der Unternehmensverträge zu sorgen. Der Geschäftsleiter der Mutter ist insbesondere dazu verpflichtet, von sich aus auf das Ruhen der Vertragspflichten der Tochter hinzuweisen und gegebenenfalls die Vertragsauflösung herbeizuführen, sobald die Krise der Mutter für ihn erkennbar wird. Die These, die Mutter dürfe in solchen Fällen ihre Tochtergesellschaft „opfern“, etwa im Interesse ihres oder des Überlebens anderer konzernangehöriger Gesellschaften, hat sich bereits als nicht haltbar erwiesen.50 Doch man muss darüber hinausgehen und aktives Handeln, gerichtet auf unverzügliches Beenden einer weiteren Praktizierung des Unternehmensvertrages als das dem Geschäftsleiter der Mutter abverlangte Verhalten erkennen, wenn man die Geschäftsgrundlage der Unternehmensverträge i.S.d. § 291 AktG zutreffend einordnet.51

IV. Resümee Die wirtschaftliche Fusion im Vertragskonzern ist als Zustand nur rechtmäßig, wenn und solange die Geschäftsgrundlage in Gestalt der Solvenz der Mutter und damit die uneingeschränkte Vollwertigkeit ihrer Verlustausgleichspflicht gewährleistet ist. Fehlt es daran, wird der Zustand illegal und enden die Vertragspflichten der Tochter ipso iure. Ab diesem Zeitpunkt ist dem Geschäftsleiter auf Seiten der Mutter ein Handeln auf Beendigung des illegalen Zustandes, namentlich Suspendierung oder Auflösung des Unternehmensvertrages, nach allgemeinen Grundsätzen des Schuldrechts abverlangt, in erster Linie im Interesse der Gläubiger der Tochtergesellschaft. Deren Vertrauen darauf, dass die Mutter die Existenz ihrer Konzerntochter während der Laufzeit des Unternehmensvertrages de lege lata garantiert, hat Vorrang vor etwaigen Interessen der Gläubiger anderer Konzernunternehmen, namentlich der Konzernmutter. Der Garant des Vertrauens der Gläubiger der Tochtergesellschaft kann nur der zuständige Organwalter auf Seiten der Vertragspartnerin des Unternehmensvertrages sein, der einen legalen Zustand im Vertragskonzern deshalb mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Konzerngeschäftsleiters bei Meidung persönlicher Haftung unter Kontrolle halten muss. Seine Schadensersatzhaftung ergibt sich aus dem richtigen Pflichten- und Haftungsverständnis im Vertragskonzern, das in § 309 AktG nur unzureichend Ausdruck gefunden hat und in entsprechender Anwendung der Norm vervollständigt werden muss.

50 S. II 2 a. 51 Ansatzweise so bereits Altmeppen in MünchKomm. AktG, o. Fn. 1, § 309 AktG Rz. 61.

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Weisungsbindung der Aufsichtsratsmitglieder in der nicht mitbestimmten GmbH Inhaltsübersicht

I. Problemstellung und Meinungsstand

II. Das Urteil des BVerwG von 2011 III. Die Rechtslage bei der AG und bei den mitbestimmten Gesellschaften 1. Aktiengesellschaft 2. Mitbestimmte GmbH IV. Die Rechtslage bei der nicht mit­ bestimmten GmbH 1. Ausgangspunkt: Vertragsfreiheit (§ 52 Abs. 1 GmbHG) 2. Einschränkung der Vertragsfreiheit? a) Begriffliche Überlegungen ­(„Aufsichtsrat“) b) Natur der Sache c) Schutz der Publikumserwartung d) Gute Corporate Governance? 3. Die Zulässigkeit der Weisungsbindung a) Gesellschafter als Herren der GmbH



b) Gläubiger- und Minderheitenschutz irrelevant 4. Ergebnis V. Folgefragen 1. Muss die Weisungsunterworfenheit ­explizit geregelt sein? 2. Wem darf das Weisungsrecht zuge­ standen werden? 3. Schranken des Weisungsrechts

VI. Sonderrecht für bestimmte Betei­ ligungsformen? 1. Die Einmann-GmbH 2. Die GmbH in staatlicher oder kommunaler Inhaberschaft VII. Zur praktischen Relevanz des ­Weisungsrechts VIII. Ergebnis

Wenige Autoren sind mit der Materie des Aufsichtsrats so vertraut wie der Jubilar. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen stechen die Publikationen zu den Rechtsfragen rund um die §§ 95 ff. AktG heraus,1 wobei Eberhard Vetter die Kontroverse nicht scheut. Nicht in allen Punkten gehen seine Ansichten mit denen des Verfassers dieser Zeilen konform2 und auch im folgenden, zu seinen Ehren verfassten Text werde ich eine These vertreten, die im Gegensatz zu dem steht, was er verficht. Wenn sich damit dennoch die Hoffnung verbindet, dass der Jubilar Gefallen an diesem Beitrag finden möge, dann deshalb, weil die wissenschaftliche Diskussion, die er sucht und schätzt, nicht vom Gleichklang der Meinungen, sondern von ihrem Widerstreit lebt. 1 Exemplarisch E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, 6. Kapitel: Der Aufsichtsrat, S. 967-1156; E. Vetter, Der Aufsichtsrat – Spagat zwischen gesetzlichen Vorgaben und wachsenden Aufgabe Herausforderungen, in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 103 ff. 2 Dies gilt namentlich für die (streitige) Frage der Zulässigkeit eines Investorendialogs von Aufsichtsratsmitgliedern, s. dazu E. Vetter, AG 2016, 873 einerseits (contra), Bachmann, Dialog zwischen Investor und Aufsichtsrat, in VGR Band 22 (2017), S. 136 ff. andererseits (pro).

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I. Problemstellung und Meinungsstand Ob die Mitglieder des Aufsichtsrats einer nicht der Mitbestimmung unterworfenen GmbH an Weisungen der Gesellschafter gebunden werden können, ist streitig. Die h.M. im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum – einschließlich der Stimme des Jubilars3 – verneint das.4 Ihre Argumentation lautet, dass bei einer Weisungsbindung die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats nicht sinnvoll erfüllt werden könne.5 Zudem vertraue der Rechtsverkehr darauf, dass ein Aufsichtsrat weisungsfrei agiere, und dieses Vertrauen sei schutzwürdig.6 Soweit § 52 Abs. 1 GmbHG eine gegenläufige Satzungsregel zu gestatten scheine, sei die Norm teleologisch zu reduzieren.7 Die Gegenansicht hält die Weisungsbindung in der Satzung für möglich.8 Neben dem Wortlaut von § 52 Abs. 1 GmbHG, der für umfassende Satzungsfreiheit spricht, verweist sie auf die Strukturunterschiede von GmbH und AG: Während bei letzterer alle Organe an das indisponible Unternehmensinteresse gebunden seien, könnten die Gesellschafter der GmbH  – in den Grenzen des zwingenden Gläubigerschutzes  – frei über die Zweckrichtung der Gesellschaft bestimmen.9 Daher dürften die Gesellschafter die Aufsichtsratsmitglieder an ihre Weisungen binden. Ein gegenteiliges Vertrauen des Rechtsverkehrs bestehe nicht, jedenfalls sei es nicht schutzwürdig, da bei der GmbH nicht mehr als die Einhaltung der zwingenden Gläubigerschutzregeln erwartet werden dürfe.10

II. Das Urteil des BVerwG von 2011 Dass die Rechtslage umstritten ist (und sich die Kautelarpraxis daher vorsichtshalber an der h.M. orientiert, die ein Weisungsrecht nicht zulässt), ist alles andere als selbstverständlich. Schließlich liegt seit Jahren ein höchstrichterlicher Spruch vor, der die 3 Vgl. E. Vetter, GmbHR 2011, 449; E. Vetter, GmbHR 2012, 181. 4 Lutter/Krieger/Verse, Rechte u. Pflichten d. Aufsichtsrats, 6.  Aufl.  2014, Rz.  1429; Lutter/ Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 19.  Aufl.  2016, §  52 Rz.  69b; Spindler in Münchner Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 52 Rz. 220; Spindler, ZIP 2011, 689, 694 ff.; Heermann in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2.  Aufl.  2014, §  52 Rz.  145  f.; Krämer/Winter in FS ­Goette, 2011, S. 254, 255; R. Bäcker in FS Schwark, 2009, S. 101, 106 ff.; Keßler, GmbHR 2000, 71, 77; Schwintowski, NJW 1990, 1009, 1013.  5 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 452  ff., insbes. 454; Lutter/Krieger/Verse (Fn.  4), Rz.  1214; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 52 Rz. 130: „Funktionsschutz des Organs Aufsichtsrat“; Spindler ebd.; Lutter/Hommelhoff ebd. 6 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 457 f.; E. Vetter, GmbHR 2012, 181, 184; Zöllner/Noack, ebd. 7 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 458; E. Vetter, GmbHR 2012, 181, 185. 8 Vgl. Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, GmbHG § 52 Rz. 3 f.; Altmeppen, NJW 2003, 2561; Altmeppen, NJW 2011, 3737; Altmeppen in FS U. H. Schneider, 2011, S. 1, 4 ff.; Wicke, 3. Aufl. 2016, GmbHG § 52 Rz. 8; Henssler in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, ­GmbHG § 52 Rz. 11 (für Einmann-GmbH; i.Ü. nicht endgültig entschieden). 9 Altmeppen in FS U. H. Schneider, 2011, S. 1, 8 f.; Schneider in Scholz, 11. Aufl. 2014, ­GmbHG § 52 Rz. 328a. 10 Altmeppen in FS U. H. Schneider, 2011, S. 1, 8 f.

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Weisungsbindung der Aufsichtsratsmitglieder in der nicht mitbestimmten GmbH

Frage beantwortet hat. Mit Urteil vom 31. August 2011 hatte der achte Senat des Bundesverwaltungsgerichts – in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen11 – befunden, dass der Gesellschaftsvertrag einer nicht der Mitbestimmung unterliegenden GmbH die Bindung von Aufsichtsratsmitgliedern an Weisungen der Gesellschafter (im konkreten Fall: einer Kommune) vorsehen kann.12 Dass im Aktienrecht ein gegenteiliger, auf § 111 Abs. 5 AktG (heute: Abs. 6) gestützter Grundsatz gelte, ändere daran nichts, denn § 52 Abs. 1 GmbHG gestatte explizit abweichende Regelungen von den aktienrechtlichen Bestimmungen.13 Einen darüber hinausgehenden, allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundsatz, wonach Aufsichtsratsmitglieder niemals weisungsgebunden sein dürften, gebe es nicht. Nichts anderes folge aus der Bezeichnung „Aufsichtsrat“, da dieser Begriff weder im Gesetz noch durch die Rechtsprechung ­abschließend definiert sei. Deshalb und weil sich die konkrete Rechtsstellung des GmbH-­Aufsichtsrats erst aus der Satzung ergebe, könne sich auch kein Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Weisungsfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder bilden. Die Vermutung liegt nicht fern, dass, wäre dasselbe Urteil vom zweiten Zivilsenat des BGH gefällt worden, die h.M. heute anders lauten würde. Denn die Autorität des für das Gesellschaftsrecht zuständigen Spruchkörpers bewirkt häufig, dass vorher anders lautende Literaturstimmen sich langfristig – und sei es resignierend – seinem Kurs anschließen. Der Umstand, dass die hier zu diskutierende Frage nicht von diesem Senat, sondern von einem (und immerhin dem höchsten) deutschen Verwaltungsgericht entschieden wurde, sollte aber nicht dazu führen, seine Rechtsauffassung nicht ernst zu nehmen. Die Position des BVerwG ist daher auf den Prüfstand zu heben, wobei sich zeigen wird, dass sie in der Sache das Richtige trifft.

III. Die Rechtslage bei der AG und bei den mitbestimmten Gesellschaften Bevor der zentralen Frage nachzugehen ist, wie weit die aufsichtsratsbezogene Satzungsfreiheit im GmbH-Recht reicht, ist im ersten Schritt die Rechtslage im Aktienrecht zu beleuchten. 1. Aktiengesellschaft Im AktG findet sich nirgends der Satz, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats keiner Weisungsbindung unterliegen. Eine entsprechende Aussage trifft allein §  4 Abs.  3 Satz  2 Montan-MitbestG („… sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“). Angesichts dessen sowie mit Blick auf den Umstand, dass der Gesetzgeber die Wei11 OVG Münster, Urt. v. 24.4.2009 – OVG 15 2592/07, GmbHR 2010, 92 mit Anm. Hubertus/ Walter. 12 BVerwG, GmbHR 2011, 1205, 1207 mit zust. Anm. Brötzmann („überzeugend“); s. zum Urteil auch Altmeppen, NJW 2011, 3735; Schwintowski, EWeRK 2012, 56 ff.; Leitzen, MittBayNot 2012, 325 und Heidel, NZG 2012, 48 ff. 13 Hierzu und zum Folgenden BVerwG ebd.

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sungsfreiheit von Organen und Amtsträgern da, wo er sie wünscht, ausdrücklich anzuordnen pflegt,14 liegt an sich der Umkehrschluss nahe, dass außerhalb der Montanmitbestimmung die Weisungsfreiheit von Aufsichtsratsmitgliedern nicht sakrosankt ist. Dennoch stehen aktienrechtliche Rechtsprechung15 und Literatur16 einhellig auf dem Standpunkt, dass weder Aktionäre noch die Hauptversammlung einem Aufsichtsratsmitglied Weisungen erteilen dürfen und dass dennoch erteilte Weisungen nicht befolgt werden müssen. Begründet wird das wahlweise oder kumulativ mit der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats, der Höchstpersönlichkeit des Amtes (§ 111 Abs. 6 AktG) und der Bindung an das Unternehmensinteresse. Überzeugen kann allein der letzte Gesichtspunkt. Das aktienrechtliche Postulat der Unabhängigkeit, das im AktG selbst gar nicht ausgesprochen wird, meint die Unabhängigkeit von der Geschäftsführung, nicht von den Gesellschaftern. Diese leuchtet ein, denn wer überwachen soll, kann nicht zugleich Überwachter sein (vgl. §  105 AktG). Unabhängigkeit von den Gesellschaftern wird zwar im DCGK empfohlen (vgl. Zif. 5.4.2 DCGK),17 doch handelt es sich dabei eben nur um eine Empfehlung. Abgesehen davon findet der DCGK auf die GmbH keine Anwendung.18 Letztlich lässt sich eine vollständige Unabhängigkeit von den Gesellschaftern auch nicht erzielen, da die Hauptversammlung als Zusammenkunft der Gesellschafter die Mitglieder des Aufsichtsrats wählt, soweit der Aufsichtsrat nicht mitbestimmt ist oder einzelnen Gesellschaftern ein Entsendungsrecht zusteht (§ 101 AktG). Das Gebot der Weisungsfreiheit lässt sich entgegen der h.L. auch nicht aus dem Grundsatz höchstpersönlicher Amtsführung (§ 111 Abs. 6 AktG) ableiten.19 Höchstpersönlichkeit meint, wie der Wortlaut des § 111 Abs. 6 AktG zeigt, ein Vertretungsverbot. So war die Norm auch historisch gemeint.20 Ein Vertretungsverbot schließt es aber, wie das allgemeine Zivilrecht in §§ 613, 664 BGB deutlich macht, nicht aus, dass der zur persönlichen Amtsführung Berufene den Weisungen desjenigen unterworfen sein darf, der ihm das Amt anvertraut hat oder in dessen Interesse er es zu führen hat. Für den treuhänderisch Tätigen ist vielmehr das Gegenteil der Fall (vgl. § 665 BGB). Entscheidend für die Weisungsfreiheit ist deshalb nicht, dass die Aufsichtsratsmitglieder (einschließlich der Entsandten) ihre Amtsführung nicht an Dritte delegieren dür14 Vgl. § 76 Abs. 1 AktG („unter eigener Verantwortung“); noch deutlicher Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (betr. Abgeordnete); Art. 97 Abs. 1 Satz 1 GG (betr. Richter); Art. 114 Abs. 2 Satz 2 GG (betr. Bundesrechnungshof). 15 Vgl. BGHZ 36, 296, 306 (unter Zitat von RG, JW 32, 2279 und RGZ 165, 68, 79); später BGHZ 169, 98 Rz. 18 und andeutungsweise BGHZ 90, 381, 398. 16 Vgl. nur Altmeppen in FS U. H. Schneider, 2011, S. 1, 3 („unterliegt nicht dem geringsten Zweifel“); Habersack in Münchner Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, §  111 Rz.  160; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, AktG, § 111 Rz. 79. 17 Zum Streit über die Berechtigung dieser Empfehlung s. Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801. 18 Die Präambel empfiehlt auch „nicht kapitalmarkorientierten Gesellschaften“ die Beachtung des Kodex. 19 Zutreffend Heidel, NZG 2012, 48, 52 und Altmeppen, NJW 2011, 3735. 20 Vgl. Heidel, NZG 2012, 48, 52.

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fen (§ 111 Abs. 6 AktG), sondern dass sie keine Treuhänder der Aktionäre (auch nicht in ihrer Gesamtheit) sind. Ihre Amtsführung haben sie vielmehr am sog. Unternehmensinteresse auszurichten. Dieses reicht über das (kollektive) Gesellschafterinteresse hinaus, indem es die Belange sonstiger Stakeholder einbezieht.21 2. Mitbestimmte GmbH Unbestritten ist ferner die Weisungsfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder in einer GmbH, die der Mitbestimmung unterliegt.22 Soweit das Montan-MitbestG greift, folgt das unmittelbar aus dem Gesetz (§ 4 Abs. 3 Satz 2 Montan-MitbestG). Im Übrigen lässt es sich daraus ableiten, dass der Aufsichtsrat hier kein fakultatives, sondern ein zwingendes Organ ist, das – wie der AG-Aufsichtsrat – nicht dem (kollektiven) Gesellschafterinteresse, sondern dem darüber hinaus ragenden Unternehmensinteresse verpflichtet ist.23 Hinzu kommt, dass die einschlägigen Normen der Mitbestimmungsgesetze zwingend die wesentlichen Normen des AktG zur Anwendung berufen. Die Möglichkeit der Gesellschafter, den Aufsichtsrat durch Weisung an die Geschäftsführer (§ 37 Abs. 1 GmbHG) zu überspielen, schwächt zwar dessen Position in der Praxis,24 ändert aber an seiner Verpflichtung auf ein übergeordnetes Interesse zumindest in der Theorie nichts.

IV. Die Rechtslage bei der nicht mitbestimmten GmbH 1. Ausgangspunkt: Vertragsfreiheit (§ 52 Abs. 1 GmbHG) Sedes materiae für die nicht der Mitbestimmung unterliegende, d.h. über weniger als 500 Arbeitnehmer verfügende GmbH ist § 52 Abs. 1 GmbHG. Dieser verweist für den Aufsichtsrat auf die einschlägigen Normen des Aktienrechts, „soweit nicht im Gesellschaftsvertrag ein anderes bestimmt ist“. Dem Wortlaut nach besteht vollständige Vertragsfreiheit, d.h., die Gesellschafter sind nicht nur frei in der Entscheidung, ob sie überhaupt einen Aufsichtsrat einrichten (das ist unstreitig), sondern auch, wie sie diesen ausgestalten und welche Aufgaben sie ihm übertragen. Das erscheint im Ausgangspunkt stimmig: Wenn die Gesellschafter gänzlich auf ein Aufsichtsorgan verzichten können (also gleichsam die Option „Null“ wählen dürfen), liegt es nahe, ihnen nach oben beliebige Spielräume zu lassen. Völlig selbstverständlich ist das allerdings nicht.25 Denn das Gesetz kennt „strenge“ Optionsmodelle, die den Beteiligten zwar die freie Wahl des „Ob“ lassen, beim „Wie“

21 Näher zur „interessenpluralen Zielkonzeption“ der AG Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, AktG, § 76 Rz. 28 ff. 22 Vgl. nur Habersack/Henssler, MitbestG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 78 m.w.N. 23 Unstr., s. BGHZ 106, 54, 65; ferner BGHZ 64, 325, 330 f.; 83, 144, 147; aus der Lit. nur Habersack/Henssler (Fn. 22), § 25 Rz. 93 m.w.N. 24 Bachmann, BOARD 2018, 152, 153. 25 Insofern zutreffend Krämer/Winter in FS Goette, 2011, S. 254, 257.

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indes Grenzen ziehen.26 Solche Grenzen lassen sich hier aber nicht aus einzelnen Normen des AktG ableiten. Eindeutig ist das für § 109 Abs. 1 AktG, der Dritten – und damit auch Gesellschaftern – die Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen verbietet. Denn diese Norm wird in § 52 Abs. 1 GmbHG gar nicht erwähnt, gilt also überhaupt nur, wenn die Gesellschafter sich eine derartige (Selbst-)Beschränkung positiv auferlegen. Tun sie das nicht, ist ihnen die Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen ohne weiteres gestattet, was bereits eine gewisse Einflussnahme impliziert. Es trifft aber auch für die in § 52 Abs. 1 GmbHG ausdrücklich zur Anwendung berufenen Normen zu. Denn diese sollen nur gelten, wenn der Gesellschaftsvertrag nichts anderes bestimmt. So kann die (vermeintliche) Unabdingbarkeit von § 111 Abs. 6 AktG nicht auf das Argument gestützt werden, das Aufsichtsratsamt sei ein höchstpersönliches, denn dies wäre ein offensichtlicher Zirkelschluss. Die Einschränkung der von § 52 Abs. 1 GmbHG eröffneten Option muss also anderweitig begründet werden. 2. Einschränkung der Vertragsfreiheit? Wenn nachfolgend die gedanklichen Ansätze zur Begrenzung der in §  52 Abs.  1 ­GmbHG eröffneten Gestaltungsfreiheit diskutiert werden, ist im Auge zu behalten, dass die Argumentationslast bei denjenigen liegt, die sich für solche Begrenzungen stark machen. Denn sie argumentieren gegen den eindeutigen Wortlaut, der dem Satzungsgeber keinerlei Beschränkungen auferlegt. a) Begriffliche Überlegungen („Aufsichtsrat“) Ein erster, begrifflicher Ansatz könnte darauf zielen, dass sich die Weisungsfreiheit aus der Vokabel „Aufsichtsrat“ ergibt.27 Denn die Kennzeichnung eines Gremiums als „Aufsichtsrat“ legt es nahe, dass das derart bezeichnete Gremium irgendwelche Aufsichtsbefugnisse ausübt. Frei nach dem Motto: „Wo Aufsichtsrat draufsteht, muss Aufsichtsrat drin sein“28 wird im Schrifttum denn auch die Position vertreten, dass dem fakultativen Aufsichtsrat nach § 52 Abs. 1 GmbHG gewisse Mindestbefugnisse verbleiben müssen. Widrigenfalls dürfe das Gremium nicht als „Aufsichtsrat“ ausgeflaggt werden.29 Ob dem zu folgen ist, kann hier dahinstehen, denn auch der weisungsunterworfene Aufsichtsrat beaufsichtigt die Geschäftsleitung. Der an Weisungen gebundene Aufsichtsrat bleibt ein Aufsichtsgremium. Die Gesellschafter können überhaupt nur dann anweisen, wenn sie wissen, worum es geht; dieses Wissen vermittelt ihnen der von ihnen eingesetzte Aufsichtsrat, der zumindest insoweit trotz Weisungsbindung von seinen Aufsichtsbefugnissen Gebrauch macht. Allenfalls verhindert eine Weisungs-

26 Näher Bachmann, JZ 2008, 11. 27 Vgl. Spindler, ZIP 2011, 689, 694 f. 28 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 452; Zöllner/Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 130. 29 So z.B. OLG Frankfurt, ZIP 1981, 988, 989; E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 452 f.; Zöllner/ Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 27 f.

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bindung die Überwachung der Anweisenden – also der Gesellschafter. Deren Überwachung ist aber gar nicht die Aufgabe des Aufsichtsrats.30 b) Natur der Sache Damit ist zugleich dargetan, dass sich die Weisungsfreiheit nicht aus der Natur der Sache ergibt.31 Einer beaufsichtigenden Tätigkeit ist die Weisungsfreiheit nicht wesenseigen. Wenn A im Auftrag der B den C überwachen soll, dann kann er das mit oder ohne Weisungen der B tun. Entscheidend ist allein, dass A den C im Blick behält. Weisungsfreiheit der Überwachung kraft Sachgesetzlichkeit ist allenfalls anzunehmen, wenn der Überwachungsmaßstab durch den an anderen Maßstäben orientierten Anweisenden gefährdet würde, anders gesagt: wenn die Leitschnur für den Überwacher und den Weisungsbefugten divergiert. Das mag bei der AG und bei der mitbestimmten GmbH der Fall sein, nicht aber bei der nicht mitbestimmten GmbH, bei der die Leitschnur von Überwacher und (potenziell) weisungsbefugten Gesellschaftern dieselbe ist.32 c) Schutz der Publikumserwartung Die Gegner eines Weisungsrechts begnügen sich denn auch nicht damit, auf den Begriff „Aufsichtsrat“ oder die Sachgesetzlichkeit zu verweisen, sondern verknüpfen dies mit Vertrauensschutzgedanken: Werde ein Gremium als „Aufsichtsrat“ ausgewiesen, dann werde dadurch beim Publikum die Erwartung geweckt, dass die Mitglieder dieses Gremiums die Geschäftsleitung unabhängig von den Gesellschaftern überwachten. Diese Erwartung dürfe nicht enttäuscht werden.33 Das Argument hat eine empirische und eine normative Komponente. Beide sind fragwürdig: Die empirische Komponente betrifft die Frage, welche Erwartungen das Publikum tatsächlich mit einem Aufsichtsrat verbindet. Diese Frage ist offen, belastbare Studien existieren nicht.34 Glaubt der Rechtsverkehr daran, dass Aufsichtsratsmitglieder stets und ohne Ausnahme frei von Weisungen des Prinzipals agieren? Mir erscheint das zweifelhaft, jedenfalls kann es ohne rechtstatsächliche Untermauerung nicht behauptet werden. Eine solche Untersuchung kann hier nicht angestellt werden, doch ist das unschädlich, weil rein tatsächliche Erwartungen ohnehin nicht genügen. So mag es 30 Vgl. Zöllner/Noack (Fn. 5), § 37 Rz. 28. 31 So aber Bäcker in FS Schwark, 2009, S.  101, 106: weisungsgebundene Kontrolle der Geschäftsleitung sei „dem Grunde nach“ nicht vorstellbar; s. auch Spindler, ZIP 2011, 689, 695: keine Weisungsbindung, weil der Aufsichtsrat sonst an Kontrollfreiheit verliere. 32 Näher unten, IV.3.a. 33 So z.B. Zöllner/Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 27; Krämer/Winter in FS Goette, 2011, S. 254, 257; zirkulär Spindler, ZIP 2011, 689, 695: Publikum erwarte Weisungsfreiheit, weil ein weisungsfreier Aufsichtsrat nicht „Aufsichtsrat“ heißen dürfe. 34 Krämer/Winter in FS Goette, 2011, S. 254, 255, die ihre Argumentation dennoch auf eine angebliche Publikumserwartung stützen und damit die Argumentationslast verkennen.

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z.B. sein, dass ein (rechtsunkundiges) Publikum irrtümlich glaubt, mit einem „Unternehmen“ oder einer „Unternehmensgruppe“ zu kontrahieren, während ihm in Wahrheit nur ein einzelner Rechtsträger verpflichtet ist. Das Recht nimmt dies nicht zum Anlass, sich der (falschen) Publikumserwartung anzupassen.35 Damit ist die zweite, normative Komponente angesprochen. Soll es einen Vertrauensschutz geben, muss dieser rechtlich fundiert sein. Im Unternehmensrecht finden wir eine solche Fundierung dort, wo im Gesetz eine Rechtsform- oder Unternehmensbezeichnung gefordert wird, etwa im Firmenrecht.36 Das Publikum kann sich so z.B. bei fehlender Kenntlichmachung der Haftungsbeschränkung mit Erfolg darauf berufen, auf die persönliche Einstandspflicht eines Gesellschafters vertraut zu haben.37 §  52 Abs. 1 GmbHG lässt sich ein derart klarer Kennzeichnungsschutz nicht entnehmen. Er erlaubt die Einrichtung eines in der Norm explizit als „Aufsichtsrat“ bezeichneten Gremiums, macht dem Leser der Norm aber gleichzeitig klar, dass ein aktienrechtlicher Standard nicht ohne weiteres erwartet werden darf. Welche der aktienrechtlichen Regeln gelten, entscheidet die Satzung („soweit nicht im Gesellschaftsvertrag ein anderes bestimmt ist“). Ohne Blick in die – über das Handelsregister öffentlich zugängliche – Satzung kann a priori kein schutzwürdiges Vertrauen entstehen. Der Jubilar hat zur Stützung der h.M. einen weiteren Aspekt in die Diskussion eingebracht, indem er den Blick vom ersten auf den dritten Absatz von §  52 GmbHG lenkt.38 Dieser Absatz verpflichtet dazu, eine Liste sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder mit Angabe von Namen, Wohnort und Beruf beim Handelsregister zu hinterlegen. Die Publizität dieser Angaben, so die Folgerung, begründe beim Rechtsverkehr das Vertrauen, dass in der GmbH „eine über die allgemeine Kontrolle durch die Ge­ sellschafter hinausgehende besondere Einrichtung zur laufenden Überwachung der Unternehmensleitung existiert“, die ihre Arbeit auf die Sachkompetenz und individuellen Erfahrungen ihrer Mitglieder stützt „und dabei nicht dem Willen der Gesellschafter folgt sowie lediglich deren Vorgaben umsetzt“.39 Vor diesem Hintergrund müsse der erste Absatz von § 52 GmbHG teleologisch reduziert werden, indem er satzungsmäßige Weisungsrechte gegenüber dem Aufsichtsrat ausschließe. Diese Argumentation ist beachtlich, denn sie verschafft dem diffusen Vertrauensargument der h.M. gewissen Boden unter den Füßen: Mit der (indisponiblen) Publizitätspflicht des § 52 Abs. 3 GmbHG wird ein normativer Anker benannt, an den sich Vertrauen des Rechtsverkehrs knüpfen kann. Dem Jubilar ist auch darin zu folgen, dass die vom Gesetz mit der betreffenden Publizitätspflicht geschürte Erwartung nicht ohne Wertungswiderspruch ignoriert werden darf. Die entscheidende Frage 35 Vgl. Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 6 Rz. 27 ff.; zur Konzernvertrauenshaftung s. Bachmann in GK-AktG, 5. Aufl. 2018, § 1 Rz. 98 („Vertrauensbasis regelmäßig zu dünn“). 36 Vgl. Bachmann (Fn. 35), § 4 Rz. 42 f. 37 Vgl. nur BGH, NJW 1991, 2627; zum dogmatischen und rechtspolitischen Streit und die Grundlage dieses Ergebnisses s. zuletzt Bachmann, ZHR 182 (2018), 603 ff. 38 Vgl. E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 457; E. Vetter, GmbHR 2012, 181, 184; s. auch Zöllner/ Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 28; Krämer/Winter in FS Goette, 2011, S. 254, 257. 39 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 457; E. Vetter, GmbHR 2012, 181, 184. Zuvor schon Spindler, ZIP 2011, 689, 695; Raiser, ZGR 1978, 391, 400.

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lautet aber, ob die danach schützenswerte Erwartung des Publikums über das Vertrauen auf eine „besondere Einrichtung zur laufenden Überwachung der Unternehmensleitung“, die ihre Arbeit „auf die Sachkompetenz und individuellen Erfahrungen ihrer Mitglieder“ stützt, hinausgeht, indem sie auch die Weisungsfreiheit des Aufsichtsrats umfasst. Diese Frage ist m.E. zu verneinen: Wer erfährt, dass die Gesellschaft einen Aufsichtsrat hat, und dass dieser sich z.B. aus dem Rechtsanwalt R und der Ingenieurin I zusammensetzt, erwartet (vielleicht), dass die beiden ihre besonderen Fachkompetenzen nutzen, um die Geschäftsführung zu überwachen, und dass die Geschäftsführung deshalb tendenziell effektiver kon­ trolliert wird, als wenn der oder die Gesellschafter die ihnen nach dem Gesetz (§ 46 Nr.  6 u. 8 GmbHG) obliegende Überwachungsaufgabe alleine wahrnehmen. Diese Erwartung (so sie denn tatsächlich besteht) wird aber gar nicht enttäuscht, und zwar selbst dann nicht, wenn die Gesellschafter sich ein Weisungsrecht vorbehalten. Denn es besteht ja eine „über die allgemeine Kontrolle durch die Gesellschafter hinausgehende besondere Kontrolleinrichtung“. Anders wäre es, wenn das weisungsunterworfene Aufsichtsratsmitglied durch die Weisungsbindung zur bloßen Schaufensterpuppe mutierte. Das ist aber nicht der Fall, denn auch der weisungsunterworfene Aufsichtsrat kann und darf nicht untätig bleiben, muss vielmehr der Geschäftsführung auf die Finger schauen und etwaige Beanstandungen oder Bedenken gegenüber den Gesellschaftern zur Sprache bringen. Umgekehrt können die Gesellschafter überhaupt nur dann sinnvolle Weisungen erteilen, wenn ihnen zuvor entsprechende Informationen geliefert wurden, die zu beschaffen (und zu bewerten) Sache auch des weisungsgebundenen Aufsichtsrats bleibt.40 Der weisungsgebundene Aufsichtsrat ist damit keineswegs funktionslos.41 Praktisch betrachtet führt das Weisungsrecht also nicht dazu, dass entgegen einer Publikumserwartung überhaupt keine (zusätzliche) fachkompetente Kontrolle der Geschäftsführung stattfindet. Angesichts des Umstands, dass die bloße Namens- und Berufsangabe ein eher schwaches normatives Fundament für die Beschneidung der in § 52 Abs. 1 GmbHG nun einmal gewährten Vertragsfreiheit ist, genügt der Hinweis auf § 52 Abs. 3 GmbHG deshalb nicht, um daraus einen ungeschriebenen Grundsatz zwingender Weisungsfreiheit abzuleiten. Dies gilt umso mehr, als die Frage, welche Erwartungen ein der von Name und Beruf der Aufsichtsratsmitglieder Kenntnis Nehmende wirklich hegt, offen ist. Die Argumentationslast liegt, um es noch einmal zu sagen, bei denjenigen, die für eine Einschränkung der von § 52 Abs. 1 GmbHG verheißenen Satzungsfreiheit streiten.

40 Anders wäre es nur im Fall einer Generalweisung: „Unterlasse jedwede Beaufsichtigung“. Sie wäre wegen Verstoßes gegen den im Kern unabdingbaren § 111 Abs. 1 AktG i.V.m. § 52 Abs. 1 GmbHG aber ohnehin nicht zu befolgen. 41 Siehe dazu noch unten, VII.

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d) Gute Corporate Governance? Schließlich wird darauf hingewiesen, dass die Weisungsfreiheit des Aufsichtsrats guter Corporate Governance entspreche.42 Für die AG mag das zutreffen, bei der GmbH ist es fraglich, weil dort kein (oder jedenfalls ein anderes) Principal-Agent-Problem besteht. Die Frage kann aber dahinstehen, weil „gute Corporate Governance“ als Argument nur de lege ferenda von Bedeutung ist. 3. Die Zulässigkeit der Weisungsbindung a) Gesellschafter als Herren der GmbH Spielen Erwartungen Dritter mithin keine entscheidende Rolle bzw. werden, soweit sie das tun, nicht enttäuscht (s.o.), so richtet sich der entscheidende Blick auf die ­Binnenstruktur der Gesellschaft. Dieser Blick offenbart, warum die in §  52 Abs.  1 GmbHG gewährte Gestaltungsfreiheit der Sache nach richtig ist und die Möglichkeit der Weisungsbindung des Aufsichtsrats einschließt. Aus der Gesamtkonzeption des GmbHG erhellt, dass die Gesellschafter die Herren der Gesellschaft sind.43 Anders als in der AG und in der mitbestimmten GmbH besteht in der mitbestimmungsfreien GmbH keine Bindung an ein übergeordnetes „Unternehmensinteresse“, das den Gesellschaftern zwingend vorgegeben und dessen Einhaltung daher von einem etwaigen Aufsichtsrat ebenso zwingend (und mithin weisungsfrei) zu überwachen wäre. In den Grenzen des Gläubigerschutzes können die Gesellschafter vielmehr nach Belieben mit „ihrer“ GmbH verfahren. Sie besitzen die umfassende Personalkompetenz, die sie nach dem Gesetz auch dann nicht verlieren, wenn sie einen Aufsichtsrat einrichten. Selbiges gilt für ihr unabdingbares Informationsrecht (§  51a ­GmbHG), das ihnen genauen Einblick in alle Gesellschaftsdokumente einschließlich der Aufsichtsratsprotokolle verschafft.44 Die Gesellschafter verfügen daneben über ein umfassendes Weisungsrecht (§  37 GmbHG) gegenüber der Geschäftsführung (selbst in der paritätisch mitbestimmten GmbH). Ihnen überantwortet das Gesetz die Kontrolle der Geschäftsführung (§ 46 Nr. 6 GmbHG), und sie verlieren diese Kon­ trollbefugnis nicht, wenn ein Aufsichtsrat eingerichtet ist.45 Auch die Entscheidung zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen obliegt den Gesellschaftern (§ 46 Nr. 8 GmbHG), weshalb die ARAG-Doktrin (in Gestalt einer Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats) in der GmbH keine Anwendung findet.46 All das bedeutet: Die Gesellschafter können das Geschehen in der GmbH nach Belieben steuern, namentlich die Geschäftsführer frei ernennen, dirigieren, kontrollieren 42 Vgl. E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 457; s. auch schon Keßler, GmbHR 2000, 71 ff. 43 Hierzu und zum Folgenden schon Altmeppen, NJW 2003, 2562, 2563 ff. 44 Vgl. grds. Wicke (Fn. 8), § 51a Rz. 4; bzgl. der Aufsichtsratsprotokolle BGH, NJW 1997, 1985. 45 Zum Nebeneinander des Überwachungsrechts des fakultativen Aufsichtsrats aus §  111 Abs. 1 AktG (i.V.m. § 52 Abs. 1 GmbHG) und des Überwachungsrechts der Gesellschafter aus § 46 Nr. 6 GmbHG s. Bachmann, BOARD 2018, 152, 153. 46 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 458; Bachmann, BOARD 2018, 152, 154; näher Kleindiek in FS von Westphalen, 2010, S. 387 ff.

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und abberufen; sie bilden, wie man zu sagen pflegt, das „oberste Organ“ der GmbH.47 Wenn dem aber so ist, dann ist es nur folgerichtig, wenn das Gesetz es ihnen – jenseits der mitbestimmungsrechtlichen Vorgaben – nicht nur freistellt, ob sie sich zur Unterstützung eines Aufsichtsrat bedienen wollen, sondern ihnen auch die Freiheit lässt, welche Befugnisse sie diesem Gremium geben möchten. § 52 Abs. 1 GmbHG, dessen zweiter Halbsatz eben diese Freiheit zum Ausdruck bringt, ist nach alledem kein legislatorischer Unfall, sondern reflektiert die Strukturprinzipen des deutschen GmbH-­ Rechts. Der BGH hat die daraus resultierende Rolle des fakultativen Aufsichtsrats ebenso klar wie überzeugend umrissen, wenn er ihn im Doberlug-Urteil als Gremium beschreibt, „das für die Gesellschafterversammlung als dem maßgeblichen Willensbildungs- und Kontroll­ organ der Gesellschaft Teilaufgaben der Überwachung der Geschäftsführer übernimmt und sicherstellt, dass diese die Geschäfte so führen, wie es dem wohlverstandenen Interesse der Gesellschafter entspricht“.48

Wenn der fakultative Aufsichtsrat mithin ein Werkzeug der Gesellschafter ist, das diesen bei der Überwachung der Geschäftsführung helfen („Teilaufgaben übernehmen“) und dabei die Interessen der Gesellschafter im Blick behalten soll, ist es ebenso legitim wie konsequent, ihn dabei – wenn die „Herren“ es denn so wollen – deren Weisungen zu unterstellen. Es gilt nichts anderes als für jeden anderen von den Gesellschaftern zu ihrer Unterstützung herangezogenen Geschäftsbesorger (§ 675 BGB). b) Gläubiger- und Minderheitenschutz irrelevant Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass eine Weisungsbindung des Aufsichtsrats legitime Minderheitsinteressen unterlaufen könnte und deshalb ausgeschlossen sein muss. Denn damit ist allein die Folgefrage angeschnitten, wem das Weisungsrecht zugebilligt werden darf – der Gesellschaftergesamtheit oder auch Teilen derselben.49 Auch kann nicht mit Belangen von Gläubigern, Arbeitnehmern oder der Allgemeinheit argumentiert werden.50 Denn wie der BGH im Doberlug-Urteil richtig ausführt, ist der fakultative Aufsichtsrat nicht im Interesse der Allgemeinheit in die Pflicht genommen und hat daher auch keine über seine ihm von der Gesellschafterversammlung übertragenen Aufgaben hinausgehenden öffentlichen Belange wahrzunehmen.51 Was die einem Weisungsrecht der Gesellschafter möglicherweise entgegenstehenden Belange der Arbeitnehmer angeht, ist die klare Grenzziehung der Mitbestimmungsgesetze zu achten. Erst jenseits der Schwelle von 500 Beschäftigten beginnt der – dann allerdings weisungsfreie  – Mitsprachebereich von Arbeitnehmerrepräsentanten im Aufsichtsrat. Unterhalb dieser Schwelle sind Arbeitnehmerbelange für den Aufsichts47 Statt aller Altmeppen (Fn. 8), § 45 Rz. 2. 48 BGHZ 187, 60, 68 Rz. 26 – Doberlug. 49 Dazu unten, V.2. 50 So aber Schwintowski, EWeRK 2012, 56, 58. 51 BGHZ 187, 60, 68 Rz. 26 (unter Hinweis auf RGZ 161, 129, 138 f.).

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rat nur mittelbar oder dann relevant, wenn es um zwingendes Arbeitsrecht geht.52 Nämliches gilt für Gläubigerinteressen. Auch sie hat der Aufsichtsrat nur dann unbedingt zu wahren, wenn und soweit zwingendes Recht dies gebietet. Einem Weisungsrecht der Gesellschafter steht all das nicht entgegen. 4. Ergebnis Der Aufsichtsrat einer nicht mitbestimmten GmbH kann an Weisungen der Gesellschafter gebunden werden. Ein ungeschriebenes Gebot der zwingenden Weisungsfreiheit, das für den fakultativen Aufsichtsrat gälte, existiert nicht. Soweit man ein solches Gebot bei der AG aus § 111 Abs. 6 AktG herleiten will (was nicht überzeugt), ändert das nichts, denn § 111 Abs. 6 AktG gilt für den GmbH-Aufsichtsrat nur, „soweit nicht im Gesellschaftsvertrag ein anderes bestimmt ist“ (§ 52 Abs. 1 GmbHG).

V. Folgefragen Die sich an die grundsätzliche Möglichkeit der Weisungsbindung anschließenden Folgefragen können hier nicht in aller Breite abgehandelt werden. Sie sollen aber zumindest kursorisch beantwortet werden. 1. Muss die Weisungsunterworfenheit explizit geregelt sein? Das BVerwG hat sich in der eingangs zitierten Entscheidung auf den Standpunkt gestellt, dass die Mitglieder eines fakultativen Aufsichtsrats auch dann weisungsgebunden sein können, wenn dies nicht explizit in der Satzung geregelt, ihr aber durch (ergänzende) Auslegung entnommen werden kann.53 Im konkreten Fall hat es dies für eine kommunale GmbH bejaht, weil im Zweifel die Kompatibilität mit dem eine Weisungsbindung anstrebenden Gemeinderecht gewollt sei. Dieser Weg erscheint gangbar, ist in der Literatur aber z.T. recht heftig getadelt worden.54 Jedenfalls bei der GmbH ohne öffentliche Beteiligung sollte man sich auf eine solche Auslegung nicht verlassen. Ist die Weisungsbindung gewollt, dann sollte dies explizit in der Satzung so bestimmt werden,55 und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, um eine etwaige Vermutung auszuräumen, dass bei Einrichtung eines Aufsichtsrats im Zweifel Weisungsfreiheit gewollt ist.56 Zum anderen, um dem (nach hiesiger Ansicht zwar nicht durchschlagen52 Das übersehen Krämer/Winter in FS Goette, 2011, S. 254, 258. 53 Vgl. BVerwG, GmbHR 2011, 1205. 54 Vgl. Heidel, NZG 2012, 48, 50 f. („zu mutig“); sehr kritisch Altmeppen, NJW 2001, 3737. 55 Dafür u.a. auch Leitzen, MittBayNot 2012, 325, 326; Laier, GWR 2011, 521; Schwintowski, EWeRK 2012, 56, 57. 56 Vgl. Jaeger in Beck’scher online-Kommentar zum GmbHG, 37. Ed. 2018, § 52 Rz. 70: „[Gegen die Weisungsgebundenheit] dürfte sprechen, dass bei einem Organ, das als „Aufsichtsrat“ bezeichnet ist, die Weisungsunabhängigkeit als typisches Merkmal eines Aufsichtsrats

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den, aber immerhin erhobenen) Einwand einer möglicherweise entgegenstehenden Publikumserwartung zu begegnen. Denn ist die Weisungsbindung in der Satzung fixiert, kann sich eine gegenteilige Erwartung kaum bilden, jedenfalls ist sie nicht schutzwürdig.57 Technisch könnte die Weisungsbindung durch Ausschluss von § 111 Abs. 6 AktG bewerkstelligt werden. Weil dieser bei Lichte betrachtet die Weisungsbindung gar nicht hergibt58 und weil höchstpersönliche Amtsausübung trotz Weisungsbindung gewollt sein mag, sollte die Weisungsunterworfenheit besser explizit ausgesprochen sein.59 2. Wem darf das Weisungsrecht zugestanden werden? Fernliegend ist es, das Weisungsrecht dem Geschäftsführer zuzubilligen, denn dieser soll vom Aufsichtsrat ja gerade überwacht werden. Ob eine gegenteilige Gestaltung überhaupt zulässig ist, bestimmt sich danach, ob § 105 Abs. 1 AktG, der eine gleichzeitige Mitgliedschaft in Vorstand und Aufsichtsrat verbietet, in der Satzung der GmbH ausgeschlossen werden kann. Die Frage ist streitig und soll hier nicht vertieft werden.60 Wer die sichere Seite sucht, vermeidet diesen Weg. Umgekehrt kann das Weisungsrecht jedenfalls den Gesellschaftern in ihrer Gesamtheit zugestanden werden, denn diese bildet das oberste Organ der GmbH.61 Welche Mehrheiten dabei erforderlich sind, mögen die Gesellschafter – wie auch sonst – selbst festlegen. Qualifizierte Mehrheiten oder Einstimmigkeit sind für einen Weisungs­ beschluss nicht per se vonnöten. § 111 Abs. 4 Satz 4 AktG findet insoweit keine entsprechende Anwendung.62 Minderheitsgesellschafter wissen aus dem Gesellschaftsvertrag, worauf sie sich einlassen, behalten in jedem Fall ihr Einsichtsrecht (§  51a GmbHG) und können treuwidrige Weisungen im Einzelfall gerichtlich überprüfen lassen. Schwieriger ist die Frage, ob auch einem einzelnen Gesellschafter ein Weisungsrecht gegenüber Aufsichtsratsmitgliedern zugestanden werden kann. Praktisch relevant ist das vor allem dann, wenn der Betreffende das Mitglied in den Aufsichtsrat entsandt hat. Nimmt man die den Gesellschaftern im GmbHG zugestandene Autonomie ernst und berücksichtigt man, dass der Entsandte vom Entsendungsberechtigten selbst in

auch dann gewollt ist, wenn die aktienrechtlichen Regelungen abbedungen sind, ohne dass ein Weisungsrecht ausdrücklich geregelt ist“. 57 S.o., IV.2.c. 58 S.o., Fn. 19. 59 Formulierungsvorschlag: „§ 111 Abs. 6 AktG gilt mit der Maßgabe, dass die von der Gesellschafterversammlung gewählten [alternativ: die von dem Gesellschafter X entsandten/auf Vorschlag der Gesellschafterin Y gewählten] Aufsichtsratsmitglieder bei der Amtsführung deren Weisungen zu befolgen haben“. 60 Gegen eine mögliche Disposition Zöllner/Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 28; Spindler (Fn. 4), § 52 Rz. 137; dafür Schneider (Fn. 9), § 52 Rz. 256, 262; Heermann (Fn. 4), § 52 Rz. 36 f. 61 S.o., Fn. 43. 62 Siehe dazu noch unten, bei Fn. 79.

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der Aktiengesellschaft jederzeit und ohne Grund abberufen werden kann (vgl. § 103 Abs. 3 AktG),63 ist kaum ersichtlich, warum die Frage nicht bejaht werden sollte. 3. Schranken des Weisungsrechts Die Schranken des Weisungsrechts gegenüber Aufsichtsratsmitgliedern entsprechen cum grano salis denjenigen bei der Weisung gegenüber Geschäftsführern.64 Rechtswidrige Weisungen sind danach unbeachtlich.65 Rechtswidrig ist eine Weisung namentlich dann, wenn sie gegen zwingendes Gesetzesrecht verstößt oder wenn ihre Ausführung eine (unzulässige) Existenzvernichtung zur Folge hätte. Selbiges gilt für satzungswidrige Weisungen, soweit nicht der Sonderfall einer zulässigen Satzungsdurchbrechung vorliegt. Dient die Weisung nach Auffassung des angewiesenen Aufsichtsratsmitglieds nicht dem Gesellschaftswohl, muss sie gleichwohl befolgt werden. Ob man davon in Anlehnung an § 308 Abs. 2 Satz 2 AktG eine Ausnahme machen sollte, wenn die Weisung offensichtlich nicht dem Gesellschaftswohl dient, muss noch diskutiert werden.66

VI. Sonderrecht für bestimmte Beteiligungsformen? Im Schrifttum wird die Weisungsbindung von Aufsichtsratsmitgliedern z.T. nur oder speziell für die Einmann-GmbH bzw. für die GmbH in staatlicher oder kommunaler Trägerschaft bejaht.67 Nach dem hiesigen Ergebnis ist dies nicht relevant, weil jeder fakultative Aufsichtsrat weisungsgebunden werden kann. Dennoch sollen die beiden Sonderkonstellationen kurz beleuchtet werden. 1. Die Einmann-GmbH Bei der Einmann-GmbH gibt es definitionsgemäß keine Minderheit. Soweit man die Weisungsfreiheit von Aufsichtsratsmitgliedern mit Minderheiteninteressen begründen wollte,68 scheidet dieses Argument von vornherein aus. Weil der einzige Gesell63 § 103 Abs. 3 AktG findet auf den fakultativen Aufsichtsrat (merkwürdigerweise) keine automatische Anwendung (vgl. §  52 Abs.  1 GmbHG), doch kann seine Geltung selbstverständlich vereinbart werden. 64 Einzelheiten, etwa zum Schicksal der einem Gesellschafterbeschluss zuwider laufenden Weisung eines weisungsberechtigten Gesellschafters, müssen hier ausgeklammert bleiben. 65 Unstr., s. nur Wicke (Fn. 8), § 37 Rz. 5. 66 Generell für Unzulässigkeit nachteiliger Weisungen Heidel, NZG 2012, 48, 54. 67 So z.B. Zöllner/Noack (Fn. 5), § 52 Rz. 130 (für Einmann-GmbH komme Ausnahme von an sich zwingender Weisungsfreiheit „in Betracht“); Altmeppen in FS Schneider, 2011, S. 1, 3  f., 8  f.; Altmeppen (Fn.  8), §  52 Rz.  3  f.; Altmeppen, NJW 2003, 2561, 2564 (für Einmann-GmbH Weisungsgebundenheit möglich, im Übrigen nicht); Henssler (Fn. 8), § 52 Rz. 11 (für Einmann-GmbH; im Übrigen nicht endgültig entschieden). Schneider (Fn. 9), §  52 Rz.  328a, 546 (für Kommunal-GmbH; nicht eindeutig bzgl. privater GmbH, dazu Rz. 327 mit Fn. 7). 68 Dagegen oben, IV.3.b.

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schafter der GmbH weder einem Stimmverbot noch den Schranken der Treuepflicht unterliegt,69 reduziert sich auch der reflexhafte Gläubigerschutz, den diese Instrumente vermitteln. Gläubigerschutz vermag die Weisungsfreiheit daher ebenfalls nicht zu stützen. Die Fragen, ob das Weisungsrecht auch einzelnen Gesellschaftern zugewiesen werden kann und welche Mehrheitserfordernisse für seine Ausübung gelten, entfallen beim Fehlen weiterer Gesellschafter ebenfalls. Insgesamt lässt sich ein Weisungsrecht gegenüber Aufsichtsratsmitgliedern in der Einmann-GmbH also zuver­ lässiger begründen und leichter umsetzen als in der Mehrheits-GmbH.70 Das ändert nichts daran, dass es auch in der Mehrheits-GmbH zulässig ist. 2. Die GmbH in staatlicher oder kommunaler Inhaberschaft Werden die Gesellschaftsanteile vollständig oder vornehmlich von der öffentlichen Hand (Bund/Land/Kommune) gehalten, lässt sich die Zulässigkeit eines Weisungsrechts gegenüber Aufsichtsratsmitgliedern ebenfalls leichter begründen, weil sie mit zusätzlichen Argumenten untermauert werden kann. Wie das BVerwG in seiner oben erwähnten Entscheidung ausführt, schreiben die Gemeindeordnungen vor, dass sich eine Kommune nur dann an einer GmbH beteiligen darf, wenn sie den von ihr bestellten oder auf ihren Vorschlag gewählten Mitgliedern des Aufsichtsrats Weisungen erteilen kann.71 Folgerichtig nötigen die Gemeindeordnungen den Kommunen eine Bindung „ihrer“ Aufsichtsratsmitglieder an die Beschlüsse des Gemeinderats ab.72 Allerdings kann das Gemeinderecht, worauf man immer wieder hingewiesen hat, kein Bundesrecht derogieren. Indirekte Schützenhilfe erhält das Kommunalrecht jedoch durch das Aktienrecht. § 394 AktG, der gem. § 52 Abs. 1 GmbHG mangels abweichender Regelung auch für den fakultativen GmbH-Aufsichtsrat gilt, entbindet Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft gewählt oder entsandt worden sind, hinsichtlich der von ihnen gegenüber der Gebietskörperschaft zu erstattenden Berichte von der Verschwiegenheitspflicht. Die darin erwähnten Berichte sind nicht Selbstzweck, sondern tragen – wie die Materialien erhellen – dem Umstand Rechnung, dass die öffentliche Hand Einfluss auf die betreffenden Unternehmen nehmen will und muss.73 Daraus lässt sich nicht zwingend die Zulässigkeit des Weisungsrechts für die GmbH in öffentlicher Trägerschaft ableiten, doch legt der Normzusammenhang sie zumindest nahe.74 Auf gleicher Hierarchieebene mit dem GmbHG steht das Bundeshaushaltsrecht. Pa­ rallel zum Landes- und Gemeinderecht sieht § 65 Abs. 1 Nr. 3 BHO vor, dass sich der Bund an einem Unternehmen privater Rechtsform nur beteiligen darf, wenn er einen 69 Vgl. BGHZ 105, 324, 333 – Supermarkt (kein Stimmverbot); BGHZ 119, 257 (keine Treuepflicht). 70 Heidel, NZG 2012, 48, 54. 71 So z.B. § 108 Abs. 5 Nr. 2 GO NRW. 72 So z.B. § 113 Abs. 1 Satz 2 GO NRW. 73 Vgl. Kurzprotokoll der 121. Sitzung des Wirtschaftsausschusses am 25.2.1965, Protokoll Nr. 121, Bundestag 4. Wahlperiode, S. 14. 74 Heidel, NZG 2012, 48, 53.

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„angemessenen Einfluss“, insbesondere im Aufsichtsrat, erhält. Dabei soll das zuständige Ministerium darauf hinwirken, dass die auf Veranlassung des Bundes gewählten oder entsandten Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Tätigkeit die „besonderen Interessen“ des Bundes berücksichtigen (§ 65 Abs. 6 BHO). Ersichtlich distanziert sich das Haushaltsrecht damit von dem hehren aktienrechtlichen Ideal, wonach Aufsichtsratsmitglieder gleichsam autark und allein dem Unternehmensinteresse dienend agieren. Wiederum lässt sich daraus nicht zwingend die Zulässigkeit der Weisungsbindung ableiten. Da für diese aber, wie gesehen, ohnehin gute Gründe streiten, spricht alles dafür, es jedenfalls der nicht-mitbestimmten GmbH mit Bundesbeteiligung zu gestatten. Eben dieses Verständnis liegt den vom Bundesfinanzministerium formulierten Grundsätzen guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes zugrunde. Darin heißt es, dass Beamte, die auf Vorschlag oder Veranlassung ihrer Behörde in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens mit Bundesbeteiligung gewählt worden sind, den Weisungen ihrer Behörde grundsätzlich Folge zu leisten haben.75 Korrespondierend wird Aspiranten für ein bundeseigenes Aufsichtsratsamt die Erklärung abverlangt, das zuständige Beteiligungsreferat nicht nur frühzeitig über anstehende Aufsichtsratssitzungen zu informieren, sondern mit diesem auch eine vorgängige „Beratung des Stimmverhaltens“ durchzuführen.76 Zumindest beim fakultativen Aufsichtsrat dürfen im Rahmen einer solchen Beratung nach hier vertretener Auffassung auch Weisungen ausgesprochen werden.

VII. Zur praktischen Relevanz des Weisungsrechts Wie der eingangs geschilderte, vom BVerwG entschiedene Fall zeigt, kann die Frage der Weisungsbindung von Aufsichtsratsmitgliedern die Gemüter im Einzelfall derart bewegen, dass eine gerichtliche Klärung gesucht wird. Dies gilt insbesondere für Unternehmen mit staatlicher oder kommunaler Beteiligung, bei denen es nicht selten zu Konflikten zwischen dem Interesse der Gesellschaft und demjenigen der öffentlichen Hand kommt. Von solchen Fällen abgesehen ist die praktische Relevanz der Frage nicht zu überschätzen. Mit oder ohne Weisungsrecht – die Gesellschafter können sich gegenüber widerstrebenden Aufsichtsratsmitgliedern am Ende immer durchsetzen. Abgesehen von der Möglichkeit, widerspenstige Aufsichtsratsmitglieder jederzeit und ohne Grund abzu-

75 Grundsätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes, Teil B: Hinweise für gute Beteiligungsführung im Bereich des Bundes, Rz.  76. Die Befolgungspflicht wird „im Außenverhältnis“ eingeschränkt, wenn die Weisung dem Wohl des Unternehmens zuwider läuft und ihre Befolgung daher pflichtwidrig oder sonst strafbar ist. 76 Muster einer Erklärung für Mitglieder von Überwachungsorganen, Anlagen 1 und 2 zu Teil C (Berufungsrichtlinien) der Grundsätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes (Fn. 75).

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Weisungsbindung der Aufsichtsratsmitglieder in der nicht mitbestimmten GmbH

rufen (§ 103 AktG),77 vermögen die Gesellschafter den Geschäftsführern beliebig und am Aufsichtsrat vorbei Weisungen zu erteilen.78 Der Aufsichtsrat mag derartige Weisung missbilligen, kann sie aber nicht beanstanden, weil die Überwachung der Gesellschafter nicht seine Aufgabe ist. Verweigert der Aufsichtsrat einer Geschäftsführungsmaßnahme seine Zustimmung gem. § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG, können – soweit die Norm nicht ohnehin in der Satzung abbedungen wurde – die Gesellschafter sich da­ rüber hinwegsetzen (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG i.V.m. § 52 Abs. 1 GmbHG), wofür, anders als bei der AG, die einfache Mehrheit genügt.79 Der Zustimmungsvorbehalt ­verliert dadurch beim fakultativen Aufsichtsrat an Bedeutung.80 Ging der Geschäftsführungsmaßnahme, welcher der Aufsichtsrat sein Plazet verweigern möchte, gar eine Weisung der Gesellschafter voraus, entfaltet sein etwaiges Veto von vornherein keine Wirkung.81 Geringe Bedeutung hat die Weisungsbindung auch in Bereichen, in denen eine Weisung faktisch kaum in Betracht kommt, namentlich bei der vom Aufsichtsrat zu erfüllenden Beratungsaufgabe, aber auch bei der repressiven Kontrolltätigkeit. Kern der letzteren ist die konkret-individuelle Überprüfung einzelner Geschäftsleitungsmaßnahmen, damit verbunden die Ausübung anlassbezogener Informations- und Auskunftsrechte gegenüber der Geschäftsführung sowie die Erfüllung von Informations-/ Auskunftspflichten gegenüber den Gesellschaftern.82 Hierzu kann keine generelle Abstimmungspflicht im Aufsichtsrat angeordnet werden: Um eine Anordnung zu treffen, muss die Gesellschafterversammlung das, was kontrolliert und überprüft werden soll, kennen. Wenn sie die Maßnahme kennt, gibt es für den Aufsichtsrat insoweit nichts mehr zu prüfen. Die Gesellschafter können dann gem. § 46 Nr. 6 u. 8 GmbHG selbst jede Art von Handlungs- oder Unterlassungspflichten aussprechen. Wirklich relevant wird die Weisungsbindung bei Personalmaßnahmen, etwa wenn die Gesellschafter den Aufsichtsrat dazu anweisen, einen Geschäftsführer abzuberufen bzw. eine bestimmte Person als solchen zu bestellen.83 Allerdings steht dem fakultativen GmbH-Aufsichtsrat die Personalkompetenz von sich aus gar nicht zu.84 Ver77 Diese Möglichkeit besteht selbst in der mitbestimmten GmbH, s. § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG und § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 DrittbG sowie – zur Abberufung von Arbeitnehmervertretern – § 23 MitbestG und § 12 DrittelbG. Die dafür jeweils erforderliche qualifizierte Mehrheit kann für Anteilseignervertreter abgesenkt werden. 78 Dies sieht auch der Jubilar, der daraus folgert, dass die Statuierung eines Weisungsrechts praktisch unnötig sei E. Vetter, GmbHR 2012, 181, 185; ähnlich Krämer/Winter in FS ­Goette, 2011, S. 254, 257 („kein Bedürfnis“). Die Bedürfnisfrage zu beantworten obliegt freilich nach § 52 Abs. 1 GmbHG nicht den Kommentatoren, sondern den Gesellschaftern. 79 H.M., vgl. Zöllner/Noack (Fn.  5), §  52 Rz.  254; Lutter/Hommelhoff (Fn.  4), §  53 Rz.  49; Schneider (Fn. 9), § 52 Rz. 133. 80 Bachmann, BOARD 2018, 152, 153. 81 Altmeppen (Fn. 8), § 52 Rz. 64 m.w.N. 82 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 454, nennt „das Recht […] gegenüber der Geschäftsführung auf Berichterstattung, die Prüfung der laufenden Kassenführung und des Rechnungswesens sowie das Recht und die Pflicht zur Information der Gesellschafterversammlung“. 83 Bsp. nach Harder/Ruter, zitiert nach Lutter/Krieger/Verse (Fn. 4), Rz. 1425 (Fn. 3 auf S. 543). 84 Siehe § 46 Nr. 5 GmbHG sowie § 52 Abs. 1 GmbHG, der nicht auf § 84 AktG verweist.

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schafft ihm der Gesellschaftsvertrag eine solche, muss er sie auch einschränken können, indem er hinsichtlich ihrer Ausübung eine Weisungsgebundenheit vorsieht. Ähnliche Konflikte können entstehen, wenn die Gesellschafter den Aufsichtsrat dazu anweisen, gegen den Geschäftsführer vorzugehen, z.B. eine interne Untersuchung oder eine Klage anzustrengen. Sollte sich der Aufsichtsrat diesem Ansinnen verweigern, bleibt es den Gesellschaftern, die diesen Job nicht selbst machen wollen, unbenommen, das Aufsichtspersonal auszutauschen oder die Aufgabe einem anderen, internen oder externen Sachwalter (z.B. Rechtsanwalt) anzuvertrauen. Insgesamt ist daher keine Konstellation vorstellbar, in welcher die Weisungsfreiheit von Aufsichtsratsmitgliedern eine so gravierende Rolle spielt, dass sie von Rechts wegen und um jeden Preis erzwungen werden müsste. Die Bedeutung liegt eher auf der symbolischen bzw. psychologischen Ebene: Wenn ein Aufsichtsratsmitglied eine Maßnahme missbilligt, wird es – ob weisungsgebunden oder nicht – seine Bedenken den Gesellschaftern vortragen, wozu es auch verpflichtet ist. Der Unterschied zwischen dem weisungsfreien und dem weisungsgebundenen Mitglied besteht dann darin, dass ein weisungsfreies Mitglied auf seiner Missbilligung beharren darf, während ein weisungsgebundenes diese jedenfalls nach außen aufzugeben und sich dem Ansinnen des Gesellschafters zu beugen (also die Zustimmung zu einer Geschäftsführungsmaßnahme zu erteilen, die interne Durchsuchung durchzuführen etc.) hat. Dieses Szenario mag „standfeste“ Aufsichtsratskandidaten davon abhalten, sich einem solchen Gremium überhaupt zur Verfügung zu stellen. So gesehen mag das abstrakte Risiko bestehen, dass sich der weisungsgebundene Aufsichtsrat aus willfährigem oder phlegmatischem Personal rekrutiert, zumal das – beim fakultativen Aufsichtsrat ohnehin reduzierte – Haftungsrisiko durch die Weisungsbindung deutlich abgesenkt ist (allerdings nicht verschwindet).85 Diese eher theoretische Gefahr als so gewichtig einzuschätzen, dass deswegen die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter contra legem eingeschränkt wird, ist m.E. nach aber ein Urteil, das solange dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss, als keine eklatanten Missstände zutage treten. Die Mehrzahl der GmbH-Gründer, die sich für die Einrichtung eines freiwilligen Aufsichtsrat entscheidet, wird von dessen Weisungsbindung aus freien Stücken absehen, solange diese nicht – wie im Kommunalrecht – exogen vorgeben ist.

VIII. Ergebnis 1. Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft und der mitbestimmten AG unterliegt keinen Weisungen durch die Gesellschafter. Er kann solchen auch nicht durch die Satzung unterworfen werden. Dies folgt – entgegen der h.M. – nicht aus § 111 Abs. 6 AktG, der lediglich ein Vertretungsverbot statuiert, sondern es ergibt sich aus der Verpflichtung der Aufsichtsratsmitglieder auf das Unternehmensinteresse, welches mit dem Interesse der Gesellschafter nicht deckungsgleich ist.

85 Zum reduzierten Haftungsumfang s. BGHZ 187, 60 – Doberlug.

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Weisungsbindung der Aufsichtsratsmitglieder in der nicht mitbestimmten GmbH

2. Richten die Gesellschafter einer nicht der Mitbestimmung unterliegenden GmbH einen Aufsichtsrat ein, sind dessen Mitglieder ebenfalls weisungsfrei. Entgegen der h.M. im Gesellschaftsrecht darf die Satzung aber eine Bindung an Weisungen der Gesellschafterversammlung oder auch einzelner Gesellschafter vorsehen. Dies folgt aus § 52 Abs. 1 GmbHG, der es den Gesellschaftern als „Herren der Gesellschaft“ gestattet, den fakultativen Aufsichtsrat abweichend vom AktG auszugestalten. Das BVerwG hat das in seiner einschlägigen Entscheidung von 2011 zutreffend erkannt und auch richtig begründet. 3. Die dagegen im Schrifttum erhobenen Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Weder aus der Bezeichnung „Aufsichtsrat“ noch aus der Natur der Sache ergibt sich, dass ein Aufsichtsrat zwingend weisungsfrei sein müsste. Die (vermeintlich) gegenteilige Erwartungshaltung des Publikums ist empirisch nicht nachgewiesen, normativ jedenfalls unbeachtlich. Denn § 52 Abs. 1 GmbHG stellt unmissverständlich klar, dass ein aktienrechtlicher Standard beim freiwilligen Aufsichtsrat nicht erwartet werden darf. Die Gegenargumentation gerät denn auch eher zirkulär: Der Verkehr erwarte einen weisungsfreien Aufsichtsrat, weil sich ein weisungsgebundener Aufsichtsrat nicht „Aufsichtsrat“ nennen dürfe. 4. Die Möglichkeit der Weisungsbindung von Aufsichtsratsmitgliedern ist keine Besonderheit der kommunalen oder staatlich kontrollierten GmbH, weil sie nicht aus dem öffentlichen Recht folgt. Sie besteht auch nicht nur bei der Einmanngesellschaft, sondern – in den üblichen Schranken der Mehrheitsherrschaft – auch bei der Mehrpersonen-GmbH. Bei der Einpersonengesellschaft und bei GmbH mit Bundesbeteiligung lässt sie sich lediglich (noch) einfacher begründen. Mindestens hier muss sie daher als zulässig anerkannt werden.

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Der Prokurist als Aufsichtsrat Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Inkompatibilität des § 105 Abs. 1 AktG 1. Hintergrund 2. Der Prokuristenbegriff des § 105 Abs. 1 AktG 3. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen § 105 Abs. 1 AktG a) Erteilung der Prokura an ein bishe­ riges Aufsichtsratsmitglied b) Wahl des bisherigen Prokuristen als Aufsichtsratsmitglied

I II. Als Prokurist in den Aufsichtsrat 1. Der Regelbruch im Mitbestimmungsrecht a) Position des MitbestG b) Position des DrittelbG IV. Als Prokurist im Aufsichtsrat 1. Haftung und Sorgfaltsmaßstab 2. Verschwiegenheitspflicht 3. Interessenkonflikte und Unterneh­ mensinteresse V. Blick vom Balkon und Zusammen­ fassung

I. Einleitung Das Thema dieses Beitrags, der die Kombination zweier Rollen betrachtet, die der Jubilar in seinem Berufsleben wahrgenommen hat,1 scheint auf den ersten Blick gar keines zu sein. § 105 Abs. 1 AktG schreibt nämlich als Grundsatz vor, dass ein Aufsichtsratsmitglied einer AG u.a. nicht zugleich Vorstandsmitglied, Prokurist oder zum gesamten Geschäftsbetreib ermächtigter Handlungsbevollmächtigter der Gesellschaft sein kann. Gleiches gilt für die GmbH über den Verweis § 52 Abs. 1 GmbHG bei einem fakultativem Aufsichtsrat2 sowie über §§ 6 Abs. 2 Satz 1, 1 Abs. 1 MitbestG bzw. § 1 Nr. 3 DrittelbG bei einem obligatorischem Aufsichtsrat.

II. Die Inkompatibilität des § 105 Abs. 1 AktG 1. Hintergrund Die Inkompatibilität der gleichzeitigen Stellung als Aufsichtsrat und Prokurist ist vor dem Hintergrund des dualistischen Systems, also der Trennung von Geschäftslei1 Eberhard Vetter war u.a. Prokurist der Klöckner-Humboldt-Deutz AG und der AXA Versicherung AG und u.a. Aufsichtsratsvorsitzender der Wedag Westphalia Dinnendahl Gröppel AG. 2 Zum erbitterten Streit, ob der Gesellschaftsvertragsvorbehalt gemäß § 52 Abs. 1 a.E. GmbHG beim fakultativen Aufsichtsrats auch eine Abweichung von § 105 Abs. 1 AktG ermöglicht, vgl. Spindler in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 52 Rz. 137 m.w.N.

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tungs- und Aufsichtsgremium im deutschen Aktienrecht, unmittelbar einleuchtend. Die durch diese Organtrennung zusätzlich verstärkte Funktionstrennung3 soll sicherstellen, dass Geschäftsführung und deren Überwachung nicht in denselben Händen liegen.4 Dieser Inkompatibilitätsgrundsatz fand sich bereits in § 90 AktG 19375 wieder und bezog sich noch im Regierungsentwurf des AktG 1965 auf leitende Angestellte.6 Er erhielt dann in der Beschlussempfehlung im AktG 19657 seine noch heute im Wortlaut geltende Fassung. Diese sollte durch die Aufzählung des Prokuristen und zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter die im Begriff des leitenden Angestellten liegenden Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden.8 2. Der Prokuristenbegriff des § 105 Abs. 1 AktG Der Prokuristenbegriff der Inkompatibilitätsnorm ist ein rein formeller. Entscheidend ist allein die Erteilung der Prokura gemäß § 48 HGB.9 Es ist somit ohne Belang, um welche Form der Prokura es sich handelt und welche Rolle oder Stellung dem Prokuristen in der Hierarchie der Gesellschaft zukommt.10 Daher sind der Einzel- oder Gesamtprokurist, aber auch der sogenannte Titularprokurist, der zwar gemäß § 48 HGB als Prokurist bestellt ist, aber im Innenverhältnis nicht berechtigt ist, von seiner Prokura Gebrauch zu machen,11 von § 105 Abs. 1 AktG erfasst. Allerdings fällt nur die gleichzeitige Tätigkeit als Prokurist oder Generalhandlungsbevollmächtigter und Aufsichtsratsmitglied innerhalb ein und derselben Gesellschaft 3 Aus deutscher Sicht wird oftmals übersehen, dass eine Funktionstrennung ohne weiteres auch in monistischen Systemen möglich ist. So schreibt der deutsche Gesetzgeber die Funktionstrennung bei der monistischen SE zwingend vor (§ 40 Abs. 1 Satz 1 und 2 SEAG) mit der weiteren Anforderung, dass die Mehrheit des Verwaltungsrates weiterhin aus nicht geschäftsführenden Direktoren bestehen muss; vgl. auch Art. 716 ff. Schweizer OR, wonach der Verwaltungsrat der AG die Geschäftsführung übertragen und damit zum Überwachungsorgan werden kann. 4 Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  105 Rz.  1; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 1.  5 § 90 Abs. 1 AktG 1937: „Die Aufsichtsratsmitglieder können nicht zugleich Vorstandsmitglieder oder dauernd Vertreter von Vorstandsmitgliedern sein. Sie können auch nicht als Angestellte die Geschäfte der Gesellschaft führen.“ 6 RegE AktG 1965, BT-Drucks. IV/171, 24 und 141. 7 BeschlussE AktG 1965, BT-Drucks. IV/3296, 51. 8 BeschlussE AktG 1965, BT-Drucks. IV/3296, 17. 9 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 3; Simons in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 105 Rz. 4. 10 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 3. 11 Brox in FS Ficker, 1967, S. 95, 108; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 13; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 3; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 105 Rz. 12; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 8.

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unter § 105 Abs. 1 AktG.12 Damit bleibt es beispielsweise ohne weiteres möglich, dass der Prokurist der ganz wesentlichen Tochtergesellschaft im Aufsichtsrat der minimal ausgestatteten Mutterholdinggesellschaft sitzt. Darin liegt auch kein Verstoß gegen § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG.13 Denn das danach geschützte natürliche Organisationsgefälle erfasst nur gesetzliche Vertreter, der Prokurist ist aber trotz seiner gesetzlich auskonturierten Stellung (§ 49 HGB) ein rechtsgeschäftlicher14 und kein gesetzlicher Vertreter. 3. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen § 105 Abs. 1 AktG Hinsichtlich der Rechtsfolgen gilt im Ergebnis der Prioritätsgrundsatz: das zuerst begründete Verhältnis bleibt wirksam, das anschließend begründete, inkompatible Verhältnis ist nichtig.15 Der Nichtigkeitsgrund unterscheidet sich danach, welches Verhältnis zuerst vorlag. a) Erteilung der Prokura an ein bisheriges Aufsichtsratsmitglied Die Erteilung der Prokura an ein bisheriges Aufsichtsratsmitglied scheitert an § 134 BGB i.V.m. § 105 Abs. 1 AktG als gesetzliche Verbotsnorm.16 Regelmäßig soll in der Übernahme des inkompatiblen Amtes die konkludente Niederlegung des kollidierenden, zeitlich vorausgehenden Aufsichtsratsmandats liegen.17 Dieses ist für die Übernahme eines grundsätzlich inkompatiblen Vorstands- oder Geschäftsführeramtes insofern nachvollziehbar, als die Bestellung in das Amt nur mit vorab oder nachträglich erklärtem Einverständnis des Bestellten wirksam wird.18 Auf die Prokura ist das allerdings nicht entsprechend übertragbar. Da die Erteilung der Prokura eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung ist19 und damit keiner Annahme bedarf, liegt in der Erteilung selbst nicht einmal eine Handlung des Begünstigten, zumal die Prokura als Außenvollmacht auch gegenüber Dritten erteilt 12 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 12. 13 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 32; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 100 Rz. 13. 14 Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 48 Rz. 1; Roth in Koller/Kindler/Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 48 Rz. 1. 15 Drygala in K.  Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  105 Rz.  9; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 6. 16 Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  105 Rz.  20; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 6. 17 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 105 Rz. 8; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 20. 18 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 84 Rz. 5 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 84 Rz. 3 für die AG und Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 46 Rz. 35, § 35 Rz. 10 für die GmbH, jeweils m.w.N. auch zur dogmatischen Einordnung des Bestellungsaktes. 19 Joost in Staub, HGB, 5. Aufl. 2008, § 48 Rz. 54; Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 48 Rz. 42 f.; Meyer in BeckOK, HGB, 23. Aufl. 2019, § 48 Rz. 3; Roth in Koller/Kindler/ Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 48 Rz. 8.

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werden kann (§§ 167 Abs. 1 Alt. 2, 170 BGB).20 Es fehlt somit bereits an einem Anknüpfungspunkt für eine konkludente Niederlegung. Einen Schwebezustand für eine Entscheidung des Begünstigten für das eine oder andere Amt gibt es bei der Prokuraerteilung ebenfalls nicht. Selbst wenn man dem Prokuristen richtigerweise das Recht zubilligt, die Prokura jederzeit zurück zu weisen oder nieder zu legen,21 nähert ein solches Vernichtungsrecht die Stellung des unwilligen Prokuristen zwar einem Annahmeerfordernis an, kommt diesem aber nicht gleich. Die Rechtsfolge der Prokuraerteilung tritt nämlich, mit Zugang der Willenserklärung (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB), zunächst einmal ohne sein Zutun ein. Da dieses Ergebnis § 105 Abs. 1 AktG widerspräche, ist an der sofortigen Nichtigkeitsfolge der Prokuraerteilung gemäß § 134 BGB i.V.m. § 105 Abs. 1 AktG festzuhalten. Für die Annahme eines Schwebezustandes bis zur endgültigen Begründung der Prokura durch einen Übernahmeakt, der eine konkludente Niederlegung des Aufsichtsamtes darstellen könnte, ist in der gesetzlichen Konzeption der Vollmachtserteilung als einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung (§ 167 Abs. 1 BGB), anders als bei der Bestellung zum Organ, kein Raum.22 Praktisch ist auch kein Bedürfnis für eine Korrektur der Nichtigkeitsfolge erkennbar. Ist von der Gesellschaft tatsächlich eine Bestellung zum Prokuristen statt der Tätigkeit als Aufsichtsrat gewünscht, kann diese ohne weiteres nach Niederlegung des Aufsichtsratsamtes wiederholt werden. b) Wahl des bisherigen Prokuristen als Aufsichtsratsmitglied Im umgekehrten Fall ist die Wahl des Prokuristen zum Aufsichtsratsmitglied schluss­ endlich entsprechend § 250 Abs. 1 Nr. 4 AktG nichtig.23 Die Nichtigkeitsfolge tritt indes erst ein, wenn der Hinderungsgrund bei Amtsantritt noch vorliegt.24 Der Amtsantritt erfolgt mit der Feststellung des Wahlbeschlusses bzw. der Wahl im Mitbestimmungsrecht und der vorherigen oder nachträglichen Annahme der Wahl durch den Gewählten.25 Sofern diese nicht vorab erfolgt, ist die Wahl ist bis zu ihrer Annahme durch den Gewählten schwebend unwirksam.26 In diesem Schwebezustand tritt die Nichtigkeitsfolge also noch nicht ein. Die Wahl wird erst mit 20 Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 48 Rz. 3.  21 Siehe zur Zurückweisung und Niederlegung sogleich unter II.3.b). 22 A.A. Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 20, der auf eine „Entgegennahme“ abstellt; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 6. 23 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 19; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2013, § 105 Rz. 6; jedenfalls bei beabsichtigter Ämterhäufung auch Spindler in Spindler/ Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 18 (sonst bis Antritt oder Niederlegung schwebende Unwirksamkeit). 24 Vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 106 Rz. 6 mit § 250 Rz. 9. 25 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 101 Rz. 61; Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 30 Rz. 46; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 100 Rz. 8. 26 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 101 Rz. 61; Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 30 Rz. 46; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 100 Rz. 8.

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Der Prokurist als Aufsichtsrat

Nichtaufgabe des älteren Amtes bei Amtsantritt des neuen Amtes endgültig unwirksam,27 womit auch der Schwebezustand endet. Darauf, ob eine Verknüpfung der inkompatiblen Ämter bei der Wahl gewollt ist, kommt es für diese Rechtsfolge nicht an.28 Eine solche subjektive Voraussetzung ist § 105 Abs. 1 AktG nämlich fremd. Wenn es nach der Verbotsnorm aber allein auf die objektive Rechtslage ankommt, fehlt ein Grund, hinsichtlich der Rechtsfolge nach der subjektiven Ämterhäufungsabsicht zu differenzieren. Im Gegenteil, eine Rechtsfolgendifferenzierung hat eine gesteigerte Rechtsunsicherheit zur Folge: Denn in dem einen Fall tritt unmittelbar Nichtigkeit ein, in dem anderen ist eine Heilung in der Schwebezeit möglich. Hinzu kommt, dass unklar bleibt, auf wessen Ämterhäufungsabsicht abgestellt werden soll. Da der Empfänger, wie ausgeführt, ohne eigenes Zutun mit Empfang der Erteilungswillenserklärung Prokurist wird,29 stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Prokurist auch ohne Zustimmung des Unternehmens seine Stellung als Prokurist beseitigen und damit die Nichtigkeitsfolge vermeiden kann.30 Das ist im Ergebnis zu bejahen. Der Prokurist hat das Recht, seine Prokura jederzeit zurück zu weisen oder nieder zu legen.31 Dafür spricht, dass die Stellung des Prokuristen aufgrund der Registerpublizität schon aus Reputations- und Datenschutzgründen die Interessen des unwilligen Prokuristen berührt.32 Daher gebietet der Grundsatz der Privatautonomie, dass auch dem Prokuristen als Bevollmächtigten die Lösung möglich sein muss.33 Der Verweis der Gegenansicht darauf, der Prokurist müsse stattdessen sein Arbeitsverhältnis als Grundverhältnis beenden,34 verkennt hingegen den

27 Insoweit überzeugend Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 18. 28 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 101 Rz. 61; Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 30 Rz. 46; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 100 Rz. 8; a.A. Hennsler in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4.  Aufl. 2019, §  105 AktG. Rz.  3; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 18; E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 25.13. 29 Vgl. die Nachweise in Fn. 18. 30 Nicht überzeugend ist die Annahme eines automatischen Erlöschens, so aber Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 52 Rz. 41; Karsten Schmidt, HandelsR, 6. Aufl. 2014, § 16 Rz. 85, denn während das Einrücken des Prokuristen in ein Geschäftsleitungsorgan schlicht eine andere Stufe der dann organschaftlichen Vertretungsbefugnis bewirkt, ist die Wahl als Aufsichtsrat ganz anders gelagert und steht nicht in einem Stufenverhältnis, das einen Vorrang begründen kann; ähnlich Schäuble/Lindemann, GWR 2015, 155, 156. 31 Hopt in Baumbach/Hopt, HGB, 38.  Aufl. Rz.  1; Joost in Staub, HGB, 5.  Aufl. 2008, §  52 Rz. 43; Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 52 Rz. 43; Schubert in Oetker, HGB, 5. Aufl. 2017, § 52 Rz. 28; enger (nur Zurückweisung analog § 333 BGB) Schäuble/Lindemann, GWR 2015, 155, 156 f.; a.A. Brox, NJW 1967, 801, 805; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 1. 32 Meyer in BeckOK, HGB, 23. Aufl. 2019, § 52 Rz. 18. 33 Schubert in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 164 Rz. 23, § 168 Rz. 3. 34 Brox, NJW 1967, 801, 805; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 18; so auch Schäuble/Lindemann, GWR 2015, 155, 158 f. für den Fall, dass die von ihnen befürwortete Zurückweisung analog § 333 BGB ausscheidet.

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abstrakten Charakter der Vollmacht.35 Diese ist eben gerade vom Grundverhältnis unabhängig. Die in § 168 Satz 1 BGB normierte Beendigung stellt somit eine Durchbrechung des Abstraktionsgrundsatzes und damit die Ausnahme und nicht die Regel dar.36 § 168 Satz 2 BGB zeigt vielmehr, dass die Beendigung auch ohne Beendigung des Grundverhältnisses möglich ist. Die Annahme eines freien Zurückweisungs- bzw. Niederlegungsrechtes stützt auch der Erst-Recht-Schluss aus der Möglichkeit der Niederlegung eines Vorstands- oder Geschäftsführeramtes: Wenn eine einseitige Niederlegung eines Geschäftsführungsamtes möglich ist, das nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten zur Ausübung desselben beinhaltet,37 muss die Niederlegung erst-Recht bei einer (zukünftig) unerwünschten Rechtsstellung möglich sein, die aus sich heraus, wegen der Ausgestaltung als bloße rechtsgeschäftliche Vollmacht, keine Pflicht zur Ausübung mit sich bringt.38 Vor diesem Hintergrund ergeben sich in der Praxis selten Probleme: Anders als bei der Erteilung der Prokura an ein bestehendes Aufsichtsratsmitglied39 liegt hier regelmäßig in der Übernahme des Aufsichtsratsmandats eine konkludente Niederlegung der Prokura.40 Die nach § 78 Abs. 2 Satz 2 AktG grundsätzlich gegenüber dem Vorstand abzugebende Erklärung,41 die Wahl anzunehmen, beinhaltet nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (§§ 133, 157 BGB) regelmäßig die konkludente Prokuraniederlegung.42 Erfolgt sie vorab, ist sie aufschiebend bedingt auf die Bestellung zum Aufsichtsrat (§ 158 Abs. 1 BGB). Eine solche aufschiebend bedingte Niederlegung ist regelmäßig auch in der schriftlichen Versicherung der Annahme der Wahl nach den Wahlordnungen im Mitbestimmungsrecht43 zu sehen, wobei es für die Niederlegung der Prokura auf den Zugang bei einem Unternehmensvertreter und nicht beim jeweiligen Wahlvorstand ankommt. Etwas anderes kann aber dann gelten, wenn der Prokurist durch Erklärungen oder Handeln gegenüber dem Vorstand zum Ausdruck bringt (§§ 133, 157 BGB), an seiner Prokura festzuhalten. Praktisch ist auch das unproblematisch. In diesen Fällen kann das Unternehmen auf eine entsprechende ausdrückliche Erklärung, sowohl zum weiteren Schicksal der Prokura, als auch des Aufsichtsratsamtes, hinwirken. 35 Vgl. dazu Schilken in Staudinger, BGB, Neubearb. 2014, Vor § 164 Rz. 33; Schubert in Münch­ Komm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 164 Rz. 21 f. 36 Schubert in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 164 Rz. 23, § 168 Rz. 3.  37 Vgl. §  77 Abs.  1 AktG und zur GmbH Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 35 Rz. 33 m.w.N. 38 Vgl. Joost in Staub, HGB, 5. Aufl. 2008, § 52 Rz. 43 der darauf hinweist, dass der Kaufmann nicht verhindern kann, dass der Prokurist von seiner Vertretungsmacht keinen Gebrauch macht. 39 Siehe dazu oben unter III.2.a). 40 Joost in Staub, HGB, 5. Aufl. 2008, § 52 Rz. 42. 41 Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 30 Rz. 46; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 101 Rz. 8; ausführlich zur Praxishandhabung Simons in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 101 Rz. 21. 42 Vgl. die Nachweise in Fn. 17. 43 Vgl. §§ 25 Abs. 5 Satz 2, 29 Abs. 3 Satz 2 MitbestG-WO 3 §§ 27 Abs. 5 Satz 2, 31 Abs. 3 Satz 2 MitbestG-WO 2 und 3 sowie § 7 Abs. 2 Satz 2 DrittelbG-WO.

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III. Als Prokurist in den Aufsichtsrat Die bisherige Betrachtung führt den Prokuristen indes noch nicht in den Aufsichtsrat. Zwar kann er durch entsprechende Niederlegung seiner Stellung als Prokurist nahtlos in den Aufsichtsrat einrücken, jedoch besteht die von § 105 Abs. 1 AktG angeordnete Unvereinbarkeit fort.44 1. Der Regelbruch im Mitbestimmungsrecht a) Position des MitbestG Den Weg des Prokuristen in den Aufsichtsrat ebnet erst das MitbestG. Zwar verweist § 6 Abs. 2 MitbestG auf weite Teile des AktG, nämlich § 96 Abs. 4, §§ 97 bis 101 Abs. 1 und 3 und §§ 102 bis 106 AktG, und damit auch auf § 105 Abs. 1 AktG. Diese Inbezugnahme erfolgt allerdings mit einer besonderen Maßgabe für den Prokuristen. Dieser ist danach – als Ausnahme von der Regel des § 105 Abs. 1 AktG – als Vertreter der Arbeitnehmer (nicht aber der Anteilseigner45) nur bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen ausgeschlossen. Damit kehrt § 6 Abs. 2 AktG das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 105 Abs. 1 AktG für die Wahl der Vertreter der Arbeitnehmer um. Die Wählbarkeit des Prokuristen ist damit die Regel, die als Ausnahme nur dann wieder entfällt, wenn (i) dieser dem zur gesetzlichen Vertretung des Unternehmens befugten Organ unmittelbar unterstellt46 und (ii) zur Ausübung der Prokura für den gesamten Geschäftsbereich des Organs ermächtigt ist.47 Diese Sonderregel soll im Interesse der eher kleinen Gruppe der leitenden Angestellten verhindern, dass sich der überschaubare Kreis der Wahlberechtigten nicht durch § 105 Abs. 1 AktG noch weiter verkleinert.48 Die Gefahr besteht durchaus, da gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG die auch im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht unbedeutende Prokura gerade die Stellung als leitender Angestellter begründet.49 Die Regelung soll die mitbestimmungsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Aspekte angemessen berücksichtigen und nur solche Prokuristen ausschließen, deren Vorstandsnähe evident ist.50 aa) Unmittelbare Unterstellung unter das vertretungsberechtigte Organ Erste Voraussetzung ist die unmittelbare Unterstellung unter das zur Vertretung berechtigte Organ, also den Vorstand bei der AG oder die Geschäftsführung bei der GmbH. 44 Vgl. dazu oben unter II. 45 Habersack in Habersack/Henssler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 6 MitbestG Rz. 49. 46 Dazu sogleich unter III.1.a)aa). 47 Dazu sogleich unter III.1.a)bb). 48 Oetker in GK-AktG, 4. Aufl. 1999, § 6 MitbestG Rz. 14. 49 Zum Zweck statt vieler Raiser/Veil, MitbestG, 5. Aufl. 2009, § 6 Rz. 52.  50 RegE MitbestG, BT-Drucks. 7/2172, S. 21.

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Es geht also darum, ob der Prokurist selbst unmittelbar dem Zugriff durch das Geschäftsleitungsorgan unterliegt und nicht durch eine weitere hierarchische Zwischen­ ebene von der Geschäftsleitung getrennt ist. Es kommt also darauf an, ob der Pro­ kurist in der vertikalen Gliederung an zweithöchster Ebene steht.51 Dann ist die Geschäftsleitungsnähe in der Tat evident.52 Fehlt ein Geschäftsführungsorgan der mitbestimmungspflichtigen Gesellschaft, z.B. bei der GmbH & Co. KG (vgl. §§ 4 Abs. 1, 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG) oder KGaA (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG) so ist nach diesen Grundsätzen der Prokurist erfasst, der direkt der persönlich haftenden Gesellschafterin oder dem persönlich haftenden Gesellschafter unterstellt ist. bb) Ermächtigung zur Ausübung für den gesamten Geschäftsbereich Zweite Voraussetzung ist, dass der Prokurist zur Ausübung der Prokura für den gesamten Geschäftsbereich des Organs ermächtigt ist. Das scheint in der Praxis aufgrund des gesetzlichen Umfangs der Prokura gemäß § 49 Abs.  1 HGB und des flankierenden Ausschlusses von Beschränkungen gegenüber Dritten gemäß § 50 Abs. 1 und 2 HGB der Regelfall zu sein. Die Praxis bestellt den Prokuristen, vom Filialprokuristen des § 50 Abs.  3 HGB einmal abgesehen, ohne jede Beschränkung. Allerdings hätte dann § 6 Abs. 2 MitbestG kaum einen Anwendungsbereich, da die Norm ansonsten nur den nach außen hin in seiner Vertretungsmacht zulässig beschränkten Filialprokuristen (§  50 Abs.  3 HGB) erfasste. Einer solchen Auslegung steht der Zweck des § 6 Abs. 2 MitbestG entgegen, den Kreis der wählbaren Prokuristen zu erweitern.53 Insofern kann auch bei der Prokura, wie bei anderen Vollmachtskonstellationen auch, zwischen dem rechtlichen Können im Außenverhältnis und dem rechtlichen Dürfen im Innenverhältnis unterschieden werden. Für die Ermächtigung zur Ausübung für den gesamten Geschäftsbereich § 6 Abs. 1 Satz 2 MitbestG kommt es auch54 auf das rechtliche Dürfen an, so dass bei einer Beschränkung im Innenverhältnis auch die nach außen unbeschränkt erteilte Prokura der Wählbarkeit des Prokuristen nicht entgegensteht.55

51 Hopt/Wiedemann in Großkomm. z. AktG, 4. Aufl. 2006, § 105 Rz. 35; Raiser/Veil, MitbestG, 5. Aufl. 2009, § 6 Rz. 53. 52 Vgl. RegE MitbestG, BT-Drucks. 7/2172, S. 21, wo von „Vorstandsnähe“ die Rede ist. 53 Vgl. den Nachweis in Fn. 49. 54 Dass die Filialprokura gemäß § 50 Abs. 3 HGB als zulässige Beschränkung im Außenverhältnis keine Ermächtigung zur Ausübung der Prokura für den gesamten Geschäftsbetrieb enthält, ist hingegen von vornherein selbstverständlich. 55 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 6 MitbestG Rz. 5; Habersack in Habersack/ Hennsler, MitbestR, § 6 MitbestG Rz. 52; Oetker in Erf. Komm., 19. Aufl. 2019, § 6 Mit­ bestG Rz. 5. 

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Eine Einschränkung der Befugnisse des Prokuristen im Innenverhältnis ist ohne weiteres möglich56 und ist in diesem schuldrechtlich sanktioniert.57 Aus diesen regelmäßig bestehenden Beschränkungen im Innenverhältnis außerhalb des Bestellungsverhältnisses folgt, dass die überschießende Außenmacht heute die Regel ist58 und damit – in unserem Kontext – die Wählbarkeit unter Geltung des MitbestG, regelmäßig besteht. Beschränkungen können sich beispielsweise aus dem Arbeitsvertrag oder der Stellenbeschreibung, Vertretungsrichtlinien bzw. Zustimmungsrichtlinien59 sowie Anweisungen aus dem Direktionsrecht (§ 106 GewO, § 315 Abs. 1 BGB) ergeben. Selbst wenn eine solche ausdrückliche Beschränkung der Prokura nicht bestehen sollte, ergibt sich eine Beschränkung ganz regelmäßig aus der Organisation des Unternehmens selbst. Das offenbart ein Blick von oben nach unten durch die Unternehmenshierarchie. Ist das Geschäftsleitungsorgan nicht nur mit einer Person besetzt, gilt als gesetzlicher Normalfall der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung (vgl. §  77 Abs. 1 Satz 1 AktG).60 Schon rein aus praktischen Erwägungen erfolgt daher regelmäßig eine horizontale Geschäftsverteilung, da ab einer gewissen Größenordnung des Unternehmens eine effektive Geschäftsführung ohne Geschäftsverteilung und damit nach dem Einstimmigkeitsprinzip61 schlicht nicht mehr möglich ist.62 Bei einer horizontalen Geschäftsverteilung, gleich ob diese funktional nach dem Verrichtungsprinzip, nach Sparten, nach Regionen oder Wertschöpfungsstufen erfolgt, besteht schon auf Ebene der Geschäftsleitung keine Geschäftsführungsbefugnis für den gesamten Geschäftsbereich mehr, denn die Geschäftsverteilung grenzt zugleich die Geschäftsführungsbefugnis der unzuständigen Vorstände oder Geschäftsführer ein63 – von einer grundsätzlich abgeschwächten, aber fortbestehende Überwachungspflicht64 als Residuum der Gesamtverantwortung einmal abgesehen. Ist aber der Prokurist nur einem Mitglied der Geschäftsleitung unterstellt, so begrenzt die horizontale Geschäftsverteilung auch die Prokuraausübung innerhalb der vertikalen Organisati56 Hopt in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, HGB, § 48 Rz. 7; Joost in Staub, HGB, 5. Aufl. 2008, § 50 Rz. 53 ff.; Weber in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 48 Rz. 29, § 49 Rz. 21.  57 Z.B. durch Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB bzw. Kündigung, vgl. Roth in Koller/ Kindler/Roth/Morck, HGB, 8. Aufl. 2015, § 50 Rz. 4; Weber in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 48 Rz. 4. 58 Weber in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 50 Rz. 4. 59 Diese sind in Konzernen häufig als Delegation of Authority oder Authority Matrix vorhanden, ohne dass häufig genau zwischen dem Innen- und Außenverhältnis, also dem rechtlichen Können- und Dürfen, differenziert wird. Bei der Prokura, die ja nach außen hin gemäß §§ 49 Abs. 1, 50 Abs. 1, 2 HGB einen gesetzlich festgelegten Umfang hat, stellt eine solche Regelung eine reine Beschränkung des rechtlichen Dürfens im Innenverhältnis dar. 60 Das ist heute auch bei der GmbH allgemeine Meinung Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  37 Rz.  78; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, §  37 Rz. 29 jeweils m.w.N. 61 Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 37 Rz. 8. 62 Richtig Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 14. 63 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 77 Rz. 14; Fleischer, NZG 2003, 449, 452. 64 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 77 Rz. 15; Fleischer, NZG 2003, 449, 452.

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on65 unterhalb des Geschäftsleitungsmitglieds wie eine Schwimmbahn, weil die Vertretung der Gesellschaft grundsätzlich Teil der so beschränkten Geschäftsführungsbefugnis ist. Denn die Geschäftsführung umfasst jede Tätigkeit für die Gesellschaft.66 Insofern vermittelt die Unterstellung des Prokuristen unter ein Geschäftsleitungsmitglied regelmäßig auch die Beschränkung für die Ausübung der Prokura im Innenverhältnis. Somit steht eine horizontale Geschäftsverteilung einer Ermächtigung zur Ausübung der Prokura für den gesamten Geschäftsbetrieb regelmäßig entgegen.67 Etwas anderes kann sich in der Praxis aus einer abweichenden praktischen Übung ergeben: Handelt der Prokurist in Kenntnis der Geschäftsleitung regelmäßig über die durch die horizontale Geschäftsverteilung gesetzten Grenzen hinweg und wird dem nicht widersprochen, kann darin die konkludente Aufhebung der Beschränkung im Innenverhältnis liegen. Diese wird indes entsprechend zu den Grundsätzen zur Erteilung der Prokura an einen Aufsichtsrat unwirksam,68 wenn die Aufhebung der Beschränkung zur Inkompatibilität nach § 6 Abs. 2 MitbestG führte. Vorsicht ist geboten beim Schluss von der horizontalen Geschäftsverteilung auf eine Beschränkung der Prokura im Innenverhältnis bei (risikoberatenden) Stabsabteilungen. Die Prokuraerteilung an Mitglieder von Rechts- und Steuerabteilungen dient, ggf. als Gesamtprokura als zusätzlicher Ausfluss eines Vieraugenprinzips, typischerweise dem Zweck, den Unterschriftenprozess mit einer gewissen Kontrolle zu verbinden. Für diesen Kontrollzweck ist es aber gerade wünschenswert, dass die Prokura auf gesamten Geschäftsbereich des Geschäftsleitungsorgans bezieht. Praktisch bietet sich unabhängig von der Frage dieses Beitrags an, die Wechselwirkung zwischen horizontaler Geschäftsverteilung und dem Umfang der Prokura immer klarzustellen. b) Position des DrittelbG Das DrittelbG als kleiner Bruder des MitbestG enthält keine § 6 Abs. 2 MitbestG entsprechende Regelung, so dass es hier bei der Unvereinbarkeit des § 105 Abs. 1 AktG bleibt.69

65 Hingegen sind die in Fn.  60 erwähnten Beschränkungen regelmäßig auch vertikale Beschränkungen, wenn sie nach Hierarchieebenen differenzieren. 66 Spindler in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  77 Rz.  5, Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, § 77 Rz. 3. 67 Vgl. im Ergebnis, allerdings ohne die Ableitung von der Geschäftsleitung ausgehend: Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 105 Rz. 9; Henssler in Habersack/Henssler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 6 MitbestG Rz. 52; Simons in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017 Rz. 5. 68 Vgl. dazu oben unter II.3.a). 69 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 4 DrittelbG Rz. 7; Henssler in Habersack/ Henssler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 4 DrittelbG Rz. 13; Gilcher/Nolde, BB 2018, 1268, 1270.

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Das ist aus Sicht der unternehmerischen Mitbestimmung nicht inkonsequent. Während § 3 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG die leitenden Angestellten gemäß § 5 Abs. 3 BetrVG ausdrücklich in den Kreis der Arbeitnehmer mit einbezieht, nimmt sie §  3 Abs.  1 DrittelbG ebenso ausdrücklich aus. Leitende Angestellte sind damit vollständig vom aktiven Wahlrecht und überwiegend auch vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen.70 Allein dann, wenn mehr als zwei Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat zu wählen sind (§ 4 Abs. 2 Satz 2 DrittelbG) ist ein leitender Angestellter, nicht anders als eine jede externe dritte Person, passiv wahlberechtigt, allerdings nur, sofern § 105 Abs. 1 AktG nicht entgegensteht.71 Das wiederum bedeutet, dass der Prokurist unter dem DrittelbG damit von einem gleichzeitigen Aufsichtsratsamt ausgeschlossen bleibt. Damit gibt es bei der drittelmitbestimmten Gesellschaft keinen Weg des Prokuristen in den Aufsichtsrat.

IV. Als Prokurist im Aufsichtsrat Der Prokurist, der als Arbeitnehmervertreter der nach dem MitbestG mitbestimmten Gesellschaft in den Aufsichtsrat eingezogen ist, unterliegt im Grundsatz denselben Regeln wie alle anderen Aufsichtsratsmitglieder, sofern nicht das Mitbestimmungsrecht selbst eine Differenzierung anordnet.72 Die Ansätze, ein Sonderregime für die Rechte und Pflichten von Arbeitnehmerver­ treter im Aufsichtsrat zu etablieren,73 haben sich zu Recht nicht durchgesetzt. Eine Differenzierung widerspräche dem Grundsatz der Gesamtverantwortung und der Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse,74 welche Differenzierungen zwischen Bänken entgegenstehen. Im Rahmen dieses Beitrags kann daher eine Beschränkung auf spezifische Facetten, die den Prokuristen im Aufsichtsrat betreffen, erfolgen.75 1. Haftung und Sorgfaltsmaßstab Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder ergibt sich aus §§ 116 Satz 1, § 93 AktG. Über § 52 Abs. 1 GmbHG gilt nichts anderes für den fakultativen Aufsichtsrat der GmbH. 70 Henssler in Habersack/Henssler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 3 DrittelbG Rz. 4. 71 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 4 DrittelbG Rz. 7; Henssler in Habersack/ Henssler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 4 DrittelbG Rz. 13. 72 BGH v. 15.11.1982  – II ZR 27/82 („Hertie“), BGHZ 85, 293, 295; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, Vor § 95 ff. Rz. 14 zum Sorgfaltsmaßstab § 116 Rz. 12; E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 25.3. 73 So noch Geßler in Geßler/Hefermehl/Eckhardt/Kropff, AktG, 1. Aufl. 1974, § 116 Rz. 10; Schilling in Großkomm. z. AktG, 3. Aufl. 1970, § 116 Anm. 5. 74 Vgl. BGH v. 28.11.1988 − II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 65; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, Vor §§ 95 ff. Rz. 13. 75 Siehe im Übrigen statt vieler E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25.

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Das ist indes eine unschöne neue Welt für den Prokuristen. Der Prokurist nimmt in seiner angestammten Rolle als Handlungsgehilfe grundsätzlich an dem rechtsfortbildend entwickelten arbeitsrechtlichen Haftungsprivileg76 teil.77 Für dessen Anwendung ist im Rahmen der Verantwortlichkeit als Aufsichtsrat schon aus Gleichbehandlungsgründen78 kein Raum.79 Umgekehrt ist auch hier zu berücksichtigen, dass Spezialwissen und besondere Fähigkeiten den Sorgfaltsmaßstab erhöhen.80 Hier kommt insbesondere Spezialwissen in Betracht, welches der Prokurist aus der operativen Tätigkeit für das Unternehmen gewonnen hat. Diese Sorgfaltsmaßstabserhöhung kann sich mit dem ungewohnten strengen Haftungsregime des §§ 116 Satz 1, § 93 AktG und seiner darüber hinaus noch von § 619a BGB abweichenden Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zu einer besonderen Risikosituation verdichten. Der Prokurist im Aufsichtsrat muss daher darauf achten, dass er sein Spezialwissen auch im Rahmen der Aufsichtsratstätigkeit im Sinne des Unternehmens einbringt. 2. Verschwiegenheitspflicht Die Verschwiegenheitspflicht des §§ 116, 93 Satz 3 AktG gilt ebenfalls für alle Aufsichtsratsmitglieder gleichermaßen.81 Sie gilt gegenüber allen, die nicht Mitglied eines Organs der Gesellschaft sind.82 Sie gilt absolut, denn nur dann ist gewährleistet, dass der Aufsichtsrat seine gesetzliche Überwachungs- und Beratungsfunktion erfüllen kann, da die Verschwiegenheitspflicht das notwendige Korrelat zu den umfassenden Informationsrechten des Aufsichtsrats bildet.83 Der Prokurist muss daher darauf achten, dass er die Sphären seiner Aufsichtsratstätigkeit und operativen Tätigkeit im Unternehmen informatorisch trennt. Eine Ausnahme, z.B. gegenüber seinen Vorgesetzten, besteht grundsätzlich nicht. Durch das Behinderungsverbot des §  26 Satz  1 MitbestG besteht hier schon keine Pflichten­ kollision des Prokuristen. Abgesehen davon löste sich eine solche zu Gunsten des 76 Dazu statt vieler Preis in Erfurter Komm., 19. Aufl. 2019, Rz. 9 ff. m.w.N. 77 Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 48 Rz. 58. 78 Siehe dazu bereits oben IV. 79 Ausführlich Edenfeld/Neufang, AG 1999, 49, 53. 80 BGH v. 20.9.2011 II ZR 234/09 („Ision“), AG 2011, 867 Rz. 28; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, Rz. 4; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rz. 18; E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 29.58 ff. 81 E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 29.12, 29.14. 82 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, 5. Aufl. 2019, § 116 Rz. 56; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rz. 103, 106; E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 29.15. 83 BGH v. 26.4.2016 − XI ZR 198/15, Rz. 31; BGH v. 26.4.2016 − XI ZR 167/15, Rz. 30.

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Aufsichtsrats auf,84 wie heute auch der Gegenschluss aus § 394 AktG zeigt, der die Verschwiegenheitspflicht für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt wurden, lockert. Der Prokurist wird es daher mit Erleichterung aufnehmen, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht gegenüber dem Vorstand besteht, sofern nicht Vorstandsangelegenheiten selbst in Rede stehen.85 Aus § 26 Satz 1 MitbestG ergibt sich zugleich, dass umgekehrt eine Verschwiegenheitspflicht aus dem Arbeitsverhältnis die Tätigkeit im Aufsichtsrat nicht beschränken kann. Aus diesem Behinderungsverbot ergibt sich ein Vorrang der Aufsichtsratstätigkeit in dem Sinne, dass sich Pflichten aus dem Aufsichtsratsverhältnis im Konfliktfall gegenüber den Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis durchsetzen.86 Dieser Vorrang gilt indes nicht per se für das Weitergabeverbot aus Art.  10 Abs. 1 der Marktmissbrauchsverordnung87 (MAR), da sich dieses nicht aus dem Arbeitsverhältnis, sondern aus vorrangigem europäischem Sekundärrecht ergibt. Verfügt der Prokurist aus seiner operativen Tätigkeit über eine Insiderinformation gemäß Art. 7 Abs. 1 MAR ist autonom zu beurteilen, ob die Weitergabe im Rahmen der normalen Erfüllung von Aufgaben erfolgt. Dafür ist ein enger Zusammenhang mit der Ausübung der Aufsichtsratstätigkeit erforderlich und die Weitergabe muss für die Erfüllung der Aufsichtsratstätigkeit unerlässlich sein.88 Es gilt insofern, wie auch sonst im Rahmen der Marktmissbrauchsverordnung, ein strenges „need-to-know“Prinzip. Ist eine Weitergabe einer Insiderinformation im Rahmen der Aufsichtsratstätigkeit nach Art. 10 Abs. 1 MAR zulässig, entbindet das aber den Prokuristen nicht von der Einhaltung weiterer Regelungen aus dem Arbeitsverhältnis, z.B. solchen aus internen Insiderregeln, die den Aufschub der Veröffentlichung nach Art. 17 Abs. 4 MAR und die Führung der Insiderlisten gemäß Art. 18 MAR ermöglichen sollen. 3. Interessenkonflikte und Unternehmensinteresse Spezifische Interessenkonflikte des Prokuristen können auftreten, wenn eine Geschäftsführungsmaßnahme nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG der Zustimmung des Un-

84 Vgl. BGH v. 26.4.2016 − XI ZR 167/15, Rz. 30 für die Berichtspflicht gegenüber dem Arbeitgeber, der ein Aufsichtsratsmitglied in einen Aufsichtsrat gewählt oder entsandt hat. 85 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, 5. Aufl. 2019, § 116 Rz. 59; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 Rz. 106. 86 Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 29 MitbestG Rz. 4; Hennsler in Habersack/ Hennsler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 4. 87 Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission. 88 EuGH v. 22.11.2005 − C-384/02 („Grøngaard und Bang“), NJW 2006, 133 noch zur Richtlinie 89/592/EWG; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 105.

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ternehmens unterliegen und der Prokurist im Rahmen seiner operativen Tätigkeit für das Unternehmen federführend oder maßgeblich daran mitgewirkt hat. Auch der Prokurist als Aufsichtsrat hat dem Unternehmensinteresse den Vorrang gegenüber anderen Interessen einzuräumen.89 Daraus ergibt sich aber noch kein eindeutiger Handlungsrahmen für den Umgang mit einem (möglichen) Interessenkonflikt. Zum Umgang mit einem (möglichen) Interessenkonflikt hat sich praktisch ein Stufenkonzept90 etabliert, das auf der ersten Stufe eine Offenlegung des eventuellen91 Interessenkonfliktes verlangt. Dieses ermöglicht dann dem Aufsichtsrat Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Interessenkonflikt zu überwinden oder zumindest mit ihm umzugehen. Im Einzelfall kann es zum Management des Interessenkonflikts genügen, dass sich das Aufsichtsratsmitglied der Stimme enthält oder der Abstimmung fernbleibt. Es kann aber auch notwendig sein, dass es zusätzlich der Beratung fernbleibt und keine Informationen zum Sachverhalt erhält. Die Rolle als Prokurist wird aber selten höherstufige Maßnahmen verlangen. Das zeigt schon der Vergleich mit gesetzlichen Stimmverboten in § 34 BGB, § 136 Abs. 1 AktG und § 47 Abs. 4 GmbHG. Diesen gesetzlichen Stimmverboten ist gemein, dass eine Angelegenheit in Rede steht, an der jemand persönlich in einer unternehmensfremden Rolle beteiligt ist. Hier allerdings richtet sich der Bezug auf eine operative Rolle im selben Unternehmen. Hier geht es also um einen möglichen Konflikt von Aufsicht- und Geschäftsführung, den § 6 Abs. 2 MitbestG ja gerade in Kauf nimmt. Daher genügt der Prokurist mit der Offenlegung seiner Beteiligung an der zustimmungspflichtigen Maßnahme im Regelfall seiner Pflicht, wobei dann im Weiteren sein Spezialwissen zu berücksichtigen ist.92

V. Blick vom Balkon und Zusammenfassung Der Blick vom Balkon auf die bestehende gesetzliche Ausgestaltung unseres Themas lässt ein klares und konsistentes Konzept vermissen. Die Unvereinbarkeitskonzeption des § 105 Abs. 1 AktG entspricht zwar im Grundsatz der organisationalen Funktionstrennung im deutschen dualistischen System. Sie stellt aber aus Gründen der Rechtssicherheit nicht auf eine materielle Bewertung der Position, sondern auf die formale Gewährung einer bestimmten Vertretungsmacht ab. 89 Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 33 Rz. 82; E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 25.27. 90 Zum Folgenden E. Vetter in Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 25 Rz. 25.27; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 808 ff.; Seibt in FS Hopt, 2010, S. 1363, 1372 ff. 91 Richtigerweise wird bereits auf den eventuellen Interessenkonflikt abgestellt, weil nur diese frühe Anknüpfung dem Aufsichtsrat die Bewertung ermöglicht, ob überhaupt ein konkreter Interessenkonflikt vorliegt und wie mit diesem umgegangen werden kann. 92 Vgl. dazu oben III.1.

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Der Prokurist als Aufsichtsrat

Da die rechtsgeschäftliche Vertretung nur einen Auszug der Geschäftsführungstätigkeit darstellt,93 bleiben damit Konstellationen unberücksichtigt, in denen ein Standortleiter (site manager) oder „Länderfürst“ (country manager) vor Ort zwar Weisungsgebunden und der Geschäftsführung untergeordnet und tatsächlich weitgehend unabhängig tätig ist, aber keine Prokura oder Generalvollmacht erteilt wird. Eine entsprechende Anwendung von § 105 Abs. 1 AktG scheidet wegen einer planwidrigen Regelungslücke aus.94 Denn der Gesetzgeber des AktG 1965 hat gerade wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten eine materielle Betrachtungsweise zugunsten der formellen aufgegeben.95 Die formelle Betrachtungsweise setzt sich fort im Bereich des § 6 Abs. 2 MitbestG. Dieser ebnet zunächst dem Prokuristen als Arbeitnehmervertreter überhaupt erst den Weg in den Aufsichtsrat. Für die angebliche angemessene Berücksichtigung von mitbestimmungsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Aspekten zahlt das deutsche Recht einen hohen Preis. Das gegenüber § 105 Abs. 1 AktG abweichende Regel-Ausnahme-Prinzip führt dazu, dass ein Prokurist in der dem MitbestG unterliegenden Gesellschaft nur ganz selten als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ausgeschlossen ist. Auch hier genügt eine minimale, formale Begrenzung der Prokura im Innenverhältnis ohne nennenswerte Praxisrelevanz, um die Wählbarkeit zu erhalten. Regelmäßig ergibt sich diese aus einer horizontalen Geschäftsverteilung auf Ebene der Geschäftsleitung. Damit wird die organisationale Funktionstrennung für den Prokuristen als Arbeitnehmervertreter schlussendlich aufgegeben. Umgekehrt ruft diese Sonderbehandlung erhebliche Ungleichbehandlungen hervor. Exemplarisch und ohne auf die verfassungsrechtliche Dimension näher einzugehen, können die Ungleichbehandlung von Anteilseigner und Arbeitgeberseite96 oder aber auch die Ungleichbehandlung der Prokuristen und leitenden Angestellten im MitbestG und DrittelbG genannt werden.97 Die Regelung des MitbestG scheint, wie die Auswirkung der heute ganz üblichen horizontalen Geschäftsverteilung zeigt, auf einem überholten Unternehmens und Prokuristenbild98 zu beruhen: einem in dem die ggf. nur mit einer Person besetzte Geschäftsleitung allzuständig ist und der Prokurist, als „alter ego, ein Doppelgänger seines Principals“99 über die heutige Stellung des Prokuristen hinausgehend ebenfalls diese 93 Vgl. die Nachweise in Fn. 66. 94 OLG Stuttgart v. 24.2.2017 − 20 W 8/16, AG 2017, 489, 491, im Hinblick auf eine „erweiternde Auslegung“; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 105 Rz. 5; Spindler in Spindler/ Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 105 Rz. 14. 95 Vgl. die Nachweise in Fn. 8. 96 Raiser/Veil, MitbestG, 5. Aufl. 2009, § 6 Rz. 52.  97 Dazu statt vieler Hennsler in Habersack/Hennsler, MitbestR, 4. Aufl. 2018, DrittelbG § 3 Rz. 3-6. 98 Vgl. statt vieler zur Historie des Rechtsinstituts der Prokura Krebs in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 48 Rz. 2 f. 99 Thöl, HandelsR, Bd. I, 5. Aufl. 1875, § 56 1, S. 181. 

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Allzuständigkeit inne hatte.100 Mit diesem Erfordernis geht § 6 Abs. 2 MitbestG regelmäßig über die heute übliche Zuständigkeit der Mitglieder der Geschäftsleitung hi­ naus. Der Prokurist im Aufsichtsrat hat dieselben Rechte und Pflichten wie ein anderes Aufsichtsratsmitglied. Er muss indes darauf achten, dass er, gerade angesichts des schärferen Haftungsmaßstabs, sein Spezialwissen im Sinne des Unternehmens einbringt. Im Hinblick auf die Informationen, die der Prokurist in seiner Rolle als Aufsichtsrat erhält, muss er informatorisch die Sphären des Aufsichtsrats und operativen Unternehmens trennen. Nur gegenüber dem Vorstand ist die Verschwiegenheitsverpflichtung gelockert, sofern nicht gerade Vorstandsangelegenheiten in Rede stehen. Umgekehrt hindert ihn die Verschwiegenheitspflicht aus dem Arbeitsverhältnis wegen § 26 Satz  1 MitbestG nicht an der Weitergabe von Informationen im Rahmen der Aufsichtsratstätigkeit. Die Zulässigkeit der Weitergabe von Insiderinformationen ist autonom aus der MAR zu beurteilen. Spezifische Interessenkonflikte des Prokuristen können auftreten, wenn eine Geschäftsführungsmaßnahme nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG der Zustimmung des Unternehmens unterliegen und der Prokurist im Rahmen seiner operativen Tätigkeit für das Unternehmen federführend oder maßgeblich daran mitgewirkt hat. Zum ordnungsgemäßen Umgang mit diesem Interessenkonflikt genügt regelmäßig dessen Offenlegung. Somit ist auf den zweiten Blick aus keinem Thema doch ein kleines geworden.

100 Joost in Staub, HGB, 5. Aufl. 2008, § 48 Rz. 3.

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Der Missbrauch der Vertretungsmacht unter besonderer Berücksichtigung des Handels- und Gesellschaftsrechts Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Begriff und Bedeutung 2. Eine Antwort auf das stellvertretungs­ rechtliche Trennungs- und Abstrak­ tionsprinzip II. Missbrauch der Vertretungsmacht: Eine historisch-dogmatische Bestandsauf­ nahme 1. Rückblick auf die Rechtsentwicklung a) Reichsoberhandelsgericht b) Reichsgericht und älteres Schrifttum

c) Bundesgerichtshof und neueres Schrifttum 2. Sonderkonstellationen a) Rechtsgeschäfte zwischen einer ­Personen- bzw. Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern bzw. ­Organmitgliedern b) Missbrauch der Vertretungsmacht und Insichgeschäft c) Missbrauch der Vertretungsmacht durch den Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH

I. Einleitung 1. Begriff und Bedeutung Von einem (objektiven) Missbrauch der Vertretungsmacht spricht man, wenn der Vertreter gegenüber einem Dritten (im Außenverhältnis) aufgrund einer wirksam begründeten organschaftlichen oder rechtsgeschäftlichen Vertretungsmacht mit Wirkung für und gegen den Vertretenen eine Willenserklärung abgibt (vgl. § 164 Abs. 1 BGB), zu deren Abgabe er aufgrund einer allein im Innenverhältnis (zum Vertretenen) wirkenden Beschränkung nicht befugt ist.1 Sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsfigur vorliegen, wird der Vertretene durch die Erklärung des Vertreters entgegen § 164 Abs. 1 BGB nicht verpflichtet (näher II.). 2. Eine Antwort auf das stellvertretungsrechtliche Trennungs- und Abstraktionsprinzip Die Rechtsfigur ist eine Konsequenz aus dem stellvertretungsrechtlichen Trennungsund Abstraktionsprinzip:2 Bereits im Jahre 1857 hatte Rudolf von Jhering herausgearbeitet, dass das vertragliche Rechtsverhältnis zwischen dem Geschäftsherrn und dem Vertreter (sog. Grundgeschäft) von der Rechtsmacht in Form der Vollmacht unterschieden werden müsse.3 Paul Laband hat diesen Ansatz fortentwickelt und ausge1 Für alle: Erman/Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl. 2017, § 167 BGB Rz. 70 mwN. 2 Siehe jüngst auch K. Schmidt in FS Canaris, 2017, S. 117 ff. 3 Jhering, JherJb 1 (1857) 273, 312 f.

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führt, dass die Vollmacht gänzlich unabhängig von einem zugrunde liegenden Auftrag (Mandatum) sei.4 Die „scharfe Unterscheidung von Auftrag und Vollmacht“ wurde von Crome im Jahre 1900 als „eine der größten Errungenschaften unserer modernen Rechtsentwicklung“ gefeiert.5 Dölle benennt in seinem Festvortrag auf dem 42. DJT im Jahre 1959 das Prinzip der Abstraktheit der Vertretungsmacht als erstes Beispiel für die von ihm in den Blick genommenen „juristischen Entdeckungen“.6 Der BGB-Gesetzgeber hat das Trennungs- und Abstraktionsprinzip bekanntlich übernommen.7 Beschränkt auf unser Thema bedeutet dies: Die Vertretungsmacht bestimmt im Außenverhältnis, welche rechtsgeschäftlichen Wirkungen der Vertreter für und gegen den Vertretenen herbeiführen kann, während das Grundgeschäft im Innenverhältnis zwischen dem Vertretenen und dem Vertreter (zB Auftrag, Dienstverhältnis usw.) regelt, wie der Vertreter von seiner Vertretungsmacht Gebrauch machen darf. Die hinter dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip stehenden Wertungen sind Rechtssicherheit und Verkehrsschutz: Der Rechtsverkehr soll im Außenverhältnis sowohl vor unerkannten Mängeln des Grundgeschäfts als auch von etwaigen Beschränkungen abgeschirmt werden: Überschreitet der Vertreter die im Innenverhältnis ge­ zogenen Grenzen, so wird hiervon seine Vertretungsmacht im Außenverhältnis grundsätzlich nicht berührt; das Missbrauchsrisiko trägt vielmehr grundsätzlich der Vertretene.8 Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip soll die Sicherheit und Leichtigkeit im Rechts- und Handelsverkehr gewährleisten, was regelmäßig im Interesse aller Beteiligten liegt und auch rechtsökonomisch vorteilhaft ist.9 Eindeutige Vertretungsregelungen erfordert insbesondere der Vertragsschluss im Handelsverkehr und im Rechtsverkehr mit Unternehmen: Die Geschäftsgegner sollen hier nicht gezwungen sein, in jedem einzelnen Fall „über den Umfang der Vertretungsbefugnis des Vertreters nähere Erkundigungen“ einzuholen. Daher ist insbesondere die organschaftliche Vertretungsmacht, aber etwa auch die rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht des Prokuristen, im Außenverhältnis „gesetzlich zwingend festgelegt“10 und Beschränkungen im Innenverhältnis sind nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften Dritten gegenüber unwirksam.11 Das Trennungs- und Abs 4 Laband, ZHR 10 (1866), 183, 203 ff.; folgend Ladenburg, ZHR 11 (1867), 72 ff. („Vollmacht ist unabhängig von ihrer causa“). 5 So Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts I, § 104 I [S. 460 Fn. 6]. Siehe auch Flume, AT II, 4. Aufl., § 45 2 [S. 787]: „großartige Leistung“. 6 Dölle, Festvortrag, in: Verhandlungen 42. DJT 1959, Bd. II S. B 1, 3 ff. Siehe auch Fleischer in FS K. Schmidt, 2009, S. 375, 376. 7 So die ganz hM; vgl. nur Erman/Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl. 2017, Vor § 164 BGB Rz. 6; Palandt/Ellenberger, BGB, 77.  Aufl., Einf v §  164 Rz.  2; eingehend Pawlowski, JZ 1996, 125 ff.; jüngst wieder Lieder, JuS 2014, 393 ff. 8 Für alle: Lieder, JuS 2014, 393, 395 f. 9 Wie hier Lieder, JuS 2014, 393, 395. 10 So (mit allen vorstehenden Zitaten) BGHZ 38, 26 (33). 11 Siehe für die Vertretungsmacht des OHG-Gesellschafters bzw. (iVm § 161 Abs. 2 HGB) des Komplementärs der KG § 126 Abs. 1, 2 HGB, für den GmbH-Geschäftsführer § 37 Abs. 2 GmbHG, für den Vorstand der AG § 82 Abs. 1 AktG, für die Prokura § 50 Abs. 1, 2 HGB.

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Der Missbrauch der Vertretungsmacht

traktionsprinzip ist insoweit par excellence verwirklicht. Sachliche Beschränkungen der Vertretungsmacht haben grundsätzlich keine Wirkung; in Betracht kommen zum Schutz des Vertretenen im Außenverhältnis allein personelle Beschränkungen, speziell die Anordnung von Gesamtvertretung. Das Können und das Dürfen divergieren somit regelmäßig bei den handelsrechtlichen Vollmachten sowie bei der organschaftlichen Vertretung, während ein solches Auseinanderfallen bei der BGB-(Spezial-)Vollmacht in Form der Innenvollmacht regelmäßig nicht der Fall ist, indes auch dort bei General- und Dauervollmachten sowie bei Außenvollmachten in Betracht kommt. Dem mit der Rechtsfigur des Missbrauchs der Vertretungsmacht bezweckten Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Vertretenen12 kann jedoch ohne einen Verlust an Rechtssicherheit dann wieder Geltung verschafft werden, wenn dem Geschäftsgegner aufgrund seiner Bösgläubigkeit eine Berufung auf den äußeren Umfang der Vertretungsmacht nicht gestattet ist. Die interessanten Fragen nach den tatbestandlichen Voraussetzungen und den Rechtsfolgen beschäftigen Rechtsprechung und Literatur bis heute. Da Eberhard Vetter nicht nur ein erfahrener Praktiker ist, sondern auch eine große Leidenschaft für die Schriftstellerei und ein Interesse für die Dogmatik hat, hoffe ich, dem Jubilar mit den nachfolgenden Ausführungen zur historisch-dogmatischen Entwicklung der Rechtsfigur des Missbrauchs der Vertretungsmacht eine Freude machen zu können. Drei Sonderkonstellationen werden zur Abrundung noch speziell in den Blick genommen: So zunächst Rechtsgeschäfte einer Personen- oder Kapitalgesellschaft, die mit ihren Gesellschaftern bzw. Organmitgliedern getätigt werden, weiterhin der Fall, dass der seine Vertretungsmacht missbrauchende Vertreter ein Insichgeschäft tätigt, und schließlich der Missbrauch der Vertretungsmacht durch den Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH.

II. Missbrauch der Vertretungsmacht: Eine historisch-dogmatische Bestandsaufnahme 1. Rückblick auf die Rechtsentwicklung Das umfangreiche Rechtsprechungsmaterial lässt erkennen, dass Überschreitungen interner Befugnisse zunächst nur in ganz engen Grenzen Auswirkungen auf die Vertretungsmacht hatten. Dies gilt in besonderem Maße für die organschaftliche Vertretung. In einem Prozess der kontinuierlichen Rechtsentwicklung hat die Rechtsfigur des Missbrauchs der Vertretungsmacht durch eine Absenkung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen dann jedoch einen deutlich erweiterten Anwendungsbereich erhal12 Zum Schutzzweck wie hier auch Fleischer, NZG 2005, 529 (535); Lieder, JuS 2014, 681 (682); Ph. Scholz, ZHR 182 (2018), 656 (659).

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ten. Auch die Sicht auf die Rechtsfolgenseite hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Deutlich verschärft hat sich schließlich durch eine von der traditionellen Auffassung abweichende Rechtsprechung des BGH die Rechtslage im Hinblick auf Rechtsgeschäfte, die von einer Personen- oder Kapitalgesellschaft mit ihren Gesellschaftern bzw. Organmitgliedern getätigt werden. a) Reichsoberhandelsgericht Als Rechtsfigur wurde der Missbrauch der Vertretungsmacht bereits vom Reichsoberhandelsgericht entwickelt. Beginnend mit ROHGE 5, 29413 wird in ständiger Rechtsprechung die exceptio doli allerdings zunächst allein für den Fall anerkannt, dass der Geschäftsgegner „mit dem absichtlich zum Nachtheil der Gesellschaft handelnden“ Vertreter kollusiv zusammengewirkt hat.14 Dass nicht bereits  – wie von Teilen des Schrifttums vertreten15 – die „bloße Kenntnis des Dritten um die statutenmäßige Beschränkung der Vertretungsbefugnis“ für die dolus-Einrede ausreicht, wird vom Reichsoberhandelsgericht  – in Übereinstimmung mit damals hM16  – insbesondere aus dem Ergebnis der (teilweise kontroversen) Gesetzesberatungen zum ADHGB 1861 hergeleitet.17 b) Reichsgericht und älteres Schrifttum aa) Das Reichsgericht18 hat diese Rechtsprechung in RGZ 9, 14819 im Falle der Überschreitung gesetzlich definierter Vertretungsbefugnisse zunächst unverändert übernommen.20 Nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs formulierte das Reichsge-

13 ROHG v. 16.3.1872 – R 662/71, ROHGE 5 Nr. 64 [S. 294 ff.] – Wiesbadener Actien-Bierbrau-Gesellschaft ./. Bankhaus Berle (Überschreitung der internen Vertretungsmacht durch AG-Vorstand trotz Kenntnis des Geschäftsgegners unschädlich). 14 So ROHG v. 14.5.1872 – R 133/72, ROHGE 6 Nr. 27 [S. 131 ff. mit Zitat S. 134 f.] – Lebensversicherungsgesellschaft Germania; Fortführung durch ROHGE 7 Nr.  104 [S.  403  f.] (Wechselakzept durch OHG-Gesellschafter für OHG zugunsten seines Privatgläubigers in der kollusiven Absicht widerrechtlicher Schädigung); ROHGE 9 Nr. 117 [S. 429 ff.] (Arglist abgelehnt für OHG-Gesellschafter]. 15 Nachw. in ROHGE 6 Nr. 27 [S. 131, 134]. 16 Umfangreiche Nachw. aus Literatur und Rspr. in ROHGE 6 Nr. 27 [S. 131, 135]. 17 Siehe ROHGE 6 Nr. 27 [S. 131, 136 ff.] m. ausf. Zitaten aus den Protokollen zum ADHGB 1861, aus denen gefolgert wird, dass der Gesetzgeber die in den Beratungen vorgeschlagene abw. Auffassung ausdrücklich zurückgewiesen hat. Fortführung durch ROHGE 7 Nr. 104 [S. 403, 404] und ROHGE 9 Nr. 117 [S. 429 ff.]. 18 Eine instruktive Analyse über die frühe Rspr des Reichsgerichts findet sich auch bei Kipp in Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, FG der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, 1929, 2. Bd., S.  271  ff.; vgl. rückblickend auch R. ­Fischer in FS Schilling, 1973, S. 3 ff. 19 RG v. 16.9.1882 – I 323/82, RGZ 9, 148 (Missbrauch der Vertretungsmacht durch einen Prokuristen). 20 RGZ 9, 148, 149 („so überzeugend und zutreffend ausgeführt, daß hier eine einfache Verweisung auf diese Entscheidungen genügt“). Siehe aber auch noch RG v. 22.11.1884  –

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Der Missbrauch der Vertretungsmacht

richt21 in RGZ 58, 35622 für den Fall des kollusiven Zusammenwirkens, dass der Vertretene die Leistung gem. §§ 249, 826 BGB verweigern könne; es könne daher dahingestellt bleiben, ob die Anwendung der §§ 138, 242 BGB zum gleichen Ergebnis führe wie die nun nicht mehr explizit geregelte Arglisteinrede des gemeinen Rechts.23 Unter Bestätigung dieser Rechtsprechung24 wird in RGZ 71, 21925 erweiternd für den (verneinten) Missbrauch einer Generalvollmacht ausgeführt,26 dass der Vertretene die Arglisteinrede bereits dann erheben könne, wenn auf Seiten des Geschäftsgegners ein erkennbarer Missbrauch vorliegt.27 Bekräftigend der V. Zivilsenat im Jahre 1917: Ein Rechtsgeschäft ist für den Vertretenen „nicht verbindlich“, wenn „der Vertreter unter Mißbrauch seiner Vertretungsmacht zu eigenem Vorteile dem Interesse des Vertretenen zuwidergehandelt hat und der Dritte das erkannt hat oder auch nur hätte erkennen müssen, aber infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat“.28 RGZ 134, 6729 fasst die Rechtslage im Jahre 1931 wie folgt zusammen:30 „Die Regeln über den sog. Mißbrauch der Vollmacht […] beruhen auf dem Gedanken, daß zwar grundsätzlich für die Verbindlichkeit des Rechtsgeschäfts gegenüber dem Vollmachtgeber allein der Vollmachtsinhalt maßgebend ist […] –, daß davon aber eine Ausnahme zu machen ist, wenn zuungunsten des Geschäftsgegners die Grundsätze vom I 318/84, RGZ 15, 206 (Arglisteinrede bei Vertragsschluss durch Kapitän entgegen den Anweisungen des Reeders bei Kenntnis des Geschäftsgegners). 21 Siehe auch noch zuvor RG v. 28.6.1902 – I 86/02, RGZ 52, 96: Erklärung zur Löschung der OHG gegenüber dem Registergericht durch den bevollmächtigten Rechtsanwalt hat bei bewusstem Handeln gegen den Willen einzelner OHG-Gesellschafter keine Wirkungen im Verhältnis der Gesellschafter zueinander. 22 RG v. 30.6.1904 – VI 485/03, RGZ 58, 356 (Bürgschaft durch OHG-Gesellschafter für OHG zur Sicherung eines persönlichen Darlehens). 23 RGZ 58, 356 f. 24 So obiter RGZ 71, 219, 222 unter Bezugnahme auf RGZ 58, 356 und Staub, HGB, 8. Aufl., § 126 Anm. 15. 25 RG v. 14.6.1909 – VI 356/08, RGZ 71, 219. 26 Zustimmend RGRK-BGB/Kiehl, 2. Aufl., § 166 Anm. 3; Staudinger/Riezler, BGB, 9. Aufl., § 164 Anm. 7; vgl. auch Enneccerus, AT 8. Bearbeitung § 170 I 4 [S. 462] mit Fn. 19 . 27 RGZ 71, 219, 222: „Ist freilich das betreffende Geschäft von dem Bevollmächtigten unter offenbarem, dem andern Kontrahenten erkennbaren Mißbrauche seiner Vollmacht dem Interesse des Vollmachtgebers zuwider abegschlossen oder hat er gar in der dem andern Teile bewußten Absicht, den Geschäftsherrn zu schädigen, gehandelt […].“ Siehe weiter (S. 224): „[…] davon nicht die Rede sein (könne), daß [der Geschäftsgegner] bei Abschluß des Bürgschaftsvertrages nach Treu und Glauben hätte erkennen müssen, es handle sich hierbei um einen Mißbrauch der Vollmacht“. Ebd.: […] „bekannte oder redlicherweise nicht zu verkennende Überschreitung der Vollmacht […]“. Kipp (Fn. 20), S. 284 interpretiert die Entscheidung so, dass Fahrlässigkeit auf Seiten des Geschäftsgegners ausreicht. In diesem Sinne auch RG v. 10.10.1913 – II 260/326/13, Recht 1913 Nr. 2972. 28 RG v. 27.10.1917 – V 151/17 (Schuldanerkenntnis), LZ 1918, 376 (unter Bezugnahme auf RGZ 52, 99 und RGZ 71, 222). 29 RG v. 14.10.1931 – I 10/31, RGZ 134, 67. 30 Ähnlich bereits RG v. 7.3.1931 – V 174/30, JW 1931, 2229, 2230 m. Anm. Bauer-Mengelberg.

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Handeln wider Treu und Glauben Platz greifen und damit dem Vollmachtgeber die Einrede der Arglist in die Hand gegeben wird. Das ist u.a. dann der Fall, wenn der Geschäftsgegner weiß oder sich sagen muß, daß der Abschluß des Geschäfts dem Interesse des Vollmachtgebers zuwiderlaufe und er den Abschluß keinesfalls beabsichtigt haben könne. Das Handeln wider Treu und Glauben liegt hier darin, daß der Geschäftsgegner unter Berufung auf die formelle Vertretungsmacht des Bevollmächtigten dem Machtgeber ein Geschäft aufzuzwingen sucht, von dem er weiß oder sich sagen muß, daß dieser es nicht gewollt hat, weil es dessen Interessen zuwiderläuft“.31 Ergänzend wird dann angefügt: „Diese Grundsätze sind zum mindesten rechtsähnlich auch dann anzuwenden, wenn es sich nicht um Abreden handelt, die dem Inte­ resse des Vollmachtgebers zuwiderlaufen, sondern um eine Tatsache, deren Kenntnis ihn vom Vertragsschluß abgehalten hätte. Weiß der Geschäftsgegner oder muß er sich wenigstens sagen, daß der Vollmachtgeber bei Kenntnis der Tatsache nicht abgeschlossen hätte, und rechnet er zugleich damit, daß jener die Kenntnis von seinem Bevollmächtigten nicht erlangen werde, so würde es Treu und Glauben widersprechen, wenn er sich später auf die Kenntnis des Bevollmächtigen oder des Agenten als dem Geschäftsherrn zurechenbar beriefe“.32 Diese Rechtsprechungslinie wird dann für den Vollmachtsmissbrauch nochmals in RGZ 143, 19633 bestätigt.34 Insbesondere bekräftigt das Reichsgericht, dass „einfache Fahrlässigkeit“ des Geschäftsgegners „genügt“, um „die Einrede der Arglist zu begründen“.35 Eine Definition für die fahrlässige Unkenntnis des Geschäftsgegners erfolgte dann in der Entscheidung vom 18. Juni 193636 im Hinblick auf einen seine Generalvollmacht missbrauchenden Rechtsanwalt: „Fahrlässige Unkenntnis des Vollmachtsmißbrauchs liegt vor, wenn trotz des Ansehens, das der Rechtsanwalt genoß, Gründe bestanden, die sein Verhalten verdächtig machen mußten und bei einzelnen Beteiligten auch verdächtig gemacht haben“. 37 Obgleich das Reichsgericht – wie später auch der BGH und die hL – den Testamentsvollstrecker nicht als Vertreter der Erben, sondern als Amtswalter, der kraft eigenen Rechts im eigenen Namen handelt, qualifizierte,38 war damit doch die analoge Anwendung der §§  164 ff BGB nicht ausgeschlossen.39 Denn die „Stellung des Testamentsvollstreckers […] nach außen (§ 2208) wie auch nach innen (2218)“ sei keine 31 RGZ 134, 67, 71 f. unter Bezugnahme (allein) auf RGRK-BGB[/Busch], 3. Aufl., § 166 Anm. 4. Zustimmend RG v. 22.10.1932 – V 231/22, HRR 1933 Nr. 992; vgl. weiter RGRK-BGB/ Oegg, 8. Aufl., § 166 Anm. 4. 32 RGZ 134, 67, 72. 33 RG v. 17.1.1934 – V 314/33, RGZ 143, 196 = JW 1934, 683 m. Anm. H. Lehmann. 34 RGZ 143, 196, 201. Nochmals bekräftigt durch RG v. 16.11.1940 – II 58/40, DR 1941, 858. 35 So RGZ 143, 196, 201. Kritisch indes Stoll in FS H. Lehmann, 1937, S. 115, 116 ff. 36 RG v. 18.6.1936 – IV 36/36, Recht 1937 Nr. 48. 37 RG Recht 1937 Nr. 48. 38 So st. Rspr. seit dem Beschluss der Vereinigten Zivilsenate v. 18.1.1890 – V 256/87, RGZ 25, 295. 39 Siehe für analoge Anwendung des § 177 BGB nur RGZ 80, 416 (Familienfideikommißadministrator).

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wesentlich andere „als die eines Bevollmächtigten“.40 Daher wurde die Rechtsprechung zum Missbrauch der Vertretungsmacht durch RGZ 75, 29941 ohne Weiteres auch auf den Missbrauch der Testamentsvollstreckermacht erstreckt42 mit der Folge,43 dass „jedes fahrlässige Nichterkennen“ auf Seiten des Geschäftsgegners schadet.44 bb) Für die organschaftliche Vertretungsmacht sowie für die Vollmacht des Prokuristen haben indes sowohl das Reichsgericht45 als auch die hL an der auf das Reichsoberhandelsgericht zurückgehenden restriktiven Linie festgehalten, wonach allein ein kollu­ sives betrügerisches Zusammenwirken der Wirksamkeit des Vertretergeschäfts im Außenverhältnis entgegen steht.46 So formulierte etwa Flechtheim noch im Jahre 1932, dass die Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht gegenüber Dritten (hier gem. § 126 Abs. 2 HGB) auch bei Kenntnis des Geschäftsgegners nicht aufgehoben wird, sondern allein dann, wenn der OHG-Gesellschafter als organschaftlicher Vertreter „nicht nur objektiv vertragswidrig, sondern unredlich seinen Mitgesellschaftern gegenüber handelt und dieses dem Dritten bekannt war, wenn dieser also mit dem Ge40 So RGZ 75, 299, 302; bekräftigend RGZ 130, 131, 134. 41 RG v. 15.2.1911 – V 110/10, RGZ 75, 299 = JW 1911, 399 (Missbräuchliche Abtretung einer verpfändeten Hypothek). 42 RGZ 75, 299, 301: „In wesentlicher Übereinstimmung mit der Rechtsprechung […] nimmt deshalb auch der jetzt erkennende Senat an, daß aus einem durch den Vertreter abgeschlossenen Rechtsgeschäfte Rechte gegen den Vertretenen dann nicht hergeleitet werden können, wenn der Vertreter bewußt die Vollmacht zum Nachteile des Vertretenen mißbraucht hat und der Dritte dies hätte erkennen müssen“. 43 So ausdrücklich RG v. 10.12.1913 – V 303/13, RGZ 83, 348 (Veruntreuung einer Grundschuld durch Testamentsvollstrecker). 44 RGZ 83, 348, 353. Zustimmend RGRK-BGB/Busch, 3.  Aufl., §  166 Anm. 4; Enneccerus, BGB AT 8. Bearbeitung 1921 § 170 I 4. [S. 462]. 45 RG v. 13.4.1904 – I 530/03, RGZ 51, 388 (Wechselakzept durch OHG-Gesellschafter). 46 So explizit RGZ 51, 388, 391: „Dem Vorderrichter kann aber ferner darin nicht beigetreten werden, daß die Einrede der Arglist gegen den Kläger schon dann begründet ist, wenn er beim Wechselerwerb diejenigen Tatsachen gekannt hat, welche das Verhalten des Otto L. als vertragswidrig und als Mißbrauch der Vertretungsbefugnis charakterisieren […] Nur in dem einen Falle, wenn Kläger die widerrechtliche Absicht des Otto L. gekannt und mit ihm betrüglich zum Nachteil der Gesellschaft kolludiert hätte, würde der Geltendmachung des Akzepts die Einrede der Arglist entgegenstehen“ (unter Bezugnahme auf RGZ 9, 148 sowie RG v. 23.10.1892  – II 179/91, Bolze 13 Nr.  496 („[…] daß durch Art. 114 diejenigen Rechtsakte nicht geschützt sind, welche der Gesellschafter Namens der Gesellschaft in der Absicht widerrechtlicher Schädigung der Gesellschaft und unter Kenntniß und Theilnahme des Dritten in dieser Absicht eingegangen ist“) und RG v. 22.6.1896 – I 91/95, Bolze 21 Nr. 552 (Wechselakzept in doloser Absicht). Siehe weiter RG v. 11.5.1916 – VI 80/16 WarnRspr 1916 Nr. 174 [S. 272, 274] (Schuldschein durch OHG-Gesellschafter): „Es ist richtig, daß selbst ein dem Gegenkontrahenten des Gesellschafters, der namens der Gesellschaft ein Rechtsgeschäft abschließt, bekannter Mißbrauch der Vertretungsmacht für das eigene Interesse die Rechtsgültigkeit des Geschäfts nicht ausschließt, wohl aber hebt der Fall des betrügerischen Zusammenwirkens der beiden Kontrahenten zum Schaden der Gesellschaft die Verpflichtung der Gesellschaft auf, dem Dritten aus dem Geschäft zu haften“. Betont wird hier, dass es im Falle eines betrügerischen Zusammenwirkens nicht darauf ankomme, ob die Gesellschaft geschädigt worden sei. Siehe weiter RG v. 10.7.1917  – II 186/17, LZ 1918, 272 (Wechselakzept in doloser Absicht).

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sellschafter zusammen betrügerisch zum Nachteil der Gesellschaft kolludiert hat“. Die Kollusion verstoße gegen die guten Sitten. Eine Absicht, die Gesellschaft zu schädigen, sei indes nicht erforderlich; es genüge vielmehr das Bewusstsein, „daß der Gebrauch der Vertretungsmacht […] der [OHG] schaden wird“ bzw. der Schaden „mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“. Und nochmals: Der Geschäftsgegner muss „die mißbräuchliche Ausnutzung der Vertretungsmacht durch den Gesellschafter positiv kennen“. Es „genügt nicht fahrlässige Unkenntnis“.47 Für die Aufgabe der Unterscheidung zwischen rechtsgeschäftlicher und organschaftlicher Vertretungsmacht hatte sich allerdings im Jahre 1929 insbesondere Theodor Kipp stark gemacht.48 Dieser Linie folgte im Jahre 1934 in RGZ 145, 31149 dann auch der VI. Zivilsenat. Ohne nähere Begründung führte hier der – nicht für das Handelsund Gesellschaftsrecht zuständige – Senat aus, dass „kein Grund vor(liegt), den Mißbrauch einer gesetzlichen Vertretungsbefugnis anders zu behandeln“ als den Missbrauch einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht.50 Soweit in der Senatsentscheidung RGZ 71, 222 noch „eine Kollusion zwischen dem gesetzlichen Vertreter und dem Geschäftsgegner als erforderlich erachtet worden ist“, werde „daran nicht festgehalten“.51

47 So Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, 3. Aufl. 1932, § 126 Bem. 9 (mit allen Zitaten und zahlr. Nachw.). Ebenso für die organschaftliche Vertretung des OHG-Gesellschafters: Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 126 Anm. 15 oder des AG-Vorstands: Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 235 Anm. 17 aE. So auch für die Vertretungsmacht des Prokuristen: Düringer/ Hachenburg/Hoeniger, HGB, 3. Aufl., § 50 Anm. 1, Vorbem vor § 48 Anm. 9 („schadet dem Dritten nur die Kollusion)“; siehe auch noch Ehrenberg/Titze, HdB des gesamten Handelsrechts, Bd. II Abt. 2 § 140 2. [S. 919]: „Auf diese Unbeschränkbarkeit der Prokura würde sich selbst derjenige Dritte berufen können, dem die der Bewegungsfreiheit des Prokuristen vom Prinzipal gezogenen Grenzen bekannt wären. Bloß wenn der Dritte den Mißbrauch, den der Prokurist mit seiner Vertretungsmacht triebe, nicht nur kennen, sondern sich in sittenwidriger Schädigungsabsicht dran beteiligen würde, könnte der Prinzipal die Wirksamkeit des vom Prokuristen eingegangenen Rechtsgeschäfts dadurch illusorisch machen, daß er mit der Klage aus § 826 BGB, Aufhebung des Rechtsgeschäfts verlangte bzw., aus letzterem in Anspruch genommen , die Einwände der Arglist erhöbe“. 48 Kipp (Fn 20), S. 286: „Aber ich glaube nicht, daß diese Einschränkung berechtigt ist. Der Grundgedanke ist: Die Vertretungsmacht ermächtigt nicht dazu, den Vertretenen dolos zu schädigen. Man kann verstehen, wenn gesagt wird, daß das Dritte nichts angeht. Man kann verstehen, wenn gesagt wird, daß es Dritte nur dann angeht, wenn sie die Sachlage und den Dolus des Vertreters durchschauen. Man kann verstehen und muß es nach meiner Überzeugung billigen, wenn die Ansicht durchbricht, daß der Dritte auch dann keine Rechte aus dem Geschäft ableiten kann, wenn er den Dolus des Verteters nur hätte durchschauen müssen. Aber wenn man dies letzte einmal annimmt, so ist nach meiner Überzeugung kein berechtigter Grund dafür vorhanden, bei unbeschränkbarer Vertretungsmacht das positive Wissen zu fordern. Daher muß der oben aufgestellte Satz in voller Allgemeinheit auch für die Fälle der unbeschränkbaren rechtsgeschäftlichen und ebenso für die Fälle der gesetzlichen Vertretungsmacht anerkannt werden“. 49 RG v. 5.11.1934 – VI 180/34, RGZ 145, 311 = JW 1935, 1012 m. Anm. Siebert. 50 So RGZ 145, 311, 315. 51 RGZ 145, 311, 315.

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Die damalige hL hat sich von dieser – vereinzelten – Entscheidung des Reichsgerichts zunächst allerdings nicht beeindrucken lassen, sondern vielmehr – und überwiegend ohne Anführung der gegenteiligen Entscheidung RGZ 145, 31152 – an der bislang hM festgehalten.53 Auch der II. Zivilsenat des Reichsgerichts54 hat einige Jahre später im Zusammenhang mit Ersatzansprüchen aus der Begründung einer stillen Gesellschaft gegen den geschäftsführungsbefugten und vertretungsberechtigten OHG-Gesellschafter ausgeführt, dass ein Vertragsschluss immer dann „wirksam ist, wenn nicht etwa sittenwidriges Zusammenspiel des Vertreters mit dem Dritten vorliegt und der Berufung auf den Vertrag die Einrede der Arglist entgegensteht“.55 Ähnlich hatte bereits zuvor der VII. Zivilsenat geurteilt56 und einen Missbrauch der Prokura nur im Falle eines kollusiven arglistigen Zusammenwirkens angenommen, wobei der Senat ergänzte, dass die nahezu einstimmig verneinte Pflicht zur Nachforschung, ob der Prinzipal dem Prokuristen entgegenstehende Weisungen erteilt habe, nicht „auf dem Wege über die sog. culpa in contrahendo“ unterlaufen werden dürfe.57 Diese Sichtweise hat sich auch nach 1945 zunächst nicht verändert.58 Erst allmählich fand die insbesondere von Weipert protegierte Gegenauffassung59 vermehrt Zustimmung.60 Im Anschluss an A. Hueck folgte dann auch Geßler einer Kompromisslinie: Der Geschäftsgegner sei auch über die Kollusion hinaus dann nicht mehr schützwürdig, wenn der vertretungsberechtigte Gesellschafter seine Vertretungsmacht bewusst zum Schaden der OHG missbraucht habe und der Geschäftsgegner dies bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können.61 52 Kritisch zu RGZ 145, 311 und der Entscheidung selbst „Mißbrauch“ vorhaltend indes Stoll in FS Lehmann, 1937, S. 115, 118 f. 53 So (zur Prokura) Schlegelberger/Hildebrandt, HGB, 1. Aufl., § 50 Anm. 2; für die Vertretungsmacht des OHG-Gesellschafters: Schlegelberger/Geßler, HGB, 1. Aufl., § 126 Rz. 22; für die Vertretungsmacht des Vorstands der AG: Schlegelberger/Quassowski, AktG, 2. Aufl., § 74 Anm. 1; Godin/Wilhemi, AktG, 1. Aufl., § 74 Anm. II 4; Baumbach, AktG, 2. Aufl., § 74 Anm. 3 B. Abweichend allein RGRK-HGB/Weipert, 1. Aufl., § 126 Anm. 21; Großkomm­ AktG/W. Schmidt, 1. Aufl., § 74 Anm. 12. 54 RG v. 8.1.1937 – II 122/36, RGZ 153, 371. 55 RGZ 153, 371, 374. 56 RG v. 16.11.1934 – VII 181/34, JW 1935, 1084. 57 So RG, JW 1935, 1084, 1085. 58 Siehe etwa (für OHG) Schlegelberger/Geßler, HGB, 2. Aufl., § 126 Rz. 22; für die GmbH: Scholz, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Anm. 5. 59 RGRK-HGB/Weipert, 2. Aufl., § 126 Anm. 21 unter Bezugnahme auf RGZ 145, [311] 315 sowie Kipp (Fn. 20). 60 So nunmehr (für OHG) Baumbach/Duden, HGB, 11. Aufl., § 126 Anm. 3 B; für die AG dann GroßkommAktG/W. Schmidt/Meyer-Landrut, 2.  Aufl., §  74 Anm. 12 unter Bezugnahme auf RGZ 145, [311] 315; ebenso allgemein auch RGRK-BGB/Kuhn, 11. Aufl., § 166 Anm. 27. 61 So A. Hueck, OHG, 1. Aufl., § 20 III 2 b) [S. 161 ff.] mit Hinweis auf culpa in contrahendo; zustimmend Schlegelberger/Geßler, HGB, 3. Aufl., § 126 Rz. 22. Für die AG auch Baumbach/Hueck, AktG, 10. Aufl., § 74 Anm. 3 B; für die GmbH dann auch Hachenburg/Schilling, GmbHG, 6. Aufl., § 37 Anm. 12; Baumbach/Hueck, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Anm. 3 C; enger (nur Kollusion) allerdings nach wie vor Scholz, GmbHG, 4. Aufl., § 37 Anm. 5.

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c) Bundesgerichtshof und neueres Schrifttum aa) Überraschenderweise finden sich substanzielle Ausführungen zum Missbrauch der Vertretungsmacht in der Rechtsprechung des am 1.10.1950 neu errichteten Bundesgerichtshofs (BGH)62 erstmals in der Entscheidung des VII. Zivilsenats vom 18. Februar 1960.63 In BGHZ 26, 33064 konnte eine Entscheidung der streitigen Problematik65 noch ausdrücklich offen gelassen werden.66 Und im Urteil vom 8.2.195267 wird der Hinweis der Revision auf die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht mit dem Argument zurückgewiesen, dass im konkreten Fall nicht die Reichweite der Vertretungsmacht des Komplementärs, sondern dessen arglistiges Verhalten gegenüber dem Kläger zu beurteilen sei, und zwar ungeachtet, ob der Komplementär seine Befugnisse überschritten habe oder nicht.68 Streitgegenstand war im Urteil vom 18. Februar 1960 die Frage, ob eine Gesellschafterin einer OHG – die einen Musikalienverlag betreibt – der OHG zustehende Tantieme-Forderungen gegen die GEMA wirksam abgetreten hat, und zwar zur Sicherung von Rückzahlungsansprüchen, die aus einem Flüchtlingskredit gegen ihren Bruder begründet waren. Der Annahme des Berufungsgerichts, dass ein Missbrauch der Vertretungsmacht nur in Betracht komme, wenn der Bekl. als Geschäftsgegner „Kenntnis davon gehabt hätte, daß [der Vertreter] bewußt den Interessen [des Vertretenen] zuwiderhandelte“,69 hielt der Senat entgegen, dass „diese Auffassung über die Wirkungen eines Mißbrauchs der Vertretungsmacht […] überholt“ sei. Vielmehr weise die Revision „mit Recht darauf hin, daß in solchen Fällen auch ein geringerer Grad des Verschuldens auf Seiten des Vertragsgegners genügen“ könne, „um ihn dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung auszusetzen“. Der Senat ist der Ansicht, „daß hierzu ein Maß von Verschulden ausreicht, da[s] es mit Treu und Glauben nicht als ­vereinbar erscheinen läßt, daß der Vertragsgegner sich auf die Vertretungsmacht ­beruft“.70 Ob eine unzulässige Rechtsausübung vorliegt, sei „nach den gesamten Um62 Zur frühen Rspr. des II. Zivilsenats des BGH näher Bayer in Fischer/Pauly, Höchstrichterliche Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik, 2015, S. 83 ff. 63 BGH v. 18.2.1960 – VII ZR 21/59, WM 1960, 611. Ein obiter dictum zum möglichen Missbrauch der Testamentsvollstreckermacht findet sich – auf der Linie von RGZ 83, 348 – in OGHbrZ v. 26.1.1950 – I ZS 26/49, OGHZ 3, 242, 247 ff. 64 BGH v. 6.2.1958 – II ZR 210/56, BGHZ 26, 330. 65 BGHZ 26, 330, 336: „In Rechtsprechung und Schrifttum besteht keine Übereinstimmung darüber, in welchem Umfang die zum Vollmachtsmißbrauch entwickelten Rechtsgrundsätze anzuwenden sind, wenn der vertretungsberechtigte Gesellschafter einer Personalhandelsgesellschaft […] unter Mißachtung der ihm gesellschaftsvertraglich auferlegten internen Bindungen Rechtsgeschäfte abschließt […].“ 66 BGHZ 26, 330, 337 („bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung“). 67 BGH v. 8.2.1952 – I ZR 92/51, NJW 1952, 538 (betr. analoge Anwendung des § 31 BGB auf KG). 68 BGH, NJW 1952, 538, 539. 69 In diesem Sinne obiter auch noch BAG v. 20.10.1960 – 2 AZR 554/59, NJW 1961, 527 mwN. 70 So BGH, WM 1960, 611, 612. Siehe auch bereits (aber unveröffentlicht) BGH v. 6.2.1958 – VII ZR 46/57, JurionRS 1958, 13869 (mit ähnlichen Ausführungen zur subjektiven Seite des Geschäftsgegners.

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ständen des Falles zu beurteilen“.71 Und der VII. Zivilsenat ergänzte: „Das muß auch gelten, wenn der vertretungsberechtigte Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft seine Vertretungsmacht mißbraucht“.72 Diese – noch unscharfe – Rechtsprechung hat im Schrifttum Zustimmung gefunden,73 insbesondere auch durch Robert Fischer.74 In der Folge hat sich dann auch der II. Zivilsenat im Urteil vom 1. März 196275 sowie der VIII. Zivilsenat dieser Linie angeschlossen.76 Der VII. Zivilsenat hat im Urteil vom 28. Februar 196677 die bisherige Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst:78 „Der Vertretene hat grundsätzlich das Risiko eines Vollmachtmißbrauchs zu tragen. Dem Vertragsgegner obliegt im allgemeinen keine besondere Prüfungspflicht, ob und inwieweit der Vertreter im Innenverhältnis gebunden ist, von einer nach außen unbeschränkten Vertretungsmacht nur begrenzten Gebrauch zu machen. Der Vertretene ist aber, abgesehen von den Fällen vorsätzlichen Zusammenwirkens zwischen Vertreter und Vertretungsgegner dann geschützt, wenn der Vertreter von seiner Vertretungsmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch gemacht hat, so daß beim Vertragsgegner begründete Zweifel entstehen mußten, ob nicht ein Treueverstoß des Vertreters gegenüber dem Vertretenen vorliege. Das ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich nach den Umständen des Falles die Notwendigkeit einer Rückfrage des Vertragsgegners beim Vertretenen vor Vertragsschluß geradezu aufdrängte, diese aber unterlassen worden ist“.79 bb) Hieran anknüpfend formulierte – erstmals in der amtlichen Sammlung80 – der II. Zivilsenat in BGHZ 50, 11281 im Hinblick auf den Missbrauch einer Prokura, dass sich der Vertragsgegner auf die Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht „nicht berufen (kann), wenn der Vertreter bewußt zum Nachteil des Vertretenen gehandelt hat 71 BGH, WM 1960, 611, 612. Fortführung (ohne jegliches Zitat) beiläufig durch BGH v. 31.10.1963 – VII ZR 138/62, WM 1964, 87 (Missbrauch der Vollmacht verneint). 72 BGH, WM 1960, 611, 612 unter Bezugnahme auf Schlegelberger/Geßler, HGB, 3.  Aufl., § 126 Anm. 22. 73 Zustimmend etwa Schlegelberger/Geßler, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 22. 74 GroßkommHGB/R. Fischer, 3. Aufl., § 126 Anm. 20, allerdings mit dem einschränkenden Hinweis, dass an die Sorgfaltspflicht des Dritten „strenge Anforderungen“ zu stellen sind. 75 BGH v. 1.3.1962 – II ZR 1/62 (II ZR 217/57), LM § 515 ZPO Nr. 13 (betr. unwirksame Prozesshandlung [Rechtsmittelverzicht im Rechtsstreit über Mitgliederbestand einer GmbH] bei erkennbarem Missbrauch der Vertretungsmacht). 76 BGH v. 25.3.1964 – VIII ZR 280/62, JZ 1964, 420 = JuS 1964, 368 (Emmerich) unter Bezugnahme auf RGZ 143, 196, 201 (Missbrauch der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern). 77 BGH v. 28.2.1966 – VII ZR 125/65, WM 1966, 491 = NJW 1966, 1911. 78 Ausf. Nachw. in BGH, WM 1966, 491, 492. 79 BGH, WM 1966, 491, 492 (bejaht im Hinblick auf missbräuchlich eingelöste Schecks). Wiederum Zustimmung durch BGH v. 27.3.1968 – VIII ZR 22/66, WM 1968, 841 (Bürgschaft). 80 Siehe schon beiläufig BGH v. 23.2.1961 – II ZR 165/59, WM 1961, 321, 323 (Verschulden der Bank bei Missbrauch einer Kontovollmacht durch Handlungsbevollmächtigten verneint). 81 BGH v. 25.3.1968 – II ZR 208/64, BGHZ 50, 112 = NJW 1968, 1379. Dazu Heckelmann, JZ 1970, 62 ff.; Mertens, JurA 1970, 466 ff.

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und dies dem Dritten schuldhafter Weise nicht bekannt geworden ist“.82 Nur „mit dieser Einschränkung“ sei – so der Senat – im Hinblick auf die Unbeschränkbarkeit von Prokura und organschaftlicher Vertretungsmacht gegenüber Dritten (§§  50 Abs. 1, 126 Abs. 2 HGB, § 82 AktG) „der vom VII. Zivilsenat geäußerten Rechtsauffassung zu folgen“.83 Abgelehnt wird mit dieser Formulierung implizit der weitergehende, auf RGZ 145, 311 zurückgehende Ansatz, wonach generell jede Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von der Überschreitung der internen Vertretungsmacht dem Geschäftsgegner schadet.84 Allerdings könne – so der II. Zivilsenat weiter – unter Anwendung des Rechtsgedankens des § 254 BGB der „Schutz des Vertretenen […] ganz oder teilweise nach Maßgabe von § 242 BGB entfallen, wenn der Vertragsgegner dartun kann, daß es zu dem Mißbrauch der Vertretungsmacht nur deshalb kommen konnte, weil der Vertretene die gebotene Kontrolle des Vertreters unterlassen hat“.85 Im konkreten Sachverhalt hatte der mit Prokura ausgestattete Leiter der Kreditabteilung der Berliner Niederlassung der bekl. Th. B. AG im Anschluss an zahlreiche bank­ unübliche Geschäfte verbotswidrig 22 Wechsel ausgestellt, die vom Kläger, einem Berliner Privatbankier, iHv 1,65 Mio DM eingefordert worden waren. Aus prozessualen Gründen – „in der gewählten Prozeßart unstatthaft“ – wurde die im Wechselprozess erhobene Klage abgewiesen.86 cc) Die Anknüpfung des Tatbestands an ein bewusstes Handeln des Vertreters zum Nachteil des Vertretenen87 wurde in weiteren Entscheidungen zunächst bestätigt.88 Zu82 BGHZ 50, 112, 114. 83 BGHZ 50, 112, 114 unter Bezugnahme auf BGH, WM 1960, [611] 612 sowie A. Hueck, OHG, 3. Aufl., S. 214 ff. [§ 20 III 2. b)]; Schlegelberger/Geßler, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 22; GroßkommHGB/R. Fischer, 3. Aufl., § 126 Anm. 20; GroßKommHGB/Würdinger, 3. Aufl., § 50 Anm. 1. 84 Diesen weiten Ansatz explizit abl. insbesondere auch GroßkommHGB/R. Fischer, 3. Aufl., § 126 Anm. 19; vgl. weiter Schlegelberger/Geßler, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 22; A. Hueck, OHG, 3. Aufl., § 20 III 2. b) [S. 215]. 85 BGHZ 50, 112, 114. Zur berechtigten Kritik: K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl., § 16 Rz. 71 („Das Rechtsgefühl mag für diese Auffassung sprechen, aber die dogmatische Grundlage trägt das Ergebnis nicht“); Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl., § 12 Rz. 42; Staub/Joost, HGB, 5. Aufl., § 50 Rz. 52; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 16; Erman/Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl., § 167 Rz. 76 mwN; kritisch bereits Heckelmann, JZ 1970, 62 ff.; vgl. weiter (zu § 82 Abs. 2 AktG) G/H/E/K/Hefermehl, AktG § 82 Rz. 42; verteidigend indes R. Fischer in FS Schilling, 1973, S. 3, 17 f.; Mertens, JurA 1970, 466, 473 ff.; aktuell etwa auch Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 7 aE. 86 BGHZ 50, 112, 115. 87 So auch damals die ganz hL: GroßkommHGB/R. Fischer, 3. Aufl., § 126 Anm. 18; GroßkommAktG/Meyer-Landrut, 3. Aufl., § 82 Anm. 8; Hachenburg/Schilling, GmbHG, 6. Aufl., § 37 Anm. 12; ausf. R. Fischer, in FS Schilling, 1973, S. 3, 16 ff. 88 BGH v. 15.12.1975  – II ZR 148/74, GmbHR 1976, 208, 209 (verbotswidrige Bürgschaft durch GmbH-Geschäftsführer); ebenso bereits die erste Revisionsentscheidung in diesem Rechtsstreit BGH v. 17.10.1973 – VIII ZR 67/72, GmbHR 1974, 7 = LM § 37 GmbHG Nr. 2. Dazu näher Geßler in FS von Caemmerer, 1978, S. 531 ff.

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rückgewiesen wurde vom II. Zivilsenat indes die Auffassung, ein Missbrauch „einer gesetzlichen Vertretungsmacht des Handelsrechts“ komme nur dann in Betracht, wenn der Geschäftsgegner „den Mißbrauch erkennt“.89 Vielmehr entfalle die „gesetzlich vorausgesetzte Schutzbedürftigkeit des Geschäftspartners“ auch schon dann, „wenn sich nach den Umständen geradezu aufdrängt, daß der Vertreter bei Geschäftsabschluß […] (mit Mißbrauchsabsicht und Schädigungsvorsatz) zum Nachteil des Vertretenen handelt“.90 Eine solche „objektive Evidenz“91 auf Seiten des Geschäftsgegners92 sei allerdings – so etwa der XI. Zivilsenat93 – nur bei Vorliegen massiver Verdachtsmomente anzunehmen.94 Der Missbrauch der Vertretungsmacht muss sich dem Geschäftsgegner gera89 Bezugnahme auf R. Fischer in FS Schilling, 1973, S. 3 ff. und Hübner in FS Klingmüller, 1974, S. 173 ff. (beide mwN). 90 So BGH, GmbHR 1976, 208, 209. Fortführung in BGH v. 19.5.1980 – II ZR 241/79, WM 1980, 953 ff. (Missbrauch der Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer); so auch Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl., § 12 Rz. 37 (zum Prokuristen). 91 Begriff der „Evidenz“ wohl von Flume, AT II, 4. Aufl., § 45 II 3 [S. 789]. Ausdrücklich von „objektiver Evidenz“ spricht auch BGH v. 19.4.1994 – XI ZR 18/93, NJW 1994, 2082, 2084 (Scheckeinreichung); BGH v. 29.6.1999  – XI ZR 277/98, NJW 1999, 2883 (Kontovollmacht); BGH v. 22.6.2004, NJW-RR 2004, 1637, 1638 (Banküberweisung); BGH v. 1.12.2012 – VIII ZR 307/10, NJW 2012, 1718 Rz. 21 (Vertragsübernahme). 92 So auch BGH v. 23.5.1976 – VI ZR 257/73, WM 1976, 632, 633; vgl. auch schon BGH v. 24.4.1972 – II ZR 153/69, WM 1972, 1380; vgl. weiter BGH v. 5.12.1983 – II ZR 56/82, NJW 1984, 1461, 1462 = GmbHR 1984, 96 (Missbrauch Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer nach einer dem Geschäftsgegner bekannten Ablehnung durch die Gesellschafterversammlung) m. Bspr. G. H. Roth, ZGR 1985, 265 ff., 273 ff.; BGH v. 31.1.1991 – VII ZR 291/81, BGHZ 113, 315, 320 = NJW 1991, 1812 (Missbräuchliche Vertretung der Bauherrin Deutsche Welle durch die D. Bau- und Grundstücks-Aktien-Gesellschaft – B. beim Neubau des Rundfunkgebäudes; BGH v. 8.3.1989 – IVa ZR 353/87, NJW-RR 1989, 642; BGH v. 3.10.1989 – IX ZR 154/88, NJW 1990, 384, 385; BGH, NJW 1996, 589, 590 (GmbH); BGH v. 22.6.2004 – XI ZR 90/03, NJW-RR 2004, 1637, 1638 ([Banküberweisung]; BGH v. 2.7.2007 – II ZR 111/05, NJW 2008, 69 Rz. 69 (Verein); BGH 1.12.2012 – VIII ZR 307/10, NJW 2012, 1718 Rz. 21 (Vertragsübernahme); grundlegend Flume AT II, 4. Aufl., § 45 II 3 [S. 788 ff.]; ihm folgend Geßler in FS von Caemmerer, S. 531 ff., 543 ff.; aktuell etwa K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl., § 16 Rz. 76; Wiedemann, GesR II § 8 III 2 b) bb) [S. 725]; R/A/Altmeppen, GmbHG, 9.  Aufl., §  37 Rz.  43; ausf. Staub/Joost, HGB, 5.  Aufl., §  50 Rz. 45 ff., 47 mwN. 93 Erstmals BGH v. 28.4.1992 – XI ZR164/91, WM 1992, 1362, 1363 = LM § 167 BGB Nr. 35 (2/1993). 94 Bestätigung durch BGH v. 19.4.1994 – XI ZR 18/93, WM 1994, 1204, 1205 = NJW 1994, 2082, 2083 = LM § 164 BGB Nr. 75 m. Anm. Leptien – Veruntreuungen durch den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland (Evidenz verneint); ebenso BGH v. 25.10.1994 – XI ZR 239/93, BGHZ 127, 239, 241 = NJW 1995, 250 = LM § 164 BGB Nr. 78 m. Anm. Langenfeld (Kontoübertragung mittels postmortaler Vollmacht); BGH v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, NJW 1996, 589, 590 (Vertrag mit GmbH); BGH v. 29.6.1999 – XI ZR 277/98, NJW 1999, 2883 (Kontovollmacht); BGH v. 22.6.2004, NJW-RR 2004, 1637 (Banküberweisung); BGH v. 1.6.2010 – XI ZR 389/09, NJW 2011, 66 Rz. 29 (Generalvollmacht für BGB-Gesellschaft [Evidenz verneint]); BGH v. 1.12.2012 – VIII ZR 307/10, NJW 2012, 1718 Rz. 23 (im Ergebnis abgelehnt). So aktuell auch Beuthien, GenG, 16. Aufl., § 27

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dezu aufdrängen.95 Trotz der Nähe zur groben Fahrlässigkeit vermeidet der Begriff der Evidenz den hier verfehlten Ansatz einer Erkundigungspflicht.96 An der Evidenz kann es fehlen, wenn der Geschäftsgegner – etwa beim GmbH-Geschäftsführer – den Umständen nach von einer Genehmigung ausgehen durfte.97 Zustimmung findet in der Folgezeit die Auffassung, dass auf Seiten des Vertreters bereits eine objektiv pflichtwidrige Überschreitung der internen Bindungen für einen Missbrauch der Vertretungsmacht ausreicht,98 mithin kein bewusstes Handeln zum Nachteil des Vertretenen erforderlich ist.99 Gleichfalls nicht mehr erforderlich ist  – insbesondere nach Auffassung des II. Zivilsenats – ein Handeln zum Nachteil des Vertretenen.100 Rz. 23; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 15; Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., §  126 Rz.  26 mwN; jüngst im Falle einer missbräuchlichen Abtretung von GmbH-Geschäftsanteilen wieder BGH v. 28.1.2014 – II ZR 371/12, NZG 2014 Rz. 15 („begründeter Verdacht“). 95 In diesem Sinne BGH, NJW 1984, 1461, 1462 (GmbH); BGH v. 27.3.1985 – VIII ZR 5/84, NJW 1985, 2409, 2410 (Verrechnung im Konzern); BGH v. 14.3.1988 – II ZR 211/87, NJW 1988, 2241, 2243 (Anteilsübertragung in GmbH); BGH, NJW 1994, 2082, 2083 (Scheck­ einreichung); BGH, NJW 1996, 589, 590 (GmbH). 96 So zutreffend bereits eingehend Flume, AT II § 45 II 3 [S. 790] mwN.; aktuell etwa auch Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19.  Aufl., §  35 Rz.  24; B/H/Zöllner/Noack, ­GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 48; Scholz/U. Schneider/S. Schneider, GmbHG, 11. Aufl., § 35 Rz.  192, 198; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl., §  82 Rz.  6; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 15. 97 Scholz/U. Schneider/S. Schneider, GmbHG, 11. Aufl., § 35 Rz. 192; ebenso R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 43; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Koppensteiner/Gruber, ­GmbHG § 37 Rz. 55. 98 Abw. noch R. Fischer in FS Schilling, 1973, S. 3, 15 ff., 19 ff.; Geßler in FS v. Caemmerer, 1978, S. 531, 533; John, GmbHR 1983, 90, 91 f. 99 So deutlich BGH v. 5.12.1983 – II ZR 56/82, NJW 1984, 1461, 1462 = GmbHR 1984, 96 (Missbrauch Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer nach dem Geschäftsgegner bekannter Ablehnung durch Gesellschafterversammlung) m. Bspr. G. H. Roth, ZGR 1985, 265 ff.; BGH v. 18.5.1988 – IVa ZR 59/87, NJW 1988, 3012, 3013 [Vollmacht für Grundstücksgeschäfte]; vgl. in diese Richtung bereits Flume, AT II, 4. Aufl., § 45 II 3 [S. 791]; ebenso Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 13. Aufl. 1991, § 35 Rz. 13; Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 15. Aufl. 1988, § 37 Rz. 28; Staub/Habersack, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 25 mwN; aus dem aktuellen Schrifttum nur K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl., § 16 Rz. 73; Staub/Joost, HGB, 5. Aufl., § 50 Rz. 44; Erman/Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl., § 167 Rz. 74; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 14; Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 25 mwN. Anders noch beiläufig BGH v. 3.10.1989 – XI ZR 154/88, NJW 1990, 384, 385 (Scheckeinlösung). 100 So deutlich BGH v. 10.4.2006 – II ZR 337/05, NJW 2006, 2776 (Missbrauch Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer) unter Verweis auf die früheren Senatsentscheidungen BGH v. 5.12.1983 – II ZR 56/82, NJW 1984, 1461, 1462 = GmbHR 1984, 96 (Missbrauch Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer nach dem Geschäftsgegner bekannter Ablehnung durch Gesellschafterversammlung) m. Bspr. G. H. Roth, ZGR 1985, 265 ff., 273 ff. und BGH v. 14.3.1988 – NJW 1988, 2241 (Abtretung GmbH-Anteile). Bekräftigung durch BGH v. 2.7.2007 – II ZR 111/05, NJW 2008, 69 Rz. 69 (Missbrauch verneint); ebenso jüngst BGH v. 18.10.2017 – I ZR 6/16, WM 2018, 230 Rz. 22; aus dem ak-

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Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Nach dem aktuellen Stand der Dogmatik liegt Missbrauch der Vertretungsmacht vor, wenn der Vertreter im Innenverhältnis zum Vertretenen seine Befugnisse objektiv pflichtwidrig überschreitet, ungeachtet, ob das Rechtsgeschäft wirtschaftlich nachteilig ist oder nicht; besondere subjektive Voraussetzungen in der Person des Vertreters (speziell bewusstes oder gar absichtliches Handeln zum Nachteil des Vertretenen) sind nicht erforderlich. Entscheidend ist allein, ob der Geschäftsgegner (ggf. dessen Vertreter, vgl. § 166 Abs. 1 BGB) schutzwürdig ist. Dies ist zu verneinen, sofern für ihn das objektiv pflichtwidrige Verhalten des Vertreters evident war; eine solche Evidenz ist dann anzunehmen, wenn die objektive Pflichtverletzung wegen massiver Verdachtsmomente für den Geschäftsgegner101 ohne weitere Nachforschungen klar erkennbar war, so dass sich ein Missbrauch der Vertretungsmacht geradezu aufdrängen musste.102 Durfte der Geschäftsgegner indes von der Genehmigung der Überschreitung der internen Schranken ausgehen, so ist das getätigte Geschäft wirksam. dd) Auch auf der Rechtsfolgenseite hat sich die Sichtweise in neuerer Zeit verändert: In Abweichung zur traditionellen Auffassung wird der Missbrauch der Vertretungsmacht heute verbreitet nicht mehr als Anwendungsfall der Arglisteinrede bzw. des § 242 BGB verortet,103 sondern es wird die entsprechende Anwendung der §§ 177 ff BGB104 favorisiert, mithin der nicht schutzwürdige Geschäftsgegner so behandelt, als tuellen Schrifttum K. Schmidt, Handelsrecht, 6.  Aufl. ,§  16 Rz.  73; B/H/Zöllner/Noack, GmbHG, 21.  Aufl., §  37 Rz.  48; Staub/Habersack, HGB, 5.  Aufl., §  126 Rz.  25; Erman/ Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl., § 167 Rz. 74 mwN.; abw. Staub/Joost, HGB, 5. Aufl., § 50 Rz. 42. 101 Der Missbrauch muss für den Geschäftsgegner evident sein: BGHZ 127, 239 (241 f.); BGH v. 1.12.2012 – VIII ZR 307/10, NJW 2012, 1718 Rz. 21; R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., §  37 Rz.  44; U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2.  Aufl., §  37 Rz.  89; MünchKommGmbHG/ Stephan/Tieves, 2. Aufl., § 37 Rz. 182; GroßkommAktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 13; MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 64. Häufig findet sich auch die Formulierung, dass die Überschreitung „für jedermann“ evident sein müsse (so etwa bei Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 6; Lutter/Hommehoff/Kleindiek, GmbHG, 19. Aufl., § 35 Rz. 24; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 15; widersprüchlich Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 82 Rz. 7). Hierin dürfte indes keine Abweichung liegen, sondern bedeutet (wohl) nur, dass in diesem Fall die Evidenz sicher auch beim Geschäftsgegner vorliegt. 102 In diesem Sinne auch Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 25 f.; GroßkommAktG/ Habersack/Foerster, 5.  Aufl., §  82 Rz.  12  f.; MünchKommAktG/Spindler, 4.  Aufl., §  82 Rz.  60  ff.; Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, 3.  Aufl., §  82 Rz.  6; U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Rz. 84 ff.; R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 41 ff. 103 So aber noch MünchKommAktG/Spindler, 4.  Aufl., §  82 Rz.  65; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 82 Rz. 7a; B/H/Zöllner/Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 44; Beuthien, GenG, 16. Aufl., § 27 Rz. 23; Staudinger/Schilken, BGB Bearbeitung 2014 § 167 Rz. 93 ff.; vgl. auch BGH v. 5.11.2003 - VIII ZR 218/01, NZG 2004, 139, 140 (Keramik-GmbH). 104 So erstmals Kipp (Fn. 20), S. 273; ebenso Enneccerus/Nipperdey, AT II 14. Bearbeitung § 183 I 5 [S. 789]; Flume, AT II, 4. Aufl., § 45 II 3 [S. 789]; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 13. Aufl., § 35 Rz. 12 mwN; vgl. aus dem aktuellen Schrifttum nur Wolf/Neuner, BGB AT, 11.  Aufl., §  49 Rz.  104; Medicus/Petersen, AT, 11.  Aufl., Rz.  967; Erman/Maier-Reimer, BGB, 15. Aufl., § 167 Rz. 73; K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl., § 16 Rz. 68; Staub/Joost,

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habe der Vertreter ohne Vertretungsmacht gehandelt. Dieser Lösungsansatz mit der Möglichkeit der Genehmigung des Rechtsgeschäfts durch den Vertretenen überzeugt trotz verbreiteter dogmatischer Bedenken105 auch im Hinblick auf den Missbrauch einer organschaftlichen Vertretungsmacht.106 Im Falle, dass der Vertreter mit dem Geschäftsgegner (oder einem seiner Vertreter) arglistig zum Nachteil des Vertretenen zusammenwirkt (kollusives Zusammenwirken),107 ist das Rechtsgeschäft nach der traditionellen, insbesondere in der Rechtsprechung einhellig vorherrschender Auffassung,108 sittenwidrig und nichtig (vgl. § 138 Abs. 1 BGB) und der Geschäftsgegner ist im Regelfall dem Vertretenen gem. §§ 826, 840, 249 BGB zum Schadensersatz verpflichtet.109 Dagegen wird im neueren Schrifttum110 auch in dieser Konstellation – insbesondere auch unter Hinweis auf die bloße Anfechtbarkeit eines (wirksamen) Rechtsgeschäfts im Falle einer arglistigen Täuschung (vgl. § 123 BGB) – anstelle einer ex lege eintretenden Nichtigkeit die analoge Anwendung der §§  177 BGB befürwortet.111 Diese Lösung erscheint interessengeHGB, 5.  Aufl., §  50 Rz.  51; R/A/Altmeppen, GmbHG, 9.  Aufl., §  37 Rz.  45; Scholz/U. Schneider/S. Schneider, GmbHG, 11. Aufl., § 35 Rz. 200; Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., §  126 Rz.  27; vgl. auch (Vertragsschluss mit GmbH-Geschäftsführer nach erfolgter Schmiergeldzahlung); BGH, NJW 1999, 2266 (2268); BGH v. 20.6.2007 – IV ZR 288/06, MittBayNot 2008, 67, 68 (BGB-Gesellschaft). 105 So etwa Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 16; MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 65; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 82 Rz. 7a; vgl. in diesem Sinne bereits G/H/E/K/Hefermehl, AktG, § 82 Rz. 38. 106 Wie hier auch Staub/Habersack, 5. Aufl., § 126 Rz. 27; GroßkommAktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 14; K. Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 7; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19. Aufl., § 35 Rz. 22; Scholz/U. Schneider/S. Schneider, GmbHG, 11. Aufl., § 35 Rz. 200; R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 45; U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Rz. 92; ausf. Zacher, GmbHR 1994, 842 (848 f.); letztlich im Ergebnis gleichfalls für eine analoge Anwendung der §§ 177 ff. BGB auch Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4.  Aufl., §  82 Rz.  16; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl., §  82 Rz.  7a; Beuthien, GenG, 16. Aufl., § 27 Rz. 23. 107 Begriffliche Abgrenzung unklar bei Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, ­GmbHG, 3. Aufl., § 37 Rz. 41 und § 35 Rz. 35. 108 RGZ 136, 359 (360); BGH, NJW 1989, 26 f. (Vereinbarung eines überhöhten Kaufpreises durch Komplementär); BGH v. 14.6.2000  – VIII ZR 218/99, NJW 2000, 2896 (2897) [durch GmbH-Geschäftsführer bezahlte Scheinrechnungen); jüngst wieder (ohne nähere Problematisierung) BGH v. 28.1.2014 – II ZR 371/12, NZG 2014, 389 Rz. 10 [dazu kritisch Saenger, WuB 2014, 628 und Backhaus, EWiR 2014, 547]. 109 Aus dem aktuellen Schrifttum etwa MünchKommBGB/Schubert, 8. Aufl., § 164 Rz. 212; Palandt/Ellenberger, BGB, 77. Aufl., § 164 Rz. 13; vgl. weiter MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 59; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 13; K. Schmidt/Lutter/ Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 6; KölnKomm/Mertens/Cahn, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 45; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 82 Rz. 6 mwN; wohl auch Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 24. 110 Siehe bereits Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 13. Aufl. 1991, § 35 Rz. 14. 111 Siehe Staudinger/Sack/Fischinger, BGB Neubearbeitung 2017 § 138 Rz. 497; Bork, BGB AT Rz. 1575; Wolf/Neuner, BGB AT, 11. Aufl., § 49 Rz. 107; K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl., §  16 Rz.  74; Lieder, JuS 2014, 681, 685; Staub/Joost, HGB, 5.  Aufl., §  50 Rz.  51; Lutter/

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rechter und für den angestrebten Schutz des Vertretenen ausreichend.112 Nicht überzeugend ist hingegen die vereinzelt erwogene Rechtsfolge einer bloßen Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts.113 ee) Anzumerken ist noch, dass die Beschränkungen der organschaftlichen Vertretungsmacht unter Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht auch für das Recht der AG und der GmbH nach allgM richtlinienkonform sind, da bösgläubige Dritte vom Schutzbereich der einschlägigen Regelung des Art. 9 Abs. 2 GesRRL114 a priori nicht erfasst werden.115 2. Sonderkonstellationen a) Rechtsgeschäfte zwischen einer Personen- bzw. Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern bzw. Organmitgliedern aa) Auch Rechtsgeschäfte zwischen einer Personen- bzw. Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern bzw. Organmitgliedern wurden von einer ganz hM jahrzehntelang (nur) nach den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht beurteilt. So geht etwa für das Recht der OHG116 das Reichsgericht117 ohne Weiteres davon aus, dass die Vertretungsmacht des für die OHG handelnden Gesellschafters aufgrund eines die Geschäftsführungsbefugnis beschränkenden Widerspruchs gem. § 115 HGB gegenüber dem Mitgesellschafter als Adressaten einer Kündigungserklärung nicht entfallen ist.118 Und auch für das Recht der Aktiengesellschaft (bzw. auch der Genossenschaft) war anerkannt, dass die Regelungen über die unbeschränkte Vertretungsmacht des Vorstands sowohl gegenüber den Aktionären119 als auch gegenüber den AufsichtsratsmitHommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19.  Aufl., §  35 Rz.  22, 24; U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Rz. 95; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 50. 112 Siehe auch bereits Bayer/Lieder, Repetitorium Handels- und Gesellschaftsrecht, 2015, Rz. 209. 113 So aber Vedder, JZ 2008, 1077 (1082). 114 Die Vorgängerregelung des Art. 10 Abs.  2 der (1.) Publizitätsrichtlinie (vom 9.3.1968) wurde mit Wirkung vom 20.7.2017 in die neue Gesellschaftsrechtlinie (GesRRL) vom 14.6.2017 integriert (nunmehr Art. 9 Abs. 2 GesRRL). Näher Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6.  Aufl., §  18 Rz.  18.1  ff., 18.8 (mit Textabdruck im Anh zu § 18). 115 Näher Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl., § 18 Rz. 18.81 mzwN. 116 Siehe nur Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, 2. Aufl., § 126 Anm. 14; RGRK-HGB/ Weipert, 2. Aufl., § 126 Anm. 20; Schlegelberger/Geßler, HGB, 3. Aufl., § 126 Rz. 18 mwN; aA allerdings Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 126 Anm. 11. 117 RG v. 11.12.1912 – I 80/12, RGZ 81, 92 (Kündigung Agenturverhältnis). 118 Näher RGZ 81, 92 (94 ff.). 119 RG v. 11.3.1881 – III 683/80, RGZ 4, 72 (für eG); RG v. 25.2.1888 − I 402/87, RGZ 22, 70 (für eG); vgl. weiter (zu § 235 Abs. 2 HGB aF) RG v. 26.11.1912 – II 359/12; RGZ 81, 17 (21); Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 235 Anm. 15; (zu § 74 Abs. 2 AktG 1937) Großkomm­ AktG/W. Schmidt/Meyer-Landrut, 2. Aufl., § 74 Anm. 13.

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gliedern120 Anwendung finden und sich Schranken allein nach den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht ergeben können. So wurde etwa in ROHGE 6 Nr. 27121 ein „Drittgeschäft“ angenommen für den Fall eines unter statutenmäßiger Überschreitung zustande gekommenen Dienstvertrages mit einem „ehemaligen Beamten“ der AG.122 Das Reichsgericht folgte dieser Rechtsprechung im Urteil vom 10. Mai 1910,123 verneinte indes einen Anspruch auf Vertragserfüllung, da der Kläger als Aufsichtsratsmitglied der bekl. AG diese nicht pflichtwidrig schädigen dürfe.124 Dies entsprach auch der hM im Recht der GmbH, wonach der Anwendungsbereich des § 37 Abs. 2 GmbHG gleichfalls auf Drittgläubigergeschäfte mit Gesellschaftern erstreckt wurde.125 Allein in ROHGE 19 Nr. 98126 wurde ein Organmitglied der AG (Vorsitzender des Verwaltungsrats) explizit nicht als „Dritter“ iSv Art. 231 ADHGB 1861 betrachtet, so dass ein mit dem Verwaltungsrat der AG statutenwidrig vereinbartes Rechtsgeschäft auch ohne die (damals für den Missbrauch der organschaftlichen Vertretungsmacht noch generell geforderten127) Voraussetzungen eines kollusiven Zusammenwirkens als nicht wirksam behandelt wurde (exceptio doli).128 bb) Daher stellte es sicherlich eine Überraschung dar, als der II. Zivilsenat in der Grundsatzentscheidung BGHZ 38, 26129 ausführte, „dass der zwingende Charakter der Vorschriften über die organschaftlichen Vertretungsbefugnisse bei einer Personalhandelsgesellschaften nicht (gelte), soweit es sich um die Begründung vertraglicher Beziehungen zwischen der Gesellschaft und einem ihrer Gesellschafter handelt“.130 Denn der „tragende Grundgedanke“ der die unbeschränkte Vertretungsmacht anordnenden Vorschrift des § 126 HGB sei der Schutz Dritter, die zur OHG bzw. KG in rechtliche Beziehungen treten, während die Gesellschafter selbst „eines solchen Schutzes nicht (bedürften)“: Sie könnten die Vertretungsverhältnisse vielmehr abwei120 Brodmann, AktG, § 235 Anm. 5; Ritter, AktG, § 74 Rz. Anm. 5; Schlegelberger/Quassowski, AktG, 3. Aufl., § 74 Anm. 11; Teichmann/Koehler, AktG, § 74 Anm. 2; Staub/Pinner, HGB, 14.  Aufl., §  235 Anm. 15; nahezu wortgleich (zu §  74 Abs.  2 AktG 1937) Großkomm­ AktG/W. Schmidt/Meyer-Landrut, 2. Aufl., § 74 Anm. 13; ähnlich (zu § 82 Abs. 2 AktG 1965) auch noch GroßkommAktG/Meyer-Landrut, 3. Aufl., § 82 Anm. 10. 121 ROHGE 6 Nr. 27 [S. 131] - Lebensversicherungsgesellschaft Germania. 122 So ROHGE 6 Nr.  27 [S.  131 (140  f.)]; vgl. weiter (zu Art. 231 Abs.  2 ADHGB) ROHG 16.6.1874, ROHGE 14 Nr. 37 [S. 89 (91)] – Frankfurter Rückversicherungsbank/Abfindungsvereinbarung. 123 So (zu § 235 Abs. 2 HGB aF) RG v. 10.5.1910 – II 603/09, RGZ 73, 343 (Kaufvertrag mit Aufsichtsratsmitglied). 124 RGZ 73, 343 (345). 125 Staub/Hachenburg, GmbHG, 4. Aufl., § 37 Rz. 10; Hachenburg/Schilling, GmbHG, 6. Aufl., §  37 Anm. 11; Baumbach/Hueck, GmbHG, 10.  Aufl., §  37 Anm. 11; Scholz, GmbHG, 4. Aufl., § 37 Anm. 4. 126 ROHG v. 29.5.1875 – R 302/75, ROHGE 19 Nr. 98 [S. 334 ff.] – Dresdner Feuerversicherungs-Gesellschaft i.L. 127 Siehe näher oben III. 1. b) bb). 128 ROHGE 19 Nr. 98 [S. 334, 336]. 129 BGH v. 20.9.1962 – II ZR 209/61, BGHZ 38, 26 = NJW 1962, 2344 = JR 1963, 180 m. krit. Anm. Beitzke = BB 1962, 1259 m. krit. Anm. Tiefenbacher = JuS 1963, 80 (Emmerich). 130 So BGHZ 38, 26 (34).

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chend „in der von ihnen für richtig gehaltenen Weise regeln“131 mit der Folge, dass sich ihnen gegenüber – ähnlich wie bei der BGB-Gesellschaft (vgl. §§ 709, 714 BGB) – die Vertretungsmacht nach dem Umfang der Geschäftsführungsbefugnis richte. Im Falle einer Überschreitung ihrer Geschäftsführungsbefugnis handelten die organschaftlichen Vertreter bei Rechtsgeschäften mit ihren Gesellschaftern (hier: Grundschuldbestellung) somit als „Vertreter ohne Vertretungsmacht“.132 Ausdrücklich abgelehnt wird vom BGH die vom Berufungsgericht (OLG Düsseldorf) vertretene Auffassung, wonach sich der mit der OHG kontrahierende Gesellschafter zwar nicht auf die Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht gem. § 126 HGB berufen könne, Überschreitungen der Geschäftsführungsbefugnis indes nicht zum Wegfall der Vertretungsmacht führten, sondern die gesellschaftsvertraglichen Bindungen lediglich im Rahmen von Treu und Glauben zu beachten seien. Dem BGH erscheint diese Auffassung „schon in ihrem Ergebnis fragwürdig“, weil sie „zwangsläufig Rechtsunsicherheit hervorruft“, aber auch dogmatisch verfehlt, weil die Beschränkung der Vertretungsmacht keine Frage der Anwendung von Treu und Glauben sei.133 Dass der II. Zivilsenat zu Beginn seiner Ausführungen behauptet, dass seine Auffassung heute „einmütig“ im Schrifttum vertreten werde,134 ist die nächste Überraschung: Die Behauptung ist nämlich – wie eingangs ausgeführt – evident unzutreffend! So wurde die abweichende Auffassung des Berufungsgerichts135 insbesondere von Flechtheim ausführlich begründet.136 Beitzke hat daher in seiner kritischen Anmerkung völlig recht, wenn er feststellt, dass die bislang hM auch einen Mitgesellschafter als Dritten iSv § 126 HGB angesehen hat, „soweit es sich um Geschäfte handelt, welche die Gesellschaft auch jedem beliebigen Außenstehenden gegenüber vornehmen könnte“.137 Es ist daher keine Überraschung, dass die Entscheidung des II. Zivilsenats im Schrifttum zunächst nur eingeschränkt Zustimmung erfahren hat,138 überwiegend indes kritisiert wurde. So wurde insbesondere beanstandet, dass der BGH die Vertretungs131 So BGHZ 38, 26 (33). 132 Näher BGHZ 38, 26 (34 ff.). 133 Näher (mit Zitat) BGHZ 38, 26 (35). 134 So BGHZ 38, 26 (34). 135 Wie der BGH allerdings bereits BAG v. 20.10.1960 – 2 AZR 554/59, NJW 1961, 527, 528 (Kündigung des Prokuristen-Ehemanns der Kommandistin durch Komplementär); vgl. auch schon Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 126 Anm. 11. 136 Näher Düringer/Hachenburg/Flechtheim, HGB, 2. Aufl., § 126 Anm. 14; vgl. weiter Baumbach/Duden, HGB, 11. Aufl., § 126 Anm. 3 B: „Die Gesellschafter selbst sind Dritte, wo sie mit der Gesellschaft abschließen; es führt zu unerträglichen Ergebnissen in solchen Fällen die Grundsätze der Geschäftsführung anzuwenden statt der Vertretung“ (mit Bezugnahme auf RGZ 81, 92). Präzisierend dann 14. Aufl., § 126 Anm. 3 B: „Interne Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis sind auch im Verhältnis zum Gesellschafter-Geschäftsgegner grundsätzlich unwirksam; anders, wenn dieser sie kennt oder kennen muß“. 137 So Beitzke, JR 1963, 182 (184). 138 Zustimmend nur GroßkommHGB/R. Fischer, 3.  Aufl., §  126 Anm. 16  f.; vgl. nunmehr auch Baumbach/Duden, HGB, 17. Aufl., § 126 Anm. 3 A.

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macht generell verneint, während doch der Vorwurf laute, dass der mit der OHG/KG kontrahierende Gesellschafter sich treuwidrig auf den Umfang der Vertretungsmacht des §  126 HGB beruft, wobei ein solcher Treupflichtverstoß indes nur in Betracht komme, wenn den Gesellschafter ein (grobes) Verschulden treffe. Zu schützen sei insbeson­dere der Gesellschafter, der etwa von dem Widerspruch eines anderen geschäfts­ führungsbefugten Gesellschafters nichts wisse. Ob dogmatisch aus der Treuepflicht oder – richtiger139 – aus den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht abgeleitet, so sollte nach der damals ganz hL das Rechtsgeschäft jedenfalls dann wirksam sein, wenn der kontrahierende Gesellschafter von der internen Beschränkung der Geschäftsführungsbefugnis keine Kenntnis hatte und diese Unkenntnis auch nicht auf (grober) Fahrlässigkeit beruhte.140 Es folgte die nächste Überraschung: Ungeachtet dieser Kritik  – und ohne hierauf überhaupt mit einem Wort einzugehen (!) – hat der BGH seine Rechtsprechung im Urteil vom 5.4.1973141 fortgeführt,142 allerdings mit einer Einschränkung im Hinblick auf ausgeschiedene Gesellschafter und deren Erben.143 Eine Verteidigung der BGH-­ Rechtsprechung findet sich zu diesem Zeitpunkt allein bei Robert Fischer, der (als damaliges Mitglied des II. Zivilsenats) indes einräumte, dass bei Unkenntnis von einem Widerspruch iSv § 115 HGB die Grundsätze über die Anscheinsvollmacht zur Anwendung kommen könnten.144 cc) Für das Recht der GmbH hat sich insbesondere Mertens unter Bezugnahme auf BGHZ 38, 26 gegen die traditionelle Auffassung gewandt145 und alsbald146 Unterstützung gefunden,147 während der II. Zivilsenat selbst zur GmbH-rechtlichen Konstella139 So zutreffend Beitzke, JR 1963, 182 (184); später dann auch Lindacher, JR 1973, 377. 140 So insbesondere A. Hueck, OHG, 3. Aufl., § 20 III 2 d) [S. 216 f.]; Schlegelberger/Geßler, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 18; vgl. weiter die kritischen Anmerkungen von Tiefenbacher, BB 1962, 1259 und Beitzke, JR 1963, 182 (184); so früher bereits Düringer/Hachenburg/ Flechtheim, HGB, 2. Aufl., § 126 Anm. 14; RGRK-HGB/Weipert, 2. Aufl., § 126 Anm. 20. 141 BGH v. 5.4.1973 – II ZR 45/71, WM 1973, 637 = JR 1973, 376 m. krit. Anm. Lindacher = LM § 119 HGB Nr. 10 (rückwirkend keine Vertretungsmacht, wenn Gestattungsbeschluss später nach erfolgreicher Anfechtung entfällt). 142 BGH, WM 1973, 637, 638; vgl. dann obiter auch BGH v. 9.5.1974 – II ZR 84/72, NJW 1974, 1555 (allerdings mit der Ergänzung, dass ein Widerspruch eines geschäftsführenden Gesellschafters gem. § 115 HGB unbeachtlich ist und somit die Vertretungsmacht unberührt lässt, wenn ein anderer geschäftsführender Gesellschafter gegen einen ausgeschiedenen Gesellschafter bzw. dessen Erben einen Sozialanspruch einklagt); bestätigend dann auch wieder BGH v. 4.3.1976 – II ZR 178/74, WM 1976, 446 (Geschäftsführungsvergütung); BGH, WM 1979, 71 72 (Kündigung einer stillen Gesellschaft). 143 BGH, NJW 1974, 1555 (1556). 144 So GroßkommHGB/R. Fischer, 3. Aufl., § 126 Anm. 17. 145 Hachenburg/Mertens, GmbHG, 7. Aufl., § 37 Rz. 36; gleichsinnig Hachenburg/Mertens, GmbHG, 8. Aufl., § 37 Rz. 37. 146 Siehe nur Scholz/U. Schneider, GmbHG, 7. Aufl., § 35 Rz. 26 mwN.; Rowedder/Koppensteiner, GmbHG, 1. Aufl., § 37 Rz. 51; aA allerdings Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 13. Aufl., § 35 Rz. 15; Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, 15. Aufl., § 37 Rz. 29. 147 Siehe aus dem aktuellen Schrifttum auch U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Rz. 72; Scholz/U. Schneider/S. Schneider, GmbHG ,11. Aufl., § 35 Rz. 30; Rowedder/Schmidt-Leit­

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tion bislang nicht explizit Stellung genommen hat.148 Auch im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum149 setzte sich im Laufe der Zeit ganz überwiegend die BGH-­Linie durch.150 Nach verbreiteter Ansicht sollen sich auch gesellschaftergleiche Dritte (sog. Insider) generell nicht auf die unbeschränkte Vertretungsmacht berufen können,151 insbesondere auch Tochtergesellschaften, die von der Gesellschaft beherrscht werden (und zwar ungeachtet der Beteiligung von Minderheitsgesellschaftern).152 Allein für Karsten Schmidt ist die generelle und pauschale Unterscheidung zwischen schutzwürdigen Dritten und schutzunwürdigen Insidern der unzutreffende Ansatz: Er folgt vielmehr im Ergebnis der traditionellen Auffassung und unterscheidet mithin zwischen schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Geschäften, so dass auch Drittgläubigergeschäfte mit Gesellschaftern grundsätzlich dem Anwendungsbereich des § 126 HGB unterfallen, indes die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht zur Anwendung kommen.153 Dieser Linie folgen auch beachtliche Teile des GmbH-rechtlichen Schrifttums.154 Dies gelte insbesondere für nur mittelbare Gesellschafter einschließlich verbundener Unternehmen.155 dd) Nach wie vor umstritten ist, ob für Rechtsgeschäfte zwischen der GmbH und einem ihrer Organmitglieder (speziell Geschäftsführer) oder auch für Rechtsgeschäfte in der GmbH&Co KG zwischen der GmbH und der KG die Vorschrift des § 37 Abs. 2 GmbHG keine Anwendung finden solle oder ob bei grundsätzlicher Anwendung allein die regelmäßig erfüllten Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchs der Vertretungsmacht der Wirksamkeit solcher Geschäfte entgegenstehen.

hoff/Baukelmann, GmbHG, 6. Aufl., § 37 Rz. 53; Henssler/Strohn/Oetker, GesR, 3. Aufl., § 37 GmbHG Rz. 19. 148 Unklar BGH v. 23.6.1997  – II ZR 353/95, GmbHR 1997, 836, 837; vgl. aber BAG v. 28.4.1994  – 2 AZR 730/93, ZIP 1994, 1290, 1294; BAG v. 11.3.1998  – 2 AZR 287/97, ­GmbHR 1998, 931 (Kündigung einer Gesellschafterprokuristin). 149 Staub/Habersack, HGB, 4. Aufl., § 126 Rz. 28 f. (und zwar ohne die Einschränkungen seines Vor-Kommentators R. Fischer im Hinblick auf einen unbekannten Widerspruch gem. § 115 HGB [vgl. o. Fn. 147]; Wiedemann, GesR II § 8 III 2 b) bb) [S. 725]. 150 Siehe aus dem aktuellen Schrifttum nur Baumbach/Hopt/M. Roth, HGB, 37. Aufl., § 126 Rz. 6; Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 28 f. 151 So etwa atypische stille Gesellschafter, Nießbraucher, Pfandgläubiger, Treuhänder, Unterbeteiligte: Näher Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 30 mwN. 152 So Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 30 mwN. 153 So MünchKommHGB/K. Schmidt, 4. Aufl., § 126 Rz. 17; ihm folgend auch Heller, ZVglRWiss 107 (2008) 293 ff. 154 So insbesondere R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 49; MünchKommGmbHG/ Stephan/Tieves, 2. Aufl., § 37 Rz. 168; ausf. bereits Zacher, GmbHR 1994, 862 ff.; vgl. weiter Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19. Aufl., § 35 Rz. 25 (allerdings soll hier ggf. jede Fahrlässigkeit schaden); in diesem Sinne im Ergebnis auch Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 41 (im Einzelfall könne trotz Nichtanwendung des § 37 Abs. 2 GmbHG die Nichtkenntnis des Gesellschafters relevant sein). 155 So etwa Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19.  Aufl., §  35 Rz.  25; MünchKomm­ GmbHG/Stephan/Tieves, 2. Aufl., § 37 Rz. 169 mwN; vgl. insoweit auch BGH v. 27.3.1985 – VIII ZR 5/84, BGHZ 94, 132 (139 f.) betr. Schwestergesellschaften.

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Für das Recht der Aktiengesellschaft156 entspricht die Nichtanwendung des § 82 Abs. 1 AktG auf Organmitglieder (speziell Aufsichtsratsmitglieder) zwischenzeitlich – und in Abweichung zur traditionellen Auffassung157 – der einhelligen Meinung.158 Allerdings ist dort anerkannt, dass die unbeschränkte Vertretungsmacht des Vorstands auch gegenüber (normalen) Aktionären gilt,159 da diesen regelmäßig interne Beschränkungen unbekannt sind.160 Auch dies soll indes teilweise anders sein für Rechtsgeschäfte im Konzernverbund,161 speziell mit einem herrschenden Aktionär.162 Umstritten ist, ob auch im Personengesellschaftsrecht bloße Anlagegesellschafter (speziell in der GmbH&Co KG) vom Anwendungsbereich des § 37 Abs. 2 GmbHG ausgeschlossen sind, da es ihnen – so etwa Wiedemann – „zuzumuten (sei), sich über die Voraussetzungen eines Rechtsgeschäfts zwischen ihnen und der Gesellschaft […] zu erkundigen“.163 ee) Im Rahmen einer Stellungnahme soll zunächst nochmals die dogmatische Begründung der hM in Erinnerung gerufen werden: Die Nichtanwendung der §§ 126 HGB, 37 Abs. 2 GmbHG, 82 Abs. 1 AktG auf Gesellschafter, Organmitglieder oder sonstige Insider wird teilweise mit einer restriktiven Auslegung des Begriffs des „Dritten“ bzw. (insbesondere für § 82 Abs. 1 AktG, wo im Unterschied zu den Vorgängervorschriften die Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht ohne Einschränkung auf Dritte formuliert wird) mit einer aus dem Schutzzweck der die Unbeschränkbarkeit der organschaftlichen Vertretungsmacht resultierenden teleologischen Reduktion begründet.164 Die hM stellt mithin eine typisierte Betrachtung an mit dem Ergebnis, dass der betroffene Personenkreis ungeachtet seiner Kenntnis bzw. fahrlässigen

156 Siehe rechtsformübergreifend auch Fleischer, NZG 2005, 529 ff. 157 Siehe o. Fn. 126, 127. Wie die heute hM allerdings schon G/H/E/K/Hefermehl, AktG § 82 Rz. 38. 158 Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 82 Rz. 19; GroßKommAktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl. § 82, Rz. 17; K. Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 8; MünchKomm­ AktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 51 mwN. 159 So bereits RG v. 11.3.1881 – III 683/80, RGZ 4, 72 (für eG); RG v. 25.2.1888 − I 402/87, RGZ 22, 70 (für eG); vgl. weiter (zu § 235 Abs. 2 HGB aF) RG v. 26.11.1912 – II 359/12, RGZ 81, 17 (21); Staub/Pinner, HGB, 14. Aufl., § 235 Anm. 15; (zu § 74 Abs. 2 AktG 1937) GroßkommAktG/W. Schmidt/Meyer-Landrut, 2. Aufl., § 74 Anm. 13. 160 Siehe nur MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 52; GroßKommAktG/Habersack/ Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 6 mwN. 161 GroßKommAktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 18; MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 55; 162 H. Westermann in FS Meier-Hayoz, 1982, S.  445, 458 (beherrschender Aktionär); einschränkend MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 53 (nur Alleinaktionär); vgl. weiter Fleischer, NZG 2005, 529 (536). 163 So Wiedemann, GesR II § 8 III 2 b) bb) [S. 725]. Insoweit einschränkend U/H/L/Paefgen, GmbHG, 2. Aufl., § 37 Rz. 98; abw. Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 42 (nur wenn aus Satzung ersichtlich). 164 Siehe nur GroßKommAktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 17; K. Schmidt/Lutter/ Seibt, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 8; KölnKomm/Mertens/Cahn, AktG, 3. Aufl., § 82 Rz. 11.

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Nichtkenntnis generell als nicht schutzbedürftig betrachtet wird.165 Teilweise wird es als geradezu „widersinnig“ bezeichnet, diesen Insidern „nur im Einzelfall den Einwand des Missbrauchs der Vertretungsmacht zuzugestehen“.166 Jedenfalls sei für die Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht kein Bedürfnis. Dieser strengen Sichtweise ist bereits in der Vergangenheit mit guten Gründen widersprochen worden: Ist es wirklich angemessen, den nicht zur Geschäftsführung berufenen OHG-Gesellschafter vom Schutz des §  126 Abs.  2 HGB auszuschließen, obgleich er von einem Widerspruch gem. § 115 HGB gegen das getätigte Rechtsgeschäft keine Kenntnis hat? Und gilt dies nicht erst Recht für den Kommanditisten? Die heute hM will in dieser Konstellation – anders noch als R. Fischer bei seiner Verteidigung von BGHZ 38, 26 gegen die damals verbreitete Kritik167 – keine Einzelfallbetrachtung zulassen, stellt somit eine auf Rechtssicherheit gegründete formale Position über die frühere, in Rechtsprechung und Schrifttum vorherrschende und nach materiellen Kriterien bewertende Auffassung. Wäre hier nicht die Einzelfallprüfung nach den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht die überzeugendere Lösung? Und weiter: Ist es im Recht der GmbH wirklich zu verlangen, dass jeder (Klein-)Gesellschafter, der mit „seiner“ GmbH kontrahiert, Beschränkungen, die etwa durch einen längere Zeit zurückliegenden, nicht mehr präsenten Gesellschafterbeschluss getroffen wurden,168 generell gegen sich gelten lassen muss? Und schließlich: Auch die hM ist sich nicht einig, welche Personen (bzw. Konzernunternehmen) in den Kreis der gesellschaftergleichen Dritten bzw. Insider einbezogen sind. Ihre strenge formale Sichtweise steht insoweit jeder Einzelfallbetrachtung entgegen. Ist diese Konzeption, die je nach ihrer Abgrenzung im Einzelfall dann doch wieder auf den Missbrauch der Vertretungsmacht zurückgreifen muss,169 überzeugender als eine generelle Anwendung dieser Grundsätze? Letztendlich erscheint es daher vorzugswürdiger, das konkrete Rechtsgeschäft im Hinblick auf seine Schutzwürdigkeit zu bewerten anstelle die Schutzbedürftigkeit der am Geschäft beteiligten Personen generell in typisierender Weise zu verneinen. Diese insbesondere von Karsten Schmidt vertretene Sichtweise170 deckt sich im Ergebnis mit 165 In diesem Sine explizit etwa MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 50 f.; U/H/L/ Paefgen, GmbHG, 2.  Aufl., §  37 Rz.  73 („wegen der typischerweise gegebenen Insiderkenntnisse“). 166 So MünchKommAktG/Spindler, 4.  Aufl., §  82 Rz.  51; gleichsinnig bereits (zur OHG) BGHZ 38, 26 (34 ff.). 167 Siehe o. bei Fn. 147. 168 So das Beispiel bei Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 41. 169 Zum Missbrauch der Vertretungsmacht als generellen „Auffangtatbestand“: MünchKomm­ AktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 52; Staub/Habersack, HGB, 5. Aufl., § 126 Rz. 30. 170 Siehe nochmals MünchKommHGB/K. Schmidt, 4.  Aufl., §  126 Rz.  17; in diesem Sinne auch Heller, ZVglRWiss 107 (2008), 293 ff.

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der früher ganz hM, deren Überzeugungskraft weder durch die Grundsatzentscheidung BGHZ 38, 26 noch durch die ihr folgende Literatur widerlegt wurde. In zahlreichen Konstellationen wird auch die (modifizierte) Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht zu keinem abweichenden Ergebnis führen, doch wird Raum gelassen für „gerechte Lösungen“, die nur eine Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls ermöglicht: So mag es richtig sein, dass sich Beschränkungen, die sich aus der Satzung ergeben, bei Rechtsgeschäften mit einem GmbH-Gesellschafter stets zum Fehlen der Vertretungsmacht führen,171 während sich der Aktionär, der mit „seiner“ AG kontrahiert, um solche Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis nicht kümmern muss;172 dies mag wiederum anders – und flexibel nach Maßgabe der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht zu entscheiden – sein, wenn es sich um Rechtsgeschäfte mit einem Großaktionär handelt oder um Rechtsgeschäfte mit einem Unternehmen, an dem der Großaktionär beteiligt ist. Der große Vorteil der hier vertretenen Lösung liegt auch darin, dass die Frage, ob die pflichtwidrige Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis für den Geschäftsgegner „evident“ war, fallbezogen entschieden werden, mithin etwa auch ohne Weiteres zwischen einem geschäftsführenden Gesellschafter und einem Anlagegesellschafter oder zwischen einem Organmitglied und einem ferner stehenden gesellschaftergleichen Dritten differenziert werden kann.173 b) Missbrauch der Vertretungsmacht und Insichgeschäft Dass ein Missbrauch der Vertretungsmacht mit einem Insichgeschäft zusammentreffen kann, ist unbestritten174 und auch in der Rechtsprechung schon mehrfach entschieden worden. Ein Missbrauch der Vertretungsmacht setzt in dieser Konstellation voraus, dass der Vertreter zwar im Außenverhältnis von den Beschränkungen des §  181 BGB befreit ist und deshalb mit (erweiterter) Vertretungsmacht handelt,175 gleichfalls aber internen Bindungen unterworfen ist, die er im Rahmen des Insichgeschäfts überschreitet. Prämisse hierfür ist, dass in der Gestattung des Insichgeschäfts nicht zugleich eine (punktuelle) Aufhebung der internen Beschränkungen zu sehen ist (was durch Auslegung zu ermitteln ist, §§ 133, 157 BGB).176 Ein Missbrauch der Vertretungsmacht im Wege der Überschreitung interner Bindungen kann indes auch ohne Befreiung von den Beschränkungen des § 181 BGB dann in Betracht kommen, wenn das Insichgeschäft gem. § 181 letzter HS BGB deshalb zulässig ist, weil das getä171 So etwa Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 21. Aufl., § 37 Rz. 41; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 19. Aufl., § 35 Rz. 25. 172 So explizit MünchKommAktG/Spindler, 4. Aufl., § 82 Rz. 52; im Ergebnis auch GroßKomm­ AktG/Habersack/Foerster, 5. Aufl., § 82 Rz. 18. 173 In diesem Sinne zutreffend bereits R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 49. 174 Siehe etwa Soergel/Leptien, BGB, 13. Aufl., § 181 Rz. 43; aus dem aktuellen Schrifttum nur Staudinger/Schilken, BGB Bearbeitung 2014 § 181 Rz. 61. 175 Zur Qualifikation der Befreiung von den Beschränkungen des § 181 BGB als rechtsgeschäftliche Erweiterung der Vertretungsmacht: MünchKommBGB/Schubert, BGB, 8. Aufl., § 181 Rz. 69; folgend Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter III. 1. a). 176 Ausf. Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter III. 1.

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tigte Rechtsgeschäft ausschließlich in der Erfüllung einer Verbindlichkeit besteht. Ist hingegen das Rechtsgeschäft bereits nach §  181 BGB (schwebend) unwirksam, so stellt sich die Frage nach einem Missbrauch der Vertretungsmacht schon gar nicht: Wenn bereits keine Vertretungsmacht besteht, so kommt es auf (zusätzliche) interne Beschränkungen nicht mehr an.177 Die typische Konstellation ist hier das kollusive Insichgeschäft, mithin ein Handeln des von §  181 BGB befreiten, aber internen Bindungen unterworfenen Vertreters zum Nachteil des Vertretenen auf der einen Seite und des personenidentischen Geschäftsgegners auf der anderen Seite mit der Absicht, den Vertretenen zu schädigen. Alternativ kann der personenidentische Vertreter auch auf der Seite des Geschäftsgegners als Vertreter für diesen auftreten. Ein Missbrauch der Vertretungsmacht kommt bei einem solchen „kollusiven Zusammenwirken“ nach allgemeinen Grundsätzen gleichfalls in Betracht, wenn keine ausdrücklichen internen Bindungen bestehen, jedoch bewusst zum Nachteil des Vertretenen gehandelt wird und aus diesem Grund die Grenze der internen Pflichtenbindung (im Sinne des rechtlichen Dürfens) überschritten wird.178 Wenn der I. Zivilsenat des BGH in seinem Urteil vom 18. Oktober 2017179 als Voraussetzung für einen Missbrauch der Vertretungsmacht im Rahmen eines Insichgeschäfts verlangt, dass dieses für den Vertretenen nachteilig ist,180 so hat er offensichtlich die gerade dargestellten Konstellationen im Auge, was auch dadurch belegt ist, dass die für seinen (neuen) Rechtssatz zitierten BGH-Entscheidungen181 solche Fälle kollu­ siver Nachteilszufügungen betreffen.182 Zu weit geht indes die Behauptung, dass eine solche Nachteilszufügung „nach ständiger Rechtsprechung“ als Voraussetzung für das Vorliegen eines Missbrauchs der Vertretungsmacht beim Insichgeschäft anerkannt sei.183 Dogmatisch ist diese Aussage auch nicht richtig: Wie der Missbrauch der Vertretungsmacht nach heute ganz hM im Allgemeinen keinen Nachteil für den Vertretenen begründen muss, so gilt dies auch für die besondere Konstellation des Insich­ geschäfts.184

177 Zu den Modalitäten der Genehmigung in dieser Konstellation näher Rawert/Endres, ZIP 2015, 2197 (2200 ff.). 178 Sehr anschaulich hierzu BGH v. 13.9.2011 – VI ZR 229/09, NJW 2011, 66 ff. (K&S GbR/ Generalvollmacht); vgl. weiter BGH v. 25.2.2002 – II ZR 374/00, NJW 2002, 1488 (Treuhandvereinbarung); BGH v. 7.12.2007  – V ZR 65/07, NJW 2008, 1225 Rz.  19 (Grundstücksveräußerung an Vertreter nach Art. 233 Abs. 3 EGBGB). 179 BGH v. 18.10.2017 – I ZR 6/16, GmbHR 2018, 251 m. Komm. Bochmann – Media Control (betr. GmbH-Geschäftsführer) = EWiR 2018, 361 m. Anm. Göbel. 180 So BGH, GmbHR 2018, 251 Rz. 25. 181 Zitiert werden: BGH v. 25.2.2002 – II ZR 374/00, NJW 2002, 1488 (Treuhandvereinbarung); BGH v. 28.1.2014 – II ZR 371/12, WM 2014, 628 = GmbHR 2014, 421. 182 Siehe auch mit Einzelheiten Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter III. 1. c). 183 So BGH, GmbHR 2018, 251 Rz. 25. 184 Überzeugend und mit ausf. Begründung Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter III.

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Irrelevant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis des I. Zivilsenats auf die Fallgruppe des § 181 letzter HS BGB:185 Aus dieser Norm folgt allein – wie bereits ausgeführt – die Zulässigkeit des Insichgeschäfts im Außenverhältnis, ändert jedoch nichts daran, dass der Vertreter nach wie vor die Bindungen im Innenverhältnis zu beachten und daher keineswegs unter Überschreitung dieser Bindungen die bestehende Verbindlichkeit eigenmächtig erfüllen darf – sei es gegenüber einem Dritten, sei es (wie im BGH-Fall) gegenüber einem vom Vertreter gleichfalls vertretenen Dritten. Es ist an dieser Stelle nochmals daran zu erinnern, dass das Selbstbestimmungsrecht des Vertretenen – hier geäußert in Form interner Bindungen – stets dann Vorrang vor  der Rechtsbeständigkeit des unter Ausnutzung einer bestehenden Vertretungsmacht getätigten Rechtsgeschäfts hat, wenn der Geschäftsgegner aufgrund seiner Bösgläubigkeit nicht schutzwürdig ist. Diese Voraussetzung ist beim Insichgeschäft stets ­erfüllt, da dem vom Handelnden gleichfalls vertretenen Geschäftsgegner dessen Kenntnis von den bestehenden internen Schranken gem. § 166 Abs. 1 BGB generell zugerechnet wird.186 Daher lässt weder das vom I. Zivilsenat des BGH für die Anwendbarkeit der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht aufgestellte Erfordernis einer Nachteilszufügung dogmatisch begründen,187 noch eine generelle Nichtanwendung dieser Grundsätze für den speziellen Fall der Erfüllung einer Verbindlichkeit.188 Vielmehr müssen – wie auch sonst – die Ebene der Vertretungsmacht (hier nach Maßgabe des § 181 BGB) und die Ebene der im Innenverhältnis bestehenden Pflichtenbindungen gedanklich strikt voneinander getrennt werden. In diesem Sinne sind daher die Lehre vom Missbrauch der Vertretungsmacht und das grundsätzliche Verbot von Insich­ geschäften „funktional unabhängige Schranken“ der Vertretungsmacht.189 Zutreffend hat daher auch das Reichsgericht einen Missbrauch der Vertretungsmacht ohne weitere Anforderungen an eine konkrete Nachteilszufügung angenommen, wenn der Bevollmächtigte die ihm vom Erblasser erteilte Vollmacht treuwidrig gegen den Willen des Erben einsetzt, um die Übereignung eines Grundstücksanteils auf sich selbst herbeizuführen.190 Und auch der II. Zivilsenat des BGH hat die Genehmigung einer Anteilsabtretung durch den Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH durch missbräuchliches Insichgeschäft für unwirksam erklärt, ohne dass irgendein Nachteil

185 Siehe BGH, GmbHR 2018, 251 Rz. 24. 186 Insoweit zutreffend BGH, GmbHR 2018, 251 Rz. 24. 187 So aber auch R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 37 Rz. 39. 188 Der BGH bemüht noch das zusätzliche Argument, dass der Vertretene auch bei Vorliegen eines Missbrauchs der Vertretungsmacht das getätigte Erfüllungsgeschäft nach Treu und Glauben genehmigen müsste und sich deshalb nicht auf den Missbrauch der Vertretungsmacht berufen dürfe. Hierzu näher hierzu Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter IV. 2. 189 In diesem Sinne ausf. Ph. Scholz, ZfPW 2019 (im Erscheinen), unter III. 2. c). 190 Siehe RG v. 31.1.1920 – V 406/19, Recht 1920 Nr. 1488.

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für die vertretene GmbH festgestellt worden wäre.191 Besondere Voraussetzungen an den Missbrauch der Vertretungsmacht sind daher richtigerweise auch im Kontext des Insichgeschäfts nicht aufzustellen. c) Missbrauch der Vertretungsmacht durch den GesellschafterGeschäftsführer der GmbH Wie der XI. Zivilsenat im Urteil vom 24. September 2013192 zutreffend ausgeführt hat, finden die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht grundsätzlich193 keine Anwendung auf den Alleingesellschafter-Geschäftsführer, so dass dessen Erklärungen etwa auch dann wirksam sind, wenn hierfür satzungsmäßig ein Beschluss der Gesellschafterversammlung erforderlich ist. Denn der erforderliche Beschluss wird hier ohne das Erfordernis zur Einhaltung irgendwelcher Formen oder Fristen zeitgleich mit der Handlung des Alleingesellschafter-Geschäftsführers getroffen.194 Umgekehrt finden die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht uneingeschränkte Anwendung auf den Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer, da sich hier strukturell kein Unterschied zu einem Fremdgeschäftsführer ergibt.195 Nach der Entscheidung des II. Zivilsenats des BGH vom 14. März 1988196 sollen die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht hingegen auch auf den Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführer uneingeschränkte Anwendung finden, da bei treuwidriger Ausnutzung seiner Stimmenmehrheit in der Gesellschafterversammlung eine Beschlussanfechtung möglich sei, ein (wirksames) Handeln ohne den notwendigen Gesellschafterbeschluss somit der Minderheit dieses Recht entziehen würde.197 Da sich die Minderheit im Regelfall indes nicht gegen Geschäftsführungsmaßnahmen des Mehrheitsgesellschafters erfolgreich zur Wehr setzen kann, läuft die Anwen191 BGH v. 14.3.1988 – II ZR 211/87, NJW 1988, 2241, 2243 (Anteilsübertragung in GmbH). Zur anderweitigen Kritik an dieser Entscheidung noch unter c). 192 BGH v. 24.9.2013 – XI ZR 204/12, NJW 2013, 3574 (Abtretung von Ansprüchen durch GmbH). 193 Ausnahme: Bei Leistungen, die gegen § 30 GmbHG verstoßen, kommt (insbesondere bei Rechtsgeschäften mit Dritten  – also Nichtgesellschaftern) ein Missbrauch der Vertretungsmacht in Betracht: So zutreffend R/A/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl., § 30 Rz. 43; Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, GmbHG, 3. Aufl., § 30 Rz. 130; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl., § 30 Rz. 57 mwN (auch zur Gegenansicht); vgl. weiter obiter BGH v. 13.11.1995  – II ZR 113/94, NJW 1996, 589, 590 (Vertrag im ­GmbH-Konzern); vgl. auch OLG Düsseldorf, NZG 2012, 1150 (Abtretung Forderung an Gesellschafter unter Verstoß gegen §  30 GmbHG); für Verstöße gegen §  57 AktG auch Bayer in MünchKommAktG, 5. Aufl., § 57 Rz. 242 ff. mwN zum Streitstand. 194 Näher BGH, NJW 2013, 3574 Rz. 17 im Anschluss an BGH, NJW 1995, 1750 (1751) mwN. Zustimmend jüngst Ph. Scholz, ZHR 182 (2018) 656, 662 ff. (mit weiteren Ausführungen zu möglichen, aber abzulehnenden Begrenzungen). 195 Zutreffend Ph. Scholz, ZHR 182 (2018), 656, 662. 196 BGH v. 14.3.1988 – II ZR 211/87, NJW 1988, 2241 = GmbHR 1988, 260 (Übertragung von Geschäftsanteilen). 197 So BGH, NJW 1988, 2241, 2243.

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dung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht in dieser Konstellation darauf hinaus, die Mitwirkungsrechte der Minderheit formal zu sichern, was indes nicht der Zweck der Rechtsfigur ist, da das zu schützende Selbstbestimmungsrecht der vertretenen GmbH durch die Person des Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführers gewahrt wird. Mit Ph. Scholz ist daher davon auszugehen, dass auch dem ­bösgläubigen Vertragspartner der GmbH der Einwand, der Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführer habe gegen satzungsmäßige Beschränkungen verstoßen, jedenfalls dann nicht entgegengehalten werden kann, wenn der Mehrheitsgesellschafter einen entsprechenden Gesellschafterbeschluss rechtmäßig treffen kann.198

198 Ausführlich Ph. Scholz, ZHR 182 (2018), 656, 665 ff.

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Entsprechende Geltung des § 179a AktG bei der KGaA? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Verweisung nach § 278 Abs. 2 oder 3 AktG? III. Gesetzliche Regelung der Geschäfts­ führungsbefugnis und Vertretungsmacht der Komplementäre IV. Einschränkung der Vertretungsmacht der Komplementäre entsprechend § 179a AktG 1. Meinungsstand zur entsprechenden ­Geltung des (Rechtsgedankens des) § 179a AktG bei der KG

2. Stellungnahme a) Geltung des „Rechtsgedankens“ des § 179a AktG als Ausdruck eines allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsatzes b) Anwendung des § 179a AktG aufgrund einer Gesetzesanalogie V. GmbH & Co. KGaA VI. Zusammenfassung

I. Einleitung § 179a Abs. 1 Satz 1 AktG ordnet an, dass ein Vertrag, durch den sich eine Aktien­ gesellschaft zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens verpflichtet, auch dann eines Beschlusses der Hauptversammlung nach § 179 AktG bedarf, wenn damit keine Änderung des Unternehmensgegenstandes verbunden ist. Die Regelung  ist gem. Art. 6 Nr.  3 des Gesetzes zur Bereinigung des Umwandlungsrechts (Umw­BerG) vom 28. Oktober 1994 (BGBl I, 3210) mit Wirkung vom 1. Januar 1995 in die Vorschriften über die Satzungsänderung aufgenommen worden, weil die ­Vorgängernorm des § 361 AktG 19651 im Recht der Umwandlung als Fremdkörper

1 § 361 Vermögensübertragung in anderer Weise (1)  1Ein Vertrag, durch den sich eine Aktiengesellschaft oder eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens verpflichtet, ohne dass die Übertragung unter die §§ 339 bis 360 fällt, wird nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam. 2Der Beschluss bedarf einer Mehrheit, die mindestens drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals umfasst. 3Die Satzung kann eine größere Kapitalmehrheit und weitere Erfordernisse bestimmen. 4Für den Vertrag gilt § 341 Abs 1. (2)  1Der Vertrag ist von der Einberufung der Hauptversammlung an, die über die Zustimmung beschließen soll, in dem Geschäftsraum der Gesellschaft zur Einsicht der Aktionäre auszulegen.  2Auf Verlangen ist jedem Aktionär unverzüglich eine Abschrift zu erteilen.  3In der Hauptversammlung ist der Vertrag auszulegen.  4Der Vorstand hat ihn zu Beginn der Verhandlung zu erläutern. 5Der Niederschrift ist er als Anlage beizufügen.

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galt.2 Im Folgenden soll untersucht werden, ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage § 179a AktG bei der KGaA entsprechend oder sinngemäß anwendbar ist, einer Gesellschaftsform, deren in §  278 AktG umschriebenes Wesen als Mischform von Aktiengesellschaft und Kommanditgesellschaft,3 als Abart oder Sonderform der Aktiengesellschaft4 oder als eigenständige Gesellschaftsform5 verstanden wird. Die Frage der entsprechenden Geltung des § 179a AktG bei der KGaA stellt sich, weil diese Gesellschaftsform in der Neuregelung des § 179a AktG anders als in § 361 Abs. 1 Satz 1 AktG 1965 nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird und sich in den §§ 278 ff. AktG keine dem § 179a AktG entsprechende ausdrückliche Regelung findet. Die nahezu allgemeine Meinung geht zwar davon aus, dass § 179a AktG kraft Verweisung gemäß § 278 Abs. 3 AktG auf die KGaA sinngemäße Anwendung findet.6 Diese Auffassung erscheint aber schon deshalb einer Überprüfung bedürftig, weil das auf die KGaA anwendbare Recht gemäß § 278 Abs. 2 und 3 AktG dahingehend festgelegt ist, dass sich das Rechtsverhältnis der persönlich haftenden Gesellschafter gegenüber der Gesamtheit der Kommanditaktionäre sowie gegenüber Dritten, namentlich die Befugnis der persönlich haftenden Gesellschafter zur Geschäftsführung gemäß §  278 Abs. 2 AktG nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches über die KG bestimmt, während gemäß §  278 Abs.  3 AktG nur „im Übrigen“ die Vorschriften des Ersten Buchs des Aktiengesetzes sinngemäß gelten. Da § 179a AktG für die vertragliche Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens die Zuständigkeit der Hauptversammlung begründet und damit das Verhältnis von Vorstand und Hauptversammlung betrifft, könnte bei der KGaA anstelle von § 278 Abs. 3 AktG die die Rechtsstellung der Komplementäre betreffende Verweisung des § 278 Abs. 2 AktG auf die Vorschriften des Handelsgesetzbuches eingreifen. Wenn man mit der weit überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum (den Rechtsgedanken des) § 179a AktG wie allgemein im Personengesellschaftsrecht auch bei der KG für entsprechend anwendbar hält,7 käme der Frage, ob § 278 Abs. 2 (3) 1Wird aus Anlass der Übertragung des Gesellschaftsvermögens die Auflösung der Gesellschaft beschlossen, so gelten §§ 264 bis 273. 2Der Anmeldung der Auflösung der Gesellschaft ist der Vertrag in Ausfertigung oder öffentlich beglaubigter Abschrift beizufügen. 2 Begründung zu Art. 6 Nr. 3 des UmwBerG, BT-Drucks. 12/6699, S. 177. 3 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 1; Herfs in Münch.Hdb.GesR IV, 4. Aufl., § 76 Rz. 10 m.w.N. 4 Spindler/Stilz/Bachmann, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  278 Rz.  1 sowie in FS K. Schmidt, 2009, S. 41, 43. 5 BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392, 398; Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 144; Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, Vorb. § 278 Rz. 2 m.w.N. 6 Vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 179a Rz. 25; Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 14; Seibt in Schmidt, K./Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 179a Rz. 4; Bayer/Lieder/Hoffmann, AG 2017, 717, 718; Hüren, RNotZ 2014, 77, 85; Spindler/Stilz/Bachmann, AktG, 3. Aufl., § 278 Rz. 67 m.w.N.; a.A. soweit ersichtlich nur Kessler, NZG 2005, 145, 148 f., der aber über die Annahme eines sog. Grundlagengeschäfts zum selben Ergebnis kommt. 7 OLG Düsseldorf v. 23.11.2017  – 6 U 225/16, ZIP 2018, 72, 75  ff.; Stein in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 14; Seibt in Schmidt, K./Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 179a Rz. 4; Bayer/Lieder/Hoffmann, AG 2017, 717, 718; Stellmann/Stoeckle, WM 2011, 1983 f.;

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oder Abs. 3 AktG anzuwenden ist, allerdings keine praktische Bedeutung zu, weil dann beide Wege zu demselben Ergebnis führten. Diese Ansicht ist aber gleichfalls nicht unproblematisch, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: Zum einem geht sie noch auf § 361 AktG 1965 zurück,8 so dass Anlass zu der Prüfung besteht, ob daran ohne weiteres nach der Neuregelung in § 179a AktG festgehalten werden kann. Zum anderen lassen schon die strukturellen Unterschiede zwischen AG und KG, insbesondere in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Vorstand und Hauptversammlung einerseits und zwischen geschäftsführenden Gesellschaftern und Kommanditisten andererseits, eine Auseinandersetzung mit den zwar nur wenigen, dafür aber umso gewichtigeren Gegenstimmen9 als angebracht erscheinen. Eberhard Vetter, der sich in unzähligen Veröffentlichungen und Kommentierungen zu einer weiten Palette von Fragen des Aktienrechts geäußert hat und dem dieser Beitrag in persönlicher Verbundenheit und Hochschätzung sowie mit herzlichem Dank für die Eröffnung eines neuen Betätigungsfeldes für den „Ruhestand“ des Verfassers10 gewidmet ist, wird es mit rheinischer Gelassenheit hinnehmen können, falls die Überprüfung der allgemeinen Meinung zur entsprechenden Anwendung des § 179a AktG bei der KGaA von ihrem Ausgangspunkt im Aktienrecht in die Tiefen des vergleichsweise unübersichtlichen und der Modernisierung bedürftigen Personengesellschaftsrechts führen sollte.

II. Verweisung nach § 278 Abs. 2 oder 3 AktG? Die Frage, ob und aus welchen Gründen § 179a AktG für die KGaA (sinngemäß) gilt, kann nicht kurzweg damit beantwortet werden, dass der Gesetzgeber offensichtlich deshalb den noch in § 361 Abs. 1 Satz 1 AktG 1965 enthaltenen ausdrücklichen Hinweis auf die KGaA gestrichen habe, weil er wegen der Pauschalverweisung des § 278 Abs. 3 AktG auf das Erste Buch des Aktiengesetzes entbehrlich geworden sei.11 Ob die Verweisung des §  278 Abs.  3 AktG eingreift, ist gerade der in Rede stehende Prüfungsgegenstand. Es lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber auf die ausdrückliche Einbeziehung der KGaA verzichtet hat, weil er jedenfalls der Ansicht war, dass sich die sinngemäße Geltung des § 179a AktG nunmehr aus § 278 Abs. 3 AktG ergebe. Zur KGaA ist dort nichts gesagt, obwohl für andere Streichungen die Gründe ausdrücklich angegeben sind. So wurde das Erfordernis der notariellen Beurkundung gem. § 361 Abs. 1 Satz 4 AktG 1965 nach der Gesetzesbegründung für überflüssig befunden und der Verweis in § 361 Abs. 3 Satz 1 AktG 1965 auf die Vorschriften der §§ 264 bis 273 AktG über die Abwicklung wegen seiner nur Weber, DNotZ 2018, 96, 122 ff.; GroßkommHGB/Habersack, 5. Aufl. 2009, § 126 Rz. 16; MünchKommHGB/K. Schmidt, 4.  Aufl. 2016, §  126 Rz.  13; K. Schmidt, ZGR 1995, 675, 679 ff. 8 Vgl. insbesondere BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, ZIP 1995, 278, 279. 9 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 10. Aufl. 2017, § 2 Rz. 23 sowie JZ 1995, 577 f.; Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 858 ff. 10 E. Vetter in FS Bergmann, 2018, S. 799 ff. 11 So aber Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 9.

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klarstellenden Bedeutung für verzichtbar erachtet.12 Ein gesetzgeberischer Wille, die KGaA (nur) deshalb zu streichen, weil sich ihre Einbeziehung nunmehr ohnehin aus der Verweisung gemäß § 278 Abs. 3 AktG ergebe, kann dagegen nicht hinreichend sicher festgestellt werden und hat vor allem im Gesetz selbst keinen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden. Aus diesem Grunde kann man der Auslegung des Gesetzes auch nicht einfach dadurch ausweichen, dass man behauptet, es müsse als Redaktionsversehen gedeutet werden, dass die KGaA in § 179a AktG nicht mehr erwähnt werde.13 Auf § 278 Abs. 3 AktG kann dann aber nicht ohne weiteres abgestellt werden, weil das Verhältnis der beiden Verweisungsnormen des § 278 AktG zueinander gesetzlich eindeutig dahin festgelegt ist, dass der zweite Absatz dem dritten vorgeht. Das folgt nicht nur aus der Reihenfolge, sondern vor allem daraus, dass die Vorschriften des Ersten Buchs über die Aktiengesellschaft gemäß Absatz 3 nur „im übrigen“ sinngemäß gelten, also nur dann, wenn die Verweisung auf die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs gemäß Absatz 2 nicht eingreift.14 Die Frage der sinngemäßen Geltung des §  179a AktG bei der KGaA ist somit vorrangig nach § 278 Abs. 2 AktG zu prüfen. Blickt man zu diesem Zweck zunächst auf den Regelungsgegenstand des § 179a AktG, so enthält die Vorschrift, obgleich im Abschnitt über die Satzungsänderung angesiedelt, keinen derartigen Fall. Gegenüber der Vorgängervorschrift des § 361 AktG 1965 ist nunmehr schon durch die Gesetzesfassung („…bedarf auch dann eines Beschlusses der Hauptversammlung nach § 179, wenn damit nicht eine Änderung des Unternehmensgegenstandes verbunden ist…“) klargestellt, dass § 179a AktG gerade solche Fallgestaltungen erfassen soll, durch die sich die wirtschaftliche Struktur des Unternehmens der Aktiengesellschaft ändert, ohne dass die Zuständigkeit der Hauptversammlung schon aus anderen Gründen gegeben ist, etwa durch das Erfordernis einer Satzungsänderung infolge Veränderung des Unternehmensgegenstandes. Nach der Gesetzesbegründung soll in der Begründung der Zuständigkeit der Hauptversammlung für diese Fallgestaltungen, bei denen es gerade keiner Satzungsänderung bedarf, sogar der wesentliche Zweck der Vorschrift bestehen.15 Nach zutreffender fast allgemeiner Ansicht bindet § 179a AktG damit bei der Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens die Vertretungsmacht des Vorstands an die Mitwirkung der Hauptversammlung. Ein ohne Zustimmung der Hauptversammlung geschlossener schuldrechtlicher Verpflichtungsvertrag i.S.d. § 179a AktG ist mangels Vertretungsbefugnis des Vorstands im Außenverhältnis

12 BT-Drs. 12/6699, S. 177. 13 So aber Philbert, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien zwischen Personengesellschaftsrecht und Aktienrecht, 2005, S. 183; Spindler/Stilz/Bachmann, AktG, 4. Aufl. 2019, § 278 Rz. 67. 14 Vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 1; Fett/Förl, NZG 2004, 210, 211; Herfs in Münch.Hdb.GesR IV, 4. Aufl., § 76 Rz. 13 m.w.N. 15 Vgl. BT-Drs. 12/6699, S. 177.

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unwirksam.16 Das ergibt sich entgegen den wenigen Gegenstimmen17 aus der Gesetzesgeschichte, dem Wortlaut, dem systematischen Zusammenhang und dem Zweck der Vorschrift. Unter der Geltung des § 361 AktG 1965 war der Vertrag schon nach dem Wortlaut des Absatzes 1 Satz 1 „…nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam“. Für die Annahme, das habe durch die Neuregelung des § 179a AktG geändert werden sollen, lassen sich der Gesetzesbegründung keine Anhaltspunkte entnehmen. Vielmehr wurde in Umsetzung der mit der Neuregelung bezweckten Ergänzung der Vorschriften über die Satzungsänderung18 in § 179a Abs. 1 Satz 1 AktG nicht nur auf § 179 AktG Bezug genommen, sondern auch der Wortlaut der Neuregelung der Vorschrift des § 179 Abs. 1 Satz 1 AktG angepasst („…bedarf [auch dann] eines Beschlusses der Hauptversammlung.“). Durch diese Übereinstimmung im Gesetzeswortlaut kommt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die Wirksamkeit eines Verpflichtungsvertrages im Sinne von § 179a AktG ebenso eines zustimmenden Beschlusses der Hauptversammlung bedarf wie die Wirksamkeit einer Satzungsänderung nach § 179 Abs. 1 Satz 1 AktG. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Vertrages führt schließlich auch im Hinblick auf die Gefahren und Risiken, die bereits durch den Abschluss des schuldrechtlichen Verpflichtungsvertrags für die weitere Unternehmenstätigkeit und damit mittelbar für die Vermögensinteressen der Aktionäre begründet werden können, zur Ge­ währung eines wirksamen Schutzes. Etwaige Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand, deren Voraussetzungen im konkreten Fall unter Umständen in einem langwierigen Verfahren nachgewiesen werden müssten und deren vollständige Durchsetzbarkeit angesichts des möglichen Umfangs drohender Schäden oft zweifelhaft sein dürfte, reichen insoweit nicht aus. Dass der Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens mit der Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Vertrags im Außenverhältnis ein höheres Gefährdungspotential zugemessen wird als sonstigem Handeln des Vorstands unter Missachtung von Vorgaben aus Gesetz und Satzung, ist auch mit Blick auf die damit verbundene Einschränkung des Verkehrsschutzes Dritter wegen der umfassenden Leitungsverantwortung (§ 76 Abs. 1 AktG), Geschäftsführungsbefugnis (§  77 AktG) und Vertretungsmacht (§  78 AktG) des Vorstands ge­ genüber der gesetzlich beschränkten Zuständigkeit der Hauptversammlung (§  119 Abs. 1 und 2 AktG) und den eingeschränkten Informationsmöglichkeiten der Aktionäre (vgl. § 118 Abs. 1, § 131 AktG) eine wenn auch nicht zwingende,19 so doch nachvollziehbare Entscheidung im Rahmen der gesetzgeberischen Interessenabwägung. Liegt somit der Schwerpunkt der Regelung des §  179a AktG in der Beschränkung sowohl der Geschäftsführungsbefugnis als insbesondere auch der Vertretungsmacht 16 So jetzt auch BGH v. 8.1.2019 – II ZR 364/18 Rz. 10; ferner BGH v. 9.10.2006 – II ZR 46/05, BGHZ 169, 221 Rz. 19; v. 25.10.2002 – V ZR 243/01, AG 2003, 424, 425; v. 15.1.2001 – II ZR 124/99, BGHZ 146, 288, 296 f.; Packi, Die Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens, 2011, S. 235; Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 40 f. m.w.N. 17 Vgl. Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl., 1996, S. 175, 180; Scheel in FS Wegen, 2005, S. 297, 308 ff. 18 BT-Drs. 12/6699, S 177. 19 Vgl. dazu insbesondere Scheel in FS Wegen, 2005, S. 297, 307 ff.

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des Vorstands durch Begründung der Zuständigkeit der Hauptversammlung, so ist für die Bestimmung, ob diese Vorschrift auf die KGaA entsprechend anzuwenden ist, folglich § 278 Abs. 2 AktG einschlägig. Denn die Führungsstruktur, zu der auch der Umfang der Geschäftsbefugnis und der Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter einschließlich deren Abgrenzung zur Zuständigkeit der Hauptversammlung gehört, richtet sich gemäß § 278 Abs. 2 AktG nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die KG.20

III. Gesetzliche Regelung der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht der Komplementäre Da die KGaA keinen Vorstand hat, obliegen infolge der Verweisung gemäß §  278 Abs.  2 AktG den persönlich haftenden Gesellschaftern die Geschäftsführung und Vertretung nach Maßgabe von § 161 Abs. 2, §§ 114 ff., §§ 125 ff., §§ 164, 170 HGB. § 283 AktG regelt nur diejenigen Vorstandskompetenzen, soweit nicht die Geschäftsführung und Vertretung betroffen sind.21 Die Befugnis zur Geschäftsführung erstreckt sich danach gemäß § 278 Abs. 2 AktG, § 161 Abs. 2, § 116 Abs. 1 HGB auf alle Handlungen, die der gewöhnliche Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft mit sich bringt; zur Vornahme von Handlungen, die darüber hinausgehen, ist gemäß § 278 Abs. 2 AktG, § 116 Abs. 2 HGB ein Beschluss sämtlicher Gesellschafter erforderlich. Auch die nicht geschäftsführenden Komplementäre sowie die (Gesamtheit der) Kommanditaktionäre müssen der Vornahme außergewöhnlicher Geschäfte zustimmen, da letztere wie Kommanditisten in der KG nach allgemeiner Meinung entgegen dem Wortlaut des §  164 HGB nicht auf ein Widerspruchsrecht beschränkt sind.22 Die Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter ist dagegen gemäß § 278 Abs. 2 AktG, § 126 Abs. 1 HGB grundsätzlich unbeschränkt.23 Eine Beschränkung des Umfangs der Vertretungsmacht, insbesondere auf gewisse oder auf Arten von Geschäften, ist Dritten gegenüber unwirksam, § 278 Abs. 2 AktG, § 126 Abs. 2 HGB. Eine auch nach außen wirkende Begrenzung der Vertretungsmacht ist lediglich insoweit gegeben, als sich Dritte auf die unbeschränkte Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter bei Kollusion oder anderen Fällen des Missbrauchs der Vertretungsmacht nicht berufen können.24 Eine weitere Einschränkung der Vertretungsmacht besteht darin, dass § 126 Abs. 2 HGB nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei der Vertretung der Gesellschaft bei Rechtsge-

20 Vgl. BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392; Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 144 f.; Herfs in Münch.Hdb.GesR IV, 4. Aufl., § 79 Rz. 29, 49. 21 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 283 Rz. 1; Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, § 283 Rz. 3. 22 Vgl. Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 116 Rz. 5, § 164 Rz. 2; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 13, jeweils m.w.N. 23 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 14; Herfs in Münch.Hdb.GesR IV, 4. Aufl., § 79 Rz. 31. 24 Vgl. Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 126 Rz. 11 m.w.N.

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schäften mit Gesellschaftern nicht gilt.25 Eine dem § 179a AktG entsprechende Regelung für die KG, die über § 278 Abs. 2 AktG auf die KGaA Anwendung finden könnte, enthalten die Vorschriften des Handelsgesetzbuches dagegen nicht.

IV. Einschränkung der Vertretungsmacht der Komplementäre entsprechend § 179a AktG Fehlt es somit an einer der Regelung des § 179a AktG vergleichbaren ausdrücklichen Vorschrift im Handelsgesetzbuch, ist weiter zu prüfen, ob sich ein entsprechendes Ergebnis aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen herleiten lässt. 1. Meinungsstand zur entsprechenden Geltung des (Rechtsgedankens des) § 179a AktG bei der KG Für den Fall der Verpflichtung der KG zur Übertragung ihres ganzen Gesellschaftsvermögens gelangt die überwiegende Ansicht im Schrifttum in Ausnahme von den zuvor dargelegten gesetzlichen Grundsätzen der Geschäftsführung und der Vertretung der persönlich haftenden Gesellschafter durch eine entsprechende Anwendung des §  179a AktG zu einer Dritten gegenüber wirkenden Beschränkung der Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter.26 Jedenfalls im Ergebnis wird für diese Auffassung zumeist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Januar 1995  – II ZR 24/94 angeführt, nach dem der Abschluss eines Vertrages, durch den sich eine KG verpflichtet, das von ihr betriebene, ihr gesamtes Vermögen darstellende Unternehmen zu veräußern, zu seiner Wirksamkeit eines zustimmenden Beschlusses der Gesellschafter bedarf.27 In der Sache ging es um die Übertragung eines Nachtlokalbetriebs einer KG durch deren persönlich haftenden Gesellschafter an den Beklagten. Der Kläger war Kommanditist der Gesellschaft und hatte der Gesellschaft ein Dar­ lehen gewährt, auf dessen Rückzahlung er den Beklagten gerichtlich in Anspruch nahm. Das Berufungsgericht hatte die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung unter Vorbehalt der Beschränkung der Haftung auf das übernommene Vermögen darauf gestützt, dass die Haftung nach § 419 Abs. 1 BGB a.F. bereits mit dem Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages beginne. Der Bundesgerichtshof nahm dagegen an, dass der schuldrechtliche Vertrag nicht wirksam abgeschlossen worden sei, weil der im Namen der KG abgeschlossene Kaufvertrag über den Nachtlokalbetrieb unstreitig das gesamte Vermögen der Gesellschaft betroffen und der Kommanditist seinerzeit der 25 BGH v. 20.9.1962 – II ZR 209/61, BGHZ 38, 26, 33; v. 9.5.1974 – II ZR 84/72, NJW 1974, 1555; v. 26.10.1978  – II ZR 119/77, WM 1979, 71, 72; zustimmend das überwiegende Schrifttum, vgl. Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 126 Rz. 6; Habersack in Großkomm.HGB, 5. Aufl. 2009, § 126 Rz. 28 m.w.N. 26 Vgl. Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 14; Seibt in Schmidt, K./Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 179a Rz. 4; K. Schmidt, ZGR 1995, 675, 678 ff.; Bayer/Lieder/Hoffmann, AG 2017, 717, 718; Hüren, RNotZ 2014, 77, 88 f.; Weber, DNotZ 2018, 96, 122 f. 27 BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, ZIP 1995, 278, 279 m. zustimmender Anm. Goette, DStR 1995, 425, 426.

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Geschäftsveräußerung nicht zugestimmt habe. Der Abschluss eines auf Veräußerung des gesamten Vermögens der Gesellschaft gerichteten schuldrechtlichen Vertrages sei aber von der Vertretungsmacht des geschäftsführenden Gesellschafters nicht gedeckt. Zur weiteren Begründung seiner Entscheidung hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, die Veräußerung des gesamten Unternehmens einer Gesellschaft bedeute in aller Regel – im entschiedenen Fall sei es offensichtlich so gewesen – die Einstellung des eigenen Geschäftsbetriebs der Gesellschaft; diese verliere damit ihre Eigenschaft als werbendes Unternehmen. Das führe, wenn es nicht sogar zur Auflösung der Gesellschaft zwinge, zu einer Änderung des Gesellschaftszwecks. Aus diesem Grund schreibe § 361 Abs. 1 AktG 1965 für den Verpflichtungsvertrag das Erfordernis der Zustimmung der Hauptversammlung vor. Der Rechtsgedanke dieser Vorschrift treffe auch für das Personengesellschaftsrecht zu. Die Umgestaltung der Gesellschaft, die mit der Veräußerung des von ihr bis dahin betriebenen Unternehmens verbunden sei, werde von der Vertretungsmacht des oder der geschäftsführenden Gesellschafter nicht mehr gedeckt. Es bedürfe deshalb auch hier zur Wirksamkeit des – zur Geschäftsveräußerung verpflichtenden schuldrechtlichen – Vertrags eines Beschlusses der Gesellschafter.28 Im Anschluss an diese Entscheidung stellen manche Stimmen im Schrifttum zusätzlich darauf ab, dass § 179a AktG zugleich Ausdruck des allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsatzes sei, dass die Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens von der organschaftlichen Vertretungsbefugnis nicht mehr gedeckt sei und deshalb eines Beschlusses der Gesellschafter bedürfe.29 Die Gegenmeinung lehnt dagegen mit Rücksicht auf den sicheren Verkehrsschutz, der bei der KG mit dem weitreichenden Umfang der organschaftlichen Vertretungsmacht als ratio legis angestrebt werde, die generelle Einschränkung der gesetzlichen Vertretungsmacht der geschäftsführenden Gesellschafter durch Übertragung des „Rechtsgedankens“ des § 179a AktG ab und hält die Anwendung der Regeln über den Missbrauch der Vertretungsmacht bei einer Überschreitung der im Innenverhältnis bestehenden Grenzen der Geschäftsführungsbefugnis für ausreichend, um in Fällen wie dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen eine angemessene Beurteilung zu erreichen. 30 2. Stellungnahme a) Geltung des „Rechtsgedankens“ des § 179a AktG als Ausdruck eines allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsatzes Der gesetzlichen Regelung der organschaftlichen Vertretungsbefugnis lässt sich ein allgemeiner Grundsatz, dass die Übertragung des Gesellschaftsvermögens eines Beschlusses der Gesellschafter bedarf, um im Außenverhältnis Dritten gegenüber wirk28 BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, ZIP 1995, 278, 279. 29 Zetzsche in KK/AktG, 3. Aufl. 2019, § 179a Rz. 23; Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 49; Weber, DNotZ 2018, 96, 122. 30 Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 858 ff.; Grunewald, Gesellschaftsrecht, 10. Aufl. 2017, § 2 Rz. 23 sowie JZ 1995, 577 f.; Bredol/Natterer, ZIP 2015, 1419, 1421 ff.

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sam zu werden, nicht entnehmen. Im Gegenteil ist die Vertretungsbefugnis der Organe Dritten gegenüber grundsätzlich unbeschränkt (§  82 Abs.  1 AktG, §  37 Abs.  2 Satz 1 GmbHG, § 126 Abs. 2 HGB, § 27 Abs. 2 Satz 1 GenG). Für die Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens hat der Gesetzgeber nur bei der Aktiengesellschaft und dort auch nur für das (schuldrechtliche) Verpflichtungsgeschäft eine Ausnahme gemacht; der dingliche Vollzug bedarf dagegen zu seiner Wirksamkeit nicht der Zustimmung der Hauptversammlung.31 Ein allgemeiner, alle Gesellschaftsformen übergreifender Grundsatz kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass es sich bei der (Verpflichtung zur) Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens an Dritte oder an Gesellschafter nicht lediglich um ein ungewöhnliches, sondern um ein sog. Grundlagengeschäft handele.32 Unter Grundlagengeschäften sind nur solche Rechtsgeschäfte zu verstehen, durch die Gesellschafter untereinander den Inhalt des vertraglich begründeten Gesellschaftsvertrags ändern, eine organschaftliche Vertretung der Gesellschaft scheidet hier also von vornherein aus.33 Selbst wenn man diesen Begriff auf Geschäfte ausweiten wollte, die zwar nicht zwischen Gesellschaftern geschlossen werden, bei denen aber die (abstrakte) Gefahr besteht, dass durch deren Auswirkungen die Gesellschafter mittelbar zu einer Än­ derung des Gesellschaftszwecks, etwa zur Aufgabe des Geschäftsbetriebs oder sogar zur Auflösung der Gesellschaft, gezwungen sein können, bedürfte es der weiteren ­Begründung, weshalb in diesen Fällen nicht lediglich im Innenverhältnis die Geschäftsführungsbefugnis, sondern darüber hinausgehend die Vertretungsmacht im Außenverhältnis beschränkt sein soll.34 Es ist auch kaum nachvollziehbar, wenn die vertragliche Verpflichtung zur Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens als ein Grundlagengeschäft angesehen wird, der dingliche Vollzug durch Übertragung der Vermögensbestandteile aufgrund dieses Vertrages dagegen nicht.35 Die Gefahr, dass der Geschäftsbetrieb aufgegeben werden muss, kann im Übrigen auch bei sonstigen außergewöhnlichen, insbesondere hoch riskanten Geschäften gegeben sein, ohne dass der Gesetzgeber insoweit die Vertretungsmacht nach außen beschränkt hat. § 126 Abs. 2 HGB dient dem Verkehrsschutz von Dritten, mit denen die Gesellschaft Rechtsgeschäfte abschließt36 und die nicht ohne weiteres in jedem Fall erkennen können, dass das ganze Vermögen der Gesellschaft veräußert werden soll. Dieser Verkehrsschutz geht grundsätzlich den Interessen der Gesellschaft und der nicht vertretungsberechtigten Gesellschafter vor. Deren Interessen werden hinreichend dadurch gewahrt, dass die Vertretungsmacht bei kollusivem oder sonst missbräuchlichem

31 BGH v. 8.7.1991  – II ZR 246/90, ZIP 1991, 1066  f.; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, § 179a Rz. 18; Stein in MünchKomm.AktG, 4. Aufl. 2016, § 179a Rz. 41 m.w.N. 32 Für Grundlagengeschäft z.B. MünchKommHGB/K. Schmidt, 4.  Aufl. 2016, §  126 Rz.  13; K. Schmidt, ZGR 1995, 675, 679 f.; Kessler, NZG 2015, 145, 148 f. 33 Vgl. Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 860 m.w.N. 34 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 10. Aufl. 2017, § 2 Rz. 23. 35 So aber Kessler, NZG 2015, 145, 149 m.w.N. 36 Vgl. dazu Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 858 ff. mit Nachweisen zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift.

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Handeln des vertretungsberechtigten Organs oder Gesellschafters nach den Grundsätzen über den Missbrauch der Vertretungsmacht entfällt.37 Ein allgemeiner verbands- oder jedenfalls gesellschaftsrechtlicher Grundsatz ergibt sich schließlich nicht aus der der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9. Januar 199538 zugrunde liegenden Auffassung, die maßgeblich auf die Einstellung des eigenen Geschäftsbetriebs und den damit verbundenen Verlust der Eigenschaft als werbendes Unternehmen mit der Folge einer Änderung des Gesellschaftszwecks, wenn nicht sogar der Auflösung der Gesellschaft abstellt. Diese Herleitung des vom Bundesgerichtshof so verstandenen Rechtsgedankens des § 361 AktG 1965 war schon für die damalige Rechtslage äußerst zweifelhaft, weil bereits mit § 255 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 AktG 193739 und anschließend mit § 361 Abs. 3 Satz 1 AktG 1965 der anfangs in § 303 Abs. 2 HGB 189740 geregelte zwingende Zusammenhang zwischen Vermögensübertragung und Auflösung entfallen war.41 Sie kann im Hinblick auf die Regelung des § 179a AktG, bei der es nunmehr nicht einmal mehr auf eine mit der Vermögensübertragung verbundene Veränderung des Unternehmensgegenstandes ankommt und der Gesetzgeber in der Erfassung derjenigen Vermögensübertragungen, in denen das nicht der Fall ist, gerade den Hauptzweck der Neuregelung gesehen hat,42 jedenfalls heute nicht mehr für einen für alle Gesellschaftsformen geltenden „Rechtsgedanken“ angeführt werden. Wenn in der Gesetzesbegründung davon die Rede ist, die Gesellschafter seien vor einer „faktischen Satzungsänderung“ zu schützen, so soll zu ihrem Schutz verhindert werden, dass infolge der Veräußerung des gesamten Gesellschaftsvermögens die tatsächliche Verfolgung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstandes nicht mehr möglich oder jedenfalls gefährdet ist.43 Auf die Gefahr, dass die Gesellschaft ihre Eigenschaft als werbendes Unternehmen verlieren könnte und ihre Auflösung droht, kommt es, wie auch § 179a Abs. 3 AktG zeigt, dagegen nicht mehr an. Fallgestaltungen, bei denen sich die Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens im Rahmen des satzungsgemäßen Unternehmensgegenstands bewegt, sind nicht selten und können vielfältiger Art sein,44 insbesondere bei weit gefassten Unternehmensgegenständen wie der Verwaltung eigenen Vermögens oder der Beteiligung an

37 Ebenso Grunewald, Gesellschaftsrecht, 10.  Aufl. 2017, §  2 Rz.  23; Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 860 m.w.N. 38 BGH v. 9.1.1995  – II ZR 24/94, ZIP 1995, 278, 279; gegen eine Verallgemeinerung des § 179a AktG jetzt auch BGH v. 8.1.2019 – II ZR 364/18 Rz. 32. 39 „Wird aus Anlass der Übertragung des Gesellschaftsvermögens die Auflösung der Gesellschaft beschlossen, so gelten die §§ 205 bis 214“. 40 „Der Beschluss hat die Auflösung der Gesellschaft zur Folge, sofern diese nicht bereits aufgelöst war“. 41 Eingehend zur historischen Entwicklung Scheel inFS Wegen, 2005, S. 297, 298 ff.; Weber, DNotZ 2018, 96, 106 f. 42 BT-Drs. 12/6699, S. 177. 43 Vgl. Weber, DNotZ 2018, 96, 108 f. 44 Vgl. Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl., 1996, S. 180 Fn. 119; Scheel in FS Wegen, 2015, S. 297, 300 f.; Weber, DNotZ 2018, 96, 108.

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anderen Unternehmen45 oder bei mehrere Unternehmensgegenständen in der Satzung.46 Aber selbst bei Unternehmensgegenständen wie beispielsweise der Vermietung von Immobilien wird durch die Veräußerung der einzigen Immobilie der Gesellschaft und damit des ganzen Gesellschaftsvermögens der Unternehmensgegenstand nicht verlassen, wenn von dem Veräußerungserlös eine andere Immobilie zum Zwecke der Vermietung erworben werden soll. Wenn der Unternehmensgegenstand nicht gegenständlich ganz eng beschränkt ist, z.B. auf die Vermietung der Immobilie in der Herrenstraße 45a in Karlsruhe, wird es im Grunde fast immer möglich sein, mit der Gegenleistung aus der Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens den Unternehmensgegenstand weiter zu verfolgen, gegebenenfalls durch Erwerb oder Aufbau eines neuen Unternehmens. Durch ein solches Geschäft kann gleichwohl die tatsächliche Fortsetzung des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstandes gefährdet sein, z.B. wenn die vereinbarte Gegenleistung dafür nicht ausreicht oder sonstige Vertragsbedingungen erhebliche Verlustrisiken für die Aktiengesellschaft begründen. Wegen dieses allgemeinen Gefährdungspotentials bei der Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens soll die Hauptversammlung der Aktionäre die Entscheidung über den Abschluss des Verpflichtungsvertrags treffen. Ob im konkreten Fall eine solche Gefährdung gegeben ist und ob sogar die Gefahr der Einstellung des eigenen Geschäftsbetriebs und damit der Verlust der Eigenschaft als werbendes Unternehmen besteht, ist dagegen unerheblich. Es handelt sich bei § 179a AktG also der Sache nach um einen abstrakten Gefährdungstatbestand. Das Ausmaß des für die Begründung der Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung vorausgesetzten allgemeinen Gefährdungspotentials hat der Gesetzgeber durch das Tatbestandsmerkmal der Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens umschrieben. Dass von dieser weiten Fassung im konkreten Fall risikolose Geschäfte ebenso erfasst ­werden wie Vermögensübertragungen, die ohnehin der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen, weil sie eine Satzungsänderung zur Folge haben (vgl. §  179a Abs. 1 Satz 1 AktG: „…auch dann…“), ist auch im Hinblick darauf hinzunehmen, dass bei einer Kompetenznorm wie §179a AktG deren Voraussetzungen so hinreichend bestimmt sein müssen, dass vor Abschluss eines möglicherweise von dieser Vorschrift erfassten Vertrages mit einem zumutbaren Aufwand geprüft werden kann, ob die Zustimmung der Hauptversammlung eingeholt werden muss oder nicht. Das wäre nicht der Fall, wenn es auf die konkrete Gefährdung im Einzelfall ankäme. b) Anwendung des § 179a AktG aufgrund einer Gesetzesanalogie Die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung des § 179a AktG aufgrund einer Gesetzesanalogie sind gleichfalls nicht gegeben, weder einer analogen Anwendung im Personengesellschaftsrecht allgemein und damit über §  278 Abs.  2 AktG auch in der KGaA noch einer unmittelbaren analogen Anwendung bei der KGaA ohne den Zwischenschritt über das Personengesellschaftsrecht und § 278 Abs. 2 AktG.

45 Zu deren Zulässigkeit vgl. Röhricht/Schall in Großkomm.AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 Rz. 147 m.w.N. 46 Weber, DNotZ 2018, 96, 108.

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Es lässt sich bereits keine planwidrige Unvollständigkeit der einschlägigen gesetzlichen Regelungen feststellen. Der Gesetzgeber hat es bis zur Einführung des § 179a AktG nicht für notwendig befunden, eine vergleichbare Vorschrift für Personengesellschaften zu schaffen, obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 9. Januar 1995 die entsprechende Anwendung der Vorgängervorschriften offengelassen hatte.47 Es bestand (und besteht) insoweit auch kein zwingender Regelungsbedarf, weil mit den handelsrechtlichen Vorschriften zur organschaftlichen Vertretung einschließlich ihrer in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannten Ausnahmen beim Missbrauch der Vertretungsmacht eine interessengerechte Regelung zur Verfügung steht. Es fehlt daher insoweit an einer unbewussten Gesetzeslücke.48 Dasselbe gilt im Hinblick auf die unmittelbare entsprechende Anwendung des § 179a AktG bei der KGaA. Es lässt sich, wie oben dargelegt, nicht hinreichend sicher feststellen, dass der Gesetzgeber bei der Streichung der KGaA in der Neuregelung des § 179a AktG davon ausgegangen ist, damit trete keine Änderung des Rechtszustands gegenüber § 361 AktG 1965 ein. Jedenfalls scheitert die analoge Anwendung des § 179a AktG daran, dass sich im Vergleich der Aktiengesellschaft sowohl mit den Personengesellschaften als auch mit der KGaA eine wesentlich gleiche Interessenlage nicht feststellen lässt. Im Vergleich mit den Personengesellschaften bestehen bei der Aktiengesellschaft insbesondere grundsätzliche Unterschiede in der strukturellen Verfassung, die hier nicht im Einzelnen, sondern nur insoweit angeführt werden sollen, als sie auch die Strukturmerkmale der KGaA bestimmen. Die durch Gesetz im Wesentlichen zwingend (§ 23 Abs. 5 AktG) festgelegte Organisationsstruktur der Aktiengesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass dem Vorstand die Leitungsmacht zur alleinigen Ausübung zugewiesen ist (§ 76 Abs. 1 AktG); die Hauptversammlung der Aktionäre hat keinen Einfluss auf die Geschäftsführung (§ 119 Abs. 2 AktG). Eine unmittelbare Haftung der Aktionäre besteht anders als im Personengesellschaftsrecht nicht. Die Organisationsstruktur der KGaA wird gegenüber der Aktiengesellschaft wesentlich dadurch mitbestimmt, dass infolge der Verweisung gemäß § 278 Abs. 2 AktG ihre entscheidende Funktionsgarantie in der unbeschränkten persönlichen Haftung der Komplementäre besteht.49 Im Personengesellschaftsrecht und damit gemäß § 278 Abs. 2 AktG auch bei der KGaA gilt der Grundsatz der Selbstorganschaft,50 während bei Kapitalgesellschaften die Fremdorganschaft zulässig und insbesondere bei der Aktiengesellschaft regelmäßig der Fall ist. Ruft man sich sodann den Zweck des § 179a AktG in Erinnerung, den Aktionären die Entscheidung über den Abschluss eines Vertrags zur Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens zu überlassen, um sie vor einer unangemessenen Vertragsgestaltung zu schützen, die zur Gefährdung der tatsächlichen Fortsetzung des satzungsmäßigen Unternehmenszwecks führen kann, und nimmt man weiter in den Blick, dass es sich nach dem Regelungsgehalt des § 179a AktG um einen abstrak47 Vgl. BGH v. 8.7.1991 – II ZR 246/90, ZIP 1991, 1066 f.; BGH v. 8.1.2019 – II ZR 364/18 verneint nunmehr die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung auf die GmbH. 48 Hadding in FS Lutter, 2000, S. 851, 862 f.; Bredol/Natterer, ZIP 2015, 1419, 1421. 49 Vgl. Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, Vorb. § 278 Rz. 10. 50 Vgl. nur Habersack in FS Hellwig, 2010, S. 143, 145.

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ten Gefährdungstatbestand handelt, der auch im konkreten Fall risikofreie Geschäfte erfasst, so dürfte im Personengesellschaftsrecht insoweit ein geringeres Schutzbedürfnis der Gesellschafter als in der Aktiengesellschaft gegeben sein. Bei geschäftsführenden und vertretungsberechtigten Gesellschaftern, die für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft persönlich haften, dürfte in der Regel eher gewährleistet sein, dass sie schon im eigenen Interesse auf eine angemessene Vertragsgestaltung dringen werden, als beim nicht zwingend an der Gesellschaft selbst beteiligten Vorstand einer Aktiengesellschaft. Sie erscheinen auch deshalb gegenüber den Aktionären einer Aktiengesellschaft weniger schutzbedürftig, weil sie im Innenverhältnis über effektivere Rechte zur Überwachung der Geschäftsführung verfügen. Die Veräußerung des ganzen Gesellschaftsvermögens ist jedenfalls ein außergewöhnliches Geschäft, zu dessen Vornahme der geschäftsführende Gesellschafter im Innenverhältnis gemäß § 116 Abs. 2, § 119 Abs. 1 HGB der Zustimmung aller Gesellschafter bedarf, soweit nach dem Gesellschaftsvertrag nicht die Mehrheit der Stimmen entscheidet, § 119 Abs. 2 HGB. Bei der KG ist auch die Zustimmung der Kommanditisten erforderlich (§ 164 HGB), bei der KGaA demgemäß ein zustimmender Beschluss der Hauptversammlung.51 In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass die Informationsrechte der Gesellschafter einer KG gegenüber den geschäftsführenden Gesellschaftern grundsätzlich weiter gehen als diejenigen der Aktionäre gegenüber dem Vorstand. Aktionäre haben ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft im Wesentlichen in der Hauptversammlung auszuüben, § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG. Dort ist ihr Auskunftsrecht über Angelegenheiten der Gesellschaft auf Auskünfte beschränkt, die zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich sind, § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG. In der KG können sich die von der Geschäftsführung ausgeschlossenen persönlich haftenden Gesellschafter jederzeit und anlassunabhängig von den Angelegenheiten der Gesellschaft persönlich umfassend unterrichten, §  161 Abs.  2, §  166 Abs. 2, § 118 Abs. 1 HGB. Das in § 166 Abs. 3 HGB geregelte außerordentliche Informationsrecht des Kommanditisten umfasst bei Vorliegen eines wichtigen Grundes auch Auskünfte über die Geschäftsführung des Komplementärs allgemein und die damit im Zusammenhang stehenden Unterlagen der Gesellschaft.52 Ein wichtiger Grund ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn die Belange des Kommanditisten durch das vertragliche oder aus § 166 Abs. 1 HGB folgende Einsichtsrecht nicht hinreichend gewahrt sind, darüber hinaus die Gefahr einer Schädigung von Gesellschaft oder Kommanditist besteht und deshalb die Überwachung der Geschäftsführung im Interesse des Kommanditisten geboten ist.53 Bei der KGaA stehen den Kommanditaktionären neben den Rechten, die ihnen gemäß § 278 Abs. 3 AktG wie Aktionären einer Aktiengesellschaft zugewiesen sind, die Rechte zu, die im Geltungsbereich des § 278 Abs. 2 AktG im Verhältnis zu den Komplementären von der Gesamtheit der Kom51 Spindler/Stilz/Bachmann, AktG, 4. Aufl. 2019, § 278 Rz. 61; Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, § 278 Rz. 65 m.w.N. 52 BGH v. 14.6.2016 – II ZB 10/15, BGHZ 210, 363 Rz. 13. 53 BGH v. 14.6.2016 – II ZB 10/15, BGHZ 210, 363 Rz. 24.

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manditaktionäre auszuüben sind.54 § 119 Abs. 2 AktG gilt bei der KGaA nicht.55 Da die Vornahme außergewöhnlicher Geschäfte eines zustimmenden Beschlusses der Hauptversammlung bedarf, bleiben die Informationsrechte der persönlich haftenden Gesellschafter, auch der von der Geschäftsführung ausgeschlossenen, sowie der Kommanditaktionäre in diesem Bereich nicht hinter denjenigen der Gesellschafter einer KG zurück und gehen jedenfalls weiter als diejenigen der Aktionäre einer Aktiengesellschaft. Auf die Frage, ob und in welchem Umfang die Geschäftsführungsbefugnis der Komplementäre in der Satzung erweitert, insbesondere ob die Rechte von Mitkomplementären und Kommanditaktionären bei außergewöhnlichen Geschäften eingeschränkt oder vollständig beseitigt werden können,56 kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Die unterschiedliche gesetzliche Interessenverteilung ändert sich nicht maßgeblich, wenn man es zulässt, dass die nicht geschäftsführenden Gesellschafter und Kommanditaktionäre im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung auf ihre Zustimmungs- und Widerspruchsrechte verzichten können. Soweit § 179a AktG insbesondere auch dem Schutz vor unangemessener Vertragsgestaltung bei Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens an den bisherigen Mehrheitsaktionär dienen soll,57 ist bei einer entsprechenden Übertragung an einen Mitgesellschafter ein hinreichender Schutz bei der KG und der KGaA bereits dadurch bewirkt, dass § 126 Abs. 2 HGB nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei der Vertretung der Gesellschaft bei Rechtsgeschäften mit Gesellschaftern nicht gilt.58 Weder bei der KG noch bei der KGaA bedarf es deshalb zum Schutz der mittelbar betroffenen Interessen der Gesellschafter einer entsprechenden Anwendung der auf die Organisationsstruktur der Aktiengesellschaft zugeschnittenen Vorschrift des § 179a AktG. Vielmehr erscheint die Anwendung der Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht als ausreichend, um in Fällen des Überschreitens der im Innenverhältnis gesetzten Grenzen zu einer angemessenen Beurteilung zu gelangen.

V. GmbH & Co. KGaA Für die KGaA mit einer GmbH (oder einer anderen juristischen Person oder Gesellschaft) als persönlich haftender Gesellschafterin gilt im Ergebnis nichts anderes. Auch für solche Komplementäre ist nach § 278 Abs. 2 AktG das Recht der KG anzuwenden.59 Derartige Gestaltungen stellen keine Abkehr von den Grundsätzen der Selbst­ 54 Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, § 278 Rz. 58. 55 Hoffmann-Becking/Herfs in FS Sigle, 2000, S. 273, 285; Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, § 278 Rz. 57 m.w.N. 56 Zum Meinungsstand vgl. Mertens/Cahn in KK/AktG, 3. Aufl. 2015, § 278 Rz. 90 sowie Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 19, jeweils mit Nachweisen. 57 Vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 278 Rz. 1 m.w.N. 58 BGH v. 20.9.1962 – II ZR 209/61, BGHZ 38, 26, 33; v. 9.5.1974 – II ZR 84/72, NJW 1974, 1555; v. 26.10.1978  – II ZR 119/77, WM 1979, 71, 72; zustimmend das überwiegende Schrifttum vgl. Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38.  Aufl. 2018, §  126 Rz.  6; Großkomm. HGB/Habersack, 5. Aufl. 2009, § 126 Rz. 28 m.w.N. 59 BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392.

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Entsprechende Geltung des § 179a AktG bei der KGaA?

organschaft und der unbeschränkten persönlichen Haftung mindestens eines Gesellschafters dar, so dass die für die KG und die gesetzestypische KGaA dargelegte Interessenabwägung jedenfalls im Ergebnis übertragen werden kann.60 Sofern die den Kommanditaktionären nach § 278 Abs. 2 AktG, §§ 163 f. HGB zustehenden Mitwirkungsbefugnisse in der Satzung eingeschränkt werden sollen, kann es zu deren Schutz angebracht sein, solche Beschränkungen nur in engen Grenzen zuzulassen.61

VI. Zusammenfassung Entgegen der allgemeinen Meinung beurteilt sich die Frage, ob § 179a AktG bei der KGaA entsprechend anzuwenden ist, nicht nach § 278 Abs. 3 AktG, sondern nach § 278 Abs. 2 AktG und damit nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches über die Kommanditgesellschaft. § 179a AktG begründet die Zuständigkeit der Hauptversammlung und beschränkt damit sowohl die Geschäftsführungsbefugnis als auch die Vertretungsmacht des Vorstands, weil ein ohne Zustimmung der Hauptversammlung geschlossener Vertrag, in dem sich die Gesellschaft zur Übertragung ihres ganzen Vermögens verpflichtet, unwirksam ist. Diese Beschränkung der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht fällt unter § 278 Abs. 2 AktG. Nach § 278 Abs. 2 AktG, § 161 Abs. 2, § 116 Abs. 2 HGB ist die Geschäftsführungs­ befugnis der persönlich haftenden Gesellschafter einer KGaA danach bei außergewöhnlichen Geschäften, zu denen die Verpflichtung zur Übertragung des ganzen ­Gesellschaftsvermögens gehört, dahingehend beschränkt, dass zur Vornahme dieser Handlungen ein zustimmender Beschluss aller Gesellschafter einschließlich der (Gesamtheit der) Kommanditaktionäre (§  164 HGB) erforderlich ist. Die Vertretungsmacht ist dagegen gemäß § 126 Abs. 2 HGB im Verhältnis zu Dritten unbeschränkt. Ein allgemeiner verbandsrechtlicher Grundsatz, dass die Verpflichtung zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens eines Beschlusses aller Gesellschafter bedarf, um im Außenverhältnis Dritten gegenüber Wirksamkeit zu erlangen, besteht nicht. Ein solcher Grundsatz lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass es sich um ein sog. Grundlagengeschäft handeln soll. Für eine entsprechende Anwendung des § 179a AktG aufgrund einer Gesetzesanalogie fehlt es an einer planwidrigen Unvollständigkeit der gesetzlichen Regelung und sowohl bei der KG als auch bei der KGaA an einer im Verhältnis zur AG wesentlich gleichen Interessenlage. Die Anwendung der anerkannten Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht ist ausreichend, um in Fällen des Überschreitens der im Innenverhältnis bestehenden Grenzen zu angemessenen Ergebnissen zu gelangen.

60 BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392. 61 BGH v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, BGHZ 134, 392.

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Strittige Related Party Transactions als Bremse für Verschmelzung und Squeeze out? Inhaltsübersicht I. Themenstellung II. Die Freigabeentscheidung des OLG Köln in Sachen Strabag 1. Hintergrund, Sachverhalt 2. Der Beschluss des OLG Köln a) Keine offensichtliche Unbegründetheit der Klagen b) Interessenabwägung c) Kein besonders schwerer Rechts­ verstoß III. Beurteilung 1. Offensichtliche Unbegründetheit der Klage

a) Rechtsmissbrauch durch „­strategische“ Schaffung der ­Squeeze out-Voraussetzungen? b) Rechtsmissbrauch durch ­Vereitelung der Verfolgung von Schadenersatz­ ansprüchen durch den besonderen Vertreter? c) Unzulässiger Sondervorteil wegen Nichtberücksichtigung von ­Schadenersatzansprüchen bei der ­Barabfindung? 2. Interessenabwägung 3. Besonders schwerer Rechtsverstoß IV. Zusammenfassung, Gesamtbeurteilung

I. Themenstellung Die Diskussion um den Schutz der Minderheitsaktionäre der abhängigen AG bei Related Party Transactions und hier insbesondere bei Geschäften mit ihrem (beherrschenden) Mehrheitsaktionär erlebt dank des europäischen Richtliniengebers eine Renaissance. Durch das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II)1 wird das deutsche Aktienkonzernrecht ergänzt und der Minderheitenschutz verstärkt. Neben Beifall für die Ergänzung unter Beibehaltung des bisherigen gesetzlichen Systems und seiner Grundpfeiler2 findet sich auch heftige Kritik, weil das deutsche Aktienrecht auch nach ARUG II deutlich hinter internationalen Standards für einen Schutz der Minderheitsaktionäre zurückbleibe.3 Weniger Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen Diskussion finden neuere Strategien von Minderheitsaktionären, mit denen sie erfolgreich eine Befassung der Gerichte mit aus ihrer Sicht unangemessenen Related Party Transactions erreicht haben. Dies * Der Verfasser vertritt die Antragsgegnerin im Spruchverfahren vor dem LG München I betreffend den HVB-Squeeze out. 1 RegE ARUG II v. 20.3.2019, abrufbar unter https://www.bmjv.de; dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201 (1208 ff.); Seibert, DB 2018, M 4 (6). 2 BegrRegE, S. 32 ff. (36); Bungert/Berger, DB 2018, 2860; DAV-HRA, NZG 2019, 12 (16 ff.); ­Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441; Paschos/Goslar, AG 2018, 857 (866). 3 Tröger/Roth/Strenger, BB 2018, 2946; Tröger/Strenger, BörsenZ v. 16.10.2018, S. 10.

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macht der Eberhard Vetter bestens bekannte Strabag-Fall deutlich. Zunächst gelang es den Minderheitsaktionären unter Ausnutzung eines Stimmverbots des herrschenden Unternehmens eine Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einen von der Hauptversammlung eingesetzten besonderen Vertreter durchzusetzen.4 Als durch einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze out die Minderheitsaktionäre ausgeschlossen und gleichzeitig das Amt des besonderen Vertreters zum Erlöschen gebracht ­werden sollten, erzielten sie einen wesentlichen Erfolg im Freigabeverfahren zur Überwindung der Unwirksamkeitsklagen der Minderheitsaktionäre: Das OLG Köln gab die Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out nur deshalb frei, weil zuvor die behaupteten Schadenersatzansprüche aus Related Party Transactions für das der Eintragung nachfolgende Spruchverfahren unstreitig gestellt wurden.5 Damit würde der Minderheitenschutz um einen weiteren wesentlichen Baustein ergänzt: In Abwesenheit eines Unstreitigstellens derartiger Schadenersatzansprüche würden sich strittige Related Party Transactions als Bremse für Verschmelzung, verschmelzungsrechtlichen Squeeze out und aktienrechtlichen Squeeze out erweisen. Nachfolgend wird die Entscheidung des OLG Köln dargestellt (II.) und sodann unter Betrachtung der einzelnen Elemente einer Freigabeentscheidung kritisch gewürdigt (nachfolgend III.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einer Gesamtbewertung des Schutzes von Minderheitsaktionären bei Related Party Trans­ actions nach ARUG II (nachfolgend IV.).

II. Die Freigabeentscheidung des OLG Köln in Sachen Strabag 1. Hintergrund, Sachverhalt Der Beschluss des OLG Köln zur Freigabe der Eintragung des Ausschlusses der außenstehenden Aktionäre der Strabag AG bei deren gleichzeitiger Verschmelzung auf die deutsche Konzernspitze der Strabag SE, die Ilbau Liegenschaftsverwaltung AG, bildet den vorläufigen Schlusspunkt einer jahrelangen Auseinandersetzung zwischen den Minderheitsaktionären der Strabag AG und deren Konzernmutter Strabag SE.6 Im Anschluss an deren Übernahme durch die österreichische Strabag wurden im Jahr 2006 u.a. Beteiligungsgesellschaften an die Konzernmutter oder andere Gesellschaften des Strabag-Konzerns veräußert. Die Minderheitsaktionäre scheiterten mit dem Anliegen, eine Befassung der Hauptversammlung mit den Maßnahmen zu erreichen.7 In den Jahren 2009 bis 2013 fanden eine Vielzahl konzerninterner Käufe, Verkäufe, Liefer- und Leistungsbeziehungen, Dienstleistungen sowie Darlehensbeziehungen 4 OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16 (juris). 5 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17 (juris). 6 Von den für einen unbeteiligten Dritten nur schwer überschaubaren zahlreichen Rechtsstreitigkeiten werden nachfolgend nur einige ausgewählte wiedergegeben. 7 OLG Köln v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, ZIP 2009, 1469; BVerfG v. 7.9.2011 – 1 BvR 1460/10, ZIP 2011, 2094: Nichtannahmebeschluss; BVerfG v. 7.9.2011  – 1 BvR 1460/10, ZIP 2011, 2094: Verfassungsbeschwerde erfolglos.

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zwischen der Strabag AG und der Strabag SE sowie anderen Konzerngesellschaften statt. Ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit der Strabag AG bestand nicht. Nach einem vorhergehenden erfolglosen Versuch gelang es Minderheitsaktionären der Strabag AG, insbesondere der Sparta Beteiligungsgesellschaft, die eine Beteiligung von mehr als 16.000 Aktien (entsprechend 0,42% des Grundkapitals) an der Strabag AG hielt, in der Hauptversammlung 2015 die Verfolgung von Schadenersatz­ ansprüchen der Strabag AG gegen ihren Mehrheitsaktionär Strabag SE und deren Vorstandsvorsitzenden (gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Strabag AG) aus und im Zusammenhang mit diesen Related Party Transactions unter Bestellung eines besonderen Vertreters durchzusetzen. Zuvor hatten die Minderheitsaktionäre erfolgreich gerichtlich einen neutralen Versammlungsleiter durch das OLG Köln einsetzen lassen.8 Die Anfechtungsklage der Strabag SE gegen die bei einem Stimmverbot der Mehrheitsaktionärin Strabag SE beschlossene Verfolgung der Schadenersatzansprüche durch den besonderen Vertreter wurde vom OLG Köln zurückgewiesen.9 Die ­gerichtlich durchgesetzten Informationsrechte des besonderen Vertreters10 mündeten – nach erneuter gerichtlicher Bestimmung eines unabhängigen Versammlungsleiters11 – in eine (erfolglose) Befassung der Hauptversammlung vom März 2017 über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Strabag AG gegen die Strabag SE und ihren Vorstandsmitgliedern in Höhe von 81 Mio. Euro. Im April 2017 machte der besondere Vertreter klageweise Schadenersatzansprüche gegen die Strabag SE und deren Vorstandsvorsitzenden im Zusammenhang mit den Beteiligungsveräußerungen und weiteren Geschäftsvorfällen – in Höhe von nunmehr rund 217,5 Mio. – Euro geltend und beantragte darüber hinaus Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden. Zwischenzeitlich hatte die Strabag SE über ihre deutsche Tochtergesellschaft Ilbau AG die Beteiligung an der Strabag AG auf über 90% erhöht. In der außerordentlichen Hauptversammlung vom März 2017 setzte sie einen Ausschluss der Minderheitsak­ tionäre der Strabag AG unter gleichzeitiger Verschmelzung der Gesellschaft auf die Ilbau AG durch. Bei der Festlegung der Barabfindung für die ausgeschlossenen Ak­ tionäre wurden die von den Minderheitsaktionären behaupteten Schadenersatzansprüche mit null Euro bemessen und dementsprechend kein werterhöhender Sonderwert angesetzt.12 2. Der Beschluss des OLG Köln Die gegen den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out gerichtete Unwirksamkeitsklage der Sparta und anderer Minderheitsaktionäre wurde u.a. darauf gestützt, dieser diene dazu, das Amt des besonderen Vertreters zum Erlöschen zu bringen und damit 8 OLG Köln v. 16.6.2015 – I-18 Wx 1/15, ZIP 2015, 1585; Rieckers, DB 2015, 2131 (2135); E. Vetter in FS Bergmann, 2019, S. 799 (806). 9 OLG Köln v. 9.3.2017  – 18 U 19/16 (juris); abweichend noch LG Köln v. 14.1.2016  – 91 O 30/15 (juris); Revision anhängig beim BGH unter II ZR 94/17. 10 OLG Köln v. 4.12.2015  – 18 U 149/15 (juris); abweichend noch LG Köln v. 22.9.2015  – 91 O 38/15 (juris). 11 AG Köln v. 17.3.2017 – HRB 556; dazu Rubner, BOARD 2017, 151. 12 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 6 (juris).

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der Verfolgung der Schadenersatzansprüche zu Gunsten der Strabag AG und ihrer Minderheitsaktionäre den Boden zu entziehen. Das OLG Köln hielt in der (ersten) mündlichen Verhandlung den damit verbundenen Vorwurf des Rechtsmissbrauchs nicht für offensichtlich unbegründet. Daraufhin erklärte die Ilbau AG als zukünftige Antragsgegnerin, dass sie den sich aus den bezifferten Schadenersatzansprüchen ergebenden Sonderwert im Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung unstreitig stellen werde; die Erklärung wurde durch eine Bankgewährleistung in Höhe von 14 Mio. Euro (den auf die außenstehenden Aktionäre anteilig entfallenden Betrag der bezifferten Klage) abgesichert.13 Das OLG Köln eröffnete erneut die mündliche Verhandlung und gab im Hinblick auf diese Erklärung dem Antrag auf Freigabe der Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out statt. a) Keine offensichtliche Unbegründetheit der Klagen Dem Freigabeantrag sei allerdings nicht deshalb schon zu entsprechen, weil die Klage nach §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 i.V.m. § 62 Abs. 5 Satz 8 UmwG offensichtlich unbegründet sei. Angesichts des von den Klägern vorgetragenen Rechtsmissbrauchs könne von einer offensichtlichen Unbegründetheit nicht ausgegangen werden. Ein Rechtsmissbrauch liege vor, wenn die beabsichtigte Maßnahme in ihrer Benachteiligung der Minderheit über das vom Gesetz vorgesehene Maß hinausgehe. Das liege vorliegend nahe, da durch den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out die Verfolgung der klageweise geltend gemachten Schadenersatzansprüche vereitelt werden sollte. Denn mit diesem erlösche die Strabag AG und damit auch das Amt des von der Hauptversammlung bestellten besonderen Vertreters zur Verfolgung der Schadenersatzansprüche. Der enge zeitliche und sachliche Zusammenhang zwischen der Verfolgung der Schadenersatzansprüche und der Beschlussfassung über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out sei ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass dieser vor allem das Ziel verfolge, die von dem besonderen Vertreter eingeleitete Rechtsverfolgung zu unterlaufen.14 Der Berücksichtigungsfähigkeit eines Rechtsmissbrauchs stehe nicht entgegen, dass im Rahmen eines verschmelzungsrechtlichen Squeeze out gemäß § 62 Abs. 5 Satz 8 UmwG i.V.m. § 327f Satz 1 AktG eine Unwirksamkeitsklage nicht auf die Verfolgung von Sondervorteilen zu Gunsten des Mehrheitsaktionärs gestützt werden könne. Damit sei die Berufung auf einen Rechtsmissbrauch nicht ausgeschlossen, wenn der Squeeze out gerade zu einem Zeitpunkt verfolgt werde, zu dem die Inanspruchnahme von Schadenersatzansprüchen durch einen durch die Hauptversammlung bestellten besonderen Vertreter drohe.15 Der Rüge eines Rechtsmissbrauchs wegen der Unterbindung der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen könne auch nicht entgegengehalten werden, dass derartige Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit 13 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 15 (juris). 14 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 30-35 (juris). 15 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 36 f. (juris).

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der Barabfindung berücksichtigt werden. Da die Schadenersatzansprüche weder unstreitig noch rechtskräftig festgestellt waren, hielt der Senat deren Berücksichtigung trotz einer entsprechenden frühen Entscheidung des im Spruchverfahren zuständigen OLG Düsseldorf unter Hinweis auf entgegenstehende spätere Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte nicht für ausreichend sicher.16 Das nachträgliche Unstreitigstellen von Schadenersatzansprüchen für Zwecke des Spruchverfahrens sei ­insoweit unbeachtlich, weil für die inhaltliche Prüfung die Rechtslage des angefoch­ tenen Beschlusses und damit der Zeitpunkt der Beschlussfassung der Hauptversammlung im März 2017 maßgeblich sei.17 b) Interessenabwägung Die Erklärung der Ilbau AG, die bezifferten eingeklagten Schadenersatzansprüche im  Spruchverfahren anzuerkennen, war aber nach Auffassung des OLG Köln im ­Rahmen der Interessenabwägung gemäß §  62 Abs.  5 Satz 8 UmwG i.V.m. §§  327e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 1 AktG zu berücksichtigen. Bei der Abwägung des rein wirtschaftlichen Interesses der Antragsteller und ihrer übrigen Aktionäre mit den Interessen der klagenden Antragsgegner berücksichtigte der Senat zu Gunsten des Vollzugsinteresses den glaubhaft gemachten Vortrag der Antragstellerin, dass die Nichteintragung des Übertragungsbeschlusses Kosten in Höhe von rund 370.000 Euro jährlich wegen der durchzuführenden Hauptversammlungen und in Höhe von 49.000 Euro jährlich im Zusammenhang mit der Börsennotierung auslöse, ferner Kosten für die Erstellung des Jahres- und Konzernabschlusses sowie des Abhängigkeitsberichts in Höhe von rund 170.000 Euro pro Jahr sowie den Verlust der Nutzung von Verlustvorträgen der Ilbau AG in Höhe von bis zu 24 Mio. Euro für die nächsten vier Jahre.18 Nach Abgabe der Erklärung durch die Ilbau AG und deren Absicherung durch eine Bankgarantie stünden den Antragsgegnern keine wesentlichen Nachteile durch den Vollzug des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out entgegen. Denn die Berücksichtigung der bezifferten Ersatzansprüche in Höhe von rund 217,5 Mio. Euro im Spruchverfahren sei hierdurch – bei entsprechender Auslegung der Erklärung – ausreichend gesichert. Der Vortrag der Antragsgegner, wonach der Strabag AG mit Rücksicht auf weitere (noch) unbezifferte Ersatzansprüche, die Gegenstand des vom besonderen Vertreter klageweise erhobenen Feststellungsantrags sind, eine höhere Abfindung zustehe, sei nicht zu berücksichtigen, da deren Berechtigung dem Grunde und der Höhe nach nicht einmal ansatzweise dargelegt worden sei.19 Damit falle die Interessenabwägung zu Gunsten der antragstellenden Strabag AG und ihrer übrigen Aktionäre aus.

16 OLG Köln v. 14.12.2017  – 18 AktG 1/17, Rz.  39 unter Hinweis auf OLG Düsseldorf v. 16.10.1990 – 19 W 9/88, Rz. 67, 70 (juris) einerseits und OLG Celle v. 19.4.2007 – 9 W 53/06, Rz. 17 (juris); OLG Stuttgart v. 4.2.2000 – 4 W 15/98, Rz. 35 (juris) andererseits. 17 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 41 (juris). 18 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 44 (juris). 19 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 47 ff., 53 (juris).

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c) Kein besonders schwerer Rechtsverstoß Der Freigabe der Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out stand nach Auffassung des OLG Köln eine von den Antragsgegnern geltend gemachte besondere Schwere der geltend gemachten Rechtsverstöße gemäß §  62 Abs.  5 Satz 8 UmwG i.V.m. § 327e Abs. 2, § 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 2 AktG nicht entgegen. Denn den Antragsgegnern war nach Auffassung des Senats die Darlegung eines Sachverhalts, der die Verletzung elementarer Aktionärsrechte nahe legte, nicht gelungen. Insbesondere reichte die behauptete Verletzung einer nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der Meldepflicht nach § 21 WpHG und ein als dessen Folge bestehendes Stimmverbot gemäß § 28 WpHG in der Hauptversammlung über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out ebenso wenig aus wie die Behauptung einer Verletzung des Auskunftsrechts der Aktionäre gemäß § 131 AktG.20 Der von den Antragsgegnern behauptete Rechtsmissbrauch begründete angesichts der Erklärung der Ilbau AG ebenfalls nicht (mehr) die Annahme eines besonders schweren Rechtsverstoßes. Durch die Erklärung der Ilbau AG sei für eine Kompensation der damit verbundenen Nachteile gesorgt, so dass die Eintragung des Übertragungsbeschlusses nicht (mehr) unerträglich wäre.21

III. Beurteilung 1. Offensichtliche Unbegründetheit der Klage Im Rahmen der Prüfung der offensichtlichen Unbegründetheit der Klagen gemäß §§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 i.V.m. § 62 Abs. 5 Satz 8 UmwG war die Rüge der Minderheitsaktionäre der Strabag zu berücksichtigen, der von der Strabag SE über ihre Tochtergesellschaft Ilbau AG herbeigeführte Beschluss über den Ausschluss der Minderheitsaktionäre bei Verschmelzung der Strabag AG auf die Ilbau AG sei rechtsmissbräuchlich erfolgt. Zwar entspricht es gesicherter Auffassung, dass ein (verschmelzungsrechtlicher) Squeeze out keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, weil der Gesetzgeber ein ausdifferenziertes System zu deren Voraussetzungen und dem Schutz der Minderheitsaktionäre geschaffen hat.22 Das schließt es jedoch nicht aus, dass im Einzelfall ein verschmelzungsrechtlicher Squeeze out aufgrund der allgemeinen Grenzen für die Ausübung von Gesellschafterrechten treupflichtwidrig oder rechtsmissbräuchlich sein kann.23 Dabei handelt es sich jedoch um eng begrenzte 20 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 54-56 (juris). 21 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 57 (juris). 22 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 302/06, Rz. 14 (juris); OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 34 (juris); OLG Hamburg v. 14.6.2012 – 11 AktG 1/12, Rz. 45 (juris); Bühler, BB 2018, 2886; Fisch, Der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out, 2015, S.  215; Stephanblome, AG 2012, 814 (817). 23 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 34 (juris); OLG Hamburg v. 14.6.2012 – 11 AktG 1/12, Rz. 46 (juris); Bühler, BB 2018, 2886 (2890); Fisch, a.a.O. (Fn. 22), S. 204, 222; Florstedt, ZIP 2018, 1661 (1663); Grunewald in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 62 Rz. 49; Habersack in Habersack/Wicke, UmwG, 2019, § 62 Rz. 62.

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Ausnahmefälle. Soweit ersichtlich, hat mit dem OLG Köln nunmehr erstmalig ein Obergericht das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs bei einem (verschmelzungsrechtlichen) Squeeze out bejaht. Insoweit kamen drei Aspekte in Betracht: Die „strategische“ Schaffung der Voraussetzungen für den Squeeze out durch Formwechsel und Konzentration von mehr als 90% der Aktien in der Ilbau AG (nachfolgend a)), die Vereitelung der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen der Strabag AG gegen die Strabag SE durch den besonderen Vertreter (nachfolgend b)) und die Übervorteilung der Minderheitsaktionäre bei der Barabfindung durch Nichtberücksichtigung der von den Minderheitsaktionären behaupteten Schadenersatzansprüche (nachfolgend c)). a) Rechtsmissbrauch durch „strategische“ Schaffung der ­Squeeze out- ­Voraussetzungen? Anders als für einen aktienrechtlichen Squeeze out bedarf es für die Durchführung eines verschmelzungsrechtlichen Squeeze out gemäß § 62 Abs. 5 UmwG lediglich einer Beteiligung von 90%. Eröffnet ist der verschmelzungsrechtliche Squeeze out zudem nur bei Verschmelzung auf eine aufnehmende Gesellschaft in der Rechtsform der AG. Die Ilbau hielt zunächst in der Rechtsform einer GmbH selbst nur eine Beteiligung von 15,87%. Die Muttergesellschaft die Strabag SE hielt bereits seit längerem eine Beteiligung von 66%, eine weitere Beteiligung von 11,7% wurde von einer weiteren Konzerngesellschaft gehalten. Durch Übertragung der Beteiligungen auf die Ilbau wurde bei dieser eine Beteiligungshöhe von 93,6% konzentriert und die Rechtsform der Ilbau wurde in eine AG umgewandelt. Sowohl der Formwechsel als auch die Beteiligungsübertragungen von September 2016 erfolgten in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Beschlussfassung über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out im März 2017. In der Literatur werden „strategische“ Vorbereitungsmaßnahmen zur Erreichung der Voraussetzungen für einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze out vereinzelt als rechtsmissbräuchlich angesehen, wenn und weil die vom Gesetzgeber ermöglichte Vereinfachung der Konzernstruktur zunächst (künstlich) erweitert und alsdann wieder durch den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out verschlankt wird.24 Das OLG Köln hat den Beschluss über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out dagegen nicht unter diesem Aspekt als rechtsmissbräuchlich angesehen, ohne sich insoweit mit den Rügen der Kläger näher auseinander zu setzen.25 Der Senat befindet sich in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung, wonach die Durchführung eines Formwechsels und sonstiger vorbereitender Maßnahmen zur Erreichung der Voraussetzungen eines umwandlungsrechtlichen Squeeze out – von Ausnahmefällen eines unredlichen, widersprüchlichen oder unverhältnismäßig die Minderheitsaktionäre beeinträchtigenden Verhaltens abgesehen – eine zulässige Nutzung der von Ge24 Florstedt, ZIP 2018, 1661 (1666); Wagner, DStR 2010, 1629 (1634); vgl. auch Schröder/ Wirsch, ZGR 2012, 660 (679). 25 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 34 (juris).

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setzes wegen zur Verfügung stehenden Gestaltungsinstrumente darstellt.26 Auch für den aktienrechtlichen Squeeze out wird der Formwechsel in eine AG zur Ermög­ lichung eines Squeeze out überwiegend in Abwesenheit solcher Annahmekonstella­ tionen ebenso wenig als rechtsmissbräuchlich angesehen27 wie die Wertpapierleihe zur Erreichung der erforderlichen Schwelle von 95%.28 b) Rechtsmissbrauch durch Vereitelung der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch den besonderen Vertreter? Das OLG Köln sah allerdings ausreichende Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch darin, dass der verschmelzungsrechtliche Squeeze out einer Vereitlung der (weiteren) Verfolgung von Ansprüchen der Strabag AG gegen die Strabag SE durch den besonderen Vertreter im Zusammenhang mit den konzerninternen Veräußerungsmaßnahmen diente. Das Erlöschen der Strabag AG im Zuge der Verschmelzung auf die Ilbau führe auch zum Erlöschen des Amtes des besonderen Vertreters. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Organe der Ilbau AG die Klage des besonderen Vertreters fortsetzen.29 Das OLG Köln setzt insoweit beim besonderen Vertreter und der von ihm betriebenen Verfolgung von Schadenersatzansprüchen an, obwohl diese nicht in erster Linie zu Gunsten der Minderheitsaktionäre erfolgt, sondern zu Gunsten der (abhängigen) AG. Die Auffassung des OLG Köln, dass durch den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out die weitere Verfolgung vereitelt würde, unterstellt pflichtwidriges Verhalten der Organe des aufnehmenden Rechtsträgers Ilbau AG, die bestehende Schadenersatzansprüche der übertragenden Strabag AG nach deren Erlöschen weiterver­ folgen müssten. Nach der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH sind sie grundsätzlich zu einer Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen verpflichtet, wenn sie nach pflichtgemäßer Prüfung von deren Bestehen und deren Durchsetzbarkeit ausgehen müssen.30 Ohnehin kam es vorliegend vorrangig für die Beurteilung eines Rechtsmissbrauchs auf die Frage an, ob zu Gunsten der Minderheitsaktionäre Rechtsbehelfe zur Ver­ fügung stehen, mit denen sie eine gerichtliche Berücksichtigung etwaiger Schadener26 OLG Hamburg v. 14.6.2012 – 11 AktG 1/12, Rz. 38 (juris); Bühler, BB 2018, 2886 (2890 ff.); Bungert/Wettich, DB 2011, 1500 (1501); Diekmann in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl. 2017, § 62 Rz. 32; Fisch, a.a.O. (Fn. 22), 2015, S. 233, 241 ff.; Grunewald in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 62 Rz. 50, 52; Habersack in Habersack/Wicke, UmwG, 2019, § 62 Rz. 63; Kiefner/ Brügel, AG 2011, 525 (534); Schockenhoff/Lumpp, ZIP 2013, 749 (751); Stephanblome, AG 2012, 814 (818). 27 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-KonzernR, 8. Aufl. 2016, § 327a AktG Rz. 27, 29; Hoger in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 195 Rz. 24 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 327a Rz. 21. 28 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 302/06, BGHZ 180, 154 (160): Lindner. 29 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 32 f. (juris). 30 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244: ARAG/Garmenbeck; BGH v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26; BGH v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, Rz. 15 (juris).

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satzansprüche erreichen können. Ist das der Fall, kann der Vorwurf eines Rechtsmissbrauchs auch unter dem Aspekt des Erlöschens der Verfolgung von Ansprüchen durch einen besonderen Vertreter nicht greifen. Dementsprechend hielt es das OLG München für rechtmäßig, dass die HVB nach erfolgtem Squeeze out der Minderheitsaktionäre mit den Stimmen des Alleinaktionärs UniCredit die zuvor bei Stimmverbot der UniCredit durchgesetzte Bestellung des besonderen Vertreters zur Verfolgung von Schadenersatzansprüchen der HVB im Zusammenhang mit der Veräußerung ihrer Beteiligung an der Bank Austria und weiterer osteuropäischer Bankaktivitäten widerrief. Das OLG München sah keinen Anlass für ein Stimmverbot der UniCredit wegen Richtens in eigener Sache gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 AktG noch erst recht Anhaltspunkte für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten.31 Das OLG Köln hat sich mit dieser Entscheidung nicht auseinandergesetzt. Für die Beschlussfassung über einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze out, der (ebenfalls) zum Erlöschen des Amtes des besonderen Vertreters führt, kann jedoch nichts anderes gelten. c) Unzulässiger Sondervorteil wegen Nichtberücksichtigung von Schadenersatzansprüchen bei der Barabfindung? aa) Meinungsstand zur Berücksichtigung im Spruchverfahren Rechtsmissbräuchlich oder treuepflichtwidrig32 konnte daher im vorliegenden Fall die Beschlussfassung über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out allenfalls dann sein, wenn durch diesen jede Berücksichtigung von Schadenersatzansprüchen der Strabag AG gegen die Strabag SE zu Gunsten der Minderheitsaktionäre vereitelt wurde. Insoweit bedurfte es keiner Befassung des OLG Köln mit der Frage, ob überhaupt die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen für Schadenersatzansprüche der Minderheitsaktionäre vorlagen und ob die damit verbundenen Streitfragen im Freigabeverfahren geprüft werden können.33 Vielmehr durfte sich das OLG Köln auf die Prüfung der Frage beschränken, ob behauptete Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren berücksichtigt werden können. Grundsätzlich können Aktionäre Rügen betreffend die Angemessenheit der Ermittlung der Barabfindung für Zwecke eines Squeeze out nicht im Wege der Unwirksamkeitsklage geltend machen, weil sie insoweit ins Spruchverfahren verwiesen sind, § 327f Satz 1 AktG i.V.m. § 62 Abs. 5 Satz 8 UmwG. Sofern die Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung im Spruchverfahren auch etwaige werterhöhende Schadenersatzansprüche erfasst, kann eine auf die Nichtberücksichtigung derartiger Schadenersatzansprüche gestützte Klage weder unter dem Aspekt eines Rechtsmissbrauchs noch einer Treuepflichtverletzung Erfolg haben. 31 OLG München v. 3.3.2010 – 7 U 4744/09, Rz. 37 ff., 42 (juris); Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch BGH v. 12.7.2011 – II ZR 58/10 (juris); abweichend noch LG München I v. 28.9.2009 – 5 HK O 21656/08. 32 Näher zur Abgrenzung Bühler, BB 2018, 2886 (2890 ff.); Florstedt, ZIP 2018, 1661 (1663 ff.). 33 Vgl. zur (fehlenden) Berücksichtigungsfähigkeit von Bewertungsrügen im Freigabever­ fahren OLG München v. 18.12.2013 – 7 AktG 2/13, Rz. 9 (juris): Curanum; dazu kritisch Decher in FS Seibert (erscheint 2019).

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Das OLG Köln weist insoweit zutreffend darauf hin, dass die Berücksichtigung von Schadenersatzansprüchen in Spruchverfahren streitig ist. Gesichert ist lediglich, dass  die Berücksichtigung individueller Schadenersatzansprüche der Aktionäre im Spruchverfahren unzulässig ist. Denn derartige Ansprüche erhöhen nicht (als Sonderwert) den Wert des für Zwecke der Barabfindung zu bewertenden Unternehmens, weil sie nicht gleichzeitig auch dem Unternehmen zustehen. Individuelle Ansprüche der Aktionäre sind deshalb außerhalb des Spruchverfahrens im ordentlichen Rechtsweg zu verfolgen.34 Ebenso ist gesichert, dass es nicht Aufgabe des Richters im Spruchverfahren ist, nicht hinreichend konkretisierte und substantiierte Ansprüche der Gesellschaft gegen Dritte zu prüfen. Der (eingeschränkte) Amtsermittlungsgrundsatz der Gerichte in Spruchverfahren macht es nicht erforderlich, dass unsubstantiierten Behauptungen von Antragstellern nachgegangen wird. Um derartige Sachverhalte ging es auch in den vom OLG Köln gegen die Berücksichtigung von Schadenersatz­ ansprüchen im Spruchverfahren angeführten Entscheidungen des OLG Celle und des OLG Stuttgart.35 In diesen Entscheidungen finden sich allerdings obiter dictum weitergehende Aussagen dahingehend, dass Schadenersatzansprüche des zu bewertenden Unternehmens gegen das herrschende Unternehmen nur dann im Spruch­ verfahren werterhöhend berücksichtigt werden können, wenn sie unstreitig oder rechtskräftig festgestellt sind und deshalb als gesicherter Vermögensgegenstand der Gesellschaft qualifiziert werden können. Streitigkeiten zwischen der zu bewertenden Gesellschaft und ihren (vermeintlichen) Schuldnern gehörten nicht in das Spruchverfahren, sondern in ein gesondertes Erkenntnisverfahren.36 Demgegenüber sind im Einzelfall hinreichend konkretisierte und substantiierte Schadenersatzansprüche von den Gerichten im Spruchverfahren überprüft worden. So hat das OLG Düsseldorf entschieden, dass eine Schadenersatzforderung gemäß §§ 117, 317 AktG im Spruchverfahren zu berücksichtigen sei, wenn sie sich mit hinreichender Sicherheit im Spruchverfahren feststellen lasse und damit das Vermögen der Gesellschaft erhöhe; gegebenenfalls sei ein Abschlag im Hinblick auf die Durchsetz­ barkeit der Forderung zu machen.37 Im konkreten Fall wurde das Bestehen von Schadenersatzansprüchen vom OLG Düsseldorf jedoch schon aus Rechtsgründen abgelehnt.38 Diese auch vom Senat angeführte Entscheidung ist von besonderer Bedeutung, weil das OLG Düsseldorf (zweitinstanzlich) im Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit zur Barabfindung der außenstehenden Strabag-Aktionäre zuständig ist. Die Auffassung des OLG Düsseldorf zur Berücksichtigungsfähigkeit 34 OLG Stuttgart v. 15.10.2013 – 20 W 3/13, Rz. 162, 167 (juris). 35 OLG Celle v. 19.4.2007 – 9 W 53/06, Rz. 17 (juris); OLG Stuttgart v. 4.2.2000 – 4 W 15/98, Rz. 35 (juris); ebenso OLG München v. 5.5.2015 – 31 Wx 366/13, Rz. 99 (juris): HRE; OLG Frankfurt v. 15.2.2010 – 5 W 52/09, Rz. 90 (juris). 36 OLG Celle 1 v. 9.4.2007 – 9 W 53/06, Rz. 17 (juris); OLG Stuttgart v. 4.2.2000 – 4 W 15/98, Rz. 35 (juris); ebenso OLG München v. 15.12.1964 – AllgReG 11/38-40/60, AG 1965, 139; LG Düsseldorf v. 16.12.1987 – 34 AktE 1/82, 3. Orientierungssatz (juris); vgl. auch Paulsen in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2015, § 305 Rz. 139; Riegger/Gayk in KölnKomm AktG, 3. Aufl. 2013, Anhang § 11 SpruchG, Rz. 53. 37 OLG Düsseldorf v. 16.10.1990 – 19 W 9/88, Rz. 64 ff., 70 (juris): DAB/Hansa. 38 OLG Düsseldorf v. 16.10.1990 – 19 W 9/88, Rz. 72 ff., 77 ff. (juris).

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von Schadenersatzansprüchen der bewerteten Gesellschaft im Spruchverfahren wird auch vom OLG Frankfurt/M. und von Egger, Richter am OLG Düsseldorf im aktuell für Spruchverfahren zuständigen Senat, geteilt.39 Nach einer neueren Literaturauffassung können strittige Schadenersatzansprüche des zu bewertenden Unternehmens gegen das herrschende Unternehmen ebenfalls grundsätzlich in Spruchverfahren berücksichtigt werden; allerdings ist insoweit ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum des Vorstands der zu bewertenden Gesellschaft ­anzuerkennen, ob er bei pflichtgemäßer Prüfung Schadenersatzansprüche als werterhöhend berücksichtigt.40 Das OLG Köln war offenkundig der Auffassung, dass Antragstellern im Spruchverfahren eine hinreichend konkrete und substantiierte Darlegung von Anhaltspunkten für Schadenersatzansprüche gelingen wird. Es hat nur die vom besonderen Vertreter zusätzlich geltend gemachten unbezifferten Ansprüche als nicht hinreichend substantiiert verworfen. Gleichwohl lässt der Senat die Frage offen, ob ausreichend konkretisierte und substantiierte Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren berücksichtigt werden können. Jedenfalls vor einer Klärung dieser Frage sei es nicht ausgeschlossen, dass durch den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out den Minderheitsaktionären der Strabag AG die Möglichkeit genommen werde, mit der Rüge des Bestehens von Schadenersatzansprüchen im Spruchverfahren gehört zu werden. Damit stehe der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs wegen Vereitlung der Berücksichtigung ihrer Ansprüche im Raum und sei nicht offensichtlich unbegründet.41 bb) Stellungnahme Damit ist das OLG Köln nicht mit der erforderlichen Prüfungsintensität der Beurteilung der offensichtlichen Unbegründetheit der Rüge der Kläger (und Antragsgegner) nachgegangen. Insoweit durfte der Senat nicht dabei stehenbleiben, dass eine Berücksichtigung etwaiger Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren strittig und damit ungesichert sei. Es hat insoweit eine umfassende rechtliche Prüfung zu erfolgen, weil nicht der für die Prognose der offensichtlichen Unbegründetheit erforderliche Prüfungsaufwand entscheidend ist, sondern die hinreichende Sicherheit des Ergebnisses der Prüfung.42 Die fehlende höchstrichterliche Klärung einer Rechtsfrage ist nicht ausreichend; entscheidend ist allein, ob das Gericht nach seiner Überzeugung zu dem 39 OLG Frankfurt v. 15.2.2010 – 5 W 52/09, Rz. 89 (juris); Großfeld/Egger/Tönnes, Recht der Unternehmensbewertung, 8. Aufl. 2016, Rz. 1198 f.; ebenso Hüttemann/Meinard in Fleischer/Hüttemann, RechtsHdb Unternehmensbewertung, 2015, § 7 Rz. 49. 40 Decher in FS Maier-Reimer, 2010, S. 57 (66); Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktienund GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 305 AktG Rz. 73a; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 305 Rz. 27; Schröder/Habbe, NZG 2011, 845 (846 f.); Stephan in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 305 Rz. 82. 41 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 39 ff. (juris). 42 BegrRegE zu §  246a AktG, BT-Drucks 15/5092, S.  29; OLG Nürnberg v. 14.2.2018  – 12 AktG 1970/17, Rz. 45 (juris); OLG Düsseldorf v. 22.6.2017 – I-6 AktG 1/17, AG 2017, 900 (902); OLG Stuttgart v. 2.2.2014 – 20 AktG 1/14, AG 2015, 163 (164); OLG München v. 16.1.2014 – 23 AktG 3/13, ZIP 2014, 472 (473).

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hinreichend sicheren Ergebnis gelangen kann, dass die Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet ist und eine andere Beurteilung nicht oder kaum vertretbar erscheint.43 Dementsprechend hätte sich das OLG Köln näher mit den Argumenten für oder gegen die Berücksichtigung strittiger Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren auseinandersetzen müssen. Diese Prüfung hätte ergeben, dass des Bestehen möglicher Schadenersatzansprüche der Strabag AG gegen die Strabag SE in Übereinstimmung mit der nunmehr h.M. jedenfalls grundsätzlich im Spruchverfahren überprüft werden kann. Genauer geht es in Fällen wie Strabag um die Beurteilung, ob sich der Vorstand bei der Vereinbarung der Konditionen für den Kauf oder Verkauf von Unternehmen an die Konzernmutter und hier insbesondere bei der Vereinbarung von Kauf- oder Verkaufspreis und anderen wesentlichen Konditionen pflichtwidrig verhalten hat und dadurch Schadenersatzansprüche gegen ihre Organe und gegen das herrschende Unternehmen gemäß §§  311, 317 AktG entstanden sind bzw. ob eine verbotene Einlagenrückgewähr gemäß §§ 57, 62 AktG in Rede steht. Da alle Vermögenswerte eines Unternehmens entweder im Rahmen der Ertragswertermittlung des betriebsnotwendigen Vermögens oder als gesonderte Sonderwerte bei der Ermittlung einer Barabfindung berücksichtigt werden müssen, können aus der maßgeblichen ex ante-Sicht strittige, aber hinreichend konkretisierte und substantiierte Schadenersatzansprüche nicht ohne weiteres mit null angesetzt werden. Sie sind entweder wert­ erhöhend zu berücksichtigen, wenn die insoweit erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen zum Bewertungsstichtag mit ausreichender Sicherheit vorlagen, wobei Unsicherheiten mit Abschlägen Rechnung getragen werden kann. Oder sie sind nicht zu berücksichtigen, wenn eine Überprüfung ergibt, dass der Vorstand der zu bewertenden Gesellschaft zum Bewertungsstichtag zu Recht die Grundlagen für einen Schadenersatzanspruch oder deren Durchsetzbarkeit verneint hat. Eine Berücksichtigung lediglich unstrittiger oder rechtskräftig festgestellter Ansprüche wäre mit dem Grundsatz einer angemessenen Unternehmensbewertung nicht vereinbar. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten: Hinreichend konkretisierte und substantiierte Schadenersatzansprüche des im Rahmen einer Strukturmaßnahme wie Verschmelzung, verschmelzungsrechtlicher Squeeze out und aktienrechtlicher Squeeze out sind im Spruchverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Unternehmensbewertung grundsätzlich zu berücksichtigen. Dementsprechend führt die Beschlussfassung über eine derartige Strukturmaßnahme auch bei einem gleichzeitigen oder nachfolgend beschlossenen Erlöschen des Amtes des besonderen Vertreters nicht zur Vereitelung der Berücksichtigung von Schadenersatzansprüchen. Eine ­derartige Beschlussfassung kann dann auch nicht unter diesem Aspekt rechtsmissbräuchlich sein.44 43 OLG Nürnberg v. 14.2.2018 – 12 AktG 1970/17, AG 2018, 406 (409); OLG Düsseldorf v. 22.6.2017 – I-AktG 1/17, AG 2017, 900 (902); OLG Stuttgart v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, AG 2015, 163 (164); Decher in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2019, § 16 Rz. 51; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, §  246a AktG Rz.  5; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 246a AktG Rz. 17; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 2019, § 16 Rz. 47. 44 Ebenso Goslar, EWiR 2018, 139 (140); Rieckers, BB 2019, 107 (113).

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cc) Exkurs: Eingeschränkte Überprüfung der Entscheidung des Vorstands zur Nichtberücksichtigung von Schadenersatzansprüchen im Spruchverfahren Auch wenn sich das OLG Köln im Freigabeverfahren zu der Auffassung hätte bekennen müssen, dass hinreichend konkretisierte und substantiierte Schadenersatzansprüche grundsätzlich im Spruchverfahren berücksichtigt werden müssen, bedurfte es keiner weiteren Aussage des Senats über den Umfang dieser gerichtlichen Überprüfung. Zutreffend ist insoweit die Annahme einer nur beschränkten gerichtlichen Überprüfung bei Anerkennung eines nicht gerichtlich überprüfbaren Beurteilungsspielraums des Vorstands. Denn Schadenersatzansprüche können nur dann im Spruchverfahren berücksichtigt werden, wenn zum Bewertungsstichtag aus der ex ante-­ Perspektive des Vorstands der zu bewertenden Gesellschaft ein Mittelzufluss mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist. Insoweit hat der Vorstand eine pflichtgemäße Beurteilung (Prognoseentscheidung) der Erfolgswahrscheinlichkeit einer etwaigen (gerichtlichen) Durchsetzung der möglichen Ansprüche unter Zugrundelegen der zum Stichtag erkennbaren Umstände vorzunehmen. Die Berücksichtigung potentieller Ansprüche der Gesellschaft ist insoweit eine unternehmerische Entscheidung, bei der ein weiter Beurteilungsspielraum besteht. Für Prognoseentscheidungen zur Berücksichtigung angeblicher Schadenersatzansprüche gilt insoweit dasselbe wie bei Vorstandsentscheidungen im Rahmen der Unternehmensplanung. In beiden Fällen handelte es sich um eine Prognose hinsichtlich der künftigen Vermögenszuflüsse des Unternehmens. Für die Unternehmensplanung ist ein nur eingeschränkter gerichtlicher Prüfungsmaßstab im Spruchverfahren anerkannt.45 Nur ein weiter Beurteilungsspielraum des Vorstands bei der Frage der Berücksichtigung etwaiger Schadenersatzansprüche gegen das herrschende Unternehmen wird auch den materiell-rechtlichen Anforderungen an das Bestehen von Schadenersatz­ ansprüchen gerecht. Voraussetzung für Ansprüche gemäß §§  311, 317 AktG und §§ 57, 62 AktG ist eine eindeutige und im Fall der §§ 311, 317 AktG zusätzlich pflichtwidrige Nachteiligkeit der Konditionen einer Related Party Transaction. Daran fehlt es, wenn der Vorstand gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf der Grundlage angemessener Information bei Eingehen der betreffenden Related Party Transaction davon ausgehen durfte, die Konditionen und insbesondere der Kaufpreis oder der Verkaufserlös seien unter Bedingungen at arm’s length erfolgt und damit nicht nachteilig. Nur wenn sich die Einschätzung des Vorstands insoweit außerhalb einer Bandbreite vertretbarer Erwägungen bewegt, ist sie pflichtwidrig und vom Gericht im Spruchverfahren zu korrigieren. Durch eine im Spruchverfahren eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit der Prognoseentscheidung des Vorstands zu Mittelzuflüssen aus strittigen Schadenersatz­ ansprüchen können auch Wertungswidersprüche vermieden werden, auf die das 45 BVerfG v. 24.5.2012 – 1 BvR 3221/10, Rz. 30 (juris); OLG München v. 16.10.2018 – 31 Wx 41/16, Rz. 24 (juris); OLG Stuttgart v. 27.7.2015 – 20 W 5/14, Rz. 75 (juris); OLG Düsseldorf v. 11.5.2015 – I-26 W 2/13, AG 2015, 573 (575); OLG Frankfurt v. 5.3.2012 – 21 W 11/11, NZG 2012, 549 (550).

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OLG Celle und das OLG Stuttgart ihre ablehnende Haltung zur Berücksichtigung solcher Ansprüche gestützt hatten. Denn eine uneingeschränkte Überprüfung im Spruchverfahren würde grundlegende zivilprozessuale Grundsätze aushebeln: Im Spruchverfahren gilt anders als im ordentlichen Zivilprozess nicht der Beibringungsgrundsatz, sondern ein (eingeschränkter) Amtsermittlungsgrundsatz. Wäre das Gericht im Spruchverfahren verpflichtet, von Amts wegen den von den Antragstellern dargelegten Schadenersatzansprüchen nachzugehen und den Sachverhalt durch Beweiserhebung vollumfänglich aufzuklären, würden die Darlegungs- und Beweisregeln, wie sie für die Erhebung einer Zahlungsklage der zu bewertenden Gesellschaft im ordentlichen Gerichtsverfahren gegen das herrschende Unternehmen oder für Unwirksamkeitsklagen von Aktionären gegen eine Beschlussfassung der Hauptversammlung gelten, außer Kraft gesetzt. Ähnliches gilt für die im ordentlichen Zivilprozess bestehende Verpflichtung des Klägers zur Leistung eines Vorschusses für Gerichts- und Sachverständigenkosten. Schließlich würde das Spruchverfahren bei einer uneingeschränkten Überprüfung von Schadenersatzansprüchen noch komplexer und die ohnehin schon lange Verfahrensdauer von Spruchverfahren noch verlängert. All diesen Bedenken muss aber nicht durch gänzliche Nichtberücksichtigung von strittigen Schadenersatzansprüchen in Spruchverfahren Rechnung getragen werden, sondern es genügt die Anerkennung eines nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums des Vorstands der bewerteten Gesellschaft. dd) Berücksichtigung im konkreten Spruchverfahren dennoch nicht ausreichend sichergestellt? Allerdings sah sich das OLG Köln möglicherweise vor das Dilemma gestellt, dass selbst ein eigenes entsprechendes Bekenntnis nicht rechtlich sichergestellt hätte, dass im Spruchverfahren tatsächlich eine derartige Überprüfung von strittigen Schadenersatzansprüchen erfolgt. Insoweit bestand im vorliegenden Freigabeverfahren die Besonderheit, dass zwar das Hauptsacheverfahren betreffend die Unwirksamkeitsklage zum verschmelzungsrechtlichen Squeeze out zweitinstanzlich vom OLG Köln zu beurteilen wäre, nicht jedoch das Spruchverfahren. Dennoch rechtfertigt diese Unsicherheit nicht die Annahme einer fehlenden offensichtlichen Unbegründetheit der Rügen der Strabag-Kläger. Die Prüfung im Freigabeverfahren ist nicht nur dann eindeutig, wenn die Gerichte bei der Unwirksamkeitsklage oder in einem Spruchverfahren an die Rechtsauffassung des OLG gebunden sind. Dies zeigt sich schon daran, dass sowohl bei Unwirksamkeitsklagen als auch in Spruchverfahren die Möglichkeit einer letztinstanzlichen Entscheidung des BGH über rechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung besteht. Zudem hätte das OLG Köln bei einem klaren Bekenntnis zur (grundsätzlichen) Überprüfbarkeit strittiger Schadenersatzansprüche im Spruchverfahren von einer faktisch ausreichend sicheren Berücksichtigung ausgehen können. Es wäre kaum zu erwarten gewesen, dass das erstinstanzlich zuständige LG Köln sich über die frühere Entscheidung des OLG Düsseldorf, die entsprechende Auffassung eines Mitglieds des aktuellen OLG-Senats sowie deren Unterstützung durch das OLG Köln hinweggesetzt hätte.

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ee) Ergebnis Das OLG Köln hätte daher im Freigabeverfahren zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Rügen der Kläger zur angeblichen Unterbewertung von konzerninternen Transaktionen zwischen der Strabag AG und der Strabag SE und deren Konzern­ gesellschaften im Spruchverfahren überprüft werden können. Der Vorwurf einer Rechtsmissbräuchlichkeit oder des Erstrebens von Sondervorteilen durch die Strabag SE der die Ilbau AG im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über den verschmelzungsrechtlichen Squeeze out hätte daher als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen werden müssen. 2. Interessenabwägung Auf der Grundlage der Annahme einer nicht offensichtlich unbegründeten Klage der Strabag-Minderheitsaktionäre hatte sich das OLG Köln mit der Frage zu befassen, ob die Interessen der Strabag AG und ihrer außenstehenden Aktionäre an einer Eintragung das Interesse der klagenden Minderheitsaktionäre an einem Aufschub bzw. einem Unterbleiben der Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out überwogen. Die von der Antragstellerin angeführten drohenden Nachteile wegen Kosten für die Einberufung und Durchführung einer Publikums-Hauptversammlung, für höhere kapitalmarktrechtliche Transparenz und das drohende Unterbleiben der Nutzung von Verlustvorträgen sind als wesentliche Gesichtspunkte für einen Vollzug (auch) eines verschmelzungsrechtlichen Squeeze out anerkannt.46 Die drohenden Nachteile waren von der Strabag AG auch ausreichend durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht worden. Diese Nachteile waren mit wirtschaftlichen Nachteilen abzuwägen, die den Klägern und Antragsgegnern durch die Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out drohen. Den mit der Eintragung verbundenen Ausschluss der Kläger aus der Strabag AG hat das OLG Köln mit Recht nicht als einen wesentlichen Nachteil anerkannt. Da das Gesetz mit Erreichen der erforderlichen Schwelle einer Beteiligung von 90% diese Möglichkeit zur Verfügung stellt, kann in erster Linie das Interesse der Kläger an einer angemessenen Barabfindung berücksichtigt werden. Da die Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung gemäß § 62 Abs. 10 Satz 8 UmwG i.V.m. § 327f AktG im Spruchverfahren erfolgt, ist insoweit eine ausreichende Berücksichtigung ihrer Interessen sichergestellt. Kann den Interessen der Antragsgegner hinsichtlich der Folgen einer Vollziehung der Strukturmaßnahme (hier: verschmelzungsrechtlicher Squeeze out) auch auf andere Weise als durch Versagung der Freigabe Rechnung getragen werden, so wiegen diese Interessen bei der Abwägung nicht schwer und stehen einer Eintragung nicht entgegen.47 46 Rechtsausschuss zu §  246a AktG, BT-Drucks 16/13098, S.  42; OLG Saarbrücken v. 7.12.2010  – 4  AktG 476/10, NZG 2011, 358 (360); OLG Düsseldorf v. 27.8.2001  – 6 W 28/01, ZIP 2001, 1717 (1720); Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 79; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 8a. 47 BegrRegE, BT-Drucks 12/6699, S.  89; OLG Köln v. 14.12.2017  – 18 AktG 1/17, Rz.  55 (­juris); Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 88; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 2019, § 16 Rz. 61.

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Lediglich hinsichtlich der werterhöhenden Berücksichtigung der geltend gemachten Schadenersatzansprüche konnte die ausreichende Berücksichtigung fraglich sein, wenn man die Überprüfung von hinreichend substantiierten Rügen  – zu Unrecht (III.1.c)) – im Spruchverfahren nicht für ausreichend gesichert hält. Da die Antragsgegnerin jedoch insoweit die Ansprüche im Spruchverfahren unstreitig gestellt und eine entsprechende Bankgewährleistung beigebracht hatte, war auch insoweit nach sachgerechter Auslegung der Erklärung durch das OLG Köln eine Berücksichtigung sichergestellt. Die Zusage der Ilbau als der künftigen Antragsgegnerin im Spruchverfahren durfte insoweit vom OLG Köln berücksichtigt werden, weil es für die Interessenabwägung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt. Die Frage, ob nicht auch eine weniger weitreichende Zusage der Ilbau ausreichend gewesen wäre für die Annahme eines überwiegenden Eintragungsinteresses, stellte sich wohl für das OLG Köln nicht. Denkbar wäre etwa die Zusage gewesen, im Fall einer Nichtberücksichtigung der Rügen von Schadenersatzansprüchen im gerichtlichen Spruchverfahren durch die erste Instanz insoweit ein freiwilliges Spruchverfahren im Wege einer Schiedsgerichtsvereinbarung zuzulassen. Auch derartige verbindliche Angebote sind an sich zur Sicherstellung einer Berücksichtigung der Interessen der Minderheitsaktionäre ausreichend und rechtfertigen dann die Annahme eines Vorrangs des Eintragungsinteresses.48 Dagegen wäre es nicht ausreichend gewesen, die Antragsgegner auf die Möglichkeit gemäß §§ 327e, 319 Abs. 6 Satz 10 AktG i.V.m. § 62 Abs. 5 Satz 8 UmwG zu verweisen, individuell einen Schaden wegen Vollziehung eines nachträglich im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erkannten verschmelzungsrechtlichen Squeeze out geltend zu machen. Denn zum einen kommt es für eine Kompensation eines möglichen Schadens der Kläger darauf an, ob im Spruchverfahren die Ansprüche geprüft werden, während im Hauptsacheverfahren ohnehin nicht die Festsetzung einer höheren Barabfindung erreicht werden kann. Zum anderen wäre auch eine individuelle Verfolgung von Schadenersatzansprüchen für die Kläger angesichts der damit verbundenen Last der Darlegung und der Kostentragung kaum zumutbar.49 Das OLG Köln hat damit jedenfalls angesichts der Erklärung der Ilbau und deren Unterlegung durch eine Bankgarantie zu Recht ein vorrangiges Vollzugsinteresse der Antragstellerin bejaht. 3. Besonders schwerer Rechtsverstoß Abschließend hatte sich der Senat mit der Frage zu befassen, ob der Eintragung die besondere Schwere des geltend gemachten Rechtsverstoßes entgegensteht. Die Anforderungen an das Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes sind ausweis48 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 88, 98; Gehling in Semler/Stengel, UmwG, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 21; Rieckers/Cloppenburg in Habersack/Wicke, UmwG, 1. Aufl. 2019, § 16 Rz. 61. 49 Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, § 16 Rz. 98; abweichend Fronhöfer in Widmann/ Mayer, UmwG, Stand Januar 2010, § 16 Rz. 182.

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lich der Gesetzesmaterialien hoch: Erforderlich ist, dass der Rechtsverstoß derart krass rechtswidrig ist, dass eine Eintragung und damit die Durchführung des Beschlusses ohne vertiefte Prüfung im Hauptsacheverfahren für die Rechtsordnung unerträglich wäre.50 Die Vorwürfe der Kläger hinsichtlich einer Verletzung von Stimmrechtsmitteilungen gemäß §§ 21, 28 WpHG und einer Verletzung des Auskunftsrechts der Aktionäre in der Hauptversammlung gemäß §  131 AktG konnten keinen besonders schweren Rechtsverstoß begründen, wie der Senat zu Recht festgestellt hat.51 Auf der Grundlage der Auffassung des OLG Köln, dass der Vorwurf eines rechtsmissbräuchlich verfolgten verschmelzungsrechtlichen Squeeze out nicht offensichtlich unbegründet war, war dagegen insoweit die Annahme eines besonders schweren Rechtsverstoßes nicht von vornherein fernliegend. Allerdings trägt für das Vorliegen eines besonders schweren Rechtsverstoßes der Antragsgegner die Last der Darlegung und Glaubhaftmachung.52 Das Vorliegen von Schadenersatzansprüchen der Strabag AG gegen die Strabag SE war in tatsächlicher Hinsicht streitig. Eine Glaubhaftmachung der behaupteten tatsächlichen Vorwürfe zur ausreichenden Überzeugung des Senats dürfte den Klägern schwergefallen sein (vgl. auch oben II.1.c). Darauf kam es aber letztlich nicht mehr an. Auch behauptete schwere Rechtsverstöße stehen der Freigabe einer Eintragung nicht entgegen, wenn die Folgen für die Kläger angemessen ausgeglichen werden können. Dies hat der Senat in Übereinstimmung mit den Gesetzesmaterialien und seiner ständigen Rechtsprechung in Freigabeverfahren zu Recht angenommen.53 Die gegenteilige Auffassung läuft auf eine Korrektur der klaren gesetzlichen Konzeption hinaus. Da durch die Unstreitigstellung der Schadenersatzansprüche deren Berücksichtigung im Rahmen der Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung ausreichend si50 BegrRegE zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/13098, S. 42. 51 OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 55, 56; OLG Köln v. 5.5.2014 – 18 U 28/14, AG 2015, 39 (40); OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 175/13, ZIP 2014, 263 (265); Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, Rz.  101; Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2018, §  16 Rz. 46b. 52 BegrRegE zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/13098, S. 42; OLG Nürnberg v. 14.2.2018 – 12 AktG 1970/17, Rz. 92 (juris); Bayer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  91 (102); Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a Rz. 9. 53 BegrRegE zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/11642, S. 41; Rechtsausschuss zu § 246a AktG, BT-Drucks 16/13098, S. 42; OLG Köln v. 14.12.2017 – 18 AktG 1/17, Rz. 54, 56; OLG Köln v. 18.12.2015 – 18 U 158/15: Postbank (nicht veröffentlicht); OLG Köln v. 5.5.2014 – 18 U 28/14, Rz. 29 (juris): Generali; OLG Köln v. 13.1.2014 – 18 U 157/13, ZIP 2014, 263 (265): Solarworld; Decher in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, §  16 Rz.  92; Drescher in Henssler/ Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246a AktG Rz. 9; Englisch in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2018, §  246a Rz.  44, 45; abweichend Florstedt, ZIP 2018, 1661 (1668); Heidel, Referat 72. DJT (erscheint 2019); Noack in FS Baums, 2017, S. 845 (868); Schwab in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246a AktG Rz. 26; vgl. auch Nietzsch, NZG 2018, 1334 (1339).

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chergestellt war, konnte nicht mehr davon ausgegangen werden, dass ein etwaiger besonders schwerer Rechtsverstoß nicht angemessen zu kompensieren wäre. Das OLG Köln hat damit im Ergebnis zu Recht der Eintragung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze out der Strabag AG die Freigabe erteilt.

IV. Zusammenfassung, Gesamtbeurteilung Das OLG Köln hat im Strabag-Fall im Ergebnis strittige Ansprüche gegen die Konzernmutter als Hindernis für eine Freigabe von Verschmelzung und Squeeze out angesehen. Nur aufgrund des Unstreitigstellens der Ansprüche im Freigabeverfahren durch die zukünftige Antragsgegnerin erteilte das OLG Köln die Freigabe. Das Ergebnis ist unbefriedigend, weil es zu einer weitreichenden Privilegierung von Minderheitsaktionären führt, wenn sie Related Party Transactions angreifen. Gerade der Fall Strabag zeigt, dass Minderheitsaktionäre bereits durch die Behauptung von Schadenersatzansprüchen ein Stimmverbot der betroffenen Konzernmutter in der Hauptversammlung auslösen und damit eine Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einen besonderen Vertreter gemäß § 147 AktG durchsetzen können. Die Konzernmutter kann darauf zwar, wie das OLG Köln insoweit zu Recht anerkennt, mit dem Gestaltungsmittel eines Squeeze out oder eines verschmelzungsrechtlichen Squeeze out reagieren. Dies aber nur um den Preis des Unstreitigstellens der behaupteten Schadenersatzansprüche. Schon die Möglichkeit, ohne Darlegung hinreichender Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten der Gesellschaft und ihrer Konzernmutter unter Stimmverbot des herrschenden Unternehmens die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einen besonderen Vertreter gemäß § 147 AktG durchsetzen zu können, erscheint als nicht gerechtfertigte Privilegierung gegenüber den hohen Anforderungen für die gerichtliche Anordnung einer Sonderprüfung gemäß § 142 AktG oder eine gerichtlich angeordnete Verfolgung von Schadenersatzansprüchen gemäß § 147 AktG.54 Jedenfalls ist es überschießend, im Freigabeverfahren betreffend eine Verschmelzung, einen verschmelzungsrechtlichen oder aktienrechtlichen Squeeze out die antragstellende Gesellschaft vor die Wahl zu stellen, dass Scheitern der Eintragung in Kauf zu nehmen oder die strittigen Schadenersatzansprüche unstreitig zu stellen. Bei ausreichender Konkretisierung und Substantiierung durch die Antragsteller ist die Frage des Bestehens strittiger Schadenersatzansprüche grundsätzlich einer Überprüfung im Spruchverfahren zugänglich. Die Antragsgegnerin hat dann im Spruchverfahren Anhaltspunkte dafür darzulegen, warum die Entscheidung des Vorstands der zu be­ wertenden Gesellschaft pflichtgemäß war, die Konditionen von Related Party Trans­ actions als nicht nachteilig anzusehen und deshalb keine Schadenersatzansprüche werterhöhend als Sonderwert zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings ein Beurteilungsspielraum des Vorstands anzuerkennen, der nur beschränkt einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Damit wird den Interessen der Minderheitsaktionäre und 54 Bayer, AG 2016, 637 (649); Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337 (338); Decher in FS Baums, 2017, S. 279 (296).

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Antragsteller im Spruchverfahren ausreichend Rechnung getragen, zumal im Spruchverfahren anders als im ordentlichen Gerichtsverfahren das Gericht von Amts wegen zu ermitteln hat und jedenfalls in erster Instanz die Antragsgegnerin die Kosten trägt. Spätestens nach Inkrafttreten von ARUG II und der damit verbundenen erhöhten Transparenz von Related Party Transactions und zusätzlicher Schutzmechanismen zu Gunsten der außenstehenden Aktionäre ist der Schutz der Minderheitsaktionäre bei strittigen Related Party Transactions ausreichend; einer zusätzlichen Bremse im Freigabeverfahren bedarf es nicht. Durch das Ineinandergreifen des deutschen Aktienkonzernrechts, der zusätzlichen Schutzregeln von ARUG II, der Regeln zu Sonderprüfung und besonderem Vertreter gemäß §§ 142 ff. AktG, dem Auskunftsrecht der Aktionäre in der Hauptversammlung gemäß § 131 AktG55 und der (beschränkten) Überprüfung im Spruchverfahren haben Minderheitsaktionäre ausreichende Möglichkeiten, Related Party Transactions einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Nachdem allerdings die zukünftige Antragstellerin im Spruchverfahren der Strabag notgedrungen die strittigen Ansprüche unstreitig gestellt hat, war die Freigabe der Eintragung durch das OLG Köln konsequent. Die damit verbundene werterhöhende Berücksichtigung der Schadenersatzansprüche entschied nicht nur die Interessenabwägung zu Gunsten der Strabag AG, sondern beseitigte gleichzeitig den nach Auffassung des OLG Köln (zu Unrecht) möglichen besonders schweren Rechtsverstoß. Die Berücksichtigung einer Kompensation bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsverletzung entspricht dem klaren gesetzlichen Konzept.

55 Näher zu den Voraussetzungen für Auskünfte zur Aufdeckung pflichtwidrigen Verhaltens der Verwaltung Decher in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 131 Rz. 179 ff.; Decher in FS Marsch-Barner, 2018, S. 129.

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Über die erweiterten Kontrollpflichten des Aufsichtsrats nach der CSR-Reform Inhaltsübersicht I. Die CSR-Berichterstattung im aktienrechtlichen Kontext 1. Inhalte und rechtssystematische Zusammenhänge der Berichtspflicht 2. Mögliche Folgen für die Überwachungsund Prüfungsbelastung des Aufsichtsrats II. Das Problem: Plausibilitätsprüfung oder Vollprüfung durch den Aufsichtsrat? 1. Problemskizze und Lösungsvorschläge 2. Kritik und eigener Lösungsansatz III. Handelsrechtliche Vorfragen zur ­Prüfungsverpflichtung des Wirt­ schaftsprüfers 1. Prüfungspflichtige CSR-Berichtsinhalte nach bisherigem Recht a) Nichtfinanzielle Leistungsindikatoren (§§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB) b) Abgrenzungsfragen c) Wesentlichkeitsvorbehalt 2. Prüfungspflichtige CSR-Berichtsinhalte nach neuem Recht

a) Beschreibung des „Geschäftsmodells“ (§ 289c Abs. 1 HGB) b) Zielfestlegungen nach § 289c Abs. 2 HGB c) Verwirklichungskonzepte nach § 289c Abs. 3 HGB 3. Ausnahme: Die Negativerklärung nach § 289c Abs. 4 HGB IV. Folgerungen für die Prüfungsund Überwachungspflichten des ­Aufsichtsrats 1. Prüfungspflichten gem. § 171 Abs. 1 AktG 2. Allgemeine Überwachungspflichten a) Reputation als ermessensleitender ­Gesichtspunkt b) „Sustainable Finance“ als ermessensleitender Gesichtspunkt V. Zusammenfassung

I. Die CSR-Berichterstattung im aktienrechtlichen Kontext 1. Inhalte und rechtssystematische Zusammenhänge der Berichtspflicht Eberhard Vetter durfte sich unlängst zu den ersten Autoren zählen, die die erweiterten Prüfungspflichten des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 1 S. 4 AktG n.F. zu kommentieren hatten, nachzulesen in Band 8 der 5. Auflage des ehrwürdigen „Großkommentars zum AktG“.1 Gegenstand der Erweiterung ist die „nichtfinanzielle Erklärung“ über Umwelt- und Sozialbelange im weitesten Sinne. Große und kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften haben in Wahrnehmung ihrer Verantwortung für derartige Belange, genannt „Corporate Social Responsibility“ (CSR), einen gesonderten „nichtfinanziellen Bericht“ zu veröffentlichen, sofern sie die Erklärung nicht bereits in ihren erweiterten Lagebericht aufgenommen haben; der Vorstand hat diesen Bericht zusammen mit dem Jahresabschluss dem Aufsichtsrat vorzulegen (§  170 Abs.  1 S.  3 1 E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 71 ff.

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AktG n.F.). In den einschlägigen §§ 289b, 289c HGB sowie den §§ 315b, 315c HGB für den Konzernlagebericht, mit denen der Gesetzgeber die CSR-Richtlinie EU/2014/95 zur pflichtgemäßen „Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen“ mit Wirkung ab 2017 umgesetzt hat, zeigt sich damit ein ungebrochener Trend zur kontinuierlichen Ausweitung der periodischen Rechnungslegungspflichten. Die hier durchschimmernde Rechtsidee einer staatlich verordneten Wohlfahrtsförderung auf Kosten privater Anlegermittel entspricht durchaus einer Entwicklungstendenz der modernen Mikroökonomik, deren Fokus sich schon lange nicht mehr auf überkommene Kernkompetenzen einer ertragsorientierten Ressourcengewinnung und -bewirtschaftung beschränkt, sondern („wirtschafts“-)ethische Gestaltungs- und Steuerungsziele aller Art als gleich- oder sogar vorrangig einstuft. In diesem Sinne hat sich auch die Unternehmenskultur geändert, wie die zunehmende Verbreitung interner Ethik-Kodices vornehmlich in der verarbeitenden Großindustrie erkennen lässt.2 Der Gesellschafts- und Bilanzrechtler mag bei alledem in der Rolle des fachfremden Beobachters verharren, solange kein rechtsnormativer Druck oder Zwang zur Verabreichung gemeinnütziger Wohltaten im Spiel ist, der über das Maß einer aktienrechtlich bereits vorgegebenen Gemeinwohlbindung der Unternehmensleitung hinausreicht.3 Bisher galt denn auch uneingeschränkt, dass Rechnungslegungsnormen zur ordnungsgemäßen Dokumentation bzw. Einschätzung historisch vollzogener und künftig angestrebter Zustände und Veränderungen verpflichten. Sie sind nicht zu dem Zweck erschaffen worden, künftige Zustände oder Veränderungen einzufordern oder Verhaltensanreize zu verabreichen, um Führungsentscheidungen in eine bestimmte Richtung zu lenken.4 Mit dieser systemprägenden Tradition hat nunmehr der Gesetzgeber in Befolgung der CSR-Richtlinienvorgabe radikal gebrochen. Abweichlerische Großunternehmen, die sich einer der neuen Zielvorgaben zur Verbesserung umwelt- beschäftigungs- und sozialpolitischer Rahmenbedingungen und zur Wahrung der Rechtstreue in- und außerhalb der eigenen Betriebsabläufe verschließen, sollen durch die Androhung öffentlicher Bloßstellung umerzogen werden.5 Als Publikationsmittel dient die turnusmäßige Lageberichterstattung zum Jahresabschluss. Sie dient künftig nicht mehr nur der Wiedergabe zukunftsbezogener Einschätzungen, die die „voraussichtliche Entwicklung mit ihren wesentlichen Chancen und Risiken“ für das Unternehmen betreffen (§  289 Abs.  1 S.  4, §  315 Abs.  1 S.  4 HGB), sondern der  rechtsnormativen Beeinflussung solcher Entwicklungen durch Verhaltenssteue2 Vgl. Wolf/Sureth-Sloane/Weißenberger, BWL greift gesellschaftlichen Wandel auf, FAZ v. 17.12.2018, S. 16; vgl. auch Klawitter, Umsatz und Moral, Der Spiegel Nr. 4/2019, S. 64. 3 Aktuelle Zusammenstellung bei Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 76 Rz. 26, 28 ff., 35 ff. m.w.N. 4 Hier liegt ein bedeutsamer Unterschied zu den lenkungspolitischen Regulierungszielen im Bilanzsteuerrecht. Kritisch zu den damit verbundenen Komplikationen aus rechtspolitischer Sicht Ekkenga/Safaei, DStR 2018, 1993 ff. 5 S. statt anderer Hennrichs, ZGR 2018, 206, 209; Fleischer, AG 2017, 509, 522, deren Interpretation durch die Materialien (Begr. RegE BT-Dr. 18/9982, S. 47) voll und ganz bestätigt wird; in der Sache ebenso, aber mit anderer Formulierung Mock in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2017, S.  127, 136 („ordnungspolitische Förderung einer nachhaltigen Unternehmenspolitik“) mit Darstellung der Historie.

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rung.6 Passives Verhalten unter Vernachlässigung umwelt- und sozialnützlicher Belange ist zwar nicht per se rechtswidrig. Durch die Verpflichtung zur Veröffentlichung einer entsprechenden Negativerklärung, die „klar und begründet zu erläutern“ ist (§ 289c Abs. 4, § 315c Abs. 1 HGB), soll jedoch eine Art Prangerwirkung erzeugt werden. Der drohende Prestigeverlust gehört hier  – sehr im Unterschied zu sonstigen „Comply-­or-explain“-Mechanismen, insbesondere zur Erklärung über die Einhaltung des DCGK gem. § 161 Abs. 1 S. 1 AktG7 – zum Regelungszweck. 2. Mögliche Folgen für die Überwachungs- und Prüfungsbelastung des Aufsichtsrats Die mit der Neuregelung geschaffenen Kontrollpflichten des Aufsichtsrats umfassen demnach zwei Kernbereiche, die strikt auseinanderzuhalten sind. Soweit es den operativen Umgang des Managements mit seiner „Social Responsibility“ betrifft, erweitert sich die allgemeine Überwachungspflicht des Aufsichtsrats nach §  111 Abs.  1 AktG, die neben der vergangenheitsbezogenen Kontrolle auch die beratende und ordnende Einflussnahme auf die gegenwärtige und zukünftige Unternehmensführung umfasst.8 Welcher Zusatzaufwand damit einhergeht und welche Haftungsrisiken die Aufsichtsratsmitglieder zugleich auf sich nehmen, lässt sich unterschiedlich beurteilen, je nachdem, ob die CSR-Regeln lediglich „weiche“ Planvorgaben enthalten, auf deren Befolgung unter dem Vorbehalt öffentlicher Rechtfertigung verzichtet werden kann, oder ob sie dem AG-Vorstand bestimmte Initiativpflichten auferlegen, die die aktienrechtliche Leitungsautonomie des Vorstands einschränken.9 Letzterenfalls wäre es mit einer auf die Unternehmensführung bezogenen Zweckmäßigkeitskontrolle allein nicht getan; vielmehr wären die Entscheidungen des Vorstands einer zusätzlichen Rechtmäßigkeitskontrolle unter Einbeziehung seines Compliance-Managements zu unterziehen.10 Eine aus Elementen der Zweckmäßigkeits- und Rechtmäßigkeitskontrolle zusammengesetzte Prüfung hat der Aufsichtsrat auch zu leisten, soweit es die Präsentation von CSR-Aktivitäten im Rahmen der Lageberichterstattung betrifft. Diese in §  171 Abs.  1 AktG verankerte Prüfungspflicht ist im Unterschied zur allgemeinen Über­ wachungspflicht nach § 111 Abs. 1 AktG strikt vergangenheitsbezogen. Aufgabe des Aufsichtsrats ist es vornehmlich, der naheliegenden Versuchung zu begegnen, das Erscheinungsbild des Unternehmens oder Konzerns durch eine schönfärberische Darstellung CSR-relevanter Initiativen („Green Washing“) aufzubessern.11 Mit der künf 6 Deutlich Begr. RegE BT-Dr. 18/9982, S. 47; dazu Hennrichs, ZGR 2018, 206, 209; Klene, WM 2018, 308, 311. 7 Dazu Lutter in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2012, § 161 Rz. 23. 8 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 5, 13. 9 So vor allem Hommelhoff, NZG 2017, 1361 ff.; dagegen Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 76 Rz. 35d; Schön, ZHR 180 (2016), 279 ff.; Fleischer, AG 2017, 509, 522; Klene, WM 2018, 308, 312. Zur Anwendbarkeit der Business-Judgment Rule in dem Zusammenhang Bachmann, ZGR 2018, 231, 237, 243. 10 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 5 m.w.N. 11 Hennrichs, ZGR 2018, 206, 207.

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tigen Unternehmensführung hat sich der Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang nur zu befassen, soweit sich der Bericht des Vorstands dazu verhält. Der Aufsichtsrat hat aus der Perspektive ex ante zu beurteilen, ob der Bericht „die voraussichtliche Entwicklung mit ihren wesentlichen Chancen und Risiken“ ordnungsgemäß wiedergibt (vgl. § 289 Abs. 1 S. 4, § 315 Abs. 1 S. 4 HGB). Hat sich das Management gegen die Verfolgung eines der CSR-Konzepte entschieden, ist zu prüfen, ob der Vorstand seiner Verpflichtung zur Abgabe der Negativerklärung mit ordnungsgemäßer Begründung nachgekommen ist (§ 289c Abs. 4, § 315c Abs. 1 HGB).

II. Das Problem: Plausibilitätsprüfung oder Vollprüfung durch den Aufsichtsrat? 1. Problemskizze und Lösungsvorschläge Die retrospektive Ausrichtung der Berichtsprüfung nach § 171 Abs. 1 AktG verdient Hervorhebung, weil sich die diesbezüglichen Aufgabenfelder des Aufsichtsrats mit denen des externen Jahresabschlussprüfers normalerweise überschneiden: Da nur der Wirtschaftsprüfer über die erforderlichen Ressourcen und über das nötige Fachwissen zur Durchführung einer Vollprüfung von Großunternehmen verfügt und die Nachschaltung ähnlich intensiver Nachforschungen durch den Aufsichtsrat zudem eine wenig sinnvolle Aufwandsverdopplung zur Folge hätte, darf Letzterer sich grundsätzlich auf eine ergebnisbezogene Plausibilitätsprüfung beschränken, die bei den gewonnenen Erkenntnissen aus der externen Jahresabschlussprüfung ansetzt. Der Aufsichtsrat muss also keine eigenen systematischen oder stichprobenartigen Erhebungen durchführen, er kann die Prüfungsergebnisse des Wirtschaftsprüfers übernehmen, sofern ihm nicht Unregelmäßigkeiten auffallen, die eine Intensivierung der Untersuchungen erfordern.12 Für die CSR-Berichterstattung scheint dieses bewährte System aus Checks and Ba­ lances indes außer Kraft gesetzt, denn § 317 Abs. 2 S. 4 HGB reduziert den Umfang der externen Jahresabschlussprüfung auf eine reine „Ob-Prüfung“, die sich allein auf die Abgabe der nichtfinanziellen Erklärung, nicht aber auf ihren Inhalt bezieht. Wer daraufhin die funktionelle Beeinträchtigung der CSR-Berichterstattung durch ein Kontrollvakuum befürchtet, mag sich veranlasst sehen, den Aufsichtsrat grundsätzlich auf das volle Prüfungsprogramm mitsamt allen Hintergrundrecherchen festzulegen. In diesem Sinne äußert sich in der Tat ein Teil des Schrifttums. Stoße der Aufsichtsrat dabei an seine Kapazitätsgrenzen, könne oder müsse er von der ihm in § 111 Abs. 2 S. 4 AktG n.F. eingeräumten Option Gebrauch machen und sich kraft eines gesonderten Auftrages von einem Wirtschaftsprüfer gegen zusätzliches Honorar unterstützen lassen.13 Verwiesen wird außerdem auf die Gesetzgebungsmaterialien. Aus ihnen geht hervor, dass mit der Gesetzesnovelle nicht nur auf die Unternehmen, sondern auch 12 Ekkenga in KK-AktG, 3. Aufl. 2015, § 171 Rz. 5. 13 Klene, WM 2018, 308, 313; Mock, ZIP 2017, 1195, 1201; Kajüter, DB 2017, 617, 624; Böcking/ Althoff, Der Konzern 2017, 246, 251; wohl auch Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1365 mit Fn. 65; Nietsch, NZG 2016, 1330, 1335; Lanfermann, BB 2017, 747, 749.

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auf die Aufsichtsratsmitglieder erzieherisch eingewirkt werden sollte, und zwar mit dem gewünschten Ergebnis, dass jene sich die nötigen Fachkenntnisse zu allen CSR-­ relevanten Themen persönlich aneignen.14 Wer sich dagegen den nüchternen Blick für das wirtschaftliche Machbare bewahrt hat, wird eher nach Wegen suchen, wie man der Aufsichtsratspraxis eine chronische Überlastung mit Prüfungsaufgaben sowie die Belastung mit den damit zusammenhängenden Haftungsrisiken ersparen kann. Dieses Ziel vor Augen, schließt sich Eberhard Vetter der zunehmend vertretenen Gegenauffassung an, die für eine Angleichung der Prüfungsintensität an das Niveau der internen Berichtsprüfung im Allgemeinen plädiert.15 Der Aufsichtsrat müsse die CSR-Berichterstattung also grundsätzlich nur auf Plausibilität überprüfen. Da die externe Jahresabschlussprüfung insoweit nicht involviert sei, werde die nichtfinanzielle Berichterstattung im Ergebnis weniger gründlich überprüft als die Lageberichterstattung im Übrigen. Im Text des § 171 Abs. 1 AktG finde eine solche Differenzierung zwischen einzelnen Berichtsteilen zwar keine Stütze. In der Sache sei die Intensitätsstufung aber gerechtfertigt, weil es sich bei der CSR-Berichterstattung nicht um eine Materie der Rechnungslegung handele, sondern um eine solche der Unternehmensleitung, die der Aufsichtsrat (lediglich) in Befolgung seiner allgemeinen Überwachungspflicht aus § 111 Abs. 1 AktG prüfen müsse.16 2. Kritik und eigener Lösungsansatz So sehr die Zweifel an der Qualität und Durchdachtheit der Neuregelung einleuchten, so wenig überzeugen allerdings die Korrekturvorschläge ihrer Kritiker, und zwar sowohl was das Ergebnis als auch was die Begründung anbelangt. Fraglich ist schon, wie man sich eine „Plausibilitätsprüfung“ vorzustellen hat, wenn sich der Erkenntnishorizont des Aufsichtsrats mangels „verprobungstauglicher“ Angaben im Bericht des Wirtschaftsprüfers auf den CSR-Bericht als solchen reduziert. Der Aufsichtsrat mag zwar den Versuch unternehmen, den Bericht – wie es heißt – „kritisch zu lesen“.17 Dieser Euphemismus täuscht indes nur darüber hinweg, dass jedes Aufsichtsratsmitglied gezwungen wäre, den Angaben des Vorstands schlicht zu glauben, sofern ihm nicht das Amt oder die Zufälligkeit einer persönlichen Erfahrung besondere Hintergrundinformationen zugespielt hat.18 Dass der Wirtschaftsprüfer als Dialogpartner ausfällt, ist jedenfalls kein per se wirkender Entlastungsgrund für den Aufsichtsrat. Anders mag es sich dann verhalten, wenn der Jahresabschluss – wie bei den kleinen Gesellschaften i.S.d. § 316 Abs. 1 HGB – insgesamt von der externen Kontrolle ausgenommen ist. Eine partielle Herabstufung der Prüfungsintensität innerhalb der Lage14 Lanfermann, BB 2017, 747, 749 mit Hinweis auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drs. Aktenzeichen 18/11450, S. 52. 15 E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 73 im Anschluss an Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 127; zustimmend Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  171 Rz.  8a; ­Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 766. 16 Hennrichs/Pöschke, NZG 2017, 121, 127; Hennrichs, NZG 2017, 841, 845 f. 17 In diesem Sinne E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 77; Hennrichs, NZG 2017, 841, 845 ff.; Hecker/Bröcker, AG 2017, 761, 766. 18 So in der Tat Hennrichs, NZG 2017, 841, 845 f.

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berichterstattung wäre aber als systemfremdes Element kaum zu rechtfertigen,19 selbst wenn die Stufung im Text ausreichend hervorgehoben oder die Erklärung gesondert abgesetzt wird.20 Vor allem aber lässt sich der Verzicht auf die Vollprüfung nicht damit rechtfertigen, die CSR-Berichterstattung falle als systemwidriger Fremdkörper aus dem Aufgabenfeld der Berichtsprüfung im Sinne des § 171 Abs. 1 AktG heraus.21 Das Gegenteil ergibt sich schon auf den ersten Blick aus § 289 Abs. 3 HGB und § 315 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 HGB für den Konzernlagebericht. Danach umfasst der „reguläre“ Inhalt des Lageberichts einer großen Kapitalgesellschaft Angaben über „nichtfinanzielle Leistungsindikatoren, wie Informationen über Umwelt- und Arbeitnehmerbelange, soweit sie für das Verständnis des Geschäftsverlaufs oder der Lage (des Konzerns) von Bedeutung sind.“ Die thematische Überschneidung mit der CSR-Berichterstattung ist offensichtlich22 und inzwischen auch von den Vertretern der Gegenauffassung anerkannt.23 Weitere, bislang kaum thematisierte Berührungspunkte mit der regulären Lageberichterstattung deuten sich an mit Blick auf §§ 289 Abs. 4, 315 Abs. 4 HGB, die kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaften zu Erklärungen über ihr Risikomanagementsystem verpflichten und damit allgemein formulieren, was in § 289c Abs. 3 Nr. 3 und 4 HGB aufgegriffen und konkretisiert wird.24 Der Wortlaut der neuen Ausnahmeklausel in § 317 Abs. 2 S. 4 HGB ist mit diesen bisher schon geltenden Vorschriften nicht abgestimmt. Das hat zu Missverständnissen geführt und die Diskussion vorschnell in das Aktienrecht gelenkt,25 bevor die handelsrechtlichen Vorfragen hinreichend geklärt waren. Letzteres soll durch den vorliegenden Beitrag nachgeholt werden. Primär geht es darum, aus der in §  289c HGB definierten Gesamtmenge CSR-relevanter Erklärungen diejenigen herauszufiltern, die sich zugleich auf die in § 289 Abs. 3 und 4 HGB bzw. § 315 Abs. 3 und 4 HGB tatbestandlich erfassten Berichtsinhalte beziehen lassen. Nur der Restbestand ist von der materiellen Abschlussprüfung gem. § 317 Abs. 2 S. 4 HGB ausgenommen und somit dem Aufsichtsrat zur alleinverantwortlichen Kontrolle zugewiesen. Hinzu kommt, dass sich die Unterstützung des Aufsichtsrats durch den Abschlussprüfer letztlich nicht nach dem Umfang der Prüfungspflicht nach § 317 HGB, sondern nach dem Umfang der Berichtspflicht bestimmt, die sich gem. § 321 Abs. 1 S. 3 HGB auf alle schwerwiegenden Regelverstöße über den Bereich der Rechnungslegung hinaus erstreckt. Dieser Aspekt wird namentlich im Zusammenhang mit denjenigen CSR-Be19 Haaker, DB 2017, 922; a.A. E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 73 a.E.; Hennrichs, NZG 2017, 841, 844. 20 Dazu Baumüller/Follert, IRZ 2017, 473, 477. 21 So aber noch Hennrichs/Pöschke in MünchKommAktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 59a unter Hinweis auf dies., NZG 2017, 121, 124; ihnen zust. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 171 Rz. 8a; anders mit Recht E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 71. 22 Vgl. nur die sinngleiche Inhaltsbeschreibung in § 289c Abs. 3 Nr. 5 HGB. 23 Vgl. Hennrichs, ZGR 2018, 206, 216 ff. 24 Ebenso Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1363. 25 § 289 Abs. 3 HGB ist in ersten Reaktionen gar nicht oder allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen worden. Vgl. die Nachweise oben Fn. 21.

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langen zu berücksichtigen sein, die sich – wie es in § 289c Abs. 2 Nr. 4 und 5 HGB anscheinend der Fall ist – auf solche Regelverstöße beziehen.

III. Handelsrechtliche Vorfragen zur Prüfungsverpflichtung des Wirtschaftsprüfers 1. Prüfungspflichtige CSR-Berichtsinhalte nach bisherigem Recht a) Nichtfinanzielle Leistungsindikatoren (§§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB) Die Erklärung über nichtfinanzielle Leistungsindikatoren i.S.d. §  289 Abs.  3, §  315 Abs. 3 HGB gehört auch nach der Gesetzesreform zu den gem. § 317 Abs. 2 S. 1 HGB vollumfänglich zu prüfenden Berichtsinhalten. Die Regelung ist nicht etwa durch die jüngeren Vorschriften in § 289c HGB materiell derogiert, sondern soll ausweislich der Entwurfsbegründung uneingeschränkt fortgelten.26 Der Rechtsbegriff der „nichtfinanziellen Leistungsindikatoren“ ist gesetzlich nicht definiert; sein Bedeutungsgehalt erschließt sich aber in Abgrenzung zum Gegenbegriff der „finanziellen“ Leistungsindikatoren i.S.d. § 289 Abs. 1 S. 3, § 315 Abs. 1 S. 3 HGB. Mit Letzteren sind diejenigen Schlüsselgrößen aus dem Zahlenwerk der Rechnungslegung gemeint, die Aufschluss geben über die ertragswirtschaftliche Leistung und Leistungsfähigkeit und über die anhand von bilanzanalytisch aussagekräftigen Kennziffern zu berichten ist.27 Zu den „nichtfinanziellen“ Leistungsindikatoren i.S.d. § 289 Abs. 3 HGB hat die Literatur demgegenüber schon vor Beginn der CSR-Reform im Wesentlichen diejenigen Zustände und Veränderungen gerechnet, die sich auf die nunmehr in § 289c Abs. 2 HGB aufgezählten Umwelt-, Sozial- und Personalbelange beziehen.28 Ihnen allen liegen vorwiegend ideelle statt materielle Leistungen zugrunde. Im Vordergrund der Berichterstattung steht insoweit nicht die eigennützige Wertschöpfung, sondern – aus der Sicht des rechnungslegungspflichtigen Unternehmens bzw. Konzerns – die Darstellung der Geschäftstätigkeit in ihren fremd- oder gemeinwohlnützlichen Bezügen.29 Eigen- und Fremdnützigkeit schließen sich nicht aus; berichtspflichtig sind nach § 289 Abs. 3, § 315 Abs. 1 S. 3 HGB auch Unternehmen, die sich der ertragswirtschaftlichen Förderung eines der genannten Gemein- oder Fremdwohlbelange verschrieben haben (z.B. Produktion und Verkauf von Lärmschutzeinrichtungen), sofern der Informationsbedarf nicht ohnehin schon durch den regulären Wirtschafts- und Prognosebericht nach § 289 Abs. 1 S. 1-4, § 315 Abs. 1 S. 1-4 HGB 26 Begr. RegE BT-Dr. 18/9982, S.  42, 44. Anders zu Unrecht Mock in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2017, S. 127, 139, der meint, der Gesetzgeber habe es „versäumt, die bisher vorgesehenen Inhalte der Lageberichterstattung aufzuheben“. 27 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 91; Lange in MünchKommHGB, 3. Aufl. 2013, § 289 Rz. 74 f. 28 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 206 ff.; Lange in MünchKommHGB, 3. Aufl. 2013, § 289 Rz. 127 ff. 29 Vgl. Begr.RegE zum BilReG 2004, BR-Dr. 326/04, S.  62; Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 206.

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gedeckt ist.30 Hier wie auch in den Fällen rein altruistischer Leistungen (z.B. geldliche Förderung einer gemeinwohlnützigen Institution) geht es ausschließlich darum, die nicht zahlenmäßig erfassten oder erfassbaren Leistungsprogramme unter Zugrundelegung ideeller Planungen und Ergebnisse darzustellen31 und sie „unter Bezugnahme auf die im Jahresabschluss ausgewiesenen Beträge und Angaben zu erläutern“ (§ 283 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 S. 3 HGB, sinngemäß § 315 Abs. 3 i.V. Abs. 1 S. 3 HGB).32 Die Literatur assoziiert mit den nichtfinanziellen Leistungsindikatoren in erster Linie Förderprogramme zur Erzielung von Fortschritten im Geiste der Nachhaltigkeitsdoktrin,33 wie sie sich in den stichwortartigen Bezeichnungen in § 289c Abs. 2 Nr. 1 bis 3 HGB andeuten, die also auf Verbesserungen im Umweltschutz, der Beschäftigungsbedingungen für Arbeitnehmer oder der sozialen Lebensqualität abzielen.34 In diesen Kontext dürfte auch die für große Aktiengesellschaften zuvor schon gem. §§  289f Abs. 2, 315d HGB vorgeschriebene Erklärung zur Verwirklichung von (Geschlechter-)Quotenplänen und Diversitätskonzepten gehören, mit denen die Wahlfreiheit bei der Besetzung der Verwaltungsorgane sowie die Entscheidungsfreiheit bei der Besetzung von Führungspositionen unterhalb der Vorstandsebene eingeschränkt werden soll. Formal handelt es sich zwar um einen Bestandteil der Erklärung zur Unternehmensführung (Corporate Governance Reporting). Für Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsrat gelten aber aufgrund der Ausnahmeklausel in § 317 Abs. 2 S. 6 HGB die gleichen Rahmenbedingungen. b) Abgrenzungsfragen § 289c Abs. 2 HGB benennt allerdings nicht nur Zielvorstellungen über Förderprogramme, sondern umreißt auch Schutzprogramme zur Verteidigung der Rechtsordnung oder – allgemeiner – zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Status Quo. Die in Nr.  4 und 5 aufgenommenen Verhaltensvorgaben zur „Achtung der Menschenrechte“ und zur „Bekämpfung von Korruption und Bestechung“ dürften sogar ausschließlich in diesem Sinne zu verstehen sein. Angesprochen sind hier offensichtlich nicht oder nicht nur fremd- oder gemeinnützige „Leistungen“ des Unternehmens; jedenfalls wäre es um die ethischen Grundfeste eines Gemeinwesens schlecht bestellt, wenn allein schon der Respekt vor den Rechten anderer und der Bericht darüber als reputationssteigernde „Leistung“ bzw. Erfolgsmeldung anerkannt würden. Vielmehr geht es primär um drittschutzrelevante Nebenwirkungen einer ansonsten auf das Eigen­ interesse ausgerichteten Betriebswirtschaft (z.B. Unterhaltung von gesetzlich vorgeschriebenen Lärmschutzeinrichtungen auf dem Firmengelände). Das übersehen diejenigen Autoren, die Maßnahmen zur Wahrung des Legalitätsprinzips wie etwa die „Einhaltung der geltenden Umweltschutzvorschriften“ oder Maßnahmen zur Ge30 Dazu Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 60 ff. 31 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 208 ff. mit zahlreichen Beispielen. 32 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 91. 33 Mock in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2017, S. 127, 136 f. 34 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 208 ff. m.w.N.

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währleistung des „Gesundheits- und Arbeitsschutzes“ generell unter den Begriff der nichtfinanziellen Leistungsindikatoren subsumieren.35 Ein genauerer Blick in das Gesetz bestätigt diese Bedenken, denn mit der nachträglichen Aufdeckung und Dokumentation von Regelverstößen hat sich der Abschlussprüfer gem. § 321 Abs. 1 S. 3 HGB gerade nicht planmäßig zu befassen.36 Dem widerspräche es, wollte man ihn auf dem Umwege über § 289 Abs. 3, § 315 Abs. 3 HGB generell verpflichten, inquisitorische Prüfungshandlungen zur Erkennung rechtswidriger Verhaltensweisen und zur Ermöglichung bzw. Anmahnung von Wiedergutmachungen (z.B. der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen) vorzunehmen. Wohl aber muss der Abschlussprüfer gravierende Regelverstöße im Prüfungsbericht dokumentieren, die seine Prüfungshandlungen zutage gefördert haben. Diese grundsätzlich auf schwerwiegende Gesetzes- oder Satzungsverstöße beschränkte Redepflicht ist für Prüfungen sogenannter „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ (public interest entities, PIE), zu denen die Kapitalgesellschaften i.S.d. § 289b Abs. 1 HGB gehören, gem. Art. 11 Abs. 1, 2 lit. k der EU-AbschlussprüferVO 537/2014 (APrVO) erheblich erweitert. Danach hat der Abschlussprüfer dem Prüfungsausschuss des Aufsichtsrates (§ 107 Abs. 3 S. 2 AktG) einen Zusatzbericht zu erstatten, der sich auf „die Angabe von im Laufe der Prüfung festgestellten bedeutsamen Sachverhalten im Zusammenhang mit der tatsächlichen oder vermuteten Nichteinhaltung von Rechtsvorschriften oder des Gesellschaftsvertrags bzw. der Satzung der Gesellschaft“ erstreckt, „soweit sie für die Fähigkeit des Prüfungsausschusses, seine Aufgaben wahrzunehmen, als relevant betrachtet werden.“ Der Berichtsumfang richtet sich also nicht nach dem objektiven Schwerekriterium, sondern nach dem Unterstützungsbedarf des Aufsichtsrates; maßgeblich ist insoweit die Einschätzung des Abschlussprüfers.37 Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Regelverstößen im Bereich des Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialschutzes lassen sich dagegen sehr wohl als unternehmerische „Leistungen“ zur Verbesserung des Drittschutzes qualifizieren; sie sind dem Compliance-Management-System (CMS) innerhalb des internen Kontroll- und Risikomanagements (RMS) zuzuordnen.38 Da solche Schutzsysteme gem. §  289 Abs.  1 S. 3 i.V. Abs. 3 HGB bzw. § 315 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Abs. 3 HGB im Lagebericht erläutert und analysiert werden müssen, hat der Wirtschaftsprüfer auch insoweit nicht nur die Vollständigkeit, sondern auch den Inhalt der Berichterstattung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Das geht deutlich über eine bloße Beschreibung hinaus, wie sie in § 289 Abs. 4 HGB verlangt ist, soweit es den Bericht über „die wesentlichen Merkmale des internen Kontroll- und des Risikomanagementsystems im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess“ betrifft (sinngemäß § 315 Abs. 4 HGB für den Konzernlagebericht).39 Gem. § 171 Abs. 1 S. 2 AktG hat der Abschlussprüfer das CMS außerdem auf Funktionsfähigkeit zu überprüfen und dem Aufsichtsrat über das Ergebnis zu be-

35 Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 208 f. 36 Schmidt/Deicke in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 321 HGB Rz. 39 m.w.N. 37 S. Schmidt/Deicke in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 321 HGB Rz. 64. 38 Näher S. Schmidt in WP-Handbuch 2015, M 5 ff. 39 Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 289c HGB Rz. 34.

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richten.40 Verbesserungsvorschläge muss der Prüfer nicht unterbreiten; derart weitreichende Unterstützungspflichten sind gem. § 321 Abs. 4 S. 2 HGB nur im Anschluss an die Funktionsprüfung eines Risikofrüherkennungssystems i.S.d. § 91 Abs. 2 AktG vorgesehen.41 c) Wesentlichkeitsvorbehalt Der Umfang der Berichtspflicht ist durch die allgemeine Wesentlichkeitsbedingung ­beschränkt. Gem. § 289 Abs. 3 HGB ist sie dann erfüllt, wenn die nichtfinanziellen Leistungsindikatoren „für das Verständnis des Geschäftsverlaufs oder der Lage von Bedeutung sind“ (sinngemäß § 315 Abs. 3 HGB).42 Die fremdnützigen Leistungskomponenten müssen sich also bis zu einer gewissen Spürbarkeitsgrenze auf die ertragswirtschaftlichen Ziele und Leistungen auswirken. Aus der Verweisung auf §  289 Abs. 1 S. 3 bzw. § 315 Abs. 1 S. 3 HGB folgt außerdem, dass der Bedeutungsgehalt im Sinne des Wesentlichkeitskriteriums nicht nur stillschweigend zugrundezulegen, sondern im Kontext mit der obligatorischen „Analyse“ des Geschäftsverlaufs und der Lage zu erläutern ist. Da sich die Bedienung fremd- oder gemeinwohlnützlicher Interessen als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung niederschlägt,43 wird regelmäßig über die Kostenursächlichkeit einzelner CSR-Aktivitäten zu berichten sein, es sei denn, es handelt sich um vergleichsweise geringfügige Beträge, etwa um gelegentliche Spenden an gemeinnützige Organisationen oder kleinere Zuwendungen an Kulturinstitute. Der ertragswirtschaftliche Nutzen wird bei gewerblicher Teilnahme an einem CSR-relevanten Leistungsprogramm anhand eines Soll-/Istvergleichs der gesetzten Förderziele mit den erzielten Fortschritten darzustellen sein. Bei fremdnütziger Zielsetzung soll der eigene Nutzen nach bisher schon etablierter Praxis mit Reputationsgewinnen gleichzusetzen sein, die von Kapitalgebern und Geschäftspartnern bzw. Kunden positiv aufgenommen werden und die künftigen Ertragsaussichten steigern.44 Ein ausgleichendes Gewicht wird dem Reputationsaspekt indes kaum jemals beizumessen sein, weil sich ein Kausalzusammenhang zwischen Prestige- und Geschäftserfolg in der Regel nicht darstellen, geschweige denn nachweisen lässt.45 Darüber täuschen manche im Schrifttum verbreiteten, optimistischen bis euphorischen Reaktionen auf die neuen CSR-Regeln hinweg.46 In der nichtfinanziellen Berichterstattung nach § 289 Abs. 3 HGB darf diese Problematik nicht beschwiegen werden: Stehen den Kosten keine konkret fassbaren Erfolge oder Erfolgsaussichten gegenüber, ist das in der Erläuterung und Analyse entsprechend auszuführen. 40 Str.; s. zum Meinungsstand Ekkenga in KölnKommAktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 58. 41 E. Vetter in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 177; Burg/Müller in KölnKommRLR, 1. Aufl. 2011, § 317 Rz. 97; anders zu Unrecht Ebke in MünchKommHGB, 3. Aufl. 2013, § 317 Rz. 82 unter ausschließlicher Bezugnahme auf § 317 Abs. 4 HGB. 42 Hennrichs, ZGR 2018, 206, 217. 43 Zutr. Baumüller/Follert, IRZ 2017, 473, 476 f. 44 Begr.RegE zum BilReG 2004, BR-Dr. 326/04, S. 64; Grottel in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 315 HGB Rz. 211. 45 Humbert, ZGR 2018, 295, 313 m.w.N. 46 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289b HGB Rz. 3; Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; Eufinger, EuZW 2015, 424, 425.

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2. Prüfungspflichtige CSR-Berichtsinhalte nach neuem Recht a) Beschreibung des „Geschäftsmodells“ (§ 289c Abs. 1 HGB) Unter einem „Geschäftsmodell“ versteht die Prüfungspraxis eine Systembeschreibung, die die betriebswirtschaftlichen Elementarbedingungen und -funktionen einer Unternehmung wiedergibt. In ihren ertragswirtschaftlichen Bestandteilen gibt sie einen Überblick über die Ressourcen und deren Einsatz (inputs) sowie über die damit angestrebten Ergebnisse (outputs).47 Gängiger Praxis und den berufsständischen Vorgaben zufolge erscheint das Geschäftsmodell bereits im regulären Lagebericht.48 Es ist zwar normalerweise kein Prüfungsobjekt,49 bildet aber die unverzichtbare Grundlage sämtlicher Prüfungsplanungen und -maßnahmen des externen Abschlussprüfers und seiner abschließenden Berichterstattung gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat.50 ­Ideellen Charakter gewinnt das Geschäftsmodell im Regelfall51 erst dadurch, dass der Vorstand die in § 289c Abs. 2 und 3 HGB enthaltenen Programmvorgaben ganz oder teilweise einfließen lässt; hierdurch entstehen jene „Konzepte“, die die Gesellschaft gem. § 289c Abs. 3 Nr. 1, 2 HGB bei Meidung einer Negativerklärung nach § 289c Abs. 4 HGB offenzulegen hat.52 Die in § 289c Abs. 1 HGB vorgeschriebene Kurzbeschreibung dieses erweiterten Geschäftsmodells53 dürfte sinnvoll kaum anders als durch Ergänzung des ursprünglichen Beschreibungstextes bzw. durch Verweisung auf den Lagebericht in der gesonderten nichtfinanziellen Erklärung zu bewerkstelligen sein.54 Bei aller gebotenen Kürze darf die Beschreibung nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einstieg in das CSR-Unterstützungsprogramm jedenfalls bei einem rein altruistischen Engagement das modellprägende Zielsystem der Unternehmung verändert, und zwar sowohl in der Beschreibung einschlägiger Primärziele (z.B. Verbesserung des Lärmschutzes) als auch in der Festlegung der operativen Unterziele (z.B. Aufstellung von Schallschutzwänden).55 Weil hierdurch Kostenstellen geschaffen werden, die das kurzfristige Gewinnziel negativ beeinflussen, mündet die bei Meidung von Prestigeverlusten eingeleitete Planung und Einleitung solcher fremd- bzw. gemeinnützigen Aktivitäten in einen Zielkonflikt, der in der Beschreibung offenzulegen ist. Nicht ausreichend ist daher die Beschränkung auf die bloße Wiedergabe des – ohnehin schon aus der Satzung ersichtlichen  – Unternehmensgegenstandes und auf den „Schwerpunkt der tatsächlichen Unternehmenstätigkeit“.56 Folgerichtig bestimmen die gem. § 317 Abs. 5 HGB ver47 Kajüter, DB 2017, 617, 621. 48 Kajüter, DB 2017, 617, 621. 49 Ausnahmen sind in seltenen Fällen denkbar, wenn das Geschäftsmodell als Immaterialgut Eingang in die Aktivseite der Bilanz findet („Goodwill“). 50 Baumüller/Follert, IRZ 2017, 473, 476. 51 Anders wohl bei gewerblichem Engagement in einer CSR-Angelegenheit, s.o. unter 1. a. 52 Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1362 f. 53 Dazu Begr. RegE BT-Dr. 18/9982, S. 47. 54 Kajüter, DB 2017, 617, 621. 55 ISA 315 Ziff. 11. 56 So aber Mock in Fleischer/Kalss/Vogt (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, 2017, S. 127, 146.

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bindlichen International Standards on Auditing (ISA), dass sich der Abschlussprüfer mit dem Geschäftsmodell gerade auch unter Berücksichtigung seiner fremd- und gemeinnützigen Komponenten eingehend zu befassen57 und sich darüber im Prüfungsbericht gem. §  321 Abs.  2 S.  1 HGB zu erklären hat.58 Das Ergebnis kann sich der Aufsichtsrat im Rahmen seiner regulären, auf Vollprüfung nach § 171 Abs. 1 AktG gerichteten Kontrolltätigkeit grundsätzlich zu eigen machen. b) Zielfestlegungen nach § 289c Abs. 2 HGB §  289c Abs.  2 HGB enthält eine Aufzählung diverser nichtfinanzieller Belange, die sich, wie dargelegt, zugleich dem Rechtsbegriff der nichtfinanziellen Leistungsindikatoren zuordnen lassen. Auch im übrigen deckt sich der Regelungsgehalt weitgehend mit dem der §§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB, denn nach beiden Vorschriften hängt der obligatorische Berichtsumfang davon ab, ob und in welchem Ausmaß der Vorstand Initiativen zur Wahrnehmung seiner – ethischen statt rechtlichen – Verantwortung („Responsibility“) ergriffen hat oder ergreifen will. Zu berichten ist also über das „Ob“ eines CSR-Engagements. Die Zusammenfassung der in § 289c Abs. 2 HGB aufgezählten Erklärungsinhalte zu einem unverzichtbaren Berichtskern („zumindest“) legt das Unternehmen nicht etwa auf ein Minimalprogramm fest, sondern fordert die zusätzliche Aufnahme einer klaren und begründeten Erläuterung nach § 289c Abs. 4 HGB, sofern sich das Unternehmen einem oder mehreren der aufgezählten CSR-Belange nicht annimmt. Diese Verpflichtung zur Abgabe einer Negativerklärung ist neu. Sie führt in der Tat zu einer Erweiterung der Lageberichtserstattung gegenüber dem bisherigem Recht ohne zwingende Einbeziehung in die externe Abschlussprüfung (s. dazu unter 3.). Andererseits ist der Tatbestand des § 289c Abs. 2 HGB gegenüber dem der §§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB enger, soweit es CSR-Projekte betrifft, die das Unternehmen im gewerblichen Eigeninteresse verfolgt (z.B. Herstellung und Verkauf von Lärmschutzeinrichtungen), weil der comply-or-explain-Gedanke hier offensichtlich nicht passt. Es gibt also nichtfinanzielle Leistungsindikatoren, die von der nunmehr speziell geregelten CSR-Berichterstattung nicht erfasst sind.59 c) Verwirklichungskonzepte nach § 289c Abs. 3 HGB § 289c Abs. 3 HGB befasst sich mit der obligatorischen Berichtstiefe, indem er festlegt, über welche Maßnahmen zur Verwirklichung einzelner CSR-Projekte Angaben erforderlich sind. Es geht also um das „Wie“ eines CSR-Engagements. Zu beschreiben sind die in das Geschäftsmodell integrierten Konzepte, deren operative Umsetzung namentlich in Due-Diligence-Prozessen sowie die hierdurch erzielten Ergebnisse (§ 289c Abs. 3 Nr. 1, 2 HGB), und zwar getrennt nach den in § 289c Abs. 2 HGB genannten und tatsächlich unterstützten Belangen.60 Zu berichten ist weiter über Einzelheiten der Entscheidungsfindung (Motive, vorbereitende Analysen) unter dem Gesichts57 ISA 315 Ziff. 11; IDW, PS 261; dazu Baumüller/Follert, IRZ 2017, 473, 476 f. 58 Schmidt/Deicke in Beck’scher BilKomm, 11. Aufl. 2018, § 321 Rz. 89. 59 Ebenso i.E. Hennrichs, ZGR 2018, 206, 216 ff. 60 Eingehend Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289c Rz. 40 ff.

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punkt des Risikomanagements, bezogen sowohl auf die eigene Geschäftstätigkeit wie auf Risiken, die von vertraglich verbundenen Drittunternehmen ausgehen (§  289c Abs. 3 Nr. 3, 4 HGB). Ein zwingender Zusammenhang mit der Compliance-Organisation und den ihr zuzuordnenden Einzelaspekten des §  289c Abs.  2 HGB besteht nicht, da sich ein „Risiko“ immer schon dann verwirklicht, wenn ein Schutz- oder Förderungsziel verfehlt wird. Umfasst sind also sowohl Risiken für den Eigenbetrieb (impact on the business) als auch Risiken des Eigenbetriebs für Dritte (impact of the business).61 Das bringt auch die Formulierung des Wesentlichkeitsvorbehalts im ­Einleitungssatz des § 289c Abs. 3 HGB zum Ausdruck. Danach beschränkt sich die nichtfinanzielle Erklärung auf diejenigen Angaben, „die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, der Geschäftsergebnisses, der Lage der Kapitalgesellschaft sowie der Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die in Absatz 2 genannten Aspekte erforderlich sind…“. Soweit mit dieser Eingangsformel das rückblickende Reporting über Erreichtes angesprochen wird, gibt es keine zwingenden Hinweise auf eine prüfungsrelevante Ausweitung der Berichtspflichten gegenüber dem Erklärungsinhalt nach bisherigem Recht. Aussagen über schädliche Außenwirkungen oder -risiken des eigenen Geschäfts (impact of the business) sind zwar in §§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB nicht verlangt, sie werden aber regelmäßig zu jenen Angaben gehören, die der Chancenund Risikobeurteilung nach §§ 289 Abs. 1 S. 4, 315 Abs. 1 S. 4 HGB zugrundezulegen sind.62 Umgekehrt lässt sich die Verwendung des Terminus „Beschreibung“ in § 289c Abs. 3 HGB63 aber dahin deuten, dass die darin verlangte Berichtstiefe noch hinter dem bisherigen Niveau zurückbleibt, wonach die nichtfinanziellen Leistungsindikatoren unter Beifügung einer „Analyse“ „zu erläutern sind“ (§ 289 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 S. 3 HGB). Das betrifft dann auch die nur in § 289c Abs. 3 HGB ausdrücklich erwähnte Relevanz für das Verständnis „des Geschäftsergebnisses“. Die Angabepflichten nach dieser neuen Vorschrift decken somit lediglich eine Teilmenge der nichtfinanziellen Erklärung nach altem Recht ab,64 so dass sich keine zusätzlichen Aufgaben für die Abschlussprüfung ergeben. Die Begrenzung der Berichtspflicht auf die „bedeutsamsten“ nichtfinanziellen Leistungsindikatoren in § 289c Abs. 3 Nr. 5 HGB gegenüber der Einbeziehung aller bedeutenden Indikatoren nach §§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB un61 So ausdrücklich § 289c Abs. 3 1. Halbsatz („…Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die in Absatz 2 genannten Aspekte…“). S. zum Ganzen Hennrichs, ZGR 2018, 206, 213 f. 62 Wenig ergiebig ist deshalb die Diskussion der Frage, ob sich mit der kumulativen Erfassung indogener und exogener Wesentlichkeitsfaktoren durch das Wort „sowie“ eine Einschränkung des Berichtsumfanges gegenüber §§ 289 Abs. 3, 315 Abs. 3 HGB verbindet, wo nur auf die Relevanz für den Geschäftsverlauf oder Lage abgestellt wird (so in der Tat Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289c Rz. 31; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 218; ausführlich unter Einbeziehung europarechtlicher Aspekte Humbert, ZGR 2018, 295, 312 f.). Dagegen spricht, dass sich die neue Vorschrift nur mit der Berichtstiefe befasst, während sich der Berichtsumfang nach § 289c Abs. 2 HGB bestimmt. 63 Der Begriff ist zwar in der Aufzählung nur unter Nr. 1 erwähnt, dürfte sich aber dem Sinn nach auch auf die Berichtsinhalte nach den Nrn. 2 bis 5 beziehen. 64 Ebenso i.E., aber mit abweichender Begründung Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289c Rz. 31; Hennrichs, ZGR 2018, 206, 218; Kajüter, DB 2017, 617, 620 f.

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terstreicht diesen Befund.65 Die in § 289c Abs. 3 Nr. 6 HGB unter Erforderlichkeitsvorbehalt gestellte Pflicht zur Bezugnahme auf bestimmte Jahresabschlussposten nebst Erläuterungen dürfte  – wie schon bisher  – stets greifen, sobald der Aufwand eines CSR-Programmes eine gewisse Bagatellschwelle überschreitet (s.o. unter 1. c.). Eine überschießende Tendenz mag man der Neuregelung dagegen entnehmen, soweit sie – anders als §§ 289 Abs. 3 § 315 Abs. 3 HGB – prospektive Angaben über künftige Vorgänge und Entwicklungsprozesse verlangt. So ist der Bericht über das Risikomanagement nach § 289c Abs. 3 Nr. 3 und 4 HGB ausdrücklich auch auf drohende Risiken mit „sehr wahrscheinlich schwerwiegende(n) negativen Auswirkungen“ auf einen der CSR-Belange zu erstrecken. Korrespondierend damit ist die Relevanz dieser Risiken für das Verständnis der eigenen Lage sowie für die Erreichung ideeller Ziele nach § 289c Abs. 2 HGB sowohl vergangenheits- wie zukunftsbezogen darzustellen.66 Eine Erweiterung der Berichterstattung – und damit der Prüfungspflichten des Aufsichtsrats  – ist damit aber wiederum nicht verbunden, weil derartige Erklärungen ohnehin in die Beurteilung der „voraussichtliche(n) Entwicklung mit ihren wesentlichen Chancen und Risiken“ nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 289 Abs. 1 S. 4, 315 Abs. 1 S. 4 HGB einfließen. Nach den berufsständischen Verlautbarungen sind in diesen Prognosebericht auch die nichtfinanziellen Leistungsindikatoren einzubeziehen.67 3. Ausnahme: Die Negativerklärung nach § 289c Abs. 4 HGB Die Negativerklärung nach § 289c Abs. 4 HGB fällt gegenüber den sonstigen nichtfinanziellen Erklärungen insofern aus dem Rahmen, als eine thematische Überschneidung mit der regulären Lageberichterstattung von vornherein ausscheidet. Sie ist deshalb ohne weiteres von der inhaltlichen Abschlussprüfung nach § 317 Abs. 2 S. 4 HGB ausgenommen. Dieser Befund ist bemerkenswert, weil die externe Richtigkeitskon­ trolle ausgerechnet dort endet, wo der Kern der Comply-or-explain-Regulierung ansetzt: Sobald sich die Unternehmensorgane anschicken, ein – nach den Vorstellungen des Gesetzgebers – im Zweifel unethisches Verhalten zu rechtfertigen und einen Reputationsverlust zum Schaden der Gesellschaft zu vermeiden, haben sie keinerlei ­Disziplinierung durch eine externe Überwachungsinstanz zu gewärtigen. Statt der Gefahr des „Green Washing“ durch schönfärberische Darstellung (angeblich) durchgeführter CSR-Programme besteht ein offenkundiger Anreiz zum „White Washing“ durch Verdeckung der Tatsache, dass das Unternehmen sich lieber um seine erwerbswirtschaftlichen Belange kümmert, anstatt den ihm gewiesenen Pfad der nachhaltigen Tugend zu beschreiten. Eine weiße Weste verschafft sich das Unternehmen im Zweifel durch beschönigende Darstellung seiner Motive; die Erklärung mag äußerlich „klar und begründet“ sein – ob sie wahr ist oder Übertreibungen enthält, wird nicht verbandsextern kontrolliert. 65 Nicht eindeutig hierzu Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm., 11.  Aufl. 2018, § 289c Rz. 75 (Nr. 5 erweitere nicht die bisherige Berichtspflicht). 66 Winkeljohann/Schäfer in Beck’scher BilKomm., 11. Aufl. 2018, § 289c Rz. 60. 67 DRS 20.126; Grottel in Beck’scher BilKomm., 11. Aufl. 2018, § 315 Rz. 120.

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Wer obendrein der Meinung ist, dass sich hinter nicht wenigen der gesetzlich formulierten „Belange“ nichts weiter als zeitgeistgetriebene Belanglosigkeiten verbergen und dass geschäftliche Erfolge wohl eher mit Mitteln des Qualitäts- und Preiswettbewerbs statt mit der kostenaufwendigen Jagd nach Reputationsgewinnen zu erzielen sind,68 wird auch nicht vor einer „politischen“ Lösung des Problems zurückschrecken: Da die Zielvorgaben des Gesetzgebers  – regelungstechnisch wohl unvermeidbar  – kaum mehr hergeben als eine Ansammlung von Schlagwörtern mit dehnbarem Inhalt, ist es ein Leichtes, sich für jeden der „zumindest“ anzusprechenden CSR-Belange ein Alibi durch ein überschaubares und nicht unbedingt durchkonzipiertes Vorzeigeprojekt69 zu verschaffen. Das gilt jedenfalls dann, wenn man den Wesentlichkeitsvorbehalt in der Eingangsformel des § 289c Abs. 3 HGB großzügig auslegt und in die Themenauswahl nach § 289c Abs. 2 HGB – dem Regelungszweck der Europäischen CSR-Richtlinie entsprechend – auch Förder- und Schutzprogramme ohne greifbare Relevanz für den geschäftlichen Erfolg einbezieht.70 Beispiele für passende Symbolakte lassen sich unschwer denken: Die Ernennung eines langgedienten Funktionsträgers zum Umweltbeauftragten mit marginaler organisatorischer Zusatzausstattung zur Förderung der „Umweltbelange“, die „Geschlechtergleichstellung“ durch Einführung eines „Gendersternchens“ zur Stützung der „Arbeitnehmerbelange“ oder des „sozialen Dialog(s)“, die Intensivierung des „Dialog(s)“ mit dem örtlichen Bürgermeister mit Blick auf gewisse „Sozialbelange“, die Ausgabe interner Verhaltensrichtlinien zur „Achtung der Menschenrechte“ Homo- und Transsexueller („pink-accounting“71), die Ankündigung ehrgeiziger Diversity-Konzepte i.S.d. § 289f Abs. 2 Nr. 6 HGB. Dass solche Schaufensterpolitik offenbar immer mehr um sich greift,72 liegt in der logischen Konsequenz eines von Nebensächlichkeiten geleiteten Regulierungseifers: Je penetranter die aufgezwungene Moral, desto banaler die Resultate. Besonders kritisch ist die Strategie des „White Washing“ naturgemäß dort zu beurteilen, wo ernstzunehmende CSR-Belange, die es immerhin auch gibt, wortreich beschwiegen werden. Die geltende Comply-or-explain-Regelung hilft darüber nicht hinweg: Wer etwa ausführlich über technische Fortschritte der Motorherstellung im Bemühen um Lärmreduzierung berichtet hat, muss bei wortgetreuer Interpretation des § 289c Abs. 4 HGB über Umweltrisiken, die durch die fortgesetzte Produktion von Verbrennungsmotoren gegenüber Elektrofahrzeugen ausgelöst werden, kein Wort verlieren. Danach ist eine Negativerklärung nur abzugeben, wenn „in Bezug auf einen oder mehrere der in Absatz 2 genannten Aspekte kein Konzept verfolgt“ wird. Die Vorschrift verpflichtet nicht dazu, die mit der eigenen Geschäftstätigkeit sowie 68 Offenbar gibt es bislang keine empirisch gesicherten Erkenntnisse über den Kausalzusammenhang zwischen Reputationsgewinn und geschäftlichem Erfolg, vgl. Humbert, ZGR 2018, 295, 313 m.w.N. S. dazu schon oben bei Fn. 45. 69 Bereits die Erstellung und Verwirklichung von „Teilkonzepten“ entbindet von der Pflicht zur Abgabe einer Negativerklärung, Vollständigkeit wird nicht verlangt (Begr. RegE BT-DR 18/9982, S. 52). 70 In diesem Sinne mit fundierter rechtsdogmatischer Begründung Humbert, ZGR 2018, 295, 312 f. 71 Vgl. Needham/Müller, IRZ 2018, 345, 350. 72 Vgl. Needham/Müller, IRZ 2018, 345 ff., 350.

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mit Vertragsbeziehungen zu Drittunternehmen verbundenen „wesentlichen Risiken“ i.S.d. § 289c Abs. 3 Nr. 3 und 4 HGB darzustellen und Gründe dafür zu benennen, warum zur Eindämmung dieser Risiken nichts unternommen wird. Die vereinzelt vertretene Gegenauffassung73 verdient keine Gefolgschaft. Sie wäre zwar geeignet, den Druck auf die Betroffenen zur Wahrnehmung ihrer ethischen Verantwortung beträchtlich zu erhöhen, der Preis dafür wäre aber unvertretbar hoch. Man bedenke nur die Informations- und Erhebungskosten, die den Unternehmen zusätzlich entstünden, wenn sich die Angabepflichten nach § 289c Abs. 3 Nr. 4 und 5 HGB nicht nur auf tatsächlich geplante oder ergriffene Risikobekämpfungsmaßnahmen, sondern auf alle nur erdenklichen wesentlichen Gefährdungen sämtlicher in § 289c Abs. 2 HGB aufgezählter Belange einschließlich der Gefahren aus vertragsverbundenen Drittunternehmen bezögen. Unternehmen sind keine Umweltforschungsinstitute, und es besteht kein Anlass zur Annahme, dass der Gesetzgeber sie dahin umfunktionieren wollte.74

IV. Folgerungen für die Prüfungs- und Überwachungspflichten des Aufsichtsrats 1. Prüfungspflichten gem. § 171 Abs. 1 AktG Nachdem soeben unter III. gezeigt werden konnte, dass die Ausnahmevorschrift des § 317 Abs. 2 S. 4 HGB in ihrer Reichweite bislang überschätzt wird und dass sich die Freistellung von der inhaltlichen Überprüfung der CSR-Berichterstattung durch den externen Abschlussprüfer im Wesentlichen auf die Negativerklärung nach §  289c Abs. 4 HGB beschränkt, erledigt sich der Streit um die Folgen für die Prüfungspflichten des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 1 AktG quasi von selbst: Da die ordnungsgemäße Dokumentation angestrebter oder durchgeführter CSR-Initiativen insoweit gar nicht zur Prüfung ansteht, ist auch das Aufgabenfeld der externen Revision von vornherein nicht berührt. Stattdessen sind die Rechtfertigungsgründe, die das Unternehmen für seine Entscheidung gegen derartige Initiativen anzugeben hat, allein vom Aufsichtsrat in Befolgung seiner allgemeinen Überwachungsverpflichtung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ob man dies mit § 171 Abs. 1 AktG n.F. oder mit der weiter gefassten Regelung des § 111 Abs. 1 AktG begründet, mag dahinstehen; jedenfalls entspricht es voll und ganz dem bisherigen Reglement der internen Abschlussprüfung, dass die Unterstützung des Aufsichtsrats durch den Wirtschaftsprüfer nicht institutionell gesichert ist. § 317 Abs. 2 S. 4 HGB greift in dieses Normgefüge nicht störend ein, sondern verhindert, dass die gesetzlichen Pflichten des Wirtschaftsprüfers systemwidrig auf außerfinanzielle Vorgänge der Corporate Governance ausgeweitet werden.75 Auf sich allein gestellt ist der Aufsichtsrat ohnehin nicht; vielmehr wird er in der Regel auf die Prüfungsergebnisse der Internen Revision zurückgreifen 73 Kajüter, DB 2017, 617, 622. 74 A.A. im Ergebnis Hommelhoff, NZG 2017, 1361, 1363; dagegen mit Recht Simons, ZGR 2018, 316, 319; Bachmann, ZGR 2018, 231, 233 f., 235 f. 75 Überzeugend Haller/Gruber, KoR 2018, 474, 478.

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können, deren Bedeutung als Informationslieferant für Kontrollzwecke in praxi offenbar immer wichtiger wird.76 Die zusätzliche Einschaltung eines Wirtschaftsprüfers nach § 111 Abs. 2 S. 4 AktG will in Anbetracht der hierdurch ausgelösten Kosten wohl überlegt sein. Keinesfalls lässt sich dem Gesetz eine dahingehende Verpflichtung des Aufsichtsrats annehmen, wie im Schrifttum gelegentlich behauptet.77 2. Allgemeine Überwachungspflichten a) Reputation als ermessensleitender Gesichtspunkt Entscheidungen des Vorstands über die Fortsetzung gegenwärtiger und Einleitung künftiger CSR-Maßnahmen unterliegen, wenn man mit der wohl h.M. eine entsprechende Rechtspflicht zum Handeln ablehnt, der Zweckmäßigkeitskontrolle, nicht der Rechtskontrolle des Aufsichtsrats. Im Schrifttum heißt es hierzu mitunter recht pla­ kativ, die möglichen Auswirkungen auf die Reputation der Gesellschaft dürften keinesfalls ignoriert werden, sie bildeten eine die Verwaltungsentscheidung bindende Ermessensgrenze.78 Dem ist nicht prinzipiell zu widersprechen, wohl aber einiges konkretisierend hinzuzufügen: Zu beantworten ist zunächst die vorgelagerte Frage, ob zwischen dem Engagement in CSR-Angelegenheiten und Reputation überhaupt ein greifbarer Zusammenhang besteht. Vorstand und Aufsichtsrat werden sich hierzu unter Gebrauch eines weiten Beurteilungsermessens zu verhalten haben. Manche Stellungnahmen im Schrifttum lesen sich demgegenüber fast so, als wäre das Reputationspotential einer fremd- oder gemeinwohldienlichen Aktion naturgegeben oder jedenfalls in aller Regel zu unterstellen.79 Was aber ethisch zu begrüßen ist und was nicht, richtet sich im Zeitalter der Globalisierung nach der veränderlichen Denk- und Empfindungswelt ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, die sich in einem demokratischen Gemeinwesen jeder CSR-Regulierung entzieht.80 Wer in Deutschland in Windkraftanlagen investiert, wird vielleicht in Frankreich und den meisten anderen europäischen Ländern aufgefordert, die Verspargelung der Landschaften zu unterlassen und lieber Kernkraftwerke zu bauen. Scheinen die Grenzwerte für zulässige Abgase von Dieselfahrzeugen heute noch in Stein gemeißelt, entpuppen sie sich vielleicht morgen schon als geistiges Produkt einer von keiner medizinischen Fachkenntnis getrübten Umwelt­ initiative. Vorsicht ist namentlich dort geboten, wo unter Bezugnahme auf empirische Vorarbeiten in den USA pauschal behauptet wird, die „praktische Bedeutung der ­Unternehmensreputation als Vermögensgegenstand der Gesellschaft“ könne „kaum

76 Eingehend Haller/Gruber, KoR 2018, 474, 478. 77 Vgl. die Nachweise oben Fn. 13. 78 Bachmann, ZGR 2018, 231, 238; Simons, ZGR 2018, 316, 323. 79 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, §  289b HGB Rz.  3; Eu­ finger, EuZW 2015, 424, 425; Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689, 691. 80 Anders, aber nicht überzeugend J. Vetter, ZGR 2018, 338, 367: „Da insbesondere CSR-Ziele gesetzlich anerkannt sind, müssen diese … nicht gesondert ökonomisch gerechtfertigt werden.“

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überschätzt werden.“81 In angelsächsischen Geschäftskreisen spielen Traditionen eine Rolle, die in der inländischen Diskussion nicht genügend beachtet werden: Dort ist die Good Corporate Citizenship in der Tat aus der Managerpraxis nicht wegzudenken, sie ist quasi-institutioneller Bestandteil der allgemeinen Wohlfahrtssicherung und -fürsorge.82 Kontinentaleuropäische Sozialsysteme mit dem Anspruch auf Rundumversorgung der Bevölkerung und kontinuierlich ansteigenden Steuern und Sozialabgaben sind damit nicht unbedingt vergleichbar. Hier mag sich mancher fragen, warum Staaten und Kommunen ihre Gemeinwohlaufgaben nicht selbst wahrnehmen und aus ihren überquellenden Haushaltskassen finanzieren, statt sich ausgerechnet von den fiskalisch geschröpften Privathaushalten (Aktionären) zusätzlich subventionieren zu lassen.83 Zum zweiten steht nicht immer von vornherein fest, dass sich Reputationserfolge oder -misserfolge positiv bzw. negativ auf den Unternehmenserfolg auswirken. Wäre es anders, hätte sich der Gesetzgeber die CSR-Regulierung im Vertrauen auf die Selbststeuerungskräfte der Märkte sparen können. Indes lehrt ein Blick in die Literatur, dass die Gefahr von Fehleinschätzungen geschäftlicher Reputationseffekte mitunter gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Von einem „enormen Reputationsgewinn“ ist pauschal die Rede, der die „Ertragskraft des Unternehmens“ positiv beeinflusse.84 Über Erwartungen der Anteilseigner wird berichtet, „die oftmals ein großes Interesse an Informationen über die Verfolgung nichtfinanzieller Unternehmensziele“ hätten.85 Von „großer Bedeutung“ sei, da ist man sich sicher, „die Unterrichtung über nicht­ finanzielle Unternehmensziele … auch für die Gläubiger und Vertragspartner“.86 Demgegenüber ist nüchtern festzustellen, dass der wohl prominenteste aktuelle Umweltskandal, nämlich die Täuschung der Verbraucher über Abgaswerte von Dieselfahrzeugen, die Kunden der verantwortlichen Automobilkonzerne offenbar kaum beeindruckt hat: 2018 war ein Verkaufsrekordjahr für VW, Mercedes-Benz und BMW.87 Tonnenschwere Geländewagen oder Sport Utility Vehicles (SUVs) mit All­ radantrieb, die mehr Kohlendioxid und Stickoxide ausstoßen und mehr Kraftstoff verbrauchen als jeder herkömmliche Pkw, sind weithin als umweltpolitische Fehl­ entwicklung des Automobilbaus bekannt, dennoch stieg ihr Marktanteil von 7% in 2007 auf 27% in 2018.88 Im globalen Wettbewerb entscheidet womöglich nicht der SUV-Hersteller über die Erzielung von Fortschritten im Klimaschutz, sondern die 81 Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689, 691; ferner Söhnholz, Das Diversifikator Buch: „Most-passive“ Multi-ETF und ESG - Geldanlagen, Stand 1.1.2018, S. 41, https://diversifikator.com/ de/wp-content/uploads/180101-Das-Diversifikator-Buch.pdf., jew. m.w.N. 82 Erinnert sei an den Ausspruch von John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ 83 Die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) genügt wohl kaum als Erklärungsmuster; anders aber wohl J. Vetter, ZGR 2018, 338, 349. 84 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289b HGB Rz. 3. 85 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289b HGB Rz. 5. 86 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289b HGB Rz. 6. 87 Vgl. zuletzt H. Appel, FAZ v. 2.2.2019, S. 19. 88 P. Bethge, Der Spiegel 2018, Nr. 52 S. 93.

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Konkurrenz aus China, die nach Einstellung der inländischen Produktion die neu entstandene Marktnische besetzt. Und schließlich gilt immer noch, dass über den Geschäftserfolg an den Absatzmärkten primär das Preis- Leistungsverhältnis entscheidet. CSR-Maßnahmen kosten Geld und führen zu einer Verteuerung des Leistungsangebots. Von einigen „grünen“ Marktnischen abgesehen, kaufen Kunden immer noch dort, wo die Ware – gleiche Qualität vorausgesetzt – am billigsten ist. Eine Verwaltung, die mit dem Geld ihrer Aktionäre Gemeinwohlinitiativen größeren Umfanges „ins Blaue“ hinein startet und dadurch die Attraktivität der eigenen Produkte schmälert, verstößt daher gegen ihre Organpflichten.89 b) „Sustainable Finance“ als ermessensleitender Gesichtspunkt Glaubt man den Beteuerungen des Schrifttums, werden vorstehende Bedenken von den Aktionären als den Eigentümern des Unternehmens nicht oder jedenfalls nicht mit erkennbaren Nachteilen für die Gesellschaft geteilt. Im Gegenteil zeichne sich seit einigen Jahren ab, dass die Attraktivität der Aktie als Kapitalanlage durch CSR-Maßnahmen der Gesellschaft tendenziell zunehme. Zum Beleg dieser Behauptung wird allerdings nicht auf das Investitionsverhalten der Aktionäre schlechthin verwiesen, die man in ihrer Heterogenität nicht über einen Kamm scheren dürfe. Aufschlussreicher seien die bisherigen Beobachtungen der von den aktiven Investmentfonds erstellten und verfolgten Anlageleitlinien, die sich vielfach der gezielten Unterstützung von Kapitalnachfragern mit ethischer Zielsetzung verschrieben hätten.90 Maßstab für die „Performance“ einer Aktie am Kapitalmarkt ist also nach dieser Sichtweise nicht das kurzfristige Gewinnstreben im täglichen Umsatzgeschäft an der Börse, sondern die längerfristige, tendenziell konservativ eingestellte Anlagepolitik institutioneller Investoren, deren spekulative Teilnahme am Marktgeschehen institutionelle Grenzen gesetzt sind.91 Die Richtigkeit dieser rechtstatsächlichen Beobachtungen lässt sich nicht bestreiten; die Frage ist nur, ob sich aus ihnen Erkenntnisse für das Entscheidungsverhalten der AG-Verwaltungsorgane gewinnen lassen. Diese Frage ist nach noch geltendem Recht jedenfalls grundsätzlich zu verneinen, weil Kapitalverwaltungsgesellschaften ihre ­Portefeuilles gerade nicht mit dem Ziel der Renditesteigerung einzelner Investments zusammenstellen.92 Nach dem Grundsatz der qualitativen Risikomischung sind sie vielmehr verpflichtet, auf eine möglichst unterschiedliche Wertentwicklung der Ein-

89 So wohl auch Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 76 Rz. 37 f.; 45 mit Gegenbeispielen; a.A. konsequenterweise J. Vetter, ZGR 2018, 338, 345, 346 (dort mit zahlr. Hinweisen zum Streitstand) auf Grundlage seiner Prämisse, der geschäftliche Reputationseffekt sei aufgrund der CSR-Regulierung im Zweifel zu unterstellen (s. bei Fn. 80). 90 Ausführlich J. Vetter, ZGR 2018, 338, 360 ff. 91 Dazu Köndgen/Schmies in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5.  Aufl. 2017, § 113 Rz. 123 ff. 92 Für den Regelungsbereich der EU-VO über europäische Fonds für soziales Unternehmertum Nr. 346/2013 (EuSEF-VO) und der EU-VO über europäische langfristige Investmentfonds 2015/760 (ELTIF-VO) gilt das freilich nicht; dazu Weitnauer, GWR 2019, 1 ff.

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zelanlagen Bedacht zu nehmen (sog. negative Korrelation).93 Infolgedessen gibt es auch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Reputationspotential einzelner CSR-Programme und dem Kaufinteresse institutioneller Anleger. Zutreffend ist allein, dass die Fondsverwaltungen seit geraumer Zeit viel Aufwand betreiben, um nachteilige Auswirkungen der Geschäfte einzelner Unternehmen auf CSR-Belange, wie sie in § 289c Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 HGB beschrieben sind (sog. ESG-Risiken94), frühzeitig zu identifizieren und anlagestrategisch zu berücksichtigen. „Risikomischung“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Aktien CSR-averser Gesellschaften gerade dann erhöht nachgefragt werden, wenn ein größerer Teil des Fondsvermögens in Aktien CSR-geneigter Gesellschaften investiert ist. Eine andere, hier nicht mehr zu behandelnde Frage lautet, wie sich die Situation nach vollständiger Umsetzung der Europäischen Regulierungspläne zur Förderung „nachhaltiger Finanzierungen“ (sustainable finance) darstellen wird.95 Vorgesehen sind mannigfache und z.T. drastische Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit der Marktakteure mit dem Ziel, Finanzmittel unter staatlicher Anleitung „umweltfreundlich“ zu allozieren. Von dieser neuerlichen Regulierungswelle werden voraussichtlich Fondsmanager wie die AG-Verwaltungsorgane gleichermaßen betroffen sein.96 Verräterisch ist der Aktionsplan insofern, als durch ihn deutlich wird, dass die Regulierer dem angeblich so großen Reputationspotential von CSR-Programmen und seiner Anreizwirkung für Investoren offenbar wenig zutrauen, wenn sie es für erforderlich halten, diesen „Anreizen“ durch gesetzliche Zwangsmaßnahmen Geltung zu verschaffen.

V. Zusammenfassung Mit der CSR-Regulierung versucht die Legislative einmal mehr, ihren Einfluss auf das Entscheidungsverhalten kapitalmarktorientierter Unternehmen zu intensivieren. Darauf werden sich deren Aufsichtsräte jetzt und in Zukunft auch im Rahmen der Bilanzprüfung nach §  171 AktG einstellen müssen. Wie allerdings die vorstehenden Untersuchungen gezeigt haben, ist der bilanzrechtliche Comply-or-explain-Ansatz kaum geeignet, Manager und Aufsichtsräte zu mehr Engagement im Kampf für die Umwelt und für mehr soziale Gerechtigkeit zu veranlassen. Das liegt nicht nur an der Überfrachtung des Katalogs förderungsbedürftiger CSR-Belange mit Banalitäten aus der Ideenwelt der Schönwetterpolitik, sondern hat ganz allgemein mit der Schwierigkeit zu tun, vordringliche Förderungs- und Schutzanliegen tatbestandlich hinreichend konkret zu erfassen. Der Unternehmenspraxis wird es deshalb leichtfallen, rufschä­ digende Negativerklärungen nach §  289c Abs.  4 HGB durch wortreich verpackte 93 Köndgen/Schmies in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5.  Aufl. 2017, § 113 Rz. 128. 94 ESG = Environment/Social/Goverance; dazu monographisch Söhnholz, Das Diversifikator Buch: „Most-passive“ Multi-ETF und ESG - Geldanlagen, Stand 1.1.2018. 95 S.  High-Level Expert Group on Sustainable Finance, Financing a Sustainable European Economy, Final Report, 31.1.2018, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/publications/​ 180131-sustainable-finance-report_en. 96 Lanfermann, BB 2018, 490 ff. Erste Reaktionen der Deutschen Kreditwirtschaft fallen erwartungsgemäß negativ aus, vgl. Bourgon, BB 2018, 361.

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­ libi-Programme (White Washing) zu umkurven. Daran ist noch nichts per se IllegaA les, doch ist die Grenze zur unzulässigen Beschönigung eigener Aktivitäten im Sinne von § 289c Abs. 2 und 3 HGB (Green Washing) fließend. Der Aufsichtsrat hat entgegen bislang vorherrschender Auffassung durchaus die Möglichkeit, derartigen Fehlentwicklungen ohne Inanspruchnahme zusätzlicher ­Ressourcen zu begegnen. Ihm stehen die Ergebnisse der externen Jahresabschlussprüfung und ergänzend des Zusatzberichts nach Art. 11 Abs. 1, 2 lit. k APrVO als Informationsquelle zur Verfügung. Anders als im Schrifttum zumeist angenommen, entfaltet § 317 Abs. 2 S. 4 HGB, wonach die nichtfinanzielle Erklärung über CSR-Belange von der inhaltlichen Jahresabschlussprüfung ausgenommen ist, im Ergebnis nur für Negativerklärungen nach § 289c Abs. 4 HGB praktische Wirkung. Die Gefahr einer Rufschädigung, die solche Erklärungen auslösen können, hat der Aufsichtsrat in Wahrnehmung seiner allgemeinen Kontrollpflichten nach § 111 Abs. 1 AktG zu berücksichtigen. Ob er gegenüber dem Vorstand darauf dringt, reputationsfördernde oder -erhaltende CSR-Maßnahmen zu ergreifen, entscheidet der Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen; eine Rechtspflicht zum Handeln lässt sich den Neuregelungen nicht entnehmen. Je nach den Umständen kann der Aufsichtsrat in Gebrauch seines Beurteilungsspielraumes auch zu dem Ergebnis gelangen, dass bestimmte CSR-Maßnahmen für das Erscheinungsbild des Unternehmens nach außen gänzlich irrelevant sind; § 289c HGB ist nicht etwa im Sinne einer gegenteiligen Regelvermutung zu verstehen.

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Geschäftsleiterpflichten bei der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen Inhaltsübersicht I. Organschaftlicher Pflichtenrahmen bei M&A-Transaktionen 1. Vermögenssorgfalt bei der Beteiligungsveräußerung 2. Beteiligungsveräußerung und Geschäftsleiterermessen 3. Vertrauen auf Expertenrat II. Vorstandspflicht zur Durchführung ­eines erlösmaximierenden Auktions­ verfahrens? 1. Beteiligungsveräußerung im Wege eines Aktionsverfahrens 2. Auktionspflicht in Übernahme­ situationen?

a) US-amerikanisches Vorbild b) Kontinentaleuropäische Rezeption? 3. Auktionspflicht bei Beteiligungs­ veräußerungen? III. Vorstandspflichten und Vorstandser­ messen bei der verkaufsvorbereitenden Bewertung 1. Bewertungsentscheidungen als unter­ nehmerische Entscheidungen 2. Auswahlermessen bei der Methodenwahl IV. Ergebnisse

Ausgestattet mit großer praktischer Erfahrung als Unternehmensjurist und Rechtsanwalt, meldet sich Eberhard Vetter immer wieder mit tiefgründigen Beiträgen in der gesellschaftsrechtlichen Diskussion zu Wort.1 Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Aktienrecht,2 und hier vor allem den Pflichten der Organmitglieder.3 Verbunden mit den besten Wünschen zu seinem 70. Geburtstag, hoffe ich daher auf sein Interesse, wenn im Weiteren eine praktisch wichtige Einzelfrage zu den Geschäftsleiterpflichten bei M&A-Transaktionen vertieft wird.

I. Organschaftlicher Pflichtenrahmen bei M&A-Transaktionen Angesichts der großen wirtschaftlichen Bedeutung von Unternehmenskäufen sind die Geschäftsleiterpflichten bei M&A-Transaktionen vergleichsweise spärlich aufbe-

1 Mustergültig etwa E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Kap. 6: „Aufsichtsrat“ auf fast 200 Druckseiten; E. Vetter in Fleischer/ Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103 ff. 2 Vgl. jüngst E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §§ 170-178, auf gut 300 Druckseiten. 3 Neuerdings etwa E. Vetter in Krieger/Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 22: „Organisation (Geschäftsverteilung und Delegation) und Überwachung“.

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reitet.4 Ausführlichere Stellungnahmen findet man lediglich zu der bekannten Streitfrage, ob die Geschäftsleiter eines Erwerbsinteressenten gemäß §§ 93 Abs. 1 AktG, 43 Abs. 1 GmbHG gehalten sind, eine kaufvorbereitende Durchleuchtung des Zielunternehmens (Due Diligence) vorzunehmen.5 Wenig erörtert werden demgegenüber die Verhaltenspflichten der Geschäftsleiter für den spiegelverkehrten Fall: die geplante Veräußerung von Unternehmensteilen oder Beteiligungen.6 Auch hier stellen sich von der Strukturierung des Veräußerungsprozesses (II.) bis hin zur Wertermittlung des Veräußerungsobjekts (III.) schwierige Einzelfragen, die in der Rechtsprechung noch kaum behandelt sind. Zu ihrer Beantwortung empfiehlt es sich, einige übergreifende Gesichtspunkte vor die Klammer zu ziehen. 1. Vermögenssorgfalt bei der Beteiligungsveräußerung Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG haben Vorstandsmitglieder7 bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Aus dieser Generalklausel pflegen Rechtsprechung und Rechtslehre eine Vielzahl einzelner, nicht abschließend formulierbarer Verhaltensanforderungen abzuleiten.8 Als Maßfigur ist der professionelle und hauptamtliche Geschäftsleiter anzusehen, der die zur Ausübung seines Amtes erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzt.9 Bei allen vermögensrelevanten Vorstandsentscheidungen kommt dem Gebot der unternehmerischen Vermögenssorgfalt besondere Bedeutung zu. Nach einer verbreiteten Formel obliegt den Vorstandsmitgliedern im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die treuhänderische Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen.10 Sie sind ver 4 Ein eigenes Kapitel widmen ihnen immerhin Bücker/Kulenkamp in Krieger/Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 29: „Risikobereich und Haftung: M&A-­ Transaktionen“; eingehend auch Nauheim/C. Goette, DStR 2013, 2520 mit der zutreffenden Bemerkung: „Die bisher vom Gesetzgeber und der Rechtsprechung hierzu entwickelten Maßstäbe bieten insbesondere für große komplexe Transaktionen mit internationalem Bezug wenig konkrete Handlungsempfehlungen.“; ferner Böttcher, NZG 2007, 481; aus österreichischer Sicht Hermann/Ettmayer in Kalss/Frotz/Schörghofer (Hrsg.), Handbuch für den Vorstand, 2017, Kap. 29: „Der Vorstand bei M&A Transaktionen“. 5 Vgl. zum GmbH-Geschäftsführer OLG Oldenburg, NZG 2007, 434; MüKoGmbHG/Fleischer, 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 100; zum Vorstand Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 87, jeweils m.w.N.; zu weiteren gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit einer Due Diligence Fleischer in Berens/Brauner/Strauch/Knauer (Hrsg.), Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 8. Aufl. 2019, S. 195 ff. 6 Für eine Ausnahme Lutter in FS Steindorff, 1990, S. 125. 7 Im Folgenden ist zur Vereinfachung ausschließlich von Vorstandsmitgliedern die Rede; die Ausführungen gelten aber mutatis mutandis auch für GmbH-Geschäftsführer. 8 Vgl. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 6; Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 41; Hölters/Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 93 Rz. 3; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 58; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 6; Mertens/Cahn in Kölner Komm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 11; MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 21. 9 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 41; Hölters (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 27. 10 Vgl. BGHZ 129, 30, 34 (GmbH); OLG Düsseldorf, AG 1997, 231, 235; OLG Hamm, AG 1995, 512, 514; Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 114; Krieger/Sailer-Coceani (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 6; Mertens/Cahn (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 10; Spindler (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 25.

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pflichtet, das ihnen anvertraute Vermögen der Aktiengesellschaft sorgfältig zu verwalten.11 Bündig kann man von einer organschaftlichen Vermögensverantwortung der Vorstandsmitglieder sprechen.12 In der strafrechtlichen Rechtsprechung zum Untreuetatbestand des §  266 StGB ist gleichsinnig von einer Vermögensbetreuungspflicht die Rede.13 Die organschaftliche Vermögensverantwortung aktualisiert sich namentlich bei der Veräußerung von Unternehmensteilen oder Beteiligungen der Aktiengesellschaft. Sie dürfen grundsätzlich nur zu angemessenen Bedingungen und nicht unter Wert veräußert werden.14 Schon gar nicht zulässig ist eine Verschleuderung von Vermögenswerten, die als Verschwendung von Gesellschaftsvermögen (waste of corporate assets) sorgfaltswidrig i.S.d. § 93 Abs. 1 AktG ist15 und strafrechtlich sogar unter den Untreuetatbestand fallen kann.16 Dass sich Vorstandsmitglieder bei einem zu geringen Verkaufspreis unter den weiteren Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig machen, wird zwar in der Gerichtspraxis bisher nur am Rande erwähnt,17 ist in der Literatur aber allgemein anerkannt: Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Beteiligungsveräußerung bei Überschreitung gewisser Schwellenwerte nach der Holzmüller/Gelatine-Doktrin einer Hauptversammlungszustimmung bedarf,18 weisen zahlreiche Stimmen darauf hin, dass in der Veräußerung zu einer unangemessenen Gegenleistung eine schadensersatzbegründende Pflichtverletzung der verantwortlichen Vorstandsmitglieder liegt.19

11 Vgl. OLG Koblenz, NJW-RR 2000, 483, 484 (GmbH): „Verpflichtung zu gewissenhafter, zuverlässiger Verwaltung der ihm anvertrauten Vermögenswerte“. 12 So Fleischer, AG 2015, 133, 144. 13 Vgl. BGH, NJW 2011, 88 Rz. 37: „Bei einer Aktiengesellschaft bestimmen sich Umfang und Grenzen der Vermögensbetreuungspflicht der Organe nach Maßgabe der §§  76, 93, 116 AktG.“; BGH, NJW 2010, 92 Rz. 36: „Dem Zeugen H oblag als Vorstandsmitglied eine sich aus §§ 76, 93 AktG ergebende Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der VW-AG.“ 14 Speziell zur Veräußerung von Beteiligungsbesitz unter seinem wirtschaftlichen Wert Lutter (Fn. 6), S. 125, 135 ff. 15 Vgl. Bachmann, NZG 2013, 1121 ff.; Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 90; Hopt/Roth (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 191. 16 Vgl. BGH, NJW 2006, 522 Rz. 21. 17 Vgl. aber immerhin OLG Stuttgart, ZIP 2005, 1416, 1418: „Der Vorstand hat bei Veräußerungsentscheidungen die Sorgfaltsanforderungen des § 93 Abs. 1 AktG zu beachten.“ im Anschluss an Habersack, AG 2015, 137, 146. 18 Verneinend BGH, NZG 2007, 264 – Hofbräu; Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-­ Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, vor § 311 AktG Rz. 43; Spindler/Stilz/Müller, AktG, 4. Aufl. 2019, vor § 311 Rz. 62; bejahend Bungert, DB 2004, 1345, 1350; Spindler/Stilz/Hoffmann, AktG, 4. Aufl. 2019, §  119 Rz.  30g; zum ganzen Fleischer in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2019, vor § 311 Rz. 97 ff. m.w.N. 19 Vgl. Arnold, ZIP 2005, 1573, 1577; Bohnert, DB 1999, 2617, 2621 f.; Habersack, AG 2005, 137, 146; Hofmeister, NZG 2008, 47, 50 mit Fn. 48; Kiesewetter/Spengler, Der Konzern 2009, 451, 453 f.; Wollburg/Gehling in FS Lieberknecht, 1997, S. 133, 154; Zientek, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen bei Unternehmensakquisitionen einer Aktiengesellschaft, 2016, S. 308.

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2. Beteiligungsveräußerung und Geschäftsleiterermessen Wesentlich abgemildert, wenn auch nicht gänzlich beseitigt wird das Haftungsrisiko für Vorstandsmitglieder dadurch, dass Veräußerungsentscheidungen unter bestimmten Voraussetzungen vom Geschäftsleiterermessen gedeckt sind. Einvernehmen besteht zunächst darüber, dass Erwerb und Veräußerung von Unternehmensteilen oder Beteiligungen unternehmerische Entscheidungen i.S.d. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG darstellen.20 Ihnen wohnt angesichts der notorischen Schwierigkeiten bei Unternehmensbewertung und Kaufpreisbestimmung stets ein gewisses Unsicherheitselement inne und sie haben aufgrund ihrer strategischen Dimensionen für Erwerber und ­Veräußerer21 einen stark prognostischen Einschlag. Infolgedessen sind sie geradezu ­unternehmerische Entscheidungen par excellence, die nach entsprechenden Ermessensspielräumen verlangen.22 Ihre gerichtliche Überprüfung verlagert sich dementsprechend stärker auf den Prozess der Entscheidungsvorbereitung: Der Vorstand muss im Vorfeld durch den Einsatz interner und externer Ressourcen dafür Sorge tragen, dass ihm die relevanten Daten und Dokumente zur Verfügung stehen. Bei größeren M&A-Transaktionen trifft ihn daher neben der Informations- auch eine ­Organisationspflicht.23 Darf er allerdings vernünftigerweise annehmen, bei seiner Kauf- oder Verkaufsentscheidung auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, so scheidet gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine Sorgfaltspflichtverletzung aus. 3. Vertrauen auf Expertenrat Bei der kauf- oder verkaufsvorbereitenden Bewertung von Beteiligungen ziehen Vorstandsmitglieder häufig externe Experten zu Rate, etwa Wirtschaftsprüfungsunternehmen oder Investmentbanken, die ihnen entsprechende Informationen beschaffen und Erfahrungen aus vergleichbaren Transaktionen beisteuern.24 Hier ist im Zusam20 Vgl. OLG Frankfurt, NZG 2011, 62, 65 – Dresdner Bank/Commerzbank; OLG Köln, BeckRS 2010, 9506 unter II 2 a; Böttcher, NZG 2007, 481, 482; Bücker/Kulenkamp (Fn. 4), § 29 Rz. 2 und 75; Hölters (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 179; Nauheim/C. Goette, DStR 2013, 2520, 2521; Schüppen in FS Haarmann, 2015, S. 210, 216; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 8 Rz. 52; Spindler (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 119. 21 Für eine Zusammenstellung möglicher strategischer Ziele aus Erwerber- und Veräußerersicht Seibt in Seibt (Hrsg.), Beck‘sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, 3. Aufl. 2018, A. I. 2, S. 3 f. 22 Gleichsinnig Böttcher, NZG 2007, 481, 482: „Die für ein weites Geschäftsleiterermessen angeführten Gründe kommen gerade in der Situation des Unternehmenserwerbs zum Tragen, da die unternehmerische Entscheidungen kennzeichnende Unsicherheit besonders groß ist.“; Bücker/Kulenkamp (Fn. 4), § 29 Rz. 3: „Die Entscheidung zum Erwerb oder zur Veräußerung eines Unternehmens oder Geschäftszweigs liegt im Kernbereich des unternehmerischen Handelns und geht oftmals mit komplexen Einschätzungen, Wertungen und Prognosen einher.“; Nauheim/C. Goette, DStR 2013, 2520: „Der Erwerb und die Veräußerung von Unternehmen oder Unternehmensteilen sind in besonderer Weise geprägt von unternehmerischem Handeln, Wertungen sowie Prognose- und Ermessensentscheidungen.“ 23 Zutreffend hervorgehoben von Bücker/Kulenkamp (Fn. 4), § 29 Rz. 82. 24 Vgl. Bücker/Kulenkamp (Fn. 4), § 29 Rz. 82.

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menhang mit Haftungsfragen an die höchstrichterlichen Grundsätze zum Vertrauen auf Expertenrat zu denken.25 Sie kommen nicht nur bei der Einholung von Rechtsrat, sondern auch bei der Einschaltung anderer Experten zur Anwendung,26 sofern die Voraussetzungen des Ision-Urteils erfüllt sind: (a) Fachkompetenz des Beraters, (b) Unabhängigkeit des Beraters, (c) umfassende Information des Beraters durch das Organmitglied und (d) eigene Plausibilitätskontrolle des Expertenrats durch das Organmitglied.27 Im Hinblick auf die Unternehmensbewertung hat das OLG Stuttgart sogar von einer statthaften Delegation gesprochen.28

II. Vorstandspflicht zur Durchführung eines erlösmaximierenden Auktionsverfahrens? Im Lichte der organschaftlichen Vermögensverantwortung stellt sich für Vorstandsmitglieder bei der Veräußerungsvorbereitung zunächst die Frage, ob sie ein sog. Auktionsverfahren in die Wege leiten müssen, um einen höchstmöglichen Kaufpreis zu erzielen. Für eine fundierte Antwort wird zunächst das Auktionsverfahren selbst vorgestellt (1.), bevor es um mögliche Anwendungsfälle einer organschaftlichen Auktionspflicht im Aktien- und Kapitalmarktrecht geht (2.) und der Bogen zur Beteiligungsveräußerung zurückgeschlagen wird (3.). 1. Beteiligungsveräußerung im Wege eines Aktionsverfahrens Für Unternehmensverkäufe stehen heute verschiedene Verfahren zur Verfügung.29 Neben dem klassischen Verkauf im Wege exklusiver Verhandlungen mit einem einzi25 Grundlegend BGH, NZG 2011, 1271 – Ision; aus dem Schrifttum Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 35 ff. 26 Dazu Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 209: „Als sachkundige Auskunftspersonen kommen neben Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern auch Steuerberater, Investmentbanker oder Vergütungsberater in Betracht […].“; zur Frage, inwieweit sich Vorstand und Aufsichtsrat auf eine Fairness Opinion verlassen dürfen, Fleischer, ZIP 2011, 201, 208 ff. 27 So BGH, NZG 2011, 1271 Leitsatz 2; NZG 2015, 792 Rz. 35. 28 Vgl. OLG Stuttgart BeckRS 2010, 25689 – Daimler/Chrysler: „Bei der richtigen Unternehmensbewertung handelt es sich um einen Pflichtenkreis des Vorstands, der delegierbar ist. Gegen die praktizierte externe Delegation, also die Übertragung von Aufgaben an unternehmensfremde Dritte, die Wirtschaftsprüfungsunternehmen, ist ebenfalls nichts einzuwenden. Auch ist kein Sorgfaltsverstoß bei Auswahl, Instruktion oder Überwachung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erkennbar.“; s. aber zur Plausibilisierungs- und Prüfungspflicht auch Veil in FS Raiser, 2005, S. 453, 456: „Damit verbindet sich allerdings keine Delegation der den Vorständen obliegenden Verantwortlichkeiten. Die Festlegung des Umtauschverhältnisses ist eine Angelegenheit der Gesellschaft, die der eigenverantwortlich wahrzunehmenden Leitungskompetenz des Vorstands zuzuordnen ist (§ 76 Abs. 1 AktG). Der Vorstand hat sich im Rahmen seines unternehmerisches Ermessensspielraums ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob der Unternehmenswert zutreffend ermittelt wurde. Er ist daher verpflichtet, das vom Wirtschaftsprüfer vorgelegte Gutachten zu überprüfen.“ 29 Zusammenfassend Seibt (Fn. 21), A. IV. 1, S. 20: „Für M&A-Transaktionen gibt es selbstverständlich keine festen Regeln oder ein für alle Umstände passendes Verfahren. In der Praxis

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gen Erwerbsinteressenten haben sich in jüngerer Zeit auch komplexere Verfahren mit einem größeren Kreis möglicher Erwerber etabliert.30 Hierzu gehört namentlich das sog. Auktions- oder Bieterverfahren, das sich in den Vereinigten Staaten herausgebildet hat und von dort auch in andere hochentwickelte M&A-Märkte vorgedrungen ist.31 In Deutschland findet es im Bereich Private M&A immer häufiger Anwendung.32 Da es sich nicht um eine öffentliche Auktion, sondern um ein Verkaufsverfahren mit einer begrenzten Anzahl namentlich bekannter Bieter handelt, wird es auch als „controlled auction“ oder „limited auction“33 bezeichnet. Typischerweise ist der Verkaufsprozess mehr oder minder standardisiert und wird auf Seiten des Verkäufers durch Investmentbanken oder spezialisierte M&A-Beratungshäuser gesteuert.34 Ein wichtiger Vorbereitungsschritt besteht dabei in der finanziellen Bewertung des zu verkaufenden Unternehmens durch den Verkäufer.35 Sodann werden die für einen Käufer wichtigen Informationen über das Unternehmen gesammelt und aufbereitet. Sie werden in einem sog. Informationsmemorandum zu einer Art Verkaufsbroschüre zusammengefasst und nach Abschluss einer Vertraulichkeitsvereinbarung (non dis­ closure agreement) an mögliche Kaufinteressenten übersandt.36 Ein beigefügter Verfahrensbrief (process letter) erläutert den geplanten Ablauf des Auktionsverfahrens.37 Üblicherweise fordert er die Bieter zugleich auf, auf Grundlage des Informationsmemorandums ein erstes unverbindliches Angebot (indicative offer) innerhalb einer behaben sich allerdings für den Regelfall zwei Verfahrensarten herausgebildet, nämlich das (klassische) Verfahren der Exklusivverhandlung (‚One-on-One‘) und das kontrollierte oder beschränkte Bieterverfahren (‚Limited Auction‘).“ 30 Dazu Haberstock in Holzapfel/Pöllath (Hrsg.), Unternehmenskauf in Recht und Praxis, 15. Aufl. 2017, Rz. 1298. 31 Vgl. Behrens/Mertes/Strauch, Due Diligence bei Unternehmensakquisitionen, 6. Aufl. 2011, S. 21, 31: „Eingesetzt wird das Auktionsverfahren in den USA und anderen Ländern mit einem hoch entwickelten Markt für Akquisitionen und zunehmend auch in Deutschland sowie bei internationalen Transaktionen im Rahmen der Veräußerung von Tochtergesellschaften oder Geschäftsbereichen großer Gesellschaften […].“; zur Verfahrensauswahl beim Unternehmensverkauf schon zuvor Illenberger/Berlage, Die Bank 1991, 441  ff.; aus juristischer Sicht BeckOGK/Wilhelmi, 1.12.2017, BGB, § 453 Rz. 281 ff. 32 Vgl. Rosengarten in Meyer-Sparenberg/Jäckle (Hrsg.), Beck’sches M&A-Handbuch, 2017, §  3 Rz.  1: „Häufig werden Unternehmen heutzutage im Wege eines Auktionsverfahrens veräußert.“; Schöne/Uhlendorf in Mehrbrey (Hrsg.), Handbuch Streitigkeiten beim Unternehmenskauf, 2018, § 7 Rz. 1: „Im Bereich des Private M&A wird seit Jahren eine Vielzahl von Unternehmenskäufen im Rahmen von Auktionsverfahren durchgeführt.“ 33 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1298; Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 1. 34 Vgl. Haberstock (Fn.  30), Rz.  1303; Rosengarten (Fn.  32), §  3 Rz.  7; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 2; Voß in Knott (Hrsg.), Unternehmenskauf, 5. Aufl. 2017, Rz. 534. 35 Dazu Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 9 mit dem Zusatz: „Der Verkäufer muss eine realistische Erwartung über den zu erwartenden Kaufpreis haben.“; ähnlich Müller in Semler/Volhard/ Cordes (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Unternehmensübernahmen, Bd. 1, 2001, § 10 Rz. 18: „Der Verkäufer muss seine Preisuntergrenze kennen. Sie liegt bei rein finanzieller Betrachtung dort, wo der Ertrag aus der Fortführung oder Liquidierung des Verkaufsobjekts gleich oder höher ist als der Ertrag aus dem Kaufpreis.“ 36 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1304; Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 10. 37 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1304; Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 15.

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stimmten Frist abzugeben.38 Sodann entscheidet der Verkäufer, mit welchen Bietern er in weitere Verhandlungen eintritt, denen er dann auch eine Due Diligence gestattet.39 Die letzten im Prozess verbliebenen Bieter werden aufgefordert, ein endgültiges Angebot (final bid) einzureichen.40 Auf Basis dieser Angebote trifft der Verkäufer die endgültige Auswahl des Käufers und verhandelt mit ihm über einen rechtlich bindenden Unternehmenskaufvertrag.41 Bei gleichwertigen Angeboten kommt es bisweilen auch zu parallelen Verhandlungen mit zwei oder mehreren Bietern.42 Durch das Auktionsverfahren soll ein Wettbewerb zwischen potentiellen Käufern geschaffen werden.43 Hiervon verspricht sich der Verkäufer eine „höhere Transaktionsdynamik“,44 die zu einen höheren Verkaufspreis45 und besseren Verkaufskonditionen46 führen soll. Ergänzend kann das Auktionsverfahren dem Verkäufer auch dazu dienen, den für sein Unternehmen passenden Käufer zu identifizieren.47 In der Spezialliteratur zum Auktionsverfahren hebt man schließlich hervor, dass es sich um eine objektivierte Preisfindung handle, was nicht zuletzt für die auf Verkäuferseite agierenden Vorstandsmitglieder mit Rücksicht auf ihre Organpflichten von hoher Bedeutung sei.48 Angesichts dessen und der in Aussicht gestellten „Maximierung des Kaufpreises“49 liegt die Frage nicht fern, ob Vorstandsmitglieder bei der Beteiligungsveräußerung gegebenenfalls sogar verpflichtet sind, ein Auktionsverfahren durchzuführen.50

38 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1305; Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 16. 39 Näher Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 18 ff. 40 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1307; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 2. 41 Vgl. Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 2; Voß (Fn. 34), Rz. 536. 42 Dazu Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 25; ferner Haberstock (Fn. 30), Rz. 1309. 43 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1299; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 3; Wilhelmi (Fn. 31), § 453 BGB Rz. 281. 44 Voß (Fn. 34), Rz. 533. 45 Vgl. Haberstock (Fn.  30), Rz.  1299; Rosengarten (Fn.  32), §  3 Rz.  3; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 3; Wilhelmi (Fn. 31), § 453 BGB Rz. 281. 46 Vgl. Haberstock (Fn. 30), Rz. 1299; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 3; Wilhelmi (Fn. 31), § 453 BGB Rz. 281; Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 3: „So gelingt es dem Verkäufer in einem Auktionsverfahren in der Regel, verkäuferfreundliche Bedingungen des Unternehmenskaufvertrages (z.B. eingeschränkte Garantien) auszuhandeln.“ 47 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 4. 48 So Haberstock (Fn. 30), Rz. 1299. 49 Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 2; ähnlich Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 3: „Optimierung des Kaufpreises“; Seibt (Fn. 21), A. IV. 3, S. 22: „Preis- und Konditionenoptimierung“. 50 Unter dem Blickwinkel einer besseren Informationsbasis etwa Müller (Fn. 35), § 10 Rz. 19: „In Fällen, in denen die normalen Wertkriterien versagen oder mit einem hohen Ungewissheitsgrad verbunden sind, sollte der Veräußerer anstreben, mit mehreren potentiellen Interessenten in Verbindung zu treten, um eine Preisbestimmung in einem modifizierten Auktionsverfahren zu treffen.“

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2. Auktionspflicht in Übernahmesituationen? Einem komparativ geschulten und assoziativ denkenden Aktienrechtler kommt bei dem Stichwort „Auktionspflicht“ sogleich eine berühmte Argumentationsfigur aus dem US-amerikanischen Recht in den Sinn: die sog. Revlon-Doktrin des Delaware Supreme Court aus dem Jahre 1986.51 a) US-amerikanisches Vorbild Ausgangspunkt für die Beurteilung von Verteidigungsmaßnahmen der Zielgesellschaft ist in der Delaware-Gerichtsbarkeit die Unocal-Entscheidung aus dem Jahre 1985,52 die hierfür eine sog. modified business judgment rule vorgibt. Danach halten sich die board-Mitglieder im Rahmen ihrer fiduziarischen Pflichten, wenn zwei Vo­ raussetzungen erfüllt sind: Zum einen müssen sie bei Abwehrmaßnahmen in der ­berechtigten Annahme handeln, dass von der Übernahme eine Gefahr für das Wohlergehen der Gesellschaft ausgeht; zum anderen muss die tatsächlich ergriffene Abwehrmaßnahme in angemessenem Verhältnis zu der befürchteten Gefahr stehen (rule of proportionality).53 Dieser zulässige Verteidigungsmodus (defense mode) geht nach der Revlon-Entscheidung allerdings in den sog. Auktionsmodus (auction mode) über, sobald die Veräußerung der Zielgesellschaft unausweichlich feststeht.54 In diesem Augenblick wandelt sich die Rolle der Direktoren „from defenders of the corporate bastion to auctioneers charged with getting the best price for the stockholders at a sale of the company“.55 Sie sind also fortan ausschließlich der kurzfristigen Maximierung des Anteilswertes verpflichtet.56 Nachfolgende Entscheidungen haben sich um eine Konkretisierung der Revlon-Pflichten bemüht, ohne dass sich jedoch eine für alle Fälle gültige Marschroute herausge­ bildet hätte.57 Nicht lange von Bestand war namentlich ein vom Chancery Court ersonnener dreigliedriger Test, wonach die Direktoren eine Auktion veranstalten, einen Markttest durchführen oder aber über eingehende Marktkenntnisse verfügen müs51 Revlon v. MacAndrews & Forbes Holding Inc., 506 A.2d 173 (Del. 1986). 52 Unocal Corp. v. Mesa Petroleum, 493 A.2d 946 (Del. 1985). 53 Eingehend aus dem Schrifttum Bainbridge/Anabtawi, Mergers and Acquisitions, 2017, S. 612 ff.; Carney, Mergers and Acquisitions, 4. Aufl. 2016, S. 311 ff., zu den jüngsten Entwicklungen bei einer Billigung durch die Anteilseigner Anabtawi, 43 Del. J. Corp. L. 161 (2019). 54 Vgl. Revlon v. MacAndrews & Forbes Holding Inc., 506 A.2d 173, 182 (Del. 1986): „[…] it became apparent to all that the break-up of the company was inevitable. The Revlon board’s authorization permitting management to negotiate a merger or buyout with a third party was a recognition that the company was for sale.“ 55 Revlon v. MacAndrews & Forbes Holding Inc., 506 A.2d 173, 182 (Del. 1986). 56 Vgl. Revlon v. MacAndrews & Forbes Holding Inc., 506 A.2d 173, 182 (Del. 1986): „the max­ imization of the company’s value […] for the stockholders’ benefit“; Bainbridge/Anabtawi (Fn. 52), S. 706: „concern for immediate shareholder value“. 57 Vgl. Barkan v. Amstedt Industries, Inc., 567 A.2d 1279, 1286 (Del. 1989): „There is no single blueprint that a board must follow to fulfill its duties.”

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sen.58 Stattdessen betont der Delaware Supreme Court im Jahre 2009 abermals das Fehlen allgemeingültiger Vorgaben59 und sieht für eine Direktorenhaftung wegen Verletzung der Revlon-Pflichten erst dann Raum, wenn „those directors utterly failed to attempt to obtain the best sale price“.60 b) Kontinentaleuropäische Rezeption? Diesseits des Atlantiks haben die US-amerikanischen Gepflogenheiten bei M&A-­ Transaktionen vielerorts tiefe Spuren hinterlassen61 und auch im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht sind legal transplants aus den Vereinigten Staaten verbreitet anzutreffen.62 Dessen ungeachtet hat die erläuterte Preistreibungs- oder Auktionspflicht nach den Revlon-Grundsätzen in Europa nie recht Fuß gefasst. In der Schweiz hat man einer systematischen und formalisierten Auktionspflicht des Verwaltungsrats in ausdrücklicher Abgrenzung zur Revlon-Doktrin eine klare Absage erteilt.63 Zur Begründung wird angeführt, dass der Verwaltungsrat nach Art. 717 Abs. 1 OR nicht ausschließlich dem Aktionärsinteresse, sondern dem Interesse des Unternehmens verpflichtet sei.64 Infolgedessen obliegt ihm keine rechtliche Verpflichtung, für hohe Kurse und attraktive Übernahmeangebote zu sorgen.65 Er wird auch während eines Übernahmeverfahrens nicht zum Vertreter der Aktionäre,66 darf deren Belange aber selbstverständlich nicht gänzlich übergehen.67 58 Ryan v. Lyondell Chemcial Co., 2008 WL 2923427 *19 (Del. Ch. 2008); zusammenfassend Lyondell Chemical Co. v. Ryan, 970 A.2d 235, 243 (Del. 2009): „The trial court drew several principles from those cases: directors must ‘engage actively in the sale process’ and they must confirm that they have obtained the best available price either by conducting an auction, by conducting a market check, or by demonstrating ‘an impeccable knowledge of the market’.” 59 Lyondell Chemical Co. v. Ryan, 970 A.2d. 235, 242 (Del. 2009): „No court can tell directors exactly how to accomplish that goal, because they will be facing a unique combination of circumstances, many of which will be outside their control.“ 60 Lyondell Chemical Co. v. Ryan, 970 A.2d. 235, 244 (Del. 2009). 61 Vgl. etwa Fleischer in Dauner-Lieb/Henssler et al. (Hrsg.), Unternehmenskauf und Schuld­ rechtsmodernisierung, 2003, S. 103 ff.; Schweitzer, ECFR 2007, 79. 62 Näher Fleischer, NZG 2004, 1129, 1130 ff. 63 Vgl. Böckli, Schweizer Aktienrecht, 3. Aufl. 2004, § 7 Rz. 147; Gerhard, GesKR 2017, 215, 225; Peter/Blaas/Roos, SZW 2010, 173, 184; Schenker, GesKR 2016, 485, 480 f.; Schnydrig/ Vischer, AJP 2006, 1192, 1198; Tschäni, GesKR 2010, 72, 74. 64 Vgl. Schenker, GesKR 2016, 485, 490: „Nach der schweizerischen Konzeption der Aktiengesellschaft ist der Verwaltungsrat Organ der Gesellschaft und nicht ein Vertreter der Aktionäre. Gemäss Art. 717 Abs. 1 OR ist er deshalb den Interessen des Unternehmens verpflichtet und nicht den Interessen der Aktionäre.“, gleichsinnig Gerhard, GesKR 2017, 215, 225. 65 Vgl. Gerhard, GesKR 2017, 215, 225; Schenker, GesKR 2016, 485, 491. 66 Vgl. Böckli (Fn. 63), § 7 Rz. 221: „Er ist nach der Konzeption unseres Gesetzes auch im Übernahmekampf nicht Aktionärsvertreter, sondern Leitungsorgan.“; Gerhard, GesKR 2017, 225; Schnydrig/Vischer, AJP 2006, 1192, 1198. 67 Vgl. Böckli (Fn. 63), § 7 Rz. 147: „Der Verwaltungsrat untersteht aber dem Gebot, in fairer Weise sich auf die Interessen der Aktionäre auszurichten und vor allem alles zu unterlassen, was das ‚level playing field‘ des auktionsähnlichen Geschehens zum Nachteil der Aktionäre uneben macht.“

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Auch hierzulande ist die Revlon-Rechtsprechung rechtsvergleichend eingehend aufbereitet worden.68 Gefolgschaft hat sie indes weder vor noch nach Inkrafttreten des WpÜG von 2002 gefunden. Vielmehr ist der Vorstand nach § 3 Abs. 3 WpÜG auf das Interesse der Zielgesellschaft verpflichtet. Dieses Interesse deckt sich nicht notwendigerweise mit dem Interesse ihrer Aktionäre, zu einem möglichst hohen Preis an den Bieter zu verkaufen.69 Wie in der Schweiz fehlt es daher auch in Deutschland für eine allgemeine Preistreibungs- oder Auktionspflicht des Vorstands an einer tragfähigen Grundlage.70 Folgerichtig steht die Suche nach einem konkurrierenden Bieter im pflichtgemäßen Ermessen des Vorstands.71 3. Auktionspflicht bei Beteiligungsveräußerungen? Ebenso wenig wie eine Auktionspflicht hierzulande in Übernahmesituationen das Richtige trifft, lässt sich eine Preistreibungs- oder Auktionspflicht des Vorstands bei Beteiligungsveräußerungen schlüssig begründen. Verfehlt ist zunächst die Vorstellung, Vorstandsmitglieder müssten aufgrund ihrer Vermögenssorgfalt stets das höchste Kaufpreisangebot annehmen.72 Schon aus rein finanziellen Gründen kann ein anderes Angebot durchaus attraktiver sein, wenn die sonstigen Verkaufsmodalitäten für den Veräußerer günstiger sind.73 Maßgebend ist letztlich das „beste Gesamtpaket“,74 68 Vgl. etwa Harbarth, ZVglRWiss 100 (2001), 275, 285 f.; Martin, Der konkurrierende Bieter bei öffentlichen Übernahmeangeboten, 2015, S.  18  f.; Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2013, Rz.  1555  ff.; Möslein, Grenzen unternehmerischer Leitungsmacht im marktoffenen Verband, 2007, S. 595 ff.; Schmolke in Paschos/Fleischer (Hrsg.), Handbuch Übernahmerecht nach dem WpÜG, 2017, § 6 Rz. 83. 69 Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider, WpÜG, 2. Aufl. 2013, § 3 Rz. 34; ähnlich Martin (Fn. 68), S. 19: „Insbesondere das Interesse der Wertpapierinhaber an einem hohen Angebotspreis ist jedoch von den Interessen der Zielgesellschaft zu trennen.“ 70 Treffend Bachmann in Veil (Hrsg.), Übernahmerecht in Praxis und Wissenschaft, 2009, S. 109, 133 f.: „Eine Preistreibungspflicht für den AG-Vorstand lässt sich daraus schon deshalb nicht ableiten, weil das deutsche Recht – im Unterschied zum angelsächsischen – den Vorstand nicht als Treuhänder der Aktionäre begreift, sondern als dem Unternehmensinteresse verpflichtendes Organ.“; gleichsinnig Drygala, WM 2004, 1463, 1464; Martin (Fn. 68), S. 19; vorsichtiger Schmolke (Fn. 68), § 6 Rz. 98: „Eine Pflicht des Vorstands zur aktiven Herbeiführung einer Auktionierung der Gesellschaft mit dem Ziel, einen möglichst hohen Preis für die Aktionäre zu erlösen, besteht zumindest so lange nicht, wie nicht feststeht, dass die Gesellschaft jedenfalls verkauft wird […].“ 71 Vgl. Krause/Pötzsch/Stephan (Fn. 69), § 33 WpÜG Rz. 168; Martin (Fn. 68), S. 19. 72 Ebenso aus US-amerikanischer Sicht Ryan v. Lyondell Chemical Co., 2008 WL 2923427 *12 mit Fn. 69 (Del. Ch. 2008): „Of course, maximizing value does not necessarily mean securing the offer with the highest dollar value.“; Bainbridge/Anabtawi (Fn. 53), S. 623: „Directors did not need to blindly focus on the price to the exclusion of other relevant factors.“ 73 Vgl. Voß (Fn. 34), Rz. 537: „So kann auch ein besonders verkäufergünstig gestalteter Garantiekatalog oder Haftungsfreistellungen den Ausschlag gegenüber anderen Kaufinteressenten geben.“; aus US-amerikanischer Sicht im Zusammenhang mit den Revlon-Pflichten auch Bainbridge/Anabtawi (Fn. 53), S. 720: „While a board has a duty to get the best deal for shareholders, that does not always mean that the board has to favour the highest-priced offer.“ 74 Voß (Fn. 34), Rz. 537.

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bei dem auch andere Gesichtspunkte von kartellrechtlichen Bedenken über Akzeptanzprobleme in der Öffentlichkeit bis hin zu einer unsicheren Finanzierung eine Rolle spielen können.75 Aber selbst unter einer ceteris-paribus-Annahme mag es im Einzelfall gute Gründe geben, einem weniger günstigen Angebot den Zuschlag zu erteilen: Wie im Übernahmerecht ist der Kompass für den Vorstand bei einer Beteiligungsveräußerung gemäß § 76 Abs. 1 AktG auch im Aktienrecht nicht ausschließlich auf das Aktionärs-, sondern auf das Unternehmensinteresse ausgerichtet. Trennt sich ein Unternehmen von einer Geschäftssparte, so kann es ein legitimes Anliegen sein, jenen Bieter zu bevorzugen, welcher der bisherigen Belegschaft eine verlässlichere Zukunftsperspektive in Aussicht stellt, sei es aus sozialer Verantwortung für die ehemaligen Mitarbeiter oder aus Sorge um die eigene Reputation.76 Ganz unabhängig davon wäre eine Verengung auf das Auktionsverfahren als Mittel der Wahl auch deshalb bedenklich, weil alle gängigen Verfahren zur Unternehmensveräußerung ihre eigenen Vor- und Nachteile haben.77 Auch wenn das Auktionsverfahren tendenziell zu einem höheren Verkaufspreis führen mag, schneidet es in anderer Hinsicht womöglich schlechter ab. Insbesondere ist es wesentlich zeitaufwendiger als ein klassischer Unternehmenskauf mit nur einem Interessenten.78 Außerdem ist es wegen der regelmäßigen Hinzuziehung von Investmentbanken oder M&A-Beratern weitaus kostspieliger79 und erfordert einen ungleich größeren organisatorischen Aufwand.80 Ferner kann es wegen der Vielzahl der beteiligten Parteien leichter zu Verschwiegenheitsproblemen81 oder zu größerer Unruhe beim Veräußerer selbst sowie 75 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 24: „Andere Bedingungen des Angebots (schwierige kartellrechtliche Situation eines Bieters; Verlangen eines Bieters, vor Vollzug die Zustimmung der wichtigsten Kunden einzuholen; Finanzierungsschwierigkeiten eines ausländischen Bieters, dessen Heimatstaat den Zahlungsfluss im Ausland einer Genehmigung unterzieht) mögen dazu führen, dass im Einzelfall auch mal ein Bieter mit dem niedrigeren Angebotspreis den ‚Zuschlag‘ erhält.“; aus US-amerikanischer Sicht auch Cottle v. Storer Communication, Inc., 849 F.2d 570, 577 (11th Cir. 1988): „The directors also considered the KKR offer superior in terms of timing, tax consequences and financing. The business judgment rule exists to allow management to take these kinds of factors into account.“ 76 Ebenso aus US-amerikanischer Sicht zum Gesellschaftsrecht von Pennsylvania, nach dem die Direktoren auch stakeholder-Belange berücksichtigen dürfen, Keyser v. Commonwealth Nat’l Fin. Corp., 675 F. Supp. 238, 265-66 (M.D.Pa. 1987): „Furthermore, by statute the Board could consider so-called social issues in evaluating merger proposals. Several Board members expressed their concern for the employees of Commonwealth and the community during their depositions, believing that employee opportunity would be much greater with Mellon than it would be with Meridian. […] The extent to which price could be sacrificed for these so called social issues in the factual context of this case is not a proper determination for the court. The record is replete with evidence upon which differing reason­able inferences may be drawn. The court may not resolve these issues.” 77 Dazu etwa Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 2 ff.; Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 3 f.; Seibt (Fn. 21), A. IV. 3, S. 22. 78 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 5. 79 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 5; Voß (Fn. 34), Rz. 534. 80 Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 4; Voß (Fn. 34), Rz. 533 f. 81 Schöne/Uhlendorf (Fn. 32), § 7 Rz. 4.

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im Markt führen.82 Umgekehrt kann sich ein klassischer Unternehmenskauf schon deshalb aufdrängen, weil es einen bestimmten Bieter mit einem überragenden strategischen Interesse („natural buyer“83) gibt oder weil aufgrund einer Sanierungssituation großer Zeitdruck herrscht („quick sale“84). Angesichts dessen steht es dem Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen offen, sich nach Abwägung der geschilderten Vor- und Nachteile für ein Auktionsverfahren, einen klassischen Unternehmensverkauf oder eine andere Variante (z.B. ein Dual-­ Track-Verfahren85 oder ein sog. offenes Bieterverfahren) zu entscheiden.86 In Übereinstimmung damit haben im Markt je nach Konjunkturzyklus, Übernahmemodalität und Internationalität unterschiedliche Verfahren die Nase vorn: „Während vor der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 ein Großteil der M&A-Transaktionen nach Auktionsverfahren zustande kamen, hat das M&A-Geschäft nach der Finanzkrise verstärkt auch durch Transaktionen wieder an Fahrt gewonnen, bei denen kein Auktionsverfahren durchgeführt wurde. Im Zusammenhang mit öffentlichen Übernahmen ist ein echtes Auktionsverfahren ohnehin eher ungewöhnlich.“87 Nur als Vignette sei noch hinzugefügt, dass ein solcher Auktionsstandard mit Recht bei der Ermittlung der angemessenen Abfindung eines ausscheidenden Aktionärs im Rahmen eines Spruchverfahrens ebenfalls keine Anwendung findet.88

III. Vorstandspflichten und Vorstandsermessen bei der verkaufsvorbereitenden Bewertung Eine zweite Frage betrifft die Informationsgrundlagen für eine Veräußerungsentscheidung. Vorstandsmitglieder, die eine Veräußerung von Unternehmensteilen oder Beteiligungen ins Auge fassen, sind gehalten, sich zuvor über deren Wert zu unter-

82 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 5. 83 Seibt (Fn. 21), A. IV. 3, S. 22. 84 Seibt (Fn. 21), A. IV. 3, S. 22. 85 Näher dazu Haberstock (Fn. 30), Rz. 1301 ff.; ferner Seibt (Fn. 21), A. VI., S. 27 mit der Bemerkung: „In einem Dual Track-Transaktionsprozess wird die parallele Veräußerungsvorbereitung für IPO und Trade/M&A Sale genutzt, um den Kreis der Erwerbsinteressenten zu erweitern und den Wettbewerb auf der Nachfragerseite zu schüren, die jeweilige Verhandlungsposition in den beiden Verfahrenssträngen zu erhöhen und dadurch insgesamt den Verkaufserlös zu maximieren.“ 86 Hilfreiche Checkliste für die Auswahl des M&A-Transaktionsverfahrens bei Seibt (Fn. 21), A. IV. 3, S. 22. 87 Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 28. 88 Vgl. OLG Düsseldorf, ZIP 2019, 370, 373: „Gemessen an diesem Bewertungsziel und den daran orientierten Vorgaben zur Wertermittlung in Abfindungsfällen besteht entgegen der Ansicht der beschwerdeführenden Antragstellerinnen bei der Überprüfung der Angemessenheit einer Kompensationsmaßnahme in einem Spruchverfahren keinerlei Anlass, den subjektiven Grenzpreis zu ermitteln, den ein Meistbietender (in einer Auktion) bereit (gewesen) wäre, für das Unternehmen im Ganzen zu zahlen.“

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richten, um einen Verkauf unter Wert zu vermeiden.89 Welche Anforderungen an diese vorbereitende Bewertungsentscheidung zu stellen sind, ist wenig gesichert.90 Einschlägige Äußerungen in Rechtsprechung und Schrifttum haben hauptsächlich den Fall des geplanten Unternehmens- oder Beteiligungserwerbs vor Augen;91 teilweise betreffen sie auch die Sorgfaltspflichten der Organmitglieder nach § 25 Abs. 1 UmwG bei der Ermittlung der Verschmelzungswertrelation92 oder die Stellungnahmepflicht des Vorstands der Zielgesellschaft nach § 27 WpÜG.93 Sie lassen aber durchaus Rückschlüsse auf die Informationsobliegenheiten bei einer geplanten Unternehmens- oder Beteiligungsveräußerung zu.94 1. Bewertungsentscheidungen als unternehmerische Entscheidungen So wie Erwerb und Veräußerung von Beteiligungen unternehmerische Entscheidungen sind, handelt es sich bei den vorbereitenden und begleitenden Bewertungsentscheidungen ebenfalls um unternehmerische Entscheidungen i.S.d. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG. Dies hat das OLG Stuttgart in einem Beschluss aus dem Jahre 2010 zum Daimler/Chrysler-Zusammenschluss unmissverständlich ausgesprochen: „Die Bewertung der an einem Zusammenschluss beteiligten Unternehmen stellt eine unternehmerische Entscheidung dar. Sie wird auf der Grundlage von Prognosen im Rahmen eines Ermessensspielraums getroffen.“95 Auf der gleichen Linie liegt ein Urteil des OLG Frankfurt zum Erwerb der Dresdner Bank durch die Commerzbank aus demselben 89 Vgl. Rosengarten (Fn. 32), § 3 Rz. 3; ferner Kiem, ZGR 2007, 542, 548; Seyfarth (Fn. 20), § 8 Rz. 52: „Der Vorstand einer erwerbenden Gesellschaft (nicht weniger aber auch der Vorstand einer verkaufenden Gesellschaft) muss sich ein Bild darüber machen, ob der für das Zielunternehmen gezahlte Preis ‚angemessen‘ ist.“; obiter auch BGHZ 191, 364 Rz.  31  – Babcock: „Eine Überprüfung der Bewertung ist den Leitungsorganen einer Gesellschaft, zu deren Aufgabe bei einer Übernahme oder einem Verkauf die Bewertung von Unternehmen gehört, im Zusammenhang mit Vergleichsverhandlungen über einen möglicherweise bestehenden Differenzhaftungsanspruch auch ohne Einholung eines weiteren Wertgutachtens möglich.”; aus US-amerikanischer Sicht im Zusammenhang mit den Revlon-Pflichten auch Bainbridge/Anabtawi (Fn. 52), S. 720: „First, the board should be informed about the value of the company, if not before the offer, then after it is made.“ 90 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 93 Rz. 87a: „Wenig erörtert werden bisher die Vorstandspflichten bei der Bewertung von Unternehmen im Rahmen von M&A-Transaktionen.“ 91 Vgl. etwa Hölters (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 180; Hüffer, ZHR 172 (2008), 572; Schüppen in Ballwieser/Beyer/Zeiger (Hrsg.), Unternehmenskauf nach IFRS und HGB, 3. Aufl. 2014, S. 115, 125. 92 Vgl. etwa Lutter/Grunewald, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 25 Rz. 9; Kiem, ZGR 2007, 542, 546 ff.; Clemm/Dürschmidt in FS Widmann, 2000, S. 3, 11 ff.; Kallmeyer/Marsch-Barner, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 25 Rz. 6; Semler/Stengel/Leonard, UmwG, 4. Aufl. 2017, § 25 Rz. 9. 93 Vgl. etwa Harbarth, ZIP 2004, 3, 6 ff. 94 Wie hier Schüppen (Fn.  91), S.  115, 125: „Ganz analog verhält es sich mit umgekehrten Vorzeichen aus der Sicht des Verkäufers. Für ihn wird der Verhandlungsspielraum durch eine nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu ermittelnde Preisuntergrenze bestimmt, wenn man die verschiedenen denkbaren Arten von ‚Notverkäufen‘ (Liquiditätsbedarf, kartellrechtliche Auflagen etc.) ausklammert.“ 95 OLG Stuttgart, BeckRS 2010, 25689 unter II 1 d dd.

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Jahr.96 Im Schrifttum steht ebenfalls außer Streit, dass Bewertungsentscheidungen unternehmerische Entscheidungen sind.97 Eine prominente Literaturstimme führt hierzu aus: „Soweit es um die Unternehmensbewertung als Leitungsmaßnahme geht, zieht die Orientierung an § 93 Abs. 1 S. 1 AktG den Gedanken an die Gegennorm des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG nach sich. In der Tat kann es kaum zweifelhaft sein, daß die dem Vorstand obliegende Bewertung der Zielgesellschaft eine unternehmerische Entscheidung im Sinne der Business Judgment Rule darstellt.“98 2. Auswahlermessen bei der Methodenwahl Die Anschlussfrage nach der angemessenen Information i.S.d. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG führt bei Bewertungsentscheidungen geradewegs zu den Bewertungsmethoden. Die obergerichtliche Spruchpraxis hat sich hiermit im Zusammenhang mit Erwerbsoder Veräußerungsfragen noch nicht ausführlicher beschäftigt. Einzelne Entscheidungen billigen dem Vorstand im Ergebnis ein Auswahlermessen bei der Methodenwahl zu.99 Akzeptiert worden ist namentlich das Ertragswertverfahren.100 Im Schrifttum findet sich ein nuanciertes Meinungsbild. Manche Stellungnahme gewähren dem Vorstand bei der Methodenwahl weitgehend freie Hand: Er müsse keine förmliche Unternehmensbewertung durchführen, sondern könne den gesuchten Unternehmenswert mit praxisüblichen Hilfsmethoden auch dann schätzen, wenn diese Methoden die Anforderungen einer betriebswirtschaftlich fachgerechten Unternehmensbewertung nicht erfüllen.101 In Betracht komme insbesondere eine überschlä­ gige Wertermittlung anhand branchentypischer Kennziffern oder ein Rückgriff auf Preise, die für ähnliche Unternehmen gezahlt wurden; auch der Börsenkurs könne

96 OLG Frankfurt, NZG 2011, 62, 65. 97 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 87a; Grunewald (Fn. 92), § 25 UmwG Rz. 9; Kiem, ZGR 2007, 542, 546; Leonard (Fn. 92), § 25 UmwG Rz. 9; Marsch-Barner (Fn. 92), § 25 UmwG Rz. 6; Paefgen, AG 2004, 245, 251 f.; Schnorbus, ZHR 167 (2003), 666, 682 f. 98 Hüffer, ZHR 172 (2008), 572, 574. 99 Vgl. OLG Stuttgart, BeckRS 2010, 25689 unter II 1 d dd: „ermessensfehlerfrei festgelegte[s] Bewertungsverfahren. 100 Vgl. OLG Köln, BeckRS 2010, 9506 unter II 2 a: „Die Bewertung eines Unternehmens ­erfolgt regelmäßig nach dem Ertragswertverfahren; so war es auch bei dem Erwerb der Anteile an der I.“; OLG Frankfurt, BeckRS 2010, 29775 (insoweit in NZG 2011, 62 nicht abgedruckt) – Dresdner Bank/Commerzbank: Unternehmensbewertung auf Basis des Ertragswertverfahrens nach dem IDW-Standard S 1. 101 So Hüffer, ZHR 172 (2008), 572, 576 f.; ähnlich Hölters (Fn. 8), § 93 AktG Rz. 180: „Er [= der Vorstand] hat also das Zielunternehmen zu bewerten. Dabei können, müssen aber nicht unbedingt die anerkannten Grundsätze der Unternehmensbewertung herangezogen werden.“; offen auch Grunewald (Fn. 92), § 25 UmwG Rz. 9: „Was zu den Pflichten bei der Prüfung der Vermögenslage des übertragenden wie des aufnehmenden Rechtsträgers gehört, kann nicht pauschal gesagt werden. […] Die Mitglieder des Vertretungsorgans […] müssen versuchen, sich ein möglichst klares Bild über die Vermögenslage zu verschaffen.“

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Ausgangspunkt der Schätzung sein.102 Andere Stimmen räumen dem Vorstand ebenfalls ein Auswahlermessen ein, tragen jedoch zugleich der praktischen Dominanz des Ertragswertverfahrens Rechnung, indem sie dem Vorstand bei der Auswahl anderer Methoden eine besondere Begründung abverlangen.103 Ertrags- und DiscountedCash-­Flow-Verfahren seien besonders aussagekräftig, so dass nur im Ausnahmefall aus Zeitnot oder mangelndem Informationszugang auf andere Verfahren zurückgegriffen werden dürfe.104 Wieder andere Autoren verneinen ein Auswahlermessen des Vorstands, indem sie zwingend eine fundamentalanalytische Unternehmensbewertung verlangen.105 Die besseren Gründe sprechen für ein breites Auswahlermessen des Vorstands. Dass die Ertragswertmethode anderen, namentlich marktförmigen Bewertungsmethoden theoretisch überlegen sei oder stets zuverlässigere Ergebnisse liefere, lässt sich kaum behaupten. Mit feiner Ironie stellt das OLG Stuttgart deshalb fest, „dass gutachterlich ermittelte Ertragswerte in der Praxis ständig durch reale Kaufpreise ‚widerlegt‘ werden“.106 Auch im Spruchverfahren, wo es freilich nicht um subjektive Entscheidungswerte, sondern um den objektivierten Unternehmenswert geht, steht daher heute außer Streit, dass es kein Methodenmonopol zugunsten der Ertragswertmethode gibt.107 Dies hat der BGH in seinem Stinnes-Beschluss von 2015 ausdrücklich bestätigt.108 International ist ebenfalls ein Bedeutungszuwachs marktbezogener Wertindikatoren zu verzeichnen.109 Infolgedessen kann man festhalten, dass ein veräußerungswilliger Vorstand seinen Informationsobliegenheiten bei der Vorbereitung einer Veräußerungsentscheidung jedenfalls dann genügt, wenn er sich einer üblichen und anerkannten Bewertungsmethode bedient,110 sei sie nun fundamentalanalytisch oder markt­ orientiert.111 Die erforderliche Informationstiefe hängt dabei von der jeweiligen 102 Vgl. Hüffer, ZHR 172 (2008), 572, 577 f.; etwas strenger Böttcher, NZG 2007, 481, 483, wonach sich die Unternehmensbewertung regelmäßig an der Ertragskraft zu orientieren habe, aber auf den Börsenkurs als Ausdruck der Markterwartung zurückgegriffen werden könne. 103 Vgl. Kiem, ZGR 2007, 542, 550 ff.; Pöllath/Philipp, DB 2005, 1503, 1505 f. 104 So Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317, 322 f. 105 Vgl. Clemm/Dürrschmidt (Fn. 92), S. 3, 12; Wollny, DStR 2013, 484, 486; weniger streng Schüppen (Fn. 91), S. 115, 125 f. und 129: in aller Regel erforderlich. 106 OLG Stuttgart, BeckRS 2010, 25689. 107 Vgl. zuletzt Fleischer/Kolb, AG 2019, 57, 65 m.w.N. 108 Vgl. BGHZ 207, 113 Rz. 33: „Der Unternehmenswert ist dabei im Wege einer Schätzung zu ermitteln. Zu dieser Schätzung ist bei einem werbenden Unternehmen die Ertragswertmethode eine grundsätzlich geeignete Methode. Das schließt es aber nicht aus, nach den konkreten Umständen des einzelnen Falls eine andere Methode zur Schätzung des Unternehmenswerts anzuwenden, beispielsweise ihn durch eine marktorientierte Methode nach dem Börsenwert des Unternehmens zu bestimmen […].“; bestätigt durch BGHZ 208, 265 Rz. 21. 109 Zur ungeschminkten Kritik der Delaware-Gerichtsbarkeit an den Schwachstellen der Discounted-Cash-Flow-Methode und der Aussagekraft von Transaktionspreisen zuletzt Fleischer/Kolb, AG 2019, 57, 60 ff. m.w.N. 110 Vgl. Fleischer (Fn.  5), §  93 AktG Rz.  87a; Hölters (Fn.  8), §  93 AktG Rz.  180; Seyfarth (Fn. 20), § 8 Rz. 52. 111 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 87a.

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Bewertungsmethode ab: „Der zu fordernde Informationsstandard folgt dabei dem ermessensfehlerfrei festgelegten Bewertungsverfahren und nicht umgekehrt.“112 Erkennt man an, dass es keinen Primat der Ertragswertmethode gibt, so muss es einem veräußerungswilligen Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen auch offenstehen, sich die erforderlichen Informationen für eine Unternehmensveräußerung durch ein Auktionsverfahren zu verschaffen.113 Dass dies in den Handbüchern und Kommentierungen zu § 93 Abs. 1 AktG bisher keine Erwähnung findet, liegt schlicht da­ ran, dass der Pflichtenkanon des Vorstands bei M&A-Transaktionen fast ausschließlich aus der Sicht eines Unternehmenserwerbers beleuchtet wird. In der Sache selbst sollte nicht zweifelhaft sein, dass indicative offers oder final bids im Rahmen eines Auktionsverfahrens aussagekräftige Wertindikatoren sein können. Dies wird jenseits des Atlantiks neuerdings auch in der Spruchpraxis des Delaware Supreme Court anerkannt.114 Um eine verlässliche Beurteilungsgrundlage zu gewinnen, muss der veräußerungswillige Vorstand allerdings dafür Sorge tragen, dass es eine hinreichende Anzahl von Bietern gibt. Ausnahmsweise kann der Vorstand auf eine gesonderte Unternehmensbewertung oder einen auktionsförmigen Markttest sogar ganz verzichten, wenn er bereits über verlässliche Informationen verfügt,115 etwa durch eine in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang vorgenommene Bewertung oder kraft eigener Marktkenntnisse. Im letzten Fall wird man  – mit einer Formulierung aus der US-amerikanischen Spruchpraxis – aber wohl „an impeccable knowledge of the market“116 verlangen müssen.

IV. Ergebnisse 1. Bei der Veräußerung von Unternehmensteilen oder Beteiligungen aktualisiert sich die organschaftliche Vermögensverantwortung des Vorstands einer Aktiengesellschaft. Vorstandsmitglieder können sich bei einem zu niedrigen Verkaufspreis unter den weiteren Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig machen. Wesentlich abgemildert, wenn auch nicht gänzlich beseitigt wird ihr Haftungsrisiko aber dadurch, dass es sich bei der Veräußerungsentscheidung um eine unternehmerische Entscheidung i.S.d. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handelt. 2. Für Unternehmensverkäufe stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Die organschaftliche Vermögenssorgfalt verpflichtet den Vorstand nicht, ein vermeintlich erlösmaximierendes Auktionsverfahren durchzuführen. Eine solche allgemeine Preis­ treibungs- oder Auktionspflicht, für die es gewisse Vorbilder in den Vereinigten Staa112 OLG Stuttgart, BeckRS 2010, 25689 unter II 2 d cc; wörtlich übereinstimmend zuvor schon Kiem, ZGR 2007, 542, 548. 113 Vgl. Fleischer (Fn. 5), § 93 AktG Rz. 87a. 114 Vgl. Fleischer/Kolb, AG 2019, 56, 62 ff. m.w.N. 115 So auch Kiem, ZGR 2007, 543, 548 f. 116 Ryan v. Lyondell Chemical Co., 2008 WL 2933427 *19.

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Geschäftsleiterpflichten bei der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen

ten gibt, besteht hierzulande weder in Übernahmesituationen noch bei der Beteiligungsveräußerung. Vielmehr steht es dem Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen offen, sich nach Abwägung allfälliger Vor- und Nachteile für einen klassischen Verkauf im Wege der Exklusivverhandlung, ein kontrolliertes Auktionsverfahren oder eine andere Variante (offenes Bieterverfahren, Dual-Track-Verfahren) zu entscheiden. 3. Eine Vorstandsentscheidung zur Beteiligungsveräußerung ist nur dann vom ­Geschäftsleiterermessen gedeckt, wenn sie auf angemessener Informationsbasis gemäß §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG getroffen wird. Hierfür bedarf es einer verlässlichen ­Beurteilungsgrundlage über den Wert der Beteiligung. Bei der Auswahl der Bewertungsmethode verfügt der Vorstand über ein breites Ermessen. Er genügt seiner Informationsobliegenheit jedenfalls dann, wenn er eine übliche und anerkannte Bewertungsmethode anwendet. Neben dem Ertragswertverfahren kann er sich auch alternativer, marktorientierter Verfahren bedienen. Ihm steht es daher nach pflichtgemäßem Ermessen ebenfalls offen, sich die erforderlichen Informationen über ein – aussagekräftiges – Auktions- oder Bieterverfahren zu verschaffen.

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Aktienrechtsuntreue und Aktienrechtsakzessorietät Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Grundlegende Vorbemerkung 1. Die zweigleisige Sanktion 2. Die rechtsgebietsübergreifenden ­Prinzipienvorgaben a) Bindung an Gesetz und Satzung b) Schutz unternehmerischen Handelns c) Vorhersehbarkeit III. Stand und Entwicklungslinien des Rechts der Aktienrechtsuntreue 1. Vermögensbezug der verletzten Pflicht 2. Unternehmerische Freiräume bei ­„Risikogeschäften“ 3. Erfordernis der gravierenden Pflicht­ verletzung IV. Die HSH Nordbank-Entscheidung V. Kritik: Gegen eine strenge Zivilrechts­ akzessorietät

1. § 93 Abs. 1 AktG als konturgebender Haltepunkt? a) Existenzgefährdung als untreuerechtliche Kategorie? b) Risikokonzentration als untreuerechtliche Kategorie? c) Die Folgen nichtinformierten ­Vorstandshandelns d) Besonderheiten bei Handeln unter unklarer Rechtslage 2. Das Verhältnis zur Legalitätspflicht a) „Keine hinreichenden Anhaltspunkte“ für einen Gesetzesverstoß – oder doch? b) Was ist ein mittelbarer Vermögens­ bezug? c) Satzungsverankerung als sinnvolle Eingrenzung? VI. Fazit: Keine Vorhersehbarkeit durch ­Akzessorietät!

Die Möglichkeit, den strafrechtlichen Tatbestand der Aktienrechtsuntreue gem. §  266 Abs. 1 StGB zu beschreiben, wird durch ein Spannungsverhältnis zu zivilrechtlichen Vorund Parallelfragen determiniert und erschwert. Mit dem Urteil v. 12. Oktober 2016 hat der 5. Strafsenat des BGH (5 StR 134/15 – „HSH Nordbank“) ein Akzessorietätsverhältnis propagiert, indem er eine Vorherigkeit aktienrechtlicher Regeln akzeptiert und auf einen weiteren genuin-strafrechtlichen Tatbestandsfilter beim Merkmal der Pflichtverletzung verzichtet. Dem wurde entgegnet, der BGH sei mit dieser Grundsatzentscheidung einer kritischen Prüfung der aktienrechtlichen Regeln und ihrer Übertragbarkeit unreflektiert vorausgeeilt. Der Beitrag will das Verhältnis der verschiedenen Ansätze für die zivil- und strafrechtliche Geschäftsleiterverantwortung näher beleuchten, zu dem Ansatz des 5. Senats kritisch Stellung beziehen und auch auf die Rückwirkungen eines solchen (Fehl-)Verständnisses von § 266 Abs. 1 StGB im Zivilrecht aufmerksam machen.

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I. Einleitung Die noch in § 294 Abs. 1 AktG 1937 kodifizierte Aktienrechtsuntreue1 hat sich seit dem AktG 1965 in einer Zeit von Finanzkrisen und Wirtschaftsskandale2 zu einer der schwierigsten und wichtigsten Untergruppen der allgemeinen Untreue3 entwickelt und fordert die Dogmatik in besonderer Weise heraus. Der Entwicklungsgang in diesem Bereich der Blankettnorm des § 266 Abs. 1 StGB ist nicht gradlinig, hat aber seit einigen Jahren vielleicht doch einen Abseitsweg eingeschlagen, indem der BGH in seinem HSH Nordbank-Urteil den Begriff der Pflichtverletzung bei unternehmerischen Entscheidungen in § 93 Abs. 1 S. 1 AktG und § 266 Abs. 1 StGB gleichsetzt.4 Der Rekurs auf außerstrafrechtliche Pflichten, welcher die Generalnorm des §  266 StGB durchaus bedarf,5 schiebt vertragliche, statutarische oder gesetzliche Verhaltensregeln ins Zentrum der Tatbestandsprüfung. Diese Regeln müssen strafrechtlich als Vermögensbetreuungspflicht qualifiziert werden.6 Die Strafbarkeit nach §  266 StGB setzt insofern also an einem Verstoß gegen außerstrafrechtliche Pflichten an (negative ­Akzessorietät).7 Zusätzlich bedarf es einer besonderen Schwere des Fehlverhaltens, das erst dadurch strafwürdig erscheint (asymmetrische8 oder limitierte9 Akzessorietät). Was folgt daraus für die Aktienrechtsuntreue? Der Vorstand hat das Vermögen der AG als Teil seiner Leitungsaufgabe nach § 76 Abs. 1 AktG zu betreuen.10 Die Pflichten sind sehr weitgehend, das Strafrecht wird eine Auswahl besonders verwerflicher Ver 1 Die Norm lautete: „Wer als Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats oder als Abwickler vorsätzlich zum Nachteil der Gesellschaft handelt, wird mit Gefängnis bestraft“; vgl. zur geschichtl. Entwicklung Meyer, AG 1966, 109. 2 Vgl. nur zu den „Panama-Papers“ etwa Strunz, NZWiST 2017, 262; zum Dieselskandal Altmeppen, ZIP 2016, 97; zur Finanzkrise Florstedt, AG 2010, 315; Florstedt, ZBB 2013, 81; Jahn, wistra 2013, 41; Rieder/Holzmann, AG 2011, 265; Seibt/Schwarz, AG 2010, 301 und zu Cum/ex-Geschäften Dutt/Spengel/Vay, StuW 2018, 229; Florstedt, NZG 2017, 601 (zur Vorstandshaftung). 3 Bachmann in FS Beulke, 2015, S.  1259; Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 242. 4 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2469 – HSH Nordbank; dazu etwa Baur/ Holle, ZIP 2017, 555; Bittmann, wistra 2017, 121; Kubiciel, JZ 2017, 585; E. Vetter/Peters, DK 2017, 269. Näher dazu unter IV. 5 Vgl. etwa BGH v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585, 1586 f. – Sponsoring; Saliger, HRRS 2006, 10, 14; Tiedemann in FS Dünnebier, 1982, S.  519, 530; Saliger in Satzger/­ Schluckebier/Widmaier StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 33. 6 Beispiele dafür etwa bei Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 33. 7 E.  Vetter/Peters, DK 2017, 269, 270; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 33. 8 Lüderssen in FS Lampe, 2003, S. 727, 729. 9 Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 33. 10 Etwa LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104 mwN; Seibt/Schwarz, AG 2010, 301, 302; E.  Vetter/Peters, DK 2017, 269; Waßmer in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2011, § 266 StGB Rz. 21.

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haltensweisen vorzunehmen haben.11 Die Rechtsprechung fordert für unternehmerische Entscheidungen eine „gravierende“ Pflichtverletzung.12 Was „gravierend“ sei, wird zwischen den Strafsenaten des BGH nicht einheitlich beurteilt: Zum Teil wird eine strafrechtsautonome Prüfung der besonderen Strafwürdigkeit befürwortet.13 Zum Teil wird eine aktienrechtliche Pflichtverletzung stets als hinreichend „gravierend“ angesehen;14 dies ist in der Tat der Ansatz des 5. Strafsenats in seinem HSH Nordbank-Urteil gewesen.15 Unser Jubilar hat dies schon früh kritisiert16 und an dieser Kritik knüpft der Beitrag an. Die Analyse wird durch einen funktionalen und rechtsgebietsübergreifenden Vergleich wichtiger Eckpunkte für eine rechtliche Grenze des unternehmerischen Handelns eingeleitet (II.). Nachdem der erreichte Stand der Tatbestandsbestimmung von §  266 Abs.  1 StGB skizziert wird (III.), ist auf das HSH Nordbank-Urteil einzugehen (IV.). Der Beitrag spricht sich schließlich gegen die strenge Akzessorietätsthese aus (V.) und weist auf wichtige Folgefragen hin (VI.).

II. Grundlegende Vorbemerkung 1. Die zweigleisige Sanktion Es ist mit der Frage zu beginnen, warum das Strafrecht überhaupt die Verletzung von Vorstandspflichten regeln sollte. In einem Sanktionssystem für pflichtwidriges Vorstandshandeln kann das Zivilrecht eine Strafandrohung aus verschiedenen Gründen 11 S. nur Seibt/Schwarz, AG 2010, 301, 302; vgl. Bittmann, NStZ 2011, 361, 362. 12 BGH v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211 – Bankenuntreue II; BGH v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585 – Sponsoring; BGH v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453 – Kinowelt; Kubiciel, NStZ 2005, 353; Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113, 118; Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 175 ff.; einschr. BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NStZ 2006, 214, 217 – Mannesmann/Vodafone; Schünemann, NStZ 2005, 473, 475; Schünemann, NStZ 2006, 196, 197. Näher dazu unter III. 3. 13 BGH v. 6.12.2001  – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585  – Sponsoring; Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, §  277 Rz.  175  ff.; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 50. 14 BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, NZG 2016, 703 – Nürburgring; auf dieser Linie BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 – Mannesmann/Vodafone; ambivalent hingegen BGH v. 22.11.2005  – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453  – Kinowelt, zu dieser Ambivalenz ­Schünemann, NStZ 2006, 196, 197 f.; aus dem Schrifttum für eine Zivilrechtsakzessorietät etwa Bachmann, WM 2015, 105, 112 f.; Bachmann in FS Beulke, 2015, S. 1259, 1267 ff.; Bittmann, wistra 2013, 1, 7 f.; Schünemann, NStZ 2005, 476, 475 ff.; Chowdhury, Geschäftsleiteruntreue vor dem Hintergrund von subprime-Investments im Vorfeld der Finanzmarktkrise, 2014, S.  97; Kritik bei Baur/Holle, ZIP 2017, 555, 556  ff.; Seibt/Schwarz, AG 2010, 301, 312 f.; vgl. E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 271 ff.; Saliger in Satzger/Schluckebier/ Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 50 und ferner Bosch/Lange, JZ 2009, 225, 227; Esser, NZWiSt 2018, 201, 204 ff.; Kubiciel, NStZ 2005, 355; Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113, 118 ff.; Dittrich, Die Untreuestrafbarkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Festsetzung überhöhter Vorstandsvergütungen, 2010, S. 31 ff. 15 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2469 – HSH Nordbank. 16 E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 271 ff.

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nicht vollständig substituieren.17 Zunächst geht es um die Verhaltenssteuerung dort, wo eine rein vermögenswirksam orientierte Sanktionsart nicht effektiv ist, etwa bei einer Vermögenslosigkeit des Haftungsschuldners.18 Auch kann die Anspruchsdurchsetzung zu unwahrscheinlich sein, sei es, weil der Inhaber selbst von der für ihn „nützlichen“ Pflichtverletzung profitiert, sei es, weil der Durchsetzungsmechanismus defizitär ist, wie man es von den §§ 147 ff. AktG behauptet hat.19 Bei einer Reihe typischer Fehlverhalten, die besonders sozialschädlich sind, etwa die Steuerhinterziehung (§ 370 AO), die Insolvenzverschleppung (§ 15a Abs. 4 InsO) oder aber der Bankrott (§ 283 StGB), erscheint die bloß pekuniäre Sanktion ungenügend.20 Dazu gehört nicht zuletzt die Abwälzung extremer Risiken auf die Allgemeinheit, wie man es im Vorfeld der Finanzmarktkrisen beobachtet und oft diskutiert hat. 2. Die rechtsgebietsübergreifenden Prinzipienvorgaben Die Feinabstimmung von zivilrechtlichen und strafrechtlichen Vorgaben für unternehmerisches Vorstandshandeln muss folgende prinzipielle Vorgaben zu einer kohärenten, abgestuften Sanktionsordnung verarbeiten. a) Bindung an Gesetz und Satzung Der Vorstand ist zu gesetzes- und satzungsgemäßem Handeln verpflichtet.21 Da die AG selbst nicht handeln kann, erfüllt der Vorstand deren gesetzliche Pflichten. Man kann von einer öffentlich-rechtlichen Dimension der Legalitätspflicht sprechen.22 Der Vorstand wird zum Garanten fremder Pflichten.23 Daraus folgt auch, dass ein Gesetzesverstoß, der ökonomisch gesehen „nützlich“ ist, für den Vorstand verboten bleibt.24 Der Geltungsanspruch der Rechtsordnung zum einen und die Zulassung juristischer, im natürlichen Sinn handlungsunfähiger Personen zum anderen, führen zu einer gesteigerten, technisch notwendigen, besonderen Einstandspflicht des Vorstands. Den gleichen Hintergrund hat die strafrechtliche Tatbestandserweiterung nach § 14 StGB,

17 S. zu Funktionen der Organhaftung Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 251 ff. 18 Das gilt auch für sozialschädliche Fälle, die keinen wirtschaftlichen Schaden begründen. 19 Vgl. Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 239 ff.; Bachmann, Verhandlungen des 70. DJT, Bd. I Gutachten Teil E, S. 88 ff. 20 Vgl. allg. Frisch, NStZ 2016, 16; Hamm, NJW 2016, 1537. 21 S. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 14; Breitenfeld, Die organschaftliche Binnenhaftung der Vorstandsmitglieder für gesetzwidriges Verhalten, 2016, S. 36 ff.; allg. zur Organhaftung E. Vetter in Krieger/U. H. Schneider, Hdb. Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 22 Rz. 22.87 ff. 22 Florstedt, NZG 2018, 485, 492 mwN. 23 Holle, AG 2011, 778, 785. 24 Statt vieler Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 36; krit. Bunz, Der Schutz unternehmerischer Entscheidungen durch das Geschäftsleiterermessen, 2011, S. 116 ff.

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durch den Organmitglieder als Täter für die Erfüllung von Pflichten der AG einzustehen haben.25 b) Schutz unternehmerischen Handelns Eine richterliche Kontrolle des unternehmerischen Handelns, d.h. solches unter Unsicherheit der wirtschaftlichen Folgen,26 ist nur begrenzt sinnvoll und möglich.27 Eine zu große Kontrolldichte führte zudem leicht zu einer überzogenen Risikoaversion, sodass unternehmerisches Handeln Haftungsfreiräume erfordert.28 Das ist spätestens seit dem ARAG/Garmenbeck-Urteil des BGH anerkannt29 und in einer Variante der amerikanischen „Business Judgement Rule“ in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG positiviert.30 Der Vorstand hat ein Ermessen bei Entscheidungen, denen ein prognostisches Moment innewohnt. Das Privileg setzt ein Organhandeln „zum Wohl der Gesellschaft“ auf hinreichend informierter Grundlage voraus. Da weitere ungeschriebene Grenzen hinzukommen, ist die Tatbestandskontur alles andere als gesichert. Im Strafrecht werden ähnliche Privilegien für untreuerechtliche „Risikogeschäfte“ diskutiert.31 c) Vorhersehbarkeit Der Untreuetatbestand des §  266 StGB ist bekanntlich unscharf.32 Das Bestimmtheitsgebot erfordert, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen“.33 Das BVerfG hat zwar den Begriff des Vermögensnachteils34 sowie den Untreuetatbestand insgesamt für mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar erklärt,35 jedoch sei der „Untreuetatbestand auf Fälle klarer und deutlicher (evidenter) Fälle pflichtwidrigen Handelns zu beschrän25 Vgl. auch § 9 OWiG. Zu der hinter § 14 StGB stehenden Wertung etwa Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2007, § 14 StGB Rz. 10 ff., ferner Merz in Graf/Jäger/­Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2011, § 14 StGB Rz. 8 ff. 26 Vgl. nur Baums, ZGR 2011, 218. 27 Statt vieler Dauner-Lieb in FS Röhricht, 2005, S. 83 ff.; Merkt, ZGR 2017, 129, 130 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 43. 28 Zum Zivilrecht s. nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 60; zum Strafrecht vgl. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 266 StGB Rz. 75a. 29 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926, 1928 – ARAG/Garmenbeck. 30 Merkt, ZGR 2017, 129, 130 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 62 ff.; Bunz, Der Schutz unternehmerischer Entscheidungen durch das Geschäftsleiter­ ermessen, 2011, S. 69 ff. 31 Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 61; näher dazu unter III. 2. 32 S. bereits RG v. 14.12.1934 – 1 D 865/34, RGSt 69, 58, 60 ff. und aus der Lit. statt vieler Hamm, NJW 2005, 1993 ff.; Kubiciel, NStZ 2005, 353, 354; Matt, NJW 2005, 389, 390 f.; Saliger, NJW 2010, 3195; Ibold, Unternehmerische Entscheidungen als pflichtwidrige Untreuehandlungen, 2011, S. 90 f. 33 BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvR 718/89, u.a., NJW 1995, 1141. 34 BVerfG v. 10.3.2009 – 2 BvR 1980/07, NJW 2009, 2370, 2371. 35 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3212.

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ken“.36 Das Gericht spricht beim Merkmal der Pflichtverletzung dem Attribut „gravierend“ eine genügende tatbestandsbeschränkende und konturbildende Funktion zu.37 Das Evidenzgebot wird als etwas Zusätzliches begriffen.38

III. Stand und Entwicklungslinien des Rechts der Aktienrechtsuntreue Um das HSH Nordbank-Urteil des BGH im System der aktien- und strafrechtlichen Vorstandsverantwortlichkeit besser zu verorten, ist der insgesamt erreichte Stand der untreuerechtlichen Tatbestandspräzisierung in einem Zwischenschritt zu skizzieren. 1. Vermögensbezug der verletzten Pflicht Die durch den Vorstand verletzte Pflicht muss für eine Untreuerelevanz vermögensschützend sein.39 Zudem fordert die Rechtsprechung einen „inneren Zusammenhang“ zur untreuespezifischen „Vermögensbetreuungspflicht“.40 Der 1. Strafsenat lässt vor diesem Hintergrund einen Verstoß gegen die aktienrechtliche Legalitätspflicht nicht genügen, sondern fordert auch hier zusätzlich einen Vermögensbezug.41 Demgegenüber meint der 4. Senat, dass jedenfalls ein Satzungsverstoß stets ausreiche.42 2. Unternehmerische Freiräume bei „Risikogeschäften“ Für unternehmerische Fehlentscheidungen wird in der untreuerechtlichen Fallgruppe der „Risikogeschäfte“ auch im Strafrecht ein gewisser Sanktionsfreiraum für Vorstandsentscheidungen gebildet.43 Der Begriff „Risikogeschäft“, verstanden als Geschäft 36 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215. 37 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215. 38 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215, 3217; Bittmann, wistra 2017, 121, 122 (das Verhältnis zwischen evidenter und gravierender Pflichtverletzung als unklar bezeichnend); krit. auch Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 99 f., vgl. zum Evidenzkriterium bereits Tiedemann in FS Dünnebier, 1982, S. 519, 533. 39 Nach h.A. genügt dabei ein mittelbar vermögensschützender Charakter, vgl. BGH v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88, 91 f. – Siemens/AUB; BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, NZG 2016, 703, 713  – Nürburgring; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 35 ff. Weitergehend Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 170. 40 BGH v. 3.5.1991 – 2 StR 613/90, NJW 1992, 251; als überwiegende Rspr. bezeichnend, Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 45. 41 BGH v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88, 91 f. – Siemens/AUB; einschr. BGH v. 10.10.2012 – 2 StR 591/11, NJW 2013, 401, 403 – Telekom-Spitzelaffäre; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, §  266  StGB Rz.  63; Saliger in Satzger/Schluckebier/ Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 35 ff. 42 BGH v. 27.2.1975 – 4 StR 571/74, NJW 1975, 1234, 1235 – Bundesliga; krit. dazu Brand/ Sperling, AG 2011, 233, 235. S. dazu noch unten V. 2. c. 43 Etwa BGH v. 4.2.2004 – 2 StR 355/03, StV 2004, 424; vgl. Esser, NZWiSt 2018, 201, 202; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 61.

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mit ungewissem Erwartungswert,44 ist ersichtlich nahezu nichtssagend. In der Kasuistik der Rechtsprechung sind die Kreditvergabe,45 Sanierungs-,46 Spekulationsgeschäfte47 und RWA-Entlastungsgeschäfte48 in diese Kategorie eingeordnet worden.49 Abgelehnt wurde ein Ermessensspielraum bei Anerkennungsprämien mit ausschließlich nachteiliger Wirkung für die Gesellschaft.50 Als geklärt gilt die Annahme einer Pflichtverletzung desjenigen, der „nach Art eines Spielers bewusst und entgegen den Regeln kaufmännischer Sorgfalt eine aufs äußerste gesteigerte Verlustgefahr auf sich nimmt, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnaussicht zu erhalten“.51 3. Erfordernis der gravierenden Pflichtverletzung Der 1. Strafsenat des BGH hat das Erfordernis einer „gravierenden“ Pflichtverletzung entwickelt.52 Das Gravierend-Sein wurde zunächst in einer strafrechtsautonomen Gesamtschau ermittelt: Schädlich sei die „fehlende Nähe zum Unternehmensgegen44 Vgl. BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2472 – HSH Nordbank; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 61 (ein erhöhtes Maß an Risiko fordernd: Geschäft, „bei dem die Prognose, ob es zu einem Gewinn oder Verlust führt, geschäftsimmanent mit einem erhöhten Maß an Ungewissheit behaftet ist“); Perron in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 20 mwN; Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 228; s. auch Hillekamp, NStZ 1981, 161, 162 ff.; Piel/ Albert in FS Wessing, 2015, S. 210 ff.; Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, §  266 StGB Rz.  115  ff.; Ibold, Unternehmerische Entscheidungen als pflichtwidrige Untreuehandlungen, 2011, S. 41 ff. 45 BGH v. 6.4.2000 – 1 StR 280/00, NJW 2000, 2364 – Bankenuntreue I. Als geschützt sieht der BGH solche „Risikogeschäfte“ im Falle einer Kreditvergabe an, die auf einem „wirtschaftlich vernünftigen Gesamtplan“ beruhen, BGH v. 15.11.2001 - 1 StR 185/01, BKR 2002, 172, 177. 46 BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, NZG 2016, 703 – Nürburgring. 47 BGH v. 8.3.1977 – 5 StR 607/76, GA 1977, 342. 48 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2472 – HSH Nordbank. 49 Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 228; Saliger in Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 61. 50 Vgl. BGH v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522, 527 – Mannesmann/Vodafone. 51 BGH v. 27.2.1975 – 4 StR 571/74, NJW 1975, 1234, 1235 f. – Bundesliga; BGH v. 12.6.1990 – 5 StR 268/89, NJW 1990, 3219, 3220; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 61. S. zum Rückgriff auf § 93 Abs. 1 AktG: BGH v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458  – Trienekens (zu Legalitätspflichtverletzung); BGH v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, BKR 2002, 172, 177 (zu Existenzgefährdung); Bittmann, NStZ 2011, 361, 365 (zu Klumpenrisiken); Piel/Albert in FS Wessing, 2015, S. 209, 212 ff.; Schröder, NJW 2010, 1169, 1172 (zu Existenzgefährdung); Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2017, S. 234; Wirtschaftsstrafrechtliche Vereinigung e.V., CCZ 2012, 144, 146; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 266 StGB Rz. 75a mwN. 52 BGH v. 6.4.2000 – 1 StR 280/99, NJW 2000, 2364 – Bankenuntreue I; BGH v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211 – Bankenuntreue II; Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 175 ff.; Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 47 ff. (Als unklar gilt die Konkretisierung der strafrechtlichen Schwereprüfung bei Legalitätspflichtverstößen, s. dazu noch V. 2.); krit. etwa Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 95 ff.

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stand, Unangemessenheit im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage, fehlende innerbetriebliche Transparenz, sowie das Vorliegen sachwidriger Motive, namentlich der Verfolgung rein persönlicher Präferenzen“.53 Derselbe Senat vertrat etwas später allerdings einen (wohl)54 zivilrechtsakzessorischen Ansatz. In seinem „Kinowelt“-Urteil ist zu lesen: „Werden hingegen die  – weit zu ziehenden  – äußersten Grenzen ­unternehmerischer Entscheidungsfreiheit überschritten und wird damit eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Unternehmen verletzt, so liegt eine Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten vor, die so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit i.S.v. §  266 StGB begründet“.55 Der 3. Strafsenat hat dann im „­Mannesmann/Vodafone“-Urteil angenommen, dass eine gravierende Pflichtverletzung nicht stets, sondern nur im Kontext von Informations- und Prüfungspflichten sowie Unternehmensspenden zu fordern sei.56 Dieser Ansatz ist dem BVerfG wiederum zu eng gewesen. Es maß dem Merkmal der „gravierenden Pflichtverletzung“ eine rechtsstaatlich gebotene tatbestandsbegrenzende Filterfunktion bei57 und forderte zudem eine Evidenz der Pflichtverletzung.58

IV. Die HSH Nordbank-Entscheidung Im Dezember 2011 wurde der gesamte ehemalige Vorstand der HSH Nordbank AG von der Staatsanwaltschaft wegen Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB zum Nachteil der Bank angeklagt. Der Fall kann zunächst einmal als ein herausragendes Beispiel der Lernverweigerung nach der Finanzkrise angesehen werden, denn hier wie anderswo wurden nicht die Subprime-Geschäfte der Bank thematisiert, welche die Milliardenverluste bewirkt hatten, sondern ein Rettungsversuch während der Krise im Dezem53 BGH v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585, 1587 – Sponsoring. Auf dieser Linie Dierlamm in MünchKomm. StGB, 3. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 175 ff.; Saliger in Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 50 (krit. zu den angeführten Indizien: „Willkürlichkeit“, „Überflüssigkeit“). 54 Kontrovers bleibt, ob die Hauptpflichtverletzung strafrechtlich gesondert zu prüfen ist, vgl. dazu Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, §  266 StGB Rz.  49; Schünemann, NStZ 2006, 196, 197 f. 55 BGH v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453, 454 f. – Kinowelt. 56 BGH v. 21.12.2005  – 3 StR 470/04, NStZ 2006, 214, 217  – Mannesmann/Vodafone, die „gravierende Pflichtverletzung“ weise demnach nur auf eine Überschreitung des Ermessensspielraums hin, s. auch BGH v. 26.11.2015  – 3 StR 17/15, NJW 2016, 2585, 2592  – Nürburg­ring; dazu Bittmann, wistra 2013, 1, 7 f.; Schünemann, NStZ 2006, 196; Schünemann in  LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, §  266 StGB Rz.  95; dagegen Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 50. 57 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215. 58 S.  oben II.  2.  c. Anschließend eine gravierende Pflichtverletzung prüfend: BGH v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458 – Trienekens; BGH v. 13.4.2011 – 1 StR 94/10, NJW 2011, 1747  – Kölner-Parteispendenaffäre; bzw. eine „schwere Pflichtverletzung“: BGH v. 28.5.2013 – 5 StR 551/11, NStZ 2013, 715 – IB-Fall. Hingegen vertrat der 3. Senat im Nürburgring-Fall eine strenge Akzessorietät, BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, NZG 2016, 703, 709  f.  – Nürburgring; auf dieser Linie liegt auch BGH v. 12.10.2016  – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2469 – HSH Nordbank.

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ber 2007, der mit dem Namen „OMEGA 55“ verbunden wird.59 Das Geschäft sollte „nur“ die bankaufsichtsrechtliche Eigenkapitalquote, die eine kritische Höhe erreicht hatte, stabilisieren, es diente also „nur“ einer (teuren) Bilanzbeschönigung.60 Dazu übertrug die HSH Nordbank AG das Ausfallrisiko eines Kreditportfolios mit einem Nominalwert von ca. 2 Mrd. Euro per credit default swap (CDS) auf die BNP Paribas Bank,61 welche es an die Zweckgesellschaft „OMEGA“ weiter gab.62 Die „­OMEGA“ erhielt von der HSH Nordbank AG wiederum Liquiditätsfazilitäten, die so gestaltet waren, dass die HSH Nordbank AG das Risiko faktisch „behielt“.63 Die „Mithilfe“ an dieser „Bilanzsäuberung“ ließ sich die BNP Paribas durch ein weiteres Geschäft vergüten, dessen Parameter so gestaltet waren, dass sie wiederum bei wirtschaftlicher Betrachtung als Gegenleistung angesehen werden konnten.64 Der BGH hat den Vermögensnachteil durch den Abschluss der „OMEGA 55“-Geschäfte auf mehr als 40 Mio. Euro beziffert.65 Die Staatsanwaltschaft geht nach Realisation der übernommenen Kreditrisiken von einem Gesamtschaden von etwa 146 Mio. Euro aus.66 Das LG Hamburg hat den Gesamtvorstand am 9.7.2014 vollumfänglich freigesprochen, da es die bejahten, vorsätzlichen Pflichtverstöße für nicht „gravierend“ genug ansah.67 Der 5. Strafsenat des BGH hob das Urteil auf, da es bereits den vom Zivilrecht losgelösten Untreueansatz des LG Hamburgs ablehnte. Sein Akzessorietätsansatz lautet: Sind die „in § 93 Abs. 1 AktG normierten äußersten Grenzen unternehmerischen Ermessens überschritten und ist damit eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Unternehmen verletzt worden, so liegt eine Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten vor, die (gleichsam ‚automatisch‘) so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit im Sinne von §  266 StGB begründet. Angesichts des durch §  93 Abs. 1 AktG eingeräumten weiten unternehmerischen Entscheidungsspielraums ist für eine gesonderte Prüfung der Pflichtverletzung als ‚gravierend‘ bzw. ‚evident‘ kein

59 S. zum weiteren Vorwurf der fehlerhaften Darstellung der Vermögenslage der Gesellschaft nach § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 – HSH Nordbank. 60 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 – HSH Nordbank; s. auch E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 270. 61 Dies wäre, isoliert betrachtet, geeignet gewesen die Eigenkapitalquote i.H.v. 128 Mio. Euro zu verbessern, BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 – HSH Nordbank; LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104. 62 S. zur komplexen Konstruktion, BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 – HSH Nordbank; LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104. 63 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468; LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104; E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 270. 64 Vgl. LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104; BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 – HSH Nordbank. 65 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 – HSH Nordbank. 66 LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104; BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 f. – HSH Nordbank. 67 LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104.

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Raum“.68 Im Übrigen hat der BGH zwar einen untreuerelevanten Vermögensbezug, aber keinen Gesetzesverstoß erkannt.69

V. Kritik: Gegen eine strenge Zivilrechtsakzessorietät 1. § 93 Abs. 1 AktG als konturgebender Haltepunkt? Es ist insgesamt zweifelhaft, ob die Stilisierung der aktienrechtlichen Grenzen für unternehmerisches Handeln zu einer evidenzstiftenden Kategorie des Untreuetatbestands viel einträgt. Das aktienrechtliche Privileg der Business Judgement Rule gilt nicht absolut, eine Reihe wichtiger Grenzen des „safe harbor“ begründen vielmehr eine strenge Haftung des Vorstands in zahlreichen Konstellationen.70 Wie ungenau die zivilrechtlichen Vorgaben sind, lässt sich an einigen, auch für den „OMEGA 55“Fall wichtigen und umstrittenen Anwendungsproblemen, Leerformeln und anderen Zweifelsfragen exemplarisch machen. Schon dies zeigt, dass eine klare Konturbildung durch Zivilrechtsakzessorietät nicht zu haben ist. a) Existenzgefährdung als untreuerechtliche Kategorie? Von Interesse muss es sein, wenn das OLG Düsseldorf zu strukturverwandten Geschäften bei der IKB Deutsche Industriebank AG meinte: „Kein Vorstand handelt sorgfältig, wenn er Risiken für sein Unternehmen eingeht, die, wenn sie sich verwirklichen, zum Untergang des Unternehmens führen“.71 Auch der 1. Strafsenat des BGH hält bestandsgefährdende Geschäfte a priori für pflichtwidrig.72 Die Begriffe „Bestands-“ oder „Existenzgefahr“ sind nicht leicht zu erklären. Sie werden untechnisch verwendet, so als verstehe es sich von selbst, wann das jeder unternehmerischen Entscheidung innewohnende Risiko eine existentielle Qualität habe. Aber ist die Gefahr des Scheiterns nicht das Kennzeichen von Unternehmertum schlechthin? Betrachten wir das Meinungsbild im Zivilrecht genauer: Nach einigen ist die Eingehung existenz-

68 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2469 – HSH Nordbank mit Verweis auf BGH v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453 – Kinowelt. Eine Sorgfaltspflichtverletzung nach § 93 Abs. 1 S. 1 AktG sei nur bei „schlechthin unvertretbarem“ Vorstandshandeln anzunehmen; „der Leitungsfehler müsse sich einem Außenstehenden förmlich aufdrängen“, BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2470 – HSH Nordbank. 69 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2472 – HSH Nordbank. 70 Florstedt in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie, 2017, S. 144, 146 ff. S. auch E. Vetter, NZG 2014, 921, 922 ff. mit Reformüberlegung für die Möglichkeit einer satzungsmäßigen Milderung der strengen Haftung. 71 OLG Düsseldorf v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126, 129; Lutter, ZIP 2009, 197, 199; krit. dazu Florstedt, AG 2010, 315, 319 ff.; Florstedt in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie, 2017, S. 144, 146 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 63 f. 72 BGH v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, BKR 2002, 172, 177; auf dieser Linie auch 2. Senat bzgl. Einwilligung des Vermögensinhabers bei Existenzgefährdung BGH v. 27.8.2010  – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458, 3461 – Trienekens; s. für Nachweise aus dem Schrifttum Fn. (51).

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gefährdender Risiken stets ein Pflichtverstoß,73 andere wollen die Business Judgement Rule nicht anwenden und somit die Entscheidung einer richterlichen Bewertung am Maßstab des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG zuführen.74 Eine vordringliche Ansicht nimmt dagegen „nur“ erhöhte Kontroll- und Prüfpflichten an.75 Andere differenzieren. Hervorzuheben ist ein grundlegender Beitrag von Baums, nach dem der Vorstand unter Abwägung der Risikotragfähigkeit der AG durchaus auch extreme Risiken von sehr geringer Wahrscheinlichkeit eingehen darf; bei „bestandsgefährdenden Entwicklungen“, verstanden als eine überwiegend wahrscheinliche Insolvenz „in absehbarer Zukunft“, sei der Vorstand dagegen zuvörderst zu bestandssichernden Maßnahmen verpflichtet.76 Man sieht an diesem Punkt bereits: Klar ist im Grunde nur, dass Geschäfte mit negativem Erwartungswert untersagt sind: Vermögen darf nicht verschwendet werden (Corporate-Waste Doktrin).77 Wie aber bei dem großen Themenkreis der Bestandsgefährdung die Pflichten und Privilegien von § 93 Abs. 1 AktG zu konkretisieren sind, ist noch völlig offen. b) Risikokonzentration als untreuerechtliche Kategorie? Das LG Hamburg sah in dem „OMEGA 55“-Geschäft die Gewährung eines Großkredits, der mit „besonderen ‚Klumpen‘-Risiken“ verbunden war.78 Was bedeutet dies ­unter dem Akzessorietätspostulat des 5. Senats? Die Eingehung von Klumpen- oder Konzentrationsrisiken ist nach namenhaften Aktienrechtlern einem besonderen Rechtfertigungszwang zu unterwerfen.79 Das OLG Düsseldorf meinte in seiner IKB-­ Entscheidung, gleich ein grundsätzliches Verbot solcher Geschäfte aussprechen zu müssen.80 Im Hintergrund steht der Versuch einer Analogiebildung zu Handlungs-

73 Lutter, ZIP 2009, 197, 199; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 86 f. 74 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 63. Krit. zu diesen strengen Ansichten Florstedt, AG 2010, 315, 319 ff. 75 Differenzierend Adolff in FS Baums, 2017, Bd. I, S. 31, 36 ff.; Hopt/Roth in GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 195; vgl. auch Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 81. 76 Baums, ZGR 2011, 218, 237 f., 250 ff. mit Zitat auf S. 252. Bezugnehmend darauf Adolff in FS Baums, 2017, Bd. I, S. 31, 36 ff. 77 Florstedt in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie, 2017, S. 144, 147 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, §  93 AktG Rz.  90  f.; Bunz, Der Schutz unternehmerischer Entscheidungen durch das Geschäftsleiterermessen, 2011, S. 154; M. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001, S. 108 f. 78 Das LG Hamburg verwendete den Begriff im Kontext der Anforderungen von §§  13a Abs. 2, 13 Abs. 2 KWG a.F., LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104. 79 Ausf. begründet von Fleischer/Schmolke, ZHR 173 (2009), 649, 676 ff.; a.A. Florstedt, AG 2010, 315, 320 und Florstedt in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie, 2017 S. 144, 149 f. 80 OLG Düsseldorf v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126; s. dazu Nachweise des Verf. in Fn. zuvor.

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empfehlungen für Börsenhändler (Portfoliotheorie).81 Aber eine solche Diversifikationspflicht hinsichtlich des Kreditportfolios einer Bank ist ökonomisch gesehen nicht begründbar.82 Banken mit einem hoch spezialisierten, „klumpigen“ Geschäftsfeld dürfen nicht durch die Dogmatik der Business Judgement Rule behindert werden. Die Transformierung der bewährten „Klugheitsregeln“ für den Börsenhandel zu abstrakten Verhaltensgrenzen für Vorstände war ein Einfall in der frühen Orientierungsphase der Krisenanalyse nach 2008, die sich später zwar nicht mehr durchgesetzt hat.83 Als geklärt darf die Rechtsfrage aber wohl noch nicht gelten. c) Die Folgen nichtinformierten Vorstandshandelns Ein Akzessorietätsansatz zwingt den Strafrechtsanwender dazu, worauf der Jubilar bereits hingewiesen hat,84 zu ungeklärten Aktienrechtsfragen Antworten zu geben. Das führt leicht zu Vergröberungen. Der 5. Strafsenat hat beispielsweise hinsichtlich der Pflicht, Risikoentscheidungen nur auf informierter Grundlage zu treffen, im Einklang mit einer h.L. angenommen, eine unzureichende Informiertheit lasse „nur“ das Privileg des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG entfallen, begründe aber nicht notwendig auch einen Verstoß gegen § 93 Abs. 1 S. 1 AktG. Der Standpunkt ist aber sehr umstritten und nach anderen laufen die Anforderungen bei Satz  1 (Sorgfaltspflichten) und Satz  2 (Freiraum nur bei informiertem Handeln) gleich.85 Setzte sich dieser Standpunkt durch, wäre spontanes, vielleicht genialistisches, aber nicht streng informiertes Entscheiden untreuerechtlich stets pflichtwidrig. Das leuchtet nicht ein.86 Vergröbernd ist es auch, wenn der 5. Strafsenat bei der nicht weniger umstrittenen Frage, welche Informationsbemühungen ein Vorstand im Rahmen von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG anstrengen muss, zunächst auf den viel kritisierten, äußerst strengen Ansatz des II. Zivilsenats Bezug nimmt, nach dem „alle (!) verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ auszuschöpfen sind.87 Der Strafsenat relativiert dies und vertritt eine einschränkende Lesart des Zivilrechtsurteils, die im aktienrechtlichen Schrifttum oft befürwortet wird.88 Gesichert ist diese Lesart indessen nicht,89

81 Vgl. OLG Düsseldorf v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126, 128 f.; Fleischer/Schmolke, ZHR 2009, 649, 676 ff.; krit. Baums, ZGR 2011, 218, 240; Florstedt, AG 2010, 315, 320 (dort Fn. 65); Florstedt in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie, 2017, S. 144, 149 f. 82 Insofern zutr. Fleischer/Schmolke, ZHR 173 (2009), 649, 676 ff.; vgl. auch Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 2006, S. 35 ff. und dazu Florstedt, AG 2010, 315, 320. 83 Vgl. auch Baums, ZGR 2011, 218, 240; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 64. 84 Vgl. E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 272. 85 So nämlich Bachmann, WM 2015, 105, 110 f.; Scholz, AG 2015, 222, 227. 86 Kritik auch bei E.  Vetter/Peters, DK 2017, 269, 272; Baur/Holle, ZIP 2017, 555, 558; vgl. Kubiciel, JZ 2017, 585, 588. 87 BGH v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675. 88 Etwa Bachmann, ZHR 177 (2013), 1, 3; Spindler, AG 2013, 889, 893. 89 Vgl. differenzierend Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 71a.

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sodass auch in diesem Punkt wieder deutlich wird, dass das Zivilrecht keinen sicheren Haltepunkt bei den Detailfragen zu geben vermag.90 d) Besonderheiten bei Handeln unter unklarer Rechtslage Dass die übergreifenden Prinzipienvorgaben für das Zivil- und das Strafrecht nicht gut durch einen strengen Akzessorietätsansatz materialisiert werden können, lässt sich auch anhand der hochaktuellen Problemlage des Handelns unter unklarer Rechtslage und beim Vertrauen auf uneindeutigen Rechtsrat exemplarisch machen. Stark vereinfacht meint man im Zivilrecht, ein Vertrauensschutz sei erst auf Ver­ schuldensebene herzustellen, ein Freiraum für rechtliche Unsicherheiten – gleichsam eine legal judgement rule – wird vom BGH abgelehnt.91 Die genaueren Bedingungen für einen Vertrauensschutz sind hier ungeklärt und im Fluss;92 im Strafrecht dagegen wird der Rechtsirrtum durchaus auch als eine Frage der Tatbestandserfüllung begriffen, auch wenn die Relevanz auf Tatbestands- oder Verschuldensebene alles andere als gesichert ist.93 Klar ist jedenfalls, dass für einen entschuldigenden Verbotsirrtum hier strengere Maßstäbe als im Zivilrecht gelten. Welche Folgeprobleme würde ein strenges Akzessorietätsprinzip für „Risikogeschäfte“ dann aufwerfen? Es können hier nur zwei angeführt werden: (1) Die Untreuestrafbarkeit sollte nicht von aktienrechtlichen Meinungsdivergenzen abhängen. Genau das wäre aber der Fall, denn ob man daran festhält, dass dem Vorstand kein tatbestandlicher Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Rechtslage zukommt,94 oder – anders gesagt – ob der rein verschuldensbezogene Problemzugriff des BGH hier nicht doch zu weit geht, ist nicht gesichert. Eine h.L. fordert hier jedenfalls ein Umdenken.95 Unter dem strengen Akzessorietätsprinzip verlagerte eine solche legal judgement rule im Sinn der h.L. das Problem des Vertrauensschutzes beim Rechtsirrtum in den zivilrechtlichen Pflichtwidrigkeitsbegriff. Die strafrechtliche Prüfung käme dann gar nicht mehr zu einer eigenständigen Bewertung des Verbotsirrtums. (2) Ein anderer Bereich von Schwierigkeiten ist bei einem Vertrauen auf einen nicht eindeutigen Rechtsrat erreicht. Solche sog. odds opinions, die nur auf ein „gut vertretbares“ Ergebnis hinweisen, sind in der Praxis häufig. Die Strafrechtswissenschaft steht einer Entlastung hier oft skeptisch gegenüber; es wird

90 Auf dieser Linie E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 272; Baur/Holle, ZIP 2017, 555, 558. 91 Vgl. BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, NZG 2007, 545; BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NZG 2011, 1271, 1273 – ISION I; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792, 794 – ISION II; Strohn, ZHR 176 (2012), 137, 138; Strohn, CCZ 2012, 177 ff., s. auch E. Vetter, NZG 2015, 889, 893. 92 Exemplarisch aus der aktuellen Diskussion Holle, AG 2016, 270, 279; Verse, ZGR 2017, 174, 192; Harnos, Geschäftsleiterhaftung bei unklarer Rechtslage, 2013, S. 149 f., 310. 93 Vgl. Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, §  266 StGB Rz.  129; Schünemann in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2012, § 266 StGB Rz. 192 ff.; s. im Kontext der Steuerhinterziehung Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 23 Rz. 45 mwN. 94 S. Nachweise in Fn. 91 f. 95 Bayer in FS K. Schmidt, 2009, S. 85, 92; Cahn, DK 2015, 105, 107; Fleischer, ZIP 2015, 141, 150; Fleischer in FS Hüffer, 2010, S.  187, 198  f.; Habersack in FS U.  H.  Schneider, 2011, S. 429, 436 f.

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eine sog. flat opinion gefordert96 und der BGH hat bei Kenntnis der möglichen Rechtswidrigkeit ein bedingtes Unrechtsbewusstsein angenommen.97 Dass diese strenge Sichtweise nicht für § 93 AktG zu passen scheint und die systematischen, funktionalen Eigenarten des Organhaftungsrechts weitergehende Entlastungschancen für Vorstände rechtfertigen, wurde bereits an anderer Stelle dargelegt.98 Hier ist nur darauf hinzuweisen, dass ein strenges Akzessorietätskonzept den zivilrechtlichen  – vom strafrechtlichen durchaus verschiedenen! – Vertrauensschutz faktisch aushebelt: Die im Zivilrecht gebotenen, weitergehenden Enthaftungsmöglichkeiten beim Handeln in fremdem Interesse, werden im Strafrecht gar nicht mehr geprüft, wenn die zivilrechtliche Verschuldensebene ausgeblendet wird und das Strafrecht einen genuinen und im Ergebnis strengeren Maßstab anlegt. 2. Das Verhältnis zur Legalitätspflicht Nicht weniger problematisch erscheint ein Verzicht auf eine strafrechtliche Schwereprüfung bei Gesetzes- und Satzungsverstößen, bei denen die Reichweite des Akzessorietätsgrundsatzes nicht geklärt ist.99 Auch zu diesem Problemkreis ist der HSH Nordbank-Fall ein geeigneter Betrachtungsgegenstand. a) „Keine hinreichenden Anhaltspunkte“ für einen Gesetzesverstoß – oder doch? Dass unsere Gerichte anstelle einer profunden Aufarbeitung der Finanzkrise noch immer auf Ausweichbeurteilungen zurückgreifen, ist schon seltsam genug – eine nähere Rechtsanalyse der „eigenmittelschonenden“ Transaktionen wird hier wie anderswo nicht versucht. Beim 5. Senat ist nur zu lesen, dass sich aus den Feststellungen für einen Gesetzesverstoß keine hinreichenden Anhaltspunkte ergäben.100 Die realtypisch gewollt-komplizierten Vertragssysteme verklären entsprechende „Anhaltspunkte“ und sollten es. Der Verf. hat die Gestaltungstechnik, die auch die „Bilanzkosmetik“ durch das „OMEGA 55“-Geschäft nach dem Willen der Gestalter „legal“ werden lassen sollte, an anderer Stelle ausführlich untersucht.101 In kürzester Form lässt sich die Technik durch zwei Aspekte kennzeichnen: (1) Da unter dem damals geltenden Basel-I Regime unterjährige Liquiditätszusagen privilegiert wurden, ging man dazu über, langjährige Garantien künstlich in unterjährige Teilstücke zu untergliedern.102 Die unterjährigen Zusagen waren nach einem Gesamtplan sowohl technisch als auch 96 Kirch-Heim/Samson, wistra 2008, 81, 85; Vogel in LeipzigerKomm. StGB, 12. Aufl. 2007, § 17 StGB Rz. 89; s. auch Florstedt, NZG 2018, 485, 491 f. mwN. 97 Vgl. BGH v. 21.7.1999 – 2 StR 24/99, NJW 1999, 3568, 3569; BGH v. 23.12.1952 – 2 StR 612/52, NJW 1953, 431; s. auch Florstedt, NZG 2018, 485, 491 f. mwN. 98 Florstedt, NZG 2018, 485, 491 f. 99 Vgl. oben III. 1. und Fn. (52). 100 BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2472 – HSH Nordbank. 101 Florstedt, ZBB 2013, 81, 82 ff. 102 Florstedt, ZBB 2013, 81, 86  ff.; Florstedt in FS Baums, Bd. I, 2017, S.  433, 440  ff.; zur ­Verwendung dieser „Fazilitäten“ beim „OMEGA  55“-Geschäft s. nur LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104.

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wirtschaftlich eine untrennbare Einheit. (2) Um die unterlegungspflichtigen Forderungen auslagern – besser: bilanziell verstecken – zu können, mussten die Banken bei den subprime-Investitionen das wirtschaftliche Risiko übernehmen. Deswegen haben die Banken die sog. „Rohrleitungen“ (scil. die „Schattenbanken“) mit entsprechenden Garantien ausgestaltet. Diese Garantien waren entscheidend,103 da man den Erwerb der Papiere sonst gar nicht hätte refinanzieren können. Die Banken haben die Garantien dann einfach „Liquiditätsfazilität“ 104 genannt und gegenüber der Aufsicht behauptet, die Bank übernehme durch die „Fazilität“ keine (unterlegungspflichtigen) Kreditrisiken, sondern bloße Marktrisiken.105 Dass dies falsch war, konnte für die subprime-Investitionen der Schattenbanken (mühelos) empirisch belegt werden106 und auch die HSH Nordbank AG hat die Ausfallrisiken in der Gestaltungsvariante des „OMEGA 55“-Geschäfts auf die gleiche Art „behalten“.107 Wie ist das „OMEGA 55“-Geschäft dann rechtlich zu beurteilen? Jeder Normbefehl ist auf ein Mindestmaß an Schutz vor Umweggestaltungen angewiesen. Analoge Gestaltungskonstrukte sind in zahlreichen anderen Teilrechtsordnungen mit gutem Grund als Gesetzesverstoß verworfen worden. Wieso sollten bei bankaufsichtsrechtlichen Normbefehlen laschere Methodenregeln gelten, als beispielsweise bei Kettenmietverträgen oder der Aneinanderreihung befristeter Arbeitsverträge?108 Es kann auch keine Rede davon sein, dass solche Verkettungen oder die Umetikettierung von Vertragstypen rechtlich schwer zu beurteilen wären. Das bedeutet: Das Urteil des BGH in Sachen HSH Nordbank AG lässt sich zwar als ein Postulat für eine exakte – konturstiftende  – Zivilrechtsprüfung verstehen. Der Senat nimmt diese aber selbst gar nicht vor, wenn er das zivilrechtlich Offensichtliche (Unterlaufung zeitbezogener Schutzvorschriften; Umbenennung von Verträgen) nicht hinterfragt.

103 Entsprechende Garantien waren Voraussetzung für ein gutes Rating, vgl. Asset-Backed Commercial Paper Criteria Report, DBRS, Januar 2007, S. 10, 17. 104 S. dazu etwa die Entscheidung der Kommission v. 21.10.2008 über die staatliche Beihilfe C 10/08 (ex NN 7/08), die Deutschland für die Umstrukturierung der IKB Deutsche Industriebank AG gewährt hat, 2009/775/EG, Rz. 11. 105 Die IKB Deutsche Industriebank AG und mit ihr die Bankenwelt berief sich auf eine (angebliche) Lücke im „Basel I“-Regime, nach dem bestimmte unterjährige Zusagen nicht unterlegt werden mussten, Art. 43 und Anhang II der RL 2000/12/EG („Kreditinstituterichtlinie“); vgl. nur das Jahresgutachten 2007/08 des Sachverständigenrates, BT-Drs. 16/7083, S. 128 f.; König, Die Bank 2012, Heft 10, S. 14. Die Existenz dieser Gesetzeslücke wurde zu Unrecht kaum je hinterfragt, vgl. Florstedt, ZBB 2013, 81, 82, Fn. 8.; Florstedt in FS Baums, Bd. I, 2017, S. 433, 441. 106 Vgl. Acharya/Schnabl/Suarez, Securitization without risk transfer, NBER-WP No. 15730, S. 32 und passim. 107 Vgl. BGH v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467, 2468 – HSH Nordbank; LG Hamburg v. 9.7.2014 – 608 KLs 12/11, BeckRS 2015, 9104. 108 Ausf. Florstedt, ZBB 2013, 81, 86 ff.

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b) Was ist ein mittelbarer Vermögensbezug? Das Legalitätsprinzip wird im Aktienrecht denkbar streng gehandhabt.109 Nach dem 1. Strafsenat wird es im Strafrecht durch das Erfordernis eines fiduziarischen Schutz­ zweckzusammenhangs eingeschränkt.110 Aber was soll man sich unter der Verletzung einer „zumindest mittelbar vermögensschützenden“ Norm vorstellen? Da jeder strafoder ordnungsrechtswidrige Gesetzesverstoß ein Bußgeld nach § 30 Abs. 1 OWiG zur Folge haben kann, ist im Grunde stets eine nachteilige Vermögenswirkung möglich.111 Hier ist nicht auszuführen, ob Auslegungsoperationen zum Schutzzweck der verletzten Norm doch noch zu nachvollziehbaren Unterscheidungen (von vermögensrelevanten und nicht vermögensrelevanten Pflichten) kommen.112 Blickt man auf die aufgeworfenen Fragen, kann man in den hier verletzten Eigenmittelvorschriften113 einen Vermögensbezug sicherlich wegen der empfindlichen aufsichtsrechtlichen Sanktionsdrohungen bejahen, vielleicht aber mit Blick auf die öffentlich-rechtliche Schutzzweckdimension der Eigenmittelgesetze auch ablehnen. Einen Abgrenzungswert hat das Merkmal des Vermögensbezugs aus sich heraus jedenfalls nicht.114 c) Satzungsverankerung als sinnvolle Eingrenzung? Von Interesse ist es auch, wenn der BGH Verstöße gegen Satzung und Gesetz im Kontext bisweilen verschieden beurteilt: Beim Satzungsverstoß soll es nach dem 4. Strafsenat auf eine Vermögensbetreuungspflicht oder eine besondere Schwere des Verstoßes nicht ankommen.115 Damit verwandt ist der vom 1. Senat erwogene Ansatz, einen Legalitätsbruch nur dann genügen zu lassen, wenn die verletzte Norm zugleich eine statutarische Verankerung habe.116 Man braucht dazu nur die schon behandelten Sachverhalte zu betrachten, um zu sehen, dass eine solche „Maßgeblichkeit“ der Satzungsregelungen auch keine Hilfe für das Rationalisierungsanliegen sein dürfte: Der HSH Nordbank AG waren, wie es bei Banken häufig ist, „Bank- und Finanzgeschäfte aller Art sowie weitere Dienstleistungen und Geschäfte im kreditwirtschaftlichen Bereich“117 erlaubt, die Satzung der IKB Deutsche Industriebank AG sah hingegen einen undeutlichen Vorbehalt vor, soweit die Bank den (deutschen) Mittelstand zu fördern 109 S. oben II. 2. a). 110 BGH v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88, 91 f. – Siemens/AUB; s. oben III. 1. 111 Zutr. bereits Brandt/Sperling, AG 2011, 233, 239. 112 Dazu Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 37. 113 § 10 KWG i.V.m. Art. 43 und Anhang II der RL 2000/12/EG („Kreditinstituterichtlinie“), näher Florstedt, ZBB 2013, 81, 85 ff. 114 Etwa Brandt/Sperling, AG 2011, 233, 239 f. 115 BGH v. 27.2.1975 – 4 StR 571/74, NJW 1975, 1234, 1235 – Bundesliga; dazu Brand/Sperling, AG 2011, 233, 235; s. auch Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 51, der bei Satzungsverstößen eine Schwereprüfung bei „formellen“ und „nebensächlichen oder marginalen materiellen“ Pflichten fordert. 116 BGH v. 13.4.2011  – 1 StR 94/10, NJW 2011, 1747  – Kölner Parteispendenskandal, mit ablehnender Anm. von Brand; zustimmend BGH v. 11.12.2014 – 3 StR 265/14, NJW 2015, 1618; ablehnend etwa Saliger in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 37 mwN. 117 § 2 Abs. 1 Satzung der HSH Nordbank AG v. 7.11.2007.

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hatte.118 Von hier aus wird man den Erwerb von US-amerikanischen Bau- und Verbraucherkrediten in der toxischen Form der subprime-Papiere bei der HSH Nordbank AG für satzungskonform ansehen müssen. Bei der IKB Deutsche Industriebank AG aber stellte sich die diffizile Auslegungsfrage, ob die Satzung solche Geschäfte – mangels einer erkennbaren Förderung des (deutschen!) Mittelstands – noch zuließ. Die Verwendung einer subprime-typischen Schattenbankenstruktur, diesmal aber zu Zwecken der Eigenmittelpflege (wie bei dem „OMEGA 55“-Geschäft), wird man in beiden Fällen als ein „Bankgeschäft“ (Erhalt des Kernkapitals) anzusehen haben. Die Ergebnisse, nur darauf soll es hier ankommen, welche die Eingrenzungsversuche durch einen Satzungsbezug hier zeitigen, sind wenig überzeugend. Wie das Beispiel der IKB Deutsche Industriebank AG deutlich machen dürfte, ergeben sich stattdessen nur neue Auslegungs- und Zweifelsfragen auf einer anderen Ebene.

VI. Fazit: Keine Vorhersehbarkeit durch Akzessorietät! Im Ergebnis begründet Akzessorietätsdenken also die Gefahr, dass Anwendungsprobleme des § 93 Abs. 1 AktG in das Strafrecht übertragen werden.119 Es wird zu befürchten sein, dass eine Reihe aktienrechtlicher Leerformeln und unklarer Begriffe zugleich die Strafbarkeitsgrenze bestimmen. Wenn von Vorhersehbarkeits- oder Bestimmtheitspostulaten die Rede ist, meint man, dass der Vorstand die Grenzen seines straffreien Handelns beurteilen kann. Die Rückanbindung an zivilrechtliche Vorfragen bringt dies nicht voran, die Forderung des BVerfG nach einer gesonderten Evidenzprüfung120 und einer gravierenden Pflichtverletzung, wird auf diesem Weg jedenfalls nicht erfüllt.

118 § 2 Abs. 1 Satzung der IKB Deutsche Industriebank AG v. 31.8.2006; s. dazu Spindler, NZG 2010, 281, 283; Florstedt, AG 2010, 315, 316 f. 119 So auch E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 271. 120 BVerfG v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u.a., NJW 2010, 3209, 3215; s. oben; auf dieser Linie E. Vetter/Peters, DK 2017, 269, 272 f.

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Die Vollmacht bei der Beschlussfassung – ein Beispiel für einen allgemeinen Teil des Rechts der Beschlüsse Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Die Zulässigkeit der Vertretung 1. Zwingende gesetzliche Einschränkung der Vertretung bei Rechtsgeschäften 2. Die Qualität der Beschlussfassung als Grenze der Zulässigkeit von Stimmrechtsvollmachten 3. Schutz der an der Beschlussfassung beteiligten Personen als Grenze der Zulässigkeit von Stimmrechtsvollmachten a) Die Hauptversammlung der Aktien­ gesellschaft b) Die Gesellschafterversammlung der GmbH c) Personengesellschaften

d) Vereine e) Wohnungseigentümerversammlung f) Bruchteilsgemeinschaften, Erben­ gemeinschaften 4. Zwischenergebnis I II. Zwang, sich vertreten zu lassen 1. Vertretung einer Mehrheit von Personen durch einen Vertreter a) Gesetzliche Regelungen b) Vertragliche Regelungen c) Verallgemeinerungen 2. Vertretungszwang mangels persönlicher Eignung des Vertretenen IV. Zusammenfassung

I. Fragestellung Beschlüsse werden in ganz unterschiedlichen Situationen gefasst. Fast immer geht es darum, die Willensbildung mehrerer Personen durch ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen. Es kommt allerdings auch vor, dass die Entschließung nur einer Person als Beschluss verstanden wird (etwa in der Gesellschafterversammlung einer EinMann-­Gesellschaft), doch sind solche Fallgestaltungen die Ausnahme. In der Praxis geht es meist um Beschlüsse von Gremien (z.B. Vorstand, Aufsichtsrat, Beirat), Gesellschaftern, Miteigentümern (z.B. Beschlüsse nach dem WEG), Erbengemeinschaften und ähnlichen Gruppen. Jedermann kennt jedenfalls in groben Zügen das Prozedere: Die Stimmberechtigten geben ihre Stimme ab und aus der Gesamtheit der Stimmen ergibt sich das Beschlussergebnis. Eine Regelung dieses ganz offensichtlich rechtlich bedeutsamen Vorgangs findet sich im BGB im Abschnitt über Rechtsgeschäfte nicht, wohl aber z.B. im Vereinsrecht (§  32 BGB, Tagesordnung, Mehrheit, § 34 BGB Stimmverbote) und im Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 709 Abs. 2 BGB, Berechnung der Mehrheiten), wobei die Normen unterschiedliche Fragestellungen regeln. Eine weitere Bestimmung betrifft die Bruchteilsgemeinschaft (§ 745 Abs. 1 BGB, Berechnung der Mehrheit) und die Erbengemeinschaft (§ 2038 Abs. 2 BGB, Verweis auf die Bruchteilsgemeinschaft). Hinzu treten Regelungen in Sondergesetzen (z.B. § 47 GmbHG), die teilweise auch ausführlicher sind (§ 24 f. WEG, § 108 AktG Beschlussfassung des Aufsichtsrats; § 133 ff. AktG Beschlussfassung der Haupt173

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versammlung; § 43 GenG Generalversammlung der Mitglieder der Genossenschaft). Die Normen zur Beschlussfassung sind in manchen Fällen auf die Besonderheiten des jeweiligen Gremiums zugeschnitten, bisweilen kann man sich aber auch eine weitergehende Regelung vorstellen (z.B. bei den Stimmverboten). Das lässt die Frage aufkommen, ob nicht allgemeine Regeln über die Beschlussfassung entwickelt werden können. Sofern diese allgemeinen Regeln kodifiziert werden sollen, fragt es sich, wo ein solcher Normenkomplex einzufügen wäre. Da der Beschluss ein Rechtsgeschäft ist, das sich aus Willenserklärungen zusammensetzt, wäre eine Einordnung im allgemeinen Teil des BGB im Abschnitt Rechtsgeschäfte (§ 104 ff. BGB) hinter die für Verträge einschlägigen Bestimmungen (also nach § 157 BGB) sachgerecht. Doch muss über eine solche Einordnung nur nachgedacht werden, wenn entsprechende allgemeine Regeln, die dann je nach Art der beschlussfassenden Versammlung im jeweils einschlägigen Gesetz zu ergänzen wären, sinnvoll formuliert werden können. Als möglicher Bereich solcher Regeln kämen z.B. Bestimmungen über die Tagesordnung, den Versammlungsleiter, Auswirkungen von Willensmängeln auf die Beschlussfassung, Vertretungsregeln, Stimmverbote und die Folgen von Beschlussmängeln1 in Frage. Im Folgenden soll ein Beispiel für solche allgemeinen Regeln entwickelt werden. Es geht um die Frage, ob sich die stimmberechtigten Personen vertreten lassen dürfen oder sogar müssen.

II. Die Zulässigkeit der Vertretung 1. Zwingende gesetzliche Einschränkung der Vertretung bei Rechtsgeschäften Gemäß § 164 Abs. 1 BGB kann man sich bei der Abgabe einer Willenserklärung, und dazu zählt die Stimmabgabe unstreitig, auch vertreten lassen. Ebenso klar ist aber auch,2 dass diese Möglichkeit, sich bei der Abgabe von Willenserklärungen vertreten zu lassen, nicht uneingeschränkt besteht. Insbesondere im Familien- und Erbrecht finden sich Ausnahmen, etwa bei der Eheschließung (§ 1311 BGB), der Einwilligung in die Adoption (§ 1750 Abs. 1 BGB), der Anfechtung der Ehelichkeit (§ 1600a Abs. 1 BGB), der Testamentserrichtung (§  2064 BGB), der Anfechtung von Erbverträgen (§ 2296 Abs. 1 BGB, § 2271 Abs. 1 BGB) und Ähnlichem. Die hinter diesen Regeln stehende Grundüberlegung liegt auf der Hand: Die Bedeutung dieses Rechtsgeschäfts für die Person sowie die Wesentlichkeit dieser Erklärungen auch für andere Personen fordern die eigenständige Vornahme. Auch die wirtschaftliche Bedeutung eines Geschäfts kann die Vertretung ausschließen. So liegt es bei § 48 HGB, der Erteilung der Prokura. In diesen vom Gesetz ausdrücklich angesprochenen Fällen des Ausschlusses der Vertretung geht es wie gesagt in erster Linie um den Schutz derjenigen, die die Willens1 Siehe Koch, Gutachten zum 72. Juristentag F 68 ff. 2 Statt aller Arnold in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 32 BGB Rz. 37; Carsten Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 52.

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Die Vollmacht bei der Beschlussfassung

erklärung abgeben. Sie sollen selber handeln, um sich der Bedeutung der Erklärung bewusst zu sein. Dieser Aspekt spielt bei Stimmrechtsvollmachten keine Rolle. Doch können auch andere Überlegungen eine Vertretung ausschließen. Denn jede Vertretung hat zur Folge, dass der maßgebliche Wille von einer anderen als der vertretenen Person gebildet werden kann. Das kann insbesondere dann unerwünscht sein, wenn diese Person speziell ausgewählt wurde und so die Qualität des Beschlusses abgesichert werden sollte. Bisweilen haben die anderen an der Beschlussfassung beteiligten Personen ein schutzwürdiges Interesse daran, dass eine Vertretung unterbleibt. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit diese beiden Aspekte einer Stimmrechtsvollmacht entgegenstehen. 2. Die Qualität der Beschlussfassung als Grenze der Zulässigkeit von Stimmrechtsvollmachten Wie geschildert kann von maßgeblicher Bedeutung sein, dass die Entscheidung von bestimmten Personen selbst getroffen wird, weil der Sichtweise gerade dieser Personen besonderes Gewicht beigemessen wird, etwa weil sie von anderen Personen ausgewählt worden sind, die sie für besonders kompetent halten. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass Aufsichtsratsmitglieder in der Sitzung nicht vertreten werden können.3 Auf diese Überlegung lässt sich etwa auch ein Vertretungsverbot für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft bei der Beschlussfassung über Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß §  77 AktG stützen. Gleiches dürfte für die Entschließung von anderen Geschäftsführungsorganen gelten, etwa von Vorstandsmitgliedern eines Vereins oder für die Entschließung von GmbH-Geschäftsführern oder Komplementären. Die für Aufsichtsratsmitglieder getroffene Regel ist also Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens. Dieser ließe sich etwa folgendermaßen formulieren: „Ist eine Person von anderen Personen für eine bestimmte Tätigkeit durch Wahl bestimmt oder sonst ausgewählt worden, kann sie sich bei der Stimmabgabe im Rahmen dieser Tätigkeit im Zweifel nicht vertreten lassen“. Anders kann es etwa sein, wenn die Beschlussfassung ein weniger bedeutsames Geschäft betrifft, das bereits abgesprochen ist. Insofern ist der Beschluss dann nur noch eine Formalität. 3. Schutz der an der Beschlussfassung beteiligten Personen als Grenze der Zulässigkeit von Stimmrechtsvollmachten a) Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft Mit der Zulassung von Vertretern wächst die Anzahl der Personen, die um die Interna des Gremiums wissen, und damit die Gefahr, dass Dinge an die Öffentlichkeit geraten, die nach Ansicht des Gremiums (vorerst) nicht allgemein zugänglich sein sollen. Dieser Aspekt spielt nicht für jedes Gremium eine Rolle. Teilweise sind die beschlussfassenden Versammlungen so groß, dass irgendeine Form von Privatheit von vorne he­ rein nicht in Betracht zu ziehen ist. Für Aktionäre in der Hauptversammlung ist daher 3 § 108 Abs. 2 AktG lässt nur Stimmboten zu.

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die Möglichkeit, sich vertreten zu lassen, sogar zwingend gesetzlich vorgeschehen (§ 134 Abs. 3 S. 1 AktG). b) Die Gesellschafterversammlung der GmbH Das GmbH-Gesetz geht davon aus, dass eine Stimmrechtsvollmacht der Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung zulässig ist. § 47 Abs. 3 GmbHG schreibt allerdings Textform für die Erteilung vor. Anerkannt ist auch, dass in der Satzung die Möglichkeit, eine Stimmrechtsvollmacht zu erteilen, ausgeschlossen werden kann.4 Dies scheint in der Praxis aber kaum vorzukommen. Sollte eine Satzung eine entsprechende Regelung doch enthalten, so greift das Vertretungsverbot gleichwohl nicht, wenn der Gesellschafter etwa aufgrund einer Erkrankung auf die Vertretung angewiesen ist.5 c) Personengesellschaften Demgegenüber geht man in Personengesellschaften davon aus, dass eine Stimmrechtsvollmacht nur zulässig ist, wenn der Gesellschaftsvertrag dies so vorsieht oder die Gesellschafter dies spontan – eventuell auch durch schlüssiges Verhalten – akzeptieren6 oder – so eine Mindermeinung – 7 wenn eine Person bevollmächtigt werden soll, die berufsrechtlich zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Mit dieser nur eingeschränkten Zulässigkeit von Stimmrechtsvollmachten soll der persönlichen Verbundenheit der Gesellschafter untereinander Rechnung getragen werden. Ein Dritter kann in der Gesellschafterversammlung in der Tat durchaus störend wirken. Wie gesagt kann der Gesellschaftsvertrag auch bei Personengesellschaften eine Stimmrechtsvollmacht zulassen. Eine entsprechende ausdrückliche Bestimmung im Ge­ sellschaftsvertrag wird nicht verlangt. Vielmehr lässt sich aus anderen Regeln des ­Vertrages, die eine geringere Bedeutung der persönlichen Zusammensetzung des Gesellschafterkreises deutlich machen, eventuell schließen, dass eine Stimmrechtsvollmacht zulässig sein soll. Solche Indizien sind etwa die Vererblichkeit sowie die freie Übertragbarkeit der Beteiligung oder auch die Ausrichtung des Gesellschaftsvertrages auf eine Vielzahl von Gesellschaftern.

4 Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  47 GmbHG Rz.  94; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 47 GmbHG Rz. 447; einschränkend Ganzer in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 47 GmbHG Rz. 59. 5 Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 47 GmbHG Rz. 447; Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 GmbHG Rz. 94. 6 RGZ 123, 289, 300; Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 19; Hadding/Kießing in Soergel, BGB, 13. Aufl., § 709 BGB Rz. 28; Carsten Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 119 HGB Rz. 59; Carsten Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 709 BGB Rz. 61; Weitemeyer in Oetker, HGB, 4. Aufl. 2019, § 119 Rz. 13. 7 Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 19.

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Hinzu kommt, dass nach allgemeiner Meinung sogar ein ausdrücklich im Gesellschaftsvertrag niedergelegtes Verbot der Stimmrechtsvollmacht genau wie in der GmbH in manchen Fällen nicht greift. Denn die Treuepflicht, die die Gesellschafter untereinander verbindet, verbietet es auch in der Personengesellschaft, sich auf ein solches Verbot zu berufen, wenn ein Gesellschafter ein besonderes Interesse an einer Vertretung hat.8 Dies kann etwa der Fall sein, wenn er erkrankt ist, wenn er die für eine sachgerechte Stimmabgabe erforderlichen Fähigkeiten nicht hat, oder wenn er (etwa weil er Konkurrent der Gesellschafter ist) an der Gesellschafterversammlung selbst nicht teilnehmen darf. Betrachtet man diese Ausgangslage insgesamt, so zeigt sich, dass man mittlerweile wohl davon ausgehen kann, dass Stimmrechtsvollmachten auch in Personengesellschaften eher zulässig als unzulässig sind. Daher könnte eine solche Regel auch im Gesetz niedergelegt werden. Den Gesellschaftern bleibt es selbstverständlich überlassen, so gewünscht, im Gesellschaftsvertrag die Vertretung auszuschließen. Bei Fehlen einer ausdrücklichen entsprechenden Regelung wäre ein Indiz dafür, dass ein Ausschluss einer Stimmrechtsvollmacht erwünscht ist, dass sich die Gesellschafter bewusst einander als Vertragspartner ausgesucht und sich gegenüber dem Eindringen Dritter abgesichert haben, wie dies etwa in Freiberuflergesellschaften der Fall ist. d) Vereine Im Verein ist die Rechtslage komplex. § 38 S. 2 BGB bestimmt, dass eine Stimmrechtsvollmacht nicht zulässig ist – sofern die Satzung nichts anderes vorsieht.9 Dem entspricht, dass die Mitgliedschaft nicht übertragbar und nicht vererblich ist (§ 38 S. 1 BGB). Das Gesetz geht also von einer persönlichen Verbundenheit des Mitglieds mit seinem Verein aus, wie es ja auch gerade in Idealvereinen der Realität entspricht. Weniger eindeutig ist demgegenüber, ob daraus ein Vertretungsverbot bei der Stimmabgabe folgt. Denn auch und gerade in der Bestellung eines Vertreters kann die Verbundenheit mit dem Verein zum Ausdruck kommen. Wer sich für die Willensbildung im Verein nicht interessiert, bleibt der Mitgliederversammlung schlicht fern. Auch der Schutz der Mitglieder vor dem Eindringen unerwünschter Dritter rechtfertigt kaum die in § 38 S. 2 BGB niedergelegte Regel. Nach dem gesetzlichen Leitbild hat ein Verein eher viele miteinander nicht verbundene Mitglieder. Zudem erfolgt der Beitritt meist nach formalen, nicht auf die Persönlichkeit der Beitrittswilligen abstellenden Kriterien. Eine gesetzliche Regel, die eine Stimmrechtsvollmacht zulässt, sofern die Satzung nichts anderes bestimmt, wäre daher wohl die interessengerechtere Lösung. 8 BGH v. 1.12.1969 − II ZR 191/99, NJW 1970, 706; Enzinger in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2016, § 119 HGB Rz. 19; Carsten Schäfer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 119 HGB Rz. 59; Weitemeyer in Oetker, HGB, 4. Aufl. 2019, § 119 HGB Rz. 13. 9 OLG Hamm v. 8.2.1990 – 15 W 37/90, NJW-RR 1990, 532, 533; Hadding in Soergel, § 32 BGB Rz. 27, § 38 BGB Rz. 20; Schöpflin in Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl. § 38 BGB Rz. 23; teilweise einschränkend Westermann in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 32 BGB Rz. 5, § 38 Rz. 2; einschränkend Arnold in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 32 BGB Rz. 32 f.

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e) Wohnungseigentümerversammlung Der BGH geht für die Wohnungseigentümerversammlung davon aus, dass sich jeder Wohnungseigentümer in der Eigentümerversammlung vertreten lassen kann – sofern die Teilungserklärung nichts anderes vorsieht.10 Das überzeugt, da Wohnungseigentümer miteinander persönlich nicht näher verbunden sind. Weder haben sie sich wechselseitig ausgesucht, noch ist die Gemeinschaft gegenüber dem Eindringen Dritter (etwa im Wege der Erbfolge) abgesichert. f) Bruchteilsgemeinschaften, Erbengemeinschaften Das Gesetz regelt nicht, ob sich Mitglieder einer Bruchteilsgemeinschaft oder einer Erbengemeinschaft bei der Beschlussfassung vertreten lassen können. Die Ähnlichkeit mit der Wohnungseigentümergemeinschaft spricht aber dafür, Stimmrechtsvollmachten auch in diesen Gemeinschaften zuzulassen. Schließlich beruhen diese Gemeinschaften nicht auf einer persönlichen Auswahlentscheidung der einzelnen Mitglieder. Dies gilt auch für die Erbengemeinschaft, deren Zusammensetzung der Erblasser und eben nicht die Erben bestimmen. Des Weiteren sind beide Gemeinschaften nicht gegenüber Veränderungen im Kreis der Gemeinschafter abgesichert. 4. Zwischenergebnis Dieser Überblick zeigt, dass eine dispositive gesetzliche Regel, nach der Stimmrechtsvollmachten im Grundsatz zulässig sind, sachgerecht wäre. Anders ist dies nur bei Gremien, die sich aus besonders ausgewählten Personen zusammensetzen. Eine weitere Ausnahme betrifft Fälle, in denen das beschlussfassende Gremium durch Vertrag oder Gesetz gegen das Eindringen Dritter abgesichert ist.

III. Zwang, sich vertreten zu lassen 1. Vertretung einer Mehrheit von Personen durch einen Vertreter a) Gesetzliche Regelungen Eine gesetzliche Regel, nach der sich Personen vertreten lassen müssen, ist in einer Rechtsordnung, die auf Privatautonomie setzt, ein Fremdkörper. Gleichwohl ordnet § 69 Abs. 1 AktG an, dass mehrere an einer Aktie Beteiligte ihre Rechte nur durch einen gemeinsamen Vertreter ausüben können. Die Vorschrift ist zwingend.11 Betroffen sind mehrere Berechtigte, denen die Aktie gemeinsam zusteht, also z.B. Bruchteilsge­ meinschaften und Erbengemeinschaften, nicht aber Personengesellschaften, da diese

10 BGH v. 29.1.1993 – V ZB 24/92, NJW 1993, 1329; BGH v. 30.3.2012 – V ZR 178/11, NJW 2012, 2512. 11 Bayer in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 69 AktG Rz. 3; Koch in Hüffer, AktG, 13. Aufl. 2018, § 69 AktG Rz. 1; Cahn in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 69 AktG Rz. 2.

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rechtsfähig und demgemäß selber Aktionär sind.12 Es fehlt daher an der Berechtigung mehrerer. Der Sinn der Norm liegt auf der Hand. Die Aktiengesellschaft soll vor den Schwierigkeiten bewahrt werden, die bei der Existenz mehrerer Berechtigter fast zwangsläufig auftreten können. So kann unklar sein, wie die Beteiligungsquoten liegen. Zudem kann die Teilnahme mehrerer Personen an der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, die für ein Aktienpaket entscheiden wollen, zu Abwicklungsschwierigkeiten bei der Stimmabgabe führen. Für die an der Aktie Berechtigten ist die gesetzliche Regelung nachteilig. Sie müssen – nach ihrem jeweiligen Innenrecht – einen Vertreter bestimmen, andernfalls kann das Stimmrecht nicht ausgeübt werden. Immerhin kann nach herrschender Meinung die Aktiengesellschaft insoweit auf ihren Schutz verzichten, als sie eine gemeinsame Rechtsausübung durch alle Mitberechtigten akzeptieren kann.13 b) Vertragliche Regelungen Anders ist die Rechtslage in der GmbH. Hier bestimmt § 18 Abs. 1 GmbHG, dass bei mehreren Mitberechtigten an einem Geschäftsanteil diese ihre Rechte nur gemeinschaftlich ausüben können. Dies kann auf zweierlei Art geschehen: Entweder handeln die Betroffenen gemeinsam oder sie bestellen einen Vertreter.14 Nicht möglich ist es, dass ein Berechtigter allein aktiv wird. Für Erbengemeinschaften, die einen Geschäftsanteil an einer GmbH halten, hat das z.B. zur Folge, dass die nach § 2038 Abs. 1 S. 2 BGB jedem Miterben zustehende Befugnis, in Notsituationen alleine für die Erbengemeinschaft zu handeln, nicht besteht. Eine Pflicht, sich vertreten zu lassen, besteht von Gesetzes wegen nicht, sie kann aber im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden.15 Genauso ist es auch in der Wohnungseigentümergemeinschaft.16 Im Recht der Personengesellschaften tauchen mit der GmbH und der Aktiengesellschaft durchaus vergleichbare Probleme auf. Dies betrifft allerdings die Erbengemeinschaft in etwas anderer Art als in den Kapitalgesellschaften. Da nach herrschender Meinung eine Erbengemeinschaft nicht Mitglied einer Personengesellschaft sein kann, splittet sich die Beteiligung nach Maßgabe der Erbquoten auf.17 Die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft erfolgt also gewissermaßen von Rechtswegen. Für die 12 Bayer in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 69 AktG Rz. 7 ff. 13 Bayer in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  69 AktG Rz.  26; Bezzenberger in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 69 AktG Rz. 9; Cahn in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 69 AktG Rz. 18. 14 Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  18 GmbHG Rz. 37; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 18 GmbHG Rz. 11; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 18 GmbHG Rz. 51. 15 Ebbing in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  18 GmbHG Rz. 59; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 18 GmbHG Rz. 11; Reichert/Weller in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 18 Rz. 69. 16 Grziwotz in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 25 BGB Rz. 3. 17 Statt aller Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 177 HGB Rz. 6; Carsten Schäfer in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 727 BGB Rz. 33.

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Mitgesellschafter hat das zur Folge, dass sie sich unter Umständen einer Vielzahl neuer Gesellschafter gegenübersehen. Dem versuchen die Gesellschaftsverträge durch die sogenannte Vertreterklausel vorzubeugen. Es wird im Gesellschaftsvertrag angeordnet, dass sich bestimmte Gesellschafter (etwa die Rechtsnachfolger eines bestimmten Kommanditisten) in der Gesellschafterversammlung vertreten lassen müssen. Die Grenzen, die einer solchen Klausel gesetzt sind, sind zum Teil noch umstritten.18 Insbesondere persönlich haftende Gesellschafter müssen auf das Haftungsrisiko, das ein Gesellschafterbeschluss für sie mit sich bringen kann, einen gewissen Einfluss behalten – jedenfalls wenn es natürliche Personen sind. Ansonsten zeigt der Blick auf das Aktien- und GmbH-Recht, dass die Rechtsordnung obligatorischen Vertreterklauseln offen gegenüber steht. Ist eine Erbengemeinschaft Mitglied einer anderen Erbengemeinschaft, können die Erben im Prinzip nur gemeinschaftlich handeln (§ 2038 Abs. 1 S. 1 BGB). Sie haben aber natürlich auch die Möglichkeit, einen gemeinsamen Vertreter zu bestellen.19 Ein Zwang hierzu besteht aber nicht. c) Verallgemeinerungen Eine allgemeine zwingende oder dispositive Regelung, nach der sich bestimmte Personen bei der Beschlussfassung in einem Gremium vertreten lassen müssen, ist nicht sinnvoll. Die Problematik ist zum einen nicht auf das Stimmrecht beschränkt. Auch andere auf die Beteiligung entfallende Rechte werden oftmals vergleichbare Fragestellungen aufwerfen. Beispielhalft sei für die Gesellschaft die Auszahlung von Gewinnen genannt. Die zwingende Regel des Aktienrechts kommt für andere Gremien ersichtlich nicht in Frage. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Aktiengesellschaft für eine Vielzahl von Gesellschaftern geschaffen wurde. Zudem haben die durchweg zwingenden Regeln des Aktienrechts ökonomische Gründe.20 Denkbar wäre eine dis­ positive Norm, die von einer Pflicht zur Vertretung ausgeht, sofern der Vertrag oder das Gesetz, auf dem die Entstehung des beschlussfassenden Gremiums beruht, nichts anderes bestimmen. Diese Regel wäre für Bruchteils- und Erbengemeinschaften, die einen GmbH-Anteil halten oder an einer Wohnungseigentümergesellschaft beteiligt sind, sowie für Erbengemeinschaften in Erbengemeinschaften die richtige Lösung. Für Personengesellschaften würde sie nicht passen. Hier werden die Erben Gesellschafter. Dann ist es auch sachgerecht, dass sie ihre Rechte im Prinzip selbst ausüben können. Ein Zwang zur Vertretung sollte – gemäß der jetzigen Rechtslage – nur bestehen, wenn der Gesellschaftsvertrag dies anordnet.

18 Überblick bei Grunewald in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2019, § 161 HGB Rz. 173 ff.; Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 164 HGB Rz. 25. 19 Bayer in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 2038 BGB Rz. 4, 12. 20 Koch in Hüffer, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  23 AktG Rz.  34; Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 23 Rz. 158.

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2. Vertretungszwang mangels persönlicher Eignung des Vertretenen Insbesondere in Gesellschaften mit wenigen Gesellschaftern kommt es vor, dass ein Gesellschafter von bestimmten Informationen ausgeschlossen werden soll. Meist liegt dies daran, dass er ein Konkurrenzunternehmen betreibt und sensible Informationen über das Geschäft der Gesellschaft ihm nicht bekannt werden sollen. Wenn er dann gleichwohl zumindest mittelbar an den Informationen partizipieren will, bleibt nur die Wahl, sein Informationsrecht durch Dritte ausüben zu lassen.21 Die Mitgesellschafter sind dann auch verpflichtet, dies zu akzeptieren.22 Dieser Dritte gibt aber für den Gesellschafter keine Willenserklärung ab, so dass es sich nicht um einen Fall der Vollmacht handelt. Daher soll hier nur ein kurzer Blick auf diese Problematik geworfen werden: Diese Fragestellung wurde bislang nur für die GmbH und die Personengesellschaften diskutiert, die erzielten Ergebnisse können aber auch auf Wohnungseigentümergemeinschaften, Erbengemeinschaften und Vereine übertragen werden. Auch hier kann es vorkommen, dass ein an der Gemeinschaft Beteiligter bestimmte Informationen nicht erlangen soll. Dann muss er selbst dann, wenn die Vertretung im Grundsatz ausgeschlossen ist, in der geschilderten Situation doch die Möglichkeit haben, eine Person zu bestellen, die statt seiner die Information erhält. Für Gremien, die unter Berücksichtigung der besonderen Eignung der ausgewählten Personen zusammengestellt worden sind,23 bleibt es aber auch im Bereich der Informationsermittlung dabei, dass eine „Vertretung“ nicht möglich ist. Denn diese Personen sind in jeder Situation nicht substituierbar.

IV. Zusammenfassung 1. Entsprechend der Grundregel des § 164 BGB ist bei der Stimmabgabe im Rahmen der Beschlussfassung eines Gremiums im Prinzip die Erteilung einer Stimmrechtsvollmacht zulässig. 2. Eine Ausnahme gilt im Grundsatz für die Personen, die in ein Gremium aufgrund ihrer besonderen Eignung für die Aufgabe von anderen Personen bestimmt oder gewählt worden sind, sowie für Gremien, die durch Vertrag oder Gesetz gegen das Eindringen Dritter abgesichert sind. 3. Eine Pflicht, eine Vollmacht zu erteilen, besteht im Prinzip außerhalb von §  69 AktG nicht. Das Rechtsgeschäft oder das Gesetz, auf denen die Entstehung des beschlussfassenden Gremiums beruht, können aber anordnen, dass eine Vertretung zwingend erforderlich ist.

21 Hillmann in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 51a GmbHG Rz. 19. 22 Siehe oben II 3b, c. 23 II.2.

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Organverantwortlichkeit und rechtmäßiges Alternativverhalten Inhaltsübersicht I. Einführung II. Schadensunabhängige Rechtsfolgen eines Kompetenzübergriffs III. Hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung 1. Präzisierung der Fragestellung 2. Form oder Substanz?

3. Zum Einfluss des § 83 Abs. 2 AktG 4. Verhältnis zwischen § 111 Abs. 4 S. 2 AktG und §§ 119 Abs. 2, 93 Abs. 4 S. 1 AktG 5. Ausgestaltung des Einwands des ­hypothetischen Hauptversammlungs­ beschlusses IV. „Fluch der bösen Tat“?

I. Einführung In seinem zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmten Urteil vom 10. Juli 2018 hat der II. Zivilsenat des BGH den Vorstandsmitgliedern einer AG den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens auch für den Fall zugebilligt, dass sie einen zugunsten des Aufsichtsrats der Gesellschaft begründeten Zustimmungsvorbehalt im Sinne des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG missachten und ein zustimmungspflichtiges Geschäft ohne Hinzuziehung des Aufsichtsrats tätigen.1 Zwar könne die Zustimmung des Aufsichtsrats nicht durch Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden  – in casu des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf – ersetzt werden; § 111 Abs. 4 S. 2 AktG verlange vielmehr eine am Gesellschaftszweck orientierte Willensbildung des Aufsichtsrats durch ausdrücklichen Beschluss des Gesamtaufsichtsrats oder eines erledigenden Ausschusses.2 Auch soll es der Inanspruchnahme des Vorstandsmitglieds auf Schadensersatz regelmäßig nicht entgegenstehen, dass der Alleinaktionär – in casu die Stadt Düsseldorf, vertreten durch ihren Oberbürgermeister  – zuvor zwar nicht durch förmlichen Hauptversammlungsbeschluss, wohl aber außerhalb der Hauptversammlung in das haftungsbegründende Geschäft eingewilligt hat.3 Die Zulassung des Einwands, die Maßnahme sei vom Alleinaktionär gebilligt worden, würde vielmehr zu einer Umgehung des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG führen, sei die Norm doch „die Konsequenz der in § 83 Abs. 2 AktG verankerten Verpflichtung des Vorstands, gesetzmäßige Beschlüsse der Hauptversammlung umzusetzen“.4 Wohl aber könne der Vorstand „gegenüber einer Schadensersatzklage der Aktiengesellschaft, die mit dem Verstoß gegen einen zugunsten des Aufsichtsrats eingerichteten Zustimmungsvorbehalt be1 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 38 ff. 2 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 22. 3 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 23 ff. 4 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 29.

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gründet ist, einwenden, der Aufsichtsrat hätte den von ihm durchgeführten Maßnahmen zugestimmt, wenn er ihn gefragt hätte.“5 Die Grundsatzentscheidung betont, soweit sie den Einwand rechtmäßigen Alternativ­ verhaltens anerkennt, die Maßgeblichkeit allgemeiner schadensersatzrechtlicher Grundsätze6 und fügt sich insoweit nicht nur in die Rechtsprechung des Senats zu Verstößen gegen die Kompetenzordnung der GmbH oder GmbH & Co. KG,7 sondern auch in die Rechtsprechung des Senats zur Anerkennung des Einwands des Vorteils­ ausgleichs ein.8 Dies gilt auch hinsichtlich der – zu Recht – strengen Linie zur Darlegungs- und Beweislast; dass das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied den „sicheren Nachweis“ erbringen muss, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre, und die bloße Möglichkeit und selbst die Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre, nicht genügen,9 entspricht etablierter BGH-Judikatur,10 wiewohl nicht zu verkennen ist, dass dieser Beweis vielfach nicht zuletzt dadurch wird geführt werden können, dass der Aufsichtsrat, ohne dass sich seine Zusammensetzung geändert hat, der Maßnahme nachträglich zugestimmt hat.11 Wie aber verhält sich die Zubilligung des Einwands, der Aufsichtsrat hätte zugestimmt, zur  – nicht ausdrücklich, aber doch inzident zum Ausdruck gebrachten  – Verweigerung des Einwands, der Alleinaktionär hätte auch durch förmlichen Hauptversammlungsbeschluss zugestimmt? Hätte dieser Einwand überhaupt Relevanz, soweit Maßnahmen unter Vorbehalt der Zustimmung des Aufsichtsrats stehen, oder schließt ein Zustimmungsvorbehalt im Sinne des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG die (tatsächliche oder hypothetische) Hinzuziehung der Hauptversammlung aus, solange nicht der Aufsichtsrat über die Zustimmung Beschluss gefasst hat? Diese Fragen sowie die Frage, wie es um den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens im Zusammenhang mit Abwehr- und Beseitigungsansprüchen steht, sollen nachfolgend in der Hoffnung nachgegangen werden, dass der Jubilar, der sich immer wieder in die Diskussion über die Corporate Governance der Aktiengesellschaft einbringt und dessen Interesse dabei vor allem dem Aufsichtsrat gilt,12 Gefallen an den Überlegungen findet. 5 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Leitsatz 4; zur Maßgeblichkeit der realen Verhältnisse der konkreten Gesellschaft s. Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416, 1417. 6 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 44. 7 BGH v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, ZIP 2007, 268 Rz. 12; BGH v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818 Rz. 19; BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 32 f. 8 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 Rz. 31; BGH v. 15.1.2013 = II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 Rz. 26. 9 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 45; dazu Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416, 1417 f. 10 Vgl. BGH v. 3.2.2000 – III ZR 296/98, BGHZ 143, 362, 365; BGH v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, ZIP 2013, 1165 Rz. 36 mwN. 11 Was nach Ansicht des BGH für eine Zustimmung im Sinne des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG jedenfalls grundsätzlich nicht genügt, s. BGH v. 10.7.2018  – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 18 mwN; generell für Erfordernis vorheriger Zustimmung Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 140 f. 12 Hervorgehoben seien E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, §§  23  ff.; E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103 ff.

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II. Schadensunabhängige Rechtsfolgen eines Kompetenzübergriffs Der BGH hat, soweit er dem aus § 93 Abs. 2 AktG in Anspruch genommenen Vorstandsmitglied den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zubilligt, gute Gründe auf seiner Seite. Mit Blick auf die Kompensationsfunktion der Organhaftung ist es jedenfalls nicht veranlasst, Vorstandsmitglieder, die das Vetorecht des Aufsichtsrats ignorieren, auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, wenn der Schaden auch bei Einschaltung des Aufsichtsrats eingetreten wäre. Aber auch die Präventivfunktion der Organhaftung13 gebietet keine abweichende Beurteilung, sofern sichergestellt ist, dass die Missachtung des Zustimmungsvorbehalts nicht folgenlos bleibt.14 Insoweit wiederum verweist der Senat auf die Personalkompetenz des Aufsichtsrats.15 In der Tat bewendet es ungeachtet des Einwands des rechtmäßigen Alternativverhaltens dabei, dass der Vorstand pflichtwidrig handelt, wenn er – §§ 82 Abs. 2, 111 Abs. 4 S. 2 AktG zuwider – die Zuständigkeit des Aufsichtsrats übergeht,16 was nicht nur die Verweigerung der Entlastung, sondern auch die Abberufung durch den Aufsichtsrat nach sich ziehen kann. Überdies kann der Aufsichtsrat eine Missachtung seines Mitentscheidungsrechts je nach Lage des Falles im Wege der Unterlassungs- oder der Feststellungsklage abwehren.17 Letzteres gilt im Übrigen auch für Übergriffe des Vorstands in die Zuständigkeit der Hauptversammlung, etwa bei Vornahme gegenstandsfremder Geschäfte oder bei Vornahme von „Holzmüller“- und „Gelatine“-Maßnahmen; der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens ist auf schadensrechtlicher Ebene angesiedelt und lässt deshalb nicht nur die Pflichtwidrigkeit des Kompetenzverstoßes, sondern auch an die Pflichtverletzung – und nicht an die Entstehung eines Schadens – anknüpfende Rechtsbehelfe wie den Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch des einzelnen Aktionärs unberührt.18

13 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  93 Rz.  2; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, § 93 Rz. 1; Bachmann, Reform der Organhaftung? – Materielles Haftungsrecht und seine Durchsetzung in privaten und öffentlichen Unternehmen, Gutachten E zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 21 ff. 14 Soweit Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 Rz. 74 den Einwand rechtmäßigen Verhaltens unter Hinweis auf die Folgenlosigkeit einer Verletzung von Organisations-, Kompetenz- und wesentlichen Verfahrensregeln nicht zulässt, muss dies unter den Vorbehalt der nachfolgenden Überlegungen gestellt werden. 15 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 44; s. ferner Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 50; Fleischer, DStR 2009, 1204, 1208; Fleischer, DB 2018, 2619, 2623; Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115, 2117. 16 BGH v. 15.1.2013 = II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 Rz. 24; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792 Rz. 24; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 26 Rz. 40. 17 Habersack in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 112; näher Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 384 ff.; Schwab, Das Prozessrecht gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten, 2005, S.  601  ff.; aA Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, § 111 Rz. 49. 18 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, Vor §  311 Rz.  51; näher Habersack, Die Mitgliedschaft  – subjektives und „sonstiges“ Recht, 1996, S. 330 f.

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III. Hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung 1. Präzisierung der Fragestellung Schon einleitend ist darauf hingewiesen worden, dass der BGH den Einwand des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds, die ohne Zustimmung des Aufsichtsrats ergriffene Maßnahme sei vom Alleinaktionär gebilligt worden, unter Hinweis darauf zurückgewiesen hat, dass andernfalls §  93 Abs.  4 S.  1 AktG umgangen werde, der wiederum Konsequenz der in § 83 Abs. 2 AktG verankerten Pflicht des Vorstands zur Umsetzung gesetzmäßiger Hauptversammlungsbeschlüsse sei. Da die Erfüllung dieser Pflicht schwerlich eine Ersatzpflicht auslösen könne, stelle § 93 Abs. 4 S. 1 AktG das Vorstandsmitglied in den Fällen von der Haftung frei, in denen es zur Ausführung eines Hauptversammlungsbeschlusses verpflichtet sei. Da aber der Vorstand an eine formlose Willenskundgabe durch Aktionäre nicht gebunden sei, bestehe auch keine Veranlassung für eine Haftungsfreistellung: „Ließe man den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung bei formloser Zustimmung des Alleinaktionärs zu, gelangte man auf diesem Weg zu demselben Ergebnis wie bei einer unmittelbaren Geltung von § 93 Abs.  4 S.  1 AktG, was zu einer Umgehung der zwingenden Verfahrensvorschriften über die Beschlussfassung der Hauptversammlung führen würde (…).“19 Nicht explizit auseinandergesetzt hat sich der II. Zivilsenat zwar mit der Frage, ob das Vorstandsmitglied einwenden kann, dass die Hauptversammlung der Geschäftsführungsmaßnahme, wäre diese ihr nach § 119 Abs. 2 AktG vorgelegt worden, hätte zustimmen können und angesichts der Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär tatsächlich auch zugestimmt hätte. Die Betonung des gedanklichen Zusammenhangs zwischen § 93 Abs. 4 S. 1 AktG einerseits und § 83 Abs. 2 AktG andererseits lässt indes erkennen, dass der Senat auch den so formulierten Einwand zurückgewiesen hätte. Das Schrifttum jedenfalls, soweit es zwischen der formlosen Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär und einem hypothetischen Hauptversammlungsbeschluss unterscheidet, verwehrt dem Vorstandsmitglied die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten in Form eines hypothetischen Hauptversammlungsbeschlusses gemäß § 93 Abs. 4 S. 1 AktG, und zwar unter Hinweis auf die andernfalls eintretende Verwischung aktienrechtlicher Strukturen und Verantwortlichkeiten.20

19 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 30; so oder ähnlich auch OLG Köln v. 25.10.2012 – I-18 U 37/12, AG 2013, 396; OLG Düsseldorf v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, ZIP 2015, 1586, 1590. 20 Mit dieser Begründung explizit gegen den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 150; grundsätzlich gegen Einwand des Rechtsmissbrauchs auch Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 479; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 269, 278; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 60; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 266.

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2. Form oder Substanz? Tatsächlich erscheint es veranlasst, zumindest gedanklich zwischen der formlosen Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär und einem hypothetischen Hauptversammlungsbeschluss zu unterscheiden. Im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrat entspricht dies auch der Vorgehensweise des II. Zivilsenats, soweit er die Billigung der Maßnahme durch den Aufsichtsratsvorsitzenden als irrelevant, einen hypothetischen Billigungsbeschluss des Aufsichtsrats hingegen als relevant erachtet.21 Dass die Billigung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden nicht enthaftend wirkt, versteht sich von selbst, wenn man nur berücksichtigt, dass die Willensbildung des nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG zur Mitwirkung berufenen Aufsichtsrats durch „ausdrücklichen Beschluss nach § 108 Abs. 1 AktG“ erfolgt.22 Der Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats steht damit systematisch auf einer Stufe mit dem Billigungsbeschluss der Hauptversammlung gemäß § 93 Abs. 4 S. 1 AktG, während die formlose, außerhalb der Hauptversammlung verlautbarte Billigung durch den Alleinaktionär systematisch der Billigung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden entspricht. Dass es dem Aufsichtsratsvorsitzenden naturgemäß unmöglich ist, aus eigener Stimmkraft einen Billigungsbeschluss des Aufsichtsrats herbeizuführen, während der herrschende oder gar alleinige Aktionär es in der Hand hat, einen billigenden Hauptversammlungsbeschluss zu fassen, ist für die Zwecke einer systematischen Ordnung der in Betracht kommenden Einwendungen des Vorstandsmitglieds irrelevant. Die gedankliche Nähe zwischen dem Billigungsbeschluss des Aufsichtsrats und dem Billigungsbeschluss der Hauptversammlung verdeutlicht denn auch, dass die seitens des Schrifttums bei Anerkennung des Einwands eines hypothetischen Hauptversammlungsbeschlusses befürchtete Verwischung aktienrechtlicher Strukturen und Verantwortlichkeiten nicht weiter geht als die vom BGH im Einklang mit der herrschenden Lehre in Kauf genommene Verwischung, wie sie vom Einwand des hypothetischen Aufsichtsratsbeschlusses ausgeht. Der BGH selbst betont im Zusammenhang mit der Irrelevanz der Billigung der Maßnahme durch den Aufsichtsratsvorsitzenden das Gebot ausdrücklicher Beschlussfassung des Aufsichtsrats, um nur wenige Absätze später genau dieses Gebot preiszugeben, soweit er dem Einwand des hypothetischen Aufsichtsratsbeschlusses stattgibt.23 Dabei ist das Gebot ausdrücklicher Beschlussfassung des Aufsichtsrats gewiss keine Bagatelle, soll es doch – gemeinsam mit dem in § 107 Abs. 2 AktG verankerten Erfordernis der Protokollierung – dafür sorgen, dass sich Beschlussfähigkeit und Beschluss­ ergebnis zweifelsfrei feststellen lassen, und somit Rechtsklarheit gewährleisten.24 Trifft es auch zu, dass eine „Umgehung der zwingenden Verfahrensvorschriften über die Beschlussfassung der Hauptversammlung“ zu gewärtigen wäre, würde man der tatsächlichen Billigung durch den Alleinaktionär oder der hypothetischen Billigung

21 S. BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 20 ff., 38 ff. und dazu unter III. 1. 22 So explizit BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 22. 23 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 22, 38 ff. 24 Begr. RegE in Kropff, AktG 1965, S. 151; BGH v. 19.12.1988 – II ZR 74/88, NJW 1989, 1928, 1929; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 Rz. 12 mwN.

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durch die Hauptversammlung Relevanz zusprechen,25 so wird doch eine „Umgehung“ der zwingenden Vorschriften über die Beschlussfassung des Aufsichtsrats gebilligt, soweit dem Vorstandsmitglied der Einwand der hypothetischen Billigung durch den Aufsichtsrat gestattet wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass dem Vorstandsmitglied der Einwand eines hypothetischen Billigungsbeschlusses der Hauptversammlung tatsächlich eröffnet sein sollte. Doch sollte deutlich geworden sein, dass es jedenfalls nicht die „zwingenden Verfahrensvorschriften über die Beschlussfassung der Hauptversammlung“ sein können, die der Statthaftigkeit des Einwands entgegenstehen, wenn man im gleichen Atemzug dem Vorstandsmitglied den Einwand des hypothetischen Billigungsbeschlusses des Aufsichtsrats gewährt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob auf die förmliche Beschlussfassung oder auf den (mutmaßlichen) Beschlussinhalt abzustellen ist. Wie immer man den Konflikt zwischen Form und Substanz auflöst: Eine Differenzierung zwischen dem Aufsichtsrats- und dem Hauptversammlungsbeschluss ließe sich nur bei Hinzutreten von die Ungleichbehandlung rechtfertigenden Sachgründen befürworten. 3. Zum Einfluss des § 83 Abs. 2 AktG Einen Sachgrund, der es erlaubt, dem Vorstandsmitglied zwar den Einwand der hypothetischen Billigung durch den Aufsichtsrat zu gewähren, den Einwand des hypothetischen Billigungsbeschlusses der Hauptversammlung hingegen zu versagen, könnte man – wie dies der BGH im Zusammenhang mit der Zurückweisung des Einwands der tatsächlichen Billigung durch den Alleinaktionär tut – aus dem Zweck des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG herleiten. Erblickt man nämlich in dieser Vorschrift „die Konsequenz der in § 83 Abs. 2 AktG verankerten Verpflichtung des Vorstands, gesetzmäßige Beschlüsse der Hauptversammlung umzusetzen“,26 so liegt es in der Tat nicht fern, die Enthaftung des Vorstandsmitglieds von einer Ausführungspflicht und damit von einem förmlichen Hauptversammlungsbeschluss abhängig zu machen.27 Allerdings umfasst der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG nach zu Recht herrschender Ansicht nicht nur Fälle, in denen die Hauptversammlung originär zuständig ist und deshalb über das Initiativrecht verfügt. Auch nach Ansicht derer, die den gedanklichen Zusammenhang zwischen der Enthaftung nach §  93 Abs.  4 S.  1 AktG und der Ausführungspflicht nach § 83 Abs. 2 AktG betonen und die Enthaftung davon abhängig machen, dass dem Vorstand eine Ausführungspflicht obliegt,28 soll § 93 Abs. 4 S. 1 AktG vielmehr auch auf Vorlagen des Vorstands gemäß § 119 Abs. 2 25 So im Zusammenhang mit der Billigung durch den Alleinaktionär BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 22, 38 ff. 26 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 29. 27 So neben BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 29 f. die in Fn. 20 Genannten, ferner Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 73; Fleischer, DB 2018, 2619, 2622; Wolff/ Jansen, NZG 2013, 1165, 1166 f. 28 S. die Nachw. in Fn. 20, 27; krit. Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 725; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 602.

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AktG und damit auf Beschlüsse der Hauptversammlung in Geschäftsführungsange­ legenheiten zur Anwendung gelangen, wenn und soweit sich der Beschluss nicht in einer Empfehlung oder Ermächtigung erschöpft.29 Hat es aber der Vorstand in der Hand, der Hauptversammlung eine Geschäftsführungsmaßnahme zur Beschlussfassung vorzulegen, so ist er keineswegs nur ausführendes Organ. Er entscheidet dann vielmehr in Ausübung seines Leitungsermessens aus § 76 Abs. 1 AktG und damit autonom, die Hauptversammlung in die Geschäftsführungsmaßnahme einzubeziehen.30 Hingegen ist es aus Sicht des Vorstands nebensächlich, dass er für den Fall eines zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses zu dessen Ausführung verpflichtet ist. Da der Vorstand im Allgemeinen die Maßnahme ohnehin ergreifen möchte, zieht er die Hauptversammlung hinzu, um in den Genuss des Haftungsprivilegs des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG zu kommen. Damit aber zeigt sich, dass in diesen Fällen des § 119 Abs. 2 AktG der Zusammenhang zwischen § 83 Abs. 2 AktG einerseits und § 93 Abs. 4 S. 1 AktG andererseits nur sehr locker ist; die Enthaftung nach § 93 Abs. 4 S. 1 AktG findet insoweit ihre Grundlage in der autonomen Entscheidung des Vorstands, eine von ihm erwogene Geschäftsführungsmaßnahme der Hauptversammlung vorzulegen, und zwar in billigender Inkaufnahme der Ausführungspflicht. Dies wiederum spricht dafür, dem Vorstand ­neben dem Einwand, der von ihm übergangene Aufsichtsrat hätte der Maßnahme zugestimmt, auch den Einwand zu eröffnen, dass die Hauptversammlung, wäre sie von ihm hinzugezogen worden, der Maßnahme zugestimmt und damit nach Maßgabe des § 93 Abs. 4 S. 1 AktG die Enthaftung bewirkt hätte. 4. Verhältnis zwischen § 111 Abs. 4 S. 2 AktG und §§ 119 Abs. 2, 93 Abs. 4 S. 1 AktG Liegt es nach den bislang getroffenen Feststellungen in der Konsequenz des BGH-­ Urteils vom 10. Juli 2018, dem aus §  93 Abs.  2 AktG in Anspruch genommenen ­Vorstandsmitglied den Einwand zu gestatten, die Hauptversammlung hätte der Maßnahme zugestimmt, so bleibt die Frage zu klären, wie sich der hypothetische Hauptversammlungsbeschluss zu einem zugunsten des Aufsichtsrats bestehenden und vom Vorstand missachteten Zustimmungsvorbehalt verhält. Kann das Vorstandsmitglied, so lautet die Frage, den Übergriff in den Kompetenzbereich des Aufsichtsrats dadurch ungeschehen machen, dass er auf die hypothetische Billigung der Maßnahme durch die Hauptversammlung verweist? Die Frage ist vor dem Hintergrund des § 111 Abs. 4 S. 3 AktG zu sehen, der für den Fall, dass der Aufsichtsrat die Zustimmung verweigert, dem Vorstand die Befugnis zuspricht, die Maßnahme der Hauptversammlung vorzulegen, die sodann die Maßnahme billigen kann; § 111 Abs. 4 S. 4 AktG setzt insoweit allerdings einen mit quali29 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 83 Rz. 72; Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 472; so auch BGH v. 15.1.2001 – II ZR 124/99, BGHZ 146, 288, 293; Habersack/Foerster in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 83 Rz. 11; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 725; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 602. 30 Zutr. Betonung dieses Aspekts bei v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 602.

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fizierter Mehrheit von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen ergangenen Beschluss voraus. Ein solcher Beschluss der Hauptversammlung hat zwar unzweifelhaft enthaftende Wirkung gemäß § 93 Abs. 4 S. 1 AktG.31 Weniger klar ist indes, ob der Vorstand auch unabhängig von einer Verweigerung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat nach §  119 Abs.  2 AktG vorgehen und die unter Zustimmungsvorbehalt stehende Maßnahme sogleich der Hauptversammlung zur Billigung vorlegen kann. Von der herrschenden Meinung wird das mit der Maßgabe bejaht, dass der Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung, durch den die Zustimmung des Aufsichtsrats ersetzt werden soll, gleichfalls der qualifizierten Mehrheit des § 111 Abs. 4 S. 4 AktG bedarf.32 Dem ist zu folgen. Zwar war die in § 111 Abs. 4 S. 3 AktG vorgesehene Möglichkeit, dass „gegen die Entscheidung eines mitbestimmten Organs – des Aufsichtsrats – ein nichtmitbestimmtes Organ – die Hauptversammlung – angerufen werden könne und dieses Organ anstelle des mitbestimmten Organs entscheide“, im Gesetzgebungsverfahren nicht unumstritten.33 Rechts- und Wirtschaftsausschuss haben indes zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Mitbestimmungsgesetze darauf beschränken, die Zusammensetzung des Vorstands und des Aufsichtsrats zu ändern, sie aber nicht Aufgaben und Rechtsstellung dieser Organe geändert haben. Schon das Mehrheitserfordernis des § 111 Abs. 4 S. 4 AktG stärke den Aufsichtsrat. Wollte man es dem Vorstand verwehren, nach Verweigerung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat die Hauptversammlung einzuschalten, so würde dadurch das Kräfteverhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat zugunsten des Vorstands verschoben, behielte doch der Aufsichtsrat „in allen wichtigen Geschäftsführungsfragen das letzte Wort.“34 Dem wird man schwerlich widersprechen können, zumal die Schiedsrichterfunktion den Anteilseignern übertragen werden soll, die nun einmal die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahme zu tragen haben. Dann aber ist es nicht nur konsequent, es dem Vorstand zu ermöglichen, sogleich die Hauptversammlung anstelle des Aufsichtsrats entscheiden zu lassen, und insoweit das Mehrheitserfordernis des § 111 Abs. 4 S. 4 AktG analog zur Anwendung zu bringen. In der weiteren Konsequenz dieser Ansicht liegt es dann vielmehr, dem Vorstandsmitglied den Einwand der hypothetischen Zustimmung durch die Hauptversammlung auch dann zuzubilligen, wenn die Maßnahme – wie in dem vom BGH entschiedenen Fall – einem Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats unterlag und der Vorstand diesen Vorbehalt missachtet hat. Das Vorstandsmitglied muss dann allerdings darlegen und beweisen, dass die Hauptversammlung der Maßnahme mit qualifizierter Mehrheit gemäß § 111 Abs. 4 S. 4 AktG zugestimmt hätte.

31 Habersack in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 148. 32 Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 111 Rz. 23; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 Rz. 207 mwN; aA – für Erfordernis vorheriger Vorlage an den Aufsichtsrat – Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 724 f. 33 Ausschussbericht in Kropff, AktG, 1965, S. 155. 34 Ausschussbericht in Kropff, AktG, 1965, S. 156.

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5. Ausgestaltung des Einwands des hypothetischen Hauptversammlungsbeschlusses Aus Sicht des Vorstandsmitglieds hat der Einwand des hypothetischen Hauptversammlungsbeschlusses mindestens zwei Vorteile gegenüber dem Einwand des hypothetischen Aufsichtsratsbeschlusses: Zum einen ließe sich in Fällen, in denen die Gesellschaft einen über Stimmrechtsmehrheit verfügenden Aktionär hat, der „sichere Nachweis“, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre, schon durch den Nachweis führen, dass der Aktionär in der Hauptversammlung auf die Vorlage des Vorstands gemäß § 119 Abs. 2 AktG hin für die Geschäftsführungsmaßnahme gestimmt hätte. Demgegenüber muss im Rahmen des Einwands, der Aufsichtsrat hätte gemäß § 111 Abs. 4 S. 2 AktG zugestimmt, dargelegt und bewiesen werden, dass sich die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder für die Maßnahme ausgesprochen hätte. Zum anderen – eng mit dem ersten Punkt zusammenhängend – geht das Ermessen der Hauptversammlung im Rahmen der Beschlussfassung gemäß § 119 Abs. 2 AktG regelmäßig über das Ermessen des Aufsichtsrats im Rahmen der Beschlussfassung gemäß § 111 Abs. 4 S. 2 AktG hinaus. Lässt man Konstellationen, in denen das in Frage stehende Geschäft mit dem Aktionär oder einem mit diesem verbundenen Unternehmen getätigt werden soll und deshalb je nach Unternehmenseigenschaft des Aktionärs entweder die Grundsätze des §  311 AktG eingreifen oder das Entscheidungsermessen der Hauptversammlung durch allgemeine Grundsätze wie insbesondere Vermögensbindung, Treupflicht und Gleichbehandlung der Aktionäre begrenzt wird,35 außer Betracht, so wird ein Zustimmungsbeschluss im Sinne des § 119 Abs. 2 AktG nur ganz ausnahmsweise nach § 243 AktG anfechtbar sein. Zwar kommt auch dem Aufsichtsrat im Rahmen der Beschlussfassung über zustimmungspflichtige Geschäfte unternehmerisches Ermessen zu,36 weshalb der BGH konsequenter Weise den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht davon abhängig gemacht hat, dass der Aufsichtsrat der Maßnahme hätte zustimmen müssen, vielmehr es hat genügen lassen, dass die hypothetische Zustimmung des Aufsichtsrats von dem durch §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 S. 1 und 2 AktG eröffneten unternehmerischen Ermessen gedeckt gewesen wäre.37 Mag es zudem nicht ausgeschlossen sein, dass der Aufsichtsrat, wie der BGH in dem Urteil vom 10. Juli 2018 zu Recht in Erinnerung ruft,38 auch dann innerhalb seines unternehmerischen Ermessens handelt, wenn das von ihm gebilligte Geschäft für die Gesellschaft wirtschaftlich nachteilig ist, und wird man es dem Auf35 Näher zur Veranlassung durch Hauptversammlungsbeschluss sowie zum Verhältnis zwischen § 311 AktG und den im Text genannten Grundsätzen Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 Rz. 29 ff., 82 ff., 89 ff.; zur Verdrängung der Möglichkeit gestreckten Nachteilsausgleichs gem. §  311 Abs.  2 AktG durch § 243 Abs. 2 AktG s. BGH v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, NZG 2012, 1030 Rz. 11 ff. 36 E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, §  26 Rz. 39; Habersack in MünchKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 144 mwN. 37 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 46 ff.; dazu Fleischer, DB 2018, 2619, 2623 ff.; Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416, 1418. 38 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 54 f. mwN.

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sichtsrat auch zubilligen müssen, im Rahmen seiner Zustimmungsentscheidung auch Gemeinwohlbelange zu berücksichtigen,39 so handelt es sich hierbei allerdings doch um sorgfältiger Begründung und Dokumentation der relevanten Belange bedürftiger Einzelfälle. Die Aktionärsmehrheit verfügt in solchen Fällen gewiss über ein größeres Ermessen, agiert sie doch nicht als Verwalter fremder Interessen, sondern in Wahrnehmung ihrer „Gutsherren“-Rolle.

IV. „Fluch der bösen Tat“? Gewährt man dem aus § 93 Abs. 2 AktG in Anspruch genommenen Vorstandsmitglied den Einwand, der Schaden wäre auch bei nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG gebotener Hinzuziehung des Aufsichtsrats eingetreten, so ist es nur konsequent, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben. Dem Vorstandsmitglied ist dann vielmehr auch der Einwand zu gestatten, die Maßnahme wäre von der Hauptversammlung gebilligt worden, hätte diese nach § 119 Abs. 2 AktG Gelegenheit zur Beschlussfassung erhalten. Dies gilt auch in Fällen, in denen die in Frage stehende Maßnahme  – wie in dem der BGH-Entscheidung vom 10. Juli 2018 zugrunde liegenden Sachverhalt – unter Vorbehalt der Zustimmung durch den Aufsichtsrat stand, der Vorstand indes diesen Vorbehalt missachtet hat. In diesem Fall hat das Vorstandsmitglied allerdings darzulegen und zu beweisen, dass die Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit im Sinne des § 111 Abs. 4 S. 4 AktG zugestimmt hätte. Dem Vorstandsmitglied  – und Entsprechendes gilt dann für das Aufsichtsratsmitglied, sofern man § 119 Abs. 2 AktG analog auf den Aufsichtsrat anwendet40 – stünde dann in Fällen, in denen die Gesellschaft über einen Mehrheitsaktionär verfügt, eine durchaus schlagkräftige Einwendung zur Verfügung, die im Übrigen den Einwand, der Aufsichtsrat hätte die Maßnahme gebilligt, unberührt lässt. Auch die Befürworter einer strengen Organverantwortlichkeit sollten sich damit anfreunden können, wenn sie nur bedenken, dass es sich bei dem Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens um eine Kategorie des Schadensersatzrechts handelt, der die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens nicht in Frage stellt, und das Organhandeln deshalb keineswegs sanktionsfrei bleiben muss.41

39 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 Rz. 54 lässt immerhin eine Sympathie für diese Ansicht erkennen. 40 Zu dieser umstr. Frage s. Habersack, NZG 2016, 321, 326 f. mwN. 41 Auch § 93 Abs. 4 S. 3 AktG steht der hier vertretenen Ansicht nicht entgegen; die Vorschrift setzt vielmehr einen durchsetzbaren Schadensersatzanspruch der Gesellschaft voraus, an dem es bei begründetem Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens (mag dieses seine Grundlage in der hypothetischen Beschlussfassung des Aufsichtsrats oder in der der Hauptversammlung finden) fehlt.

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Zur Erledigung des Versicherungsfalls in der D&O- Versicherung Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Der Versicherungsfall III. Zur Aufklärung des Versicherungsfalls 1. Welche Auskunftspflichten bestehen gegenüber der D&O-Versicherung? 2. Kollidiert das Auskunftsrecht des Versicherers mit dem Geheimhaltungs­ gebot nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG? IV. Zur gerichtlichen Durchsetzung

V. Zur Praxis von Vergleichen in der D&O-Versicherung 1. Welche Vergleichsmodelle bestehen? 2. Kann und darf die Versicherungsnehmerin ohne Beteiligung der versicherten Person einen Deckungsvergleich mit dem Versicherer schließen?



3. Welche Auswirkungen hat der Selbstbehalt auf die Erledigung des Versicherungsfalls durch Vergleich?

VI. Zur Abtretung des Freistellungsanspruchs des Organmitglieds gegen die D&O-Versicherung an die ­Gesellschaft 1. Versicherungsnehmerin als „Dritte“ i.S.d. § 108 Abs. 2 VVG im Innen­ haftungsfall? 2. Welche Folgen ergeben sich aus der Abtretung in der Praxis? VII. Resümee

I. Einleitung Die „Directors and Officers“-Versicherung (D&O-Versicherung) ist seit etwa 20 Jahren Teil deutscher Rechts- und Unternehmenspraxis und als damit relativ junges Rechtsgebiet von Unsicherheiten und offenen Fragen geprägt. Praktisch nicht gelöste und zum Teil kaum wissenschaftlich aufgearbeitete Fragen ziehen sich vom Abschluss der D&O-Versicherung bis hin zur Erledigung des Versicherungsfalls. In der Praxis aktuelle Fragen, insbesondere zu Zuständigkeiten vor dem Versicherungsfall, wurden von den Autoren1 bereits in dem Beitrag „D&O-Versicherung und Aktienrecht – viele Fragen offen“ behandelt.2 Doch auch viele nach der Inanspruchnahme eines Organmitglieds entstehende Pro­ bleme bezüglich der D&O-Versicherung sind theoretisch wie praktisch noch ungelöst. Es stellen sich Fragen wie: Wann ist der Versicherungsfall eingetreten? Wen treffen bestimmte Auskunftsobliegenheiten, wem gegenüber und in welchem Umfang? 1 Die Autoren danken Frau Kathleen Rogge für ihre wissenschaftliche Mitarbeit und tatkräftige Unterstützung. 2 Happ/Möhrle in FS Seibert, 2019, S. 273 ff.

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Und was gilt bei einer vergleichsweisen Erledigung des Versicherungsfalls sowie einer ggf. mit dem Haftungsvergleich einhergehenden Abtretung des Freistellungsanspruchs an die Versicherungsnehmerin? Dass die Rechtsentwicklung der D&O-Versicherung nach 20 Jahren noch nicht ab­ geschlossen ist, lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass streitige Fragen im Regelfall außergerichtlich gelöst werden und angesichts seltener Deckungsprozesse kaum Rechtsprechung herangezogen werden kann. Große Unsicherheiten und rechtliche Unwägbarkeiten in diesem Bereich führen zu einem gewissen Vergleichsdruck auf die Parteien. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt daher auf offenen Fragen zur Praxis von Vergleichen in der D&O-Versicherung und einer damit oftmals einhergehenden Abtretung des Freistellungsanspruchs des Organmitglieds gegen die D&O-Versicherung an die geschädigte Gesellschaft. Die nachfolgenden Ausführungen, bei denen der Fokus auf Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft gerichtet ist, betreffen auch Bereiche, die der Jubilar in vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufbereitet hat, z.B. Themen der Organ- und insbesondere Aufsichtsratspflichten sowie der Reformbedürftigkeit der Organhaftung und einer möglichen Haftungsbeschränkung de lege ferenda.3

II. Der Versicherungsfall Zunächst stellt sich die Frage, ob und wann im Fall einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme eines Organmitglieds überhaupt ein Versicherungsfall gegeben ist. Bereits diesbezüglich bestehen in der Praxis Meinungsverschiedenheiten. Mit Eintritt des Versicherungsfalls entsteht der Versicherungsanspruch in Form von Abwehrdeckung oder Freistellung von dem gegen die versicherte Person geltend gemachten Anspruch. Nun stellen sich aber insbesondere Fragen zu den Anforderungen an die Inanspruchnahme. Der D&O-Versicherung liegt bekanntlich das Claims made-Prinzip zugrunde. Danach löst nicht schon die bloße Pflichtverletzung eines Organmitglieds einen Versicherungsfall aus, sondern erst die spätere Geltendmachung eines Haftpflichtanspruchs gegen die versicherte Person durch Dritte (Außenhaftung) oder die Gesellschaft selbst (Innenhaftung)4 im Falle eines entstandenen Vermögensschadens.5 Unterschiedlich wird nun beurteilt, welche Anforderungen an die Inanspruchnahme zu stellen sind. Unter einer Inanspruchnahme wird allgemein jede tatsächliche Erklä3 E. Vetter, NZG 2014, 921 ff.; E. Vetter, AnwBl 2014, 582 ff.; E. Vetter, GmbHR 2011, 449 ff.; vertiefend zu einer Haftungsbeschränkung durch Vergleich, s. Wilsing in FS Haarmann, 2015, S. 260 ff. 4 Hemeling in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  491, 494; vgl. Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 241. 5 Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 68 ff., 90; Lange, r+s 2006, 177; Hüffer/ Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58b.

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rung verstanden, aus der sich ergibt, dass ein Dritter glaubt, Ansprüche zu haben und diese gegenüber dem Versicherungsnehmer geltend machen will.6 Die meisten Bedingungen stellen auf die erstmalige schriftliche Inanspruchnahme ab und weitere lassen für den Eintritt des Versicherungsfalls daneben noch andere Ereignisse, wie z.B. die Streitverkündung gegenüber der versicherten Person, genügen.7 Weiter ist eine ernsthafte Inanspruchnahme erforderlich.8 Sinn und Zweck dieser ­einschränkenden Bedingung ist es, ein kollusives Zusammenwirken der versicherten Person und der Gesellschaft zu vermeiden. Es handelt sich dabei um Fälle, in denen ein Anspruch auf Versicherungsschutz von Rechts wegen nicht besteht, der haftungsrelevante Sachverhalt gegenüber dem Versicherer jedoch falsch oder unvollständig offengelegt wird. Hintergrund solcher Fälle sind häufig Nebenabreden zwischen der Gesellschaft und dem von ihr in Anspruch genommenen Organmitglied, in denen die Durchsetzung des Schadenersatzanspruchs gegen das Privatvermögen der betroffenen Person nicht gewollt ist.9 Zur D&O-Versicherung speziell gibt es in diesem Zusammenhang nur vereinzelt Rechtsprechung. Das OLG Frankfurt10 hält für die Inanspruchnahme jede Erklärung ausreichend, mit der ernsthaft eine Leistung gefordert wird. Dies gelte dann, wenn sich der Gläubiger entschlossen hat, Schadensersatzansprüche gegen die versicherte Person geltend zu machen und diesen Entschluss in einer Art und Weise zu erkennen gibt, die als ernstliche Erklärung der Inanspruchnahme verstanden werden kann.11 Nach dem OLG Düsseldorf ist eine ernsthafte Inanspruchnahme anzunehmen, wenn die versicherte Person tatsächlich in Anspruch genommen wird.12 Danach sei maßgeblich, dass der Gläubiger bzw. die Gesellschaft den nach außen in Erscheinung tretenden Entschluss gefasst hat, die versicherte Person vorrangig persönlich haftbar zu machen. Zweck der Inanspruchnahme dürfe es also nicht allein sein, den Versicherungsfall auszulösen. Wie der BGH13 zuletzt entschieden hat, spricht gegen die Auffassung des OLG Düsseldorf die vergleichbare Rechtslage der allgemeinen Haftpflichtversicherung. Grundsätzlich steht es dem Gläubiger eines Haftpflichtanspruchs frei, ob und inwieweit er 6 So zu § 100 VVG n.F. Schwienhorst in Looschelders/Pohlmann, 2016, § 100 VVG Rz. 23. 7 S. zu einzelnen in der Praxis vorkommenden unterschiedlichen Definitionen des Versicherungsfalls Lange, r+s 2006, 177, 178; vertiefend dazu s. Happ/Möhrle in FS Seibert, 2019, S. 273 ff. 8 Sieg in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 15 Rz. 39; Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 111. 9 Sieg in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 2. Aufl. 2010, § 15 Rz. 65; vgl. Beckmann in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 28 Rz. 104a; Lange, r+s 2006, 177, 182. 10 OLG Frankfurt v. 13.3.2008 – 16 O 134/07, r+s 2010, 61, 62. 11 Unter Berufung auf BGH v. 9.6.2004 – IV ZR 115/03, VersR 2004, 1043; „jede Erklärung durch die ernsthaft eine Leistung gefordert wird“ so BGH v. 3.11.1966 – II ZR 52/64, VersR 1967, 56, 57; BGH v. 20.1.1966 – II ZR 233/63, VersR 1966, 229 ff. 12 OLG Düsseldorf v. 31.1.2014 – 4 U 176/11, RuS 2014, 122. 13 BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, BGHZ 209, 373-387 Rz. 24 ff.

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den Schädiger in Anspruch nimmt. Gerade hohe Schäden können aus dem privaten Vermögen der betroffenen Person oftmals nicht kompensiert werden. Ist der Schädiger in einem solchen Fall haftpflichtversichert, steht es dem Eintritt eines Versicherungsfalls nicht entgegen, wenn der Gläubiger die versicherte Person allein mit der Perspektive seines Versicherungsschutzes in Anspruch nimmt. Auch wenn sich die D&O-Versicherung von der allgemeinen Haftpflichtversicherung unterscheidet, lassen sich keine erhöhten Anforderungen an die vorausgesetzte Inanspruchnahme ableiten. Vielmehr ergibt es sich schon aus §§ 116, 118 BGB, dass die Inanspruchnahme ernstlich sein muss. Zweifelt der Versicherer eine solche Ernsthaftigkeit an, trifft ihn die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen der genannten Vorschriften erfüllt sind. Ergänzende, ungeschriebene Verschärfungen an eine Klausel über die Ernsthaftigkeit einer Inanspruchnahme bestehen nicht.14 Gelegentlich fordern D&O-Policen allerdings die gerichtliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegenüber der versicherten Person, um die Anforderungen an eine ernsthafte Inanspruchnahme zu erfüllen. 15 In der Praxis sind derartige Gerichtsklauseln jedoch eher die Ausnahme, da der Versicherer eine gerichtliche Klärung auch ohne eine Klausel herbeiführen kann.16 Sie sind daher nicht geeignet, ein kollusives Zusammenwirken von versicherter Person und Versicherungsnehmerin zu verhindern.17

III. Zur Aufklärung des Versicherungsfalls Die Aufklärung des Versicherungsfalls basiert maßgeblich auf verschiedenen Auskunftsobliegenheiten der Parteien untereinander. Der D&O-Versicherer ist zu Beginn einer Inanspruchnahme mangels verfügbarer Unterlagen und eigenen Hintergrundwissens in der schwierigen Situation, den Versicherungsfall bzw. den Umfang der Leistungspflicht nicht selbstständig feststellen zu können, obwohl ihn im Hinblick auf die Verletzung einer etwaigen versicherungsvertraglichen Pflicht die Beweislast trifft.18 Dazu folgendes: 1. Welche Auskunftspflichten bestehen gegenüber der D&O-Versicherung? Gemäß § 31 VVG kann der D&O-Versicherer nach dem Eintritt des Versicherungsfalls jede Auskunft verlangen, die zur Feststellung des Versicherungsfalls oder des 14 BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, BGHZ 209, 373-387 Rz. 24 ff. 15 Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 111. 16 Ihlas, D&O, 2. Aufl. 2009, S. 508; Schimikowski, Anm. zu OLG Düsseldorf v. 31.1.2014 – 4 U 176/11, r+s 2014, 122, 126. 17 Harzenetter, NZG 2016, 728, 730; Graf v. Westphalen, VersR 2006, 17 ff. 18 Armbrüster in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 31 VVG Rz. 59; Näheres zu dem Auskunftsanspruch des Versicherers aus § 31 VVG und entsprechenden Versicherungsvertragsklauseln sowie Zuständigkeit in der Gesellschaft für die Herausgabe von Informationen s. Happ/ Möhrle in FS Seibert, 2019, S. 273 ff.

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Umfangs der Leistungspflicht des Versicherers erforderlich ist.19 Die Auskunftsobliegenheit trifft die Versicherungsnehmerin (§ 30 Abs. 1 VVG) sowie die versicherte Person (§  30 Abs.  2 VVG). Der Begriff der Erforderlichkeit wird weit verstanden und billigt dem Versicherer insoweit zu, dass er diejenigen Auskünfte verlangen kann, die er zur Beurteilung seiner Leistungspflicht für notwendig hält. Der Versicherer hat dahingehend einen Beurteilungsspielraum. Er kann auch Auskünfte verlangen, die zumindest mittelbar für die Begründung oder den Umfang seiner Leistungspflicht von Bedeutung sind.20 Dies gilt selbst dann, wenn die Erfüllung der Auskunftsob­ liegenheit eigenen Interessen der Versicherten widerstreitet, etwa weil sie eine Deckungsablehnung der Versicherung wegen wissentlicher Pflichtverletzung oder vorsätzlicher Schadensherbeiführung,21 zur Folge haben könnten.22 Entsprechendes gilt selbst für Tatsachen, die eine strafrechtliche Verfolgung zur Folge nach sich ziehen könnten. Dies gilt auch dann, wenn zu befürchten ist, die Auskünfte enthaltenden Schriftstücke könnten polizeilich beschlagnahmt und dadurch die Strafverteidigung erschwert oder vereitelt werden.23 Die Obliegenheit umfasst außerdem gem. § 31 Abs. 1 Satz 2 VVG eine Belegpflicht. Dementsprechend darf der Versicherer im Rahmen des Zumutbaren auch verlangen, die Auskünfte durch Dokumente zu belegen. Dazu zählen typischerweise der Anstellungsvertrag der versicherten Person, die Satzung der Versicherungsnehmerin, Zivilund Strafverfahrensakten sowie in Innenhaftungsfällen Gutachten der Gesellschaft über die Sach- und Rechtslage zum Zwecke der Anspruchserhebung. Der Versicherer kann auch verlangen, dass ihm Akten eines anwaltlichen oder steuerlichen Beraters vorgelegt werden, selbst wenn sich diese in den Händen Dritter befinden.24 2. Kollidiert das Auskunftsrecht des Versicherers mit dem Geheimhaltungsgebot nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG? In der Praxis ergibt sich häufig das Problem, dass der D&O-Versicherer Auskünfte verlangt, welche die Gesellschaft nicht erteilen will oder darf. Dies kann der Fall bei Auskünften sein, die in keinem Bezug zum angezeigten Versicherungsfall stehen und/ oder sensible Informationen über Geschäftsstrategien oder die Vertriebsstruktur ­enthalten. Die Versicherten wollen sich auch oftmals nicht selbst gegenüber dem Versicherer belasten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie den Organmitgliedern obliegende Geheimhaltungspflichten (etwa § 93 Abs. 1 Satz 3 für Vorstandsmitglieder) gewahrt werden können, ohne gegen die bestehende Auskunftsobliegenheit 19 Finkel/Seitz in Seitz/Finkel/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, Ziff. 7 AVB-AVG Rz. 124 ff. 20 Armbrüster in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 31 VVG Rz. 7 m.w.N. 21 Vgl. Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 35 ff. 22 BGH v. 16.11.2005 – IV ZR 307/04, VersR 2006, 258, 259; BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 152/14, VersR 2016, 793 ff.; Lange in Veith/Gräfe/Gebert, § 21 Rz. 268; Armbrüster in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 31 VVG Rz. 33. 23 BGH v. 16.2.1967  – II ZR 73/65, NJW 1967, 1226, 1227; Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 269. 24 Mit weiteren Beispielen Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 263 ff.

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gegenüber dem Versicherer zu verstoßen.25 Die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht, die Geheimnisse der Gesellschaft erfasst, begründet nicht nur nach § 93 Abs. 2 AktG einen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gegenüber dem pflichtwidrig handelnden Organmitglied, sondern ist auch gemäß § 404 Abs. 1 AktG strafbar. Diese Problematik ist bislang nicht eindeutig geklärt. Richtigerweise darf die Auskunftspflicht der Gesellschaft die Organmitglieder nicht derart belasten, dass ihre gesetzlichen Geheimhaltungspflichten unterlaufen werden. Denkbar ist es, Belege über Auskünfte, die unter die Geheimhaltungspflicht fallen, als eine versicherungsvertraglich unzumutbare Beschaffung einzustufen. Eine vollständige Verweigerung der He­ rausgabe von Belegen dürfte in der Praxis jedoch nicht zielführend sein, da sich die Versicherungsnehmerin der Gefahr aussetzt, dass sich der Versicherer auf seine Leistungsfreiheit wegen Obliegenheitsverletzung beruft. Der Versicherungsschutz der versicherten Personen würde damit gefährdet. Ein Interessenausgleich kann durch die Ausrichtung des Begriffs der Zumutbarkeit der Belegvorlage am Maßstab des § 810 BGB erreicht werden. Dementsprechend ist das Interesse des Verpflichteten bei der Forderung einer Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen durch den Versicherer unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Dabei kann es geboten sein, sensible Informationen von einer Auskunft auszunehmen.26 Die Gesellschaft muss nach diesem Lösungsansatz zwar auch sen­ sible Unterlagen vorlegen, es steht ihr aber offen, geheimhaltungspflichtige Teile, insbesondere wenn diese in keinem Zusammenhang mit dem Versicherungsfall stehen, zu schwärzen oder unkenntlich zu machen. Der Versicherer ist dann wiederum berechtigt, Auskunft darüber zu verlangen, warum bestimmte Inhalte der Geheim­ haltung unterliegen und ob diese tatsächlich in keinem Zusammenhang zum Versicherungsfall stehen.27 Angesichts des von der Rechtsprechung vorrangig beurteilten Auskunftsinteresses des Versicherers zur Abwicklung des Versicherungsfalls und auf Grund dessen Verschwiegenheitspflicht,28 ist die Versicherungsnehmerin trotz derartiger Interessenkonflikte gut beraten, möglichst umfassende Auskünfte gegenüber dem Versicherer zu geben, um so den Versicherungsschutz zu erhalten.29

IV. Zur gerichtlichen Durchsetzung Im Zusammenhang mit einem Haftpflichtfall, der durch eine D&O-Versicherung gedeckt ist, erfolgt die gerichtliche Durchsetzung von Ansprüchen stufenweise: 25 Vgl. Ruchatz, AG 2015, 1, 6 f. 26 Marburger in Staudinger, 2015, Vor §§ 809-811 BGB Rz. 5. 27 Herdter, Auskunfts- versus Geheimhaltungspflichten in der D&O-Versicherung, Wilhelm Rechtsanwälte, abrufbar unter https://www.wilhelm-rae.de/sites/default/files/pdf/versiche​ rungspraxis_auskunfts-_versus_geheimhaltungspflichten_in_der_do-versicherung_au​ gust_2013.pdf. 28 So etwa BGH v. 12.3.1976 – IV ZR 79/73, VersR 1976, 383 ff. 29 Happ in Happ/Groß/Möhrle/Vetter, AktR, 5.  Aufl. 2019, Muster 8.13 Rz.  2.4; vertiefend Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 256 ff.

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Haftungsansprüche gegen das Organmitglied sind in einer Haftungsklage geltend zu machen. Deckungsansprüche, die grundsätzlich allein den Organmitgliedern als versicherten Personen zustehen,30 sind in einer zweiten Stufe durch eine gesonderte Klage gegen den D&O-Versicherer durchzusetzen.31 Dies bedeutet, dass der Deckungsprozess in Form einer Leistungsklage gegen den Versicherer erst dann erfolgreich geführt werden kann, wenn der Haftpflichtprozess durch rechtskräftige Entscheidung beendet worden ist. Zum Ausdruck kommt hier das der Haftpflichtversicherung allgemein zugrunde liegende Trennungsprinzip, wonach strikt zwischen Haftungs- und Deckungsverhältnis zu unterscheiden ist, und das auch in der D&O-Versicherung gilt.32

V. Zur Praxis von Vergleichen in der D&O-Versicherung In der Praxis kommt es auf beiden Stufen selten zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung oder sogar zu einem Urteil.33 Das ist oft auf die Komplexität des Sachverhaltes sowie rechtliche Unwägbarkeiten mangels hinreichender Rechtsprechung zurückzuführen. Eine gerichtliche Klärung könnte die Gesellschaft über Jahre belasten. Zudem könnte die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt zu einem Reputationsverlust der Gesellschaft sowie des betroffenen Organmitglieds führen. Im Haftungsfall ist außerdem regelmäßig unsicher, inwiefern das Organmitglied überhaupt kompensations- und leistungsfähig sein wird, insbesondere wenn die Einstandspflicht der D&O-Versicherung unklar ist.34 Aus den genannten Gründen haben die Parteien, wie schon erwähnt, oft ein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung. Zudem üben die rechtlichen Unsicherheiten auch im Hinblick auf die Auslegung der unterschiedlichen D&O-Bedingungen und den immer drohenden Obliegenheitsverletzungen, einen gewissen Vergleichsdruck auf die Parteien aus. Eine einvernehmliche Lösung in Form eines Vergleichs ist grundsätzlich möglich. Dabei ist jedoch zwischen verschiedenen Konstellationen und damit einhergehenden zu beachtenden Vorschriften zu differenzieren (s. dazu 1.-3.). 1. Welche Vergleichsmodelle bestehen? Zunächst kann in Innenhaftungsfällen zwischen der Gesellschaft und dem Organmitglied ein Haftungsvergleich unter Einbeziehung des Versicherers geschlossen werden. Auch ein separater Deckungsvergleich zwischen der Gesellschaft und der D&O-Ver-

30 Vgl. Lange in Veith/Gräfe/Gebert, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 3 ff. 31 Lücke in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 100 VVG Rz. 46; Ihlas in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz. 415; Harzenetter, NZG 2016, 728 f. 32 Gädtke in Servatius, Corporate Litigation, 2016, Rz.  947; Ihlas in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz. 415; Looschelders/Derkum, ZIP 2017, 1249, 1250. 33 Sieg in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 18 Rz. 18.54. 34 Vgl. Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248.

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sicherung ist möglich.35 Problematisch erscheint indes, ob die Versicherungsnehmerin ohne Beteiligung der versicherten Person über die Rechte aus dem Versicherungsverhältnis verfügen kann, da hierzu auch ein Vergleich über Forderungen aus dem Versicherungsverhältnis zählt (s. 2.).36 Regelmäßig ist der Vergleich über den Haftungsanspruch mit dem betroffenen Organmitglied in einen umfassenden Vergleich über den Deckungsanspruch mit der D&O-Versicherung eingebettet37 oder zumindest verbunden. Zu nennen sind beispielhaft die Vergleichsvereinbarungen der Deutschen Bank AG mit ihrem ehemaligen Vorstandsmitglied und der D&O-Versicherung38 und der MAN SE mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern,39 die öffentliche Bekanntheit erlangt haben.40 In diesem Zusammenhang ist auch der Vergleich der Siemens AG mit der D&O-Versicherung sowie darauf aufbauenden Vergleichsvereinbarungen mit ehemaligen Organmitgliedern zu nennen,41 bei dem der Deckungsvergleich sogar teilweise ohne Zustimmung betroffener Organmitglieder vereinbart wurde. Eine Kombination beider Vergleiche, also des Haftungs- und des Deckungsvergleichs, hat den Vorteil einer umfassenden Erledigungswirkung. In der Praxis ergeben sich aber angesichts beider parallel laufender Vergleichsverhandlungen verschiedene Probleme. Insbesondere die Einigung mit dem Organmitglied könnte in Anbetracht der Selbstbeteiligung des betroffenen Organs schwierig zu erzielen sein (s. 3.).

35 Sieg in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 18 Rz. 18.55; s. dazu im Einzelnen Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 249 ff. 36 Vgl. auch Hübsch in Schwintowski/Brömmelmeyer, 3. Aufl. 2017, § 45 VVG Rz. 3. 37 Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 253. 38 Deutsche Bank, Hauptversammlung 2016 Tagesordnung, abrufbar unter https://hauptversammlung.db.com/de/docs/HV2016_Tagesordnung_de_2016-03-31.pdf. 39 Zur Zustimmung der Hauptversammlung zum Vergleich mit D&O-Versicherern sowie zu Individualvergleichen mit ehemaligen Vorstandsmitglieder, s. MAN SE, Einladung zur Hauptversammlung 2014, abrufbar unter https://www.corporate.man.eu/man/media/de/ content_medien/doc/global_corporate_website_1/investor_relations_1/hv/2014_8/man_ hv_2014_einberufung_einschl__tagesordnung.pdf. 40 Siehe auch Vergleich der Constantin Medien AG, Einladung zur außerordentlichen Hauptversammlung am 15./16.12.2009, abrufbar unter http://www.constantin-medien.de/dasat/ images/3/100973-to-neu-constantinmedien1109-web.pdf. 41 Siemens, Einladung zur Hauptversammlung am 26.1.2010, abrufbar unter https://www.sie​ mens.com/investor/pool/de/investor_relations/events/hauptversammlung/2010/einla​ dung_hv2010_d.pdf zu Vergleichsvereinbarungen mit verschiedenen ehemaligen Organmitgliedern, teilweise ohne Zustimmung der betroffenen Organmitglieder, so etwa bei dem ehemaligen Aufsichtsratsmitglied Prof. Dr. Heinrich v. Pierer; siehe auch Siemens, Einberufung der ordentlichen Hauptversammlung 2015, abrufbar unter https://www.siemens. com/investor/pool/de/investor_relations/events/hauptversammlung/2015/hv2015_einbe​ rufung_de.pdf, zu der Vergleichsvereinbarung mit dem ehemaligen Vorstandsmitglied Heinz-Joachim Neubürger; zu dem vorangegangenen Prozess, s. LG München I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, S. 345.

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2. Kann und darf die Versicherungsnehmerin ohne Beteiligung der versicherten Person einen Deckungsvergleich mit dem Versicherer schließen? Weil es sich bei der D&O-Versicherung um eine Versicherung für fremde Rechnung handelt, sind die §§ 43 ff. VVG anwendbar. Diese Vorschriften sehen besondere Regelungen im Hinblick auf die Inhaberschaft der Rechte aus dem Versicherungsvertrag und der Verfügungsbefugnis vor. Die Rechte aus dem Versicherungsvertrag stehen dem Versicherten zu (§ 44 Abs. 1 VVG). Gemäß § 45 Abs. 1 VVG kann die Versicherungsnehmerin indes über die Rechte des Versicherten aus dem Versicherungsvertrag im eigenen Namen verfügen. § 44 Abs. 2 VVG sieht vor, dass der Versicherte ohne Zustimmung der Versicherungsnehmerin, nur dann über seine Rechte verfügen und diese Rechte gerichtlich geltend machen kann, wenn er im Besitz des Versicherungsscheins ist. Der Versicherungsnehmerin ist also das formelle Verfügungsrecht über die sachlich dem Versicherten zustehende Forderung eingeräumt. Das Verhalten der Versicherungsnehmerin entscheidet daher über die Leistungsfreiheit des Versicherers, auch gegenüber dem Versicherten.42 Folglich kann sich die Versicherungsnehmerin aus versicherungsrechtlicher Sicht grundsätzlich ohne Beteiligung des betroffenen Organmitglieds mit dem Versicherer vergleichen, wenn sie, was regelmäßig der Fall ist, im Besitz des Versicherungsscheins ist.43 Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche Folgen ein entsprechender Vergleich für den oftmals durch die Vergleichszahlung oder die Versicherungssumme nicht gedeckten und damit verbleibenden Teil des vermeintlichen Anspruchs gegenüber dem betroffenen Organmitglied hat. Diese Problematik ist bislang soweit ersichtlich weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur diskutiert worden. a) Hier ist zwischen dem Teil des geltend gemachten Anspruchs, der die Gesamtversicherungssumme übersteigt, und dem Teil, der über die Vergleichssumme hinaus von der Versicherungssumme gedeckt wäre, zu differenzieren. Bezüglich des ersteren, ist kein Grund ersichtlich, warum die Versicherungsnehmerin in der Geltendmachung dieses Teils des Anspruchs gegenüber dem Organmitglied beschränkt sein sollte. Anders könnte dies jedoch im Hinblick auf den Teil der Versicherungssumme aussehen, auf den die Gesellschaft durch Abschluss des Vergleichs gegenüber den Versicherern verzichtet. Aufgrund von Treuepflichten könnte sie mit der Geltendmachung dieses Teils des Anspruchs gegenüber dem betroffenen Organmitglied ausgeschlossen sein: b) Das Verhältnis zwischen Versicherungsnehmerin und Versichertem wird bei der Versicherung für fremde Rechnung als eine Art gesetzliches Treuhandverhältnis ­bezeichnet.44 Dieses Treuhandverhältnis bringt Treuepflichten der Versicherungs42 Klimke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 45 VVG Rz. 18 f. m.w.N. 43 OLG Hamm v. 28.9.2001 – 20 U 48/01, NVersZ 2002, 181; Klimke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 45 VVG Rz. 20. 44 Ständige Rspr., s. nur BGH v. 4.4.1973 – IV ZR 130/71, VersR 1973, 634; BGH v. 12.12.1990 – IV ZR 213/89, VersR 1991, 299; BGH v. 20.7.2011 – IV ZR 238/10, VersR 2011, 1435; BGH v. 16.9.2016 – V ZR 29/16, r+s 2016, 618.

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nehmerin mit sich.45 So ist beispielsweise beim Verzicht auf die Rechte des Ver­ sicherten durch die Versicherungsnehmerin ein Schadensersatzanspruch des Versicherten denkbar.46 Zwar muss die Versicherungsnehmerin nicht ohne Rücksicht auf eigene Interessen, also nicht ohne jede Einschränkung, den Versicherungsschutz des Organmitglieds sicherstellen. Sie hat insbesondere nicht die Pflicht, die Fremdversicherung aufrechtzuerhalten.47 Aus dem gesetzlichen Treuhandverhältnis ergibt sich jedoch die Pflicht, die Geltendmachung eines Versicherungsanspruchs nicht zu vereiteln. Durch einen Verzicht auf die Rechte des Versicherten durch die Versicherungsnehmerin, wird diese Pflicht verletzt.48 Infolgedessen erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Versicherungsnehmerin den entsprechenden Teil des Anspruchs nicht gegenüber der versicherten Person geltend machen kann,49 da diese andernfalls ihren entsprechenden Schadensersatzanspruch dagegen aufrechnen könnte. c) Ein Ausschluss im Hinblick auf den Teil des vermeintlichen Anspruchs, der den Rest der Versicherungssumme bildet, könnte sich auch aus dem Anstellungsvertrag zwischen der Versicherungsnehmerin und dem Versicherten ergeben. Dies ist zunächst denkbar, wenn die Versicherungsnehmerin dem Versicherten gegenüber vertraglich zum Abschluss des Versicherungsvertrages verpflichtet war.50 Im Ergebnis wird man bejahen müssen, dass bei Abschluss einer D&O-Versicherung die Versicherungsnehmerin nicht ohne Abstimmung mit dem Versicherten auf die ihm hierdurch eingeräumten Rechte verzichten darf. Das Vertrauen in die Versicherungsverschaffung könnte andernfalls ins Leere gehen, eine Versicherungsverschaffungspflicht würde damit faktisch umgangen. 3. Welche Auswirkungen hat der Selbstbehalt auf die Erledigung des Versicherungsfalls durch Vergleich? Durch Art. 1 Nr. 2 VorstAG ist in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG das Erfordernis eines Selbstbehalts für D&O-Versicherungen normiert worden. Dieser Selbstbehalt ist nur für Vorstandsmitglieder zwingend und dient nach der Gesetzesbegründung dem Präven45 Klimke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 46 VVG Rz. 5. 46 Klimke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 45 VVG Rz. 20. 47 BGH v. 7.5.1975 – IV ZR 209/73, NJW 1975, 1273; vgl. BGH v. 8.5.2013 – IV ZR 233/11, VersR 2013, 853; Klimke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 46 VVG Rz. 9. 48 BGH v. 23.4.1963 – VI ZR 142/62, NJW 1963, 1201; BAG v. 30.1.1958 – 2 AZR 293/56, NJW 1958, 764. 49 So etwa im Haftungsvergleich zwischen der Siemens AG und ihrem ehemaligen Aufsichtsratsmitglied Herrn Prof. Dr. Heinrich v. Pierer, s. Einladung zur Hauptversammlung am 26.1.2010, abrufbar unter https://www.siemens.com/investor/pool/de/investor_relations/ events/hauptversammlung/2010/einladung_hv2010_d.pdf zu Vergleichsvereinbarungen mit verschiedenen ehemaligen Organmitgliedern; Siehe auch Siemens, Einberufung der ordentlichen Hauptversammlung 2015, abrufbar unter https://www.siemens.com/investor/ pool/de/investor_relations/events/hauptversammlung/2015/hv2015_einberufung_de.pdf. 50 Näheres zu einer derartigen Versicherungsverschaffungsklausel Happ/Möhrle in FS Seibert 2019, S. 273 ff.

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tionszweck der Vorstandshaftung: 51 Er soll ein pflichtgemäßes Verhalten der Vorstandsmitglieder bewirken und so Pflichtverletzungen entgegenwirken.52 Vorsätzlich pflichtwidriges Verhalten ist von der D&O-Versicherung ohnehin nicht gedeckt, sodass sich der Selbstbehalt nur auf fahrlässiges Verhalten auswirken kann. Die absolute Höhe des Selbstbehalts ist gesetzlich nicht festgelegt, bestimmt sind indes durch zwei Grenzwerte: Die Mindestselbstbeteiligung in Höhe von 10 % des Schadens bezieht sich auf jeden einzelnen Schadensfall. Obergrenze für alle Schadensfälle in einem Jahr ist dagegen das Eineinhalbfache der jährlichen Festvergütung des betroffenen Vorstandsmitglieds.53 a) Zweifelhaft ist, inwieweit Haftungsvergleiche in Innenhaftungsfällen nach der Einführung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG zulässig sind, da sie im Einzelfall zu einer Umgehung des darin enthaltenen Präventionszweckes führen könnten.54 Dies wäre denkbar, wenn die Vergleichssumme zunächst zulasten des Selbstbehalts ginge, das Vorstandsmitglied also bei einer Vergleichssumme, die den Betrag der Mindestselbstbeteiligung übersteigt, vom Selbstbehalt freigestellt wäre.55 aa) Einige Stimmen in der Literatur vertreten, der für den D&O-Versicherungsvertrag zwingende Selbstbehalt stehe der Zulässigkeit eines Haftungsvergleichs zwar nicht entgegen, es sei jedoch nicht möglich einen Vergleich zu schließen, wenn dieser das betroffene Vorstandsmitglied von der Erbringung einer Selbstbeteiligung ganz oder teilweise befreit.56 Eine Vergleichsvereinbarung sei daher nur bei einer Selbstbeteiligung entsprechend der gesetzlichen Regelung wirksam.57 Zulässig sei allein ein vergleichsweiser Erlass der Selbstbeteiligung, wenn diese betragsmäßig über den in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG vorgeschriebenen Mindestselbstbehalt hinausgehe.58 Die Erledigung eines Haftpflichtfalls durch Vergleich ist nach diesem Ansatz jedoch erheblich erschwert, denn muss das Vorstandsmitglied auch im Vergleichsfall den vollen Selbstbeteiligungsbe51 Vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/13422, S. 11. 52 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 58; Mertens/Cahn in KK-AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 248, auch wenn diese Wirkung in der Literatur angezweifelt wird, vgl. Möhrle, Gesellschaftsrechtliche Probleme der D&O-Versicherung, Jur. Diss. 2007, S. 137 f.; Hölters in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 406. 53 Vgl. Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 251. 54 Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 251; Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 316; Hölters in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 409; Lange, VersR 2009, S. 1011, 1021; Franz, DB 2009, 2764, 2768; vgl. die Übergangsvorschrift in § 23 Abs. 1 EGAktG. 55 Hölters in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 409. 56 Zu der Frage, ob § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG ein einseitiges Verbotsgesetz enthalte, dafür: Koch, AG 2009, 637, 639; dagegen: Dauner-Lieb/Tettinger, ZIP 2009, 1555, 1557; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1354; Kerst, WM 2010, 594, 600 f.; Lange, VersR 2009, 1011, 1021. 57 Vgl. Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 316; Hölters in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 409, der im Falle des Vergleichs als Schaden i.S.d. § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG den Vergleichsbetrag heranzieht; Lange, VersR 2009, 1011, 1021; Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rz. 251; vgl. auch Franz, DB 2009, 2764, 2768. 58 Lange, VersR 2009, 1011 ff. Fn. 82.

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trag erbringen, wird sein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung gering sein.59 bb) Andererseits wird im Schrifttum nach dem Inhalt der konkreten Vergleichsvereinbarung differenziert. So sei der Selbstbehalt für Vorstandsmitglieder nur dann zwingender Natur, wenn dem Vergleich eine „Anerkennungsfunktion“ zukomme. Sei eine Pflichtverletzung des Vorstandmitglieds dagegen ungewiss und der Vergleich werde lediglich aus Kostengründen vorgenommen, komme der Selbstbehalt nicht zur Anwendung, da der Präventionszweck des §  93 Abs. 2 Satz 3 AktG in diesem Fall nicht tangiert sei.60 b) Bei der Frage, ob der Selbstbehalt in der konkreten Vergleichsvereinbarung Anwendung findet, ist auf den Zweck der präventiven Verhaltenssteuerung aus § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG und damit einhergehend der Intention des Gesetzgebers abzustellen.61 Es ist nicht interessengerecht, den Selbstbehalt generell auf Vergleiche anzuwenden, sodass nicht stets von einem zwingenden Eigenbeitrag auszugehen ist.62 Nach der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH ist der Aufsichtsrat grundsätzlich verpflichtet, Schadenersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder geltend zu machen. Ein Verzicht auf die Geltendmachung entsprechender Ansprüche ist nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.63 Ob sich diese Grundsätze auf den Pflichtenmaßstab des Aufsichtsrats in Vergleichsvereinbarungen übertragen lassen, ist umstritten.64 Jedenfalls hat sich der Aufsichtsrat im Zusammenhang mit einer Vergleichsvereinbarung am Wohl der Gesellschaft zu orientieren. Dies steht mit einer Vergleichsvereinbarung zwar naturgemäß in einem Spannungsverhältnis, denn jeder Vergleich ist von gegenseitigem Nachgeben geprägt. Dennoch spricht nichts dagegen, auch ein Absehen vom Eigenbeitrag des Vorstandsmitglieds in Ausnahmefällen unter den gegebenen Anforderungen,65 auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, vergleichsweise zu vereinbaren. Insbesondere in dem Fall, dass eine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds unklar ist oder sich der Schaden der Gesellschaft nicht klar beziffern lässt, liefe der Präventionszweck des Selbstbehalts ins Leere. Der Vorstand hat 59 Lange in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 316. 60 Lattwein/Dettler, VW 2010, 1352  ff.; Franz, DB 2011, 2019, 2022  f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 245; zur alten Rechtslage vgl. Dreher, AG 2008, 429, 433. 61 BT-Drucks. 16/13433, S. 11. 62 So im Ergebnis auch Lattwein/Dettler, VW 2010, 1352 ff. 63 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 ff.; bestätigt durch BGH v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, DB 2018, 2685 ff. 64 Dazu vertiefend Wilsing in FS Haarmann, 2015, S. 260, 269 ff.; für die Übertragung der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung vgl. Hasselbach, DB 2010, 2037, 2040; Werner, CCZ 2011, 201, 202 f.; dagegen Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 76; Spindler in Münch­ Komm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 281; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 251; Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1308; Habersack in FS Baums, 2017, S. 532, 539 f.; sowie Wilsing in FS Haarmann, 2015, S. 260, 281 ff., der auf die Geltung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabes gemäß § 116 Satz 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abstellt. 65 Vertiefend dazu Wilsing in FS Haarmann, 2015, S. 260, 269 ff.

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anders als bei der Deckung durch die D&O-Versicherung gerade keinen Anspruch auf einen Vergleich und kann sich auf diesen, auch wenn die vergleichsweise Erledigung oftmals vorkommt, nicht verlassen. Folglich wird die durch die Selbstbeteiligung intendierte Verhaltenssteuerung durch ein nachträgliches Absehen vom Selbstbehalt im Vergleich überhaupt nicht tangiert. Praktisch wird ein Vergleich in den seltensten Fällen aus „Anerkennungsgründen“ vereinbart, sodass keineswegs von einem regelmäßig klar bezifferten, verpflichtenden Selbstbehalt von Vorstandsmitgliedern auszugehen ist.66 c) Für das vorstehende Ergebnis spricht auch, dass § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG für sich genommen nur den Fall regelt, in dem die D&O-Versicherung außerhalb einer Vergleichsvereinbarung und damit ohne Einbindung der Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG leistet. Doch gerade die Entscheidungshoheit der Hauptversammlung ist in jedem Vergleichsfall unabhängig von der Entscheidung des Aufsichtsrats zu beachten. Der durch den Aufsichtsrat vereinbarte Vergleich ist gemäß § 124 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 AktG zumindest seinem wesentlichen Inhalt nach bekanntzumachen und diesbezüglich ist ein Beschlussvorschlag der Hauptversammlung vorzulegen. In der Praxis wird die Hauptversammlung indes umfassend auch hinsichtlich des Sachverhalts und damit einhergehend der Motivation für den Beschlussvorschlag, sowie über die vermeintlichen Ansprüche, die Grundlage der Vergleichsvereinbarung sind, informiert.67 Der Vergleichsvorschlag darf nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen und der Aufsichtsrat hat den Vorschlag nach der Business Judgment Rule auf Grundlage angemessener Informationen der Hauptversammlung zu unterbreiten.68 Die Hauptversammlung ist dabei in ihrer Entscheidung über die

66 Auch ein Verzicht des ehemaligen Organmitglieds auf Ansprüche aus dem Dienstverhältnis ist denkbar, so etwa im Haftungsvergleich der NORDWEST Handel AG mit ihren ­ehemaligen Vorstandsmitgliedern, abrufbar unter http://www.investor-relations.nordwest. com/download/companies/nordwest/Hauptversammlung/1_Einladung_AO_HV_2018_ Web_NEU_​181​001.pdf. 67 Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 252; Werner, CCZ 2011, 201, 202 f.; Wilsing in FS Haarmann 2015, S. 260, 268; vgl. etwa Anlage zum gemeinsamen Bericht über die Zustimmung zum Abschluss einer Vergleichsvereinbarung der Francotyp-Postalia Holding AG mit einem ehemaligen Mitglied des Vorstands sowie einer D&O-Versicherung, abrufbar unter https:// cdn0.scrvt.com/0b415e9fe7995370c62ceab2d1317f1c/ecb57feba1699557/39ae223d​ 4d71/2016-anlage-zum-gemeinsamen-bericht-ar-u-vorstand-vergleichsvereinbarung_slu​ ma068B0DAD​3824B3D6CBA237B7.pdf; sowie Bericht des Aufsichtsrats und des Vorstands zu den Punkten 5 und 6 der Tagesordnung über den Vergleich der MAN AG mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern, abrufbar unter https://www.corporate.man.eu/man/ media/de/content_medien/doc/global_​ c orporate_website_1/investor_relations_1/ hv/2014_8/man_hv_2014_einberufung_einschl​__tagesordnung.pdf. 68 Umstritten, so etwa zu Recht angesichts der Einbindung der Hauptversammlung nicht auf die strengen ARAG/Garmenbeck-Grundsätze abstellend, Habersack in FS Baums, 2017, S. 531, 540 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 281; Mertens/ Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 163; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 76; vertiefend dazu s. Wilsing in FS Haarmann 2015, 260, 269 ff.

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Zustimmung zum Vergleichsabschluss frei, 69 insbesondere die vom BGH aufgestellten Grundsätze der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung finden für den Beschluss der Hauptversammlung keine Anwendung.70 Selbst wenn der Aufsichtsrat den Anforderungen an sein Ermessen nicht gerecht würde, könnte sich die Hauptversammlung darüber hinwegsetzen, sodass etwaige Ermessensfehler und eine damit einhergehende Umgehung der Selbstbeteiligung des Vorstands geheilt würden. Ein kollusives Zusammenwirken zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ist ausgeschlossen.71 Diese zweite Kontrollinstanz spricht umso mehr dafür, dass die oben genannten Erwägungen (unklare Pflichtverletzung, etc.) und ein gegebenenfalls zulässiges Absehen von der Selbstbeteiligung in die Ausgestaltung einer Vergleichsvereinbarung einfließen können und sollten, wenn dadurch eine Einigung mit dem Vorstandsmitglied zu erzielen ist. d) Eine gerichtliche materielle Beschlusskontrolle bei Hauptversammlungsbeschlüssen, und auch hier, ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn ein Beschluss gegen die mitgliedschaftliche Treuepflicht verstößt und damit einen Eingriff in die Mitgliedschaft der Minderheitsaktionäre darstellt.72 Mit Blick auf die Regelung in §  93 Abs. 4 Satz 3 AktG kann ein von der Hauptversammlung gebilligter Vergleich über Schadensersatzansprüche gegen Mitglieder des Vorstands nicht als Eingriff in die Mitgliedschaft von Minderheitsaktionären verstanden werden. Mit der Vetomöglichkeit einer Minderheit von Aktionären, die über zehn Prozent der Grundkapitals verfügt, besteht jedenfalls ein gesetzlicher Minderheitenschutz, der als abschließend und eine sachliche Beschlusskontrolle ausschließend verstanden werden muss.73 e) Schließlich wird das vorstehende Ergebnis dadurch unterstützt, dass § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG zwar vorgibt, wie der Versicherungsvertrag ausgestaltet sein muss. Er bezieht sich dagegen nicht auf die Ausgestaltung einer Vergleichsvereinbarung.74 Grundsätzlich könnte die Gesellschaft auch gänzlich auf die Inanspruchnahme ­eines Vorstandsmitglieds verzichten, wenn keine D&O-Versicherung beteiligt ist und die Hauptversammlung dem gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zustimmt. Es ist deshalb nicht ersichtlich, warum sich die Entscheidungshoheit der Hauptversammlung ändern sollte, nur weil eine D&O-Versicherung beteiligt ist. Dement69 BGH v. 28.1.1980  – II ZR 124/78, BGHZ 76, 352, 353; bestätigt durch LG Frankfurt v. 15.12.2016 – 3-05 O 154/16, EWiR 2017, 557 ff.; OLG Frankfurt v. 28.11.2017 – 5 U 6/17 (nicht veröffentlicht). 70 Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 252; Hasselbach, DB 2010, 2037, 2042; Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 163; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 76. 71 Zweck der Zustimmung der Hauptversammlung ist die Verhinderung eines kollusiven Zusammenwirkens, s. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 283; Mertens/Cahn in KK. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 161; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 78; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 278. 72 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 243 AktG Rz 24. 73 Bayer/Scholz, ZIP 2015, 149, 150 f.; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 ff.; Fleischer in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 278; Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1308; Fleischer, AG 2015, 133, 135 f.; Hopt/Roth in GK. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 507; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG, Rz. 78, § 243 AktG Rz. 24. 74 Vgl. BT-Drucks. 16/13433, S. 11.

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sprechend muss es, zugegebenermaßen in Ausnahmefällen, auch möglich sein, von einer Selbstbeteiligung des Vorstandsmitglieds abzusehen. Als logische Konsequenz kann bei einem Vergleichsabschluss von einem stets zwingenden Selbstbehalt des Vorstandsmitglieds nicht ausgegangen werden.

VI. Zur Abtretung des Freistellungsanspruchs des Organmitglieds gegen die D&O-Versicherung an die Gesellschaft Angesichts der Komplexität jeder einzelnen Vergleichsverhandlung,75 kann es sich für die geschädigte Gesellschaft und das betroffene Vorstandsmitglied insbesondere nach einem Haftungsvergleich anbieten, den Freistellungsanspruch des Vorstandsmitglieds an die Gesellschaft abzutreten. Das der Haftpflichtversicherung zugrunde liegende Trennungsprinzip war vor der VVG-Reform in der Regel durch ein in den allgemeinen D&O-Bedingungen vereinbartes Abtretungsverbot unumstößlich. Im Zuge der VVG-Reform 2008 wurde indes § 108 Abs. 2 VVG eingeführt, der die Möglichkeit eines Abtretungsverbots in allgemeinen Versicherungsbedingungen ausschließt. Nach dieser Regelung hat die Versicherungsnehmerin als Geschädigte nunmehr vorbehaltlich anderslautender Individualvereinbarungen mit dem Versicherer, die Möglichkeit sich den Freistellungsanspruch des schädigenden Organmitglieds gegen die D&O-­ Versicherung abtreten zu lassen.76 Der Freistellungsanspruch des Organmitglieds gegen den Versicherer wandelt sich dann zu einem Zahlungsanspruch der Versicherungsnehmerin gegenüber dem Versicherer um.77 Dieser kann in einem Direktprozess gegen die Versicherung geltend gemacht werden.78 1. Versicherungsnehmerin als „Dritte“ i.S.d. § 108 Abs. 2 VVG im Innenhaftungsfall? In der Literatur war lange umstritten, ob der Freistellungsanspruch des Organmitglieds auch in Innenhaftungsfällen an die geschädigte Versicherungsnehmerin ab­ tretbar ist. Diese Problematik gründete auf der Frage, ob die Versicherungsnehmerin „Dritte“ im Sinne von § 108 Abs. 2 VVG sein kann, obwohl sie Vertragspartei der D&O-Versicherung ist. Nach vormals verbreiteter Auffassung in der Literatur könne ein Dritter in diesem Sinne nur sein, wer außerhalb des Versicherungsverhältnisses 75 Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 253. 76 Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 84; Schanz in Veith/Gräfe/ Gebert, 3. Aufl. 2016, § 15 Rz. 21; Lange, r+s 2011, 185; Armbrüster, r+s 2010, 441, 447; Schrank, VP 2009, 129, 130. 77 BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, r+s 2016, 293 Rz. 22; BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 51/14, BeckRS 2016, 7881 Rz. 30; BGH v. 12.3.1975 – IV ZR 102/74, VersR 1975, 655, 657; OLG Karlsruhe v. 24.9.2009 – 12 U 47/09, r+s 2010, 372; KG v. 17.1.2006 – 6 U 275/04, VersR 2007, 349, 350; Voit in Prölss/Martin, VVG, 30.  Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz.  2; Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 84; Schanz in Veith/Gräfe/ Gebert, 3. Aufl. 2016, § 15 Rz. 482; Lange, r+s 2011, S. 185, 186; Lange, r+s 2007, 401, 403; Armbrüster, NJW 2009, 187, 192. 78 Ihlas in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz. 422.

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stehe. Eine Abtretung an die Gesellschaft als Versicherungsnehmerin sollte danach ausgeschlossen sein.79 Dies sei darauf zurückzuführen, dass ein damit einhergehender (faktischer) Direktanspruch80 der Versicherungsnehmerin die Missbrauchsgefahr erhöhe, da die Abtretungsmöglichkeit ein kollusives Zusammenwirken81 der Vertragsparteien fördere.82 Diese Streitfrage wurde durch zwei Urteile des BGH geklärt:83 Der BGH sieht die Versicherungsnehmerin als „Dritte“ i.S.d. § 108 Abs. 2 VVG an.84 Zutreffend betont der BGH die Gebotenheit einer weiten Auslegung des Begriffs „Dritter“ gemäß § 108 Abs. 2 VVG. Richtig ist zwar, dass in dem Normalfall der Haftpflichtversicherung für eigene Rechnung gemäß § 100 VVG eine Vertragspartei nicht geschädigte Dritte sein kann. Die Besonderheit der D&O-Versicherung liegt jedoch darin, dass es sich hierbei um eine Versicherung für fremde Rechnung handelt, sodass eine derartige Eingrenzung des Begriffs des Dritten dazu führen würde, dass alle am Vertrag Beteiligten nicht geschädigte „Dritte“ sein können. Die D&O-Versicherung deckt aber auch Schadensersatz­ ansprüche der Versicherungsnehmerin und ihrer Tochterunternehmen, sodass es interessengerecht erscheint, wenn diese auch die Position einer geschädigten Dritten einnehmen können.85 Die Missbrauchsgefahr, auf die sich Stimmen der Gegenansicht in der Literatur stützen,86 beschränkt sich zum einen nicht auf die D&O-Versicherung, sondern existiert in anderen Haftpflichtversicherungssparten ebenso. Zum anderen ist ein kollusives Zusammenwirken zwischen der versicherten Person und der Versicherungsnehmerin auch bei einem Abtretungsverbot in vielerlei Hinsicht möglich.87 Folglich ist die Gesellschaft als Versicherungsnehmerin auch im Innenhaftungsfall als „Dritte“ im Sinne 79 Armbrüster, r+s 2010, 441, 448 f.; Armbrüster, NJW 2016, 2155, 2156; Ihlas, D&O, 2. Aufl. 2009, S. 408 ff.; Ihlas in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz. 435 f.; so auch noch die Vorinstanz s. OLG Düsseldorf v. 12.7.2013  – 4 U 149/11, NJOZ 2014, 1807, 1810. 80 So Ihlas in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz. 422. 81 S. dazu in Verbindung mit dem Erfordernis einer ernsthaften Inanspruchnahme Kapitel II. 82 Armbrüster, r+s 2010, 441, 448 f.; Armbrüster, NJW 2009, 187, 192; Schimmer, VersR 2008, 875, 878 f. 83 BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, r+s 2016, 293 ff.; BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 51/14, BeckRS 2016, 7881 ff. 84 Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz. 1; Baumann, r+s 2011, 229, 230 ff.; Koch, r+s 2009, 133, 135 f.; Lange, r+s 2011, 185, 187; Langheid, VersR 2009, 1043; Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 41 ff.; Klimke, r+s 2014, 105, 114. 85 BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 51/14, BeckRS 2016, 7881 Rz. 27; vgl. BGH v. 10.6.1986 – VI ZR 113/85, r+s 1986, 222 ff., zu der auf die vorliegende Konstellation übertragbaren Frage, ob der durch den Fahrer eines KfZ verletzte Kraftfahrzeughalter und Versicherungsnehmer der KfZ-Haftpflichtversicherung, wie ein nicht am Vertrag beteiligter Dritter einen Direktanspruch gegen den Versicherer erwerben kann; s. dazu auch Terno, SpV 2014, 2, 6. 86 Langheid, VersR 2009, 1043. 87 Terno, SpV 2014, 2, 5; Hösker, VersR 2013, 952, 955.

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von § 108 Abs. 2 VVG anzusehen, sodass der Freistellungsanspruch der versicherten Person grundsätzlich an diese abgetreten werden kann.88 2. Welche Folgen ergeben sich aus der Abtretung in der Praxis? Nicht in jedem Haftungsfall ist eine Abtretung ratsam, sondern es sind stets gewisse Voraussetzungen zu erfüllen und Risiken abzuwägen. Angesichts fehlender Rechtsprechung sind außerdem weiterhin viele Fragen diesbezüglich unbeantwortet. Es bleibt abzuwarten, ob die Geltendmachung eines Direktanspruchs gegen den Versicherer in Zukunft praktisch vermehrt zur Anwendung kommen wird. Einige der zu beachtenden Voraussetzungen und der umstrittenen Punkte sollen hier kurz beleuchtet werden: a) Zunächst sind die allgemeinen Versicherungsbedingungen auf bestimmte Restriktionen zu untersuchen. Wenngleich ein Abtretungsverbot grundsätzlich gemäß § 108 Abs. 2 VVG ausgeschlossen ist,89 gilt dies nicht für sogenannte Großrisiken gemäß § 210 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VVG.90 Ein derartiges Abtretungsverbot ist dann jedoch auf seine Vereinbarkeit mit den §§ 305 ff. BGB zu untersuchen. Teilweise wird vertreten, dass ein nicht individuell vereinbartes Abtretungsverbot gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB verstoße.91 Dagegen spricht jedoch, dass das Abtretungsverbot dem Trennungsprinzip entspricht.92 Denkbar sind auch individuell vereinbarte Abtretungsverbote, die in der Praxis aber kaum vorkommen.93 b) Entscheiden sich die geschädigte Gesellschaft und das betroffene Organmitglied im Vorfeld oder nach der Inanspruchnahme für eine Abtretung des Freistellungsanspruchs, ist der konkrete Inhalt der Abtretungsvereinbarung zu bestimmen. Zunächst kommt eine Abtretung des Freistellungsanspruchs an Erfüllung statt gem. § 364 Abs. 1 BGB in Betracht. 94 Eine derartige Vereinbarung sollte vorsehen, dass der Zedent weiterhin zur Erfüllung seiner versicherungsvertraglichen Obliegenheiten verpflichtet ist, sodass die Gesellschaft im Falle einer unbegründeten Direktklage gegen den Versicherer auf Grund einer Obliegenheitsverletzung des 88 Zu davon unabhängigen Direktansprüchen der Gesellschaft auf Grund sogenannter Eigenschadenklauseln, s. Cyrus, NZG 2018, 7, 9 ff. 89 Von dieser Vorschrift unberührt sind auch Verbote für die Abtretung des Anspruchs an sonstige Zessionare, die nicht geschädigter Dritter sind. Dazu s. Lücke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 108 VVG Rz. 24; Schulze in Looschelders/Pohlmann, 2. Aufl. 2016, § 108 VVG Rz. 8; Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 87 f. 90 Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz. 1. 91 Dazu näher Koch, WM 2007, 2173, 2177 m.w.N.; So auch Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz. 1. 92 Vgl. Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 48. 93 So auch Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 41; Langheid/Goergen, VP 2007, 161, 166. 94 So auch in den vom BGH entschiedenen Fällen BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, r+s 2016, 293 ff.; BGH v. 13.4.2016 – IV ZR 51/14, BeckRS 2016, 7881 ff.; s. dazu Cyrus, NZG 2018, 7, 11.

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Organmitglieds, dieses trotz der Verzichtsvereinbarung in Anspruch nehmen kann.95 Im Regelfall wird in der Praxis eine Abtretung des Freistellungsanspruchs erfüllungshalber vereinbart. In diesem Fall erlischt der Haftungsanspruch gegen das schädigende Organmitglied ausschließlich bei Erfüllung des abgetretenen Anspruchs durch die D&O-Versicherung. Zusätzlich beinhaltet die Vereinbarung in diesem Fall zumindest stillschweigend ein vorübergehendes pactum de non petendo96 und sollte zudem einen Verjährungsverzicht bis zum rechtkräftigen Abschluss des Prozesses gegen den Versicherer vorsehen.97 c) Wird der Freistellungsanspruch eines Vorstandsmitglieds an die Aktiengesellschaft abgetreten, wandelt sich dieser Anspruch in einen Zahlungsanspruch der Gesellschaft gegen den Versicherer um. Folglich wird gegen die D&O-Versicherung nicht ein Organhaftungsanspruch, sondern ein abgetretener Anspruch aus dem Versicherungsvertrag, in dem die Organhaftung aus § 93 Abs. 2 AktG lediglich inzident geprüft wird, geltend gemacht.98 Seinem Wortlaut nach ist § 112 AktG und damit die Zuständigkeit des Aufsichtsrats für die Geltendmachung des Direktanspruchs gegen den Versicherer demnach jedenfalls nicht einschlägig,99 denn es geht nicht um die Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern.100 Daher wird die Meinung vertreten, der Vorstand sei gemäß § 78 AktG auch für die Geltendmachung dieses Anspruchs gegenüber dem Versicherer zuständig.101 Dafür spricht, dass dieser nach zutreffender Ansicht auch für den Abschluss und jegliche Änderung der D&O-Versicherung zuständig ist, auch wenn der Vorstand selbst zum Kreis der versicherten Personen gehört.102 Diese Ansicht kann indes nicht restlos überzeugen: Das betroffene Vorstandsmitglied hat naturgemäß ein persönliches Interesse am Ausgang des Verfahrens, das im Falle einer Abtretung erfüllungshalber auch rechtlich relevant ist. Sollte das Verfahren gegen den Versicherer abgewiesen werden, ist nicht ausgeschlossen, dass das Vorstandsmitglied im Anschluss persönlich von der Gesellschaft in Anspruch genommen wird. Eine Interessenkollision wäre in diesem Fall bei der Geltendmachung des Direktanspruchs gegen die Versicherung durch den Vorstand unvermeidbar.103 Harzenetter schlägt daher zu Recht vor, die Gesellschaft sowohl vom

95 Harzenetter, NZG 2016, 728, 730. 96 Lange, r+s 2011, 185, 188; Baumann, VersR 2010, 984, 989; Langheid, VersR 2009, 1043, 1045; Lücke in Prölss/Martin, 30. Aufl. 2018, § 108 VVG Rz. 27. 97 Harzenetter, NZG 2016, 728, 730. 98 Harzenetter, NZG 2016, 728, 731. 99 Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 218. 100 Für eine entsprechende Anwendung des §  112 AktG Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 218. 101 Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 21 Rz. 36. 102 Vertiefend dazu s. Happ/Möhrle in FS Seibert, 2019, S. 273 ff. 103 Harzenetter, NZG 2016, 728, 731 f., der in diesem Fall einen hinreichend abstrakten Interessenkonflikt für die Anwendung von § 112 AktG annimmt.

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Vorstand, als auch vom Aufsichtsrat vertreten zu lassen, um bestehende Unsicherheiten in der Praxis zu vermeiden.104 d) Kommt es schließlich zu einem Verfahren gegen den D&O-Versicherer, stellt sich prozessual die Frage nach der Verteilung der Beweislast im Direktprozess. Grundsätzlich gelten die üblichen Regeln,105 doch in haftungsrechtlicher Hinsicht ist umstritten, ob die Beweiserleichterung nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zugunsten der Gesellschaft anwendbar ist.106 Im Schrifttum wird bisher überwiegend vertreten, dass § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG im Direktprozess nicht gilt.107 Dies wird vor allem damit begründet, dass der Versicherer nicht Normadressat sei, weil ihm – anders als dem schädigenden Organmitglied – die Sachnähe fehle.108 Diese Ansicht kann nicht überzeugen.109 Die Gegenansicht erwidert richtigerweise, dass der Versicherer zwar nicht über eine unmittelbare eigene Sachkenntnis verfügt, er sich diese jedoch mit Hilfe seines umfassenden Auskunftsrechts (s. dazu oben III. 1.) gegen die versicherte Person (und sogar gegen die Versicherungsnehmerin) nach § 31 Abs. 2 VVG zu eigen macht. Lange plädiert daher zu Recht für eine jedenfalls analoge Anwendung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG im Direktprozess zugunsten der geschädigten Gesellschaft.110 In der Praxis dürfte der Beweislastverteilung indes regelmäßig weniger Bedeutung zukommen, da sich die Gesellschaft vor der Einleitung eines Verfahrens in der Regel umfassend um die Aufklärung des Sachverhaltes bemüht, um einen unklaren Ausgang des Rechtsstreits zu vermeiden.111 104 Harzenetter, NZG 2016, 728, 732. 105 Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz. 2; vgl. Lange, r+s 2011, 185, 189; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 217. 106 Diese teilweise Beweislastumkehr gilt im Bereich der Organhaftung, sodass die Gesellschaft im Innenhaftungsfall nur zu beweisen hat, dass ihr durch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Organmitglieds ein Schaden entstanden ist. Das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied trifft dagegen die Beweislast, dass sein Verhalten nicht pflichtwidrig war, oder dass ihn kein Verschulden vorzuwerfen ist, oder der Schaden selbst bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Dazu vgl. BGH v. 18.2.2008 – II ZR 62/07, VersR 2008, 1355, 1356; BGH v. 16.7.2007 – II ZR 226/06, DStR 2007, 1641, 1642. 107 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 231; Mertens/Cahn in KK-AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 245; Hölters in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 416; Hopt/ Roth in GK.AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 447, 452; Baur/Holle, AG 2017, 141 ff.; Armbrüster, NJW 2016, 2155, 2157; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 218; Hemeling in FS-Hoffmann-Becking 2013, S. 491, 496; Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 44; Böttcher, NZG 2008, 645, 648 f.; Grote/Schneider, BB 2007, 2689, 2698 f. 108 Zu der Frage, ob in diesem Fall die Vereinbarung einer Beweislastverteilung in den allgemeinen Versicherungsbedingungen zulässig ist, s. Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 218 f. 109 So auch Lange, r+s 2011, 185, 190; Harzenetter, NZG 2016, 728, 732; Koch, VersR 2016, 765, 767 f.; s. auch Voit in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Ziff. 10.2 AVB-AVG Rz. 2. 110 Lange, r+s 2011, 185, 190. 111 Harzenetter, NZG 2016, 728, 732. Zu der Frage, ob die Kosten der Sachverhaltsaufklärung vom D&O-Deckungsschutz umfasst sind, s. Happ/Möhrle in FS Seibert 2019, S.  273  ff. m.w.N.; zu den Verteidigungsmöglichkeiten des Versicherers gegen den Zahlungsanspruch, s. Lange, r+s 2011, 185, 190 ff.

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e) Ist der Direktprozess gegen den Versicherer für die Gesellschaft erfolgreich, ist auch das Haftungsverhältnis zum schädigenden Organmitglied geklärt, sodass ein Folgeprozess gegen dieses in der Regel nicht notwendig ist.112 Wird die Direktklage dagegen (zumindest teilweise) abgewiesen, sind die Rechtsfolgen auf den Frei­ stellungs- und Abwehranspruch bislang noch nicht endgültig geklärt. Im Regelfall, dass der Freistellungsanspruch erfüllungshalber an die Gesellschaft abgetreten wurde, entfällt mit der Abweisung der Direktklage das (konkludent) vereinbarte pactum de non petendo. Die geschädigte Gesellschaft hat daher die Möglichkeit, das Organmitglied in einem Folgeprozess nach § 93 Abs. 2 AktG in Anspruch zu nehmen, jedenfalls sofern die Direktklage aus deckungsrechtlichen Gründen abgewiesen wurde.113 Wird die Direktklage zumindest auch aus haftungsrechtlichen Gründen abgewiesen, entfaltet dieses Urteil nach § 325 ZPO keine Bindungswirkung für einen folgenden Haftpflichtprozess gegen das Organmitglied, sodass auch in diesem Fall ein haftungsrechtlicher Folgeprozess denkbar ist.114 Da jedoch zumindest von einer erheblichen faktischen Bindungswirkung auszugehen ist, empfiehlt es sich aus Sicht der Vorstandmitglieds, schon in der Abtretungsvereinbarung eine Klausel aufzunehmen, die eine bindende Klärung der Haftpflichtfrage durch die Gesellschaft im Rahmen des Direktprozesses ausschließt. f) Umstritten ist, ob das Organmitglied nach erfolgloser Direktklage durch die Gesellschaft, Deckungsschutz gegen den D&O-Versicherer geltend machen kann, wenn es in einem Folgeprozess von der Gesellschaft in Anspruch genommen wird. Wird die Direktklage aus deckungsrechtlichen Gründen abgewiesen, stellt sich die Frage, ob und inwiefern das Organmitglied noch Anspruch auf Freistellung und auf Ersatz der Abwehrkosten gegen den Versicherer hat. Klarheit besteht insoweit zunächst dahingehend, dass bereits im Direktprozess rechtskräftig das Nichtbestehen eines Freistellungsanspruchs gegen den Versicherer festgestellt wurde,115 sodass dem Organmitglied bei einem für die Gesellschaft 112 Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 134; Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 21 Rz. 77; Harzenetter, NZG 2016, 728, 732; vgl. Armbrüster, r+s 2010, 441, 450. 113 Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz 135 ff.; Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 21 Rz. 78; Lange, r+s 2011, 185, 196 f.; Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 47; wird die Direktklage aus haftungsrechtlichen Gründen abgewiesen, besteht auch kein Schadenersatzanspruch gegen das Organmitglied, vgl. insgesamt Grooterhorst/ Looman, NZG 2015, 215, 220. 114 Lange, r+s 2011, 185, 197; so auch Wandt in MünchKomm. VVG, 2.  Aufl. 2017, §  108 VVG Rz. 139, der jedoch im Zweifel von einer Vereinbarung zwischen Versicherungsnehmerin und versicherter Person im Rahmen der Abtretungsvereinbarung erfüllungshalber ausgeht, sodass haftungsrechtliche Feststellungen auch zwischen ihnen Rechtskraft entfalten sollen; vgl. auch Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 220, der jedenfalls eine erhebliche faktische Bindungswirkung nicht ausschließt, wenn die Direktklage ausschließlich aus haftungsrechtlichen Gründen abgewiesen wird. 115 Harzenetter, NZG 2016, 728, 733; Lange, r+s 2011, 185, 196 f.; Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 21 Rz. 82; Baumann, VersR 2010, 984, 990; vgl. auch Armbrüster, r+s 2010, 441, 451; Thume, VersR 2010, 849, 853; Langheid, VersR 2007, 865, 867.

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erfolgreichen Folgeprozess kein Anspruch auf Freistellung gegen den Versicherer verbleibt. Nicht eindeutig ist jedoch, ob das Organmitglied einen Anspruch auf Abwehrkostendeckung für den Folgeprozess hat. Dies wird überwiegend verneint.116 Freistellungs- und Abwehranspruch seien (ursprünglich) Teil eines einheitlichen Deckungsanspruchs, der insgesamt durch die Abtretung im Direkt­prozess rechtskräftig abgewiesen worden sei.117 Dagegen spricht jedoch, dass der Abwehranspruch der versicherten Person gar nicht Teil der Abtretung sein kann, da dieser nicht von § 108 Abs. 2 VVG umfasst und ohnehin nicht abtretbar ist.118 Dem Organmitglied verbleibt im Folgeprozess daher ein Rechtsschutzanspruch gegen den D&O-Versicherer,119 mit dessen Abwehrkostendeckung ihm die Möglichkeit verbleibt, den Haftungsanspruch der Gesellschaft abzuwehren. Hinsichtlich des Abwehranspruchs gilt dies ebenso, wenn der Direktprozess aus ausschließlich haftungsrechtlichen Gründen abgewiesen wurde. Zudem erwächst die Feststellung eines Deckungsfalls in diesem Fall konsequenterweise nicht in Rechtskraft, sodass auch der Deckungsanspruch ausnahmsweise nicht „verbraucht“ ist.120 Die Gesellschaft kann den Direktanspruch vielmehr an das Organmitglied zurückabtreten, sodass diesem der mit dem Freistellungsanspruch verbundene Versicherungsschutz wieder zusteht.121

VII. Resümee Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das relativ junge Rechtsgebiet der D&O Versicherung ungeachtet der in den letzten Jahren durch spektakuläre Haftungsfälle evident gewordenen Probleme und Fragen in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht hinreichend geklärt ist. Im Hinblick auf die Neigung der betroffenen Unternehmen und Personen, den Streitfall möglichst ohne gerichtliche Öffentlichkeitswirkung durch Vergleiche zu erledigen, lassen sich in der Rechtsprechung kaum einschlägige Urteile feststellen. Die Diskussion im Schrifttum ist vielfältig, aber noch sehr kontrovers. Es lassen sich daher kaum Ergebnisse festhalten, die am Schluss die116 Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 137; Harzenetter, NZG 2016, 728, 733, die jedenfalls von einer Treuwidrigkeit der Berufung auf den Abwehranspruch nach §  242 BGB ausgehen; vgl. auch Armbrüster, r+s 2010, 441, 451; Baumann, VersR 2010, 984, 990; Langheid, VersR 2007, 865, 869. 117 Harzenetter, NZG 2016, 728, 733. 118 Lücke in Prölss/Martin , 30. Aufl. 2018, § 108 VVG Rz. 31; Ihlas in MünchKomm. VVG, 2.  Aufl. 2017, D&O-Versicherung, Rz.  412; Lange, r+s 2011, 185, 188 m.w.N.; Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 21 Rz. 79. 119 Lange, r+s 2011, 185, 196. 120 Lücke in Prölss/Martin , 30. Aufl. 2018, § 108 VVG Rz. 28; Harzenetter, NZG 2016, 728, 733; Lange, r+s 2011, 185, 197; Lange, r+s 2007, 401, 404; Armbrüster, r+s 2010, 441, 451; Baumann, VersR 2010, 984, 990; a.A. Böttcher, NZG 2008, 645, 649; Grote/Schneider, BB 2007, 2689, 2698. 121 Zu der umstrittenen Frage, ob die Gesellschaft eine Pflicht zur Rückabtretung des Anspruchs an das Organmitglied trifft, s. Wandt in MünchKomm. VVG, 2. Aufl. 2017, § 108 VVG Rz. 137 m.w.N.; Harzenetter, NZG 2016, 728, 733.

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ses Festschriftbeitrages als solche zusammengefasst werden könnten. Aus den bekannt gewordenen und veröffentlichten Vergleichsfällen, lassen sich für die Vielzahl der praktischen Fragen im Zusammenhang mit Vertragsabschluss und im Streitfall zu findenden Lösungen kaum Standards ableiten. Da von der Rechtsprechung aus den genannten Gründen zu vielen Fragen kaum Entscheidungen zu erwarten sind, bleibt zu hoffen, dass es in der Vertrags- und Abwicklungspraxis der betroffenen Unternehmen, begleitet von der Diskussion im Schrifttum, in der Zukunft zu weiteren Klärungen kommen wird. Vorerst bleibt es wohl bei der, hier leicht abgeänderten, betrüblichen Feststellung von Brechts Guten Menschen aus Sezuan: „Der Vorhang zu und viele Fragen offen“.

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Inhaltsfehler und unternehmerisches Ermessen bei Beschlüssen der Verwaltungsorgane Inhaltsübersicht I. Problemaufriss II. Beschlussnichtigkeit wegen Inhalts­fehler 1. Inhaltsfehler als blinder Fleck in Rechtsprechung und Schrifttum 2. Vorgaben an das Gesamtorgan als ­Fehlerquelle 3. Sorgfaltspflichten der Organmitglieder als Fehlerquelle III. Unternehmerisches Ermessen und ­Beschlusskontrolle

IV. Anwendung der Business Judgment Rule auf Kollektiventscheidungen 1. Fokussierung der bisherigen Diskussion auf die Haftung der Organmitglieder 2. Meinungsstand und Fragestellung bei der Beschlusskontrolle 3. Interessenkonflikte 4. Informationsbeschaffung und Beschlusskontrolle 5. Intensität der gerichtlichen Beschlusskontrolle V. Thesen

I. Problemaufriss In den vergangenen Jahren waren vor allem zwei Themen Gegenstand kontroverser Debatten und Gesetzesreformen im Gesellschaftsrecht: die Organhaftung und das Beschlussmängelrecht. Der Jubilar hat diese Diskussionen mit zahlreichen Beiträgen bereichert. Die Willensbildung innerhalb des Überwachungsorgans ist ihm seit jeher ein Anliegen. Schon in seiner Dissertationsschrift ist er auf die Beschlussfassung im mitbestimmten Aufsichtsrat eingegangen.1 In jüngerer Zeit hat sich Eberhard Vetter unter anderem mit dem schwierigen Verhältnis zwischen unternehmerischen Entscheidungen und Untreue2 und mit den Anforderungen an eine wirksame Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat befasst.3 Mit der Themenwahl knüpft der Verfasser an diese Beiträge an und beleuchtet eine Schnittstelle zwischen dem Organhaftungs- und Beschlussmängelrecht, die in der bisherigen Diskussion weitgehend vernachlässigt wurde: das Zusammenspiel zwischen der inhaltlichen Kontrolle der Verwaltungsbeschlüsse in der Aktiengesellschaft und der Business Judgment Rule. Schon das erste Thema wird nur selten vertieft behan1 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 121 ff. 2 E. Vetter/Peters, Der Konzern 2017, 269 ff. Zur Organhaftung ferner E. Vetter, NZG 2015, 889 ff.; E. Vetter, AnwBl 2014, 582 ff.; E. Vetter, NZG 2014, 921 ff.; E. Vetter, GmbHR 2012, 181 ff.; E. Vetter, DB 2004, 2623 ff.; E. Vetter, AG 2000, 453 ff. 3 E. Vetter, EWiR 2015, 271 f. Vgl. ferner E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, HdB der börsennotierten AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 27.47 ff.

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delt. Widmet sich das aktienrechtliche Schrifttum der gerichtlichen Überprüfung von Aufsichtsrats- und Vorstandsbeschlüssen, geht es meist um die nachgelagerte Frage, wie sich etwaige Fehler auf den Beschluss auswirken: Während einige Stimmen aus dem Schrifttum die analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG befürworten und damit die Unterscheidung zwischen anfechtbaren und nichtigen Beschlüssen auf der Ebene der Verwaltung aufgreifen wollen,4 spricht sich die herrschende Meinung de lege lata für eine Lösung auf Grundlage des Rechtsgeschäftsmodells aus und hält fehlerhafte Beschlüsse für nichtig.5 Deutlich seltener wird jedoch die Frage behandelt, wann ein Verwaltungsbeschluss überhaupt fehlerhaft ist. Wird dieses Thema doch mal aufgegriffen, konzentrieren sich die Stellungnahmen auf Verfahrensfehler, während Inhaltsfehler nur selten eingehend beleuchtet werden.6 Diese Lücke soll unter II geschossen werden. Sodann wird auf die Frage eingegangen, wie sich § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Beschlusskontrolle auswirkt. Das Schrifttum behandelt auch dieses Thema stiefmütterlich, weil es in der Business Judgment Rule ein haftungsrechtliches Instrument sieht. Dies überrascht nicht, wenn man den systematischen Standort des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und die Intentionen des UMAG-Gesetzgebers im Blick hat, der die Verschärfung des Verfolgungsrechts nach § 148 AktG durch die Kodifizierung der Business Judgment Rule auf der materiell-rechtlichen Ebene abmildern wollte.7 Dieser Diskussionsschwerpunkt ist aber verblüffend, wenn man berücksichtigt, in welchen Fällen der Gedanke, dass die Gesellschaftsorgane unternehmerisches Ermessen genießen, Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat: In der Kali und Salz-Entscheidung hat der BGH hervorgehoben, dass die Hauptversammlung einen unternehmerischen Freiraum bei der Entscheidung über den Bezugsrechtsausschluss genießt.8 Klagegegenstand war also ein Beschluss, nicht etwaige Ansprüche gegen die Mitglieder der Verwaltungsorgane.9 Und auch im ARAG/Garmenbeck-Urteil – das als die Geburtsstunde der deutschen Business Judgment Rule bezeichnet werden kann  – war nicht ein Schadensersatzanspruch der Klagege­ 4 Baums, ZGR 1983, 300, 337 ff.; Schwab, Das Prozeßrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2002, S. 565 ff. 5 Statt vieler BGH v. 10.10.2005 – II ZR 90/03, BGHZ 164, 249, 252 = NJW 2004, 374. Freilich nähert sich die hM im Ergebnis dem Anfechtungsmodell, wenn sie auf dogmatisch verschlungenen Wegen etwa mit Hilfe des Verwirkungsgedankens faktisch eine „Anfechtungsfrist“ statuiert; s. dazu etwa E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, HdB der börsennotierten AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 27.77. 6 S. noch unter II 1 mit Fn. 30. 7 S. RegBegr UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. Dazu auch Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 10. 8 BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 49 f. = NJW 1978, 1316. Teils wird diese Entscheidung als Vorläufer des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG angesehen, vgl. Lieder/Müller in Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrecht-Geschichten, 2018, S. 285, 302. 9 Das Ermessen der Organmitglieder hat der BGH im Zusammenhang mit der Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung hervorgehoben, s. BGH v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96, 108 = NJW 1979, 1823. Dazu etwa Fleischer/Korch in Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrecht-Geschichten, 2018, S. 319, 342.

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genstand, sondern ein Beschluss des Aufsichtsrats, einen pflichtvergessenen Ge­ schäftsleiter nicht in Anspruch zu nehmen.10 Insoweit drehte sich die ursprüngliche ­Diskussion vornehmlich um die Frage, ob das unternehmerische Ermessen den Aufsichtsratsbeschluss vor Nichtigkeit schützt.11 Bereits diese beiden Beispiele zeigen, dass man die Funktionsweise des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur unzureichend erfasst, wenn man ihn allein durch die haftungsrechtliche Brille liest.12 Deshalb wird die ­Business Judgment Rule unter III und IV aus der Perspektive der Beschlusskontrolle vermessen.

II. Beschlussnichtigkeit wegen Inhaltsfehler 1. Inhaltsfehler als blinder Fleck in Rechtsprechung und Schrifttum Der in der Einleitung aufgestellte Befund, das aktienrechtliche Schrifttum beschäftige sich nur am Rande mit den Inhaltsfehlern von Verwaltungsbeschlüssen, wird bestätigt, wenn man einen Blick in die Abhandlungen zum Vorstandsrecht wirft.13 Dort findet man meist die lapidare Aussage, dass Vorstandsbeschlüsse an Inhalts- und ­Verfahrensfehlern leiden können.14 Hinweise auf die Rechtsprechung sucht man ­vergebens,15 die knappen Ausführungen beschäftigen sich in erster Linie mit den ­Verfahrensfehlern.16 Einige wenige Stimmen ordnen Gesetzes- und Satzungsverstöße

10 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 247 = NJW 1997, 1926. Zu weiteren Prozessen J. Koch in Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrecht-Geschichten, 2018, S. 471, 474 f. Zum Ermessen beim Erlass eines Zustimmungsvorbehalts BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 127 = NJW 1994, 520. 11 Dreher, ZHR 158 (1994), 614, 618  ff.; Dreher, JZ 1997, 1074  ff.; Götz, NJW 1997, 3275, 3276 f.; Horn, ZIP 1997, 1129, 1136 ff.; Jaeger/Trölitzsch, ZIP 1995, 1157, 1158 ff.; Lutter, ZIP 1995, 441 f.; Raiser, NJW 1996, 552, 553 ff. 12 So auch Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 13; Nietsch, ZGR 2015, 631, 534 ff.; Paefgen, AG 2004, 245, 250. 13 Hierzu auch Bayer in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre AktG, 2016, S. 199, 219 f. 14 Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 77 AktG Rz. 28; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rz. 520; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 2 Rz. 28; Wilhelm, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 1041; Bayer in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre AktG, 2016, S. 199, 220. 15 S. aber Bayer in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre AktG, 2016, S. 199, 220, der in Fn. 156 ein vereinsrechtliches Urteil des OLG Schleswig v. 5.2.1960 – 5 U 114/59, NJW 1960, 1862 zitiert, in dem die fehlende Ladung eines Vorstandsmitglieds (also ein Verfahrensfehler) als ein Nichtigkeitsgrund eingeordnet wurde. Zum Eingriff in Aktionärsrechte als Fehlerquelle s. noch Fn. 20 und 21. 16 Zur Verletzung des Mitwirkungsrechts: Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 77 AktG Rz. 18; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 77 AktG Rz. 47; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 77 AktG Rz. 29; M. Weber in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 77 AktG Rz. 26. Zum Ladungsmangel als (minderschweren) Verfahrensfehler: Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 77 AktG Rz. 28.

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als inhaltliche Fehler ein, die zur Nichtigkeit des Beschlusses führen sollen17 – freilich  ohne das Ergebnis dogmatisch zu begründen und ohne genauer zu erläutern, welche Gesetzesvorgaben damit gemeint sind.18 Vereinzelt wird die Verletzung des §  93 Abs.  1 Satz 1 AktG als ein Nichtigkeitsgrund angesehen.19 Manche gehen auf die Eingriffe in die Aktionärsrechte ein, um zu begründen, dass einzelne Aktionäre gegen Vorstandsbeschlüsse klagen dürfen.20 Daraus lässt sich schließen, dass Beschlüsse, die einen solchen Eingriff zum Gegenstand haben, an einem Inhaltsfehler leiden.21 Dieses Desinteresse des Schrifttums überrascht nicht, wenn man bedenkt, welche Hürden überwunden werden müssen, um einen Vorstandsbeschluss vor den Kadi zu zerren. Zunächst liegt eine rechtliche Hürde darin, dass nur ein enger Personenkreis befugt ist, eine Klage auf Feststellung der Beschlussnichtigkeit zu erheben. Die ganz herrschende Auffassung lehnt eine Klagebefugnis des Aufsichtsrats ab.22 Dies gilt grundsätzlich auch für Aktionäre,23 mit der soeben erwähnten Ausnahme bei (seltenen) Eingriffen in individuelle Aktionärsrechte. Bei Lichte besehen haben nur die Vorstandsmitglieder eine weitreichende Klagebefugnis. Dies führt zu einer psychologischen Barriere. Aus nachvollziehbaren Gründen ergreifen die Vorstandsmitglieder die Klagemöglichkeit nämlich nicht: Streiten die Geschäftsleiter über die Wirksamkeit ihres Beschlusses, liegt es näher, den Aufsichtsrat als Streitschlichter einzuschalten, als die schmutzige Wäsche öffentlichkeitswirksam vor Gericht zu waschen.24 ­Dadurch bekommt die Rechtsprechung keine Gelegenheit, über die Wirksamkeit der  Vorstandsbeschlüsse zu entscheiden, und das oft praxisorientierte Schrifttum

17 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 77 AktG Rz. 48; Wettich, Vorstandsorganisation in der Aktiengesellschaft, 2008, S.  289. Vgl. ferner Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rz. 522: „Verstoß gegen materielles Recht“. 18 S. aber Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rz. 522, die auf §§ 134, 138, 242 BGB verweisen. Auf § 134 BGB abstellend Hüffer, ZGR 2001, 833, 869 ff. 19 So Wilhelm, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 1041. AA Götz in FS Lüke, 1997, S. 167, 184. 20 Zur Verletzung der ungeschriebenen HV-Kompetenz BGH v. 25.2.1982  – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122, 126 ff. = NJW 1982, 1703. Zur Verletzung des Bezugsrechts bei der Ausübung genehmigten Kapitals BGH v. 10.10.2005 – II ZR 90/03, BGHZ 164, 249, 254 ff. = NJW 2006, 374. 21 Davon geht augenscheinlich auch die Rspr. aus, s. zuletzt BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, NJW 2018, 2796 Rz. 44 ff. (Verstoß gegen § 53a AktG bei bezugsrechtsfreier Kapitalerhöhung). Für den Aufsichtsrat Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 80. 22 S. nur Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 77 AktG Rz. 28c. Zur fehlenden Klagebefugnis der einzelnen AR-Mitglieder BGH v. 28.11.1988 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54, 59 ff. = NJW 1989, 979; OLG Celle v. 9.10.1989 – 9 U 186/89, NJW 1990, 582. 23 Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 2 Rz. 26. 24 Hinzu kommt, dass einem dissentierenden Vorstandsmitglied das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn es nicht versucht hat, den Streit verbandsintern zu klären, s. Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, §  2 Rz.  30; Wettich, Vorstandsorganisation in der Aktiengesellschaft, 2008, S. 280 f.

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v­ erspürt wenig Neigung, sich im Elfenbeinturm einzuschließen und über ein Orchi­ deenthema zu sinnieren. Deshalb bietet es sich an, auf die Abhandlungen zum Beschlussmängelrecht des Aufsichtsrats zurückzugreifen, wenn man den Inhaltsfehlern auf der Spur ist. Insbesondere nach Einführung der unternehmerischen Mitbestimmung hat sich der Aufsichtsrat als ein streitlustiges Organ gezeigt, was nicht zuletzt die Klagen der Arbeitnehmervertreter in Fällen der Hamburg-Mannheimer AG25 und der Vereinte Krankenversicherung AG26 belegen. Aber auch wenn die Arbeitnehmervertreter den Aufsichtsratsbeschluss mittragen, kann es vorkommen, dass ein überstimmter Anteilseignervertreter vor Gericht zieht, wie etwa im bereits erwähnten ARAG/Garmenbeck-Fall.27 Die verstärkte Aktivität der Rechtsprechung28 führt dazu, dass der Aktienrechtler bereitwillig zur Feder greift, um die gerichtlichen Aussagen kritisch zu würdigen und zu systematisieren. Einen Beleg liefern abermals die aktienrechtlichen Kommentare, die den fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen als den Vorstandsbeschlüssen.29 Auch hier stehen zwar die Verfahrensfehler im Fokus,30 die Aussagen zu den Inhaltsfehlern nehmen aber doch mehr Raum ein als im Vorstandsrecht. Nicht fehlen darf freilich die einleitende Feststellung, dass Gesetzes- und Satzungsverstöße zur Nichtigkeit des Aufsichtsratsbeschlusses führen.31 Anders als bei Vorstandsbeschlüssen werden aber die relevanten Vorgaben zumindest stichwortartig aufgezählt. Als Fehlerquellen werden unter anderem genannt: das Mitbestimmungsrecht,32 § 76 Abs. 3 AktG,33 25 BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342 = NJW 1993, 2307. 26 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 112 = NJW 1994, 520. 27 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 245 ff. = NJW 1997, 1926. Zum Stimmverhalten der Aufsichtsratsmitglieder s. J. Koch in Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrecht-Geschichten, 2018, S. 471, 474. 28 Überblick bei Bayer in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre AktG, 2016, S. 199, 210. 29 So beschäftigen sich Mertens/Cahn auf ca. 20 Seiten mit den fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen (in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 AktG Rz. 85-117), brauchen aber nur 1,5 Seiten und drei Randziffern, um die Mängel des Vorstandsbeschlusses zu behandeln (in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 77 AktG Rz. 46-48). Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 77 AktG Rz. 6 verweist knapp auf seine Ausführungen zu fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen in § 108 Rz. 26 ff. 30 Vgl. etwa Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 76-79 (Verfahrensfehler) und Rz. 80 (Inhaltsfehler); Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 AktG Rz. 89, 93-96 (schwerpunktmäßig zu den Verfahrensfehlern) und Rz. 97-100 (Inhaltsfehler). Umgekehrtes Verhältnis allerdings bei Hüffer, ZGR 2001, 833, 872 f. 31 Statt vieler Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 108 AktG Rz. 36, 39; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 25, 27; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 AktG Rz. 97. 32 BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 354 ff. = NJW 1993, 2307; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 172; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, HdB der börsennotierten AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 27.78. 33 Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 108 AktG Rz. 39; Henssler in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 22; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 27.

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§ 84 Abs. 1 Satz 3 AktG,34 § 111 Abs. 1 AktG,35 §§ 116, 93 AktG36 oder der Gleichbehandlungsgrundsatz.37 Schließlich werden Kompetenzverstöße38 und die Überschreitung der Ermessensgrenzen39 als Nichtigkeitsgrund genannt. 2. Vorgaben an das Gesamtorgan als Fehlerquelle Keine erheblichen Schwierigkeiten bereitet die Begründung eines Inhaltsfehlers, wenn ein Verwaltungsbeschluss gegen eine Vorschrift verstößt, die sich an das Gesamtorgan richtet. In einem solchen Fall kann man zum einen auf § 134 BGB abstellen und begründen, wieso die Regelung, die bei der Beschlussfassung missachtet wurde, ein Verbotsgesetz ist.40 Zum anderen ist es möglich, die Legalitätspflicht zu bemühen, die nach herrschender Auffassung beide Verwaltungsorgane zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben verpflichtet.41 Räumt der Vorstand einem Aktionär einen Kredit ein, dessen Konditionen den Vorgaben des § 57 Abs. 1 AktG nicht entsprechen, ist der zugrunde liegende Beschluss wegen Verstoßes gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr nichtig. Dasselbe gilt für einen Vorstandsbeschluss, der eine kartellrechtswidrige Absprache zum Gegenstand hat und deshalb dem Legalitätsprinzip zuwiderläuft. Der Aufsichtsrat muss bei der Vorstandsbestellung die Inhabilitätsgründe des § 76 Abs. 3 AktG beachten und darf die Wiederbestellung gem. § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG frühestens ein Jahr vor Ablauf der bisherigen Amtszeit beschließen. Missachtet er die Vorgaben der §§  76 Abs.  3, 84 Abs. 1 Satz 3 AktG, ist der Aufsichtsratsbeschluss nichtig. Überdies hat die aktien34 Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 172 (verfrühte Verlängerung von Vorstandsverträgen). So auch (implizit) BGH v. 17.7.2012 − II ZR 55/11, NZG 2012, 1027, der aber eine Verletzung und eine Umgehung des § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG im konkreten Fall verneint. 35 So für die Pflicht, Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder zu verfolgen: BGH v. 21.4.1997  – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 251  ff. = NJW 1997, 1926; Habersack in Münch­Komm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 80; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  108 AktG Rz.  173. Auf Wertung des §  93 Abs.  4 AktG abstellend Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 108 AktG Rz. 63; Spindler in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  108 AktG Rz.  75. Dagegen Hüffer, 10.  Aufl. 2012, §  111 AktG Rz. 4b; Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 115 f. 36 Wilhelm, Kapitalgesellschaftsrecht, 4.  Aufl. 2018, Rz.  1127. AA Götz in FS Lüke, 1997, S. 167, 184; Hüffer, ZGR 2001, 833, 873; Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 116. 37 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 80. 38 Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 108 AktG Rz. 39; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 108 Rz. 62; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, HdB der börsennotierten AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 27.78. 39 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 80; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 173 f.; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz.  27; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, HdB der börsennotierten AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 27.78. 40 S. schon die Nachw. in Fn. 18. 41 Für den Vorstand statt vieler Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 6 ff. Für den Aufsichtsrat Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 72 ff.

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rechtliche Kompetenzordnung einen Verbotscharakter: Den Verwaltungsorganen ist es nicht gestattet, im Zuständigkeitsbereich der anderen Organe tätig zu sein. Verletzt ein Organbeschluss die Organisationsverfassung, ist er nichtig. 3. Sorgfaltspflichten der Organmitglieder als Fehlerquelle Anspruchsvoller ist die Begründung eines Beschlussfehlers, wenn eine Regelung nicht das Gesamtorgan adressiert, sondern an die Organmitglieder gerichtet ist, wie etwa die organschaftlichen Sorgfalts- und Treuepflichten. Kann der Vorstandsbeschluss, einen unbesicherten Millionenkredit zu einem günstigen Zins an den kreditunwürdigen Lebensgefährten der Vorstandsvorsitzenden zu vergeben, der Beschlusskontrolle standhalten, wenn die Vorsitzende an der Beschlussfassung teilnimmt? Kann der Aufsichtsrat, der nach der Satzung in die Entscheidungsfindung einbezogen werden muss (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG),42 dem Abschluss eines solchen Kreditvertrags wirksam zustimmen, wenn die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder die Beschlussvorlage nur flüchtig zur Kenntnis nimmt und die günstigen Konditionen nicht hinterfragt? Stimmen die Mitglieder der Verwaltungsorgane einem solchen Beschluss zu, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung nahe: Zwar ist die Kreditvergabe eine unternehmerische Entscheidung, die im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt,43 die Vorstandsmitglieder können sich aber wegen Befangenheit der Vorsitzenden nicht auf die Business Judgment Rule berufen.44 Außerdem können jedenfalls die unvorbereiteten Aufsichtsratsmitglieder die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Anspruch nehmen. Wenn die Rückzahlung des Darlehens wegen der fehlenden Bonität des Kreditnehmers unwahrscheinlich ist, dürfte ohnehin die Schwelle zum unverantwortlichen Handeln überschritten sein.45 Ob die organschaftlichen Pflichten verletzt wurden, hängt freilich vom Einzelfall ab und soll hier unterstellt werden, um sich der zentralen Frage des Beitrags zu widmen: Kann eine Sorgfalts- oder Treuepflichtverletzung der Organmitglieder zur Nichtigkeit des Organbeschlusses führen? Ein Teil des Schrifttums verneint diese Frage: §§ 116, 93 AktG regelten die Verantwortung der Gesellschaftsorgane Vorstand und Aufsichtsrat, schüfen aber keinen Maßstab für die rechtlichen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsbeschlüsse.46 Geht man allein vom Wortlaut der §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG aus, 42 Die Einwilligung des Aufsichtsrats nach § 89 AktG dürfte entbehrlich sein, weil Lebensgefährten wohl nicht von § 89 Abs. 3 AktG erfasst sind, s. nur Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 89 AktG Rz. 102. Auch ist § 112 AktG nicht einschlägig, s. Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 16. 43 Implizit Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 77. 44 Zu den Auswirkungen des Interessenkonflikts eines Organmitglieds auf seine Kollegen s. noch unter IV 1. 45 Je nach Fallgestaltung kommt auch im Hinblick auf die persönliche Verbundenheit mancher Organmitglieder zum Kreditnehmer ein Treuepflichtverstoß in Betracht. Zur Gewährung von Sondervorteilen an Dritte s. etwa Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 156 f. 46 Götz in FS Lüke, 1997, S. 167, 184. Gegen die Heranziehung der §§ 116, 93 im Ergebnis auch Hüffer, ZGR 2001, 833, 873; Kindler, ZHR 162 (1998), 101, 116.

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ist diese Argumentation stichhaltig: Die Sorgfaltspflicht bindet die Organmitglieder auf Einhaltung des Gesellschaftswohls47 und ist ein Anknüpfungspunkt für Schadensersatzansprüche (§§  116 Satz  1, 93 Abs.  2 Satz 1 AktG) oder Personalmaßnahmen (§§ 84 Abs. 3, 103 Abs. 3 AktG), wenn die Mitglieder bei der Stimmabgabe das Gesellschaftswohl außer Acht lassen. §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG treffen aber keine Aussage über die Pflichten des Gesamtorgans und den zulässigen Inhalt der Organbeschlüsse. Dies gilt auch für die Treuepflicht. Allerdings kommen Zweifel an dieser Begründung auf, wenn man den Blick auf Normen erweitert, die an das Gesamtorgan gerichtet sind: § 76 Abs. 1 und § 111 Abs. 1 AktG. Nach § 76 Abs. 1 AktG hat der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Diesen knappen Satz versteht das Schrifttum dahingehend, dass der Vorstand das Gesellschaftswohl verwirklichen muss.48 Auch der Aufsichtsrat muss sich im Rahmen seiner Überwachungstätigkeit vom Gesellschaftswohl leiten lassen.49 Die Pflichten der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder verlaufen also parallel: Aus §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und aus §§ 76 Abs. 1, 111 Abs. 1 AktG kann man den Grundsatz herleiten, dass das gesamte Organhandeln dem Gesellschaftswohl entsprechen muss. Geht man von diesem Grundsatz aus, sind Organbeschlüsse nichtig, wenn ihr Inhalt dem Gesellschaftswohl zuwiderläuft.50 Dass dieser Gedanke richtig ist, zeigt der Umstand, dass die Organmitglieder gegen Beschlüsse vorgehen müssen, die nicht im Unternehmensinteresse liegen.51 Diese Pflicht impliziert, dass solche Beschlüsse rechtswidrig und damit nichtig sind. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die einzelnen Organmitglieder im Rahmen der Beschlussfassung den Anforderungen der §§  116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht gerecht wurden, das Ergebnis der organschaftlichen Willensbildung aber auf eine bestandskräftige Kollegialentscheidung hinauslaufen dürfte. Das Aktienrecht muss schlicht keine Organakte dulden, die dem Gesellschaftswohl widersprechen. Um festzustellen, ob ein Verwaltungsbeschluss fehlerhaft ist, bietet sich folgende Hilfsüberlegung an: Hätte sich ein Organmitglied pflichtwidrig verhalten, wenn es eine individuelle Entscheidung getroffen hätte, die dem Beschlussinhalt entspricht, leidet der Beschluss an einem Inhaltsfehler und ist deshalb nichtig.52 47 S. Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 8 Rz. 29; Holle, AG 2011, 778, 781 f. 48 Streitig ist freilich, ob das Gesellschaftswohl iSd interessenpluralistischen Zielkonzeption zu bestimmen ist (so etwa Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 76 AktG Rz. 28 ff.) oder ob der moderate shareholder-value-Ansatz vorzugswürdig ist (so etwa Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 29 ff.). 49 Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 78 ff. 50 Konstruktiv wäre es denkbar, schon die Stimmabgabe – die nach hA eine Willenserklärung ist (s. nur Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 77 AktG Rz. 24) – wegen Verstoßes gegen §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gem. § 134 BGB für nichtig zu erklären. Zu den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten der Beschlusskontrolle im Kontext der HV-Beschlüsse Wandrey, Materielle Beschlusskontrolle im Aktienrecht, 2012, S. 30 ff. 51 Für den Vorstand etwa Kort in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 77 AktG Rz. 22. 52 Freilich passt diese Überlegung aus einer technischen Perspektive nicht auf den Aufsichtsratsbeschluss, weil die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats eine kollektive ist und die

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III. Unternehmerisches Ermessen und Beschlusskontrolle Folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass Organbeschlüsse nichtig sind, wenn ihr Inhalt dem Gesellschaftswohl widerspricht, stellt sich die Folgefrage, ob und inwieweit die Business Judgment Rule einer engmaschigen gerichtlichen Beschlusskontrolle entgegensteht. Wendet man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Organbeschlüsse an, stößt man auf die Schwierigkeit, dass der Wortlaut der Vorschrift auf die (individuelle) Entscheidung eines Organmitglieds zugeschnitten ist und die Kollektiventscheidung des Gesamtorgans vernachlässigt. Dennoch geht die herrschende Auffassung augenscheinlich davon aus, dass ein Organbeschluss durch die Business Judgment Rule geschützt werden kann: Wenn ein inhaltlicher Beschlussfehler bei „Überschreitung der Ermessensgrenzen“ angenommen wird,53 setzt dies voraus, dass sich das Ermessen der Verwaltungsorgane auf den Beschluss erstreckt. Da §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG seit dem UMAG die Ermessensspielräume (teilweise) kodifiziert, soll er offenbar auch auf Verwaltungsbeschlüsse anwendbar sein.54 Die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Verwaltungsbeschlüsse ist allerdings nicht selbstverständlich, wenn man sich mit den Gründen auseinandersetzt, die das Schrifttum zur Rechtfertigung des Ermessensgedankens vorträgt. Nach tradierter Lesart soll die Business Judgment Rule die Organmitglieder vor einer Erfolgshaftung schützen, die insbesondere dann droht, wenn ein Gericht eine Organentscheidung – die häufig unter Unsicherheit und Zeitdruck getroffen wird – ex post beurteilt und dadurch einem Rückschaufehler unterliegen kann.55 Diese Haftungsprivilegierung soll einer übermäßigen Risikoscheu der unternehmerisch tätigen Gesellschaftsorgane vorbeugen, die für die Aktionäre und die Volkswirtschaft schädlich wäre.56 Geht man von dieser rechtspolitischen Begründung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus, leuchtet die Erstreckung der Business Judgment Rule auf den Organbeschluss nicht unmittelbar ein: Ist ein Beschluss Gegenstand der richterlichen Kontrolle, entscheidet das Gericht in der Regel ex ante. Es soll die Nichtigkeit des Beschlusses feststellen, bevor die Kollegialentscheidung des Organs zu einem Schaden der Gesellschaft führt. In einer solchen Situation sind keine Rückschaufehler zu befürchten: Wenn der Schaden noch nicht eingetreten ist, kann das Gericht daraus keinen unzulässigen Schluss auf einen inhaltlichen Beschlussfehler ziehen. Überdies kann man der übermäßig scharfen OrAufsichtsratsmitglieder deshalb nicht „einzelüberwachungsbefugt“ sein dürfen (vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 3). Sie soll lediglich verdeutlichen, dass die Pflichten des Organs und dessen Mitglieder parallel ausgestaltet sind. 53 S. die Nachw. in Fn. 39. 54 Deutlich Paefgen, AG 2004, 245, 250. In diese Richtung wohl Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 13, der auf die „dauerhafte Bestandskraft der Entscheidung“ abstellt – damit dürfte auch die Kollektiventscheidung, also der Beschluss gemeint sein. Im Kontext der HV-Beschlüsse ferner Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S.  273  ff.; Wandrey, Materielle Beschlusskontrolle im Aktienrecht, 2012, S. 163 ff. 55 Ausf. Korch, Haftung und Verhalten, 2015, S. 179 ff. 56 Statt vieler Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 60; Korch, Haftung und Verhalten, 2015, S. 195.

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ganhaftung dadurch vorbeugen, dass man die Organmitglieder schlicht von der persönlichen Verantwortlichkeit freistellt, aber den Beschluss als solchen verwirft. Wieso wird also die Anwendung der Business Judgment Rule im Rahmen der Beschlusskontrolle stillschweigend angenommen? Der Grund liegt darin, dass die gängigen Ansätze, den Ermessensgedanken zu rechtfertigen, zu kurz greifen, weil sie die Auswirkungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – wie schon eingangs festgestellt – ausschließlich im Kontext der Organverantwortung reflektieren. Wer die Business Judgment Rule allein durch die haftungsrechtliche Brille liest, verkennt, dass das Ermessen einen umfassenden Schutz der Organautonomie vor gerichtlichem Zugriff bezweckt,57 die auch und gerade in der Situation ex ante erforderlich ist. Wenn es dem Gericht verwehrt ist, die Zweckmäßigkeit einer Organentscheidung in einem Schadensersatzprozess zu hinterfragen, muss dies erst recht gelten, wenn die Entscheidung noch keinerlei nachteilige Folgen ausgelöst hat und dennoch zum Gegenstand der richterlichen Kontrolle gemacht wurde. Anderenfalls wäre ein Gericht befugt, Maßnahmen zu korrigieren, die dem Ermessen der Verwaltungsorgane anheimgestellt sind. Deutlich wird das Zusammenspiel zwischen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und der gerichtlichen Inhaltskontrolle von Verwaltungsbeschlüssen am Beispiel der unternehmerischen Entscheidungen des Aufsichtsrats: Die Auswahl der Vorstandsmitglieder fällt nach einhelliger Ansicht in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule.58 Ist ein Aufsichtsratsmitglied mit der Personalentscheidung der Mehrheit nicht zufrieden, kann es gegen den Bestellungsbeschluss eine Feststellungsklage erheben  – ein Szenario, das zwar selten, aber nicht völlig praxisfern ist.59 In einem solchen Fall geht es weder um die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder wegen einer unglücklichen Vorstandsbesetzung noch um die Gefahr eines Rückschaufehlers. Dennoch liegt es auf der Hand, dass die Auswahlentscheidung des Aufsichtsrats in seinem unternehmerischen Ermessen liegt. Wollte man dem Bestellungsbeschluss den Schutz des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG versagen, würde man den Gerichten die Personalkompetenz auf der Vorstandsetage einräumen. Dieselben Überlegungen kann man anstellen, wenn ein überstimmtes Aufsichtsratsmitglied gegen einen Zustimmungsbeschluss klagt.60 Wurde dem Überwachungsorgan nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG ein Zustimmungsvorbehalt eingeräumt, nimmt er insoweit an der Leitung der Gesellschaft teil.61 Greift ein Kontrolleur den Zustimmungsbeschluss an, liegt der Sinn der Business Judgment Rule darin, die Leitungsautonomie des Aufsichtsrats vor einer engmaschigen richterlichen Inhaltskontrolle zu schützen. Etwaige Haftungsrisiken spielen zu diesem Zeitpunkt eine nachgeordnete Rolle. 57 Zutr. Nietsch, ZGR 2015, 631, 634 ff. S. auch Dreher, ZHR 158 (1994), 614, 619: Willensbildungsautonomie. 58 S. nur Lieder, ZGR 2018, 523, 534. Für unternehmerisches Ermessen OLG Düsseldorf v. 13.7.2015  – I-26 W 16/14, NZG 2015, 1115, 1117; OLG München v. 12.1.2017  – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 374. 59 Vgl. nur OLG München v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372. 60 Auch mit solchen Klagen mussten sich die Gerichte befassen, s. etwa BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 114 = NJW 1994, 520. 61 S. nur BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NJW 2018, 3574 Rz. 50; Cahn, WM 2013, 1293, 1294.

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IV. Anwendung der Business Judgment Rule auf Kollektiventscheidungen 1. Fokussierung der bisherigen Diskussion auf die Haftung der Organmitglieder Die vorstehenden rechtspolitischen Überlegungen sagen freilich noch nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen ein Organbeschluss im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegt. Erforderlich ist jedenfalls, dass der Beschlussgegenstand eine unternehmerische Entscheidung ist.62 Es fällt aber schwer, die weiteren Vorausset­ zungen der Privilegierung – also die Angemessenheit der Informationsgrundlage, das Handeln zum Wohl der Gesellschaft und die Unbefangenheit63 – im Rahmen der Beschlusskontrolle anzuwenden, weil der Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus der Perspektive des einzelnen Organmitglieds gefasst ist. Auch ein Blick in die Literatur hilft wenig, weil sich die meisten Stellungnahmen lediglich der Frage widmen, wie sich der Umstand, dass die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei einem Organmitglied nicht vorliegen, auf die übrigen Mitglieder auswirkt. Dieses Problem wurde bislang aus dem haftungsrechtlichen Blickwinkel in erster Linie im Zusammenhang mit Interessenkonflikten eines Organmitglieds aufgegriffen, wobei zwischen verdeckten und offenen Konflikten differenziert wird. Bei verdeckten Sonderinteressen nimmt ein Teil des Schrifttums im Anschluss an Marcus Lutter an, dass die übrigen Organmitglieder „infiziert“ werden.64 Diese Infizierungsthese lässt sich aber nicht mit dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vereinbaren, der auf die individuelle Perspektive des Organmitglieds abstellt. Deshalb ist mit der herrschenden Auffassung davon auszugehen, dass ein verborgener Interessenkonflikt eines ­Organmitglieds keine Auswirkungen auf die Privilegierung der anderen Mitglieder hat.65 Sind die Sonderinteressen jedoch bekannt, tendiert eine Ansicht zu einer Mehrheitsbetrachtung: Maßgeblich sei, ob die entscheidungstragende Mehrheit befangen oder in der Lage gewesen sei, frei von Sonderinteressen zu handeln.66 Die wohl herrschende Meinung steht auf dem Standpunkt, dass die Beteiligung des befangenen Or62 Zu den Problemen bei der Definition dieses unbestimmten Tatbestandsmerkmals Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 48 ff. 63 Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal ist weitgehend anerkannt, s. statt vieler Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 25. AA nur Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/ Lutter, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 19. 64 Grundlegend Lutter in FS Canaris II, 2007, S.  245, 248  f. Dem folgend etwa Heidel/U.  Schmidt, 4.  Aufl. 2014, §  93 AktG Rz.  94; Blasche, AG 2010, 692, 695; Scholderer, NZG 2012, 168, 175; Winnen, Die Innenhaftung des Vorstandes nach dem UMAG, 2009, S. 273 f. 65 Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 72b; Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 96; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 26; Bunz, NZG 2011, 1294, 1295; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 150; Lieder, ZGR 2018, 523, 573 f.; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727; C. Schäfer, ZGR 2014, 731, 746. 66 Grundlegend Paefgen, AG 2004, 245, 253; Paefgen, AG 2014, 554, 564; s. ferner Katsas, Die Inhaltskontrolle unternehmerischer Entscheidungen von Verbandsorganen im Spannungsfeld zwischen Ermessensfreiheit und Gesetzesbindung, 2006, S. 154 f.; Scholl, Vorstandshaf-

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ganmitglieds an der Entscheidungsfindung unschädlich ist.67 Dies überzeugt nicht, weil in einem solchen Fall keine Richtigkeitsvermutung hinsichtlich des Entscheidungsinhalts aufgestellt werden kann: Die kollegiale Verbundenheit innerhalb des Organs schafft ein Risiko, dass die an sich unbefangenen Organmitglieder dazu neigen, dem befangenen Kollegen einen Dienst zu erweisen. Deshalb können sie sich nur dann auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen, wenn das befangene Organmitglied weder an der Beratung noch an der Beschlussfassung teilnimmt.68 Ähnlich diffus ist das Meinungsbild hinsichtlich der Frage, wie sich die unzureichende Information eines Organmitglieds bei einer Kollektiventscheidung auf die übrigen Mitglieder auswirkt. Manche stellen darauf ab, ob die entscheidungstragende Mehrheit hinreichend informiert war.69 Andere schlagen vor, zwischen Einstimmigkeitsund Mehrheitsbeschlüssen zu differenzieren: Bei einem einstimmigen Beschluss schließe die unzureichende Information eines Vorstandsmitglieds die Business Judgment Rule für alle anderen Mitglieder aus. Bei einer Mehrheitsentscheidung sei die Informationsgrundlage der beschlusstragenden Mehrheit maßgeblich. Habe der Vorstand die Informationsbeschaffung an ein Mitglied delegiert, sei aber die Informationsgrundlage für den gesamten Vorstand unzureichend, wenn das verantwortliche Vorstandsmitglied nicht angemessen informiert gewesen sei.70 Im Hinblick auf die individuelle Perspektive des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist es vorzugswürdig, mit einer weiteren Auffassung darauf abzustellen, ob das einzelne Organmitglied vernünftigerweise davon ausgehen durfte,71 auf Grundlage angemessener Informationsgrundlage zu handeln.72

tung und Vorstandsermessen, 2015, S. 289; Winnen, Die Innenhaftung des Vorstandes nach dem UMAG, 2009, S. 276 f.; Kock/Dinkel, NZG 2004, 441, 444. 67 Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 72a; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 29; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 23 Rz. 29; Blasche, AG 2010, 692, 698 f.; Haarmann in FS Wegen, 2015, S. 423, 438 f.; Lieder, ZGR 2018, 523, 573 f. 68 In diese Richtung Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 14; Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 26; J. Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 415 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 64; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, Rz. 1526; Bunz, NZG 2011, 1294, 1296; Lutter in FS Canaris II, 2007, S. 245, 249 ff. 69 Paefgen, AG 2004, 244, 254 f. Ähnlich Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 279 ff. 70 So Scholl, Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 237 ff. Dem folgend Taube, Die Anwendung der Business Judgment Rule auf den GmbH-Geschäftsführer, 2018, S. 95. 71 Freilich ist das Merkmal „vernünftigerweise annehmen dürfen“ nach vorzugswürdiger Auffassung hinsichtlich der Informationsgrundlage anders zu verstehen als in Bezug auf das Gesellschaftswohl, s. nur Baur/Holle, AG 2017, 597, 599 ff. Für gleiches Verständnis und die damit einhergehende Anerkennung einer „informationsrechtlichen Business Judgment Rule“ aber Bunz, Der Schutz unternehmerischer Entscheidungen durch das Geschäftsleiter­ ermessen, 2011, S.  178  ff. („Business Judgment Rule innerhalb der Business Judgment Rule“); Freitag/Korch, ZIP 2012, 2281, 2282 ff. 72 Ausf. Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 722 ff.

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2. Meinungsstand und Fragestellung bei der Beschlusskontrolle Der Meinungsstand hinsichtlich der Beschlusskontrolle hat bislang keine vergleichbare Tiefe erreicht. Die Stellungnahmen zu den Auswirkungen der Interessenkonflikte und unzureichenden Informationsgrundlage auf den Beschluss sind vereinzelt geblieben. Nimmt ein befangenes Mitglied an der Entscheidung teil, wollen manche den Beschluss nicht durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schützen, weil in einem solchen Fall die prozeduralen Voraussetzungen nicht vorlägen, die den Gedanken der Richtigkeitsgewähr tragen würden.73 Andere bevorzugen eine Mehrheitsbetrachtung: Beteilige sich ein befangenes Organmitglied an der Beschlussfassung, sei der Beschluss wirksam, wenn er auch ohne die Stimme des befangenen Mitglieds mit der notwendigen Mehrheit zustande gekommen wäre.74 Was die Informationsgrundlage angeht, wird vereinzelt eine Mehrheitsbetrachtung vorgeschlagen: Die Business Judgment Rule greife ein, wenn die entscheidungstragende Mehrheit hinreichend informiert gewesen sei.75 Die Antwort auf die Frage, wie sich Befangenheit und unzureichende Informationsgrundlage einzelner Organmitglieder auf die Intensität der Beschlusskontrolle auswirken, fällt schwer, weil die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einen subjektiven Einschlag aufweisen. Maßgeblich ist, ob die einzelnen Organmitglieder vernünftigerweise davon ausgehen durften, auf einer angemessenen Informationsgrundlage zum Wohle der Gesellschaft zu handeln;76 auch die Befangenheit ist subjektiv gefärbt.77 Ein Beschluss kann aber weder von bestimmten Umständen ausgehen noch kann er befangen sein. Er ist ein rechtliches Produkt, das aus den Willensäußerungen mehrerer Personen entsteht, die über den erforderlichen Wissensstand verfügen oder nicht verfügen bzw. die befangen oder unbefangen sind. Um eine Verbindung zwischen der individuellen Perspektive des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und der Beschlusskontrolle herzustellen, ist von der Funktionsweise der Business Judgment Rule auszugehen: § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schützt Organentscheidungen, die unter optimalen prozeduralen Bedingungen zustande gekommen sind, vor einer engmaschigen gerichtlichen Inhaltskontrolle. Haben die Organmitglieder die Vorgaben der Entscheidungsprozedur beachtet, kann eine unwiderlegbare Vermu73 J. Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 413; J. Koch, ZGR 2014, 697, 709. 74 Hölters, 3. Aufl. 2017, § 93 AktG Rz. 38. Für eine Mehrheitsbetrachtung auch Paefgen, AG 2004, 245, 253; Paefgen, AG 2014, 554, 564 und Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 322 f., die aber nicht deutlich machen, ob sich ihre Ausführungen nur auf die einzelnen Mitglieder oder auch auf den Beschluss beziehen. Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 94 stellen ebenfalls auf die Stimmen unbefangener Mitglieder ab, betonen aber, dass die Beteiligung des befangenen Mitglieds am Entscheidungsprozess zur Nichtigkeit des Beschlusses führen kann, auch wenn sich das Mitglied enthalten hat. 75 Paefgen, AG 2004, 244, 254 f. 76 Zur Auslegung des Merkmals „vernünftigerweise annehmen dürfen“ s. Fn. 71. 77 Nach richtiger Auffassung ist die BJR nur dann ausgeschlossen, wenn die Organmitglieder den Sachverhalt kennen, der die Befangenheit begründet, vgl. J. Koch, ZGR 2014, 697, 703 f. Für einen objektiven Konfliktbegriff aber Hopt/M. Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 93.

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tung dahingehend aufgestellt werden, dass die Entscheidung dem Gesellschaftswohl entspricht.78 Dieser Gedanke, der mit dem griffigen wie missverständlichen Begriff der Richtigkeitsgewähr etikettiert wird,79 kann auch im Kontext der Beschlusskontrolle aufgegriffen werden: Ein Organbeschluss liegt im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, wenn er in einem einwandfreien Entscheidungsverfahren gefasst wurde. 3. Interessenkonflikte Ein Entscheidungsverfahren ist jedenfalls dann nicht optimal, wenn ein befangenes Organmitglied an der Beratung oder Abstimmung teilgenommen hat. Dagegen könnte man einwenden, dass eine Situation denkbar ist, in der das befangene Organmitglied als treuer Diener der Gesellschaft im Rahmen der Entscheidungsfindung seine Sonderinteressen um des Gesellschaftswohls willen zurückstellt. Auch ist es gewiss denkbar, dass der Befangene die anderen Organmitglieder zwar in seinem Sinne steuern will, die Mehrheit sich aber nicht darauf einlässt und allein das Unternehmensinteresse verfolgt. Diese positiven Szenarien sind dennoch nicht maßgeblich. Ausschlaggebend ist vielmehr das Risiko, dass das Gremium auf die geschickte Argumentation des schwarzen Schafs hereinfällt und (möglicherweise ungewollt) die Sonderinteressen des einzelnen Mitglieds statt das Gesellschaftswohl fördert. Die hypothetischen Konstellationen sind so vielfältig, dass keine Vermutung dahingehend aufgestellt werden kann, dass der Beschluss dem Gesellschaftswohl entspricht. Der böse Schein gebietet eine intensivere Beschlusskontrolle als im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.80 Aus diesem Grund kann der Vorstand im Beispielsfall unter II 3 den Beschluss über die Vergabe des günstigen Kredits an den Lebensgefährten der Vorstandsvorsitzenden nicht mit dem Argument verteidigen, es handele sich um eine unternehmerische Entscheidung, die im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liege. Die enge persönliche Verbindung zwischen der Vorsitzenden und dem Kreditnehmer gebietet eine intensivere gerichtliche Kontrolle, um das Gesellschaftsvermögen vor unsorgfältigem Geschäftsleiterhandeln zu schützen. 4. Informationsbeschaffung und Beschlusskontrolle Schwieriger ist es, die Auswirkungen der unzureichenden Informationsbeschaffung durch einzelne Organmitglieder auf die Beschlusskontrolle zu vermessen. Die Argumentation, die im Zusammenhang mit den Sonderinteressen aufgegriffen wurde, 78 Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 9. 79 Der Begriff der Richtigkeitsgewähr ist missverständlich, weil er suggeriert, dass eine optimale Entscheidungsprozedur zu einem optimalen Entscheidungsinhalt führt. Dies ist freilich nicht der Fall – auch gut vorbereitete Entscheidungen können sich als falsch erweisen. Deshalb trifft es eher zu, von einer Richtigkeitsvermutung oder Richtigkeitschance zu sprechen; zur Begriffskritik im vertraglichen Kontext s. etwa Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, S.  161; M. Wolf, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, 1970, S. 73 f. 80 S. dazu noch unter IV 5.

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v­ erfängt hier nicht: Darf ein Organmitglied nicht vernünftigerweise annehmen, auf Grundlage angemessener Informationen abzustimmen, und beteiligt es sich dennoch an der Beschlussfassung, ist das Risiko gering, dass es die informierten Mitglieder allein wegen fehlender Vorbereitung zu einer Entscheidung verleitet, die dem Ge­ sellschaftswohl zuwiderläuft. Im Gegenteil: Es liegt näher, dass die vorbereiteten Organmitglieder die Wissenslücken des nachlässigen Kollegen in der Diskussion füllen. Anders als in Fällen eines Interessenkonflikts entsteht kein böser Schein, der der Richtigkeitsvermutung von vornherein den Boden entzieht. Dennoch kann es vorkommen, dass die unzureichende Information einzelner Organmitglieder die Entscheidungsprozedur derart stört, dass eine Entscheidung zum Wohle der Gesellschaft nicht ohne weiteres vermutet werden kann. Dies ist zunächst der Fall, wenn ein Organ einen einstimmigen Beschluss fassen muss, so wie es etwa der gesetzlichen Grundregel in § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG entspricht.81 In einer solchen Situation kann nicht ausgeschlossen werden, dass das unvorbereitete Organmitglied anders abgestimmt hätte, wenn es sich über die Entscheidungsgrundlagen im Klaren gewesen wäre.82 Bereits diese Möglichkeit steht einer Richtigkeitsvermutung entgegen; § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG greift nicht ein. Komplizierter ist die Lage bei einem Mehrheitsbeschluss.83 In einem solchen Fall bietet es sich an, danach zu differenzieren, wie die Beschlussfassung vorbereitet wird. Ist ein ausgewähltes Organmitglied oder ein Ausschuss für die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen zuständig, üben die „Berichterstatter“84 einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung des Gremiums aus. Dürfen sie nicht von einer angemessenen Informationsgrundlage ausgehen, beruht die Abstimmung im Plenum auf einer lückenhaften Grundlage und der Beschluss liegt nicht im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.85 Sind alle Organmitglieder zur Vorbereitung der Beschlussgrundlagen berufen, wirkt sich die unzureichende Informationsgrundlage eines einzelnen Mitglieds nicht immer gleichermaßen stark auf das Beschlussergebnis aus: Besteht das Organ aus neun Mitgliedern, wovon acht informiert sind und eins nicht, und stimmen sechs informierte Mitglieder für den Antrag, liegt es auf der Hand, dass die Stimme des unvorbereiteten Mitglieds für das Ergebnis irrelevant ist; die Business Judgment Rule ist

81 Zum Einstimmigkeitsprinzip im Vorstandsrecht s. nur Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 77 AktG Rz. 6. 82 Zutr. Scholl, Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 238 (zur Haftungssituation). 83 Dies ist der (ungeschriebene) Regelfall für die Aufsichtsratsbeschlüsse (s. nur Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 108 AktG Rz. 30). Überdies erlaubt § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG Mehrheitsbeschlüsse des Vorstands, vgl. statt vieler Hüffer/J. Koch, 13.  Aufl. 2018, § 77 AktG Rz. 9 ff. 84 Diese treffende Bezeichnung verwenden im Kontext der BJR Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 722 f. 85 Vgl. Scholl, Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 239 f. (zur Haftungssituation).

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deshalb nicht ausgeschlossen.86 Will man eine allgemeine Regel aufstellen, bietet es sich an, konsequent dem Mehrheitsprinzip zu folgen. So hat Walter G. Paefgen vorgeschlagen, §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG auf den Mehrheitsbeschluss dann anzuwenden, wenn die für das Zustandekommen der Entscheidung erforderliche Anzahl von Vorstandsmitgliedern annehmen darf, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln.87 Dieser Vorschlag geht in die richtige Richtung, ist aber zu unpräzise formuliert. Er könnte dahingehend verstanden werden, dass §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG bei einem neunköpfigen Organ bereits dann eingreift, wenn fünf Mitglieder davon ausgehen dürfen, hinreichend informiert zu sein. Nach dieser Deutung würde der Beschluss im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegen, wenn er mit den Stimmen eines informierten und der vier uninformierten Mitglieder und gegen die Stimmen der vier informierten Mitglieder zustande gekommen wäre: Die für das Zustandekommen der Entscheidung erforderliche Anzahl der Organmitglieder  – fünf  – darf ja von einer angemessenen Informationsgrundlage ausgehen. Es leuchtet aber nicht ein, wieso ein Beschluss durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt sein soll, obwohl sich die deutliche Mehrheit der informierten Mitglieder gegen den Antrag ausgesprochen hat. Um solche Wertungswidersprüche zu vermeiden, darf das Abstimmungsverhalten der angemessen informierten Mitglieder nicht ausgeblendet werden. Die Formel Paefgens ist zu präzisieren: Der Beschluss kommt lediglich dann in einem optimalen Verfahren zustande, wenn die informierten Mitglieder, die das Beschlussergebnis tragen, die erforderliche Mehrheit stellen.88 Nur unter dieser Bedingung ist gesichert, dass die uninformierten Mitglieder keinen Einfluss auf die kollektive Willensbildung haben können. In einem neunköpfigen Organ müssen also mindestens fünf Mitglieder (kumulativ) angemessen informiert sein und für den Antrag abstimmen, damit der Beschluss im sicheren Hafen liegt. Sprechen sich vier informierte und zwei un­ vorbereitete Mitglieder für den Antrag aus, kommt zwar ein (positiver) Beschluss zustande, der aber auf einem wackeligen prozeduralen Fundament steht: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die unvorbereiteten Mitglieder auf einer angemessenen Informationsgrundlage anders abgestimmt hätten. In einem solchen Fall darf nicht vermutet werden, dass die Kollegialentscheidung inhaltlich richtig ist. Kehrt man im Lichte dieser Erkenntnisse zum Beispielsfall unter II 3 zurück, kann der Aufsichtsrat den Zustimmungsbeschluss zum Kreditvertrag mit dem Lebensgefährten der Vorstandsvorsitzenden nicht mit Hilfe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verteidigen, da die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder nicht angemessenen informiert war.

86 Zutr. Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 281; Paefgen, AG 2004, 244, 255. 87 Paefgen, AG 2004, 244, 255 und 261. 88 In ähnliche Richtung im Haftungskontext Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 280 ff.; Scholl, Vorstandshaftung und Vorstandsermessen, 2015, S. 238 f.

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Inhaltsfehler und unternehmerisches Ermessen bei Beschlüssen

5. Intensität der gerichtlichen Beschlusskontrolle Sind die unter IV 3 und 4 herausgearbeiteten Voraussetzungen erfüllt, beschränkt sich die Beschlusskontrolle auf die Frage, ob der Entscheidungsinhalt völlig unverantwortlich ist. Darin liegt die Privilegierung der Business Judgment Rule, die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in der Formulierung „vernünftigerweise annehmen dürfen, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ verankert ist.89 Das Gericht ist nicht befugt, an Stelle der Organmitglieder das Gesellschaftswohl zu definieren, sondern es darf den Beschluss lediglich einer inhaltlichen Evidenzkontrolle unterwerfen. Der Beschluss ist nur dann nichtig, wenn sein Inhalt mit dem Gesellschaftswohl evident nicht im Einklang steht. Mit anderen Worten: Ein Inhaltsfehler liegt erst bei einer „Überschreitung der Ermessensgrenzen“ vor.90 Freilich ist die Nichtigkeit des Beschlusses nicht schon dann anzunehmen, wenn die prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht vorliegen: Beteiligt sich ein befangenes Mitglied an der Entscheidungsfindung oder sind die Anforderungen an die Entscheidungsvorbereitung nicht erfüllt, entfällt lediglich die Grundlage für die Richtigkeitsvermutung und das Gericht kann sich eingehender mit der Frage auseinandersetzen, ob der Beschluss dem Gesellschaftswohl entspricht.91

V. Thesen Die vorstehenden Überlegungen führen zu folgenden Thesen: 1. Ein Verwaltungsbeschluss ist wegen eines Inhaltsfehlers nichtig, wenn das Organ einen Beschluss fasst, der gegen eine ausdrückliche gesetzliche Vorgabe verstößt, die an das Gesamtorgan gerichtet ist. Die Nichtigkeit kann man über § 134 BGB oder mit dem Legalitätsprinzip begründen. Außerdem ist der Beschluss nichtig, wenn sein Inhalt dem Gesellschaftswohl zuwiderläuft. Maßgeblich ist, ob sich ein Organmitglied pflichtwidrig verhalten hätte, wenn es eine individuelle Entscheidung getroffen hätte, die dem Beschlussinhalt entspricht. 2. Die Business Judgment Rule ist nicht nur ein haftungsrechtliches Instrument, sondern sie schützt den Verwaltungsbeschluss vor einer engmaschigen gerichtlichen Inhaltskontrolle. Sind die Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, sind die Gerichte lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle des Beschlusses befugt. Der Beschluss ist nur dann fehlerhaft, wenn er evident nicht mit dem Gesellschaftswohl zu vereinbaren ist. In einem solchen Fall überschreiten die Organe die Ermessensgrenzen. Sind die prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht erfüllt, ist der Beschluss nicht automatisch nichtig, sondern er unterliegt einer intensiveren richterlichen Inhaltskontrolle. 89 Hüffer/J. Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 23. 90 S. die Nachw. in Fn. 39. 91 So für die unzureichende Information OLG München v. 12.1.2017  – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372, 375.

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3. Der Beschluss liegt nicht im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, wenn ein befangenes Organmitglied an der Beratung oder Abstimmung teilnimmt. In einem solchen Fall fehlt die Grundlage für eine Richtigkeitsvermutung. 4. Wird der Beschluss nach dem Einstimmigkeitsprinzip gefasst, greift §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG schon dann nicht ein, wenn nur ein Organmitglied nicht vernünftigerweise annehmen darf, auf Grundlage angemessener Information abzustimmen. Bei einem Mehrheitsbeschluss kommt es auf die Art und Weise der Beschlussvorbereitung an: Bereitet ein Organmitglied oder ein Ausschuss die Entscheidung vor, kommt es auf den Informationsstand des „Berichterstatters“ an. Sind alle Organmitglieder zur Vorbereitung der Entscheidungsgrundlagen berufen, hängt die Anwendung der Business Judgment Rule davon ab, ob die informierten Mitglieder, die das Beschluss­ ergebnis tragen, die erforderliche Mehrheit stellen.

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Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und ­Eigengeschäfte des Vorstands der AG – Das Verhältnis von § 181 BGB zu § 112 AktG – Inhaltsübersicht I. Problemaufriss II. Schnittmenge und Differenz der ­Vorschriften 1. Sachverhalte im Anwendungsbereich von § 112 AktG und § 181, 1. Variante BGB 2. Sachverhalte im Anwendungsbereich von § 112 AktG, die nicht unter § 181 BGB fallen

3. Sachverhalte, die in den Anwendungs­ bereich von § 181 BGB, nicht jedoch ­unter § 112 AktG fallen III. Das systematische Verhältnis von § 181 BGB und § 112 AktG IV. Zusammenfassung

Das besondere Interesse Eberhard Vetters gilt seit jeher aktienrechtlichen Themen. Seien es Beiträge zum Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsrecht, zu Fragen der Hauptversammlung oder zum Corporate Governance Kodex, stets wusste Eberhard Vetter mit wohl durchdachten und glänzend formulierten Beiträgen ein gewichtiges Wort in der Diskussion mitzusprechen. In diesen Bereichen gab es viele Berührungspunkte zwischen der Tätigkeit Eberhard Vetters und der notariellen Praxis. Stets war und ist es ein besonderes Vergnügen, aktienrechtliche Themen gemeinsam mit Eberhard Vetter anzugehen und mit seiner Hilfe einer gleichermaßen wohl durchdachten wie praxisgerechten Lösung zuzuführen. In der notariellen aktienrechtlichen Praxis sieht sich der Notar nicht selten vor sehr schwierige Fragen im Anwendungsbereich von §  181  BGB und 112  AktG gestellt. Deren Konkurrenzverhältnis zueinander und die Abgrenzung ihrer Anwendungsbereiche sind in der Literatur bislang ein wenig stiefmütterlich behandelt worden.

I. Problemaufriss § 112 AktG bestimmt, dass die Aktiengesellschaft Vorstandsmitgliedern gegenüber gerichtlich und außergerichtlich durch den Aufsichtsrat der Gesellschaft vertreten wird. Bezweckt ist, eine unbefangene Wahrung der Gesellschaftsbelange sicherzustellen, weil die Besorgnis bestehen kann, dass der Vorstand als regelmäßiges Vertretungsorgan i.S.v. § 78 AktG die erforderliche Unbefangenheit nicht aufbringt, wenn einzelne seiner Mitglieder an dem in Rede stehenden Rechtsverhältnis selbst beteiligt 233

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sind.1 § 112 AktG bezweckt also einen Schutz der Gesellschaft vor einer Gefährdung ihrer Interessen.2 Wegen ihres Schutznormcharakters ist die Norm zwingend.3 Die Satzung kann demzufolge die Zuständigkeit des Aufsichtsrats weder ausschließen noch einschränken und kann die dem Aufsichtsrat übertragene organschaftliche Vertretungsmacht auch nicht auf einen Ausschuss oder auf ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied übertragen.4 Möglich ist es demgegenüber, den Aufsichtsratsvorsitzenden zur Kundgabe des vom Aufsichtsrat gebildeten Willens zu ermächtigen.5 Wichtig bleibt es in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Willensbildung durch den Aufsichtsrat selbst im hierfür vorgesehenen Verfahren, also in der Regel durch Beschluss des Aufsichtsrats, zustande kommt. Der Aufsichtsratsvorsitzende kann nur dazu berufen werden, den ordnungsgemäß gebildeten Willen des Aufsichtsrats zu verlautbaren. Auch § 181 AktG beruht auf der Erwägung, dass eine unbefangene Wahrnehmung der Interessen eines Vertretenen (abstrakt) gefährdet erscheint, wenn der Vertreter zugleich eigene Interessen wahrzunehmen hat (Insichgeschäft, §  181,  1.  Variante BGB) oder zugleich die Interessen einer anderen von ihm vertretenen Person berücksichtigen muss (Mehrfachvertretung, § 181, 2. Variante BGB). Ein erster Unterschied zwischen §  181  BGB und §  112  AktG zeigt sich aber bereits darin, dass § 181 BGB als Vorschrift des allgemeinen bürgerlichen Rechts insoweit zur Disposition des Vertretenen steht, als dieser sich mit der möglichen Interessenkollision einverstanden erklärt und das Insichgeschäft oder die Mehrfachvertretung gestattet. Im Anwendungsbereich des § 112 AktG wäre eine solche Gestattung durch die AG, z. B. indem der Aufsichtsrat sich mit der Vertretung durch den Vorstand einverstanden erklärte, nicht wirksam. In ihrem Anwendungsbereich beschränkt die Vorschrift nämlich zwingend die organschaftliche Vertretungsmacht für die Gesellschaft und beinhaltet eine abschließende Entscheidungsbefugnis des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand in den vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfassten Sachverhalten.6 Sie ist damit – selbstverständlich – auch dann anwendbar, wenn der Vorstand von den Beschränkungen des § 181 BGB im Einzelfall oder generell befreit ist. Vor dem Hintergrund der so dargestellten Anwendungsbereiche der beiden Vorschriften entspricht es wohl allgemeiner Auffassung, dass §  112  AktG in seinem ­Anwendungsbereich § 181 BGB mit der dort vorgesehenen Gestattungsmöglichkeit vorgeht und eine Gestattung – entweder durch die Satzung allgemein oder durch Beschluss des Aufsichtsrats im Einzelfall – ausschließt. Konkret wird formuliert, dass § 112 AktG generell einer Befreiung des Vorstands von den Beschränkungen den § 181, 1. Variante BGB entgegensteht7 und für eine Anwendung des § 181 BGB bei Selbst-

1 BGH v. 8.2.1988 – II ZR 159/87, BGHZ 103, 213, 216; BGH v. 26.6.1995 – II ZR 122/94, BGHZ 130, 108, 111; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 112 AktG Rz. 1. 2 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 112 AktG Rz. 1. 3 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 3. 4 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 3. 5 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 3. 6 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 2. 7 So ausdrücklich Krafka/Kühn, Registerrecht, 10. Aufl. 2017, Rz. 1301.

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Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und Eigengeschäfte des Vorstands der AG

kontrahierungsgeschäften kein Raum ist.8 Diese Thesen vom zwingenden Vorrang des § 112 AktG und von dessen Verdrängungswirkung gegenüber § 181, 1. Variante BGB erweist sich bei näherem Hinsehen als nicht durchgehend überzeugend.

II. Schnittmenge und Differenz der Vorschriften Um die These, § 112 AktG verdränge § 181, 1. Variante BGB und stehe insbesondere einer Befreiung des Vorstands von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB grundsätzlich entgegen, überprüfen zu können, ist es erforderlich, sich zunächst Klarheit über den Anwendungsbereich beider Vorschriften zu verschaffen und mögliche Schnitt- und Differenzmengen zu definieren. Hierzu sollen Fallgruppen untersucht werden, die in den Anwendungsbereich der einen, der anderen oder beider Vorschriften fallen. 1. Sachverhalte im Anwendungsbereich von § 112 AktG und § 181, 1.  Variante BGB Sachverhalte, die in den Anwendungsbereich beider Vorschriften fallen, sind leicht vorzustellen und in der Praxis nicht selten: Ein Mitglied des Vorstands der AG soll der Gesellschaft Geld leihen und daher einen Darlehensvertrag mit ihr schließen. Es liegt auf der Hand und ist offenkundig, dass ein solcher Vertragsschluss –– sowohl ein Vertrag der AG mit einem Vorstandsmitglied ist und daher klar und eindeutig in den Anwendungsbereich von § 112 Akt fällt, –– als auch ein Insichgeschäft darstellt, welches in den Anwendungsbereich von § 181, 1. Variante BGB fällt, weil der Vorstand, verträte er die AG, zugleich in deren Namen und im eigenen Namen handelte. Den Verstoß gegen § 181, 1. Variante BGB könnte man in der Weise verhindern, dass die AG beim Abschluss des Darlehensvertrages nicht durch den darlehnsgewährenden Vorstand, sondern durch ein anderes Vorstandsmitglied (oder im Falle der Gesamtvertretung durch zwei andere Vorstandsmitglieder) vertreten wird. Da der Sachverhalt indes auch im Anwendungsbereich von § 112 AktG liegt, wäre hiermit nichts gewonnen: der Vorstand – und damit jedes Vorstandsmitglied – ist im genannten Fall von der Vertretung der AG ausgeschlossen und diese ist durch den Aufsichtsrat wahrzunehmen. Durch die Wahrnehmung der Vertretungsbefugnisse durch den Aufsichtsrat ist damit zugleich auch § 181, 1. Variante BGB umschifft: Die Einschaltung des Aufsichtsrates als Vertretungsorgan verhindert von vorneherein, dass das darlehensgewährende Vorstandsmitglied auch für die Gesellschaft handelt, so dass weder ein Insichgeschäft noch ein Fall der Mehrfachvertretung vorliegt.

8 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 78 Rz. 121.

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2. Sachverhalte im Anwendungsbereich von § 112 AktG, die nicht unter § 181 BGB fallen Leicht vorstellbar sind auch Sachverhaltskonstellationen, in denen ein Sachverhalt unter § 112 AktG fällt, jedoch weder ein Insichgeschäft noch ein Fall der Mehrfachvertretung i.S.v. § 181 BGB vorliegt. Die AG, vertreten durch den einzelvertretungsberechtigten Vorstand  A, möchte einen Mietvertrag über ein im Eigentum des Vorstands B stehendes Gebäude mit diesem abschließen. Es liegt auf der Hand, dass im dargestellten Sachverhalt weder ein Insichgeschäft i.S.v. § 181, 1. Variante BGB noch ein Fall der Mehrfachvertretung i.S.v. § 181, 2. Variante BGB vorliegt: Vorstand B, der für die AG handelt, kontrahiert weder mit sich selbst noch ist er zugleich Vertreter eines Dritten. Genauso offenkundig ist es, dass der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des § 112 AktG fällt und damit dessen Voraussetzungen eingehalten werden müssen: Die AG kann beim Abschluss des Mietvertrages nur durch den Aufsichtsrat vertreten werden. Eine Gestattung – wie im Anwendungsbereich des § 181 BGB vorgesehen – an den Vorstand und damit Entäußerung seiner Vertretungsbefugnisse durch den Aufsichtsrat kommt nicht in Betracht. 3. Sachverhalte, die in den Anwendungsbereich von § 181 BGB, nicht jedoch unter § 112 AktG fallen Schließlich existiert eine dritte Gruppe von Sachverhalten, bei deren rechtlicher Gestaltung den Anforderungen des §  181  BGB Rechnung getragen werden muss, die aber nicht in den Anwendungsbereich des § 112 AktG fallen. Zum Abschluss eines mehrseitigen Beteiligungsvertrages, an dem auch die AG beteiligt ist, erteilt die AG, vertreten durch die Vorstandsmitglieder Müller und Meier, eine Vollmacht an den Bevollmächtigten B, der seinerseits am Beteiligungsvertrag auch im eigenen Namen beteiligt ist. Ein Mitglied des Vorstands der AG ist im eigenen Namen nicht am Abschluss dieses Beteiligungsvertrags beteiligt. Es bedarf kaum näherer Begründung, dass der beschriebene Sachverhalt fern des Anwendungsbereichs von § 112 AktG liegt: B, der die AG als Bevollmächtigter vertritt, ist zwar am Abschluss des Beteiligungsvertrages beteiligt, nicht jedoch Vorstand der AG. Genauso zweifelsfrei ist es, dass § 181, 1. Variante BGB einschlägig ist. B handelt nämlich sowohl im eigenen Namen als auch zugleich im Namen der ihn bevollmächtigenden AG. Rechtlich kann B den Vertrag (für sich und die AG) demzufolge wirksam nur abschließen, wenn er seitens der AG wirksam von § 181, 1. Variante BGB befreit werden konnte. Folgt man indes dem Dogma, dass § 112 AktG generell einen Rückgriff auf § 181, 1. Variante BGB – mit der darin vorgesehenen Gestattungsmöglichkeit – ausschließe, kann eine wirksame Vertretung durch B, der zugleich im eigenen Namen handelt, nicht stattfinden.

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Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und Eigengeschäfte des Vorstands der AG

In der Praxis löst auch der folgende Fall nicht selten Erstaunen und geradezu Befremden bei der AG und deren Organen aus: Die AG, vertreten durch ihren Vorstand, gründet eine Tochter-GmbH, zu deren Geschäftsführer eines der Vorstandsmitglieder der AG bestellt werden soll. Das LG Berlin und ihm folgende Stimmen der Literatur waren zum beschriebenen Sachverhalt der Auffassung, die Bestellung des Vorstands einer AG zum Geschäftsführer einer Tochter-GmbH sei ein Rechtsgeschäft der AG mit dem Vorstand, das im Anwendungsbereich des § 112 AktG liege. Infolgedessen müsse die AG im Rahmen des Gründungsvorgangs zum Teil vom Aufsichtsrat vertreten werden, nämlich insoweit als die Geschäftsführerbestellung in Rede steht.9 Es lässt sich leicht vorstellen, dass diese Entscheidung in der Praxis zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten und zu nicht geringem Unverständnis der Beteiligten geführt hat, weil häufig kein Verständnis dafür vorhanden war, dass mit einem derartigen Standardvorgang der (mitunter vielköpfige) Aufsichtsrat der AG befasst werden müsse. Die Entscheidung hat demzufolge und richtigerweise auch keine Anhängerschaft in der obergerichtlichen Rechtsprechung gefunden. Das OLG München führt zutreffend aus, dass die Geschäftsführerbestellung allein den Bereich der körperschaftlichen Willensbildung betreffe, nicht jedoch ein Rechtsgeschäft zwischen der Gesellschaft und einem Vorstandsmitglied sei.10 Mit anderen Worten: die Geschäftsführerbestellung betrifft allein den Bereich der körperschaftlichen Willensbildung und ausschließlich die Rechtsbeziehungen zwischen der Tochtergesellschaft und dem berufenen Geschäftsführer, nicht jedoch eine Rechtsbeziehung zwischen der AG und ihrem Vorstand.11 Die Praxis scheint mittlerweile dieser Rechtsauffassung zu folgen und von einer Vertretungsbefugnis des Vorstands (also nicht des Aufsichtsrats) im beschriebenen Sachverhalt auszugehen. Steht auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung fest, dass ein Anwendungsfall des § 112 AktG nicht vorliegt, bleibt zu erörtern, ob § 181 BGB anwendbar ist. Geht man insoweit mit der herrschenden Meinung davon aus, dass der Geschäftsführer/Vorstand einer Gesellschaft, der sich selbst zum Organ einer Tochtergesellschaft bestellt, selbst betroffen ist und diese Fälle der Selbstbetroffenheit in analoger Anwendung der 1.  Variante von §  181  BGB unterfallen,12 dürfte für den vorstehend beschriebenen Sachverhalt nichts anderes gelten und ein Fall des § 181, 1. Variante BGB vorliegen. Auch das OLG München hat in seiner die Anwendung des § 112 AktG ablehnenden Entscheidung ausdrücklich offengelassen und erwogen, ob ein Fall des §  181  BGB

9 LG Berlin v. 18.12.1996 – 98 T 79/96, NJW-RR 1997, 1534, 1535; zustimmend BayObLG v. 17.11.2000 – 3Z BR 271/00, GmbHR 2001, 72; Melchior, Rechtspfleger 1997, 505, 508. 10 OLG  München v. 8.5.2012  – 31 Wx 69/12, NZG  2012, 710; zustimmend Habersack in Münch­Komm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  112 AktG Rz.  107; Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, § 112 AktG Rz. 6. 11 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 23. 12 Vgl. hierzu BGH v. 24.9.1990 – II ZR 167/89, BGHZ 112, 339; BayObLG v. 17.11.2000 – 3Z BR 271/00, DNotZ 2001, 887; Krafka/Kühn, Registerrecht, 10. Aufl. 2017, Rz. 1097; DNotI-­ Report 2012, 189, 190 sowie Cramer, NZG 2005, 765, 768.

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vorliege.13 Auf der Grundlage dieser Auffassungen, dass nämlich ein Anwendungsfall von § 112 AktG nicht vorliegt (so das OLG München), § 181, 1. Variante BGB allerdings einschlägig ist, wurde damit eine Sachverhaltskonstellation gefunden, bei der die eine Norm (§ 112 AktG) nicht anwendbar ist, während die andere Norm (§ 181, 1. Variante BGB) einschlägig ist.

III. Das systematische Verhältnis von § 181 BGB und § 112 AktG Vor dem Hintergrund der dargestellten Beispiele steht fest, dass es zwar durchaus tatsächliche Schnittmengen im Anwendungsbereich von § 181, 1. Variante BGB und § 112 AktG gibt, die Anwendbarkeit der einen Vorschrift – etwa des § 112 AktG – indes keineswegs bedeutet, dass auch der Anwendungsbereich der anderen Vorschrift – etwa des § 181, 1. Variante BGB – eröffnet oder von vorneherein verschlossen ist. Die Anwendbarkeit jeder der beiden Vorschriften auf einen gegebenen Sachverhalt ist eigenständig zu prüfen und der Umstand, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Norm erfüllt sind, bedeutet nicht und ist auch kein Präjudiz dafür, dass der Sachverhalt auch der anderen der beiden Normen zu subsumieren ist. Es ist also nicht so, dass sich die Anwendungsbereiche beider Vorschriften decken oder in dem Sinne überlagern, dass im Falle der Anwendbarkeit einer Norm auch die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweils anderen Norm erfüllt sind. Insoweit kann von einer Normenkonkurrenz oder gar einer Spezialität der einen Norm gegenüber der anderen nicht die Rede sein. Auch die Normzwecke von § 181 BGB einerseits und § 112 AktG andererseits unterscheiden sich: 1. § 112 AktG beschränkt die organschaftliche Vertretungsmacht des Vorstands und verlagert diese für einen Teilbereich auf den Aufsichtsrat, weil die Gesellschaft vor möglichen Befangenheiten innerhalb des Vorstandskollegiums geschützt werden soll und weil dem Aufsichtsrat eine abschließende Entscheidungsbefugnis gegenüber dem Vorstand in Angelegenheiten zwischen Vorstand und Gesellschaft ein­ geräumt werden soll.14 Die allgemeine Kompetenzordnung innerhalb der Aktiengesellschaft wird punktuell durchbrochen, um einen zulasten der Gesellschaft gehenden potentiellen Interessenkonflikt zu vermeiden.15 Im Anwendungsbereich des § 112 AktG ist wegen der Gefahr dieses Interessenkonflikts das gesamte Vorstandskollegium und jedes einzelne Vorstandsmitglied von der Vertretung der ­Gesellschaft ausgeschlossen, während § 181 BGB lediglich das jeweils betroffene Vorstandsmitglied vor dem Hintergrund von dessen möglicher individueller Befangenheit von der Vertretung ausschließt.16 Auf eine konkrete Gefährdung der Gesellschaftsbelange kommt es im Interesse der Rechtssicherheit nicht an.17 Der auf den Schutz vor einer abstrakten Gefährdung der Gesellschaftsinteressen zielen13 Im konkreten vom OLG München zu beurteilenden Sachverhalt kam es hierauf nicht an, weil eine Gestattung i.S.v. § 181 BGB, ausgesprochen durch den Aufsichtsrat, vorlag. 14 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 2. 15 OLG München v. 8.5.2012 − 31 Wx 69/12, DB 2012, 1143; Schemmann, NZG 2008, 89, 92. 16 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 2. 17 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 1.

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Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und Eigengeschäfte des Vorstands der AG

de und damit eine typisierende Betrachtungsweise gebietende Normzweck des § 112 AktG knüpft an die Wahrnehmung der Funktion als Vorstandsmitglied an und verschafft der Vorschrift so einen weiten Anwendungsbereich und führt zu ihrer Anwendung auch gegenüber ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern,18 die nach § 181 BGB – weil sie eine Vertretung der Gesellschaft nach Erlöschen ihres Amtes nicht mehr wahrnehmen können – nicht von einer Vertretung ausgeschlossen wären. Der Grund für den Ausschluss des gesamten Vorstands von der Vertretung der Gesellschaft liegt also darin, dass eine Person, die bei der Gesellschaft die gleiche Funktion ausübt wie das vertragsschließende Vorstandsmitglied, die Gesellschaft bei diesem Vertragsschluss nicht vertreten soll. Die Anknüpfung des § 112 AktG ist damit funktionell-materiell. 2. Auch § 181 BGB beabsichtigt, den Vertretenen vor den Gefahren zu schützen, die sich aus einer möglichen Interessenkollision ergeben. Beim Insichgeschäft steht der Vertreter notwendig auf beiden Seiten des Rechtsgeschäfts, so dass eine unbeeinflusste Willensbildung gefährdet erscheint. Der Vertreter muss nämlich sowohl die Interessen des Vertretenen als auch seine eigenen Interessen bzw. – im Fall der Mehrvertretung – die des anderen Vertretenen wahrnehmen. Vor dem sich hieraus ergebenden Interessenkonflikt soll sowohl der Vertreter als auch der Vertretene geschützt werden.19 Anders als § 112 AktG wirkt § 181 BGB allerdings rein formal: Die Vorschrift setzt voraus, dass die als Vertreter für den Vertretenen auftretende Person entweder zugleich im eigenen Namen oder als Vertreter eines Dritten ­handelt. Der Vertreter muss also an dem in Rede stehenden Rechtsgeschäft in der so beschriebenen Doppelrolle teilnehmen. Diese  – für die Anwendbarkeit des § 181 BGB erforderliche – Doppelrolle fehlt beispielsweise, wenn eine Aktiengesellschaft, vertreten durch den Vorstand A, einen Vertrag mit dem Vorstand B der Aktiengesellschaft schließt. Die Vertretung der Gesellschaft durch Vorstand  A würde durch § 181 BGB nicht verhindert und es bedarf insoweit der weiter gefassten Vorschrift des § 112 AktG, welche generell und ohne dass die vertretende Person eine Doppelrolle der beschriebenen Art annimmt, den Vorstand als Kollegial­ organ von der Vertretung der Gesellschaft ausschließt. Während § 181 BGB also formal anknüpft und danach fragt, ob der Vertreter eine Doppelrolle der beschriebenen Art einnimmt, knüpft § 112 AktG materiell und funktionell an und schaut nicht darauf, ob der Vertreter in mehreren Rollen am Rechtsgeschäft beteiligt ist, sondern fragt nur danach, ob die von der Regelung des § 112 AktG vorausgesetzte Gefährdungslage, welche sich aus der Wahrnehmung gleicher Funktionen durch das Vertretungsorgan und die vertragsschließende Partei ergibt, für die Gesellschaft gegeben ist. Vor dem Hintergrund dieser funktionellen Anknüpfung ist es daher richtig, § 112 AktG nicht nur dann anzuwenden, wenn ein Rechtsgeschäft mit einem amtierenden Vorstandsmitglied geschlossen wird, sondern auch dann, wenn Rechtsgeschäfte mit ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern in Rede stehen. 3. Auch wenn demzufolge beide Vorschriften den Zweck verfolgen, den Vertretenen vor einer sich möglicherweise in der Person des Vertreters ergebenden Interessen18 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 1. 19 Vgl. hierzu Schubert in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 181 BGB Rz. 2.

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kollision zu schützen, sprechen bereits der unterschiedliche tatbestandliche Anwendungsbereich und der unterschiedliche normative Anknüpfungspunkt – formal hier, funktional dort  – dagegen, dass eine Vorschrift die andere verdrängen könne. Eine Verdrängung des §  181  BGB durch §  112  AktG findet nur insoweit statt, als § 112 AktG den Vorstand generell von der Vornahme bestimmter Rechtsgeschäfte ausschließt und insoweit die organschaftliche Vertretungsmacht auf den Aufsichtsrat verlagert. Auf diese Weise ist von vornherein die für die Anwendung von § 181 BGB erforderliche Doppelrolle des Vertreters ausgeschlossen. Mit anderen Worten: § 112 AktG ist der Anwendung des § 181, 1. Variante BGB insoweit vorgelagert, als §  112  AktG schon eine Vertretung durch ein Vorstandsmitglied ausschließt, so dass es gar nicht erst zu der von § 181, 1. Variante BGB vorausgesetzten Doppelrolle des Vertreters kommen kann. Durch § 112 AktG wird nämlich die Gesellschaft durch den Aufsichtsrat vertreten, so dass bei Rechtsgeschäften der Gesellschaft mit dem Vorstand eine Anwendung des § 181, 1. Variante BGB nicht denkmöglich ist. Es wurde allerdings gezeigt, dass in anderen Sachverhaltskonstellationen eine Anwendung des § 181, 1. Variante BGB auf das Handeln eines Vorstandsmitglieds durchaus in Betracht kommt. Zur Verdeutlichung soll der oben bereits beschriebene Sachverhalt nochmals kurz in Erinnerung gerufen werden: Zum Abschluss eines mehrseitigen Beteiligungsvertrages, an dem auch die AG beteiligt ist, erteilt die AG, vertreten durch die Vorstandsmitglieder Müller und Meier, eine Vollmacht an den Bevollmächtigten B, der seinerseits am Beteiligungsvertrag auch im eigenen Namen beteiligt ist. Ein Mitglied des Vorstands der AG ist im eigenen Namen nicht am Abschluss dieses Beteiligungsvertrags beteiligt. Da ein Rechtsgeschäft der AG mit einem Mitglied ihres Vorstands nicht in Rede steht, ist § 112 AktG nicht anwendbar und die AG wird (bei Erteilung der Vollmacht) ordnungsgemäß durch den Vorstand vertreten. Gleichwohl liegt in der Person des handelnden Bevollmächtigten B ein Fall des § 181, 1. Variante BGB vor, so dass eine wirksame Vertretung der AG durch den Bevollmächtigten B nur stattfinden kann, wenn der Vorstand der AG den Bevollmächtigten B bei Erteilung der Vollmacht von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB befreien kann. Ob eine solche Befreiung des Bevollmächtigten von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB durch ein Organ, welches selbst nicht von § 181, 1. Variante BGB befreit ist, erfolgen kann, ist umstritten: Grundsätzlich gilt der allgemeine Satz, dass ein Vertreter einen Unterbevollmächtigten nur dann von den Beschränkungen des § 181 BGB befreien kann, wenn er selbst hiervon befreit ist; dies gilt grundsätzlich auch für den organschaftlichen Vertreter, der eine Vollmacht zum Handeln für die Gesellschaft erteilt.20 Diese herrschende Ansicht überzeugt: Wenn das hierfür zuständige Gesellschaftsorgan (bei der GmbH mangels abweichender Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag die Gesellschafterversammlung und bei der AG der Aufsichtsrat) dem Vertretungsorgan der Gesellschaft (Geschäftsführung bzw. Vorstand) nicht die Befugnis erteilt haben, Insichgeschäfte abzuschließen oder 20 Baetzgen, RNotZ  2005, 193, 200; a.A. LG München  I, NJW-RR  1989, 1997; Schubert in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 181 BGB Rz. 54; Valenthin in BeckOK, § 181 BGB Rz. 34.

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Insichgeschäfte, Mehrfachvertretung und Eigengeschäfte des Vorstands der AG

Mehrfachvertretungen wahrzunehmen, wird man auch nicht annehmen können, dass dieses zuständige Organ mit dem Abschluss von Insichgeschäften oder der Vornahme von Mehrfachvertretungen durch einen Bevollmächtigten einverstanden ist. Es ist daher richtig, wenn die herrschende Meinung davon ausgeht und formuliert, dass ein Gesellschaftsorgan, das seinerseits nicht von einer Beschränkung des § 181 BGB befreit ist, auch eine Vollmacht unter Befreiung von dieser Beschränkung nicht erteilen kann. Auf der Grundlage dieser Auffassung besteht in der vorstehend dargestellten Sachverhaltskonstellation also durchaus ein Bedürfnis danach, ein Vorstandsmitglied von den Beschränkungen des §  181, 1.  Variante BGB zu befreien, damit dieses Vorstandsmitglied seinerseits Vollmachten unter Befreiung von § 181, 1. Variante BGB erteilen kann. Wäre eine Befreiung von § 181, 1.  Variante  BGB nicht möglich, weil durch §  112  AktG von vorneherein ausgeschlossen, könnte die AG im vorstehend beschriebenen Sachverhalt nicht durch den Bevollmächtigten B vertreten werden. Es mag richtig sein, dass es der Gesellschaft ja offen steht, eine andere Person (als den B) zu bevollmächtigen. Dies dürfte argumentativ indes nicht entscheidend sein: Richtigerweise wird man demgegenüber annehmen müssen, dass eine Befreiung von § 181, 1. Variante BGB möglich und zulässig ist, weil aus den oben genannten Gründen nichts dafür spricht, diese Befreiungsmöglichkeit durch § 112 AktG als ausgeschlossen anzusehen. 4. Der vorstehend beschriebene Sachverhalt macht deutlich, dass es nicht zutreffend ist, §  181,  1.  Variante  BGB durch §  112  AktG als generell verdrängt anzusehen. Zwar schließt § 112 AktG, in dem er zur Vertretung der AG ein anderes Kollegial­ organ beruft, in seinem Anwendungsbereich rein tatbestandlich die Anwendung des §  181,  1.  Variante  BGB aus: Da die AG nicht durch den Vorstand, sondern durch den Aufsichtsrat vertreten wird, kann in der Person des Vorstands, der mit der AG kontrahieren möchte, nicht die von § 181 BGB vorausgesetzte Doppelzu­ ständigkeit auftreten. Daneben bleiben aber Sachverhaltskonstellationen, die nicht in den Anwendungsbereich des § 112 AktG, wohl aber in den des § 181, 1. Variante BGB fallen. Da diese Sachverhaltsvarianten – wie gezeigt – von vorneherein gar nicht in den Anwendungsbereich des § 112 AktG fallen, kann diese Vorschrift eine Anwendung von § 181, 1. Variante BGB (mit dessen Gestattungsmöglichkeiten) auch nicht ausschließen. Ein Normenvorrang des § 112 AktG könnte allenfalls in seinem Anwendungsbereich angenommen werden. Steht damit fest, dass es Anwendungsfälle des § 181, 1. Variante BGB gibt, die nicht in den Anwendungsbereich des §  112  AktG fallen und diese Vorschrift damit keine Sperrwirkung ge­ genüber §  181, 1.  Variante  BGB entfalten kann, muss es auch zulässig sein, den Vorstand der AG von § 181, 1. Variante BGB allgemein oder im Einzelfall befreien zu können. Der Satz, § 112 AktG schließe eine Anwendung von § 181, 1. Variante BGB mit dessen Befreiungs- und Gestattungsmöglichkeiten generell aus, erweist sich daher als unzutreffend. Es spricht nichts dagegen, den Vorstand von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB zu befreien, wenn – mangels Anwendbarkeit der Vorschrift – § 112 AktG einer solchen Befreiung nichts entgegensteht. 5. Die Verlautbarung der Vertretungsbefugnis im Handelsregister knüpft an das materielle Recht an und soll im Interesse des Rechtsverkehrs die materiell-rechtlich wirksam begründeten Vertretungsbefugnisse in dem mit öffentlichem Glauben 241

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ausgestatteten Handelsregister zutreffend wiedergeben. Vor diesem Hintergrund erscheint es richtig, wenn eine wirksam ausgesprochene Befreiung von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB auch zum Handelsregister angemeldet und dort eingetragen werden kann.21 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass die Eintragung dieser Befreiung im Handelsregister für die materiell-rechtliche Wirksamkeit der Befreiung nicht erforderlich ist; das Handelsregister verlautbart insoweit lediglich deklaratorisch die materiell-rechtlich verliehenen Vertretungsbefugnisse.

IV. Zusammenfassung 1. § 112 AktG und § 181, 1. Variante BGB haben unterschiedliche Ziele und Anknüpfungspunkte: Während § 112 AktG funktional danach fragt, ob die Gesellschaft mit einer Person kontrahiert, die das Amt eines Vorstandsmitglieds ausübt oder ausgeübt hat, zielt § 181, 1. Variante BGB formal darauf ab, ob der für die Gesellschaft handelnde Vertreter zugleich in mehreren Rollen am Rechtsgeschäft beteiligt ist. 2. Es wurde gezeigt, dass Sachverhaltskonstellationen existieren, in denen –– § 112 AktG, nicht jedoch § 181 BGB, –– § 181 BGB, nicht jedoch § 112 AktG, –– sowohl § 181 BGB als auch § 112 AktG, anwendbar sind. Von einem sich vollständig überschneidenden Anwendungs­ bereich und damit von einem Verdrängen des §  181, 1.  Variante  BGB durch § 112 AktG kann daher keine Rede sein. 3. Es existieren Sachverhaltskonstellationen, in denen der handelnde Vertreter zwar einen Fall des § 181, 1. Variante BGB verwirklicht, ohne dass die Voraussetzungen des § 112 AktG erfüllt sind. Ein wirksames Handeln des Vertreters setzt in diesen Fällen voraus, dass er wirksam von den Beschränkungen des §  181, 1.  Variante BGB befreit ist. Das materielle Recht muss daher gestatten, dass eine solche Befreiung (außerhalb des Anwendungsbereichs des § 112 AktG) durch den Aufsichtsrat ausgesprochen wird. 4. Eine durch den Aufsichtsrat wirksam ausgesprochene Befreiung von den Beschränkungen des § 181, 1. Variante BGB ist auch im Handelsregister eintragungsfähig. Die Wirksamkeit der Befreiung hängt indes nicht von der Eintragung im Handelsregister ab.

21 Ebenso Schemmann, NZG 2008, 89, 92.

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Heribert Hirte und Jean Mohamed

Die Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden zwischen ­Mitbestimmungsrecht und öffentlichem Recht – Ein „Werkstattbericht“ zum interdisziplinären Bezug des ­Aufsichtsratsrechts – Inhaltsübersicht I. Hintergrund der Rechtsfrage

IV. Verfahrensrechtliche Aspekte

II. Wertungen aus dem MitbestG

V. Annex zu den verfahrensrechtlichen ­Aspekten 1. Beschluss des AG Köln vom 14. Februar 2019 – HRB 2115 2. Beschluss des AG Köln vom 12. März 2019 – HRB 2115

III. Wertungen aus dem Recht der öffent­ lichen Hand im Lichte demokratischer Legitimation 1. Die demokratische Legitimationskette 2. Die kommunalrechtliche Konkreti­ sierung am Beispiel der Gemeinde­ ordnung von Nordrhein-Westfalen 3. Ergebnis

Das Recht des Aufsichtsrates ist aus fachlicher, wissenschaftlicher und ganz praktischer Sicht felsenfest mit dem Namen Eberhard Vetter verbunden. Ein Bündel an Abhandlungen und wahrscheinlich noch mehr legal cases kann der Ehrende zu dem so wichtigen Organthema des Aktienrechts vorweisen. In einem seiner jüngsten Beiträge beschäftigte er sich mit den „Praktische[n] Fragen der gerichtlichen Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 AktG“ (Der Betrieb 2018, S. 3104). Die Festschrift mag hier Raum geben, um die Anwendung des § 104 AktG nun in einem höchst komplizierten, politischen und mitbestimmungsrechtlichen Rahmen zu skizzieren. Schauen wir uns dabei „materiell“ an, ob sich kommunalrechtlich entsandte Aufsichtsratsmitglieder einem Ratsbeschluss widersetzen dürfen und nach eigenem Gutdünken eine Entscheidung in einem Aufsichtsrat treffen können, etwa dergestalt, dass die Wahl eines Vorsitzenden, der aus den Reihen der Arbeitnehmer stammt, unterstützt wird? Es ist die Rede vom „Verwaltungsgesellschaftsrecht“. Als Vorlage dient die Kölner „Börschel-[Stadtwerke-]Affäre“.1

I. Hintergrund der Rechtsfrage (1) Die erstaunlichsten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Im Frühjahr 2018 ist es bei der Stadtwerke Köln GmbH – eine hundertprozentige Tochterge1 Der Erstverfasser ist Mitglied des Aufsichtsrates der Stadtwerke Köln GmbH.

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Heribert Hirte und Jean Mohamed

sellschaft der Stadt Köln – zur Unruhe bei der Schaffung eines zusätzlichen vierten „Geschäftsführerpostens“ und dessen Besetzung gekommen. Der gesamte Vorgang hat ein bundesweites Medienecho2 hervorgerufen. Und so kam es im Laufe der Affäre zu mehreren Amtsniederlegungen im mitbestimmten3 Aufsichtsrat. Für das hiesige Untersuchungsfeld ist folgendes Geschehen von herausragender Bedeutung und kann auch unabhängig von der konkreten Konstellation4 als rechtlicher Sachverhalt dienen:

In einer der Aufsichtsratssitzungen sollte nach einem vorausgegangenen Beschluss des Rates der Stadt Köln die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur neuen Vorsitzenden des mitbestimmten Aufsichtsrates gewählt werden. In der entscheidenden Sitzung stimmten jedoch die vier von SPD und Linken in den Aufsichtsrat entsandten Mitglieder entgegen dem erklärten Willen der Ratsmehrheit mit den Arbeitnehmervertretern für den bis dahin stellvertretenden Vorsitzenden Harald Kraus als neuen Aufsichtsratsvorsitzenden. Es wurde also ein Arbeitnehmervertreter als Vorsitzender des Aufsichtsrates gewählt.

(2) Gehen wir nun entsprechend § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Satz 2, Abs. 2 MitbestG von einer Zusammensetzung des Aufsichtsrates aus 20 Mitgliedern aus, davon nach dem Grundsatz der paritätischen Aufsichtsratsbesetzung Vertreter der Anteilseigner und der Arbeitnehmer mit jeweils 10 Mitgliedern. Im ersten Wahlgang erfordert die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden (und seines Stellvertreters) nach § 27 Abs. 1 MitbestG eine Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Aufsichtsrates. Ausgehend von 20 Aufsichtsratsmitgliedern reichen somit 14 Stimmen aus. Damit genügen schon 4/10 der Stimmen der Anteilseignerseite bei geschlossener Wahl (10/10) der Arbeitnehmerseite (siehe das obige Stadtwerke-Beispiel). Zu den Einzelheiten kommen wir sogleich. Zur „Pattauflösung“5 bei gesellschaftsrechtlichen Wahlen in einem paritätisch besetzten Aufsichtsrat sei indes hier schon auf § 29 Abs. 2 Satz 1 MitbestG hingewiesen, wonach für den Aufsichtsratsvorsitzenden ein Stimmenübergewicht („zwei Stimmen“) für den Fall der Stimmengleichheit in einer zusätzlichen Abstimmung vorgesehen ist. In diesem „Stimmenübergewicht“ tritt die praktische Bedeutung des Postens zutage. Geht es organbedingt um die Wahl eines Arbeitnehmervertreters zum Aufsichtsratsvorsitzenden, so haben wir uns aber gerade wegen dieses „doppelten“ Stimmrechts (i.) den Willen der Mehrheit der Anteilseignerbank und (ii.) den Willen des politischen Entsendungsorgans genauer anzuschauen.

2 Siehe etwa Reiner Burger: „Kölner Chaostage“, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2.5.2018. 3 Der Stadtwerke-Konzern ist ein durchaus beeindruckendes kommunalwirtschaftliches Unternehmen mit mehr als 12.000 Mitarbeitern (zur rechtlichen Zusammensetzung des Aufsichtsrates siehe §§ 1, 7 MitbestG). 4 Den Hintergrund des Kölner Geschehens und die politischen Querbezüge stellt Adenauer, NZG 2019, 85 f. dar. 5 Die Begriffe der „Pattsituation“ und „Pattauflösung“ haben sich im Mitbestimmungsrecht etabliert, vgl. nur Annuß in MünchKomm AktG, § 29 MitbestG Rz. 1; Habersack in Habersack/Henssler, MitbestR, 4.  Aufl. 2018, §  29 Rz.  1; Oetker in ErfurterKomm ArbeitsR, 19. Aufl. 2019, § 29 MitbestG Rz. 3; Oetker in GroßKomm AktG, 5. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 7; Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), ArbeitsR Komm, 8. Aufl. 2018, § 29 Mit­ bestG Rz. 1.

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Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden zwischen Mitbestimmungsrecht und öff. Recht

II. Wertungen aus dem MitbestG Schon aus dem Normengeflecht des Mitbestimmungsgesetzes geht hervor, dass die Bestimmung über den Vorsitz in einem mitbestimmten Aufsichtsrat im Zweifel der Anteilseignerseite vorbehalten ist. Es gilt der Grundsatz itio in partes.6 Kommt nämlich im ersten Wahlgang für die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden keine Mehrheit zustande, so genügt im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit der Mitglieder der Anteilseigner für die Wahl des Vorsitzenden (§ 27 Abs. 2 Sätze 1 und 2 MitbestG). Nur die Bestimmung des Stellvertreters ist allein den Arbeitnehmervertretern im zweiten Wahlgang vorbehalten. Aus dieser Zusammenschau lässt sich durchaus herleiten, dass im Falle der Uneinigkeit im ersten Wahlgang (mit qualifizierter Mehrheit) sich stets die Anteilseignerseite durchsetzen soll.7 Denn die unternehmerische Mitbestimmung wird mit dem Eigentumsgrundrecht der Anteilseigner nur dann und deshalb als vereinbar angesehen, weil unterstellt wird, dass ein von der Anteilseignerseite gestellter Aufsichtsratsvorsitzender aufgrund seines Zweitstimmrechts dem Anteilseigentum ein leichtes Übergewicht verschafft.8 Ist der Vorsitzende verhindert, erwächst dem Stellvertreter – et ceterum censeo: gewählt von der Arbeitnehmerseite – ein solches „doppeltes“ Stimmrecht nicht (Abs. 2 Satz 3). Das damit der Anteilseignerseite zufallende Bestimmungsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Person des Vorsitzenden hat schon vor Jahren seine Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht9 gefunden. Im Konfliktfall kann sich wegen der in § 29 Abs. 2 MitbestG verankerten Zweitstimme stets die Seite durchsetzen, die über den Vorsitz verfügt, d.h. also die Anteilseignerseite. Ein für das Verständnis des Verfassungsurteils grundsätzliches Begründungsmerkmal ist gerade diese wiederholte Berufung auf das den Anteilseignern vorbehaltene Letztentscheidungsrecht.10 Aus dem Vorstehenden muss aber in einem zweiten Schritt folgen, dass es der Arbeitnehmerseite nicht gestattet ist, bei einem geteilten Anteilseignerlager mit der Minderheit zu stimmen und sich so dem Willen der Mehrheit auf der Anteilseignerseite zu widersetzen (siehe obiges Beispiel). Ein solches Vorgehen würde nämlich das Verfahren im zweiten Wahlgang sinnlos11 machen, in dem ein Vorsitzender mit der einfa-

6 So bereits Adenauer, NZG 2019, 85 (86 f.). 7 Siehe so schon Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl. 2003, Rz. 117; Mertens/Cahn in KölnerKomm AktG, 3. Aufl. 2013, § 117 Anh. § 27 MitbestG Rz. 1 („sichert es der Anteilseignerseite die Möglichkeit, sich [..] durchzusetzen“); Kamanabrou, Arbeitsrecht, 2017, Rz. 2943; ähnlich Annuß in MünchKomm AktG (Fn. 5), § 29 MitbestG Rz. 1 („letztlich das Übergewicht“); Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 107 Rz. 5. 8 Vgl. hierzu auch Adenauer, NZG 2019, 85 (86 f.); Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat (Fn. 7), Rz. 117; Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), ArbeitsR Komm (Fn. 5), § 29 Rz. 1. 9 BVerfG, Urt. v. 1.3.1979  – 1 BvR 532, 533/77, 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE  50, 290 = NJW 1979, 699. Eine erste kritische Würdigung aus verfassungsrechtlicher Sicht findet sich vom späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in ZGR 1979, 444-470. 10 Zum Entscheidungsvorsprung der Anteilseigner schon Mertens, ZGR 1979, 493 (511 f.). 11 Im Ergebnis so auch Adenauer, NZG 2019, 85 (87).

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chen Mehrheit der Stimmen der Anteilseignerseite wählbar gewesen wäre. In dem obigen Stadtwerke-Beispiel hätten 6 gegen 4 Stimmen ausgereicht. Nun ließe sich dagegen einwenden, dass das Gesetz nun einmal keine Gruppenzugehörigkeit für das Amt des Vorsitzenden vorsieht. Die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum schließt daraus vielmehr, dass auch ein Arbeitnehmervertreter zum Vorsitzenden gewählt werden könnte.12 Es sei jedoch angemerkt, dass es in der hiesigen Streitfrage eben nicht um den Fall geht, dass einstimmig oder qualifiziert mehrheitlich der Aufsichtsratsvorsitzende gewählt wird, komme er auch aus der Arbeitnehmerseite. Dann setzen sich nämlich beide Seiten im Aufsichtsrat durch. Der Erstverfasser hat daher auch an anderer Stelle geschrieben, dass der „Zwang zu einer Einigung auf eine beiden Seiten genehme Person erhöht“13 wird. Das Schrifttum scheint – mangels näherer Problematisierung – eher diesen klareren Fall im Auge zu haben. Im Übrigen käme es hier zugegebenermaßen aber zu dem „formellen“ Problem, dass die Arbeitnehmerseite sich im ersten Wahlgang darüber erkundigen müsste, wie die Stimmverteilung auf der Anteilseignerseite ausgefallen sei – die Fälle der „Klüngeleien“ seien hier außen vorgelassen14 –, bevor das eigene Stimmverhalten geklärt werden könnte. Die bisherigen Abhandlungen schweigen sich zu dieser Konstellation aus, namentlich, dass ein Arbeitnehmervertreter erst durch Umgehung der Mehrheit der Anteilseignerseite gewählt wird. Von einem echten „Meinungsstreit“ kann man daher noch gar nicht reden. Nun ist es aber unstreitig, dass im Zusammenspiel der mitbestimmungsrechtlichen Regelungen der Anteilseignerseite letztlich das Über­gewicht bei den Entscheidungen des Aufsichtsrates zusteht. Diese Regelungen sind nicht nur heutige Gesetzeslage, sondern das politische Ergebnis eines längeren Gesetzgebungsprozesses. Das mit dem Zweitstimmrecht in der Regel einhergehende Übergewicht der Anteilseignerseite bei Beschlussfassungen des Aufsichtsrates war im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens sogar noch heftig umstritten.15 Es überwogen jedoch die Bedenken gegen ein volles Gleichgewicht, die unter dem Gesichtspunkt der für den Vorsitzenden des Aufsichtsrates erforderlichen Amtskontinuität geltend gemacht werden können, sowie die politischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte, die 12 Annuß in MünchKomm AktG (Fn. 5), § 27 MitbestG Rz. 3 und so auch schon in der Vorauflage (4. Aufl. 2014) Gach, § 27 MitbestG Rz. 6; Habersack in Habersack/Henssler, Mit­ bestR (Fn. 5), § 29 Rz. 8; Hopt/Roth in Großkomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 36; Mertens/Cahn in KölnerKomm AktG (Fn.  7), §  117 Anh. §  27 MitbestG Rz.  6; Oetker in ErfurterKomm ArbeitsR (Fn. 5), § 27 MitbestG Rz. 2; ders. in GroßKomm AktG (Fn. 5), § 27 MitbestG Rz. 3; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 107 Rz. 25. 13 Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 8. Aufl. 2016, Rz. 3.174. 14 Bei solchen „Vorabbesprechungen“ zulasten der Mehrheit der Anteilseignerseite und entgegen einem offenen gesellschaftsrechtlichen Diskurs stellt sich ohnehin schon die Frage nach dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten, abgeleitet aus dem Rechtsgedanken der §§ 138, 242 BGB. – Ähnlich zu einem „treuwidrigen“ Verhalten auch Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 672 („kann treuwidrig [..] sein“). 15 Zur Entstehungsgeschichte siehe Gach in MünchKomm AktG (Fn.  12), §  27 MitbestG Rz. 2. So war ursprünglich ein mehrstufiges Wahlverfahren vorgesehen (§ 24 RegE, Begr­ RegE, BT-Drucks. 7/2172, S. 27).

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gegen eine volle Parität der Arbeitnehmerseite sprechen. Mit Blick auf die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) ist daher die derzeitige Regelung Gesetz geworden. Ausgehend von der mittelbaren Drittwirkung16 von Grundrechten in das Privatrecht müssen somit (i.) die gesetzgeberische Entscheidung und (ii.) eben diese Grundrechtswirkung mit den Interessen der Arbeitnehmerseite in Einklang gebracht werden. Dies geschieht ex lege dadurch, dass die Wahl des Stellvertreters allein der Arbeitnehmerseite im zweiten Wahlgang obliegt. Nichts anderes gibt das Gesetz her. Es liegt also vielmehr der Umkehrschluss nahe, dass im Übrigen vom Gesetz intendiert ist, der Anteilseignerseite den Posten des Vorsitzenden zu überlassen.17

III. Wertungen aus dem Recht der öffentlichen Hand im Lichte demokratischer Legitimation 1. Die demokratische Legitimationskette Möchte man das hier Streitige zum „Kern“-Gesellschafts- und Mitbestimmungsrecht nicht derart restriktiv bewerten, so kommt man doch spätestens durch den Einfluss des öffentlichen Rechts und der kommunalpolitischen Entscheidungen zu einem wohl zwingenden Ergebnis. So steht es außer Frage, dass die öffentliche Hand bei Wahrnehmung ihrer Aufgaben dem Demokratieprinzip unterworfen ist.18 Die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch verfassungsrechtlich geschützte Organisationshoheit der Kommunen umfasst deren Recht zur freien Wahl der Rechtsform öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen. Öffentliche Unternehmen dürfen daher grundsätzlich sowohl öffentlich- als auch privatrechtlich organisiert sein. Gleichwohl ist eine Flucht in das Privatrecht19 unzulässig. Dies bedeutet, dass das Privatrecht nicht genutzt werden darf, um zentrale Wertungsvorgaben des öffentlichen Rechts zu unterlaufen. Die wirtschaftlich entscheidenden 16 Vgl. zur mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten nur jüngst BVerfG, Beschl. v. 11.4.2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667 Rz. 31-34 m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung. 17 In der Praxis führt dies dazu, dass fast ausschließlich Anteilseignervertreter den Aufsichtsratsvorsitz innehaben und der Stellvertreter aus dem Kreis der Arbeitnehmer hervorgeht; siehe Mertens/Cahn in KölnerKomm AktG (Fn. 7), § 117 Anh. § 27 MitbestG Rz. 1; Zöllner/ Noack in Baumbach/Hueck GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 52 Rz. 297; Wißmann in MünchHdb ArbeitsR, Bd.  2, 3.  Aufl.  2009, §  282 Rz.  1. Zum gleichen Ergebnis kommt jüngst auch ­Adenauer, NZG 2019, 85 (87). 18 So jüngst wieder BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 (134 Rz. 218) = NVwZ 2018, 51 (55 Rz. 218): „[..] bedarf alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter der demokratischen Legitimation“. – Siehe zum Vorrang der Verfassung und dem demokratischen Steuerungsvorbehalt auch schon Huber/Fröhlich in GroßKomm AktG, 4. Aufl. 2015, Vor §§ 394, 395 Rz. 20 f. 19 Vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, BVerfGE 128, 226 (245) = NJW 2011, 1201 (1202 Rz. 48); Grzeszick in Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 84. EL August 2018, Art. 20, Rz.  97.  – Zudem leitet Hillgruber in seiner Anm. aus JA  2018, 238-240 zum Urteil des ­BVerfG (Fn.  18) her, dass auch bei etwaigen gesellschaftsrechtlichen Regelungen keine „Flucht ins Privatrecht“ eröffnet ist.

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Personen und Organe der „Kommunalgesellschaften“ der öffentlichen Hand müssen daher vor allem kumulativ sowohl den Anforderungen der personellen wie auch der sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation entsprechen.20 Diese Personen müssen also in ihrem Bestellungsakt21 durch eine ununterbrochene Legitimationskette mit dem Willen des Volkes verbunden sein und überdies der parlamentarischen Verantwortlichkeit unterliegen. Übertragen auf unseren obigen Beispielsfall einer Eigengesellschaft (GmbH) der öffentlichen Hand bedeutet dies, dass die Wahl des Vorsitzenden des Aufsichtsrates und dessen im Nachgang zu treffenden Entscheidungen (Zweitstimmrecht) nur dann verfassungskonform sind, wenn die dahinterstehende Mehrheit für alle Entscheidungen im Aufsichtsrat demokratisch legitimiert ist.22 Berücksichtigte man dieses verfassungsrechtliche Postulat jedoch nicht, so besäßen die nicht durch Kommunalwahlen demokratisch legitimierten Arbeitnehmervertreter im Konfliktfall23 die Mehrheit im Aufsichtsrat, ohne dass eine demokratische Rückbindung der tätigen Organe und Amtswalter bestünde. Die ununterbrochene Legitimationskette liegt aber erst und nur dann vor, wenn die Bestellung auf den Willen des Gemeinderates zurückzuführen ist.24 Im Schrifttum ist gar die Auffassung vertreten worden, dass es bei den Eigengesellschaften der öffentlichen Hand eine Arbeitgeberbank einerseits und eine Arbeitnehmerbank andererseits in den Aufsichtsräten nicht geben dürfe.25 Das Mitbestimmungsrecht müsse entfallen. Dem soll in der ganzen Strenge26 zwar hier nicht gefolgt werden; gleichwohl liegt eine entsprechende verfassungsrechtliche Grenzüberschreitung für den hier behandelten Posten des arbeitnehmerseitigen Aufsichtsratsvorsitzes augenscheinlich vor.

20 Ossenbühl, ZGR  1996, 504 (510). Vgl. zur hinreichenden demokratischen Legitimation auch schon RhPfVerfGH v. 18.4.1994  – VGH N 1 u. 2/93, NVwZ-RR 1994, 665 (666 u. 668 f.). 21 Für Bestellungsakte von Amtsträgern durch ein Gremium gilt das „Prinzip der doppelten Mehrheit“, vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 (136 Rz. 224) = NVwZ 2018, 51 (56 Rz. 224). 22 Adenauer, NZG  2019, 85 (87  f.). Für den Verwaltungsrat  – als maßgebliches Entscheidungs- und Kontrollorgan – schon ausführlich NRWVerfGH v. 15.9.1986 – 17/85, NVwZ 1987, 211 ff. 23 D.h. bei Wahl des Vorsitzenden des Aufsichtsrates und der später immer wieder möglichen Zuhilfenahme des Zweitstimmrechts. 24 Die Frage, wer die Weisungen zu erteilen hat und damit den Bestellungsakt anweisen soll, hängt in allen Bundesländern von der Verteilung der Zuständigkeiten ab. Die wirtschaftliche Entscheidungskompetenz wird dabei dem Gemeinderat zugewiesen (vgl. nur §§ 102 ff. GemO Baden-Württemberg oder §§ 107 ff. GO Nordrhein-Westfalen). 25 Vgl. hierzu Ossenbühl, ZGR 1996, 504 (516). Allg. zur Nichtanwendung des MitbestG auch Gern/Brüning in Deutsches Kommunalrecht, Gern/Brüning, 4. Aufl. 2019, Rz. 1026. 26 Der öffentlichen Hand muss es als (alleinigem) Anteilseigner einer Gesellschaft möglich sein, die „Oberhand“ bei der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzes zu behalten. Ist dies der Fall, so trägt das Mitbestimmungsrecht auch dem Demokratieprinzip dergestalt Rechnung, dass es die strikte Kompetenzverteilung bei der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzes enthält.

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2. Die kommunalrechtliche Konkretisierung am Beispiel der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen Zweck der formellen Privatisierung ist regelmäßig die rechtliche und wirtschaftliche Emanzipation vom Verwaltungsträger. Die grundsätzliche Gewährleistung der „Wahl­ freiheit“ ist in der Selbstverwaltungsgarantie, die auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit umfasst, zu sehen. Betätigt sich die öffentliche Hand in den Formen des Gesellschaftsrechts, ist sie auch an dessen Vorgaben (mit-)gebunden.27 Aus der Per­ spektive des Gesellschaftsrechts unterscheidet sich der Träger öffentlicher Gewalt jedenfalls nicht grundsätzlich von privaten Gesellschaftern oder Gesellschaften. Da das auf individuelle Handlungsfreiheit ausgerichtete Privatrecht anderen Ordnungsprinzipien als die dem Gemeinwohl verpflichtete öffentliche Hand folgt, kollidieren die Einwirkungs- und Kontrollpflichten der öffentlichen Hand hier und da zwangsläufig mit Regelungen des Privatrechts.28 Ob und wie Kommunen in privater Rechtsform handeln, ist landesrechtlich daher überwiegend in den jeweiligen Gemeindeordnungen geregelt. Das Demokratieprinzip findet dort seine Nahtstelle zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht.29 So wird nach § 108 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 6 GO NRW ein „angemessene[r] Einfluß“ der Gemeinde auf den Aufsichtsrat als „Überwachungsorgan“30 vorausgesetzt. Nur dann darf die Gemeinde das Unternehmen in einer Rechtsform des privaten Rechts gründen oder sich daran beteiligen. Vor diesem Hintergrund muss auch die zur öffent­ lichen Hand zählende Gesellschaft, soweit sie als Eigengesellschaft betrieben wird, letztlich durch das „demokratisch“ gewählte Entscheidungsorgan steuerbar sein. Bei einem Aufsichtsrat ohne Stimmenmehrheit der Gemeinde ist dies nicht der Fall. Nun lässt sich eine – nennen wir sie – „gesellschaftsrechtliche Strömung“ ausmachen, die trotz des hier Dargestellten einen unbedingten „Vorrang“ des Gesellschaftsrechts vorsieht. Wir wollen dieses Thema nur anschneiden, handelt es sich doch im Kern um ganz grundlegende Fragen der Synergieeffekte zwischen dem Gesellschaftsrecht und der demokratischen Steuerungsfähigkeit.31 Das Verhältnis zwischen gesellschaftsrechtlicher Pflichtenbindung und Freiheit der politischen Mandatsausübung ist seit eh und je ein beliebtes Feld manch eines „Dog-

27 Vgl. Huber/Fröhlich in Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, 1128 (1129); Schwintowski, NJW 1990, 1009 (1015). 28 Vgl. hierzu auch schon R. Schmidt, ZGR 1996, 345 (350). 29 Siehe auch Adenauer, NZG 2019, 85 (88 f.), der von einer „Konkretisierung des Demokratieprinzips durch kommunalrechtliche Regelungen“ spricht. 30 Die Regelung sieht damit einen rechtlich abgesicherten, angemessenen Einfluss der Gemeinde (Ingerenzpflicht) vor, vgl. Kaster in BeckOK Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Dietlein/Heusch (Hrsg.), 6. Edition Dezember 2018, § 108 GO NRW Rz. 12. 31 Siehe jüngst auch das Interview mit Burgi zum Urteil des BVerfG (Fn. 18) in BOARD 2018, 228-231 (231). Öffentliche Unternehmen bildeten eine „Grauzone“. Die jeweiligen rechtlichen Besonderheiten bei kommunalen Unternehmen seien in Zukunft erst noch „wissenschaftlich zu klären“.

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matikers“.32 Die Mitglieder der kommunalen Vertretungskörperschaften sind Vertreter des Gemeindevolkes und haben verfassungsrechtlich den Status eines Repräsentanten aufgrund der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Volksvertretung auf der Stufe der Gemeinde (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG).33 Diesem verfassungsrechtlich garantierten Status korrespondiert das „freie Mandat“. Nun sollte man sich jedoch im Klaren darüber sein, dass die Betätigung der Gebietskörperschaft nicht „wirtschaftlich“ aufgehen kann, wenn überhaupt gar keine Pflichten und Bindungen der jeweiligen Vertreter bestehen. Insgesamt gelten selbstverständlich die Verfassungsbindung und die Pflicht zur Beachtung der Gesetze. Die kommunalwirtschaftlichen Vorschriften des Landesrechts tragen in nicht geringem Maße dazu bei, im Sinne der Einheitlichkeit der Verwaltung eine gute Verzahnung zwischen der Gemeinde und ihren verselbstständigten Unternehmen zu ermöglichen.34 Daher sieht §  113 Abs.  1 GO NRW vor, dass der jeweilige Vertreter der Gemeinde im Aufsichtsrat die Interessen der Gemeinde zu verfolgen hat und an die Beschlüsse des Rates und seiner Ausschüsse gebunden ist.35 Gegen eine daraus herzuleitende „Weisungsabhängigkeit“36 kommunaler Organmitglieder wird mehrfach die These vom „Vorrang“ des bundesrechtlichen Gesellschaftsrechts ins Feld geführt (Art.  31 GG).37 Diese Grundthese mag man als eine der heiligen Kühe des Gesellschaftsrechts bezeichnen.38 Nun wollen die 32 Vgl. jedoch zu den Punkten, in denen Gesellschaftsrecht und Politik aneinander vorbeizureden scheinen oder bei denen ein praktisches Verständnis zu fehlen scheint, Hirte in Festschrift für Ulrich Seibert, 2019 (erscheint demnächst). 33 Schwintowski, NJW 1990, 1009 (1014). Gleichwohl sind Gemeindevertretungen nicht „Parlamente“ im staatsrechtlichen Sinne, vgl. BVerfG, Urt. v. 13.2.2008  – 2 BvK 1/07, ­BVerfGE  120, 82 (112) = NVwZ  2008, 407 (411). Die Vorgabe repräsentativ-demokratischer Strukturen schließt direktdemokratische Elemente auf Kommunalebene freilich nicht aus (vgl. Hellermann in BeckOK GG, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 39. Edition November 2018, Art. 28 Rz. 13.2). 34 Siehe schon Altmeppen, NJW 2003, 2561-2567. 35 Im Übrigen sei hier auch auf die Unterrichtungspflicht gegenüber der Gemeinde (Abs. 5) und auf die Verpflichtung der Gemeinde verwiesen, auf die Einräumung von Entsendungsrechten hinzuwirken (Abs. 3 Satz 1). 36 Zur Weisungsabhängigkeit von kommunalen Aufsichtsratsmitgliedern BVerwG, Urt. v. 31.8.2011  – 8 C 16/10, NJW 2011, 3735-3737 m.Anm. Altmeppen. Nach BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 = NVwZ 2018, 51 können sich Einwirkungs- und Kon­trollrechte aber auch unmittelbar aus dem Demokratieprinzip ergeben. Vgl. zur Diskussion um die Zulässigkeit von Weisungen den Fußnotenapparat von Heidel, NZG 2012, 48 (52 f. Fn. 63-65). 37 Eine Zusammenschau der Auffassungen etwa bei Schall in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 394 Rz. 3; Schürnbrand in MünchKomm AktG, 4. Aufl. 2017, Vor §§ 394, 395, Rz. 17 ff.; aus dem Aufsatzschrifttum statt vieler R. Schmidt, ZGR 1996, 345 (350 f.) und jüngst erst Schmolke, WM 2018, 1913 (1914 f.). Vgl. auch schon die Zusammenstellung von von Danwitz, AöR 120 (1995), 595 (610 m.w.N.) mit kritischen Bemerkungen zum „Vorrang“ des Gesellschaftsrechts (616 f., 622 ff.). 38 Doch stellt Koch in Hüffer/Koch, AktG (Fn.  7), §  394 Rz.  2 richtigerweise fest, dass das ­öffentlich-rechtliche Meinungsbild wesentlich ausdifferenzierter und „weniger taub“ für gesellschaftsrechtliche Belange ist, als es im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum zum Teil wahrgenommen wird. Siehe nun Koch in Festschrift für Matthias Schmidt-Preuß, 2018, 367 (378 ff.) zu der aktuellen Diskussion infolge der Entscheidung des BVerfG zur Deutschen

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Verfasser ebenso wenig wie seinerzeit Fritz Ossenbühl – gerade auch weil sie ihrerseits einen deutlich engeren Bezug zum Gesellschaftsrecht haben – überhaupt den Versuch unternehmen, diese heilige Kuh39 in Gänze zu schlachten. Deshalb muss es hier mit ein paar skizzierenden kritischen Bemerkungen sein Bewenden haben: (1) Zunächst wollen wir einen Blick auf das ganz grundlegende Methoden- und Abgrenzungsproblem bei der Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG auf (Misch‑)Privatgesellschaften der öffentlichen Hand richten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nämlich die Grundrechtsfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts genauso wie die von Eigengesellschaften der öffentlichen Hand zu verneinen.40 Umgekehrt ist wohl spätestens seit der Fraport-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber anerkannt, dass mehrheitlich vom Staat beherrschte oder sogar allein gehaltene Unternehmen in privater Rechtsform der Grundrechtsbindung unterworfen sind.41 Die Lehre vom personalen Substrat bildet neben dem Konfusionsargument wohl das Herzstück der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Kurz zusammengefasst, setzt die ­Lehre vom personalen Substrat für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen einen gedanklich möglichen „Durchgriff “ auf die hinter der Organisationseinheit stehenden Menschen voraus.42 Da der Staat gemäß Art.  1 Abs.  3 GG an die Grundrechte gebunden ist, könne er zudem nicht gleichzeitig Grundrechtsberechtigter und Grundrechtsverpflichteter sein (Konfusionsargument).43 In der Konsequenz müsste also auch einer Kapitalgesellschaft, deren Gesellschaftszweck auf Daseinsvorsorge gerichtet ist, obwohl juristische Person des Privatrechts, die Grundrechtfähigkeit fehlen, wenn sie sich allein oder überwiegend in öffentlicher Hand befindet. Es gebe per se keine Grundrechtsbindung und daher auch keinen „Vorrang“ vor dem Gesellschaftsrecht (stattdessen „alleinige Geltung“ des Gesellschaftsrechts). Zugebenermaßen hat diese Herangehensweise den Vorteil, dass sie sehr leicht praktikabel ist. Der Grundrechtsschutz wird pauschal mit „ja“ oder „nein“ beantwortet. Leicht praktikabel ist aber nicht gleich richtig. Gegen ein solBahn. Für eine „Fortschreibung der Ingerenzverantwortung“ nun Koch, ZHR 2019, 7 (30 f.). 39 Siehe zu der Redewendung schon damals Ossenbühl, ZGR 1996, 504 (512). 40 Vgl. hierzu nur BVerfG, Beschl. v. 7.6.1977 – 1 BvR 108, 424/73, 226/74, BVerfGE 45, 63 (79 f.) = NJW 1977, 1960 (1961 f.) und jüngst BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12, 1 BvR 1456/12, BVerfGE 143, 246 (313 f.) = NJW 2017, 217 (218 f. Rz. 187 ff.) sowie nun auch BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 (Rz. 238 ff.) = NVwZ 2018, 51 (58 Rz. 238 ff.). 41 Siehe BVerfG, Urt. v. 22.2.2011  – 1 BvR 699/06, BVerfGE  128, 226 (244 und 246  f.) = NJW 2011, 1201 (1202 f.). Ausführlich zur Grundrechtsbindung von Unternehmen infolge des Fraport-Urteils: Gurlitt, NZG 2012, 249 ff. 42 Ständige Rechtsprechung, siehe etwa BVerfG, Beschl. v. 2.5.1967  – 1 BvR 578/63, ­BVerfGE 21, 362 (369 f.) = NJW 1967, 1411 (1412 f.); näher zum Stand der BVerfG-Judikatur jüngst Ludwigs/Friedmann, NVwZ 2018, 22. 43 Das „Konfusionsargument“ ausdrücklich genannt in BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12, 1 BvR 1456/12, BVerfGE 143, 246 (Rz. 192) = NJW 2017, 217 (219 f. Rz. 192), wenn auch für den Fall nicht passend aufgrund europarechtlicher Überlagerung (näher dazu etwa Sachs, JuS 2017, 569 f.).

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ches strikt individualistisches Grundrechtsverständnis bestehen nämlich seit ­jeher gewichtige Einwände. Und so leuchtet der Ausschluss von der Grundrechtsträgerschaft dann nicht ein, soweit die juristische Person dergestalt rechtlich verselbstständigt ist, dass sie in die typische Situation der Gewaltunterworfenheit, d.h. in eine grundrechtstypische Gefährdungslage44 geraten ist. Je nach Einzelfall und Marktgegebenheit mag eine solche Gefährdungslage anders ausfallen. Auf die zivil-/gesellschaftsrechtliche Gestaltungsoption kommt es dann gar nicht erst an. Die „Vorrang“-These stellt sich dann nicht. Ob ein solcher Paradigmenwechsel der verfassungsrechtlichen Dogmatik hier einzuläuten wäre, kann für unseren Untersuchungsgegenstand jedoch dahinstehen. Denn selbst wenn man die Grundrechtsberechtigung der GmbH und Aktiengesellschaft verneint und stattdessen hier allein auf das unstreitig zutreffende Prinzip der Volkssouveränität nach Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG abstellt,45 dann wird die gesellschafts- und mitbestimmungsrechtliche Aufsichtsratsdogmatik dennoch durch höherrangiges Verfassungsrecht überlagert. Ja daraus ließe sich sogar ableiten, dass der Rechtsordnung eine Ungleichbehandlung von zwei privatrechtlichen Gesellschaften gar nicht fremd ist: Wer sich als „Privater“ an einer Eigengesellschaft oder Mehrheitsgesellschaft der öffentlichen Hand beteiligt, sollte von dem Risiko wissen, dass der Grundrechtsschutz im Streitfalle abgeschnitten sein kann, gleichwohl aber das Demokratieprinzip in die Gesellschaftsform hineinwirkt. Des einen Freud (Demokratieprinzip) ist hier des anderen Leid46 (Grundrechtsverlust privater Anleger). Für die „Dogmatik“ ist festzuhalten, dass das „Gesellschaftsrecht“ diese ­Diskussionsebene bisher weder leitet noch großartig fördert; dabei wäre das Verständnis von Art.  19 Abs.  3 GG von entscheidender Bedeutung für die „Vorrang“-These. (2) Die „Vorrang“-These beruht auf der Annahme, dass das Gesellschaftsrecht systematisch abschließende Regelungen beinhaltet, so dass sich Rechte und Pflichten der Unternehmensorgane und ihrer Mitglieder ausschließlich danach richten können.47 So wird auch darauf hingewiesen, dass außenstehende Aktionäre in einer solchen Gesellschaft nicht schlechter gestellt werden dürften als in einer

44 Näher zu diesem Ansatz etwa Enders in BeckOK GG, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 39. Edition November 2018, Art. 19 Rz. 48.1; Ludwigs/Friedmann, NVwZ 22 (28); dies., JA 2018, 807 (812); Remmert in Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 84. EL August 2018, Art. 19 Abs. 3, Rz. 27 m.w.N in Fn. 4 und ausführlich von Mutius in Bonner Kommentar GG, Kahl/Waldhoff/ Walter (Hrsg.), Loseblatt, 189 EL 2018, Art. 19 Abs. 3 Rz. 114 f. 45 In diese Richtung geht auch Adenauer, NZG 2019, 85 (87 Fn. 26), wenn er davon spricht, dass Art. 20 Abs. 2 GG die Notwendigkeit gesellschaftsrechtlicher Anpassungen „verstärkt“ oder sogar „ersetzt“. 46 Interessant ist daher auch der Schlusssatz von Koch in Festschrift für Matthias SchmidtPreuß, 2018, 367 (386): „[..] fällt die Anlageempfehlung für private Investoren im Lichte der geschilderten Urteile eindeutig aus. Sie lautet: Finger weg!“. 47 Wegweisend wohl Fischer, AG 1982, 85 (90, 92) und Püttner, DVBl. 1986, 748 (751). Weitere Nachweise finden sich etwa bei Huber/Fröhlich in Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, 1128 (1130 Fn.  25) und dies. in GroßKomm AktG (Fn.  18), Vor §§  394, 395 Rz. 15 f.

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Gesellschaft mit privater Beteiligung.48 Insoweit kann schon darauf verwiesen werden, dass eine solche Zweiteilung von Gesellschaftergruppen nicht bei den Eigengesellschaften der öffentlichen Hand existiert, weil sie ausschließlich in der Hand des Hoheitsträgers liegen.49 (3) Als anderer Beleg für die „Vorrang“-These dienen §§ 394, 395 AktG, insbesondere deren durch die Kennzeichnung als „Sondervorschriften“ zum Ausdruck gebrachter Ausnahmecharakter.50 Um es mit den Worten von Peter M. Huber und Daniel Fröhlich zu sagen, erscheint dieser Verweis auf Art. 31 GG und die aktienrechtlichen „Sondervorschriften“ aber oftmals als „ein wenig zu schlicht“.51 Der formale Ansatz ist nur wenig behilflich, weil niemand bestreitet, dass das Gesellschaftsrecht als Bundesrecht dem Kommunalrecht als Landesrecht vorgeht.52 Das kommunale Wirtschaftsrecht hat darauf auch schon längst reagiert, teilweise durch die Anordnung, dass die Vertretungsregeln der Gemeinden in Unternehmen nur gelten, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (§ 113 Abs. 1 Satz. 4 GO NRW) oder dass der Rückgriff auf die Rechtsform der Aktiengesellschaft subsidiär53 gegenüber anderen Rechtsformen des Gesellschaftsrechts ist. Im Kern besteht die Kollision ja auch nicht zwischen Bundes- und Landesrecht. Die Konfliktlage bei der Bestellung des Aufsichtsratsvorsitzenden einer Eigengesellschaft der öffentlichen Hand besteht eben nicht im Rang von Normen in der Rechtsquellenhierarchie, sondern vielmehr darin, dass die Institute unseres Zivilrechts auf einem Felde in Dienst genommen werden, für das sie aus der Perspektive demokratischer Rückkoppelung nicht geschaffen sind. Das Demokratiegebot, aus dem die organisatorischen Anforderungen (Aufsichtsrat, Vorstand) an die Eigengesellschaften der öffentlichen Hand resultieren, hat Verfassungsrang. Natürlich folgt aus dem „Erfordernis demokratischer Legitimation staatlichen Handelns eine Pflicht des Staates, sich hinreichende Einwirkungsrechte auf das Unternehmen vorzubehalten“.54 Und ebenso klar dürfte sein, dass im Konfliktfall

48 Siehe zu dem Argument schon BGH, Urt. v. 13.10.1977 – II ZR 123/76, BGHZ 69, 334 (341) = NJW  1978, 104 (105) (VEBA/Gelsenberg) und näher Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht (Fn. 13), Rz. 8.41. Indes handelte es sich hier vielmehr um die Begründung einer „herrschenden Stellung“ nach § 17 Abs. 1 AktG. Dazu jüngst mit einem rechtshistorischen Ansatz Hirte/Mohamed, Hans Würdinger in 100 Jahre Rechtsgeschichte der Universität Hamburg, Repgen/Jeßberger/Kotzur (Hrsg.) (erscheint demnächst). Siehe zudem zuvor unter (1). 49 Auf das Problem der Vergleichbarkeit verweist auch schon Ossenbühl, ZGR 1996, 504 (512). 50 Siehe hierzu schon Püttner, DVBl. 1986, 748 (751). Die Kommentarliteratur befasst sich fast ausschließlich unter den Kommentierungen zu §§ 394, 395 AktG mit dem Streitthema. Für eine Weisungsgebundenheit aus § 394 AktG jedoch Heidel, NZG 2012 48 (53 f.). 51 Huber/Fröhlich in Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, 1128 (1130). 52 So auch schon Ossenbühl, ZGR 1996, 504 (512), den man bis heute als einen der Hauptkritiker des „Vorrangs“ des Gesellschaftsrechts ausfindig machen kann. 53 Vgl. nur § 103 Abs. 2 GemO Baden-Württemberg, § 108 Abs. 4 GO Nordrhein-Westfalen oder § 87 Abs. 2 GemO Rheinland-Pfalz. 54 BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 (135 Rz. 221) = NVwZ 2018, 51 (55 Rz. 221).

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die Verfassung Vorrang vor gesellschaftsrechtlichen Regelungen hat.55 Daher ist es die Pflicht der öffentlichen Hand, sich hinreichende Einwirkungs- und Weisungsrechte in ihren Unternehmen vorzubehalten.56 Das Kartenhaus fällt jedoch zusammen, wenn jegliche Pattsituation im Überwachungsorgan dadurch verloren wird, weil die Gebietskörperschaft das „Zweitstimmrecht“ des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht für sich beanspruchen kann, und das wiederum nur, weil ­dessen Wahl durch die Minderheit (!) der demokratischen Stimmen der Anteilseignerseite im Aufsichtsrat zustande gekommen ist. Das Ganze hat dann weniger mit klassisch verstandener „Rechtsdogmatik“ als mit „demokratischer“ Legitimation und „praktischer“ Folgewirkung zu tun. 3. Ergebnis Der Einfluss einer Gemeinde muss auch in einem mitbestimmten Aufsichtsrat der Eigengesellschaft in der Weise gewährleistet sein, dass die organisatorischen Entscheidungen an das Demokratieprinzip rückgekoppelt sind. Aufgrund des „Zweitstimmrechts“ des Aufsichtsratsvorsitzenden kommt dessen Wahl eine entscheidende Bedeutung zu. Die Position kann nicht mit einer Person besetzt werden, deren Wahl nicht auf die Mehrheit der Anteilseignerseite oder, anders gewendet, nicht durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf den Gemeinderat zurückgeführt werden kann.57

IV. Verfahrensrechtliche Aspekte Das Thema soll nun (vorerst) mit dem eingangs erwähnten Bezug zum Verfahrensrecht (§ 104 AktG) geschlossen werden. Kurz und bündig wollen wir zwei verfahrensrechtliche Erwägungen anstellen: (1) Das zuständige Amtsgericht kann auf Antrag nach § 104 AktG in zwei Fällen den nicht vorschriftsgemäß besetzten Aufsichtsrat statt im üblichen Bestellungsverfahren gerichtlich ergänzen, nämlich bei Beschlussunfähigkeit (Abs. 1) und bei Unterbesetzung des Aufsichtsrates (Abs. 2). Vordringlicher Sinn und Zweck der Ersatzbestellung ist es, die Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates

55 So nun auch im Zuge des BVerfG-Urteils zur Deutschen Bahn (Fn. 18) Katz, NVwZ 2018, 1091 (1093); Kersting, WPg 2018, 396 (punktuelles Zurückdrängen des Aktienrechts); Adenauer, NZG  2019, 85 (89) und i.E. wohl auch Burgi, NVwZ  2018, 601 (604); Schmolke, WM  2018, 1913 (1915) mit verfassungsrechtlicher Auslegung der §§  394, 395 AktG (S. 1918 ff.). 56 BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, BVerfGE 147, 50 (135 Rz. 221) = NVwZ 2018, 51 (55 Rz.  221); Katz, NVwZ  2018, 1091 (1092); vgl. auch Schockenhoff, NZG  2018, 521 (523), nach dem die Entscheidung im Hinblick auf Unternehmen im Alleinbesitz der öffentlichen Hand „unproblematisch“ sei. 57 Ebenso Adenauer, NZG 2019, 85 (89). I.E. sollte dies auch aus den Urteilen des NRWVerfGH (Fn. 22) und RhPfVerfGH (Fn. 20) folgen.

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sicherzustellen.58 Ist der Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden vakant, so trifft das Gesetz keine direkte Aussage darüber, ob eine Ersatzbestellung durch das Gericht in Betracht kommt. In mitbestimmten Gesellschaften genießt der Vorsitzende des Aufsichtsrates jedoch eine herausgehobene Funktion in Gestalt seines Zweitstimmrechts. Bei Vakanz seines Postens kann die „Pattsituation“ im Aufsichtsrat nicht aufgelöst werden. Damit wäre die Funktionsfähigkeit eines solchen Aufsichtsrates konkret gefährdet. In Anbetracht dieser Gefahrenlage muss das Gericht auf Antrag in entsprechender Anwendung des § 104 Abs. 2 AktG (i.V.m § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG) eine Ersatzbestellung vornehmen.59 Im Übrigen ist eine Unterbesetzung wegen Störung der gesetzlichen Parität stets ein „dringlicher Fall“ (§ 104 Abs. 3 Satz 2 AktG), weshalb der Antrag jederzeit und damit auch schon vor Ablauf der Dreimonatsfrist des Abs. 2 Satz 1 gestellt werden kann.60 Entsprechendes muss auch dann gelten, wenn der Aufsichtsratsvorsitz aufgrund einer unwirksamen Wahl vakant ist.61

Die in dem vom Erstverfasser insoweit angestrengten Verfahren der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen sind als Annex (V.) wiedergegeben.

(2) Eine verfahrensrechtliche Sonderstellung nimmt die Regelung des § 10 HGB und die Stellung des Registergerichts ein. So sind nach § 52 Abs. 3 Satz 2 GmbHG die Geschäftsführer bei jeder Änderung der Personen der Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet, unverzüglich eine Liste der Mitglieder des Aufsichtsrates einzureichen. Das Registergericht hat einen Hinweis darauf gemäß § 10 HGB bekannt zu machen. Dem Handelsregister kommt somit Publizitätsfunktion zu.62 Nun stellt sich allerdings folgendes Problem: Was ist vom Registergericht zu prüfen? Und kann die Prüfung der Wirksamkeit der zugrunde liegenden Beschlussfassung nur auf dem Zivilprozessweg erfolgen? Das ist so für den Fall einer anfechtbaren Beschlussfassung sicherlich zutreffend. Das Gesellschaftsrecht differenziert aber immer sehr deutlich zwischen bloß anfechtbaren und nichtigen Rechtsakten. Für den 58 Statt aller BGH, Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 296/01, NJW-RR 2002, 1461 (1462); Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 104, Rz. 1; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 2013, § 104 Rz. 1; Habersack in MünchKomm AktG, 5. Aufl. 2019, § 104 Rz. 1; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 12), § 104 Rz. 9; Koch in Hüffer/Koch, AktG (Fn. 7), § 104 Rz. 1; Spindler in Spindler/Stilz, AktG (Fn. 12), § 104 Rz. 1. 59 Ganz überwiegende Auffassung, vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG (Fn. 58), § 104 Rz. 14; Fett/Theusinger, AG 2000, 425 (427); Henssler in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 107 AktG Rz. 5; Habersack in Habersack/Henssler, MitbestG (Fn. 5), § 27 Rz. 4; ders. in MünchKomm AktG (Fn. 58), § 107 Rz. 26; Hopt/Roth in Großkomm AktG (Fn. 12), § 107 Rz. 31; Koch in Hüffer/Koch, AktG (Fn. 7), § 107 Rz. 6; Mertens/Cahn in KölnKomm AktG (Fn. 7), § 107 Rz. 23; Oetker in GroßKomm AktG (Fn. 5), § 27 MitbestG Rz. 9; Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), ArbeitsR Komm (Fn. 5), § 27 MitbestG Rz. 5; Spindler in Spindler/Stilz, AktG (Fn. 12), § 107 Rz. 29. 60 Jüngst E. Vetter, DB 2018, 3104. 61 Ebenso Adenauer, NZG 2019, 85 (90). 62 Siehe nur Ammon in Heidel/Schall, HGB, 2011, § 10 Rz. 3; Krafka in MünchKomm HGB, 4. Aufl. 2016, § 10 Rz. 1; Ries in Röhricht/Graf von Westphalen (Hrsg.), 4. Aufl. 2014, § 10 Rz. 5; Roth in Koller/Kind­ler/Roth/Morck (Hrsg.), HGB, 9. Aufl. 2019, § 10 Rz. 2; Schaub in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn (Hrsg.), HGB, 3. Aufl. 2014, § 10 Rz. 3.

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Fall einer nichtigen Beschlussfassung ist die Lage nämlich eine andere. Vielmehr gilt dort, dass die Nichtigkeit eines Beschlusses prinzipiell jederzeit und von jedem Betroffenen geltend gemacht werden kann (vgl. schon § 249 Abs. 1 Satz 2 AktG). Einen „nichtigen“ Beschluss gibt es eigentlich nicht, er wirkt nur scheinbar. Die Prüfung ausreichend demokratischer Rückbindung in Gestalt der Zusammensetzung des Aufsichtsrates einer Eigengesellschaft der öffentlichen Hand muss daher auch in anderer Weise als durch Erhebung einer Klage geltend gemacht werden können, außerprozessual etwa vor dem Registergericht.

V. Annex zu den verfahrensrechtlichen Aspekten Zur Dokumentation und praktischen Vervollständigung unseres „Werkstattberichts“ seien hier noch Auszüge aus zwei aktuellen Beschlüssen des Amtsgerichts Köln wiedergegeben (Beschluss hinsichtlich der Kostenentscheidung des vom Erstverfasser gegen die „Stadtwerke Köln Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ angestrengten Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 104 Abs. 2 AktG und Nicht-Abhilfebeschluss hinsichtlich der von ihm gegen den Beschluss eingelegten Beschwerde). Der Erstverfasser war jeweils Antragsteller (Beteiligter zu 1) des Verfahrens. Die Sache wurde zwischenzeitlich dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt. Für den interessierten Leser kann dies zudem als Ergänzung zu den verfahrensrechtlichen Aspekten unter IV. dienen: 1. Beschluss des AG Köln vom 14. Februar 2019 – HRB 2115 […] Der Geschäftswert für das Verfahren gemäß Antrag vom 24.08.2018 des Beteiligten zu 1. auf Bestellung eines Vorsitzenden des Aufsichtsrats aus den Reihen der Anteilseignerbank wird auf 60.000 € festgesetzt. Eine Kostenentscheidung im Sinne von § 81 FamFG ist nicht veranlasst. Gründe Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf der Anwendung von § 67 Abs. 1 Z. 1 GNotKG. Von einer Erhöhung des Geschäftswertes nach § 67 Abs. 3 GNotKG wird abgesehen, weil das Verfahren vor gerichtlicher Entscheidung zur Hauptsache durch Erledigungserklärungen beendet wurde. Das Verfahren ist erledigt, weil die Beteiligten durch Erklärungen vom 13.10.2018, 23.10.2018 und 06.11.2018 übereinstimmende Erledigungserklärungen abgegeben haben. Damit ist das Verfahren in der Hauptsache beendet (Keidel, FamFG, 19. Aufl. § 22 Rz. 29). Eine gerichtliche Entscheidung ist insoweit nicht mehr zulässig. Von einer Entscheidung zur Kostentragungspflicht nach den §§ 83 Abs. 2; 81 FamFG wird unter Abwägung aller Umstände nach billigem Ermessen abgesehen. 256

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Es kann dabei dahinstehen, ob das Registergericht mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung für eine Entscheidung in der Hauptsache zuständig gewesen wäre. Maßgeblich ist, dass der Antrag auf Bestellung eines Aufsichtsratsvorsitzenden durch den Beteiligten zu 1. darauf gestützt ist, dass die vorangegangene Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden verfassungswidrig sei und die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden damit vakant sei. Allerdings gibt es bislang keine höchstrichterlichen Entscheidungen (insbesondere keine verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur etwaigen Verfassungswidrigkeit von § 27 Abs. 1 MitBestG), welche konkret die vorliegende Fallkonstellation betreffen. Es handelt sich daher bei der vorliegenden Frage einer Verfassungswidrigkeit der Wahl um eine schwierige, ungeklärte Rechtsfrage. Derartige Rechtsfragen sind nicht im Rahmen einer gebotenen summarischen Prüfung im Rahmen einer Kostenentscheidung durch das Registergericht zu klären (Prütting/Helms, FamFG, 4.  Aufl. 2018, § 83 Rz. 11). Es erscheint daher angemessen, dass es bei der Kostentragung bei der gesetzlichen Regelung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GNotKG [sic!] verbleibt. […] 2. Beschluss des AG Köln vom 12. März 2019 – HRB 2115 […] Der Beschwerde des Beteiligten zu 1.  vom 03.03.2019 gegen den Beschluss vom 13.02.2019 wird nicht abgeholfen. Die Sache wird dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt. Gründe Der Beschwerde ist aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf welche ebenso wie auf die gewechselten Schriftsätze sowie den sonstigen Akteninhalt verwiesen wird, nicht abzuhelfen. Die vom Beteiligten zu 1. – Antragsteller – herangezogenen verfassungsrechtlichen Entscheidungen befassen sich nicht unmittelbar mit der Verfassungswidrigkeit der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden einer juristischen Person des Privatrechts nach dem Mitbestimmungsgesetz bzw. mit der Verfassungswidrigkeit des Mitbestimmungsgesetzes, insbesondere von § 27 MitbestG. Diese Frage ist daher nach Auffassung des Gerichts nicht höchstrichterlich geklärt. Insbesondere ist gerade die Frage, inwieweit und mit welchem Ergebnis die in den genannten Entscheidungen aufgestellten Grundsätze auf die vorliegende Konstellation anzuwenden sind, nicht verfassungsgerichtlich entschieden. Im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ist hierüber auch nicht zu entscheiden.

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Die Hauptsache ist übereinstimmend für erledigt erklärt worden. Daher ergeht nach § 22 Abs. 3 FamFG keine Entscheidung zur Hauptsache über den ursprünglich gestellten Antrag. Verfahrensgegenstand ist lediglich noch eine etwaige Kostenentscheidung nach Erledigung der Hauptsache gemäß §§ 83 Abs. 2, 81 FamFG. In diesem Rahmen kann die schwierige, ungeklärte Vorfrage der Verfassungswidrigkeit offenbleiben, Prütting/ Heims, FamFG, 4. Aufl. 2018, § 83 Rz. 11. Die Entscheidung über die Kostentragung dient nicht der Klärung schwieriger Rechtsfragen grundsätzlicher Art (vergleiche hierzu Zöller, ZPO, 32. Aufl. § 91 ZPO Rn. 27 zu § 91 Buchst. a ZPO). Insbesondere dient die Entscheidung zur Kostenfrage nicht der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, hier des Mitbestimmungsgesetzes. Gründe, von einer Erhebung der Kosten insgesamt abzusehen, § 81 Abs. 1 S. 2 ­FamFG, sind nicht ersichtlich. Das Vorliegen einer der Fallgruppen des § 81 Abs. 2 FamFG ist nicht ersichtlich. Über die Anordnung einer Kostentragungspflicht ist daher gemäß § 81 Abs. 1 S. 1 FamFG nach billigem Ermessen zu entscheiden. Der ursprüngliche Antrag des Beteiligten zu 1. war als Vorfrage darauf gestützt und davon abhängig, dass die vorangegangene Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden nach dem Mitbestimmungsgesetz verfassungswidrig sei. Wie vorstehend ausgeführt, ist die Verfassungswidrigkeit (oder Verfassungsmäßigkeit) der Wahl bzw. des Mitbestimmungsgesetzes, insbesondere in § 27, aber weder vom Verfassungsgericht festgestellt noch hier im Rahmen des nur noch die Kostentragung betreffenden Verfahrens als Vorfrage zu [sic!] festzustellen. Mangels inzidenter Prüfung der Verfassungswidrigkeit der vorangegangenen Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden kann diese nicht als Grundlage der Auferlegung der Kosten (ganz oder teilweise) zulasten der Antragsgegnerseite herangezogen werden. Es entspricht vor diesem Hintergrund nach Abwägung aller Umstände billigem Ermessen, von einer Kostenentscheidung nach §  81 FamFG abzusehen. […]

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Selbstschutz der GmbH-Minderheit bei Bildung eines faktischen Konzerns Inhaltsübersicht I. Zur Rechtfertigung der (Konzern-)​ ­Abhängigkeit 1. Minderheitenschutz als Gegenstand der Beschlussberatung 2. Konkretisierung der Inhaltskontrolle 3. Keine Inhaltskontrolle unternehme­ rischer Entscheidungen 4. Zwischenergebnis II. Stimmrechtsverbot im GmbH-Konzern 1. Laufende Kontrolle des Konzern­ geschehens 2. Die Überforderung der Gesellschafterminderheit 3. Die Konsequenz

III. Minderheiten-Selbstschutz 1. Das Schutzinstrumentarium nach ­Vorstellung der Minderheit 2. Gerichtliche Unterstützung im ­Anfechtungsverfahren 3. Austritt der Minderheit 4. Sonstige entstandene (Konzern-)​ ­Abhängigkeit 5. Statutarisches oder schuldrechtliches Schutzsystem IV. Fazit

Nach geltendem Aktienrecht müssen es die Aktionäre ohne rechtliche Reaktionsmöglichkeiten hinnehmen, wenn ihre Gesellschaft in Abhängigkeit gerät oder gar in eine faktische Konzernverbindung eingeflochten wird.1 Anders dagegen im GmbH-Recht; hier besteht nach Rechtsprechung und zustimmendem Schrifttum eine Konzerneingangskontrolle, um vor allem die Minderheitsgesellschafter vor den spezifischen Gefahren aus der Konzernabhängigkeit ihrer Gesellschaft oder auch nur aus derer schlichter Abhängigkeit zu schützen.2 Auf welchen Wegen jedoch die Minderheit beim Eintritt in die Abhängigkeit oder gar Konzernverflechtung geschützt werden soll, ist sowohl im Konzeptionellen als auch in einer ganzen Reihe von Details umstritten. Deshalb soll dem Konzerneingangsschutz hier noch einmal nachgegangen werden. 1 S. Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, Einl. Rz. 11; neuestens LG München vom 20.12.2018 – 5HK O 15236/37 – Linde/Praxair AG 2019, 225, 231: Verbot der (aktienrechtlichen) Konzernbildungskontrolle. 2 Im Anschluss an BGHZ 80, 69 – Süssen Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Anh. § 13, Rz. 128 ff.; Beurskens in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, KonzernR, Rz. 30 ff.; Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, Großkomm GmbHG, 2. Aufl. 2016, Anh. § 77, Rz. 55 ff.; Emmerich in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2012, Anh. § 13, Rz. 41 ff.; Koppensteiner/Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 5.  Aufl. 2013, Anh. §  52, Rz.  29  ff.; Liebscher in Münch Komm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anh. § 13, Rz. 265 ff.; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, Anh. §  13, Rz.  27  ff.; Servatius in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, ­GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Darst. 4, Rz. 449 ff. jeweils mwN.

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Peter Hommelhoff

I. Zur Rechtfertigung der (Konzern-)Abhängigkeit Nach dem „Süssen“-Urteil des Bundesgerichtshofs bedarf der Gesellschafterbeschluss, der einen Gesellschafter vom Wettbewerbsverbot befreien soll und auf diesem Wege die Gesellschaft in die Abhängigkeit bringt, nicht bloß der erforderlichen Stimmenmehrheit, sondern zusätzlich der sachlichen Rechtfertigung.3 1. Minderheitenschutz als Gegenstand der Beschlussberatung Damit ist es der Gesellschaftermehrheit, zumeist dem Mehrheitsgesellschafter, verwehrt, allein schon auf der Grundlage seiner Stimmenmacht, sogar gegen den Widerspruch der Gesellschafterminderheit, die Gesellschaft in die (Konzern-)Abhängigkeit zu führen. Bereits im Beschlussverfahren muss die Mehrheit ihre Absicht begründen, muss sie argumentativ unterlegen und für einen zustimmenden Beschluss werben: Worin liegen die Vorteile, aber auch die Nachteile einer solchen Unternehmensverbindung oder gar Konzernverflechtung für die Gesellschaft, für die Mehrheit, aber auch für die Minderheit? Die Summe dieser Vor- und Nachteile muss in ihrer Abwägung zum Ergebnis führen, dass die Umstrukturierung der bislang (konzern-)unabhängigen Gesellschaft in eine (konzern-)abhängige keinem rechtlichen Bedenken begegnet, sie mithin sachlich gerechtfertigt werden kann. Dies Ergebnis hängt auch und vor allem davon ab, welche Nachteile für die Minderheit aus der künftigen (Konzern-)Abhängigkeit zu befürchten sind, sowie davon, ob und inwieweit solche Nachteile rechtlich abgesichert reduziert oder gar ausgeschlossen werden können. Dies Instrumentarium der Nachteilsvermeidung oder zumindest -reduktion ist bereits Gegenstand der Beratungen unter den Gesellschaftern zum Beschlussantrag der Mehrheit, dessen Annahme die Gesellschaft in die (Konzern-)Abhängigkeit führt. Somit liegt in der „sachlichen Rechtfertigung“ des „Süssen“-Urteils der Selbstschutz der Minderheit verborgen: Sie ist gehalten, in die Beschlussberatung ihre Vorstellungen vom Instrumentarium eines (konzern-)abhängigkeits-spezifischen Minderheitenschutzes in ihrer Gesellschaft einzubringen und, wenn irgend möglich, auch durchzusetzen. 2. Konkretisierung der Inhaltskontrolle Sollten sich die Gesellschafter nicht auf ein bestimmtes Schutzinstrumentarium verständigen und die Mehrheit trotzdem mit ihrer Stimmenmacht den (Konzern-)Abhängigkeit begründenden Gesellschafterbeschluss fassen lassen, so bleibt der Minderheit unbenommen, den Beschluss im Wege des Anfechtungsverfahrens gerichtlich u.a. auf seine sachliche Rechtfertigung hin überprüfen zu lassen. Nach weit verbreiteter Ansicht4 ist es dann Aufgabe des erkennenden Gerichts, der Mehrheit Schranken 3 BGHZ 80, 69, 74; dazu u.a. Lutter/Timm, NJW 1982, 410. 4 Markant insbesondere in Übernahme der Formulierungen aus BGHZ 80, 69, 74 Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, Anh. §  77 GmbHG, Rz.  59; s. aber auch Liebscher in Münch Komm. GmbHG, Anh. § 13, Rz. 323 f.

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zu setzen, die dem Interessenausgleich dienen. Allerdings, so das Eingeständnis von Vertretern dieser Ansicht, lassen sich die Anforderungen an die „sachliche Rechtfertigung“ nicht generell bestimmen. Sie richten sich vielmehr nach der Struktur der Gesellschaft und nach dem Ausmaß der ihr aus der Abhängigkeit drohenden Gefährdung. Dabei wollen manche zwischen personalistischen Gesellschaften, die auf das persönliche Zusammenwirken und die gemeinsame Zweckverfolgung der konkret vorhandenen Gesellschafter gegründet sind, und kapitalistischen Gesellschaften unterscheiden, bei denen die Gesellschafter als bloße Investoren die Gesellschaftsan­ gelegenheiten von Fremdgeschäftsführern erledigen lassen. Auf jeden Fall habe das Gericht unter Abwägung der Interessen und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck zu prüfen, ob der in die (Konzern-)Abhängigkeit führende Beschluss durch sachliche Gründe im Interesse der Gesellschaft gerechtfertigt sei und das Beschlussziel auch nicht auf alternativen Wegen erreicht werden könne, die keine Abhängigkeitslage zu Lasten der Gesellschaft schaffe. 3. Keine Inhaltskontrolle unternehmerischer Entscheidungen Einem solchen Prüfprogramm für das Gericht ist zu widersprechen. Es ist nicht bloß mit hoher Rechtsunsicherheit5 verbunden, weil sich das Interesse der Mehrheit, die bisher (konzern-)abhängigkeitsfreie Gesellschaft in eine (konzern-)abhängige zu transformieren, (unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck) schlecht mit dem Minderheitsinteresse abwägen lässt, den Status einer unabhängigen Gesellschaft beizubehalten – zumal die Gefahren aus künftiger (Konzern-) Abhängigkeit in einer Gesellschaft, die im dynamisch sich fortentwickelnden Wettbewerb engagiert ist, sich weder nach ihrem Eintritt, noch nach ihrem Ausmaß hinreichend gefestigt prognostizieren lassen. Andernfalls würde die Rechtsbeständigkeit der Umstrukturierung über lange Zeit hinweg in der Schwebe gehalten, das Ergebnis der Rechtfertigungsprüfung mehr oder minder weit dem Zufall ausgeliefert und den Minderheitsgesellschaftern ein beträchtliches Erpressungspotential eröffnet. Vor allem jedoch würde das Gericht mit einem solch eigenen, auf Interessenausgleich und Übermaßverbot ausgerichteten Prüfprogramm eine Entscheidungszuständigkeit usurpieren, die ihm nicht anstelle der verantwortlichen Entscheidungsträger innerhalb der Gesellschaft zusteht. Richter sind keine Unternehmer, wie es auch der Gesetzgeber in der business judgement rule (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG) vorgegeben hat, die über den „sicheren Hafen“ für Verwaltungsmitglieder hinaus zugleich gerichtlicher Entscheidungskompetenz Grenzen zieht. Die Entscheidung, eine bislang (konzern-) unabhängige Gesellschaft in eine (konzern-)abhängige umzuformen, ist eine unternehmensstrukturelle, ist eine unternehmerische Entscheidung,6 die von nicht justi­ ziablen Zweckmäßigkeitserwägungen ebenso geprägt ist wie von zukunftsbezogenen und prognoseabhängigen Entscheidungselementen. Solche unternehmerischen Ent5 Roth/Altmeppen, Anh. §  13 GmbHG, Rz.  132; Emmerich in Scholz, Anh. §  13 GmbHG, Rz. 52; s. auch schon Hommelhoff, ZGR 2012, 535, 559. 6 Zu ihr Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  93, Rz.  68; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93, Rz. 16 ff.

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scheidungen sind vom weiten unternehmerischen Ermessen der zuständigen Entscheider getragen und daher wegen ihres Inhalts erst dann vom Gericht kassierbar, wenn die Entscheidung ganz und gar unvernünftig oder schlechthin unvertretbar ist.7 Und umgekehrt: was nicht evident unvernünftig ist, ist gerichtlicher Kontrolle ent­ zogen. Vor der Evidenzgrenze fällt das Gericht keine eigene unternehmerische Entscheidung. Das gilt ebenfalls für die Transformation in eine (konzern-)abhängige GmbH. 4. Zwischenergebnis Damit kann nach allem als Zwischenergebnis festgehalten werden: Der Gesellschafterbeschluss, über den die Gesellschaft in die (Konzern-)Abhängigkeit gelangt, bedarf der Kontrolle, um die Minderheit vor den Gefahren dieser (Konzern-)Abhängigkeit zu schützen. Aber dieser Schutz lässt sich nicht über die Kontrolle gewährleisten, ob die Begründung der (Konzern-)Abhängigkeit unternehmerisch gerechtfertigt ist. Eine solche Inhaltskontrolle liegt außerhalb der gerichtlichen Entscheidungszuständigkeit – abgesehen von Fällen evidenter Unvernunft.

II. Stimmrechtsverbot im GmbH-Konzern Nach Ansicht anderer bedarf die Gesellschafterminderheit keines konzernspezifischen Eingangsschutzes bei Begründung der (Konzern-) Abhängigkeit, weil jene vor deren Gefahren durch den Stimmrechtsausschluss der Gesellschaftermehrheit bei der Vornahme von Rechtsgeschäften der Gesellschaft mit dieser mehrfach und hinreichend gesichert sei.8 §  47 Abs.  4 Satz 2 GmbHG sei die „Kardinalnorm“ für das ­GmbH-Konzernrecht. 1. Laufende Kontrolle des Konzerngeschehens Im Zentrum dieses Schutzansatzes steht der Gedanke, alle Maßnahmen der Gesellschaft in Bezug auf die herrschende Gesellschaftermehrheit oder andere mit ihr verbundene Unternehmen seien der Kontrolle durch die Gesellschafterminderheit zu unterwerfen, also der gesamten Lieferungs- und Leistungsverkehr, an dem die Gesellschaft innerhalb des Konzerns beteiligt ist, und sämtliche anderen Maßnahmen der Gesellschaft mit Konzernbezug.9 Soweit an diesem Verkehr und an diesen Maßnahmen die Gesellschafter (mit-)entscheidend beteiligt sind, sei die Gesellschaftermehrheit von der Abstimmung ausgeschlossen. Bei Maßnahmen und Geschäften, über die an sich die Geschäftsführer ohne Gesellschafter-Mitwirkung befänden, könnten die

7 Fleischer in Spindler/Stilz, § 93 AktG, Rz. 75 aE. 8 Roth/Altmeppen, Anh. § 13 GmbH, Rz. 146; näher zum Stimmverbot in der GmbH Altmeppen, FS Bergmann 2019, S.  1. S.  auch Bernau, FS Bergmann 2019, S.  63; Grunewald, FS Bergmann 2019, S. 215. 9 Roth/Altmeppen, Anh. § 13 GmbHG, Rz. 148.

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Gesellschafter beschließen, auch jene ihrer Zustimmung zu unterstellen.10 Diesen Zustimmungsvorbehalt könnten die Gesellschafter ebenfalls ohne Mitwirkung der Gesellschaftermehrheit beschließen, da diese auch hierbei vom Stimmrecht ausgeschlossen sei. Konsequent wird das Stimmrechtsverbot auch schon beim Gesellschafterbeschluss aktiviert, der die Gesellschaft in die (Konzern-) Abhängigkeit führt – also bei der Befreiung der Gesellschaftermehrheit vom Wettbewerbsverbot11 oder bei der Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Geschäftsanteile an eine dadurch entstehende Gesellschaftermehrheit mit anderweit zusätzlichen unternehmerischen Interessen. 2. Die Überforderung der Gesellschafterminderheit Diese Lehre vom „Stimmrechtsverbot im GmbH-Konzern“ zielt darauf ab, die Gesellschafterminderheit zu ermuntern, sich vor den Gefahren aus Abhängigkeit und Konzernierung selbst zu schützen. In diesem Ansatz eines eigenverantwortlichen Selbstschutzes der Minderheit verdient die Lehre schon deshalb Zustimmung, weil sich kein allgemeiner Außenseiterschutz normieren lässt, der in seiner konkreten Ausformung angemessene Rechtssicherheit im Einzelfall gewährleistet. Dem steht die Vielfalt der konzernierten Gesellschaften mbH in der Wirtschaftspraxis entgegen, die je individuelle Schutzmechanismen zugunsten der jeweiligen Gesellschafterminderheit erfordert.12 In seinen Konsequenzen jedoch ist dem Selbstschutz qua Stimmrechtsverbot zu widersprechen. Die mit ihm intendierte Kontrolle des gesamten Konzerngeschehens, soweit die eigene Gesellschaft an ihr beteiligt ist, überfordert die Gesellschafterminderheit bei weitem.13 Diese hat in aller Regel weder den Antrieb, noch Zeit, Kenntnisse, Befähigung und Geld, um die abhängige Gesellschaft und damit ihre eigenen Inter­ essen durch kontrollierende Beteiligung an der alltäglichen Konzerngeschäftsführung in jener auf Dauer und intensiv vor den Gefahren der Konzernabhängigkeit erfolgversprechend zu bewahren. Wie groß die Herausforderungen sind, die aus der Kontrolle des laufenden Konzerngeschehens folgen, veranschaulicht das gesetzliche Schutzprogramm für die (konzern-)abhängige Aktiengesellschaft mit dem Abhängigkeitsbericht des eigenverantwortlichen Vorstands (§ 312 AktG), seiner Prüfung durch den Abschlussprüfer (§ 313 AktG) und der anschließenden Prüfung durch den Aufsichtsrat (§  314 AktG). Diesem dreifach professionell rückgekoppelten Schutzprogramm des Aktienrechts könnte in der konzernierten GmbH mit ihren Geschäftsführern, deren Abberufung ohne jede Begründung die Gesellschaftermehrheit jederzeit betreiben kann (§ 38 Abs. 1 GmbHG), eine Kontrolle des Konzerngeschehens durch die Gesellschafterminderheit noch nicht einmal in schwachen Ansätzen gleichkommen.

10 Roth/Altmeppen, Anh. § 13 GmbHG, Rz. 149. 11 Roth/Altmeppen, Anh. § 13 GmbHG, Rz. 136. 12 So zutreffend Rittner, AcP 183 (1983), 295, 308 f. 13 Dazu schon Hommelhoff, ZGR 2012, 535, 562.

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3. Die Konsequenz Kurzum: die über das Stimmrechtsverbot aus § 47 Abs. 4 Satz 2 GmbHG auf den Weg gebrachte Möglichkeit für die Gesellschafterminderheit, das Konzerngeschehen in ihrer Gesellschaft zu kontrollieren, liefert kein Instrument, um den Gefahren aus der (Konzern-)Abhängigkeit effektiv zu begegnen: Minderheitskontrolle in dieser Weise ist kein ausreichender Behelf, um die Minderheit in der bestehenden Unternehmensverbindung zu schützen. Dennoch: Konzerneingangsschutz bleibt geboten. Konsequent ist nach anderen Wegen Ausschau zu halten, wie sich die Gesellschafterminderheit selbst vor den Gefahren zu schützen vermag, die nach ihrer Einschätzung in gerade ihrer Gesellschaft anstehen.

III. Minderheiten-Selbstschutz Wenn der Gesellschafterminderheit, wie oben unter II. 2. dargelegt, nicht durch das Gesetz mit allgemeinen Regeln effektiv geholfen werden kann, jene vielmehr zu individuellem Selbstschutz über ein Rechtsinstrumentarium aufgerufen ist, das den spezifischen Gefahren und Herausforderungen der (Konzern-)-Abhängigkeit in gerade ihrer Gesellschaft nach Einschätzung der Minderheit effektiv gerecht wird, dann stellen sich im Folgenden zwei Fragen: zum einen die, wie die Minderheit ihre Vorstellungen von einem individuell-angemessenen Schutzinstrumentarium einbringen und nach Möglichkeit bis zur verbindlichen Vereinbarung auch durchzusetzen vermag; und zum anderen die Frage, ob und inwieweit das Gericht die Bemühungen um einen individuell-angemessenen Außenseiterschutz der Minderheit und dessen rechtsverbindliche Fixierung unterstützen kann. 1. Das Schutzinstrumentarium nach Vorstellung der Minderheit Erstes Forum, auf dem die Minderheit ihre Vorstellungen vom Instrumentarium des Eigenschutzes der Gesellschaftermehrheit präsentiert, sind die Beratungen zum Beschluss, der die Gesellschaft in die (Konzern-)Abhängigkeit führen soll. Um ihre Vorstellungen, zumeist sachkundig beraten, entwickeln zu können, braucht die Minderheit Informationen – über die beabsichtigte Unternehmensverbindung als solche und über die Einzelheiten dieser Verbindung insoweit, wie ihre Kenntnis notwendig ist, um die künftig mögliche Beeinträchtigung der Gesellschaftsinteressen und die der Gesellschafterminderheit abschätzen zu können. Grundlage dieses Informationsanspruchs ist die Treupflicht der Gesellschaftermehrheit gegenüber der Minderheit.14 Die auf dieser Grundlage von der Minderheit gebildeten Vorstellungen zu ihrem Schutz können sodann in die Beratungen zum Gesellschafterbeschluss eingebracht werden. Zu den vorgeschlagenen Schutzinstrumenten mag dann auch die Zustimmung der Minderheit zu konkret beschriebenen Maßnahmen zählen, von denen Ge14 Roth/Altmeppen, Anh. §  13 GmbHG, Rz.  138; Lutter/Hommelhoff, Anh. §  13 GmbHG, Rz. 34 jeweils mwN.

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fahren für die Interessen der Gesellschaft und/oder die ihrer Minderheit ausgehen. Auf deren Vorstellungen vom Schutzinstrumentarium muss die zu Gesellschaftertreue verpflichtete Mehrheit eingehen, ohne jedoch verpflichtet zu sein, sich den Vorstellungen der Minderheit in allem anzuschließen. Verpflichtet ist die Gesellschaftermehrheit lediglich zur Akzeptanz eines objektiv mit Blick auf die Gesellschafts- und Minderheitsinteressen angemessenen Schutzsystems. Erst wenn sich die Gesellschafter auf ein solches Schutzsystem verständigt haben, ist der Gesellschafterbeschluss, der die Gesellschaft in die (Konzern-)Abhängigkeit führt, sachlich gerechtfertigt. Die Minderheit hat die Bedrohungslage also keineswegs klaglos hinzunehmen; im Gegenteil: Sollten sich die Gesellschafter auf kein angemessenes Schutzsystem verständigen können, bleibt der Minderheit die Möglichkeit, den (Konzern-)Abhängigkeit stiftenden Gesellschafterbeschluss wegen fehlender Rechtfertigung anzufechten. 2. Gerichtliche Unterstützung im Anfechtungsverfahren Im Anfechtungsverfahren ist es dann Aufgabe des erkennenden Gerichts zu prüfen, in welchem Verhältnis die Vorstellungen der Minderheit zum Schutzinstrumentarium auf der einen Seite und die der Gesellschaftermehrheit auf der anderen zum objektiv angemessenen Schutzsystem stehen: Bleiben die der Mehrheit dahinter zurück, so hat es der Anfechtungsklage mangels hinreichender sachlicher Rechtfertigung stattzugeben; gehen hingegen die Vorstellungen der Minderheit über ein objektiv angemessenes Schutzsystem hinaus, ist die Anfechtungsklage abzuweisen. Allerdings ist der Erlass eines Urteils nicht zwingend. In der mündlichen Verhandlung wird das Gericht (gehalten, in jeder Verfahrensphase auf eine gütlich Einigung der Parteien hinzuwirken, § 278 ZPO)15 auf der Grundlage der widerstreitenden Parteivorstellungen seine eigenen Vorstellungen eines in concreto objektiv angemessenen Schutzsystems skizzieren und damit Anregungen liefern, wie sich die Gesellschafter auf ein Schutz­system im Vergleichswege verständigen könnten – was sie selbstverständlich nicht müssen. Daneben kann es zu einem Anfechtungsurteil kommen, wenn die Gesellschaftermehrheit entweder nicht die für die Entwicklung eines Schutzinstrumentariums notwendigen Informationen bereitstellt oder sich während der Beschlussberatung ganz grundsätzlich dem Versuch verweigert, ein angemessenes Schutzsystem zu vereinbaren. Verhandlungsgegenstand im Anfechtungsverfahren ist in erster Linie das Instrumentarium des Minderheitenschutzes unmittelbar zugunsten der Gesellschafterminderheit und/oder mittelbar über den Schutz der Gesellschaft und deren Interessen vor den Gefahren der (Konzern-)Abhängigkeit, wie sie gerade aus dieser Unternehmensverbindung zu erwarten sind. Umgekehrt sind kein Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung und somit auch kein Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht die Begründung der (Konzern-)Abhängigkeit als solche und deren Sinnfälligkeit. Sie unterliegt allein der unternehmensstrukturellen Entscheidung 15 Dazu Greger in Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 278, Rz. 1 ff.; Prütting in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 278, Rz. 1 ff.; Saenger, ZPO, 7. Aufl. 2017, § 278, Rz. 111; speziell zum Güterichterverfahren nach § 278 V ZPO Greger, MDR 2014, 993.

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der Gesellschafter, die mit den Stimmen der Gesellschaftermehrheit getroffen wurde, und ist als unternehmerische (abgesehen von evidenten Missgriffen) dem Entscheid des Gerichts entzogen (oben I. 3.). 3. Austritt der Minderheit Bleibt die Frage nach dem Austritt der Gesellschafterminderheit: Sollte sie dazu allein schon wegen des beschlossenen Wechsels in die (Konzern-)Abhängigkeit berechtigt sein oder erst unter qualifizierten Voraussetzungen? Für ein qualifizierungsfreies Austrittsrecht könnte die Überlegung sprechen, keinem Gesellschafter einer bislang unabhängigen Gesellschaft könne der Wechsel in die (Konzern-)Abhängigkeit zugemutet werden.16 Dagegen jedoch, dass alle Rechtsformen mit Mehrheitsprinzip, unter ihnen auch und insbesondere die GmbH, „konzern- und abhängigkeitsoffen“ in dem Sinne sind, dass sogar die Konzernierung einer Gesellschaft keine Zweckänderung nach § 33 BGB bedeutet und dass deshalb der Wechsel in die (Konzern-)Abhängigkeit der Minderheit durchaus zugemutet werden kann, wenn sie gegen die Gefahren aus der (Konzern-)Abhängigkeit ausreichend geschützt ist. Dies ist das Regelungskonzept der §§ 311 ff. AktG; es ist nicht zu erkennen, warum im GmbH-Recht etwas grundsätzlich Anderes gelten sollte. Daher ist das Austrittsrecht der Gesellschafterminderheit bei Begründung der (Konzern-)Abhängigkeiten mit dem Minderheitenschutz verknüpft, so dass sich fragt, ob das Austrittsrecht schon dann entsteht, wenn die Mehrheit die für die Entwicklung von Schutzmechanismen notwendigen Informationen verwehrt oder das Gespräch über die Schutzvorstellungen der Minderheit verweigert. Für ein bereits in diesem frühen Studium begründetes Recht zum Austritt streitet die Überlegung, eine sich derart robust den Minderheitsinteressen versagende Mehrheit werde später auch trotz erfolgreicher Anfechtungsklage gegen den (Konzern-)Abhängigkeit begründenden Gesellschafterbeschluss Mittel und Wege finden, um verdeckt ihre Interessen in Richtung faktischer (Konzern-)Abhängigkeit durchzusetzen; einer solchen Entwicklung brauche sich die Gesellschafterminderheit nicht auszusetzen. Unter diesen Voraussetzungen könne sie, wenn sie es nur wolle, aus der Gesellschaft ohne Erhebung einer Anfechtungsklage gegen Abfindung ausscheiden. Was aber ist mit dem Austritt nach Verhandlungen über ein Schutzsystem, über das sich die Gesellschafter nicht haben verständigen können; machen die Begründung der (Konzern-)Abhängigkeit und die mangelnde Einigung über ein Schutzsystem zusammen der Minderheit den Verbleib in der dann (konzern-)abhängigen Gesellschaft unzumutbar? Das ist nicht anzunehmen; denn in diesem Fall hat die Gesellschaftermehrheit die Notwendigkeit eines (konzern-)abhängigkeitsspezifischen Schutzsystems im Grundsatz anerkannt und sich bereit erklärt, auf die Minderheitsinteressen Rücksicht zu nehmen. Der Minderheit ist es deshalb zuzumuten, zur Schaffung eines angemessenen Minderheitenschutzes sich der moderierenden Unterstützung des Ge16 Scholz/Emmerich, Anh. § 13 GmbHG, Rz. 84; Wiedemann, Die Unternehmensgruppe im Privatrecht, 1988, S. 67 f.

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richts auf dem Weg über eine Anfechtungsklage zu vergewissern (§ 278 ZPO).17 Sollte es ebenfalls vor den Schranken des Gerichts zu keiner Verständigung kommen (etwa weil sich kein Schutzsystem finden lässt oder mit dem angemessenen Schutzsystem immer noch übergroße Restrisiken verbunden sind), so kann das Gericht sogleich darüber befinden, ob der geschützten Minderheit trotz der Restrisiken der Verbleib in der (konzern-)abhängigen Gesellschaft zugemutet werden kann. Bei unauffindbarem Schutzsystem dagegen ist der Minderheit der Austritt gegen Abfindung ohne Weiteres eröffnet. 4. Sonstige entstandene (Konzern-)Abhängigkeit Nicht in jedem Fall beruht der Eintritt der (Konzern-)Abhängigkeit auf einem Gesellschafterbeschluss; sie kann auch aus einseitigem Verhalten der Gesellschaftermehrheit herrühren oder aus sonstigen Umständen in deren Sphäre – etwa, wenn der bisher als privater Kapitalanleger an der Gesellschaft beteiligte Mehrheitsgesellschafter eine eigene unternehmerische Tätigkeit außerhalb der Gesellschaft aufnimmt oder er eine weitere unternehmerischen Einfluss eröffnende Beteiligung erwirbt.18 Dann wird der Mehrheitsgesellschafter zum herrschenden Unternehmen nach dem Recht der verbundenen Unternehmen. Zulasten der Gesellschaft und der an ihr beteiligten Minderheit entstehen dann (konzern-)abhängigkeitsspezifische Gefahren. Wie kann in einer solchen Konstellation der (konzern-)abhängigkeitsinduzierte Selbstschutz der Gesellschafterminderheit auf den Weg gebracht werden? In der ersten Phase entwickelt sich das Rechtsverhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit nach denselben Regeln, wie sie schon für die (Konzern-) Abhängigkeit begründende Beschlussfassung herausgearbeitet worden ist: Die zu Gesellschaftertreue gegenüber der Minderheit verpflichtete Gesellschaftermehrheit hat sowohl über die Entstehung der (Konzern-) Abhängigkeit zu informieren als auch über die weiteren Einzelheiten der künftigen Unternehmensverbindung, damit die Minderheit ihre Vorstellungen zu einem angemessenen Schutzsystem entwickeln (lassen) kann. Über diese Vorstellungen hat sich die Mehrheit mit der Minderheit mit dem Ziel zu ­beraten, sich auf ein angemessenes Schutzsystem zu einigen. Sollte dagegen die Gesellschaftermehrheit keine Informationen liefern oder sich der Verhandlung über ein Schutz­ system versagen, so kann die Minderheit, wenn sie will, sogleich aus der Gesellschaft gegen Abfindung ausscheiden (oben III. 3.). Falls jedoch die Mehrheit die Notwendigkeit eines Minderheitenschutzes durch Aufnahme der Verhandlungen im Grundsatz anerkennt, man sich jedoch nicht über bestimmte Schutzinstrumente verständigen kann, lässt sich gerichtliche Unterstützung mangels eines Gesellschafterbeschlusses nicht auf dem Wege eines Anfechtungsverfahrens erschließen. Der Minderheit steht es aber frei, die Mehrheit auf Zustimmung zu dem von ihr, der Minderheit, verfochtenen Schutzsystem zu verklagen. Da die Mehrheit ihre eigenen Vorstellungen von einem Schutzsystem in das Verfahren mit 17 Oben Fn. 15. 18 S. Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, Anh. § 77 GmbHG, Rz. 57.

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dem Ziel der Klageabweisung einbringen wird, erhält das Gericht so die Unterlagen, um den Parteien seine eigenen Vorstellungen von einem objektiv angemessenen Schutzprogramm zu skizzieren (arg. § 278 ZPO).19 Alles Weitere bis hin zum möglichen Austritt kann sich dann wie beim Anfechtungsverfahren gestalten. 5. Statutarisches oder schuldrechtliches Schutzsystem Niedergelegt wird das einvernehmlich gefundene oder vom Gericht festgelegte Schutzprogramm in aller Regel im Gesellschaftsvertrag der (konzern-)abhängigen GmbH. Auf diese Weise wird dann ebenfalls ein möglicher Nachfolger der Gesellschaftermehrheit gebunden, wie umgekehrt auch Nachfolger der Gesellschafterminderheit durch die Schutzregeln im Gesellschaftsvertrag automatisch gesichert sind. Außerdem gibt die Aufnahme des Schutzsystems in den Gesellschaftsvertrag deutlich auch für Dritte wahrnehmbar und auf Dauer kund, dass der so niedergelegte Minderheitenschutz zum rechtlichen Fundament dieser (konzern-)abhängigen Gesellschaft gehört. Deshalb hat die Treupflicht-begünstigte Gesellschafterminderheit einen Anspruch darauf, dass ihr Schutz nicht anders als im Gesellschaftsvertrag verankert wird. Andererseits steht es den Gesellschaftern frei, das Schutzinstrumentarium statt im Gesellschaftsvertrag einvernehmlich in einer oder mehreren schuldrechtlichen Nebenabreden niederzulegen20 – etwa wenn sie außenstehenden Dritten den Einblick in das Schutzsystem versperren wollen. Dann tauchen zwar einige Komplikationen bei der Gesellschafternachfolge auf; aber diese sind beherrschbar: Sollte die Gesellschaftermehrheit ihre Geschäftsanteile auf Nachfolger übertragen haben, ohne für deren Übernahme auch der schuldrechtlichen Nebenabreden gesorgt zu haben, so hat die Gesellschafterminderheit die oben unter III. 4. entwickelten Rechte und Möglichkeiten ebenfalls gegenüber den Nachfolgern als Treupflicht-gebundenen Mitgesellschaftern. Bloß eine Hochstufung des Schutzsystems zum statutarischen ist der Minderheit (ohne Mitwirkung der Nachfolger) versagt; sie muss sich am ursprünglichen Einvernehmen festhalten lassen. Sollte dagegen die Gesellschafterminderheit wechseln, so kann die ursprüngliche von der Mehrheit fordern, die schuldrechtlichen Nebenabreden auch zugunsten der nachfolgenden Minderheit gelten zu lassen. Die Gesellschaftermehrheit darf die Mitgliedschaftsrechte der Minderheit in der (konzern-)abhängigen Gesellschaft nicht von ihrem ummantelnden Schutz entkleiden und sie damit tendenziell unübertragbar machen.

IV. Fazit 1. Im GmbH-Recht benötigt die Gesellschafterminderheit Schutz vor den Gefahren der (Konzern-)Abhängigkeit, sobald die Gesellschaft in Abhängigkeit gerät. 19 Oben Fn. 15. 20 Zum Schutz durch konsortialvertragliche Absprachen Liebscher in MünchKomm. GmbHG, Anh. § 13, Rz. 289.

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2. Diesen (konzern-)abhängigkeitsspezifischen Minderheitenschutz in seiner ausgeprägten Individualität muss sich die Minderheit selbst schaffen. Gesetzliche Schutzprogramme würden weithin ineffektiv bleiben. 3. Damit die Minderheit ihrer Eigenverantwortung, für ein angemessenes Schutzprogramm selbst zu sorgen, nachkommen kann, hat die Gesellschaftermehrheit sie mit all’ jenen Informationen zu versorgen, die für die Ausarbeitung eines solchen Programms notwendig sind. 4. Über den Programmvorschlag der Minderheit hat die Mehrheit mit dieser in dem Bestreben zu verhandeln, sich auf ein konkret angemessenes Schutzprogramm zu verständigen. 5. Sollte die Mehrheit die notwendigen Informationen oder die Programmverhandlung verweigern, kann die Minderheit aus der Gesellschaft gegen Abfindung ausscheiden. 6. Falls sich die Gesellschafter in der Programmverhandlung nicht auf einen an­ gemessenen Minderheitenschutz verständigen können, steht es der Minderheit frei, sich gerichtliche Unterstützung auf dem Weg über eine Anfechtungs- bzw. Leistungsklage mitsamt gütlichem Ausgleich zu erschließen. 7. Aufgabe des angerufenen Gerichts ist es dann, den Schutzvorschlag der Minderheit gegen die Einwände der Mehrheit mit Blick auf einen objektiv angemessenen Minderheitenschutz zu würdigen und auf dieser Grundlage die Elemente eines nach seiner Ansicht konkret angemessenen Schutzes den Beteiligten zu skizzieren. 8. Dagegen ist es nicht Aufgabe des Gerichts, die Transformation der bislang unabhängigen Gesellschaft in eine (konzern-)abhängige auf ihre unternehmerische Sinnfälligkeit hin zu prüfen. Diese Entscheidung liegt im weithin unüberprüfbaren unternehmerischen Ermessen allein der Gesellschafter.

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Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat in streitigen Verfahren – Bestandsaufnahme und ausgewählte Einzelfragen Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Bestandsaufnahme und gesetzliche ­Vorgaben 1. Die Prozessvertretung der AG durch den Aufsichtsrat a) Gesetzlich ausdrücklich bestimmte Vertretungsfälle b) Die Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat als Annex zu ihm ­obliegenden Aufgaben 2. Abgrenzungszweifel a) Vertretung gegenüber dem Vorstand b) Anspruchsverfolgung gegen den D&O-Versicherer c) Beschlussmängelverfahren d) Freigabeverfahren I II. Die Willensbildung im Aufsichtsrat 1. Entscheidung über die Prozessführung durch Beschluss 2. Delegation an einen Ausschuss 3. Delegation der Prozessführung IV. Die gesetzliche Vertretung durch den Aufsichtsrat im Prozess 1. Die ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung als Frage der Prozessfähigkeit a) Gesetzliche Vertretung der Parteien als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage b) Verfahren bei nachträglichem Wegfall der gesetzlichen Vertretung 2. Formale Anforderungen an die Bezeichnung des Aufsichtsrats als gesetzlichem Vertreter in der Klage

3. Behebung von Mängeln bei der gesetzlichen Vertretung durch den Aufsichtsrat a) Jederzeitige Behebbarkeit formaler Mängel b) Behebung von Vertretungsmängeln durch Übernahme der Prozess­ führung durch den Aufsichtsrat c) Rückwirkende Heilung von Vertretungsmängeln durch Genehmigung der bisherigen Prozessführung d) Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe zur Herstellung der ordnungs­ gemäßen Vertretung e) Gerichtliche Hinweispflicht bei einem Vertretungsmangel und prozessuale Konsequenzen 4. Streitiges Verfahren über die gesetzliche Vertretung a) Beweisführung b) Vertretung der AG im Streit um die Prozessfähigkeit c) Kostenentscheidung V. Beteiligung von Mitgliedern des ­Aufsichtsrats am Verfahren 1. Vernehmung von Aufsichtsratsmitgliedern als Zeuge oder als Partei 2. Aufsichtsratsmitglieder als Neben­ intervenienten 3. Aufsichtsratsmitglieder als Prozess­ bevollmächtigte VI. Schlussbemerkung

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I. Vorbemerkung Der geschätzte Jubilar hat einen ausgeprägten Schwerpunkt im Recht des Aufsichtsrats. Das belegt eine Vielzahl profunder Veröffentlichungen zu diesem Thema aus der Feder von Eberhard Vetter,1 gilt dem Vernehmen nach aber auch für seine praktische Tätigkeit als wirtschaftsberatender Rechtsanwalt. Dies gibt Hoffnung, dass die nachfolgenden Ausführungen sein Interesse finden. Dabei soll die Rolle des Aufsichtsrats im streitigen Verfahren, in dem ihm die Vertretung der Aktiengesellschaft als Verfahrenspartei übertragen ist, näher beleuchtet werden. Die praktische Bedeutung der Themenstellung hat durch die gesteigerten Anforderungen an die Tätigkeit des Aufsichtsrats, dessen damit einhergehende höhere Risikosensibilität und die immer breiter ausgeprägte Bereitschaft, Meinungsverschiedenheiten im streitigen Verfahren auszutragen, deutlich gewonnen. Die Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder und damit verbunden von Deckungsansprüchen gegen D&O-Versicherer nimmt stetig zu. Aufsichtsräte bedienen sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben immer häufiger der Unterstützung externer Experten2 wie Vergütungs- und Effizienzberatern,3 Rechtsbeiständen, Wirtschaftsprüfern, Headhuntern, Compliance- und Corporate Governance-Kennern und Sachverständigen in Bewertungsfragen,4 mit denen es zu Meinungsverschiedenheiten über die Erfüllung und die Honorierung ihrer Dienstleistung kommen kann, die gegebenenfalls auch gerichtlich auszutragen sind.5 Und unverändert sind Gesellschaften mit Beschlussmängelverfahren konfrontiert, nicht selten begleitet durch Freigabeverfahren. Dementsprechend ist die Zahl der Fälle, in denen die Gesellschaft auch im Prozess durch den Aufsichtsrat vertreten wird, fortwährend im Wachsen. Nachfolgend wird unter II. zunächst eine Bestandsaufnahme der gesetzlichen Vorgaben unternommen, bevor unter III. Einzelfragen zur Willensbildung im Aufsichtsrat, die die Prozessführung betrifft, erörtert werden. Unter IV. ist dann ausgewählten prozessrechtlichen Zweifelsfragen bei der Vertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat im streitigen Verfahren und unter V. der Teilnahme von einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern am Verfahren nachzugehen. 1 Allen voran, neben zahlreichen Beiträgen in Festschriften und Zeitschriften, die aktuelle Bearbeitung des Abschnitts zum Aufsichtsrat in Happ, Aktienrecht, 5.  Aufl. 2019, Bd. 1, S. 959-1139; die Kommentierung der §§ 170-176 AktG im GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2018, und das Kapitel Aufsichtsrat in Marsch-Barner/Schäfer, HdB börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, S. 967-1156. 2 S. auch die Praxisbeispiele bei Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 139. 3 Der Entwurf für eine Neufassung des Deutsche Corporate Governance Kodex v. 25.10.2018 empfiehlt in seiner Empfehlung A.15 den Aufsichtsräten, ihre Arbeit alle drei Jahre extern evaluieren zu lassen, und in Ziff. 4.2.2 Abs. 3 der geltenden Fassung des Kodex ist die Beiziehung von Vergütungsexperten explizit angesprochen. 4 Zur Beauftragung von Financial Advisors durch den Aufsichtsrat vgl. etwa jüngst Seibt/­ Bulgrin, AG 2018, 417 ff. 5 Zu einem aktuellen Praxisfall siehe BGH v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, NZG 2018, 629; dazu noch unten II. 1. b).

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Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat in streitigen Verfahren

II. Bestandsaufnahme und gesetzliche Vorgaben 1. Die Prozessvertretung der AG durch den Aufsichtsrat a) Gesetzlich ausdrücklich bestimmte Vertretungsfälle Nach § 78 Abs. 1 S. 1 AktG vertritt der Vorstand die Gesellschaft, und zwar, wie das Gesetz ausdrücklich bestimmt, sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich. Nicht der Aufsichtsrat, sondern der Vorstand ist also das geborene Vertretungsorgan der Gesellschaft im Prozess. Das korrespondiert mit der grundsätzlich umfassenden Zuweisung der Geschäftsführungsbefugnisse an den Vorstand. Maßnahmen der Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden, er ist auf die Überwachung der Geschäftsführung und, wie zu ergänzen ist, die Beratung des Vorstands beschränkt, § 111 Abs. 1 und Abs. 4 S. 1 AktG. Ausnahmsweise bestimmt das Gesetz indessen die gerichtliche Vertretung der Ge­ sellschaft durch den Aufsichtsrat. Gegenüber Vorstandsmitgliedern vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich, §  112 S.  1 AktG. Ist die Gesellschaft mit einer Anfechtungsklage konfrontiert, wird sie nach § 246 Abs. 2 S. 2 AktG im gerichtlichen Verfahren von Vorstand und Aufsichtsrat vertreten. Ist Anfechtungskläger der Vorstand oder ein Vorstandsmitglied, vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft im Anfechtungsprozess allein, § 246 Abs. 2 S. 3 AktG. Dasselbe gilt nach § 249 Abs. 1 S. 1 AktG für die Prozessvertretung der Gesellschaft bei Nichtigkeitsklagen, nach §§  256 Abs.  7 S.  1 AktG bei Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses, nach § 257 Abs. 2 S. 1 AktG bei Anfechtung der Feststellung des Jahresabschlusses durch die Gesellschaft und nach § 275 Abs. 4 S. 1 AktG bei Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit der Gesellschaft selbst. Damit trägt das Gesetz einem dem Verfahrensgegenstand immanenten Interessenkonflikt Rechnung. Das ist offenkundig bei § 112 AktG, soll aber auch im Beschlussmängelstreit gelten, bei dem angenommen wird, Kläger und Vorstand könnten in kollusivem Zusammenwirken einen angefochtenen Beschluss der Hauptversammlung durch unzureichende Prozessführung zu Fall bringen.6 Demgegenüber ist dieser Aspekt als Normzweck der Doppelvertretung bei der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 257 Abs. 7 S. 1 und der Nichtigkeit der Gesellschaft nach § 275 Abs. 4 S. 1 AktG nicht ohne weiteres einsichtig; für die Doppelvertretung dürfte dort eher die Mitverantwortung des Aufsichtsrats für die Feststellung des Jahresabschlusses bzw. bei der Klage auf Nichtigerklärung der Gesellschaft die besondere Bedeutung des Klageziels sprechen. Der Frage ist angesichts der klaren Entscheidung des Gesetzgebers indessen hier nicht weiter nachzugehen. Einen Sonderfall der Vertretung durch den Aufsichtsrat regelt § 78 Abs. 1 S. 2 AktG, wonach die AG bei Führungslosigkeit, also wenn sie keinen Vorstand hat, bei der Inempfangnahme von Willenserklärungen und Schriftstücken durch den Aufsichtsrat vertreten wird. Für das streitige Verfahren hat die Norm indessen nur eingeschränkte 6 Vgl. nur Hüffer/C. Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 55 m. ausf. Nachw.

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Bedeutung. Sie erschöpft sich insoweit darin, dass sie die sonst aus § 170 ZPO folgenden Zustellungsprobleme vermeidet. Mit Zustellung an die führungslos gewordene AG über den Aufsichtsrat als Empfangsvertreter wird die gegen sie gerichtete Klage also rechtshängig, die Prozessunfähigkeit der Gesellschaft bleibt aber bestehen.7 b) Die Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat als Annex zu ihm obliegenden Aufgaben Rechtsprechung und Literatur haben die Fälle, in denen die AG durch den Aufsichtsrat vertreten wird, über die gesetzlich ausdrücklich bestimmten Tatbestände hinaus erweitert; danach ist dem Aufsichtsrat im Wege der Annexkompetenz auch dort die Vertretungsbefugnis für die AG zugewiesen, wo das Gesetz dem Aufsichtsrat Geschäftsführungsaufgaben zuweist, ohne eine Bestimmung zur Vertretung zu treffen.8 Das hat der BGH in einer aktuellen Entscheidung, in der es um die Streitigkeit der AG mit einem vom Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 2 S. 2 AktG beauftragten Sachverständigen aus dem Auftragsverhältnis ging, nicht nur bekräftigt, sondern ausdrücklich auch auf die Befugnis zur Prozessvertretung erstreckt. 9 Die Bestimmung in § 112 S. 1 AktG sei nicht abschließend. Bei Hilfsgeschäften, die zur Wahrnehmung der Aufgaben des Aufsichtsrats abgeschlossen würden, sei der Aufsichtsrat auch zur Vertretung der Gesellschaft im Außenverhältnis befugt. Diese Vertretungsmacht umfasse auch die Prozessvertretung.10 Die Reichweite dieser Erstreckung der Vertretungsmacht des Aufsichtsrats über die im Gesetz explizit genannten Vertretungsfälle hinaus reicht weit und geht insbesondere deutlich über den Anwendungsbereich von § 111 Abs. 2 S. 2 AktG hinaus.11 Sie betrifft generell die Einschaltung Dritter, derer sich der Aufsichtsrat bedient, um seine Aufgaben effektiv ausüben zu können.12

7 Dazu Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 78 Rz. 4a; für die vergleichbare Situation bei der GmbH nach § 35 Abs. 1 S. 2 GmbHG s. BGH v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, NZG 2011, 26 Rz. 13. 8 Zur Befugnis des Aufsichtsrats zur (jedenfalls außergerichtlichen) Vertretung der Gesellschaft vgl. Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 112 AktG Rz. 24 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 111 AktG Rz. 74, 134 f., Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 454 ff.; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 ff.; für den Aufsichtsrat der GmbH noch a.A. aber Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 52 Rz. 117 f. (Bedürfnis für Rechtsfortbildung bislang nicht überzeugend dargelegt). 9 BGH v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, NZG 2018, 629; dem BGH zust. Hasselbach/Rauch, DB 2018, 1713, 1715. 10 Ebenso Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 99. 11 S. die Nachweise aus dem Schrifttum oben in Fn. 7; wo die Frage der Erstreckung der Vertretungsmacht auf die gerichtliche Vertretung indessen nicht explizit angesprochen wird. 12 Zur Befugnis des Aufsichtsrats, bei einer von ihm einzuberufenden Hauptversammlung auch einen Hauptversammlungsdienstleister im Namen der AG beauftragen zu können, siehe LG Frankfurt a.M. v. 16.8.2013 – 3-05 O 178/13, NZG 2014, 1232; zum Unternehmensexternen als Versammlungsleiter der Hauptversammlung E. Vetter in FS Bergmann, 2018, S. 799 ff.

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Diese aus der Gesetzessystematik entwickelte Kompetenz des Aufsichtsrats zur Vertretung der Aktiengesellschaft auch im streitigen Verfahren ist bemerkenswert. In den oben genannten Fallgruppen der explizit im Gesetz angeordneten gerichtlichen Vertretung durch den Aufsichtsrat geht es nämlich um den Gesellschaftsbinnenbereich, wo eine fehlende Unvoreingenommenheit des Vorstands vermutet wird. Die Erstreckung der – auch gerichtlichen – Vertretung der AG durch den Aufsichtsrat auf Rechtsbeziehungen zu Externen ist deshalb nicht selbstverständlich. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die angenommene Vertretungsmacht des Aufsichtsrats diejenige des Vorstands nicht verdrängt und es als unbedenklich angesehen wird, wenn der Aufsichtsrat den Vorstand bittet, den sachverständigen Dritten im Namen der Gesellschaft zu beauftragen.13 Dann wird die Gesellschaft bei dem Vertragsabschluss von dem Vorstand vertreten, sodass für die etwa nachfolgende gerichtliche Auseinandersetzung prinzipiell sowohl Aufsichtsrat als auch Vorstand als Vertreter in Betracht kommen.14 Und schließlich ist zu bedenken, dass der den gesetzlichen Regelungen zugrundeliegende Interessenkonflikt, der die Vertretung der Gesellschaft durch den Vorstand ausschließt, bei Drittgeschäften jedenfalls nicht per se zu vermuten ist. Das zeigen etwa die Beispiele der Beauftragung eines Effizienzberaters oder eines externen Hauptversammlungsleiters durch den Aufsichtsrat. Im vorliegenden Rahmen sind diese Zweifel an der Reichweite der Ausdehnung der Vertretungsmacht des Aufsichtsrats, abgesehen von den Unsicherheiten bei der tatbestandlichen Abgrenzung der Vertretungskompetenzen (dazu sogleich), nicht weiter zu vertiefen; sie zeigen aber umso mehr, vor welchen Problemen die Beteiligten bei der Auswahl des richtigen Vertretungsorgans im Einzelfall stehen können, wie etwa ein Kläger, der nach erbrachter Dienstleistung die Gesellschaft bspw. auf Honorarzahlung in Anspruch nehmen will. Der der aktuellen Entscheidung des BGH zugrundeliegende Sachverhalt zeigt dies deutlich. 2. Abgrenzungszweifel Keine der genannten Fallgruppen ist frei von Abgrenzungszweifeln. a) Vertretung gegenüber dem Vorstand Das gilt selbst im prinzipiell klaren Fall der Vertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand nach § 112 AktG: abgesehen von den inzwischen allerdings weithin geklärten Zweifelsfragen bei der Vertretung gegenüber vormaligen Vorstandsmitgliedern15 und der Ausnahme für Fälle des neutralen Drittge13 Habersack in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2014, § 111 AktG Rz. 74, 134 f.; Hüffer/Koch in AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 24; s. auch Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 141 (keine verdrängende Vertretungsmacht des Aufsichtsrats). 14 Der BGH lässt die Frage, ob der Aufsichtsrat auch dann zur Vertretung befugt ist, wenn der Vorstand auf Bitten des Aufsichtsrats den Dritten beauftragt hat, ausdrücklich offen, BGH v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, NZG 2018, 629, 631 (Rz. 24 a.E.). 15 Dazu nur Hüffer/Koch in AktG, 13. Aufl. 2018, § 112 AktG Rz. 2 mit Hinweis auf die in der Abgrenzung unverändert unklaren Fälle eines Vertragsschlusses mit einem ausgeschiede-

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schäfts bestehen Zweifel unverändert etwa bei Geschäften mit Tochtergesellschaften der AG oder Geschäften, die vor dem Formwechsel in die Aktiengesellschaft abgeschlossen worden sind oder nach dem Formwechsel mit dem vormaligen Geschäftsführer der formwechselnden Gesellschaft abgeschlossen werden. b) Anspruchsverfolgung gegen den D&O-Versicherer Streitig wird auch diskutiert, ob dem Aufsichtsrat auch die Prozessvertretung gegenüber einem D&O-Versicherer bei der Verfolgung eines von dem Vorstandsmitglied an die Gesellschaft abgetretenen Deckungsanspruchs obliegt. Davon ist richtigerweise wegen des unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhangs des Deckungsanspruchs mit dem Haftungsanspruch gegen das Vorstandsmitglied auszugehen;16 in der Praxis empfiehlt sich wegen der bestehenden Rechtszweifel vorsorglich aber eine Vertretung durch Aufsichtsrat und Vorstand gemeinsam.17 c) Beschlussmängelverfahren In den Fällen der Beschlussmängelklage fragt sich, wer die AG vertritt, wenn ein und derselbe Beschluss sowohl von einem Aufsichtsrats- als auch von einem Vorstandsmitglied angefochten wird. Richtigerweise ist in diesem Fall vom Prozessgericht ein Prozesspfleger nach § 57 ZPO zu bestellen, weil Vorstand und Aufsichtsrat an der Ver­ tretung der AG gehindert sind und, solange der Mangel nicht behoben ist, die AG prozessunfähig ist.18 Dieser vertritt die Gesellschaft, bis der Vertretungsmangel in entsprechender Anwendung von § 147 Abs. 2 S. 1 AktG durch Bestellung eines besonderen Vertreters durch die Hauptversammlung beseitigt ist.19 Ebenfalls nicht im Gesetz geregelt ist die Vertretung der Gesellschaft, wenn die Klage eines Aktionärs mit der Klage des Vorstands oder eines Vorstandsmitglieds oder Aufsichtsratsmitglieds zusammenfällt. Weil das jeweils auf der Klägerseite beteiligte Organ an der Vertretung gehindert ist, wird in diesen Fällen die Gesellschaft entsprechend § 246 Abs. 2 S. 3 AktG allein durch das andere, nicht im Verfahren auf Klägerseite beteiligte Organ vertreten.20 d) Freigabeverfahren Im Freigabeverfahren nach § 246a AktG soll nach der vorherrschenden Auffassung, abweichend von der Verfahrensvertretung im Hauptsacheverfahren, die Vorstand nen Vorstandsmitglied, der mit der früheren Vorstandstätigkeit in keinerlei Zusammenhang steht. 16 Zutr. – Annexkompetenz – Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 22; zum Streitstand eingehend Harzenetter, NZG 2016, 728, 731 f. 17 Dafür Harzenetter, NZG 2016, 728, 731 f. 18 Vgl. Hüffer/C. Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 67. 19 Zutr. Hüffer/C. Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 67 m. weit. Nachw.; aus der Rechtsprechung s. OLG Hamburg v. 6.2.2003 – 11 W 9/03, NZG 2003, 478, 479. 20 Zutr. Hüffer/C. Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 65.

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und Aufsichtsrat gemeinsam obliegt, nicht das Prinzip der Doppelvertretung gelten, sondern die Vertretung der Gesellschaft allein dem Vorstand obliegen.21 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass hier, anders als im Beschlussmängelstreit, eine Kollusion zwischen dem klagenden Aktionär und dem Vorstand nicht zu befürchten stehe und deshalb § 246 Abs. 2 S. 2 AktG nicht entsprechend anwendbar sei. Die Norm sei auch deshalb nicht einschlägig, weil der Anfechtungsprozess und das Freigabeverfahren selbständige Verfahren mit unterschiedlichem Streitgegenstand sind. Demgegenüber ist zwar zu berücksichtigen, dass durch prozessualen Vortrag in dem dem Hauptsacheverfahren zeitlich vorangehenden Freigabeverfahren zumindest faktisch eine Vorfestlegung erfolgen kann, die die Entscheidung im Hauptsacheverfahren präjudizieren kann. Gleichwohl sprechen die besseren Gründe dagegen, das Freigabeverfahren als Annex zum Beschlussmängelstreit anzusehen und auch dort die Doppelvertretung der Gesellschaft durch Vorstand und Aufsichtsrat zu bejahen.22 Wenn der Vorstand den Freigabeantrag für die Gesellschaft stellt, stellt er sich hinter den angegriffenen Hauptversammlungsbeschluss und verfolgt dessen (beschleunigtes) Wirksamwerden durch Überwindung der Registersperre. Dass in diesem Fall der Vorstand kollusiv mit einer klagenden Aktionärsminderheit handeln könnte, ist fernliegend.23 Die sachgerechte Prozessführung, bei der auch die Auswirkungen auf das Verfahren in der Hauptsache zu berücksichtigen sind, unterfällt den allgemeinen Sorgfaltsanforderungen, denen der Vorstand bei seiner Geschäftsführung unterliegt. Bezogen auf das Freigabeverfahren ist der Aufsichtsrat also auf seine Überwachungsfunktion verwiesen und richtigerweise nicht Vertreter der Gesellschaft im Verfahren.

III. Die Willensbildung im Aufsichtsrat 1. Entscheidung über die Prozessführung durch Beschluss Der Aufsichtsrat entscheidet über die Prozessführung nach allgemeinen Regeln, also durch Beschluss.24 Eine konkludente Beschlussfassung verbietet sich demgemäß, doch steht dies einer (auch ergänzenden) Auslegung des explizit gefassten Beschlusses nicht entgegen. Bei der Beschlussfassung über Fragen der Prozessführung wird es sich in aller Regel um eine unternehmerische Entscheidung handeln, für die der Auf21 Vgl. OLG Bremen v. 1.12.2008 – 2 W 71/08, AG 2009, 412; Arnold in Marsch-Barner/Schäfer, Handb. Börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 19 Rz. 60; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246a AktG Rz. 36; Dörr in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246a AktG Rz. 11; Hüffer/Koch in AktG, 13. Aufl. 2018, § 246a AktG Rz. 6; Hüffer/C. Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a AktG Rz. 9. 22 So aber Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 108; ebenso, freilich ohne nähere Begründung, auch OLG Düsseldorf v. 16.1.2004  – I-16 W 63/03, NZG 2004, 328. 23 Eher stellt sich die Frage, wie zu verfahren ist, wenn der Vorstand untätig bleibt und das Freigabeverfahren nicht einleitet, obwohl die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Bei Untätigbleiben des Vorstands würde aber auch eine Doppelvertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat keine Abhilfe versprechen. 24 Vgl. nur Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 22.

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sichtsrat das Privileg der Business Judgement Rule in Anspruch nehmen kann. Für die dann als Entscheidungsgrundlage unverzichtbare angemessene Information kommt der Einschätzung der Prozessaussichten besondere Bedeutung zu. Zu seiner Unterstützung wird der Aufsichtsrat deshalb durchweg auf sachverständigen Expertenrat, sei er intern oder extern, angewiesen sein. 2. Delegation an einen Ausschuss Die Prozessführung durch den Aufsichtsrat umfasst die gesamte Begleitung des Verfahrens von der Entscheidung darüber, ob ein Aktivprozess für die AG geführt werden soll oder sich die verklagte Aktiengesellschaft gegen die Klage verteidigen will, über die Beauftragung des Prozessbevollmächtigten und dessen fortlaufende Überwachung und Weisungen an diesen, sowie etwaige prozessgestaltende Maßnahmen wie Klagerweiterung und Widerklage, bis hin zu prozessbeendigenden Maßnahmen wie Klagerücknahme, Anerkenntnis oder Vergleich. Auch wenn sich der Aufsichtsrat, was bei Einvernehmen mit dem Vorstand unbedenklich ist, bei der Prozessführung der Unterstützung durch die unternehmensinterne Rechtsabteilung und anderer je nach Verfahrensgegenstand einzubeziehender Stabsabteilungen bedienen wird, bedarf es im Prozessverlauf einer Vielzahl von Entscheidungen. Es ist offenkundig, dass bei einem vielköpfigen Aufsichtsrat eine effiziente Prozessführung durch das Plenum kaum geleistet werden kann. Es bietet sich deshalb an, einen Ausschuss mit der Prozessführung zu beauftragen. Das Gesetz erlaubt dies; keiner der Fälle, in denen nach § 107 Abs. 3 S. 3 AktG eine Delegation an einen Ausschuss ausgeschlossen ist, ist einschlägig.25 Die Beauftragung des Ausschusses kann generell für die Begleitung eines gerichtlichen Verfahrens insgesamt oder für bestimmte Aufgaben im Zuge eines konkreten Rechtsstreits erfolgen.26 3. Delegation der Prozessführung Selbst wenn der Aufsichtsrat einen Ausschuss einsetzt, ist es im Regelfall kaum möglich, dass sich der Aufsichtsrat bzw. der von ihm eingesetzte Ausschuss mit allen Einzelheiten der Verfahrensführung und des prozessualen Vortrags befasst. Das ist auch rechtlich nicht geboten. Insbesondere ist es nicht erforderlich, sämtlichen Prozessvortrag des Klagegegners im Einzelnen zu würdigen oder eigenen schriftsätzlichen Vortrag der Gesellschaft im Entwurf vorab zu studieren und freizugeben. Der Aufsichtsrat bzw. der Ausschuss können sich insoweit der Unterstützung Dritter bedienen und entsprechend allgemeinen Grundsätzen die sachgerechte Prozessführung auch delegieren.27 Maßgeblich hierfür sind die allgemeinen Sorgfaltsanforderungen an die Delegation, also die sorgfältige Auswahl des Delegationsempfängers und dessen kontinuierliche Überwachung. Ihre Grenze findet die Delegationsmöglichkeit bei den Maßnahmen und Entscheidungen, die den Kernbereich der Prozessführung betref25 Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 9. 26 Vgl. Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 23. 27 Als Delegationsempfänger kommt auch ein einzelnes Mitglied des Aufsichtsrats selbst in Betracht.

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fen. Dazu gehören jedenfalls die Bestellung des Prozessvertreters, Entscheidungen über die Verfahrenseinleitung und Verfahrensbeendigung, die Klagverteidigung, die Erweiterung der Klage und die (auch teilweise) Klagrücknahme oder sonstige Erledigung des Rechtsstreits. Ob auch die eigene Rechtsabteilung in diesem Sinne mit der Prozessführung betraut werden kann, ist vom Verfahrensgegenstand abhängig. Führt die Gesellschaft eine Klage gegen ein (amtierendes) Vorstandsmitglied, dürfte eine Delegation, weil die Rechtsabteilung den Weisungen des Vorstands unterworfen ist, regelmäßig ausscheiden.

IV. Die gesetzliche Vertretung durch den Aufsichtsrat im Prozess Wenngleich zahlreiche Fragen, wann der Aufsichtsrat zur Prozessvertretung berufen ist und wann nicht, durch die Rechtsprechung mittlerweile geklärt sind, kann es schon angesichts der verbleibenden Abgrenzungszweifel28 begegnen, dass bereits bei Einleitung des Verfahrens ein Vertretungsmangel besteht, etwa weil die Aktiengesellschaft auf Klägerseite nicht durch das zuständige Organ vertreten ist oder weil die Klage unter Angabe des falschen Vertretungsorgans der Aktiengesellschaft auf Beklagtenseite erhoben wird. Ein Vertretungsmangel kann sich auch erst im Laufe des Verfahrens ergeben, etwa wenn der Aufsichtsrat als zuständiges Organ beschlussunfähig wird oder bei der Aktiengesellschaft im Sinne von § 78 Abs. 1 AktG „Führungslosigkeit“ eintritt, weil sie keinen Vorstand mehr hat. Insoweit ist zunächst zu klären, was Mängel in der gesetzlichen Vertretung grundsätzlich für das Verfahren bedeuten (1.). Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend die formalen Anforderungen dargestellt, die bei Einleitung des Verfahrens zu beachten sind, wenn der Aufsichtsrat – sei es auf Kläger- oder Beklagtenseite – das vertretungsberechtigte Organ einer am Verfahren beteiligten Aktiengesellschaft ist (2.). Sodann soll beleuchtet werden, wie mit Mängeln in der Vertretung der Aktiengesellschaft zu verfahren ist bzw. wie sie behoben werden können (3.). Zuletzt werden die wesentlichen Verfahrensgrundsätze dargestellt, wenn die gesetzliche Vertretung als solche einen streitigen Teil des Verfahrens bildet (4.). 1. Die ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung als Frage der Prozessfähigkeit Die ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung der AG betrifft die Prozessfähigkeit der AG im Sinne von § 51 Abs. 1 ZPO. Ist die AG nicht ordnungsgemäß vertreten, ist sie prozessunfähig. Als unverzichtbare Prozessvoraussetzung hat das Gericht gemäß § 56 Abs.  1 ZPO die Prozessfähigkeit in jeder Lage des Rechtsstreits, ohne Bindung an tatsächliche Feststellungen auch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen zu prüfen.29 28 Vgl. oben Ziff. II.2. 29 BGH v. 8.5.2014 – I ZR 217/12, NZG 2014, 897 Rz. 13; BGH v. 20.12.1983 – II ZR 110/82, NJW 1983, 938 Ziff. I.

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a) Gesetzliche Vertretung der Parteien als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage Eine Klage, die von einer nicht ordnungsgemäß durch den Aufsichtsrat gesetzlich vertretenen AG erhoben wird oder sich gegen eine solche richtet, ist daher durch Prozess­ urteil als unzulässig abzuweisen.30 Das Fehlen der gesetzmäßigen Vertretung bildet gemäß § 547 Nr. 4 ZPO einen absoluten Revisionsgrund und kann gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO auch noch nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens im Wege der Nichtigkeitsklage vorgebracht werden – nach dem Normzweck der Vorschrift allerdings nur von der nicht ordnungsgemäß vertretenen AG, nicht von der Gegenseite.31 Für ein echtes Versäumnisurteil ist in solchen Fällen kein Raum.32 Säumnis ist nach allgemeinen Grundsätzen allenfalls denkbar, wenn sich die Klage gegen eine ordnungsgemäß vertretene und geladene AG richtet, diese dann aber nicht oder nicht ordnungsgemäß vertreten erscheint. b) Verfahren bei nachträglichem Wegfall der gesetzlichen Vertretung Fällt die ordnungsgemäße gesetzliche Vertretung erst im Verlauf des Rechtsstreits weg, etwa weil der Aufsichtsrat beschlussunfähig wird, so ändert dies nichts an der einmal gegebenen Zulässigkeit, sondern wird das Verfahren grundsätzlich nach § 241 ZPO unterbrochen. War die nicht mehr ordnungsgemäß vertretene AG zuvor bereits – wirksam – durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten, ist § 246 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen, wonach das Verfahren lediglich auf dessen Antrag hin ausgesetzt wird.33 Nach § 86 ZPO besteht eine wirksam erteilte Prozessvollmacht nämlich im Falle der Veränderung in der gesetzlichen Vertretung fort.34 Der Rechtsstreit kann dann unter der bisherigen Parteibezeichnung fortgesetzt werden und das Rubrum gemäß §  319 ZPO einschließlich der zutreffenden Bezeichnung des neuen gesetzlichen Vertreters berichtigt werden.35 Insoweit besteht dann auch kein Revisions- oder Nichtigkeitsgrund.36 30 BGH v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, NJW-RR 2007, 98 und BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466 beide zur Zuständigkeit des Aufsichtsrats nach § 112 AktG auf Beklagtenseite; BGH v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, NZG 2004, 186, 187 Ziff. I.2. zur Zuständigkeit des AR einer durch Rechtsformwechsel einer GmbH entstandenen Aktiengesellschaft auf Beklagtenseite; BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, NJW 2000, 289, 291 zur prozessunfähigen Privatperson auf Klägerseite. 31 Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15.  Aufl. 2018, §  579 ZPO Rz.  5  ff.; vgl. auch BGH v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, NZG 2004, 186, 187; BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, NJW 2000, 289, 291. 32 Vgl. Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 25. 33 Vgl. insg. Stackmann in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 241 ZPO Rz. 3. 34 BGH v. 20.12.1982 – II ZR 110/82, NJW 1983, 938. 35 Vgl. BGH v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, NZG 2004, 186, 187 Ziff. I.2. zum Fall der Gesamtrechtsnachfolge. 36 Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 579 ZPO Rz. 5.

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2. Formale Anforderungen an die Bezeichnung des Aufsichtsrats als gesetzlichem Vertreter in der Klage Fraglich ist, was dies für die formalen Anforderungen bei Einleitung des Verfahrens bedeutet. Was den notwendigen Inhalt einer wirksamen Klage angeht, fordert § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO grundsätzlich nur die Bezeichnung der Parteien selbst, nicht aber ihrer gesetzlichen Vertreter. § 130 Nr. 1 ZPO, der zwar über § 253 Abs. 4 ZPO gilt und wonach Schriftsätze die gesetzlichen Vertreter mit Namen und Adresse bezeichnen sollen, enthält nur eine Soll- bzw. Ordnungsvorschrift, die als solche grundsätzlich weder der Wirksamkeit noch der Zulässigkeit der Klage entgegensteht, da an der reinen Formalie – trotz § 313 Abs. 1 Nr. ZPO – kein hinreichendes öffentliches Interesse besteht.37 Andererseits sind sowohl die eigene gesetzliche Vertretung des Klägers wie auch die Frage, gegen wen sich die Klage richtet, von entscheidender Bedeutung für die Zulässigkeit der Klage (und hierüber kann trefflich gestritten werden). Insoweit wird man für die Zulässigkeit der Klage zumindest auch fordern müssen, dass sich der Kläger grundsätzlich positioniert und das vertretungsberechtigte Organ als solches  – also etwa „vertreten durch den Aufsichtsrat“ – bezeichnet.38 Ein weiterer zulässigkeitsrelevanter Aspekt ist die Ermöglichung der Zustellung an die Gesellschaft. Nach § 170 Abs. 1 ZPO ist an den gesetzlichen Vertreter zuzustellen. Für eine wirksame Zustellung an den Aufsichtsrat als vertretungsberechtigtem Organ genügt nach § 170 Abs. 3 ZPO aber – wie bei § 112 S. 2 i.V.m. § 78 Abs. 2 S. 2 AktG – die Zustellung an einen einzigen seiner Vertreter.39 In Fällen der Doppelvertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat ist die Zustellung an jeweils ein Mitglied der beiden Organe erforderlich.40 Der BGH fordert über die ausdrücklich im Gesetz geregelten Zulässigkeitsvoraussetzungen hinaus grundsätzlich die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift sowohl der Kläger- als auch der Beklagtenseite.41 Es muss die ernsthafte Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit bestehen, dass unter ihr eine ordnungsgemäße Zustellung bewirkt werden kann.42 Insoweit erweist sich § 130 Nr. 1 ZPO damit im Ergebnis zumindest in Teilen doch wieder als zwingende Regelung.43 Übertragen auf den Fall der gesetzli37 Foerste in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 253 ZPO Rz. 17 unter Verweis auf BGH v. 10.3.1960 – II ZR 56/59, NJW 1960, 1006, 1007. 38 Vgl. BGH v. 29.6.1993 – X ZR 6/93, NJW 1993, 2811, 2813 bzgl. GmbH & Co. KG im Fall des im Wortlaut strengeren § 690 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. 39 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 25. 40 BGH v. 10.3.1960 – II ZR 56/59, NJW 1960, 1006, 1007. 41 BGH v. 17.3.2004 – VIII ZR 107/02, NJW-RR 2004, 1503 Ziff. II.2.; BGH v. 9.12.1987 – IVb ZR 4/87, NJW 1988, 2114, 2115; BGH v. 19.3.2013 – VI ZR 93/12, NJW 2013, 1681 Rz. 12 („Kachelmann“  – zulässig, wenn die ladungsfähige Anschrift erst im Prozessverlauf entfällt). 42 Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, ZPO § 253 Rz. 57. 43 Vgl. Ehmann, NJW 2013, 1862, der dies als Anlass zur umfassenden Darstellung der Möglichkeiten zur Ermittlung von Schuldneranschriften nimmt.

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chen Vertretung der AG ist danach eine Angabe erforderlich, die Zustellungen an das zur Vertretung berechtigte Organ an dem angegebenen Ort ermöglicht.44 Für die Zustellung an den Aufsichtsrat wird – anders als beim Vorstand45 – die bloße Angabe des Geschäftslokals der Gesellschaft zumeist nicht genügen, da die Mitglieder des Aufsichtsrats in aller Regel dort keinen Geschäftsraum haben und jedenfalls auch kein eindeutiger Zustellungsempfänger besteht. Es ist zu empfehlen, die Privatadresse der Mitglieder des Aufsichtsrats anzugeben, an die zugestellt werden soll, auch weil dort ggf. eine Ersatzzustellung erfolgen kann, wenn die Voraussetzungen des § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorliegen.46 Gegebenenfalls kann als Zustellungsadresse auch ein anderweitiger Geschäftssitz des betreffenden Aufsichtsratsmitglieds angegeben werden, selbst wenn es dort die Stellung als Vorstand innehat; allgemein gilt, dass die Zustellung an eine Person, die in doppelter Eigenschaft tätig wird, selbst dann wirksam ist, wenn sich die Klage auf die falsche Eigenschaft bezieht.47 Eine derartige Angabe wird wiederum dann verzichtbar sein, wenn Prozessbe­ vollmächtigte benannt sind, an die Zustellungen erfolgen können (§ 171 ZPO). Auf ­Klägerseite genügt daher jedenfalls im Regelfall des Anwaltsprozesses auch im Zuständigkeitsbereich des Aufsichtsrats die Angabe des Geschäftssitzes der AG den grundsätzlichen Identifikationserfordernissen, wonach eine Partei lediglich nicht „aus dem Verborgenen“ soll agieren können.48 Im Hinblick auf die Bezeichnung einer durch den Aufsichtsrat vertretenen AG auf Beklagtenseite kann es sich ebenfalls als Alternative zur – ggf. schwierigen – Ermittlung der ladungsfähigen Privatanschriften von Aufsichtsratsmitgliedern49 anbieten, vor Klageerhebung einen zustellungsbevollmächtigten Prozessvertreter in Erfahrung zu bringen. 3. Behebung von Mängeln bei der gesetzlichen Vertretung durch den Aufsichtsrat Ein zur Unzulässigkeit führender Mangel in der gesetzlichen Vertretung kann grundsätzlich jederzeit, auch in den Folgeinstanzen, behoben werden, solange noch kein Prozessurteil ergangen ist, das tragend auf ihn abstellt.50 Danach ist eine Heilung im Regelfall ausgeschlossen, denn dann ist der zuvor schwebende Vertretungsmangel durch Prozessurteil festgestellt und eine rückwirkende Behebung könnte nur noch

44 Bacher in BeckOK ZPO, 31. Ed. Stand: 1.12.2018, § 253 ZPO Rz. 47. 45 Vgl. insoweit BGH v. 22.5.1989 – II ZR 206/88, NJW 1989, 2689 unter Verweis auf RGZ 107, 161, 164 f. 46 Safran/Siebold in BeckOF Prozess., 37. Ed. 2018, Form. 8.4.1 Rz. 9; Möhrle in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, Abschnitt 11.01, Rz. 9.6. 47 BGH v. 10.3.1960 – II ZR 56/59, NJW 1960, 1006, 1007. 48 BGH v. 9.12.1987 – IVb ZR 4/87, NJW 1988, 2114 f. 49 Vgl. Ehmann, NJW 2013, 1862 zu den Möglichkeiten zur Ermittlung von Schuldneranschriften. 50 BGH v. 17.9.2013 – II ZR 68/11, NJW-RR 2014, 349, 352 Rz. 43; vgl. BGH v. 26.1.2006 – III ZB 63/05, NJW 2006, 2261, 2262 zur bei Klageerhebung fehlenden Prozessvollmacht.

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dazu führen, dem richtigen Prozessurteil die Grundlage zu entziehen und die Rechtsmittelfrist zu verlängern.51 a) Jederzeitige Behebbarkeit formaler Mängel Zulässigkeitsmängel, die lediglich auf formalen Angaben beruhen, sind generell heilbar. Fehlende Angaben können in jeder Verfahrenslage nachgeholt, bloße Falschbezeichnungen können korrigiert werden.52 Vielfach kann eine nicht einwandfreie Bezeichnung des Aufsichtsrats als gesetzlichem Vertreter überdies schon im Wege der Auslegung anhand der objektivierten Empfängersicht überwunden werden, die auch im Prozessrecht der Maßstab ist. Insoweit ist etwa eine Klage, die sich gegen eine Aktiengesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsratsvorsitzenden oder ein Mitglied des Aufsichtsrats richtet, regelmäßig dahingehend auszulegen, dass die Gesellschaft durch den Aufsichtsrat als Gesamtorgan vertreten und die Klage den genannten Mitgliedern zugestellt werden soll.53 Offenbare Unrichtigkeiten können nach § 319 Abs. 1 ZPO auch noch im Urteil berichtigt werden. Gleichwohl sollten sich bei den Formalien keine Nachlässigkeiten einschleichen, da sie insbesondere dazu führen können, dass sich der Kläger nicht mehr auf eine Rückwirkung der Zustellung „demnächst“ im Sinne von § 167 ZPO berufen kann, so z.B., wenn es der Kläger unterlässt, die für die Zustellung erforderliche Anschrift eines Aufsichtsratsmitglieds anzugeben; dann hat er die dadurch hervorgerufene Verzögerung bei der Zustellung zu vertreten.54 b) Behebung von Vertretungsmängeln durch Übernahme der Prozessführung durch den Aufsichtsrat Gründet der Zulässigkeitsmangel auf einer tatsächlich fehlerhaften gesetzlichen Vertretung, etwa weil eine Klage entgegen § 112 AktG durch den Vorstand erhoben worden ist oder sich unzulässigerweise gegen diesen als gesetzlichen Vertreter richtet, bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie ein Unzulässigkeitsurteil und eine kostenträchtige Neuerhebung der Klage, nunmehr unter Beteiligung des Aufsichtsrats, doch noch vermieden werden können. Insoweit ist anerkannt, dass der richtige gesetzliche Vertreter für die AG ohne Weiteres in den Rechtsstreit eintreten und darüber hinaus auch die bisherige Prozessfüh51 Weth in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 89 ZPO Rz. 17. 52 Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 253 ZPO Rz. 61; BGH v. 10.3.1960 – II ZR 56/59, NJW 1960, 1006, 1007; BGH v. 9.12.1987 – IVb ZR 4/87, NJW 1988, 2114, 2115. 53 Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  112 AktG Rz.  35; OLG Hamburg v. 4.5.2001 – 11 U 274/00, NZG 2001, 898, 899; OLG Stuttgart v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, BeckRS 2013, 12075. 54 Möhrle in Happ, Aktienrecht, 4.  Aufl. 2015, Abschnitt 11.01, Rz.  10.7.; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 31. Ed. 1.12.2018, § 167 ZPO Rz. 4 m.w.N.

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rung genehmigen kann.55 Denkbar wäre grundsätzlich auch, dass das übergangene Organ dem falschen Vertreter die Prozessführung überlässt.56 Soweit damit aber eine in die Zukunft gerichtete Bevollmächtigung des Vorstands durch den Aufsichtsrat zur Debatte stünde, ist diese im Kontext der zwingenden gesetzlichen Aufgabenzuweisung nicht möglich.57 Die durch den Vorstand anstelle des Aufsichtsrats als dem zuständigen Vertreter erhobene Klage wird bereits dann zulässig, wenn die Prozessführung durch den Aufsichtsrat als dem richtigen gesetzlichen Vertreter übernommen wird, die gegenüber dem nichtvertretungsbefugten Vorstand erhobene Klage dann, wenn die Zustellung an den Aufsichtsrat als richtigem gesetzlichen Vertreter nachgeholt wird, oder dieser von sich aus dem Verfahren beitritt.58 Dabei ist der richtige gesetzliche Vertreter frei in seiner Entscheidung, ob er auch die bisherige Prozessführung rückwirkend genehmigt, oder die Nichtverwertbarkeit des bisherigen Prozessgeschehens geltend macht mit dem Effekt, dass die Partei dann nur für die Zukunft ordnungsgemäß vertreten ist.59 Jedenfalls soweit keine rückwirkende Genehmigung vorliegt, ist nach Herstellung ordnungsgemäßer gesetzlicher Vertretung neuer Sachvortrag umfassend zulässig, gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO auch noch in der Berufungsinstanz, da der bisher nicht gesetzlich vertretenen Partei das bisherige Handeln nicht zugerechnet werden kann.60 c) Rückwirkende Heilung von Vertretungsmängeln durch Genehmigung der bisherigen Prozessführung Tritt der Aufsichtsrat als vertretungsberechtigtes Organ – gleich auf welcher Seite – in den Rechtsstreit ein, kann er die bisherige Prozessführung genehmigen und insoweit weitere Rechtswirkungen herbeiführen. Dass dies prozessrechtlich möglich ist, ergibt sich aus § 89 Abs. 2, 547 Nr. 4, 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, dass die Genehmigung grundsätzlich auch zurückwirkt („soweit nicht ein anderes bestimmt ist“) folgt aus §§ 177 Abs.  1, 184 Abs.  1 BGB. Unter dem Gebot der Einheitlichkeit der Prozessführung kann die Genehmigung aber nur im Ganzen erfolgen.61 Auf Klägerseite kann der Aufsichtsrat mittels Genehmigung etwa die Hemmung der Verjährung durch die vom nicht vertretungsberechtigten Vorstand erhobene Klage sicherstellen. Während umstritten ist, ob eine Klageerhebung durch das nicht vertre55 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926, 1927 (für Kläger); BGH v. 5.3.1990 – II ZR 86/89, NJW-RR 1990, 739, 740 (für Beklagte). 56 Vgl. BGH v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, NJW-RR 1991, 926 zur Behauptung, der Aufsichtsrat habe dem Vorstand die Prozessführung „regelmäßig“ überlassen. 57 Vgl. BGH v. 16.10.2006 – II ZR 7/05, NJW-RR 2007, 98 m.w.N. 58 Vgl. Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 42. 59 Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 42 ff.; Toussaint in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 89 ZPO Rz. 16. 60 Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 62. 61 Vgl. insg. Althammer in Zöller/Vollkommer/Althammer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 89 ZPO, Rz. 10; BGH v. 7.7.1960 – VIII ZR 215/59, JurionRS 1960, 12365 Rz. 42.

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tungsberechtigte Organ eine wirksame Klageerhebung im Sinne von §  204 Abs.  1 Nr. 1 BGB darstellt, die die Verjährung hemmt,62 ist jedenfalls anerkannt, dass eine solche Genehmigung im Hinblick auf die Hemmung der Verjährung auf den Zeitpunkt der Zustellung der bislang unzulässigen Klage zurückwirkt.63 Zweifelhaft ist die Rückwirkung indes bei materiell-rechtlichen Ausschlussfristen wie beispielsweise der des § 246 Abs. 1 AktG, die insoweit eine Ausnahmeregelung im Sinne von § 184 Abs. 1 Hs. 2 BGB („ein anderes bestimmt“) bilden und eine Rückwirkung ausschließen dürfte.64 Soll der Aufsichtsrat als vertretungsberechtigtes Organ auf Beklagtenseite eintreten, gelten grundsätzlich dieselben Grundsätze. Die Handlungsoptionen der Klägerseite sind insoweit allerdings auf die Bewirkung der Zustellung an den Aufsichtsrat als richtigem Vertreter limitiert, und die Behebung von Zustellungsmängeln wirkt nur ex nunc, vgl. § 253 Abs. 1 ZPO. Es bleibt allenfalls noch eine Rückwirkung der Zustellung im Rahmen von § 167 ZPO, wenn der Fehler „demnächst“65 behoben wird.66 Grundsätzlich findet §  167 ZPO auch auf materiell-rechtliche Ausschlussfristen wie etwa § 246 Abs. 1 AktG Anwendung.67 Tritt der Aufsichtsrat als ordnungsgemäßer Vertreter – gleich auf wessen Veranlassung – auf Beklagtenseite tatsächlich in den Rechtsstreit ein, ist indes Vorsicht geboten, um nicht konkludent – wiewohl ungewollt – materiell-rechtliche Rückwirkungen zu bewilligen. So kann insbesondere im Anwaltsprozess in der nachträglichen Erteilung einer Prozessvollmacht die konkludente Genehmigung des bisherigen Vertreterhandelns gesehen werden.68 Gleiches gilt in Fällen, wo sich der Aufsichtsrat zuvor

62 Vgl. einerseits die Rspr., die bei der Klage einer prozessunfähigen Partei grundsätzlich von einer wirksamen Klageerhebung ausgeht: BGH III ZR 154/71 VerwRspr 1974, 749 unter Verweis auf RGZ 149, 321, 326; Ellenberger in Palandt, BGB, 78.  Aufl. 2019, §  204 BGB Rz. 5; Henrich in BeckOK BGB, § 204 BGB, Rz. 12; Peters/Jacoby in Staudinger, BGB, Neubearb. 2014, § 204 BGB Rz. 28; andererseits etwa Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 30, der eine parallele Behandlung zum Mangel der fehlenden Prozessvollmacht vorschlägt, die ihrerseits umstritten ist. 63 BGH v. 7.7.1960 – VIII ZR 215/59, JurionRS 1960, 12365 Rz. 42 zum Fall der fehlenden Prozessvollmacht. 64 Vgl. Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 43 unter Verweis auf BGH v. 12.6.1989 – II ZR 246/88, NJW 1989, 2694, 2696 Ziff. II 1a und BGH v. 7.6.1990  – III ZR 142/89, NJW 1990, 3085; a.A.: Piekenbrock in BeckOK ZPO, 31. Ed. 1.12.2018, § 89 ZPO Rz. 20 unter Verweis auf LAG BW v. 21.11.2008 – 7 TaBV 3/08, NZARR 2009, 373, 374 f. 65 Vgl. zu der unabhängig von ihrer Verursachung als unbeachtlich gesehenen Zweiwochenfrist: BGH v. 28.2.2008 – III ZB 76/07, NJW 2008, 1672, 1673; Häublein in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 167 ZPO Rz. 10 m.w.N. 66 Vgl. Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 253 ZPO Rz. 174 zur weitreichenden Annahme eines „demnächst“ erfolgten Rügeverzichts i.S.v. § 295 ZPO bei Zustellungsmangel. 67 BGH v. 27.5.1974 – II ZR 109/72, NJW 1974, 1557, 1558. 68 Toussaint in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 89 ZPO Rz. 14.

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schon aktiv mit dem Verfahren befasst und steuernd in dieses eingegriffen hat.69 Eine rückwirkende Heilung von Zustellungsmängeln ist schließlich auch durch rügeloses Verhandeln im Sinne von § 295 Abs. 1 ZPO denkbar.70 Insbesondere ist eine Rückwirkung entsprechend § 167 ZPO möglich, soweit das rügelose Verhandeln „demnächst“ erfolgt.71 Dem als gesetzlicher Vertreter auf Beklagtenseite eintretenden Aufsichtsrat ist also in jedem Fall anzuraten, eindeutig klarzustellen, dass er die bisherige Prozessführung nicht genehmigen will und etwaige Zustellungsmängel ausdrücklich zu rügen. d) Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe zur Herstellung der ordnungsgemäßen Vertretung Gründet die mangelnde Vertretung darauf, dass dem zuständigen Aufsichtsrat die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern nicht angehört, besteht ebenfalls Handlungsbedarf auf Klägerseite, um ein Unzulässigkeitsurteil zu vermeiden bzw. den Rechtsstreit fortsetzen zu können. Nach § 104 AktG kann ein Antrag auf Ergänzung der Aufsichtsrats gestellt werden. Das entsprechende Verfahren richtet sich nach § 375 Nr. 3 FamFG. Antragsberechtigt sind nach § 104 Abs. 1 S. 1 AktG der Vorstand, jedes Aufsichtsratsmitglied sowie auch jeder Aktionär. Dies eröffnet zumindest bei einem Mangel auf Klägerseite hinreichende Möglichkeiten. Ist eine mangelnde Vertretung auf Beklagtenseite gegeben, wird der Kläger zumeist nicht zu dem genannten Kreis der Antragsberechtigten gehören.72 Nach seinem eindeutigen Wortlaut sind nach § 104 Abs. 1 S. 1 AktG nicht einmal Vorstandsmitglieder – erst recht nicht ehemalige – antragsberechtigt, wie sie in Fällen des §  112 AktG regelmäßig auf der Gegenseite stehen. Nach allgemeiner Meinung können solche Dritte dann allenfalls bei Gericht anregen, den Vorstand zur entsprechenden Antragstellung zu veranlassen.73 Abhilfe für einen Kläger, der sich bei Klageerhebung einer nicht prozessfähigen Partei ohne gesetzlichen Vertreter gegenübersieht, bietet insoweit § 57 Abs. 1 ZPO mit der Möglichkeit, einen Prozesspfleger bestellen zu lassen.74 Die Vorschrift gilt analog, wenn der Vertretungsmangel erst im Laufe des Rechtsstreits eintritt.75 Zuständig ist der Vorsitzende des Prozessgerichts, allerdings nur im Fall von Gefahr im Verzug. 69 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466, 467; BGH v. 21.6.1999 – II ZR 27/98, NJW 1999, 3263, 3264. 70 BGH v. 17.1.1967 – VI ZR 62/65, BeckRS 1967, 30382479 Ziff. II.4.; BGH v. 11.7.1960 – III ZR 104/59, NJW 1960, 1947, 1948; Grothe in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 204 BGB Rz. 24 m.w.N. 71 BGH v. 27.5.1974 – II ZR 109/72, NJW 1974, 1557, 1558. 72 Anders als bei der den Vorstand betreffenden Parallelvorschrift des § 85 AktG, unter der als „Beteiligter“ jeder, der ein schutzwürdiges Interesse an der sofortigen Bestellung hat, also auch Gläubiger oder sonstige Dritte, einen entsprechenden Antrag stellen kann, vgl. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 85 AktG Rz. 9. 73 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 104 AktG Rz. 22. 74 BGH v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, NZG 2011, 26, 27 Rz. 19. 75 Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 57 ZPO Rz. 8.

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e) Gerichtliche Hinweispflicht bei einem Vertretungsmangel und prozessuale Konsequenzen Soweit ein der Zulässigkeit entgegenstehender Mangel in der gesetzlichen Vertretung vorliegt, hat das Gericht vor Erlass eines Prozessurteils in jedem Fall nach § 139 Abs. 3 ZPO einen entsprechenden Hinweis und – ggf. durch Vertagung oder Aussetzung – Gelegenheit zur Behebung des Mangels zu erteilen.76 Dies gilt unabhängig davon, ob ein gesetzlicher Vertreter bereits vorhanden ist oder erst noch eingesetzt werden muss.77 Insbesondere hat das Gericht ausreichend Zeit zur Bestellung eines Prozesspflegers zu gewähren, soweit die Voraussetzungen dafür vorliegen.78 Anderenfalls kann selbst im Fall eines auf dem Vertretungsmangel aufsetzenden Prozessurteils ein Aufhebungs- bzw. Zurückverweisungsgrund darin liegen, dass das vorinstanzliche Gericht nicht auf bestehende Bedenken zur gesetzlichen Vertretung hingewiesen und der Partei keine Gelegenheit gegeben hat, den Mangel zu beheben.79 Entsprechend hat der BGH im Fall, in dem die Anfechtungsklage entgegen den korrekten Klägerangaben nur dem Aufsichtsrat zugestellt wurde, an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen, weil schon das dortige Verfahren an einem wesentlichen Verfahrensmangel litt und das Berufungsgericht eine an sich gebotene Zurückverweisung an die erste Instanz unterlassen hat.80 Liegt allerdings ein dem Kläger zurechenbarer Mangel bei der Klageerhebung vor, weil er etwa entgegen §  112 AktG die Klage fälschlicherweise an den Vorstand als gesetzlichen Vertreter gerichtet hat, sieht der BGH regelmäßig schon dann von einer Zurückverweisung ab und weist die Klage  – ggf. in Abkehr von vorinstanzlichen ­Sachurteilen – direkt als unzulässig ab, soweit eine rückwirkende Genehmigung der bisherigen Prozessführung durch den Aufsichtsrat nicht (mehr) infrage kommt.81 Selbst dem Umstand, dass auf Antrag des Klägers bereits in erster Instanz das Rubrum auf den richtigen gesetzlichen Vertreter „berichtigt“ wurde, gleichwohl aber keine Zustellung an diesen vorgenommen wurde, maß der BGH mit der Bemerkung, für eine bloße „Berichtigung“ bestehe im Fall der verfehlten Bezeichnung kein Raum, keine Bedeutung mehr zu.82 Daran wird kritisiert, dass einem Kläger bei unterbliebenem Hinweis auch abgesehen von der Frage der rückwirkenden Genehmigung Gelegenheit gegeben werden müsse, für eine korrekte Zustellung der Klage zu sorgen, um ein Unzulässigkeitsurteil und die Notwendigkeit einer erneuten Klage noch zu vermei76 Althammer in Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 56 ZPO Rz. 11; BGH v. 8.12.2009 – VI ZR 284/08, BeckRS 2010, 4099 Rz. 21. 77 Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 38. 78 BGH v. 8.12.2009 – VI ZR 284/08, BeckRS 2010, 4099 Rz. 20 f. 79 Vgl. BGH v. 9.11.2010 – VI ZR 249/09, NJW-RR 2011, 284, 285; BGH v. 8.12.2009 – VI ZR 284/08, BeckRS 2010, 4099 Rz. 20 f.; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 112 AktG Rz. 17. 80 BGH v. 13.4.1992 – II ZR 105/91, NJW 1992, 2099, 2100. 81 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466, 467; BGH v. 9.10.1986 – II ZR 284/85, NJW 1987, 254, 255; BGH v. 22.4.1991 – II ZR 151/90, NJW-RR 1991, 926. 82 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, NZG 2009, 466, 467.

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den.83 Aus praktischer Sicht bleibt jedenfalls dringend anzuraten, einen erkannten Vertretungsmangel umgehend tatsächlich zu beheben und gegebenenfalls ausdrücklich eine ordnungsgemäße Zustellung an das richtige Organ zu verlangen. Im Lichte der gerichtlichen Hinweispflichten ist schließlich auch die Frage zu beantworten, ob im Fall eines bereits bei Klageerhebung bestehenden Mangels in der gesetzlichen Vertretung von Seiten des Gerichts überhaupt die Zustellung veranlasst werden soll. Für eine Zustellung wird zutreffend angeführt, dass Mängel der gesetzlichen Vertretung auf Klägerseite die Zustellung von vornherein nicht hindern, dass sie generell heilbar sind und eine frühzeitige Zustellung insoweit Klarheit in Bezug auf die Wahrung von Fristen schafft und Zweifel am besten in mündlicher Verhandlung geklärt werden.84 Andererseits wird zumindest in eklatanten Fällen eine „pragmatische“ Herangehensweise propagiert, wonach das Gericht die Zustellung zu unterlassen und zunächst Gelegenheit zur Behebung des Mangels zu erteilen habe, da dann die bloße Möglichkeit einer späteren Heilung durch den gesetzlich berufenen Vertreter keine Annahme zur Verhandlung rechtfertige.85 Dem wird man im Sinne der Verfahrenseffizienz zustimmen müssen, allerdings nur soweit dem Kläger damit keine prozessualen Rechte abgeschnitten werden und er insbesondere im Hinblick auf §  167 ZPO erwarten darf, dass ihm das Gericht ggf. rechtzeitig einen Hinweis erteilt, damit er durch geeignete Maßnahmen die Rückwirkung einer Zustellung „demnächst“ erhalten kann. 4. Streitiges Verfahren über die gesetzliche Vertretung Soweit Fragen der ordnungsgemäßen gesetzlichen Vertretung als solche einen streitigen Teil des Rechtsstreits bilden, stellen sich die wesentlichen Verfahrensgrundsätze wie folgt dar: a) Beweisführung Gemäß § 56 Abs. 1 ZPO sind Fragen des Vertretungsmangels wie auch die Frage einer etwaigen Heilung vom Gericht von Amts wegen zu prüfen und Beweise zu erheben, soweit hinreichende Anhaltspunkte vorliegen; dabei ist das Gericht nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden, es gilt der Grundsatz des Freibeweises zur vollen Überzeugung des Gerichts.86 Die Beweislast trägt entsprechend allgemeinen Grundsätzen derjenige, der aus der behaupteten Prozessvoraussetzung Rechte für sich herleitet; also die ein Sachurteil 83 Hager, NJW 1992, 352, 354; jedenfalls für Fälle, in denen die Abweisung der Klage als unzulässig eine besondere Härte darstellen würde auch: Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 112 AktG Rz. 35 unter Verweis auf BGH v. 13.4.1992 – II ZR 105/91, NJW 1992, 2099, 2100. 84 Vgl. Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 24. 85 Vgl. Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 36 m.w.N. 86 BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, NJW 2000, 289, 290 Ziff. II.2.; vgl. zur Klage einer nicht­ existenten Partei ausführlich BGH v. 29.9.2010 – VII ZR 41/09, NJW 2011, 778.

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begehrende Klägerseite dafür, dass sie selbst wie auch die Beklagte ordnungsgemäß vertreten sind, aber etwa die Beklagtenseite, soweit sie ein Versäumnis- oder Verzichtsurteil gegen die Klägerseite begehrt.87 b) Vertretung der AG im Streit um die Prozessfähigkeit Im Hinblick auf die Vertretung der Gesellschaft ist es ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, dass der Streit über die Frage, ob der Einwand der mangelnden gesetzlichen Vertretung begründet ist, nach der Natur der Sache zwischen den Personen auszutragen ist, die nach Auffassung der beweisbelasteten Partei (i.d.R. des Klägers) zur gesetzlichen Vertretung befugt sind, insbesondere also diejenigen, gegen die sich die Klage richtet und denen sie zugestellt wird.88 Das als – vermeintlicher – gesetzlicher Vertreter in einen Prozess hineingezogene Organ ist dann einschließlich der von ihm bestellten Prozessbevollmächtigten berechtigt, den Streit über die gesetzliche Vertretungsmacht zur Herbeiführung einer rechtskräftigen Entscheidung auszutragen und insbesondere die Abweisung der Klage als unzulässig zu verlangen. Die Vertretungsbefugnis im Prozess ist unabhängig vom materiellen Ausgang des Rechtsstreits; auch im Hinblick auf eine der Frage zu Grunde liegende streitige materielle Rechtslage ist stets derjenige der gesetzliche Vertreter, der es bei Obsiegen seiner Partei ist.89 Dies gilt auch noch in der Folgeinstanz: Die gesetzliche Vertretung wechselt nicht in Abhängigkeit von der Beurteilung der Vorinstanz, so dass der vermeintliche gesetzliche Vertreter sogar die Aufhebung eines ergangenen Sachurteils und ­Abweisung der Klage als unzulässig verlangen kann, damit kein vorinstanzliches ­Sachurteil bestätigt wird, das der Nichtigkeitsklage gem. § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ausgesetzt wäre.90 Auch wenn die beklagte AG, die sich ihrer Position sicher ist, an sich zumindest in erster Instanz gar keinen Prozessvertreter benötigt, da sie bei einer ­unzulässigen Klage nicht säumig sein kann, empfiehlt es sich, dass das vom Kläger fälschlich benannte Organ, dem die Klage zugestellt worden ist, einen Prozessvertreter bestellt und ein Prozessurteil verlangt. Wenngleich der BGH zuweilen formuliert, dass der Streit über die gesetzliche Vertretung „nur“ zwischen dem Kläger und der seiner Ansicht nach vertretungsbefugten Person ausgetragen werden kann,91 ist auch dem richtigen Vertreter zuzugestehen, die Prozessführung mit dem nämlichen Ziel der Erlangung einer Abweisung als unzulässig zu übernehmen.92 Für dessen Eintritt besteht neben den genannten Risiken allerdings kein prozessuales Bedürfnis, solange diesem die Klage nicht zugestellt ist.

87 Althammer in Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 56 ZPO Rz. 9. 88 Vgl. BGH v. 28.2.2005 – II ZR 220/03, NZG 2005, 560, 561 m.w.N. 89 Vgl. BGH v. 14.12.1961 – II ZR 97/59, NJW 1962, 538. 90 BGH v. 4.11.1999 – III ZR 306/98, NJW 2000, 289, 291 Ziff. II.2; BGH v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, NZG 2004, 186, 187 Ziff. II.2. 91 BGH v. 28.2.2005 – II ZR 220/03, 560, 561. 92 Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 51.

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c) Kostenentscheidung Bei den infolge eines Mangels in der gesetzlichen Vertretung angefallenen Kosten gilt im Wesentlichen das Verursacherprinzip, so dass Kosten auch den vermeintlichen Vertreter treffen können.93 Insoweit kann auf § 89 Abs. 1 S. 3 ZPO rekurriert werden.94 Dabei ist allgemein anerkannt, dass die Kosten des Rechtsstreits demjenigen aufzuerlegen sind, der eine Klage erhoben hat, die wegen Fehlens seiner Vertretungsmacht – sei es mangels Prozessvollmacht oder mangels ordnungsgemäßer gesetzlicher Ver­ tretung  – als unzulässig abgewiesen wird, soweit die Klageerhebung nicht von der vertretenen Partei veranlasst worden war.95 Entsprechend dem Rechtsgedanken von § 179 BGB ist also zu prüfen, wer in einer Vertretungskette die Verantwortung trägt, bspw. der falsche Vertreter, der Rechtsanwälte mit der Einlegung eines Rechtsmittels beauftragt hat, ohne dass dies nachträglich genehmigt wird.96 Insoweit tragen die Kosten also in der Regel diejenigen Organmitglieder, die in unzulässiger Vertretung Klage erhoben haben. Ausnahmen macht der BGH aber beispielsweise dann, wenn der Betreffende hinsichtlich der tatsächlichen Umstände gutgläubig war, weil etwa eine Vollmacht tatsächlich erteilt, dann aber – nur gegenüber dem Gericht – widerrufen wurde.97 Soweit dem unberechtigten Vertreter Kosten auferlegt werden, ergeht die Entscheidung (auch soweit sie im Urteil ausgesprochen wird) durch Beschluss, denn der vollmachtlose Vertreter ist nicht Partei.98 Die durch Veranlassung einer Zustellung an einen falschen Beklagtenvertreter verursachten Kosten sind nach allgemeinem Kostenrecht der Klägerseite aufzuerlegen, soweit ihre Klage als unzulässig abgewiesen wird. Soweit die Unzulässigkeit des Verfahrens nicht ausgeurteilt wird, weil der Mangel durch Eintritt des richtigen Vertreters geheilt ist, allerdings schon Kosten für die Vertretung des falschen Beklagtenvertreters angefallen sind, wird man ggf. in entsprechender Anwendung von § 91 a Abs. 1 ZPO, zu demselben Ergebnis kommen.99 Soweit auf Beklagtenseite ein unzuständiges Organ in den Rechtsstreit eintritt, können ihm unter denselben Grundsätzen Kosten auferlegt werden.

V. Beteiligung von Mitgliedern des Aufsichtsrats am Verfahren Vielfach wird sich im Verfahrensverlauf die Frage stellen, wie sich neben dem zur gesetzlichen Vertretung berufenen Aufsichtsrat einzelne seiner Mitglieder am Verfah93 Vgl. Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 63. 94 Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 112 AktG Rz. 17. 95 BGH v. 4.12.1974 – VIII ZB 30/74, BeckRS 1974, 30381067. 96 BGH v. 26.10.1981 – II ZR 71/81, BeckRS 1981, 31068117. 97 BGH v. 22.7.2008 – IX ZB 209/07, BeckRS 2008, 16746. 98 Vgl. Toussaint in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 89 ZPO Rz. 11. 99 Vgl. Gehle in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 9 Rz. 63, der insoweit auf die für den Parteiwechsel entwickelten Grundsätze rekurriert; BGH v. 16.12.2005 – V ZR 230/04, NJW 2006, 1351, 1354.

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Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat in streitigen Verfahren

ren beteiligen können, sei es im Rahmen ihrer Vernehmung zu Beweiszwecken, als Nebenintervenienten oder auch als Prozessbevollmächtigte. 1. Vernehmung von Aufsichtsratsmitgliedern als Zeuge oder als Partei Ob eine Person als Zeuge oder als Partei zu vernehmen ist, richtet sich nach ihrer formalen Stellung im Verfahren. Zeuge kann jeder sein, der nicht als Partei zu vernehmen ist. Die Parteivernehmung ist wiederum nur vorgesehen bei der prozessunfähigen Partei selbst sowie beim gesetzlichen Vertreter einer prozessunfähigen Partei.100 Insoweit gelten die Einschränkungen der §§ 445 ff. ZPO. Soweit der Aufsichtsrat im konkreten Fall also nicht als gesetzlicher Vertreter der ­Gesellschaft fungiert, können seine Mitglieder ohne Zweifel als Zeugen vernommen werden. Anders ist dies, wenn die Aktiengesellschaft in einem Verfahren durch ihren Aufsichtsrat vertreten wird. Zwar sind auch hier die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder weder Partei noch gesetzlicher Vertreter, sondern nur der Aufsichtsrat als Organ. Gleichwohl kommt in diesem Fall nach einhelliger Meinung lediglich eine Parteivernehmung der Aufsichtsratsmitglieder in Frage, und zwar unabhängig davon, ob sie tatsächlich im Prozess auftreten.101 Einzelne Organmitglieder können die Zeugenstellung aber wiedererlangen, soweit sie zum Zeitpunkt der Beweisaufnahme nicht mehr dem Aufsichtsrat angehören. Es kommt insoweit allein auf den Zeitpunkt der Vernehmung an, wobei geänderte Umstände bei der Beweiswürdigung Berücksichtigung finden können.102 Umgekehrt sind Vorstandsmitglieder im Falle der Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat grundsätzlich Zeugen – selbstverständlich nur soweit sie oder der Vorstand nicht auf der Gegenseite als Partei auftreten. Die fehlerhaft durchgeführte Vernehmung einer Partei als Zeuge oder umgekehrt soll dann keinen Verfahrensmangel darstellen, wenn das Gericht die Aussage in ihrer Wertigkeit zutreffend gewürdigt hat.103 Jedenfalls kann ein darauf fußender Verfahrensmangel nach § 295 ZPO geheilt werden, wenn er nicht rechtzeitig gerügt wird.104 2. Aufsichtsratsmitglieder als Nebenintervenienten Weil der Aufsichtsrat die Gesellschaft als Organ vertritt, kann in einem vom Aufsichtsrat für die Gesellschaft geführten Prozess ein Mitglied des Aufsichtsrats dem Verfahren als Nebenintervenient beitreten. 100 Lindacher in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, § 52 ZPO Rz. 31. 101 Fischer in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 12 Rz. 7; vgl. auch Greger in Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, Vor § 373 ZPO, Rz. 8. 102 Huber in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 373 ZPO Rz. 6; Greger in Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, Vor § 373 ZPO, Rz. 5. 103 BGH v. 23.5.1977  – II ZR 1/76, BeckRS 1977, 31115833; Greger in Zöller/Vollkommer, ZPO, 32. Aufl. 2018, Vor § 373 ZPO, Rz. 11. 104 BGH v. 27.9.1965 – II ZR 239/64, NJW 1965, 2253; Huber in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 373 ZPO Rz. 6.

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Es ist zwar grundsätzlich zweifelhaft, ob der gesetzliche Vertreter einer Partei im Verhältnis zu dieser Partei Nebenintervenient sein kann.105 Im Gegensatz zu der Frage der Vernehmung von Aufsichtsratsmitgliedern wirkt sich hier nach der Rechtsprechung des BGH aber aus, dass gesetzlicher Vertreter eben nur der Aufsichtsrat als Organ, nicht das einzelne Mitglied ist.106 Andererseits bejaht der BGH das gemäß § 66 Abs. 1 ZPO notwendige rechtliche Interesse an einem Beitritt im Streit um die Wirksamkeit eines Abberufungsbeschlusses auf Seiten der AG gerade angesichts der Organstellung der Aufsichtsratsmitglieder und der sich daraus ergebenden gemeinsamen Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gefassten Beschlüsse.107 3. Aufsichtsratsmitglieder als Prozessbevollmächtigte Ebenso ist es grundsätzlich möglich, dass ein Aufsichtsratsmitglied als Prozessbevollmächtigter im Anwaltsprozess auftritt (§ 78 Abs. 4 ZPO). Allerdings hat allein der Umstand, dass eines der Mitglieder des Aufsichtsrats auch selbst Rechtsanwalt ist, nicht für sich genommen Auswirkungen. Insbesondere gilt §  246 ZPO nicht ohne Vorliegen einer entsprechenden Vollmacht. Bei Wegfall der gesetzlichen Vertretung wird das Verfahren also gemäß § 241 Abs.1 ZPO unterbrochen. Ist anderes gewollt, muss vorher durch entsprechende Bevollmächtigung Klarheit geschaffen sein.

VI. Schlussbemerkung Die Ausführungen haben gezeigt, dass mit der Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat auch im streitigen Verfahren etliche Zweifelsfragen einhergehen, deren Lösung für den Aufsichtsrat selbst, aber auch für die Gegenpartei, je nach Sachlage eine Herausforderung darstellen und mit Risiken verbunden sein kann. Dem Jubilar bietet sich als Berater und Prozessvertreter also ein breites Aufgabenfeld. Es bleibt ihm zu wünschen, dass er diese Rolle noch viele Jahre mit voller Schaffenskraft übernehmen kann.

105 Vgl. Fischer in MünchHdbGesR, Bd. 7 Corporate Litigation, 5. Aufl. 2016, § 13 Rz. 3. 106 BGH v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, NJW-RR 2013, 485 Ziff. 9. 107 BGH v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, NJW-RR 2013, 485, 486 Ziff. 13.

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Insolvenzvermeidende Wirkung des Unternehmensvertrags bei der Untergesellschaft? Inhaltsübersicht 1. Einführung 2. Bestand des Unternehmensvertrags in der Insolvenz? 3. Insolvenzrechtliche Zahlungsunfähigkeit – Pflicht zur (unterjährigen) Liqui­ ditätsausstattung kraft Unternehmensvertrags? a) Meinungsstand b) Folgen eines unterjährigen insolvenzrechtlich erheblichen Liquiditätsengpasses auf Basis der herrschenden Meinung

c) Folgen eines unterjährigen insolvenzrechtlich erheblichen Liquiditätsengpasses auf Basis der Mindermeinung d) Bewertung und Stellungnahme 4. Insolvenzrechtliche Überschuldung a) Tatbestand b) Maßgeblich von Liquidationswerten und deren Verhältnis zu HGB-Werten c) Aktivierbarkeit des Verlustausgleichsanspruchs im Überschuldungsstatus? d) Fortbestehensprognose 5. Zusammenfassung und Fazit

1. Einführung Angesichts der breiten publizistischen Tätigkeit von Eberhard Vetter im Gesellschaftsrecht verwundert es nicht, dass auch der Vertragskonzern bisweilen seine Aufmerksamkeit gefunden hat.1 Erst kürzlich hat er sich auf dem 72. Deutschen Juristentag bei den Verhandlungen der wirtschaftsrechtlichen Abteilung – Thema war die Reform des Beschlussmängelrechts – dafür ausgesprochen, das beschlussmängelrechtliche Freigabeverfahren beim Abschluss eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags künftig auch auf den Zustimmungsbeschluss der Obergesellschaft (§ 293 Abs. 2 AktG) zu erstrecken.2 Nachfolgende Gedanken zu einem vergleichsweise eher spärlich ausgeleuchteten Aspekt des ansonsten breit erörterten Rechts des Vertragskonzerns finden daher hoffentlich das Interesse des Jubilars. Gerät eine Tochter-GmbH3 oder Tochter-AG in die Krise und besteht zwischen dieser Tochtergesellschaft und einer Muttergesellschaft ein Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrag (nachfolgend auch Unternehmensvertrag), stellt sich die Frage, wie sich der Unternehmensvertrag zur Insolvenz der Tochter verhält. Wird der Themenkreis des Vertragsfortbestands bei Insolvenzeintritt noch breiter erörtert 1 So etwa E. Vetter, Die Entschädigung der Minderheitsaktionäre im Vertragskonzern erneut vor dem Bundesverfassungsgericht, ZIP 2000, 561 ff. 2 Die Sitzungsberichte waren bei Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht. Der Verfasser war persönlich anwesend. 3 Zum Umfang der entsprechenden Anwendbarkeit der §§ 302 ff. AktG auf den GmbH-Vertragskonzern vgl. stellvertretend Kiefner in MünchHdb-GesR, Band III, 5. Aufl. 2018, § 70 Rz. 7 ff., 25 ff.

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(nachfolgend 2.), finden sich hingegen eher wenig Stimmen, die sich – Solvenz des Vertragspartners vorausgesetzt – im Detail mit den Wechselwirkungen beschäftigen, die sich möglicherweise für das Vorliegen der Insolvenzgründe der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung ergeben (nachfolgend 3.). 2. Bestand des Unternehmensvertrags in der Insolvenz? Wird über das Vermögen der Untergesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, ist der Unternehmensvertrag für beide Parteien gemäß § 297 Abs. 1 AktG außerordentlich kündbar, nach einer starken Literaturmeinung, die immer noch vielfach als herrschend bezeichnet wird, sogar ex lege beendet. Interessant ist, dass das gesellschaftsrechtliche Schrifttum – ganz auf der Linie des Lutterschen Ausspruchs, der Konkurs sprenge den Konzern4  – sich überwiegend für eine Beendigung ex lege ausspricht,5 während die insolvenzrechtliche Literatur überwiegend der Gegenauffassung zuneigt.6 Überzeugend ist die Auffassung, welche die Beendigung in die Hände der Parteien in Gestalt eines außerordentlichen Kündigungsrechts legt.7 Zu Recht wird angeführt, dass unter der seit dem 1. Januar 1999 geltenden Insolvenzordnung – insbesondere auch unter Berücksichtigung der Erweiterungen der Restrukturierungsmöglichkeiten durch das ESUG – die bisher h.M. zur ex lege-Beendigung von Unternehmensverträgen in der Insolvenz überholt ist. Da die InsO etwa im Rahmen des Insolvenzplanverfahrens gerade die Möglichkeit der Unternehmenssanierung vorsieht, muss bis zum Scheitern einer Sanierung die Möglichkeit bestehen, den Unternehmensvertrag fortzusetzen.8 Für die Praxis folgt hieraus, dass zumindest vorsorglich die Kündigung auszusprechen ist, soll der Unternehmensvertrag rechtssicher enden.9 Im vorstehenden Kontext ist nicht aus dem Blick zu verlieren, dass während der Insolvenz der Tochter der Unternehmensvertrag funktionslos wird. Das Weisungsrecht 4 Lutter, ZfB 1984, 781 (784). 5 Krieger in MünchHdb-GesR, Band IV, 4.  Aufl. 2015, §  71 Rz.  207; Koch in Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  297 Rz.  22a; Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4.  Aufl. 2015, §  297 Rz. 116 ff.; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 297 Rz. 52b; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 297 Rz. 38; Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 297 Rz. 139 ff.; Schenk in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 297 Rz. 9. 6 Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15.  Aufl. 2019, §  11 Rz.  398; Noack in Kübler/Prütting, InsO, Sonderband Gesellschaftsrecht, 1999, Rz.  726; Brünkmans, Die Koordinierung von Insolvenzverfahren konzernverbundener Unternehmen nach deutschem und europäischem Insolvenzrecht, 2009, S. 260 ff. 7 Wie hier: Koppensteiner in KK-AktG, 3.  Aufl. 2004, §  297 Rz.  48; Servatius in Michalski, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Darst. 4, Rz. 256; Noack in Kübler/Prütting, InsO, Sonderband Gesellschaftsrecht, 1999, Rz.  726; Bous, Die Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren konzernverbundener Kapitalgesellschaften, 2001, S. 149 ff., 290 f.; Grüner, Die Beendigung von Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen, 2003, S. 160 ff.; Mues, RNotZ 2005, 2 (30 f.). 8 Vgl. Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2015, § 297 Rz. 105; Noack in Kübler/Prütting, InsO, Sonderband Gesellschaftsrecht, 1999, Rz. 723; Brünkmans, Die Koordinierung von Insolvenzverfahren konzernverbundener Unternehmen nach deutschem und europäischem Insolvenzrecht, 2009, S. 263; Zeidler, NZG 1999, 692 (696 f.). 9 Boor, RNotZ 2017, 65 (84); vgl. auch Klöckner, ZIP 2011, 1454 (1455).

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Insolvenzvermeidende Wirkung des Unternehmensvertrags bei Untergesellschaft?

der Obergesellschaft aus § 308 AktG entfällt, da der Insolvenzverwalter des abhängigen Unternehmens als gerichtlich bestellter Amtstreuhänder eigenverantwortlich tätig wird.10 Zudem findet bei einer Gesellschaft in Liquidation keine reguläre Gewinnabführung mehr statt. Wer sich mit Blick auf eine grundsätzlich denkbare Sanierung für eine Aufrechterhaltung des Unternehmensvertrags in der Insolvenz ausspricht, unterwirft regelmäßig für die Dauer des Insolvenzverfahrens die Kardinalspflichten des Unternehmensvertrags einer „Suspension“.11 Auch das dem Wortlaut nach an die Vertragsbeendigung anknüpfende Gläubigerrecht auf Sicherheitsleistung nach § 303 AktG wird in analoger Anwendung bereits mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgelöst. Im Ergebnis weichen die beiden Auffassungen bei einer zentralen Weichenstellung also gar nicht voneinander ab:12 Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens entsteht unterjährig ein Verlustausgleichsanspruch gem. § 302 AktG (analog),13 und den Gläubigern steht ein Recht auf Sicherheitsleistung gem. § 303 AktG (analog) zu.14 3. Insolvenzrechtliche Zahlungsunfähigkeit – Pflicht zur (unterjährigen) Liquiditätsausstattung kraft Unternehmensvertrags? Prüft die Geschäftsführung der Tochter das Vorliegen einer (drohenden) insolvenzrechtlichen Zahlungsunfähigkeit, sind auch etwaige Mittelzuflüsse unter dem Unternehmensvertrag in die Betrachtung einzustellen. Zahlungsunfähigkeit der Tochter liegt nach § 18 Satz 1 InsO vor, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist nach h.M. Zeitraumilliquidität, nicht bloß Zeitpunktilliquidität;15 abgestellt wird im Rahmen der vorzunehmenden Prognose typischerweise auf einen Zeitraum von drei Wochen.16 Einzustellen in den Liquiditätsstatus sind alle Verbindlichkeiten, bei denen von einer ernstlichen Einforderung auszugehen ist bzw. eine Gläubigerhandlung vorliegt, aus der sich der Wille, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen, im Allgemeinen ergibt.17 10 Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 Rz. 47; Zeidler, NZG 1999, 692 (697); Göhmann/Winnen, RNotZ 2015, 53 (63); Specovius/Kuske in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 95 Rz. 12; Mues, RNotZ 2005, 2 (30 f.); Zeidler, NZG 1999, 692 (697); differenzierend: Bous, Die Konzernleitungsmacht im Insolvenzverfahren konzernverbundener Kapitalgesellschaften, 2001, S. 291 ff.; Grüner, Die Beendigung von Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen, 2003, S. 159 (Weisungsrecht verbleibt als „leere Hülle“ gegenüber der weitgehend kompetenzlosen Geschäftsführung). 11 Noack in Kübler/Prütting, InsO, Sonderband Gesellschaftsrecht, 1999, Rz. 723 ff.; Zeidler, NZG 1999, 692 (697). 12 Specovius/Kuske in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 95 Rz. 12. 13 Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 11 Rz. 401; Specovius/Kuske in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 95 Rz. 14; Servatius in Michalski, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Darst. 4, Rz. 139. 14 Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 303 Rz. 10. 15 K. Schmidt, InsO, 16. Aufl. 2016, § 17 Rz. 5; Ampferl/Kilper in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017, § 2 Rz. 66 ff.; Müller in Jaeger, InsO, 2004, § 17 Rz. 26. 16 BGH, Urteil v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426 ff.; Steffek in Kübler/Prütting/ Bork, InsO, 78. Lieferung, § 17 Rz. 48 ff. 17 BGH, Beschl. v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, ZIP 2007, 1666 (1667 f.); BGH, Urteil v. 14.5.2009 – IX ZR 63/08, ZIP 2009, 1235 (1237); hierzu: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 17 Rz. 12 f.

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Einigkeit besteht darin, dass die Verlustausgleichspflicht spätestens mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingreift. Umstritten ist hingegen, ob darüber hinaus aus dem Unternehmensvertrag weitere Ansprüche folgen, die sich auf die Liquiditätsausstattung und damit die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft auswirken. a) Meinungsstand Teile der Literatur erkennen – über den Wortlaut des § 302 AktG hinaus – eine allgemeine Verpflichtung des herrschenden Unternehmens zur Aufrechterhaltung der Liquidität der Untergesellschaft an. Differenzen bestehen bezüglich der dogmatischen Herleitung. Nur wenige Autoren sprechen sich offen dafür aus, eine angeblich bestehende „planwidrige Regelungslücke im Schutzsystem der §§  300  ff. AktG“ mit einem eigenen, vom bilanziellen Überschuldungsschutz gänzlich abgekoppelten Konzept der Liquiditätsgarantie im Vertragskonzern zu schließen.18 Prominenter ist die Auffassung, wonach die Untergesellschaft im Falle unterjähriger Liquiditätsengpässe Abschlagszahlungen auf den zu erwartenden Verlustausgleichsanspruch aus § 302 AktG verlangen könne.19 Diese Ansicht kann in gewisser Weise als vermittelnd bezeichnet werden, da sie am Regelungsgedanken des § 302 AktG verhaftet bleibt und lediglich die Fälligkeit des gesetzlich normierten Anspruchs teilweise in die Zukunft vorverlegt. Die herrschende Meinung lehnt die rechtsfortbildenden Bestrebungen ab.20 Eine Pflicht zur ordnungsgemäßen Konzernfinanzierung finde – unabhängig von der dogmatischen Herleitung als eigenes Schutzkonzept oder Abschlagszahlung auf den Anspruch aus § 302 AktG – keine ausreichende Stütze im Gesetz21 und sei darüber hi­

18 Kleindiek, ZGR 2001, 479 (492 ff.); Wede, Die Pflicht zur Verlustübernahme im GmbH-Vertragskonzern, 2016, S.  59; wohl auch Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4.  Aufl. 2015, § 302 Rz. 38 f., 73; Schilmar, ZIP 2006, 2346 (2347). 19 Priester, ZIP 1989, 1301 (1307); Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-­ Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 302 AktG Rz. 41; wohl auch Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 302 Rz. 13; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 302 Rz. 23; Schenk in Bürgers/Körber, AktG, 4.  Aufl. 2017, §  302 Rz.  20; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht, 2004, S.  35  ff.; Nodoushani, NZG 2017, S.  728; Philippi/Neveling, BB 2003, S. 1685 (1690 f.). 20 OLG Hamburg, Urteil v. 24.7.1987  – 11 U 182/86, NJW-RR 1988, 46 (47  f.); Kiefner in MünchHdb-GesR, Band III, 5. Aufl. 2018, § 70 Rz. 28; Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rz. 57; Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 302 Rz. 62; Stephan in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  302 Rz.  49; Servatius in Grigoleit, AktG, 2013, §  302 Rz.  14; Servatius in Michalski, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, Syst. Darst. 4, Rz. 138 f.; Paschos in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 302 AktG Rz. 15; Deilmann in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 302 Rz. 23; Krieger in MünchHdb-GesR, Band IV, 4. Aufl. 2015, § 71 Rz. 75. 21 Kiefner in MünchHdb-GesR, Band III, 5. Aufl. 2018, § 70 Rz. 28 m.w.N.; Deilmann in Hölters, AktG, 3.  Aufl. 2017, §  302 Rz.  23; Koppensteiner in KK-AktG, 3.  Aufl. 2004, §  302 Rz. 57; Stephan in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 302 Rz. 49.

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Insolvenzvermeidende Wirkung des Unternehmensvertrags bei Untergesellschaft?

naus nicht rechtssicher handhabbar.22 Ergänzend wird auf das fehlende Bedürfnis für eine Rechtsfortbildung hingewiesen: Die solvente Obergesellschaft wird ohnehin im eigenen Interesse prüfen, ob die Beseitigung der Insolvenzgründe Vorteile mit sich bringt oder nicht, denn spätestens mit Insolvenzeröffnung entsteht der Anspruch aus § 302 Abs. 1 AktG auf jeden Fall.23 b) Folgen eines unterjährigen insolvenzrechtlich erheblichen Liquiditätsengpasses auf Basis der herrschenden Meinung Ist die Liquidität der Untergesellschaft im laufenden Geschäftsjahr in Gefahr, bestehen nach der h.M. unter dem Unternehmensvertrag keine Ansprüche gegen die Obergesellschaft. Folglich kann die Insolvenzreife wegen (drohender) Zahlungsunfähigkeit nicht infolge vertraglicher Ansprüche aus dem Unternehmensvertrag abgewendet werden. Die Gesellschaft fällt in die Insolvenz. Für den im laufenden Geschäftsjahr bis zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung entstandenen Verlust, der anhand einer Stichtagsbilanz zu ermitteln ist, haftet das herrschende Unternehmen der Untergesellschaft im Innenverhältnis gemäß § 302 Abs. 1 AktG.24 Bei der Prüfung des Fortbestehens der Insolvenzreife sowie bei der Feststellung des Umfangs der Insolvenzmasse ist der Anspruch zu berücksichtigen.25 Im Außenverhältnis hat die Obergesellschaft den Gläubigern der insolventen Tochter gemäß § 303 Abs. 1 AktG i.V.m. § 232 BGB Sicherheit zu leisten. Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt, aus diesem Grunde eingestellt oder die Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht, verdichtet sich der Anspruch in eine unmittelbare Zahlungspflicht, da eine Sicherheitsleistung dann unter keinen Umständen mehr Sinn ergibt („Ausfallhaftung“).26 Selbiges soll nach einigen Stimmen bereits dann gelten, wenn das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Tochter eröffnet ist27 – die Insolvenz des Schuldners ist schließlich ein Sicherungsfall par excellence.28 22 Servatius in Grigoleit, AktG, 2013, § 302 Rz. 14. 23 Servatius in Michalski, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Darst. 4, Rz. 138 f. 24 Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 302 Rz. 19. 25 Pleister/Theusinger in Kübler (Hrsg.), Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Aufl. 2018, § 50 Rz. 87. 26 Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 303 Rz. 24; Deilmann in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 303 Rz. 14; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 303 Rz. 24 (§ 322 AktG analog). 27 Deilmann in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 303 Rz. 15; Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2015, § 303 Rz. 46; Veil in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 303 Rz. 24; Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 303 Rz. 26; Stephan in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 303 Rz. 28; Klöckner, ZIP 2011, 1454 ff.; Bork, ZIP 2012, 1001 (1004); a.A. OLG Frankfurt, Urteil v. 16.2.2000 – 19 U 226/98 (lediglich Anspruch auf Sicherheitsleistung, solange der Ausfall nicht feststeht); ferner Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 303 Rz. 13; Servatius in Grigoleit, AktG, 2013, § 303 Rz. 9; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht, 2004, S. 43. 28 Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2015, § 303 Rz. 46 („der klassische Sicherungsfall“).

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c) Folgen eines unterjährigen insolvenzrechtlich erheblichen Liquiditätsengpasses auf Basis der Mindermeinung Ist die Zahlungsfähigkeit der Untergesellschaft unterjährig gefährdet, kann sie auf Grundlage der Mindermeinung von der Obergesellschaft die Versorgung mit der benötigten Liquidität verlangen. Dem Mutterunternehmen wird folglich eine konzernweite Liquiditätsverantwortung aufgebürdet. Nimmt man den gesetzlich normierten Überschuldungsschutz aus §  302 AktG hinzu, ist eine Insolvenz der Tochtergesellschaft ausgeschlossen, solange die Obergesellschaft solvent ist.29 Gläubiger der Tochtergesellschaft können sich durch Pfändung der Ansprüche aus dem Konzerninnenverhältnis befriedigen.30 d) Bewertung und Stellungnahme Aus der Perspektive der Gläubiger führen beide Auffassungen insofern zum selben Ergebnis, als sie verhindern, dass Gläubiger der Untergesellschaft im Ergebnis „leer ausgehen“. Die insoweit h.M. lässt die Tochtergesellschaft zwar bei (drohender) Zahlungsunfähigkeit in die Insolvenz fallen, gewährt jedoch infolge der Beendigung des Unternehmensvertrags (ex lege oder infolge außerordentlicher Kündigung) bzw. im Kontext des Insolvenzverfahrens (sei es infolge der Verfahrenseröffnung, sei es infolge Verfahrensablehnung mangels Masse, sei es infolge befriedigungsloser Verfahrensbeendigung) einen Direktanspruch gegen die Obergesellschaft analog §  303 AktG. Nach der Mindermeinung ist die Zahlungsfähigkeit der Untergesellschaft aufgrund der Liquiditätsverantwortung der Konzernmutter ohnehin gewährleistet. Es bestehen Ansprüche im Konzerninnenverhältnis, die zudem von den Gläubigern des Tochterunternehmens gepfändet werden können. Die Befriedigung der Gläubiger erfolgt insoweit „über das Dreieck“. Der zentrale Unterschied aus Gläubigersicht besteht darin, dass eine Auffassung insolvenzpräventiv wirkt, während im anderen Fall Unsicherheiten verbleiben, ob und wie rasch sich der Gläubiger erholen kann. Überzeugend ist alleine die herrschende Auffassung. Die Existenz von § 303 AktG (ggf. in analoger Anwendung) belegt, dass das Gesetz ein eigenständiges Schutzinstrument für den Zeitpunkt vorsieht, dass der Unternehmensvertrag dysfunktional wird. Einen indirekten „De-facto-Anspruch“ der Tochter-Gläubiger gegenüber der solventen Mutter, dass ein solcher Fall erst gar nicht eintreten darf, sieht das Gesetz gerade nicht vor.31 Erhebliche Unterschiede ergeben sich, wenn man die Perspektive etwaiger Minderheitsgesellschafter der Untergesellschaft einnimmt. Nach der h.M. fällt die Gesellschaft in die Insolvenz, was für die Gesellschafter als Eigenkapitalgeber in aller Regel zum Verlust der Einlage führt (§ 199 Satz 2 InsO). Nach der Mindermeinung besteht hin-

29 Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2015, § 302 Rz. 38 f.; vgl. auch Ziemons in Ziemons/Binnewies, Handbuch Aktiengesellschaft, 81. Lieferung, November 2018, Rz. 12.1066. 30 Wede, Die Pflicht zur Verlustübernahme im GmbH-Vertragskonzern, 2016, S. 53. 31 Vgl. Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rz. 57.

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gegen eine Art reflexartig wirkende „Überlebensgarantie“ für das abhängige Unternehmen während der Dauer des Vertragskonzerns. Wertungsmäßig ist auch unter dem Blickwinkel der Minderheitsgesellschafter die herrschende Auffassung zu Recht vorzugswürdig. Grundsätzlich ist die Insolvenz ein allgemeines unternehmerisches Risiko, das alle Gesellschafter gemeinsam tragen. Diese allgemeine Risikozuweisung ist durchbrochen, wenn ein existenzvernichtender Gesellschaftereingriff oder – bei Bestehen eines Weisungsrechts – eine existenzvernichtende bzw. -gefährdende Weisung vorliegt. Flankierend ist noch die Insolvenzverursachungshaftung nach § 64 Satz 3 GmbHG bzw. § 92 Abs. 2 Satz 3 AktG zu nennen. Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Frage, ob allein mit dem Abschluss eines Unternehmensvertrags die implizite Zusage des Vertragspartners an die Minderheitsgesellschafter verbunden sein soll, das Überleben des Unternehmens zumindest für die Vertragslaufzeit zuzusichern, also im Gesellschafterkreis das Insolvenzrisiko kraft Vertrags einseitig der Obergesellschaft zugewiesen sein soll. Während für den Gläubigerschutz in Gestalt von §  303 AktG eine Zuweisungsnorm vorliegt, ist dies hinsichtlich der Minderheitsgesellschafter gerade nicht der Fall. Handelt es sich um einen isolierten Gewinnabführungsvertrag, liegt die Unternehmensleitung unverändert bei der Tochter, und eine faktische Konzernierung dauert fort. Der Abschluss des Unternehmensvertrags wirkt aus Sicht des Minderheitsgesellschafters angesichts der „Garantiedividende“ (Ausgleich nach §  304 AktG) wie der Tausch seines Anteils in ein Rentenpapier. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, den Gesellschafter nicht besser als den Inhaber einer Anleihe zu behandeln, dessen Emittent während der Anleihelaufzeit in die Insolvenz fällt. Handelt es sich um einen Beherrschungsvertrag, liegen im Ergebnis die Dinge nicht anders. Zwar steht dem herrschenden Vertragsteil das Weisungsrecht nach §  308 AktG zu, wodurch die unternehmerische Verantwortung auf ihn verlagert wird. Das Gesetz hat aber ein austariertes Schutzinstrumentarium implementiert. Das Risiko der wirtschaftlichen Verschlechterung wird über die Verlustausgleichspflicht nach § 302 AktG adressiert. Einen darüber hinausgehenden garantieähnlichen Schutz allgemein vor „schlechtem“ Management sieht das Gesetz nicht vor, wie etwa auch § 309 Abs. 1 und 2 AktG (Haftung der gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens gegenüber der abhängigen Gesellschaft nur bei Sorgfaltspflichtverstoß) zeigt. Oder anders gewendet: Das vertragskonzernrechtliche Schutzsystem bewahrt nicht vor allgemeinen unternehmerischen Risiken.32 Es steht dem Minderheitsgesellschafter frei, ob er dieses Risiko – flankiert durch die Garantiedividende nach § 304 AktG – akzeptiert oder gegen Abfindung ausscheidet (§ 305 AktG). Zu guter Letzt noch Zweierlei: Das Gesetz selbst geht wie selbstverständlich von der Insolvenz der Untergesellschaft als einem möglichen Szenario aus, wie die Regelungen zum Haftungsanspruch nach § 309 Abs. 1 und 2 AktG belegen. In der Insolvenz geht das grundsätzlich bestehende Recht der Gesellschafter und Gläubiger zur Geltendmachung des Anspruchs (§ 309 Abs. 4 Satz 1 bis 3 AktG) auf den Insolvenzver32 So zutreffend Liebscher in MünchKomm-GmbHG, Anh. § 13 Rz. 867.

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walter über (§ 309 Abs. 4 Satz 5 AktG). Ein präventiv auf Abwendung der Zahlungsunfähigkeit ausgerichtetes Vertragskonzernrecht sähe anders aus. Die praktische Erfahrung lehrt zudem, dass eine solche Schutzkonzeption rechtspolitisch auch gar nicht vonnöten ist. Die im Insolvenzfall ausgelöste Verlustausgleichspflicht (zu deren Umfang im Fall der Insolvenz gleich nachfolgend) in Kombination mit dem Gläubigerzugriff nach §  303 AktG und den einhergehenden Reputationsrisiken hält eine solvente Muttergesellschaft regelmäßig rein praktisch davon ab, eine Tochter insolvent gehen zu lassen. 4. Insolvenzrechtliche Überschuldung Künftige Mittelzuflüsse unter dem Unternehmensvertrag können auch relevant werden, wenn die Geschäftsführung der Tochter das Vorliegen einer Überschuldung prüft. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, hat die Obergesellschaft gemäß § 302 Abs. 1 AktG jeden während der Vertragsdauer entstehenden Jahresfehlbetrag der Untergesellschaft auszugleichen. Dies führt zu der Frage, ob und inwieweit der Verlustausgleichsanspruch geeignet ist, eine insolvenzrechtliche Überschuldung auszuschließen. a) Tatbestand Nach § 19 Abs. 2 InsO liegt der Insolvenzgrund der Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Für diesen zweigliedrigen Überschuldungsbegriff (rechnerische Überschuldung einerseits, keine positive Fortführungsprognose andererseits)33 ist vom Gesetz keine bestimmte Prüfungsreihenfolge vorgegeben.34 Bei beiden Merkmalen kann der Unternehmensvertrag eine Rolle spielen. b) Maßgeblich von Liquidationswerten und deren Verhältnis zu HGB-Werten Die rechnerische Überschuldung i.S.v. § 19 Abs. 2 InsO wird nicht anhand der Werte aus der „regulären“ HGB-Bilanz (oder gar eine Bilanz nach IFRS) ermittelt, sondern anhand von Liquidationswerten,35 die in der Regel, aber nicht notwendigerweise, mit 33 Siehe hierzu: Mock in Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 19 Rz. 38 ff.; Arnold in Henssler/ Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 2 ff. 34 OLG Hamburg, Urteil v. 13.10.2017 – 11 U 53/17, DStR 2017, S. 2621 (2622); Wolfer in BeckOK-InsO, 12. Edition, Stand 26.10.2018, § 19 Rz. 8; Rüntz/Laroche in HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 19 Rz. 6. 35 BGH, Urteil v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, NJW 1992, 2891 (2894) (zur Konkursordnung); ferner Arnold in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 5; Bußhardt in Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 19 Rz. 17; Leithaus in Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl. 2018, § 19 Rz. 9; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 78. Lieferung, November 2018, § 19 Rz. 56; Bitter in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2015, vor § 64 Rz. 43; Schmerbach in FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 19 Rz. 18.

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Zerschlagungswerten gleichzusetzen sind.36 Gegenüber den „regulären“ HGB-Werten kann es – untechnisch gesprochen – zur „Aufdeckung von Stillen Reserven“ (sog. Abwicklungsgewinne) kommen,37 was durchaus häufig der Fall sein dürfte. Doch auch der umgekehrte Fall – die Liquidationswerte bleiben hinter den (auf der „going-­ concern“-Prämisse beruhenden) HGB-Werten zurück – ist durchaus denkbar.38 Um den Insolvenzgrund der Überschuldung in jedem Fall auszuschließen und damit der Zielvorstellung eines vertragskonzernrechtlichen Überschuldungsschutzes gerecht zu werden, müsste der Verlustausgleichsanspruch auch die sog. Abwicklungsverluste – verursacht durch ein Zurückbleiben der Liquidations- gegenüber den Fortführungswerten – abdecken. Das Meinungsbild ist hier leicht diffus, was sicherlich mit dem schillernden Begriff der „Abwicklungsverluste“,39 vor allem aber damit zusammenhängt, dass oftmals die Berechnungsgrundlage für den Anspruch aus § 302 AktG bei Beendigung der Verlustausgleichspflicht wegen Insolvenz der Untergesellschaft nicht präzise benannt wird. In einem ersten Schritt ist festzuhalten, dass das Konzernrecht untrennbar mit den handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften verknüpft ist.40 Die §§ 300 ff. AktG greifen bei einer Fülle von Begriffen die Terminologie des HGB auf (etwa gesetzliche Rücklage, Kapitalrücklage, Jahresüberschuss, Jahresfehlbetrag, Gewinnrücklagen) bzw. verweisen auf Bestimmungen des HGB (Verweise auf § 150 Abs. 2 HGB, § 268 Abs. 8 und § 300 HGB). Dieser enge Konnex wird durch die Insolvenz nicht angetastet. Der Verlustausgleichsanspruch ist nicht aus dem Überschuldungsstatus, sondern aus einer HGB-Bilanz zu ermitteln. Im Zuge der Eröffnung des (für Zwecke der Insolvenzgrundprüfung hypothetisch gedachten) Insolvenzverfahrens sind jedoch  – getrennt durch eine juristische Sekun36 K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2019, § 19 Rz. 24; Mönning in Nerlich/Römermann, InsO, 37. EL Oktober 2018, § 19 Rz. 27; a.A. Bußhardt in Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 19 Rz. 17. 37 Arnold in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 3; Leithaus in Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl. 2018, § 19 Rz. 10; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 78. Lieferung, November 2018, § 19 Rz. 52. 38 Vgl. K. Schmidt in K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 5.121; Wolfer in BeckOK-InsO, 12. Edition, Stand 26.10.2018, § 19 Rz. 21. 39 Was unter Abwicklungsverlusten zu verstehen ist, war in der bisherigen Diskussion nicht immer eindeutig. Das neuere Schrifttum differenziert: Verluste, die (bei negativer Fortführungsprognose) durch einen in der Schlussbilanz vorzunehmenden Bewertungsabschlag auf Liquidationswerte entstehen, sind im Rahmen des letzten Verlustausgleich auszugleichen; statt aller Krieger in MünchHdb-GesR, Band IV, 4. Aufl. 2015, § 71 Rz. 67. Etwas anders gilt für Verluste, die erst in der Abwicklungsphase entstehen und sich bei Insolvenzeröffnung deshalb bilanziell (noch) nicht niederschlagen. Diese zeitliche Abgrenzung hat sich erst in den letzten Jahren als h.M. durchgesetzt; abweichend noch OLG Düsseldorf, Beschluss v. 2.4.1998 – 19 W 3/93, AG 1999, 89 (91); Krieger in FS Metzeler, 2003, S. 139, 151 f.; Mertens, ZGR 1984, 542 (551 f.) sowie zuletzt Käpplinger in Geßler, AktG, 72. Ergänzungslieferung, Dezember 2014, § 302 Rz. 9; unter der Prämisse, dass der Unternehmensvertrag in der Abwicklungsphase fortbesteht, auch Werner, AG 1972, 137 (143); Peltzer, AG 1975, 309 (311 f.). 40 Siehe etwa Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 302 Rz. 23.

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de – zwei handelsrechtliche Bilanzen zu erstellen: erstens die Schlussbilanz der werbenden Gesellschaft für das letzte (Rumpf-)Geschäftsjahr, aufzustellen auf das Ende des Tages vor Verfahrenseröffnung; zweitens die Eröffnungsbilanz, aufzustellen auf den Beginn des Tages des Eröffnungsbeschlusses. Im Schrifttum fehlt diese Differenzierung ganz überwiegend.41 Dies überrascht zumindest insoweit, als manche Autoren bewusst auf die Schlussbilanz rekurrieren, die sie anhand von Fortführungswerten erstellen möchten, um so eine Nicht-Berücksichtigung von Abwicklungsverlusten im Rahmen des Anspruchs aus § 302 AktG zu begründen.42 In der Tat überzeugt es dogmatisch, ausschließlich auf die Schlussbilanz zum Ablauf des Tages vor Verfahrenseröffnung abzustellen, denn nur diese bildet zeitlich präzise den Verantwortungsbereich der Obergesellschaft bis zum entscheidenden Wendepunkt – der Verfahrenseröffnung – ab. Praktisch bedeutsam wird dies nicht, wenn man zutreffend mit dem bilanzrechtlichen Schrifttum von einer inhaltlichen Übereinstimmung von Schluss- und Eröffnungsbilanz in Bilanzierung und Bewertung ausgeht.43 Mit Blick auf die Abwicklungsverluste leuchtet dies aus zweierlei Gründen ein. Erstens sind nach allgemeinen bilanzrechtlichen Grundsätzen für die Eröffnungsbilanz die Ansätze der Schlussbilanz zu übernehmen (§ 252 Abs. 1 Nr. 1 HGB). Ausnahmen müssen besonders begründet werden (§ 252 Abs. 2 HGB). Zweitens ist die Frage, ob nach Fortführungs- oder Liquidationswerten zu bilanzieren ist, aufgrund einer Prognose zum Bilanzstichtag (§ 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB) zu beantworten, deren Ausgang sich kaum innerhalb einer (juristischen) Sekunde ändern wird. Die Einbeziehung von Abwicklungsverlusten in den Verlustausgleichsanspruch hängt damit vom Ergebnis der Fortführungsprognose i.S.v. § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB ab,44 die bei insolvenzrechtlicher Überschuldung auch im Bilanzrecht negativ ausfallen wird.45 Abwicklungsverluste sind im Falle der Insolvenz der Untergesellschaft damit in der Regel auszugleichen.46 Der (Abwicklungs-)Verlust nach HGB, der  – wie gesehen – 41 Siehe beispielsweise Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 302 AktG Rz. 39. 42 Krieger in FS Metzeler, 2003, S. 139, 151 f. 43 IDW RH HFA 1.012, Rz. 18; Förschle/Weisang in Winkeljohann/Förschle/Deubert, Sonderbilanzen, 5. Aufl. 2016, Kap. R. Rz. 75; vgl. auch Boochs/Nickel in FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 155 Rz. 59. 44 Vgl. Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rz. 33; Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 302 Rz. 23; Stephan in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 302 Rz. 39; Grüner, Die Beendigung von Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen, 2003, S. 210 f. 45 Zur Abgrenzung zwischen der „going concern“-Prämisse des Bilanzrechts und der Fortführungsprognose i.S.v. § 19 Abs. 2 InsO ausführlich: Kaiser, ZIP 2012, 2478 ff. 46 Jedenfalls für den (hier einschlägigen) Fall, dass sich der Abwicklungsverlust schon in den Wertansätzen der Schlussbilanz zum Stichtag der Vertragsbeendigung niederschlägt: Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rz. 36 f.; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 302 AktG Rz. 39; Veil in Spindler/Stilz, Aktiengesetz, 4. Aufl. 2019, § 302 Rz. 17; Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 11 Rz. 402; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht, 2004, S. 32 ff.; Deilmann in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 302 Rz. 18; Ziemons in Ziemons/Binnewies, Handbuch Aktiengesell-

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­ erechnungsgrundlage des Anspruchs aus § 302 AktG ist, kann sogar über den JahB resfehlbetrag i.S.d. Überschuldungsstatus hinausgehen, da für die HGB-Bilanz das Vorsichtsprinzip (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) auch in der Insolvenz fort gilt und deshalb stille Reserven nur bis zur Obergrenze der historischen Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten (§ 253 Abs. 1 Satz 1 HGB) aufgedeckt werden dürfen.47 Diese Deckelung existiert im Insolvenzrecht nicht, sodass die Aktiva hier ggf. höher als nach HGB zu bewerten sind und der „insolvenzrechtliche Fehlbetrag“ dementsprechend geringer ausfällt. Genau dieser Zusammenhang ist der Grund, warum etwaige Abwicklungsgewinne sich auch nicht zugunsten der Obergesellschaft unter dem Unternehmensvertrag auswirken:48 In der HGB-Schlussbilanz sind stille Reserven nicht aufzudecken, und falls sie nach Insolvenzeröffnung – etwa durch Verkauf von assets – aufgedeckt werden, unterliegen sie nicht dem Regime des Vertragskonzerns. Vorstehende Überlegungen zeigen, dass die häufig – ohne nähere Begründung – anzutreffende Aussage, bei unterstellter Solvenz der Obergesellschaft gewähre der Verlustausgleichsanspruch Überschuldungsschutz für die Dauer des Vertragskonzerns,49 sich im Ergebnis als zutreffend erweist. c) Aktivierbarkeit des Verlustausgleichsanspruchs im Überschuldungsstatus? Eine überschuldungsvermeidende Wirkung kann der Verlustausgleichsanspruch zudem nur haben, wenn der Verlustausgleichsanspruch bereits zum Prüfungszeitpunkt in den Überschuldungsstatus eingestellt werden kann. Dies könnte fraglich sein, weil der Verlustausgleichsanspruch nach h.M. regelmäßig erst mit Ablauf des Geschäftsjahrs entsteht50 und dementsprechend unterjährig gerade keinen Niederschlag in der HGB-Bilanz findet, solange es nicht zu einer unterjährigen Vertragsbeendigung bzw. Beendigung der Verlustausgleichspflicht kommt. Die „insolvenzrechtliche Bilanzierung“ geht freilich schutzzweckgeleitet andere Wege. Nach herrschender Auffassung ist der Verlustausgleichsanspruch (dessen Höhe sich nach dem prognostizierten Jahresfehlbetrag nach HGB richtet) schon vor dem schaft, 81. Lieferung, November 2018, Rz.  12.1051; Altmeppen in MünchKomm-AktG, 4.  Aufl. 2015, §  302 Rz.  41  ff.; Stephan in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, §  302 Rz. 37 ff.; Hopt/Wiedemann in AktG-Großkommentar, 4. Aufl. 2013, § 302 Rz. 23; Schubert in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2014, § 302 Rz. 14; Krieger in MünchHdb-GesR, Band IV, 4. Aufl. 2015, § 71 Rz. 67. 47 Förschle/Weisang in Winkeljohann/Förschle/Deubert, Sonderbilanzen, 5.  Aufl. 2016, Kap. R. Rz. 66; siehe auch IDW RH HFA 1.012, Rz. 34 („Die Vorschriften der §§ 238 ff. HGB und ggf. der §§ 264 ff. HGB gelten in der Insolvenz weiter und werden nicht durch spezifische Regelungen der Insolvenzordnung ersetzt“). 48 So im Ergebnis zutreffend BFH, Urteil v. 18.10.1967 – I 262/63, WM 1968, 409 ff.; Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 11 Rz. 402. 49 Veil in Spindler/Stilz, AktG, § 302 Rz. 23; Altmeppen in MünchKomm-AktG, § 302 Rz. 2; Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 11 Rz. 399; Joost in Küting/Weber, Handbuch der Konzernrechnungslegung, Band II, 2. Aufl. 1998 Rz. 282 f.; Philippi/Neveling, BB 2003, 1685 Fn. 62; Göhmann/Winnen, RNotZ 2015, 53 (62), Wellensiek, ZIP 1984, 541 (542). 50 BGH, Urteil v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, NZG 2000, 205 (206).

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HGB-Bilanzstichtag im Rahmen der Überschuldungsprüfung aktivierbar, da er der abhängigen Gesellschaft bereits unentziehbar zusteht.51 Oder anders gewendet: Die insolvenzrechtliche Aktivierung einer Forderung erfordert nicht deren Fälligkeit oder rechtliche Existenz, sondern lediglich eine gewisse Sicherheit und hinreichende Konkretisierbarkeit.52 Doch auch wenn man ausschließlich HGB-Kategorien verhaftet bleibt, ändert sich an der Antwort zur Ausgangsfrage nichts. Im Zeitpunkt einer (hypothetisch gedachten) Insolvenzeröffnung endet der Unternehmensvertrag oder zumindest die Verlustausgleichspflicht unterjährig und es entsteht – bemessen an einer auf diesen Zeitpunkt bezogenen Schlussbilanz – der Verlustausgleichsanspruch. d) Fortbestehensprognose Bedeutung kann dem Verlustausgleichsanspruch auch im Rahmen der Erstellung der Fortbestehensprognose zukommen. Maßstab für die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung ist die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens. Überwiegend wird für die Liquiditätsprognose ein mittelfristiger Zeitraum von 12 bis 24 Monaten herangezogen.53 Die Praxis rekurriert hierbei häufig auf die Erfahrungsregel, wonach die Geschäftsführung die Liquiditätsentwicklung für das laufende und das unmittelbar folgende Geschäftsjahr überschaue.54 Bei der Analyse der auf den vorgenannten Zeitraum bezogenen Liquiditätsplanung sind auch die prognostizierten Mittelzuflüsse aus einem erwarteten Verlustausgleich nach §  302 AktG einzustellen. Auf der Zeitachse ist der Mittelzufluss erst dann zu vereinnahmen, wenn der Verlustausgleichsanspruch fällig wird (d.h. nach h.M. mit Ablauf des Geschäftsjahres). Zu berücksichtigen sind ggf. abweichende vertragliche Regelungen, etwa wenn die Fälligkeit des Ausgleichsanspruchs verzinslich hinausgeschoben wird. Entscheidend ist der tatsächlich erwartete Zuflusszeitpunkt. 5. Zusammenfassung und Fazit Die im Schrifttum gelegentlich zu beobachtenden Bestrebungen, dem Vertragskonzernrecht die Funktion einer „Bestandsgarantie“ zugunsten der Tochtergesellschaft, ihrer Gläubiger und etwaiger Minderheitsgesellschafter zuzuweisen, findet im Gesetz keine Stütze und ist auch dogmatisch angesichts des ausdifferenzierten Schutzinstru51 Specovius/Kuske in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 95 Rz. 16; Wellensiek, ZIP 1984, 541 (542); Bauer in Wachter, Praxis des Handels- und Gesellschaftsrechts, 4. Aufl. 2018, § 28 Rz. 451. 52 BGH, Urteil v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, NZG 2000, 205 (206); zustimmend Wede, Die Pflicht zur Verlustübernahme im GmbH-Vertragskonzern, 2016, S. 56. 53 Mock in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 225, ähnlich: Pape in Kübler/Prütting/ Bork, InsO, 78. Lieferung, November 2018, § 19 Rz. 40; Bork, ZIP 2000, 1709 (1710). 54 OLG Hamburg, Urteil v. 8.11.2013 – 11 U 192/11, juris Rz. 37; Rüntz/Laroche in HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 19 Rz. 10; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh. § 64 Rz. 32.

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mentariums nicht überzeugend. Es besteht zudem auch keine praktische Notwen­ digkeit hierzu: Die rechtlichen Konsequenzen, die im Insolvenzfall die solvente Muttergesellschaft als Vertragspartnerin treffen (Verlustausgleichspflicht einschl. sog. Abwicklungsverluste; Zahlungsansprüche der Gläubiger nach §  303 AktG analog), halten diese – nicht zuletzt auch im Zusammenspiel mit den Risiken für die Reputation – regelmäßig ab, die Tochter in die Insolvenz fallen zu lassen. Aus der Verlustausgleichspflicht lässt sich insbesondere keine in der Krise schlagend werdende allgemeine Liquiditätsausstattungspflicht ableiten. Die Verlustausgleichspflicht orientiert sich an HGB-Bilanzwerten, nicht an einem Liquiditätsstatut und ist daher nicht per se geeignet, den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Zutreffend ist der Befund, dass bei solventer Muttergesellschaft die Verlustausgleichs­ pflicht nach § 302 AktG (analog) regelmäßig eine insolvenzrechtliche Überschuldung ausschließt. Zwar sind insolvenzrechtliche und handelsrechtliche Überschuldung strikt zu trennen, und der werthaltige Verlustausgleichsanspruch vermeidet „nur“ eine handelsrechtliche Überschuldung. Im (hypothetischen) Insolvenzszenario ist ­jedoch zur Ermittlung des (unterjährigen) Verlustausgleichsanspruchs eine HGBSchluss­bilanz zu bilden, in welcher nach zutreffender Ansicht der Fortfall eines ­„going concern“ bereits zu berücksichtigen ist und dementsprechend die Aktiva handelsrechtlich zu Liquidationswerten anzusetzen sind. Abwicklungsverluste werden folglich insoweit bereits einberechnet. Hinzu kommt, dass – anders als im insolvenzrechtlichen Überschuldungsstatus  – in der HGB-Schlussbilanz keine Aufdeckung stiller Reserven erfolgen kann, etwaige erwartete Abwicklungsgewinne aus der späteren Verwertung also nicht anspruchsmindernd wirken können.

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Vereinfachter Bezugsrechtsausschluss und Gleichbehandlung der Aktionäre – Eine Nachlese zu BGH AG 2018, 706 („Hyrican Informationssysteme AG“) Inhaltsübersicht I. Zur Einstimmung II. Gesetzliche Ausgangslage bei der Kapital­erhöhung unter Bezugs­ rechtsausschluss 1. Regelfall 2. Vereinfachter Bezugsrechtsausschluss III. Zum Prüfungsmaßstab bei der Inhaltskontrolle des Bezugsrechtsausschlusses – Grundzüge 1. Entwicklung der Rechtsprechung 2. Ungeschriebene materielle Vorausset­ zungen des vereinfachten Bezugs­ rechtsausschlusses

IV. Sachverhalt und Rechtsfrage im Fall ­„Hyrican Informationssysteme AG“ V. Anwendbarkeit und inhaltliche Konkretisierung des Gleichbehandlungsgebots beim vereinfachten Bezugsrechts­ ausschluss 1. Die Argumentation des BGH 2. Kritik VI. Zusammenfassung

I. Zur Einstimmung Seit dem Urteil des II. ZS in der Sache „Mangusta/Commerzbank II“ vom 10.10.20051 ist anerkannt, dass Aktionäre die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat über die Ausnutzung einer Ermächtigung zum Bezugsrechtsausschluss (§ 204 AktG) mit der allgemeinen Feststellungsklage geltend machen können.2 Im hier näher zu beleuchtenden Urteil „Hyrican Informationssysteme AG“ vom 10.7.20183 entschied der II. ZS, dass eine solche Feststellungsklage „ohne unangemessene Verzögerung“ zu erheben ist und nach welchen inhaltlichen Maßstäben sich die Beschlusskontrolle zu richten hat. Dem inhaltlichen Prüfungsmaßstab gelten die nachfolgenden, Eberhard Vetter in fachlicher und persönlicher Hochschätzung zugeeigneten Überlegungen. 1 BGH v. 10.10.2005 – II ZR 90/03, BGHZ 164, 249 = AG 2006, 38 – Mangusta/Commerzbank II. 2 Zum verbandsrechtlichen Anspruch auf Achtung der Mitgliedschaftsrechte in derartigen Konstellationen Kindler, ZGR 1998, 35, 66 f. 3 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 = NJW 2018, 2796 m. Anm. Oppenhoff – Hyrican Informationssysteme AG; dazu Seibt, EWiR 2018, 549; Rahlmeyer/Klose, GWR 2018, 394; Kocher/von Falkenhausen, ZIP 2018, 1949; Schilha/Guntermann, AG 2018, 883; Scholz, DB 2018, 2352.

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Zur materiellen Beschlusskontrolle findet sich im Urteil „Hyrican Informationssysteme AG“ die Aussage, unabhängig von einer weitergehenden sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses sei in jedem Fall das grundlegende Gebot der Gleich­ behandlung der Aktionäre (§ 53a AktG) zu beachten.4 Weithin anerkannt war dies­ bezüglich bislang, dass insbesondere die Zielrichtung der Beteiligung eine sachliche Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung darstellen kann, so dass der Verwaltung bei der Zuteilung von Aktien im Rahmen eines vereinfachten Bezugsrechtsausschluss ein hinreichender Ermessensspielraum verbleibt.5 Im vorliegenden Fall hatte die Verwaltung nach Auffassung des BGH diesen Ermessensspielraum allerdings überschritten, weil sie durch die einseitige Zuteilung der neuen Aktien einen zu starken Einfluss auf einen offenbar innerhalb des Aktionariats bestehenden Machtkampf zweier vergleichbarer Großaktionäre genommen und damit ohne sachlichen Grund einen Aktionär bevorzugt hat.6

II. Gesetzliche Ausgangslage bei der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss 1. Regelfall Nach § 186 Abs. 1 AktG hat jeder Aktionär das Recht, bei einer Kapitalerhöhung junge Aktien in einem Umfang zu erhalten, der seiner bisherigen Beteiligung am Grundkapital entspricht.7 Das Bezugsrecht stellt sicher, dass Aktionäre ihre mitgliedschaftliche Stellung einschließlich ihrer vermögensmäßigen Bezüge pro rata halten können. Ohne das gesetzliche Bezugsrecht würde der Anteil des einzelnen Aktionärs am Grundkapital prozentual sinken und damit auch seine Stimmkraft entsprechend reduziert werden (§ 134 Abs. 1 Satz 1 AktG). Ferner ergeben sich bei einer Absenkung der Beteiligungsquote Verschlechterungen bei der Gewinn- und Liquidationsverteilung (§ 60 Abs. 1, § 271 Abs. 2 AktG); auch kann der Verlust von Minderheitenrechten (vgl. z.B. § 93 Abs. 4 Satz 4; § 122 Abs. 1 Satz 1; § 142 Abs. 2, § 147 Abs. 1, § 309 Abs. 3 AktG) oder des steuerlichen Schachtelprivilegs (§ 9 Nr. 2a GewStG) die Folge sein.8 Für einen Ausschluss des Bezugsrechts im Rahmen der Kapitalerhöhung normiert § 186 Abs. 3 und 4 AktG lediglich eine Reihe von formellen Voraussetzungen (Ausschluss als Bestandteil des Erhöhungsbeschlusses; Mehrheitsanforderungen; Bekanntmachung; Bericht des Vorstands), äußert sich aber nicht zur materiellen Beschlusskontrolle.9 4 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 42 und Leitsatz 2. 5 Rahlmeyer/Klose, GWR 2018, 394; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 127 ff. 6 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 56 f. 7 Die EU-rechtliche Grundlage findet sich in Art. 72 GesR-RL, Richtlinie (EU) 2017/1132 v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts. 8 Zusammenfassend zu den Nachteilen, die der vom Bezugsrecht ausgeschlossene Aktionär erleidet: BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 43. 9 Kindler, ZGR 1998, 35, 38.

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Als technische Variante der Durchführung der Kapitalerhöhung10 dient das Institut des genehmigten Kapitals – mit der Ermächtigung des Vorstands zur Kapitalerhöhung (§§  202-206 AktG)  – in erster Linie der Erleichterung der Kapitalbeschaffung.11 Der Vorstand wird dabei in die Lage versetzt, im bestmöglichen Zeitpunkt schnell und flexibel neues Eigenkapital zu beschaffen, und zwar ohne die zeitraubende und umständliche Mitwirkung der Hauptversammlung.12 Materiell ändert sich bei diesem Vorgehen für den Aktionärsschutz nichts. Auch Verwaltungsbeschlüsse über eine Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss, die die Zuteilung neu geschaffener Aktien an einen Altaktionär vorgeben oder in die Wege leiten, müssen sich an der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht und dem Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53 a AktG) messen lassen.13 2. Vereinfachter Bezugsrechtsausschluss Besonderheiten ergeben sich beim sog. Vereinfachten Bezugsrechtsausschluss. Nach dem 1994 eingeführten § 186 Abs. 3 S. 4 AktG14 ist ein Ausschluss des Bezugsrechts insbesondere dann zulässig, wenn die Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen zehn vom Hundert des Grundkapitals nicht übersteigt und der Ausgabebetrag den Börsenpreis nicht wesentlich unterschreitet.15 Der vereinfachte Bezugsrechtsausschluss knüpft an die in der Rechtsprechung anerkannte Lehre vom sachlichen Grund an,16 macht jedoch unter den genannten formalen Voraussetzungen die auf den Einzelfall bezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen von Gesellschaft und betroffenen Aktionären nach Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entbehrlich. Rechtspolitisches Ziel ist dabei die Erleichterung der Eigenkapitalfinanzierung dadurch, dass die kostspielige und zeitraubende Abwicklung des Bezugsrechts entfällt.17 Der Verzicht auf die Inhaltskontrolle dieser Kapitalmaßnahme sollte es den Aktiengesellschaften ermöglichen, administrative Kosten zu vermeiden und durch eine kurzfristige Umsetzung der Kapitalerhöhung den ansonsten erforderlichen Abschlag auf den Börsenkurs zu reduzieren. Zugleich sorgt die Anknüpfung an formale Kriterien aus Sicht der Gesellschaft für Rechtssicherheit und entzieht Anfechtungsklagen gegen den Bezugsrechtsausschluss den Boden.

10 Zum technischen Charakter der §§ 202 ff. AktG Kindler, ZGR 1998, 35, 49, 51. 11 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 202 AktG Rz. 1. 12 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 202 AktG Rz. 2; grds. auch BGH v. 19.4.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319, 322 – Holzmann. 13 BGH v. 10.7.2018  – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz.  43; dazu auch Kindler in FS Hoffmann-Becking, 2013, S.  669 (zum Bezugsrechtsausschluss in der GmbH); Kindler, ZGR 1998, 35, 38 f. 14 Neugefasst durch das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts v. 2.8.1994, BGBl. I, 1961; hierzu statt aller Kindler, NJW 1994, 3041, 3047 f. 15 Zum Folgenden Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 127; Kindler, ZGR 1998, 35, 52 f. 16 Kindler, ZGR 1998, 35, 40. 17 Fraktionsbegründung BT-Drs. 12/6721, 10; Kocher/von Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1950.

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Im Anwendungsbereich des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses ist das Finanzierungsinteresse der Gesellschaft höher zu bewerten als die Aktionärsinteressen.18 Durch die Kapitalgrenze und die Orientierung am Börsenkurs soll einerseits eine mögliche Wertverwässerung zu Lasten der Altaktionäre minimiert werden. Andererseits können diese die drohende Einbuße an Stimmkraft durch Zukauf an der Börse kompensieren, sofern es ihnen darauf ankommt.

III. Zum Prüfungsmaßstab bei der Inhaltskontrolle des Bezugsrechtsausschlusses – Grundzüge 1. Entwicklung der Rechtsprechung Das Gesetz äußert sich – wie erwähnt (oben II. 1.) – zum Prüfungsmaßstab bei der Inhaltskontrolle des Bezugsrechtsausschlusses nicht. Maßgeblich sind die richterrechtlich entwickelten Grundsätze. In der Rechtsprechung des BGH markierten schon früh zwei Grundsatzurteile den Weg der richterlichen Rechtsfortbildung beim Bezugsrechtsausschluss,19 auf die der BGH auch im hier behandelten Judikat Bezug nimmt:20 „Minimax II“ aus dem Jahre 1960, mit dem erstmals die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (heute § 53 a AktG) anerkannt wurde,21 und „Kali & Salz“ aus dem Jahre 1978, mit dem der BGH die Formel vom Gesellschaftsinteresse zum Maßstab für die Inhaltskontrolle des Bezugsrechtsausschlusses erhob.22 Seit „Kali & Salz“ war ein Bezugsrechtsausschluss nur dann zulässig, wenn er –– einem Zweck dient, der im Interesse der Gesellschaft liegt, und –– zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich oder verhältnismäßig ist. Damit hatte der BGH die materiellen Anforderungen an den Bezugsrechtsausschluss im Vergleich zur bisher geltenden Rechtslage beträchtlich verschärft.23 Der „Kali & Salz“-Linie ist der BGH bis zum Siemens ./. Nold-Urteil24 treu geblieben. Seither lässt es das Gericht genügen, dass der beabsichtigte Bezugsrechtsausschluss im wohlverstandenen Interesse der Gesellschaft liegt.25

18 Zum Folgenden Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 128. 19 Dazu Kindler, ZGR 1998, 35, 38 f. 20 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 44, 47. 21 BGH v. 6.10.1960 – II ZR 150/58, BGHZ 33, 175, 186 – Minimax II. 22 BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 46 = AG 1978, 196 – Kali & Salz; dazu namentlich Lutter, ZGR 1979, 401 ff. sowie Martens in FS Rob. Fischer, 1979, S. 437, 442 ff. 23 Vgl. Hirte, ZHR 154 (1990), 374 („Umschwung“). 24 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 – Siemens./.Nold; zur Relativierung der Kali & Salz“-Grundsätze durch diese Entscheidung Kindler, ZGR 1998, 35, 65. 25 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133, 139 – Siemens./.Nold; dazu Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 92.

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2. Ungeschriebene materielle Voraussetzungen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses Trotz des insoweit nicht aufschlussreichen Wortlauts des §  186 Abs.  3 Satz 4 AktG stand dem Gesetzgeber 1994 doch ein bestimmtes Leitbild von den tatsächlichen Verhältnissen vor Augen, vor deren Hintergrund ein vereinfachter Bezugsrechtsausschluss zulässig sein sollte.26 Ausweislich der Begründung zum Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts vom 2.8.199427 war der Ausschluss des Bezugsrechts den Aktionären deswegen zumutbar, weil (und wenn!) sie ihre Beteiligungsquote durch Zukauf an der Börse aufrechterhalten können. Soweit dies nicht oder nur zu unzumutbaren Konditionen möglich ist, bleibt § 186 Abs. 3 S. 4 AktG daher – im Wege einer teleologischen Reduktion – nach h.M. außer Anwendung.28 Der Bezugsrechtsausschluss ist in diesen Fällen nach allgemeinen Grundsätzen29 zu rechtfertigen. Daneben ist fraglich, ob in den Fällen des § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG stets auch der Gleichbehandlungsgrundsatz des § 53a AktG zu wahren ist. Dazu findet sich die Auffassung, eine Beschlussanfechtung wegen der Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz könne schon mit Blick auf die europarechtliche Vorgabe des Art. 85 GesR-RL30 nicht per se ausgeschlossen sein.31 Dafür spricht auch Erwägungsgrund 46 der Richtlinie,32 doch ist zu beachten, dass eine Ungleichbehandlung von vorneherein nur beim ungleichmäßigen Bezugsrechtsausschluss in Betracht kommt.33 Dabei ist 26 Zum Folgenden Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 136. 27 Fraktionsbegründung BT-Drs. 12/6721, 10; hierzu statt aller Kindler, NJW 1994, 3041, 3047 f. 28 Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 136 mit weiteren Nachweisen zur h.M.; a.A. Goette, ZGR 2012, 505, 513; Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109, 116; Hoffmann-Becking, ZIP 1995, 1, 9 f.; Hoffmann-Becking in FS Lieberknecht, 1997, S. 25, 26 f.; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 101 ff.; Stelmaszczyk, Barkapitalemission mit erleichtertem Bezugsrechtsausschluss bei feindlichen Übernahmen, 2013, S. 305 ff.; offengelassen in BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 40. 29 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 – Siemens./.Nold; zur Relativierung der Kali & Salz“-Grundsätze durch diese Entscheidung Kindler, ZGR 1998, 35, 65; für Fortgeltung des Erfordernisses des sachlichen Grundes trotz BGHZ 136, 133 aber Schürnbrand in  MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, §  186 AktG Rz.  92 mit Verweis u.a. auf BGH v. 21.11.2005 – II ZR 79/04, AG 2006, 246 Rz. 5. 30 Richtlinie (EU) 2017/1132 v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts; zuvor Art. 46 Kapital-RL (EU) 30/2012. 31 So Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 139. 32 Egr. 46 RL (EU) 2017/1132: „Im Hinblick auf die in Artikel 50 Absatz 2 Buchstabe g des Vertrags verfolgten Ziele ist es erforderlich, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bei Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen die Beachtung der Grundsätze über die Gleichbehandlung der Aktionäre, die sich in denselben Verhältnissen befinden […] sicherstellen und für die harmonisierte Durchführung dieser Grundsätze Sorge tragen.“; zur Vorgängerregelung schon Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 357. 33 Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 359 mit Verweis auf BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 46 = AG 1978, 196 – Kali & Salz; Kocher/von Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1951.

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einer derartigen formalen Ungleichbehandlung – bei der ein auf einen Teil der Aktio­ näre begrenzter Ausschluss des Bezugsrechts vorliegt – der Fall gleichzustellen, dass durch ein Handeln der Verwaltung ungeachtet eines umfassenden Bezugsrechtsausschlusses die neuen Aktien an einen der Hauptaktionäre ausgegeben werden.34 Die Wahrung der Vorgaben des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG rechtfertigt denn auch keine formellen Ungleichbehandlungen der Aktionäre, namentlich die Zulassung allein des Großaktionärs zur Zeichnung.35 Der Bezugsrechtsausschluss führt hier zu einer besonderen Belastung der übergangenen Minderheit, die einer materiellen Rechtfertigung bedarf. So mag etwa die teilweise Vorabzuteilung von Aktien an Altaktionäre die Umsetzbarkeit einer schwierigen Kapitalerhöhung gewährleisten. Lediglich materielle Ungleichbehandlungen, die sich daraus ergeben, dass infolge der Zulassung außenstehender Dritter bei manchen Aktionären relevante Beteiligungsschwellen (vgl. nochmals § 93 Abs. 4 Satz 4; § 122 Abs. 1 Satz 1; § 142 Abs. 2, § 147 Abs. 1, § 309 Abs. 3 AktG) unterschritten werden, hat der Gesetzgeber dagegen bewusst in Kauf genommen. Insoweit sind die Betroffenen auf den Zukauf an der Börse verwiesen.36 Solche Ungleichbehandlungen bedürfen keiner gesonderten sachlichen Rechtfertigung, wenn die Voraussetzungen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses vorliegen.

IV. Sachverhalt und Rechtsfrage im Fall „Hyrican Informations­ systeme AG“ Das hier näher zu betrachtende Urteil „Hyrican“ betrifft einen auch über viele Rechtsstreitigkeiten geführten „Machtkampf “ bei der beklagten Hyrican Informationssysteme AG, deren Aktien im Freiverkehr gehandelt werden.37 Die Großaktionäre W. und Vorstand L. hielten jeweils 32,5 % am Grundkapital. 2011 verkaufte W. sein Aktienpaket an die Klägerin (die Deutsche Balaton), die damit am 8.12.2011 einen Stimmrechtsanteil von 42,5 % am Grundkapital hielt. Ende 2011 beschlossen die Organe der Beklagten zwei Kapitalerhöhungen: (1) Der Vorstand beschloss am 8. 12. eine Barkapitalerhöhung unter Nutzung des genehmigten Kapitals von 4 Mio. Euro um 400.000 Euro mit Bezugsrechtsausschluss der Altaktionäre; zur Zeichnung und Übernahme der Aktien wurde eine Bank bestimmt, die „in Abstimmung mit der Gesellschaft“ die Aktien platzieren sollte. Nach Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats (12.12.) wurde die Durchführung der Kapitalerhöhung im Handelsregister eingetragen (19.12.), was die Klägerin taggleich gegenüber dem Handelsregister und der Beklagten als „rechtswidrig“ rügte. Die neuen Aktien erwarb L. am 22.12. 34 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 48, 49; Scholz, DB 2018, 2352, 2357 m.w.N. 35 Näher Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 139. 36 So die Fraktionsbegr. BT-Drs. 12/6721, 10; gleichsinnig Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 462 ff. 37 Vgl. die Zusammenfassung des Sachverhalts bei Seibt, EWiR 2018, 549.

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(2) Am 28.12. beschloss der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrates eine Sachkapitalerhöhung um 450.000 Euro auf 4,85 Mio. Euro unter alleiniger Zulassung von L. unter Bezugsrechtsausschluss der Altaktionäre. Die Durchführung dieser Kapital­ erhöhung wurde am 23.1.2012 ins Handelsregister eingetragen. Damit hielt L. ca. 44 % der Stimmrechte, die Klägerin nach Verwässerung ca. 35 %. Am 17.2.2012 erhob die Klägerin Feststellungsklage gegen die Organbeschlüsse zu beiden Kapitalerhöhungen. Zu entscheiden hatte der BGH allein, ob die hier vorliegende Einhaltung der satzungsmäßigen Voraussetzungen des genehmigten Kapitals bei der Barkapitalerhöhung zu (1) von vorneherein eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (§ 53a AktG) ausschließt.

V. Anwendbarkeit und inhaltliche Konkretisierung des Gleichbehandlungsgebots beim vereinfachten Bezugsrechtsausschluss 1. Die Argumentation des BGH Der BGH ließ zunächst offen, ob es beim vereinfachten Bezugsrechtsausschluss einer sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses nicht mehr bedürfe oder eine sachliche Rechtfertigung – widerleglich oder unwiderleglich – jedenfalls vermutet werde.38 Denn der Bezugsrechtsausschluss genüge jedenfalls nicht den inhaltlichen Anforderungen des – auch im Falle des § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG anwendbaren – Gleichbehandlungsgebots (oben III. 2.).39 Danach dürfe der Vorstand weder bei der Zuteilung einzelne Aktionäre vor anderen bevorzugen, noch, wenn er von vornherein einzelne Aktionäre berücksichtigen will, das Bezugsrecht ausschließen, noch den ohne solche Absicht vorgenommenen Bezugsrechtsausschluss dazu benutzen, um die neuen Aktien einzelnen Aktionären zuzuteilen; das gelte insbesondere dann, wenn ein solches Verhalten geeignet erscheint, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft oder den Bestand von Minderheitsrechten zu beeinflussen.40 Dabei habe die Gesellschaft die sachliche Rechtfertigung einer ungleichen Behandlung darzulegen und zu beweisen.41 Im vorliegenden Fall habe weder die Notwendigkeit bestanden, einen Großaktionär als Investor zu gewinnen noch habe es dringenden Liquiditätsbedarf oder Zeitdruck gegeben.42 Daher sei der von der Vorinstanz angenommene Verstoß gegen das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot nicht zu beanstanden.

38 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 38 ff., 41. 39 Zur Anwendbarkeit des § 53a AktG verweist das Urteil (BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 42) auf Veil in Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 186 AktG Rz. 44; Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 186 AktG Rz. 61; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 88; Goette, ZGR 2012, 505, 515. 40 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 44. 41 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 52 f. 42 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 Rz. 55 ff.

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2. Kritik a) Nach zutreffender Auffassung bedarf es beim vereinfachten Bezugsrechtsausschluss keiner sachlichen Rechtfertigung – eine derartige Maßnahme trägt ihre Rechtfertigung vielmehr in sich.43 Nach § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG ist der Bezugsrechtsausschluss im Rahmen der 10%igen Kapitalgrenze und unter den sonstigen dort genannten formalen Voraussetzungen „zulässig“, demnach sachlich gerechtfertigt.44 Weder das ­aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot (§ 53a AktG) noch ein allgemeines kapitalmarktrechtliches Gleichbehandlungsgebot der Anleger schränken die Investorenauswahl über eine Rechtsmissbrauchskontrolle hinaus ein.45 b) Das Gleichbehandlungsgebot findet in dieser Konstellation schon deshalb grundsätzlich keine Anwendung, weil das Bezugsrecht sämtlicher Altaktionäre ausge­ schlossen wurde (oben III. 2.). Bei formaler Betrachtung lag im Fall Hyrican ein gleichmäßiger Bezugsrechtsausschluss vor.46 Allerdings hatte die von der Verwaltung vorgenommene Zuteilung der Aktien an einen der beiden Großaktionäre im Ergebnis zu einem ungleichmäßigen Bezugsrechtsrechtsausschluss – auf Seiten der Klägerin – geführt. Daher ist dem BGH darin zu folgen, dass insoweit das Gleichbehandlungsgebot hier als Prüfungsmaßstab in Betracht kommt, freilich nur in Gestalt einer Missbrauchskontrolle. c) Freilich bleibt zu bedenken, dass die Ausübung des genehmigten Kapitals eine unternehmerische Entscheidung der Gesellschaftsorgane ist, die diese allein am Unternehmensinteresse auszurichten haben.47 Hierbei besteht ein breiter Ermessensspielraum, der es zulässt, bei Fehlen entsprechender Vorgaben im HV-Beschluss (so im Fall Hyrican) die neuen Aktien einem der Altaktionäre zuzuteilen. Dies gilt bei Wahrung der Formalia des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses auch dann, wenn sich dadurch die Mehrheitsverhältnisse im Aktionärskreis wesentlich verändern oder einzelne Aktionäre durch die Quotenverwässerung keine Minderheitenrechte mehr wahrnehmen können, sofern dies nicht der Hauptzweck der Kapitalerhöhung ist, sondern die Verfolgung angemessener Finanzierungszwecke oder sonstige vernünftige sachliche Gründe (z.B. beste Preiserzielung, Transaktionssicherheit, Stärkung der 43 Kindler, ZGR 1998, 35, 53; Kocher/von Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1951 unter 3.; Schilha/ Guntermann, AG 2018, 883, 886. 44 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 AktG Rz. 39e. 45 Seibt, EWiR 2018, 549, 550; anders allerdings hier der BGH und z.B. Veil in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 186 Rz. 44. 46 Zur Kontrollfreiheit des gleichmäßigen Bezugsrechtsausschlusses BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40, 46 = AG 1978, 196 – Kali & Salz: „Hier geht es um eine Kapitalerhöhung durch Sacheinlage, die nach den zutreffenden Ausführungen des BerGer. zwangsläufig nur unter Beschränkung auf denjenigen möglich ist, der die Sacheinlage erbringen kann, und bei der infolgedessen ein Verstoß gegen den Grundsatz gleichmäßiger Behandlung aller Gesellschafter insoweit von vornherein ausscheidet.“; dazu Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 359 m.w.N.; zum gleichmäßigen Bezugsrechtsausschluss auch Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 53a AktG Rz. 9. 47 Zum Folgenden Seibt, EWiR 2018, 549, 550; Bayer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 204 AktG Rz. 7.

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Vereinfachter Bezugsrechtsausschluss und Gleichbehandlung der Aktionäre

Aktionärsbasis in einer bestimmten Region, strategische Nebenzwecke) im Vordergrund stehen (oben II. 2., III. 2.).48 Hier besteht nämlich – was der BGH leider offenlässt – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine unwiderlegliche Vermutung für das Vorliegen einer sachlichen Rechtfertigung.49

VI. Zusammenfassung 1. Nur beim ungleichmäßigen Bezugsrechtsausschluss stellen sich Fragen der Gleichbehandlung der Aktionäre. Dies hat der BGH im Fall „Hyrican Informationssysteme AG“ verkannt. Das Urteil ist auch nicht deshalb im Ergebnis richtig, weil es an einer sachlichen Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses fehlte: Der vereinfachte Bezugsrechtsausschluss trägt seine Rechtfertigung in sich. Weder das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot (§ 53a AktG) noch ein allgemeines kapitalmarktrechtliches Gleichbehandlungsgebot der Anleger schränken die Investorenauswahl über eine Rechtsmissbrauchskontrolle hinaus ein. Dazu oben V. 2. a). 2. Das Gleichbehandlungsgebot findet keine Anwendung, wenn das Bezugsrecht sämtlicher Altaktionäre ausgeschlossen wurde. Bei formaler Betrachtung lag im Fall „Hyrican Informationssysteme AG“ ein gleichmäßiger Bezugsrechtsausschluss vor. Dazu oben V. 2. b). 3. Wenn man dem BGH darin folgt, dass das Gleichbehandlungsgebot hier als Prüfungsmaßstab der Aktienzuteilung in Betracht kommt, so bleibt zu bedenken, dass die Ausübung des genehmigten Kapitals eine unternehmerische Entscheidung der Gesellschaftsorgane ist, die diese allein am Unternehmensinteresse auszurichten haben. Hierbei besteht ein breiter Ermessensspielraum, der es zulässt, die neuen Aktien einem der Altaktionäre zuzuteilen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der HV-Beschluss – wie im Fall Hyrican – keine Vorgaben zur Berücksichtigung einzelner Aktionäre bei der Zuteilung enthält.50 Dazu oben V. 2. c).

48 Treffend Scholz, DB 2018, 2352, 2357 („Haben Vorstand und Aufsichtsrat als Organe nur „neutrale“ Beschlüsse gefasst und hat sodann ein Vorstandsmitglied die dadurch eröffnete Möglichkeit in rechtsmissbräuchlicher Weise genutzt, so kann das Verhalten des betreffenden Vorstandsmitglieds pflichtwidrig sein. Die Beschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat macht es nicht rechtswidrig. “); wie hier auch Seibt, CFL 2011, 74, 82; ähnlich Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109, 126. 49 So tendenziell schon Kindler, ZGR 1998, 35, 53; nachfolgend Seibt, CFL 2011, 74, 82; Ihrig in FS Happ, 2006, S.  109, 119  f.; Schlitt/Schäfer, AG 2005, 67; deutlicher noch BGH v. 11.6.2007 – II ZR 152/06, AG 2007, 863 Rz. 4, wonach der vereinfachte Bezugsrechtsausschluss einen „Spezialfall sachlicher Rechtfertigung eines Bezugsrechtsausschlusses normiert“. 50 Vgl. nochmals Scholz, DB 2018, 2352, 2357 unter VI. 3 b.

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Die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts – eine Nachlese zum 72. Deutschen Juristentag – Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Diskussion in der Wirtschaftsrecht­ lichen Abteilung des 72. Deutschen ­Juristentags 1. Grundlinien des Gutachtens zum ­Deutschen Juristentag 2. Kritische Stimmen im Vorfeld des ­Juristentags I II. Kritikpunkte im Einzelnen 1. Die drei Grundpfeiler eines modernisierten Beschlussmängelrechts a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz b) Kritik an der Aufgabe der Einheits­ folge Beschlusskassation 2. Beschluss- und klägerbezogener Filter a) Ausgestaltung im DJT-Gutachten b) Der Vorschlag des Arbeitskreises ­Beschlussmängelrecht

c) Der alternative Gestaltungsvorschlag Grigoleits d) Der Vorwurf mangelnder Rechts­ sicherheit e) Vergleich inkomparabler Größen f) Berücksichtigung der Erfolgsaus­ sichten der Klage g) Weiterer Fortgang der rechtspoli­ tischen Diskussion 3. Die Ausgestaltung der alternativen Rechtsfolgen a) Einheitlicher Maßstab b) Verbleibende Präventionslücken und Rügegeld 4. Ausgestaltung des Zwischenverfahrens 5. Neufassung der Nichtigkeitsgründe 6. Erstinstanzliche Zuständigkeit der ­Oberlandesgerichte IV. Abschließende Würdigung

I. Einführung In seiner langen Berufslaufbahn hat Eberhard Vetter viele verschiedene Stationen durchlaufen. Der Wechsel zwischen diesen Stationen war zumeist mit einer beruflichen Neuorientierung verbunden. Daneben findet sich in seinem Lebenslauf aber auch eine ehrenamtliche Position, die er über viele Jahre neben seiner beruflichen Tätigkeit ausgeübt hat. Es handelt sich dabei um die Mitgliedschaft in der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags, die er von 1996 bis 2008 ausfüllte, wobei er zugleich auch Schatzmeister des Juristentags und in dieser Funktion Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses war. In seiner Wahl in dieses Amt manifestiert sich zum einen die außerordentlich hohe Wertschätzung, die Eberhard Vetter  – damals noch in seiner Eigenschaft als Unternehmensjurist – in der gesellschaftsrechtlichen Community schon vor mehr als 20 Jahren genossen hat, zum anderen aber auch das Interesse des Jubilars an rechtspolitischen Fragestellungen. Auch nach seinem Ausscheiden aus der Ständigen Deputation hat Eberhard Vetter immer wieder seine besondere Verbundenheit zum Juristentag zum Ausdruck gebracht und dessen Bedeutung als erster Ratgeber der Bundesregierung in Fragen der Gesetzgebung betont. Mit 317

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großer Selbstverständlichkeit hat er deshalb auch am 72. Deutschen Juristentag mitgewirkt und die Diskussion durch kenntnisreiche Redebeiträge vorangebracht. Im folgenden Beitrag soll diese Diskussion nochmals aufgegriffen und zu einigen kritischen Stimmen Stellung bezogen werden, die im Vorfeld oder im Nachgang des Juristentags erhoben wurden, in den Verhandlungen dann aber keine weitere Berücksichtigung mehr gefunden haben.

II. Die Diskussion in der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 72. Deutschen Juristentags 1. Grundlinien des Gutachtens zum Deutschen Juristentag Der Inhalt des Gutachtens zum 72. Deutschen Juristentag kann hier selbstverständlich nicht ausführlich dargestellt, sondern lediglich in einigen groben Zügen skizziert werden. Der gedankliche Ausgangspunkt des Gutachtens lag darin, zunächst drei Grundpfeiler zu identifizieren, die schon heute Eingang in das geltende Recht gefunden haben und als Ergebnisse der bisherigen Reformdiskussion weitgehend konsentiert sind. Es waren dies (1) die Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation, (2) die Auffächerung des Rechtsfolgenkatalogs nach einem Verhältnismäßigkeitsmaßstab und (3) die Notwendigkeit eines Eilverfahrens.1 Als grundlegende Weichenstellung des Gutachtens wurden diese drei Grundpfeiler nicht mehr in Frage gestellt, sondern als Besonderheiten des gesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelrechts der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt.2 Als noch offener Streitpunkt wurde stattdessen insbesondere die inhaltliche Ausfüllung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes identifiziert – ein Befund, der auch auf dem Juristentag noch einmal eine deutliche Bestätigung gefunden hat. Um die Diskussion zu ordnen, wurden die verschiedenen Konzepte zur Ausgestaltung dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst in die beiden Sortierkategorien eines beschluss- und klägerbezogenen Filters aufgeteilt und dafür plädiert, diese beiden Filter miteinander zu kombinieren (vgl. dazu noch die näheren Erläuterungen unter III. 2. a)).3 Angesiedelt werden soll diese Verhältnismäßigkeitsprüfung im Hauptsacheverfahren,4 das aber durch eine beschleunigte Freigabemöglichkeit zu flankieren ist, die als Zwischenentscheidung eines einheitlichen Verfahrens ausgestaltet sein soll.5 Die Eingangszuständigkeit für dieses Verfahren soll beim OLG liegen,6 wobei – jedenfalls für nicht strukturändernde Beschlüsse  – ein Rechtsmittel gegen den Ausschluss der Kassation ausgeschlossen sein soll.7 Weiterhin wurde angeregt, es dem Gericht auch bei nicht strukturändernden Beschlüssen zu ermöglichen, andere Rechtsfolgen als eine Kassation 1 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 12 ff. 2 Vgl. zu diesen Besonderheiten J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 14 ff. 3 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 20 ff. 4 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 36 f. 5 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 39 ff. 6 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 39 ff. 7 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 47 f.

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auszusprechen, wobei in diesem Fall kein Eilverfahren und auch kein Rechtsmittel­ ausschluss vorgesehen wurde.8 Schließlich wurde noch dafür plädiert, die Nichtigkeitsgründe weitgehend zu reduzieren und im Wesentlichen nur die in § 241 Nr. 3 AktG erfassten Tatbestände mit inhaltlichen Klarstellungen beizubehalten.9 2. Kritische Stimmen im Vorfeld des Juristentags Die Wirtschaftsrechtliche Abteilung des Juristentags ist diesen Vorschlägen, die auch den Zuspruch der beiden Referenten Jessica Schmidt und Marc Löbbe gefunden hatten, weitestgehend mit recht klaren Mehrheiten gefolgt.10 Der dritte Referent, Thomas Heidel, hat mit vielen scharfsinnigen Einwänden einen deutlich klägerfreundlicheren Systemwechsel angemahnt, dafür aber keine mehrheitliche Gefolgschaft gefunden. Dieser weitgehende Konsens auf dem Juristentag war allerdings keinesfalls selbstverständlich, hatten sich im Vorfeld doch einige prominente Wissenschaftler auch kritisch gegenüber den im vorbereitenden Gutachten dargelegten Reformüberlegungen geäußert.11 Auf dem Juristentag selbst sind viele dieser Kritikpunkte nicht nochmals vorgetragen worden und haben deshalb auch die Abstimmung nicht erkennbar beeinflusst. Da aber auch der Juristentag selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt des rechtspolitischen Diskurses abbilden kann, darf sich die Diskussion mit einem solchen Abstimmungsergebnis nicht zufrieden geben, sondern muss auch die dissentierenden literarischen Stimmen angemessen würdigen. Das soll im folgenden Beitrag geschehen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, sollen die Ausführungen dabei insbesondere auf den aktienrechtlichen Diskussionsabschnitt beschränkt werden. Auch auf die Gesichtspunkte, die auf dem Juristentag selbst schon umfassend dis­ kutiert worden sind, soll nicht nochmals näher eingegangen werden. Das gilt insbesondere auch für die Fundamentalkritik Thomas Heidels, die zu breitflächig und zu ­detailreich formuliert wurde, als dass sie im Rahmen eines Festschriftenbeitrags hinreichend gewürdigt werden könnte.

8 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 44 ff. 9 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 48 ff. 10 Die einzige Ausnahme bildet die im Gutachten geforderte Eingangszuständigkeit der Oberlandesgerichte, die im Beschluss I.7 der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung mit einem Abstimmungsergebnis von 21:28:7 abgelehnt wurde (vgl. dazu noch die Ausführungen unter III 6). 11 Tendenziell eher kritisch Grigoleit, AG 2018, 645 ff.; Mülbert, NJW 2018, 2771 ff.; tendenziell eher zustimmend Bayer/Möller, NZG 2018, 801 ff.; Harbarth, AG 2018, 637 ff.; Noack, JZ 2018, 824 ff.; bei Pentz, AnwBl. 2018, 1 ff. halten sich Kritik und Zuspruch die Waage. Im Nachgang des Juristentags sind erste Stellungnahmen erschienen von Lieder, NZG 2018, 1321 ff., Nietsch, NZG 2018, 1334 und C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413 ff. Parallel zum Juristentag haben auch Seibert/Bulgrin in der Festschrift für Marsch-Barner, 2018, S. 525 ff. weitere rechtspolitische Überlegungen geäußert, die in einem demnächst erscheinenden Festschriftenbeitrag gesondert gewürdigt werden.

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III. Kritikpunkte im Einzelnen 1. Die drei Grundpfeiler eines modernisierten Beschlussmängelrechts a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Wie oben nochmals knapp zusammengefasst, war dem Gutachten ein weitestgehend konsensiertes Fundament zugrunde gelegt worden, das aus den Elementen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation und Eilverfahren bestand. Den 72. Deutschen Juristentag hat dieser Konsens nicht überstanden. Das gilt insbesondere für die zahlreichen Einwände Thomas Heidels, der sich in engen Grenzen allenfalls bereit zeigte, die Notwendigkeit eines Eilverfahrens bei strukturändernden Beschlüssen (jedenfalls für börsennotierte oder kapitalmarktorientierte Unternehmen12) anzuerkennen, der Abkehr von der Einheitsfolge Beschlusskassation und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dagegen nichts Gutes abgewinnen konnte.13 In den sonstigen Stellungnahmen wurde an diesem Fundament dagegen überwiegend nicht mehr gerüttelt,14 aber es finden sich auch zwei Stimmen, deren Kritik bereits an dieser Weichenstellung ansetzt. Die Einwände richten sich in erster Linie gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der namentlich von Hans-Christoph Grigoleit nachdrücklich kritisiert und von Peter Mülbert zumindest mit einem Fragezeichen versehen wurde.15 Der Stellungnahme Mülberts muss in diesem Punkt allerdings nicht weiter nachgegangen werden, weil er darin lediglich einen Vorbehalt ausspricht, der schon im Gutachten formuliert wurde: Als konsentiert kann man den Verhältnismäßigkeitsgedanken selbstverständlich nur dann betrachten, wenn man ihn in einem weiten Sinne versteht und darunter zum Teil recht unterschiedliche Ausgestaltungen fasst, wie etwa eine Nachteilsabwägung oder ein Anfechtungsquorum.16 Dieser Weite des Begriffs muss man sich bewusst sein. Sie ist dem Bemühen geschuldet, nicht allein die Unterschiede zu betonen, sondern auch die schon erreichten Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, um auf dieser Basis punktgenau identifizieren zu können, wo tatsächlich noch Diskussionsbedarf besteht. Der Verhältnismäßigkeitsgedanke als solcher kann jedenfalls in diesem weiten Sinne als gemeinsamer Nenner festgehalten werden. Bei genauerer Betrachtung bricht auch die Stellungnahme Grigoleits diesen Konsens nicht auf. Obwohl der Widerspruch gegen den Verhältnismäßigkeitsgedanken geradezu ein Leitmotiv seines Beitrags darstellt,17 ist seine abweichende Positionierung bei näherer Analyse im Wesentlichen doch nur darauf zurückzuführen, dass ihr eine ganz andere Begrifflichkeit zugrunde liegt, als sie im Gutachten verwendet wird. Das 12 Zu dieser Einschränkung vgl. Heidel, Referat zum 72. DJT, Manuskript, These 2. 13 Vgl. dazu Heidel, Referat zum 72. DJT, Manuskript, These 1 und 5. 14 Bekräftigend auch noch einmal J. Lieder, NZG 2018, 1321, 1323. 15 Grigoleit, AG 2018, 645, 646 ff., 654 ff.; Mülbert, NJW 2018, 2771, 2772 f. 16 Vgl. zu dieser Klarstellung J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 13: „Verhältnismäßigkeitsprüfung (im weitesten Sinne)“. 17 Ausführlich insb. Grigoleit, AG 2018, 645, 654 ff.

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wird deutlich, wenn er sich am Ende seiner ausführlichen Kritik am Verhältnismäßigkeitsgedanken für ein Anfechtungsquorum und die Beschränkung der Beschlusskassation auf evidente Rechtsverstöße ausspricht.18 Beides wird im Gutachten aber just unter den dort zugrunde gelegten Verhältnismäßigkeitsgedanken „im weitesten Sinne“ gefasst.19 Wogegen Grigoleit sich letztlich wendet, ist eine gerichtliche Interessenabwägung, worauf später noch näher eingegangen werden soll (unter III. 2. c)). Der Konsens hinsichtlich des Verhältnismäßigkeitsgedankens in dem im Gutachten zugrunde gelegten Sinne wird dadurch aber nicht berührt. b) Kritik an der Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation Dasselbe gilt auch für die im Gutachten als konsentiert unterstellte Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation. Auch hier scheint Grigoleit zunächst deutlich vom Gutachten abzuweichen, weil er sehr ausführlich dem Kassationsgedanken (für den er die Bezeichnung Invalidierungsgrundsatz bevorzugt) einen „sachgesetzlichen Kern mit universalem Anspruch“ attestiert.20 So sehr er dieses Prinzip in seinem Beitrag betont, so ist doch nicht zu verkennen, dass er sich in der Sache weit davon entfernt. Unter (zutreffendem) Verweis auf Besonderheiten der gesellschaftlichen Beschlussfassung21 will auch er die „Invalidierungsfolge“ einschränken, und zwar durch die Einführung zweier Filter, deren Schärfe selbst in 130 Jahren Reformdebatte hervorsticht: ein starres Anfechtungsquorum und eine zusätzliche Beschränkung der Invalidierungsfolge auf evidente Rechtsverstöße (ausführlich dazu noch unter III. 2. c)). Im Lichte dieser Forderungen kann man auch ihn ohne Bedenken zu den Gegnern der Einheitsfolge Beschlusskassation zählen.22 2. Beschluss- und klägerbezogener Filter a) Ausgestaltung im DJT-Gutachten Bereits im Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag wurde als größte Hürde für eine Neuordnung des Beschlussmängelrechts die nähere Ausgestaltung der Verhältnismäßigkeitsprüfung identifiziert: Im Gutachten wurden als mögliche Wirkrichtungen einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung ein beschlussbezogener und ein klägerbezogener Filter herausgearbeitet: Ein beschlussbezogener Filter zielt darauf ab, die zwar fehlerhaften, aber dennoch erhaltungswürdigen Beschlüsse von denjenigen zu trennen, bei denen der Fehler so schwerwiegend ist, dass der Beschluss kassiert werden muss.23 Ein klägerbezogener Filter setzt dagegen nicht bei dem Beschluss, son18 Vgl. Grigoleit, AG 2018, 645, 651 ff. 19 Vgl. J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, 13 f., 21; vgl. zum Ursprung der Quorumsforderung in einem Verhältnismäßigkeitsgedanken Fehrenbach, Der fehlerhafte Gesellschafterbeschluss in der GmbH, 2011, S. 94. 20 Grigoleit, AG 2018, 645, 646. 21 Vgl. dazu Grigoleit, AG 2018, 645, 646 ff. und die weitgehend übereinstimmenden Überlegungen in J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 14 ff. 22 Vgl. zu dieser Zuordnung auch Lieder, NZG 2018, 1321, 1323 Fn. 37. 23 Vgl. dazu und zum Folgenden J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 20 ff.

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dern beim Kläger an und fragt, ob ihm möglicherweise aufgrund einer zu geringen Beteiligung, einer fehlenden persönlichen Betroffenheit oder aufgrund missbräuchlicher Absichten die Befugnis abzusprechen ist, einen Mangel geltend zu machen. Im Gutachten war eine kombinierte Anwendung dieser beiden Filter empfohlen worden. Dabei sollte der beschlussbezogene Filter in Anlehnung an die frühere UMAG-Fassung in der Weise formuliert werden, dass die Vor- und Nachteile auf Seiten der Aktionäre im Lichte der Schwere des Rechtsverstoßes gegeneinander abgewogen werden. Für die Ausgestaltung des klägerbezogenen Filters wurde ein moderates Kassationsquorum empfohlen, wobei in Fällen besonders schwerer Rechtsverstöße jedem Aktionär die Kassationsbefugnis erhalten bleiben soll. b) Der Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht aa) Besonders schwerer Verstoß als maßgebliches Merkmal Diese Zweiteilung wurde auf dem Juristentag mehrheitlich befürwortet,24 ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Namentlich Peter Mülbert hat zwar grundsätzlich eine Orientierung an dieser „Standortbestimmung“ empfohlen,25 im späteren Verlauf seines Beitrags dann aber doch an einem Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht festgehalten, wonach für die Kassationsentscheidung maßgeblich sein soll, ob der Beschluss an einem Nichtigkeitsmangel oder an einem besonders schweren Fehler leide.26 In der im Gutachten verwandten Begrifflichkeit handelt es sich also um einen ausschließlich beschlussbezogenen Filter, der durch keinen klägerbezogenen Filter ergänzt wird.27 Betrachtet man diesen Vorschlag genauer, dann springt zunächst die deutliche Anlehnung an das geltende Recht ins Auge. Das Tatbestandsmerkmal der besonderen Schwere des Rechtsverstoßes findet sich heute schon in § 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG. Als weiterer Kassationsgrund wird lediglich der Nichtigkeitsmangel ergänzt, doch dürfte dieser Ergänzung vor dem Hintergrund, dass der Arbeitskreis die Nichtigkeitsgründe erheblich beschränken will,28 keine gesteigerte Bedeutung zukommen. Letztlich handelt es sich bei den solchermaßen neu gefassten Nichtigkeitsgründen um nichts anderes als einen Unterfall des besonders schweren Verstoßes, bei dem lediglich inhaltlich 24 Beschluss I.3 a) und b) der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des DJT; s. auch Noack, JZ 2018, 824, 830: „Wesentlich ist zu erkennen, dass eine Kombinatorik vonnöten ist.“ 25 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2772. 26 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773 f. in Anlehnung an den Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618, § B I, II. 27 Der Arbeitskreis hat zur Frage des Quorums ausdrücklich keine Stellung bezogen (AG 2008, 617, 626). Dem Vernehmen nach soll Grund für diese Selbstbeschränkung gewesen sein, dass insofern auch unter den Arbeitskreismitgliedern keine einheitlichen Vorstellungen bestanden (vgl. dazu auch Mülbert, NJW 2018, 2771, 2774: Vorschlag eines Kassationsquorums würde von den Mitgliedern des Arbeitskreises wohl durchaus unterschiedlich rezipiert). Für eine Flankierung durch einen klägerbezogenen Filter dagegen aber auch Beschluss I.3. b) der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung – angenommen: 30:15:11. 28 Vgl. dazu Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, § A III.

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schon an eine genauere tatbestandliche Ausformung angeknüpft werden kann.29 Das Nichtvorliegen eines solchen besonders schweren Verstoßes ist daher nach der Lösung des Arbeitskreises die einzige Voraussetzung, um den Beschluss im Wege einer Zwischenentscheidung freizugeben, womit dann zugleich auch die dauerhafte Bestandskraft verbunden sein soll. Was aus dem geltenden Recht dagegen nicht übernommen wurde, ist die Interessenabwägung.30 Vergleicht man diese Rechtslage mit dem geltenden Recht, so wird durch diese Neuerung die Position des Klägers deutlich verschlechtert. Mülbert widerspricht dem Vorwurf einer klägerunfreundlichen Neufassung zwar,31 aber vergleicht man die beiden Fassungen, so erscheint der Befund doch recht offensichtlich. Bislang muss eine Gesellschaft zwei Hürden überwinden, um die Freigabe des Beschlusses zu erreichen: Es darf kein besonders schwerer Rechtsverstoß vorliegen und die Interessenabwägung muss zu ihren Gunsten ausgehen. Von diesen Hürden wird im Vorschlag des Arbeitskreises die zweite abgebaut, was für die Gesellschaft eine Erleichterung und für den Kläger eine Erschwernis darstellt. bb) Inhaltliche Ausfüllung Besonders unausgewogen erscheint diese Lösung, wenn man sich anschaut, welche Sachverhalte derzeit unter die Tatbestandsvoraussetzung des besonders schweren Verstoßes gefasst werden. Der Gesetzgeber des UMAG hat sie nämlich bewusst auf absolute Extremsachverhalte beschränkt, in denen der Verstoß „so krass rechtswidrig ist, dass eine Eintragung und damit Durchführung ‚unerträglich‘ wäre.“32 Die Materialien nennen als Beispiele die Geheimversammlung, das Fehlen eines notariellen Protokolls, vorsätzliche Verstöße oder die Kapitalherabsetzung unter 50.000 Euro.33 Solche Verstöße kommen in der Praxis aber kaum vor oder sind doch (namentlich bei der am ehesten praxisrelevanten Fallgruppe der vorsätzlichen Verstöße) kaum nach-

29 So wird namentlich etwa eine unterlassene notarielle Beurkundung schon in den Gesetzesmaterialien zum ARUG als Beispiel für einen besonders schweren Verstoß genannt (RegBegr ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41) und begründet in der Konzeption des Arbeitskreises (§ A III Nr. 1) einen von drei anerkannten Nichtigkeitsgründen. 30 Eine solche Abwägung soll nach der Konzeption des Arbeitskreises zwar für die Entscheidung über die Aufhebung ex nunc, nicht aber für die Aufhebung ex tunc vorzunehmen sein (vgl. dazu Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621 f.; im Gesetzgebungsvorschlag ergibt sich das aus dem Zusammenspiel von § D III i.V.m. § A III und § B II einerseits und § B III 3 andererseits). 31 Vgl. Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773  f. im Widerspruch zu J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 42. Nach Mülberts Auffassung soll diese Schwächung dadurch kompensiert werden, dass eine Freigabe im Arbeitskreiskonzept „nur beim Vorliegen minderschwerer Mängel“ erfolgen solle, doch funktioniert dieser Ausgleich deshalb nicht, weil nur äußerst wenige Verstöße als „schwere Mängel“ anerkannt werden. Nach der ARUG-Fassung sind nahezu alle Mängel „minder schwere Mängel“ und das soll auch in der Konzeption des Arbeitskreises nur geringfügig ergänzt werden (ausf. dazu unter III. 2. b) bb)). 32 RegBegr ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41. 33 RegBegr ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41; RAusschuss, BT-Drucks. 16/13098, S. 42.

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zuweisen, weil den Kläger insofern die Beweislast trifft.34 Auch in der Rechtsprechung und in der Kommentarliteratur findet man nur wenig sonstige Beispiele. Wollte man den Arbeitskreis und die daran anschließende Stellungnahme Mülberts in diesem Sinne verstanden wissen, läge darin nahezu ein Freigabeautomatismus und dass ein solcher den Belangen des Beschlussmängelrechts nicht gerecht wird, liegt auf der Hand. Die Kategorie des besonders schweren Verstoßes als einzige Kassationsvoraussetzung im Gesetz zu belassen, kann deshalb nur dann ernsthaft diskutiert werden, wenn sie wesentlich großzügiger gefasst und auf weitere Anwendungsfälle erstreckt wird. ­Tatsächlich scheint eine solche Neudefinition auch dem Arbeitskreis vorzuschweben, der als Beispiele eines besonders schweren Verstoßes etwa Fälle einer fehlerhaften Beschlussfeststellung, das Nichterreichen eines im Gesetz vorgesehenen Kapitalquorums, inhaltliche Mängel des Beschlusses, namentlich Verletzungen der Treupflicht oder des Gleichbehandlungsgrundsatzes, oder vorsätzliche Verfahrensfehler anführt.35 Das sind immer noch eng gefasste Ausnahmefälle, die gegenüber dem geltenden Recht aber doch zumindest graduell etwas klägerfreundlicher gefasst sind. Auf den ersten Blick mag eine solche großzügigere Fassung durchaus nahe liegen. Wenn ein Merkmal so eng gefasst ist, dass es kaum einen Anwendungsbereich hat, dann kann man es doch einfach ausdehnen. Tatsächlich ist das geltende Recht in dieser äußerst restriktiven Ausformung des besonders schweren Verstoßes aber wesentlich sachgerechter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es handelt sich bei dieser Kategorie nämlich um eine starre Grenze, die  – woran der Arbeitskreis anknüpfen möchte – jeder Abwägung entzogen ist.36 Wenn ein besonders schwerer Verstoß vorliegt, dann können die Interessen der Gesellschaft an einem Fortbestand des Beschlusses noch so überragend sein, sie können der Kassation nicht entgegengehalten werden. Dem Bankvorstand etwa, der darauf hinweist, dass ohne die fehlerhaft beschlossene Kapitalerhöhung die Existenz der Bank und damit auch der Arbeitsplätze, Einlagen und sonstigen Verbindlichkeiten bedroht sind, kann der Richter beim Vorliegen eines schweren Verstoßes immer nur eine Antwort geben: „Fiat iustitia et pereat mundus.“ Um solche Folgen zu vermeiden, ist es völlig richtig, dass diese s­ tarre Grenze des besonders schweren Verstoßes im geltenden Recht nur in außer­gewöhnlich seltenen Fällen greifen soll. Der Gedanke, man könne sie deutlich nach unten verschieben, damit sie als Verhältnismäßigkeitsfilter überhaupt eine Aussonderungsfunktion erfüllen kann, ohne sie zugleich durch eine Interessenabwägung zu flexibilisieren, würde die Unternehmen mit unabsehbaren Gefahren belasten.37 Zu Recht hat 34 RegBegr ARUG, BT-Drucks. 16/11642, S. 41. 35 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 622. 36 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 621; auch Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773 betont den Verzicht auf jede Interessenabwägung noch einmal besonders. 37 Speziell in Mülberts Beitrag ist auch nicht klar erkennbar, warum er eine solche starre Anordnung gegenüber einer flexibleren Einzelfallabwägung bevorzugt. Von anderen Autoren wird gegen eine solche Abwägung insbesondere vorgebracht, dass ein Gericht keine unternehmerische Entscheidung treffen solle oder sie nicht treffen könne, weil inkomparable Größen maßstabslos gegenübergestellt würden (vgl. dazu noch die Ausführungen unter III. 2. e)). Für Mülbert können diese Einwände indes nicht ausschlaggebend sein, weil auch im

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der Juristentag deshalb mit großer Mehrheit für einen beschlussbezogenen Filter gestimmt, der beide Elemente kombiniert.38 c) Der alternative Gestaltungsvorschlag Grigoleits aa) Einführung eines Anfechtungsquorums Auch Hans-Christoph Grigoleit möchte eine individuelle Nachteilsabwägung durch das Gericht ausschließen und dafür auf zwei alternative Filter zurückgreifen, nämlich ein Anfechtungsquorum und eine Beschränkung des Kassationsrechts auf Fälle „offensichtlicher Rechtsverletzung“.39 In der Terminologie des Gutachtens greift er damit letztlich auch auf einen kläger- und einen beschlussbezogenen Filter zurück, wobei der klägerbezogene Filter eben nicht allein die Kassationsbefugnis nehmen soll, sondern die generelle Anfechtungsbefugnis. Auf den ersten Vorschlag eines generellen Anfechtungsquorums soll hier in der Sache nicht näher eingegangen werden. Dass für ein Anfechtungsquorum gewichtige Gründe sprechen, ist schon seit mehr als 100 Jahren immer wieder dargelegt worden und im Vorfeld des Juristentags haben neben Grigoleit auch Walter Bayer und Sven Möller diese Argumente noch einmal ausführlich zusammengestellt und die rechtspolitische Forderung bekräftigt.40 Der Grund, warum das Gutachten sich diesen Vorschlag nicht zu Eigen gemacht hat, liegt nicht allein in inhaltlichen Vorbehalten, sondern insbesondere auch in dem rechtspolitischen Widerstand, der sich einer solchen Reform seit langer Zeit entgegenstellt.41 Ein Anfechtungsquorum ist über viele Jahrzehnte hinweg immer wieder auf unüberwindbare politische Widerstände gestoßen und die Einwände, die diesem politischen Widerspruch zugrunde liegen, werden auch von vielen Wissenschaftlern geteilt.42 Wer keine Freude daran hat, mit dem immer gleichen Kopf gegen die immer gleiche Wand zu laufen, sollte deshalb nicht allein mit einem Anfechtungsquorum im Gepäck nach Berlin reisen. Eine solche Übung ist nicht nur persönlich frustrierend, sondern trägt überdies die viel gravierendere Gefahr in sich, die Diskussion in die gleiche Sackgasse zu führen, in der sie schon über Jahrzehnte aus­ gebremst wurde. Vielmehr gilt der Befund, den Eberhard Stilz bereits vor über zehn Jahren auf dem 67. Juristentag zur Forderung nach einem generellen Anfechtungsquorum formuliert hat: Arbeitskreismodell eine Interessenabwägung vorgesehen ist, die lediglich auf die Ex-nunc-­ Kassation beschränkt wird (vgl. AG 2008, 617, 618 § B III S. 3 sowie die Ausführungen in Fn. 30). 38 Beschluss I.3 a) der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung: „Für die Entscheidung über die angemessene Rechtsfolge sollte als beschlussbezogener Filter eine Abwägung des Nutzens und der Gefahren einer Anerkennung des Beschlusses für die Gesellschaft und ihre Aktionäre sowie die Schwere des Rechtsverstoßes maßgeblich sein (möglicherweise zusätzlich zu einem beschlussbezogenen Filter).“ – angenommen: 51:2:4; zust. auch Lieder, NZG 2018, 1321, 1323. 39 Grigoleit, AG 2018, 645, 651 ff. 40 Vgl. dazu Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 803 ff. 41 Vgl. dazu J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 16 f. 42 Vgl. statt vieler Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 712 f.

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„Illusionen dieser Art sind der Grund dafür, dass man Jahre/Jahrzehnte lang diskutiert und nicht vorankommt.“43 Ein Kassationsquorum, das es jedem Aktionär ermöglicht, rechtswidrige Verstöße feststellen zu lassen, ist deutlich geringeren rechtspolitischen Einwänden ausgesetzt, was am eindeutigsten dadurch belegt wird, dass es schon heute in moderater Form in § 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG Eingang in das geltende Recht gefunden hat. Selbstverständlich weist Grigoleit völlig zu recht darauf hin, dass ein solches Kassationsquorum den Lästigkeitswert einer Klage aus Unternehmenssicht sicherlich nicht vollständig beseitigen kann.44 Es kann der Klage aber doch jedenfalls die unverhältnismäßigsten Folgen nehmen, an denen sich das rechtspolitische Unbehagen tatsächlich entzündet. Als Fazit bleibt zu dieser Forderung daher festzuhalten: Sollte der Gesetzgeber sich des Themas annehmen, wäre es sicher zu begrüßen, wenn er sich auch noch einmal mit den Argumenten für und wider ein solches Anfechtungsquorum auseinandersetzen würde. Wer ein Interesse daran hat, dass die Diskussion voranschreitet, sollte sein Empfehlungsgebäude aber nicht auf einer solch problematischen Forderung aufbauen.45 Dass die verbleibenden Belastungen auch aus Unternehmenssicht nicht zu erheblich sind, wird am deutlichsten dadurch dokumentiert, dass in den Verhand­ lungen der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung auf dem 72. Deutschen Juristentag die Forderung nach einem generellen Anfechtungsquorum in einer ansonsten durchaus kontroversen und vielschichtigen Debatte keinerlei Befürworter und noch nicht mal eine vertiefte Erwähnung gefunden hat. bb) Kassationsberechtigung nur bei evidenten Rechtsverstößen? Anders als in früheren Jahren bleiben selbst die Befürworter eines Anfechtungsquorums bei dieser Forderung nicht stehen. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Verschiebung des Aktionärskreises hat deutlich gemacht, dass nicht allein Klein­ aktionäre die unternehmerische Tätigkeit einer Gesellschaft erheblich behindern können, sondern dass auch die Klagen von prominenter beteiligten Gesellschaftern einen Lästigkeitswert in sich tragen können, der möglicherweise auch missbräuchlich eingesetzt werden kann.46 Zu Recht hat deshalb der 72. Juristentag neben einem klägerbezogenen auch einen beschlussbezogenen Filter gefordert, in dem die besondere Schwere des Rechtsverstoßes gegen die Folgen einer Beschlusskassation abgewogen werden soll.47 Auch Grigoleit plädiert für eine beschlussbezogene Ergänzung, möchte aber wie Mülbert auf eine Abwägung verzichten und allein die Rechtsverletzung in den Blick nehmen. Die Abweichung gegenüber dem geltenden Recht und dem Vorschlag des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht, an den sich Mülbert anlehnt, liegt im

43 Stilz, Verhandlungen des 67. DJT, Bd. II/2 N 196. 44 Vgl. dazu Grigoleit, AG 2018, 645, 647 ff. „Anfechtungsschaden“. 45 So auch schon J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 17; für ein Kassationsquorum zumindest als Auffanglösung deshalb auch Grigoleit, AG 2018, 645, 653: „kleine Lösung“. 46 Vgl. dazu schon J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 25. 47 Vgl. schon den Nachw. in Fn. 38 mit wörtlichem Zitat.

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Wesentlichen darin, dass die besondere Schwere des Rechtsverstoßes durch ein Evidenzkriterium ersetzt werden soll.48 Die Bewertung dieses Vorschlags fällt deshalb schwer, weil nicht recht klar wird, worin genau die inhaltliche Verschiebung gegenüber der bisherigen Formulierung liegen soll und welche Fälle Grigoleit damit erfassen will. Die Sinnhaftigkeit des Evidenzkriteriums begründet er damit, dass es in den bisherigen Bemühungen um eine Konkretisierung des besonders schweren Verstoßes anklinge; in einem Fußnotenverweis umschreibt er diese Konkretisierung zutreffend als gezielte Verstöße, Geheimversammlung und Kapitalherabsetzung unter 50.000 Euro.49 In der Sache will er es also bei der Begrenzung auf solche Extremstsachverhalte belassen und lediglich sicherstellen, dass das Gericht nicht zu einer Folgenabwägung ermächtigt wird, die es nach seiner Auffassung nicht leisten kann und soll.50 Wie auch immer die Detailgestaltung letztlich aussehen soll, so ist der Einwand gegen eine solche starre Lösung doch mit dem Einwand gegen den Mülbert’schen Vorschlag identisch: Sollte die Kassationsbefugnis tatsächlich nur noch in den extrem gelagerten Sachverhalten zur Anwendung gelangen, die in den ARUG-Gesetzesmaterialien umschrieben wurden, ist eine Aufhebung rechtswidriger Beschlüsse kaum noch zu erreichen. Wenn selbst ein Aktionär, der mit 40% an der Gesellschaft beteiligt ist, die Beschlusskassation nur noch bei vorsätzlichen Verstößen erreichen kann, dann ist die Fehlerkontrolle in einem unerträglichen Maße relativiert. Gerade in der Gesamtkonzeption Grigoleits ist nicht recht erkennbar, wie sich eine solche Relativierung mit dem nachdrücklichen Bekenntnis zum „Invalidierungsgedanken“, das er auf den ersten Seiten seines Beitrags formuliert hat, verträgt. Wenn dagegen die Evidenz des Verstoßes auch schon ab einer wesentlich niedrigeren Fehlerschwelle einsetzen soll, dann kann aus den oben angestellten Erläuterungen (unter III. 2. b) bb)) auf eine Folgenabwägung nicht verzichtet werden. d) Der Vorwurf mangelnder Rechtssicherheit aa) Rechtssicherheit und constructive ambiguity Ein zentraler Kritikpunkt Grigoleits an der Konzeption des Juristentagsgutachtens, der auch bei anderen Autoren anklingt,51 liegt in dem Vorwurf fehlender Rechtssicherheit, die aus der Möglichkeit einer gerichtlichen Interessenabwägung resultiere.52 Im Gutachten war bezweifelt worden, ob es überhaupt sinnvoll ist, für die Folgen eines Verstoßes absolute Rechtssicherheit schaffen zu wollen, und diesem Anliegen

48 Grigoleit, AG 2018, 645, 658. 49 Grigoleit, AG 2018, 645, 658 mit Fn. 69. 50 Grigoleit, AG 2018, 645, 658. 51 Vgl. insb. auch Noack, JZ 2018, 824, 829  f.; dagegen halten Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt II.3 b) aa) und C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 416 die aus dem Gutachtenvorschlag entstehende Rechtsunsicherheit für hinnehmbar. 52 Grigoleit, AG 2018, 645, 654 f.

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stattdessen die Figur einer „constructive ambiguity“ entgegengesetzt worden,53 was Grigoleit angesichts der Bedürfnisse des Rechtsverkehrs indes als „schwer nachvollziehbar“ empfindet.54 Der dahinter stehende Gedanke ist indes recht simpel: Es soll vermieden werden, dass die Geschäftsführung der Gesellschaft einen Verstoß sehenden Auges in Kauf nimmt, weil sie sicher sein kann, dass ihr kein größeres Ungemach droht. Als Beispiel stelle man sich etwa vor, es werde eine Regelung eingeführt (wie sie früher verschiedentlich gefordert wurde), dass Auskunftsfehler grundsätzlich nicht zur Anfechtung berechtigen sollen. In vielen Fällen wäre das aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sicher sachgerecht. Es liegt aber auf der Hand, dass den Unternehmensleitungen damit kein hinreichender Anreiz gesetzt wäre, auf der Hauptversammlung gewissenhaft Auskunft zu erteilen. Das gilt auch, wenn man in diesem Fall lediglich die Kassationsbefugnis verneint, solange nicht gesichert ist, dass die alternativen Rechtsfolgen so abschreckend sind, dass weiterhin ein Anreiz besteht, für die Einhaltung der gesetzlichen Sorgfalt Sorge zu tragen. Es besteht heute aber Einigkeit, dass jedenfalls im geltenden System ein solches Abschreckungsarsenal nicht zur Verfügung steht,55 und auch sämtliche derzeit diskutierten Lösungen de lege ferenda sind diesem Einwand ausgesetzt.56 Solange es nicht gelingt, diese alternativen Verstoßfolgen so scharf zu stellen, darf es für den Verstoßfall keine Rechtssicherheit geben, sondern eine constructive amgibuity gewährleistet eher, dass die hygienische Wirkung einer drohenden Beschlusskassation auch weiterhin aufrechterhalten bleibt. Wenn in diesem Sinne etwa in den Gesetzesmaterialien als Maßgabe zur Ausfüllung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lediglich festgelegt würde, dass ein Auskunftsmangel „in der Regel“ nicht zur Beschlusskassation führen soll, wäre dem Verhältnismäßigkeitsgedanken genüge getan, aber es verbliebe doch ein hinreichendes Abschreckungspotenzial, um die Unternehmen zur gewissenhaften Auskunfterteilung anzuhalten.57 bb) Das Rechtssicherheitsanliegen im Lichte alternativer Gestaltungen Selbst wenn man trotz dieser Überlegungen ein höheres Maß an Rechtssicherheit für wünschenswert hält, so muss dieses Anliegen doch auch stets im Lichte rechtspolitischer Alternativen gespiegelt werden. Insofern muss zunächst noch einmal nachdrücklich daran erinnert werden, dass Rechtssicherheit zwar ein sehr wichtiges, aber 53 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 33. 54 Grigoleit, AG 2018, 645, 654 f. 55 So auch Grigoleit, AG 2018, 645, 649: „wirkungsschwach“. 56 Wenn Grigoleit, AG 2018, 645, 658 im eigenen Konzept dagegen nur „sehr eingeschränkte“ Präventionslücken erkennt, so ist dieser Befund deshalb zweifelhaft, weil sein Vorschlag die  Klägerposition im Vergleich zur geltenden Rechtslage gleich in mehrfacher Hinsicht schwächt (Anfechtungsquorum + Wegfall der Interessenabwägung + Ausdehnung auf sonstige Beschlüsse). Da er aber selbst annimmt, dass nach derzeitiger (klägerfreundlicherer) Rechtslage die sonstigen Sanktionsmechanismen nur schwach ausgeprägt seien (Nachw. in Fn. 55), kann der Befund in seinem Konzept nicht günstiger ausfallen. 57 Für eine solche bloße Regelaussage deshalb auch Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt II.3 b) aa).

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doch ein nachgelagertes rechtspolitisches Anliegen ist. Sicher ist es richtig, dass die derzeitige Regelung dem Unternehmen größere Rechtssicherheit bietet als die im Gutachten vorgeschlagene Lösung. Das liegt aber nur daran, dass sie so unausgewogen ist, dass das Unternehmen letztlich in den allermeisten Fällen gewinnt,58 sofern nicht die von Unternehmensseite beklagten gerichtlichen „Rezeptionswiderstände“ dafür sorgen,59 dass die Abwägung ausnahmsweise doch einmal zugunsten des Klägers ausgeht.60 Eine solche Form der Rechtssicherheit ist nicht erstrebenswert. Wer deshalb eine alternative Formel sucht,61 steht gerade angesichts der mittlerweile ganz überwiegend geforderten Ausdehnung des Verhältnismäßigkeitsgedankens auf andere Beschlussformen62 vor der Schwierigkeit, dass einer sehr weiten Spannbreite möglicher Beschlussarten ebenso Rechnung zu tragen ist wie einer nahezu unendlichen Reihe denkbarer Fehlerformen. Die Vorstellung, es könne die Pauschalkategorie eines schweren oder evidenten Rechtsverstoßes als einheitliches Passepartout auf jede dieser Beschlussformen gelegt werden, trägt dieser Vielgestaltigkeit nicht hinreichend Rechnung. Entsprechenden Ansätzen ist deshalb aus den oben genannten Gründen (unter III. 2. b)) eine klare Absage zu erteilen. Wo eine Rechtsordnung den Facettenreichtum des Lebens nicht mehr kasuistisch vorzuformen vermag, bedarf es einer Abstrahierung, die durch gerichtliche Würdigung des Einzelfalls auszufüllen ist. Die Rechtsprechungspraxis der vergangenen Jahre gibt durchaus Anlass, unseren Gerichten eine solche Wertung zuzutrauen. Derzeit sind sie es, die für eine sachgerechte Korrektur einer unausgewogenen Rechtslage sorgen.63 Aber auch wer der gerichtlichen Würdigung misstraut, muss deshalb keinesfalls auf einen detailliert ausbuchstabierten Missbrauchstatbestand64 oder ähnliche Gestaltungen zurückgreifen, sondern sollte sich die sonstigen Legislativtechniken vergegen58 Vor diesem Hintergrund ist die von Unternehmensseite immer wieder formulierte Beschwichtigung, „die Praxis könne mit dem geltenden Recht gut leben“ (vgl. zuletzt etwa Pentz, AnwBl. 2018, 1, 5), zwar sehr nachvollziehbar, aber für die Frage nach dem Reformbedarf sicherlich auch nicht ausschlaggebend. 59 Vgl. zu diesen Korrekturen schon J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 28; s. auch Nietsch, NZG 2018, 1334, 1336 ff. 60 Der Begriff der „Rezeptionswiderstände“ geht zurück auf Austmann in MünchHdb AG, 4. Aufl., 2015, § 75 Rz. 88 und betrifft insbesondere Squeeze-Out-Beschlüsse, für die Austmann im Gesetz zu Recht einen „Automatismus der Freigabe“ angelegt sieht. Ob ein solcher Automatismus Ziel des Beschlussmängelrechts sein sollte, ist aber mit einem großen Fragezeichen zu versehen. 61 Zu den Vorschlägen des Arbeitskreises, Mülberts und Grigoleits wurde bereits unter III. 2. und 3. Stellung bezogen; Noack äußert zwar ebenfalls Bedenken, formuliert aber keinen eigenen Gegenentwurf (Noack, JZ 2018, 824, 829 f.). 62 Vgl. dazu Beschluss I.4 der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung  – angenommen: 44:7:5; J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 44 ff. m.w.N. 63 So auch der Befund von Nietsch, NZG 2018, 1334, 1339. 64 Dafür insb. Martens/Martens, AG 2009, 173, 176 ff.; dagegen schon J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S.  34; skeptisch auch Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 310 ff.

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wärtigen, die der gerichtlichen Würdigung auch innerhalb eines Subsumtionsspielraums noch hinreichend klare Wegmarken setzen können. Als Beispiele seien insofern etwa die Möglichkeiten einer Regelbeispielgestaltung65 oder einer näheren Vorformung innerhalb der Gesetzesmaterialien zu geben.66 Durch solche Gestaltungen kann ein höherer Grad an Rechtssicherheit herbeigeführt werden, ohne die Regelung zugleich so vorhersehbar zu machen, dass sie ihre Präventionswirkung verliert oder zu Umgehungen einlädt. e) Vergleich inkomparabler Größen Sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang des Juristentags ist schließlich noch der alte Zöllner’sche Einwand67 wiederholt worden, den er gegen die ursprüngliche UMAG-­ Fassung erhoben hat: Durch eine Interessenabwägung, in die auch die Schwere der Rechtsverletzung einfließe, würden inkomparable Größen gegenübergestellt.68 Dass sich dieser Einwand gerade im Beschlussmängelrecht so hartnäckig hält, ist überraschend, wenn man den Blick auf andere Bereiche der Rechtsordnung lenkt, wo der­ artige Gesamtabwägungen gang und gäbe sind. Wenn man allein aus der gesellschaftsrechtlichen Perspektive bedenkt, was für widerstreitende Belange etwa in einer herkömmlichen Prüfung nach ARAG/Garmenbeck-Grundsätzen gegeneinander abgewogen werden sollen,69 dann ist es doch eigentümlich, dass es gerade im Beschlussmängelrecht als undurchführbar gilt, eine solche Abwägung zu treffen. Wer einmal im Hörsaal versucht hat, die Besonderheiten des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts zu erklären, der wird um zwei Grundaussagen nicht herumkommen: Der Beschluss kann für die Gesellschaft von überragender Bedeutung sein und der Fehler kann sehr geringfügig sein. Das sind zwei zentrale Kernaussagen, aus denen sich erklärt, warum das Beschlussmängelrecht von der Rechtsgeschäftslehre zu emanzipieren ist.70 Die Erwartungshaltung, man könne eines dieser Elemente ausblenden und allein auf die Relevanz des Fehlers oder allein auf eine Interessenabwägung abstellen, verfehlt deshalb die Wertungsgrundlagen des Beschlussmängelrechts. Der ARUG-Gesetzgeber hat das richtig gesehen und an beiden Kategorien festgehalten. Zugleich hat er aber versucht, dem Einwand inkomparabler Größen dadurch zu

65 Bsp. dafür bei Hirte in FS Meilicke, 2010, S. 201, 213. 66 Wie hier Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt II.3 b) aa). 67 Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1641. 68 Im Kontext des 72. Juristentags wieder aufgegriffen von Grigoleit, AG 2018, 645, 654; Noack, JZ 2018, 824, 829 f.; s. auch C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 416; dagegen bereits J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 31 ff.; für eine Gesamtabwägung auch Harbarth, AG 2018, 637, 642; Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt II.3 b sowie Beschluss I.3 a) der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung (wörtliches Zitat in Fn. 38). 69 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Hüffer/Koch, 13. Aufl., 2018, § 111 AktG Rz. 7 ff. m.w.N. 70 Vgl. zu diesem Emanzipationsgedanken schon Busche in FS Säcker, 2011, S. 45 ff.; Ernst in Liber Amicorum Leenen, 2012, S. 1 ff.; J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 14 ff.; Tröger, JZ 2016, 834, 841.

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entgehen, dass er sie als Prüfungsstationen strikt voneinander abgeschichtet hat.71 Genau aus diesem Bemühen resultieren die heute ganz überwiegend konstatierten Defizite des geltenden Rechts. Weil die Interessen der AG nicht berücksichtigt werden dürfen, muss die Kategorie des besonders schweren Rechtsverstoßes so stark eingeschränkt werden, dass sie kaum noch einen Anwendungsbereich hat. Das führt dann ohne Weiteres in den Vorwurf, bei der dann allein maßgeblichen Interessenab­ wägung würde die Rechtsordnung vollständig ausgeblendet. Tatsächlich ist den Gerichten auch in diesem Bereich der Rechtsordnung – wie in so vielen anderen – eine solche Abwägung zuzutrauen. f) Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Klage Erst im Nachgang des Juristentags hat Michael Nietsch noch die Berücksichtigung eines weiteren Freigabeparameters angeregt, der auch in der früheren Diskussion schon häufiger erwähnt wurde,72 nämlich die Erfolgsaussichten der Klage in der Haupt­ sache.73 In die hier vorgeschlagene Konzeption lässt sich diese Erweiterung nicht ­einbauen, weil es nur noch ein einheitliches Verfahren gibt und die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht nur bei der Freigabeentscheidung, sondern auch im Hauptsacheverfahren vorzunehmen ist. Der Vorschlag von Nietsch beruht dagegen auf einem grundlegend anderen Verständnis, wonach das Freigabeverfahren in erster Linie ein Eilverfahren darstellt, in dem in beschleunigter Form versucht wird, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu prognostizieren. In dem Hauptsacheverfahren soll dann aber wieder die Beschlusskassation als alleinige Rechtsfolge in Betracht kommen.74 Aus den im Gutachten ausführlich dargestellten Gründen ist eine solche Einheitsfolge im Beschlussmängelrecht aber nicht angemessen, weil sie den Besonderheiten kollektiver Beschlussfassung nicht hinreichend Rechnung trägt.75 Von der Kassationsfolge soll – im geltenden und im neu zu gestaltenden Recht – nicht deshalb abgesehen werden, weil ein Rechtsverstoß tatsächlich oder (nach summarischer Prüfung) wahrscheinlich nicht feststellbar ist, sondern weil der Rechtsverstoß nicht hinreichend gewichtig ist, als dass er es rechtfertigen könnte, einen Beschluss, der für die Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, für nichtig zu erklären. g) Weiterer Fortgang der rechtspolitischen Diskussion Die Stellungnahmen vor, während und nach dem Juristentag haben abermals gezeigt, dass die Reformdiskussion mittlerweile sehr weit fortgeschritten ist und sich letztlich 71 Vgl. zu dieser (misslungenen) Abschichtung J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 27 ff. 72 Vgl. zu solchen Forderungen etwa Zöllner in FS Westermann, 2008, S. 1631, 1642 f.; ausf. dazu auch bereits Nietsch, Freigabeverfahren, 2013, S. 371 ff., 455 ff. 73 Nietsch, NZG 2018, 1334 ff. 74 Gegen ein solches Verständnis bereits J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 20 f.; wie Nietsch dagegen für ein Verständnis des Freigabeverfahrens als reines Eilverfahren Schwab in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl., 2015, § 246a AktG Rz. 10. 75 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 13 ff.

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nur in der Detailgestaltung noch größere Unterschiede zeigen.76 Die entscheidende Hürde ist dabei die nähere Ausgestaltung der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Mit der ganz klaren Mehrheit des Juristentags ist dabei davon auszugehen, dass mit der pauschalen Kategorie eines schweren Rechtsverstoßes nicht auszukommen ist, sondern es einer Interessenabwägung bedarf.77 Die wesentlich wichtigere und deshalb auch auf dem Juristentag besonders kontrovers diskutierte Frage lautet, ob diese Abwägung an den individuellen Nachteilen des Klägers zu bemessen ist oder ob auch andere Aktionäre und sonstige Stakeholder dabei in den Blick zu nehmen sind. Die Wirtschaftsrechtliche Abteilung hat sie entsprechend dem Gutachtenvorschlag und gegen den nachdrücklichen Widerspruch des Referenten Marc Löbbe im letztgenannten Sinne entschieden.78 Zur weiteren Begründung dieser sehr komplexen Frage sei insofern auf das vorbereitende Gutachten, das Referat Löbbes und die Verhandlungsprotokolle verwiesen.79 Ebenfalls noch vertieft zu diskutieren ist die Frage nach der Detailgestaltung des flankierenden klägerbezogenen Filters.80 Im Gutachten war dazu die Einführung eines moderaten Kassationsquorums vorgeschlagen worden.81 Jan Lieder hat dem widersprochen und stattdessen dafür plädiert, die Beteiligungshöhe des Klägers im Rahmen der gerichtlichen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen.82 Das ist eine mögliche und keinesfalls unplausible Gestaltung, wenngleich die Vermutung Lieders, es sei auch der Beschluss der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung in diesem Sinne zu interpretieren,83 nach Wahrnehmung des Verfassers im Diskussionsverlauf auf dem Juristentag keine Grundlage findet. Tatsächlich wurde auch im Gutachten diese Gestaltung zwar erwogen, letztlich aber deshalb nicht empfohlen, weil die vom Gericht vorzunehmende Abwägung dann um noch einen Parameter erweitert würde und eine noch höhere Komplexität annehmen könnte.84 Die Lösung des Gutachtens lag deshalb darin, ein Quorum zwar als Seriositätsnachweis zu verlangen, die Kassations­ entscheidung aber auch nicht vollständig an den individuellen Kläger zu knüpfen. Stattdessen soll jedenfalls in einem Kläger, der über eine solche Mindestbeteiligung verfügt, der Gedanke an die Polizeifunktion der Anfechtungsklage fortleben. Auch wenn dieser Gedanke in den letzten Jahren in nachvollziehbaren Misskredit geraten ist, bleibt doch sein berechtigter Kern, dass im Lichte einer rationalen Aktionärsapathie nicht erwartet werden kann, dass sich jeder von einem Verstoß betroffene Akti­ 76 Ausführlich zu diesem Befund bereits J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 22 ff. 77 Wörtliches Zitat und Beschlussergebnis schon in Fn. 38. 78 Vgl. dazu den Beschluss der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung zu dem auf Löbbe zurückgehenden Vorschlag I.3 c) – abgelehnt: 13:24:9; wie hier Lieder, NZG 2018, 1321, 1323 f. 79 Vgl. J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 27 ff. einerseits und Löbbe, Referat zum 72.  DJT, Manuskript Gliederungspunkt II.3 b) bb) andererseits sowie den (derzeit noch unveröffentlichten) Bericht über die Verhandlungen des Juristentags. 80 Vgl. zu seiner Einführung Beschluss I.3 b) der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 72. DJT – angenommen: 30:15:11. 81 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 33 ff. 82 Lieder, NZG 2018, 1321, 1323. 83 Lieder, NZG 2018, 1321, 1323. 84 Vgl. dazu und zum Folgenden J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 34.

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onär persönlich zur Klage entschließt. Deshalb soll es genügen, wenn ein durch ein Quorum hinreichend legitimierter Kläger den Beschluss auf den Prüfstand stellt. Der Hinweis Lieders, dass ein solches Quorum umgehungsanfällig sei,85 ist richtig, aber hinzunehmen, solange nur der bedeutsamere beschlussbezogene Filter auch hier noch eine gerichtliche Angemessenheitsprüfung gewährleistet. Dass das Quorum trotz dieser Umgehungsmöglichkeiten eine Filterwirkung erfüllen kann, hat die Gerichtspraxis zu seiner jetzigen und sehr niedrigen Ausgestaltung bewiesen.86 3. Die Ausgestaltung der alternativen Rechtsfolgen a) Einheitlicher Maßstab Zur Ausgestaltung der alternativen Rechtsfolgen ist zunächst auf einen Kritikpunkt Mülberts einzugehen, der rasch abgehandelt werden kann, weil er auf einem offenkundigen Missverständnis beruht. Der Einwand lautet, dass dem Gutachten nicht klar zu entnehmen sei, ob die zusätzlichen Anordnungsbefugnisse des Prozessgerichts lediglich eine Ergänzung der Kassationsfolge seien oder eine Sanktionsalternative.87 Richtig ist selbstverständlich die zweite Lesart. Die Aufgabe der Einheitsfolge Beschlusskassation ist der zentrale und auch mehrfach hervorgehobene Grundpfeiler des Gutachtens, weshalb die sonstigen Rechtsfolgen ausdrücklich als „Alternative zur Beschlusskassation“ entworfen wurden.88 Mülbert leitet ein mögliches Verständnis im Sinne der ersten Lesart daraus ab, dass an einer Stelle im Gutachten von „zusätzlichen Sanktionselementen“ die Rede sei.89 Dieser Passus bezieht sich jedoch nicht darauf, dass diese Elemente vom Gericht zusätzlich zur Kassation verhängt werden sollen, sondern darauf, dass sie nach dem Gutachtenvorschlag als Alternativen zur Beschlusskassation zusätzlich in das Gesetz eingeführt werden sollen. Ein zweiter Kritikpunkt Mülberts lautet, dass der Verhältnismäßigkeitsvorbehalt allein als Freigabevoraussetzung formuliert sei, aber der Zusammenhang zu den sonstigen vom Prozessgericht zu treffenden Rechtsfolgenanordnungen offen bleibe.90 Dieser Einwand ist ebenfalls schnell ausgeräumt, weil das Gutachten tatsächlich auch in diesem Punkt mit dem Arbeitskreis Beschlussmängelrecht konform geht: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist in der Tat die einheitliche Schaltstelle für die Rechtsfolgenauswahl.91 Das Gericht soll – ganz in den Worten Mülberts – entscheiden, „ob der 85 Lieder, NZG 2018, 1321, 1323; vgl. auch Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis, 2012, S. 325 ff. 86 Bayer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 91, 118. 87 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773. 88 Vgl. zum ersten Punkt J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 13, zum zweiten Punkt S. 37 ff.; auch in sonstigen Stellungnahmen ist das Gutachten allein in diesem Sinne aufgefasst worden. Ausdrückliche Deutung in diesem Sinne etwa bei C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 415. 89 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2773 mit Fn. 18. 90 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2774. 91 Im Gutachten kommt dieser einheitliche Maßstab auf S. 36 f. und 40 zum Ausdruck. Mülberts Vorwurf, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung allein die Freigabeentscheidung in den Mittelpunkt gestellt worden sei, erscheint nicht ganz berechtigt, wenn man bedenkt,

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Mangel des Beschlusses auch unter Berücksichtigung der sonstigen dem Gericht zu Gebote stehenden Rechtsfolgen derart gravierend ist, dass er gerade eine rückwirkende Aufhebung gebiete.“92 Eine Abweichung liegt in der Tat nur darin, dass in die Frage des „gebietens“ (aus den unter III. 2. b) genannten Gründen) nach der Gutachtenlösung auch eine Interessenabwägung einfließen soll, die Mülbert ausschließen will. Das ändert aber nichts daran, dass in beiden Konzepten für das Hauptsacheverfahren und die Zwischenentscheidung identische Maßstäbe gelten sollen. b) Verbleibende Präventionslücken und Rügegeld Mit grundsätzlicheren Einwänden hat sich Hans-Christoph Grigoleit gegen die Auffächerung des Rechtsfolgenkatalogs ausgesprochen,93 wobei eine nähere Analyse seines Beitrags ergibt, dass sich seine Kritik im Wesentlichen an einem einzigen Element dieser Rechtsfolgendifferenzierung entzündet, nämlich dem Rügegeld.94 Wie auch andere alternative Rechtsfolgen ist dieser Vorschlag dem Bemühen geschuldet, Präventionslücken zu schließen. Grigoleit meint, darauf verzichten zu können, weil in dem von ihm entworfenen Konzept keine nennenswerten Lücken verblieben, doch ist dieser Befund mit einem Fragezeichen zu versehen.95 Tatsächlich sind derzeit alle gängigen rechtspolitischen Vorschläge mit der berechtigten Sorge behaftet, die hygienische Wirkung könne verloren gehen, wenn das Unternehmen nicht mehr die Schwerstfolge der Beschlusskassation zu befürchten hat. In dem System, wie es im Gutachten zum 72. Deutschen Juristentag skizziert wurde, soll namentlich durch die von Grigoleit gescholtene constructive ambiguity ein hinreichendes Abschreckungspotenzial erhalten bleiben (dazu unter III. 2. d) aa)) . Wem das nicht genügt oder wer innerhalb dieses Systems aus den oben diskutierten Gründen die Rechtssicherheit erhöhen will (vgl. dazu die Ausführungen unter III. 2. d)), muss nach alternativen Rechtsfolgen suchen. Dass der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, an den sich das Gutachten in diesem Punkt angelehnt hat, dazu auf den Gedanken eines Rügegeldes verfallen ist, erscheint durchaus naheliegend, da finanzielle Einbußen ein anerkanntes und einleuchtendes Sanktionsmittel sind, das gängige Instrument des Schadensersatzes im Bereich des Beschlussmängelrechts aber nach allgemeiner Auffassung kein hinreichendes Abschreckungspotenzial birgt.96 Der Einwand, das Rügegeld sei ein „systemfremdes“ Element,97 ist richtig, übersieht aber, dass es gerade Ziel dieses Vorschlags ist, das Beschlussmängelrecht aus dem unpassenden System der Rechtsgeschäfts­ dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Gutachten auf den S. 20 – 39 konturiert wird, das Freigabeverfahren dagegen erst auf S. 39 – 44 behandelt wird. 92 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2774. 93 Vgl. etwa Grigoleit, AG 2018, 645, 659. 94 Hinsichtlich der übrigen im Gutachten befürworteten Elemente spricht auch Grigoleit sich im Verlauf seines Beitrags für folgende Alternativen zur Beschlusskassation (Invalidierung) aus: Kassation ex nunc (Grigoleit, AG 2018, 645, 655), Feststellung der Rechtswidrigkeit (Grigoleit, AG 2018, 645, 657) und Schadensersatzanspruch (Grigoleit, AG 2018, 645, 657). 95 Zur näheren Begründung vgl. die Ausführungen in Fn. 56. 96 Zu den Gründen vgl. Grigoleit, AG 2018, 645, 649 f.; J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, 28; Nietsch, Freigabeverfahren, 2013, S. 153 f.; Spindler, NZG 2005, 825, 830. 97 Grigoleit, AG 2018, 645, 658 f.

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lehre98 herauszulösen und ein eigenständiges System zu entwickeln.99 Von größerem ­Gewicht ist der Einwand der Maßstabslosigkeit, der aber nur dann einen ernsthaften Hinderungsgrund darstellen würde, wollte man das Gericht ohne jegliche Anleitung zur Verhängung eines Rügegeldes ermächtigen. Es spricht aber nichts dagegen, dafür gesetzliche Maßgaben vorzugeben, die ähnlich wie im Ordnungswidrigkeitenrecht einer solchen Sanktion Grenzen setzen.100 4. Ausgestaltung des Zwischenverfahrens Die Ausgestaltung des Zwischenverfahrens im Gutachten wurde in den literarischen Stellungnahmen allein von Peter Mülbert gerügt, der beanstandet, es sei damit der „Paradigmenwechsel“ des Arbeitskreises Beschlussmängelrecht verfehlt worden, der das Verhältnis von Haupt- und Freigabeverfahren konsequent vom Kopf auf die Füße gestellt habe, indem er die Entscheidungsmaßstäbe für die beiden Verfahren vollumfänglich parallelisiert und in konzeptioneller Hinsicht die (voraussichtliche) Entscheidung im Hauptsacheverfahren für maßgeblich erklärt habe. Das Freigabeverfahren sei damit in ein echtes gerichtliches Eilverfahren überführt worden.101 Die Stellungnahme zu diesem Einwand fällt besonders schwer, weil sich hier tatsächlich vorhandene konzeptionelle Unterschiede mit inhaltlichen Missverständnissen vermengen. Ein Missverständnis scheint auch hier abermals darin zu liegen, dass Mülbert davon ausgeht, die Entscheidungsmaßstäbe für die Zwischenentscheidung und das Hauptsacheverfahren würden in der Konzeption des Gutachtens divergieren. Das ist nicht der Fall. Es ist – wie oben schon ausgeführt (dazu unter III. 3. a)) – die einheitliche Verhältnismäßigkeitsprüfung, die speziell zu der Rechtsfolge der Beschlusskassation in der Zwischenentscheidung nach vorne gezogen wird. Das Gericht soll am Verhältnismäßigkeitsmaßstab befinden, ob die Beschlusskassation geboten ist oder ob der Verstoß mit den anderen zur Verfügung stehenden Rechtsfolgen hinreichend geahndet werden kann, ohne allerdings diese Rechtsfolgen schon festlegen zu müs 98 Vgl. zu diesem Befund in anderem Zusammenhang auch der amtierende Vorsitzende des II. Zivilsenats, Ingo Drescher in FS Bergmann, 2018, S.  169, 175: „Die allgemeinen Vorschriften für Rechtsgeschäfte passen auf den Hauptversammlungsbeschluss als mehrseitigem Rechtsgeschäft nicht recht.“ Vgl. zur generellen Emanzipation des Beschlussmängelrechts von der Rechtsgeschäftslehre bereits die Nachw. in Fn. 70. 99 Folgerichtig werden auch viele andere Elemente dieses Systems, die Grigoleit durchaus übernehmen will, von anderer Seite als „systemwidrig“ gescholten – vgl. etwa Florstedt, AG 2009, 465, 369 (OLG-Zuständigkeit systemwidrig); im Referat zum 72. DJT von Heidel werden gar acht Elemente des geltenden Beschlussmängelrechts als systemwidrig bezeichnet, nämlich das Freigabeverfahren (Manuskript, S. 1), § 243 Abs. 4 S. 2 AktG (Manuskript, S. 11), nicht anfechtbare HV-Beschlüsse (zB § 120 Abs. 4 AktG; Manuskript, S. 12), Nichtbeteiligung von Nebenintervenienten an Vergleichen (Manuskript, S.  13), eine Rechtsfolgendifferenzierung (Manuskript, S. 20), eine Interessenabwägung (Manuskript, S. 20), ein Quorum (Manuskript, S. 23) und § 242 Abs. 1 S. 1 AktG (Manuskript, S. 37). 100 Zu weiteren, namentlich von Barbara Grunewald, NZG 2009, 967, 968 gegen das Rügegeld erhobenen Einwänden vgl. bereits die Ausführungen bei J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 38. 101 Mülbert, NJW 2018, 2771, 2774.

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sen. Weil insofern kein besonderes Eilbedürfnis besteht, ist es nicht erforderlich, auch die Auswahl dieser Rechtsfolgen zeitlich nach vorne zu ziehen, bevor das generelle Vorliegen eines Verstoßes und seine Schwere abschließend geklärt sind. Ein Unterschied in der Konzeption liegt dagegen in der Tat darin, dass der Arbeitskreis die Zwischenentscheidung als einen Ausnahmefall konzipieren will, der nur dann eintreten soll, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache nicht innerhalb von drei Monaten ergehen kann.102 Hier bleibt der Arbeitskreis in der Tat den klassischen Kategorien eines Eilverfahrens verhaftet, verfehlt damit aber die Besonderheit der Freigabeentscheidung.103 Diese Besonderheit gegenüber einem herkömmlichen Eilverfahren liegt darin, dass es nicht um eine einzige mögliche Rechtsfolge geht, die mit der Eilentscheidung vorweggenommen wird, sondern dass das Gericht die Auswahl zwischen mehreren Rechtsfolgen hat. Das kann dazu führen, dass schon in einem sehr frühen Stadium des Verfahrens klar ist, dass ein Fehler geltend gemacht wird, der möglicherweise zum Erfolg in der Hauptsache führen mag, aber trotzdem gewiss nicht die Kassation des Beschlusses rechtfertigen kann. In dieser Situation gibt es keinen Sachgrund, der es rechtfertigen kann, das Unternehmen in einer unbestritten eilbedürftigen Entscheidungssituation nach der einmonatigen Anfechtungsfrist noch weitere drei Monate Hauptsacheverfahren abwarten zu lassen, um die Bestandskraft des Beschlusses her­beizuführen. Das Denken in den Kategorien Haupt- und Eilverfahren wird dieser Besonderheit nicht gerecht und führt deshalb zu sachwidrigen Ergebnissen. 5. Neufassung der Nichtigkeitsgründe Die Neufassung der Nichtigkeitsgründe war schon im Vorfeld des Juristentags nahezu unisono gefordert worden.104 Der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht hatte darüber hinaus auch noch die Zusammenführung von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage zu einer einheitlichen Beschlussmängelklage angeregt.105 Im vorbereitenden Gutachten war das Reformanliegen bekräftigt, die Zusammenführung aber abgelehnt worden, weil damit – jedenfalls in der Konzeption des Arbeitskreises – Anfechtungs- und Nichtigkeitsfolgen in einer unklaren Form vermengt würden.106 Die Wirtschaftsrechtliche Abteilung hat mit einer recht beeindruckenden Mehrheit sowohl für die grundsätzliche Beibehaltung des Nichtigkeitstatbestands als auch für dessen inhaltliche Neugestaltung gestimmt. 57 Ja-Stimmen stand nur eine Enthaltung gegenüber; Nein-Stimmen gab es nicht.107 102 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618 f., 624 f., § D III. 103 Vgl. zum Folgenden bereits J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 41. 104 Mit (geringfügigen) Unterschieden in den Details Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 620 f.; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2190 f.; Brouwer, NZG 2014, 201, 204; Fiebelkorn, Die Reform der aktienrechtlichen Beschlussmängelklagen, 2013, S.  375  ff.; ­Grigoleit, AG 2018, 645, 659; Harbarth, AG 2018, 637, 639 f.; J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 48 ff.; J. Koch, ZHR 182 (2018), 377 ff.; Noack in FS Baums, 2017, S. 850 ff.; Noack, JZ 2018, 824, 830 f.; Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, 585, 599, 600. 105 Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 620 f., § A und B. 106 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 48 ff. 107 Beschluss I.8 der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 72. Deutschen Juristentags.

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Im Vorfeld hatte sich allerdings Ulrich Noack noch einmal für die Zusammenführung ausgesprochen. Die ablehnende Haltung des Gutachtens beruhe auf einem Missverständnis, da der unter Schwerstmängeln leidende Beschluss auch nach dem Konzept des Arbeitskreises keinesfalls bis zum Urteil hinzunehmen sei. Die Nichtigkeit könne vielmehr auch so festgestellt werden, durch die Klageoption werde nur die zusätzliche Erga-Omnes-Wirkung herbeigeführt.108 Diese Klarstellung ist hilfreich, weil sich diese Konzeption aus dem Vorschlag des Arbeitskreises nicht ohne weiteres erschließt. Gerade § 249 Abs. 1 S. 2 AktG, in dem bislang die Möglichkeit vorgesehen war, die Nichtigkeit auch auf andere Weise als durch Erhebung der Klage geltend zu machen, wurde in den Vorschlag des Arbeitskreises nämlich nicht übernommen und auch sonst ist ihm die von Noack angesprochene Differenzierung von Klagen mit und ohne Erga-omnes-Wirkung nur mit großer Mühe zu entnehmen. Selbst wenn man sie stärker akzentuieren wollte, bliebe der Vorwurf einer konzeptionell verwirrenden Gestaltung doch bestehen. Abweichend vom jetzigen Modell würde die Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrundes scheinbar ebenso wie die Geltendmachung eines Anfechtungsgrundes den Erfordernissen einer Klagebefugnis und einer Klagefrist unterworfen, die aber gänzlich unterschiedliche Folgen hätten. Fehlende Klagebefugnis und Fristversäumnis würden nicht bedeuten, dass keine Klage erhoben werden kann, sondern nur, dass sie nicht zur Erga-Omnes-Nichtigkeit führt. Eine solche ganz unterschiedliche Wirkung einheitlicher Anordnungen würde eher Verwirrung als größere systematische Klarheit schaffen.109 Auch wäre die in der Vergangenheit von Praktikerseite geäußerte Hoffnung, eine Befristung der Nichtigkeitsklage könne eine zeitlich unbegrenzte Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen ausschließen,110 damit keinesfalls erfüllt.111 Mit der fast einstimmig beschlossenen Empfehlung des Juristentags ist daher an der übersichtlicheren bisherigen Aufteilung festzuhalten; die berechtigten inhaltlichen Gestaltungsvorstellungen des Arbeitskreises können ohne weiteres auch in diesem Nebeneinander umgesetzt werden. 6. Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte Die bisher angesprochenen Einwände wurden im Schrifttum im Vorfeld oder im Nachgang des Juristentags geäußert, haben auf dem Juristentag selbst aber keine mehrheitliche Zustimmung gefunden. Dagegen ist die Wirtschaftsrechtliche Abteilung in einem Punkt vom Gutachten abgewichen, der im Schrifttum bis dahin ganz mit großer Mehrheit gefordert wurde, nämlich die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte in aktienrechtlichen Beschlussmängelverfahren.112 Namentlich von Sei108 Noack, JZ 2018, 824, 831; s. auch C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413, 417. 109 Gegen eine Befristung deshalb auch Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 805 f.; Harbarth, AG 2018, 637, 639 f.; Lieder, NZG 2018, 1321, 1326. 110 Vgl. dazu etwa Brouwer, NZG 2014, 201, 204. 111 Vgl. zu diesem Anliegen J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 54. 112 Vgl. dazu etwa Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617, 618, 623, § C III; Grigoleit, AG 2018, 645, 659; Bayer/Fiebelkorn, ZIP 2012, 2181, 2191; Bayer/Möller, NZG 2018, 801, 805; Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 730; Harbarth, AG 2018, 637, 643  f.; Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt V; Stilz in FS Hommelhoff, 2011, 1181, 1196; aA aber Florstedt, AG 2009, 464, 469; Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014,

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ten der Richterschaft war in den Verhandlungen des Juristentags dafür plädiert ­worden, es bei der Zuständigkeit der Landgerichte zu belassen. Anders als noch der 67. Juristentag ist der 72. Juristentag dieser Empfehlung gefolgt.113 Dieses Mehrheitsvotum ist ebenso ernst zu nehmen wie der Widerspruch derjenigen, die auf Gerichtsseite an vorderster Front mit Beschlussmängelklagen befasst sind. Die abweichende Positionierung im vorbereitenden Gutachten beruhte vornehmlich auf den schon im Vorfeld vielfach geäußerten Überlegungen, dass die Komplexität beschlussmängelrechtlicher Verfahren eine Spezialisierung erfordere, die eher durch eine oberlandesgerichtliche Senatsentscheidung gewährleistet werde.114 Gerade nach der Konzeption des Gutachtens war noch ein weiterer wichtiger Punkt hinzugekommen, der aus dem dort vorgeschlagenen Ausschluss des Rechtsmittelwegs gegen die Freigabeentscheidung bei strukturändernden Beschlüssen resultierte.115 Ein solcher Rechtsmittelausschluss ist erforderlich, um die erwünschte Beschleunigungswirkung zu erreichen, doch ist schon in der Vergangenheit oft bemängelt worden, dass damit die vereinheitlichende Wirkung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung verloren gehe.116 Das könnte künftig noch misslicher sein, wenn in Umsetzung der jetzt vom Juristentag beschlossenen Änderungen tatsächlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung Herzstück des gesamten Anfechtungsrechts werden soll. Vor diesem Hintergrund war die OLG-Zuständigkeit empfohlen worden, um eine zu starke Rechtszersplitterung zu vermeiden. Sollte der Gesetzgeber diese Empfehlung nicht umsetzen, sollte er zumindest der (hilfsweisen) Empfehlung des Referenten Marc Löbbe folgen und auch auf Landgerichtsebene für eine Konzentration bei spezialisierten Kammern Sorge tragen.117

IV. Abschließende Würdigung Der erste Satz des Gutachtens zum 72. Juristentag lautete: „Das deutsche Beschlussmängelrecht ist in keinem guten Zustand.“118 Peter Mülbert hat diesen Satz abgewanS. 585, 599 f.; noch weitergehend Heidel, Referat zum 72. DJT, Manuskript, S. 26: Verfahren über drei Instanzen für Beschlussmängelklagen. 113 Vgl. dazu den mit deutlicher Mehrheit gefassten Beschluss Nr. 17 des 67. DJT, Band II/2 N 241 – angenommen: 63:4:13 und den gegensätzlichen Beschluss Nr. I.7 des 72. DJT – abgelehnt: 21:28:7. 114 Vgl. zu den hier nicht zu wiederholenden Argumenten die Nachw. in Fn. 112; im Nachgang des Juristentags auch noch einmal nachdrücklich in diesem Sinne Lieder, NZG 2018, 1321, 1325 f. 115 Vgl. dazu und zum Folgenden J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 40 und 47; vgl. zu diesem Zusammenhang auch Lieder, NZG 2018, 1321, 1326. 116 Vgl. dazu schon J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 47; Noack/Zetzsche in Kölner Komm. AktG, 3. Aufl., 2017, § 246a AktG Rz. 175. 117 Vgl. dazu Löbbe, Referat zum 72. DJT, Manuskript Gliederungspunkt V im Anschluss an den DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2014, 1144, 1145; skeptisch Lieder, NZG 2018, 1321, 1326. 118 J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. 9; zustimmend Nietsch, NZG 2018, 1334, 1339 mit dem zutreffenden Hinweis, dass die Gerichtspraxis in einem besseren Zustand sei als das Gesetz; zweifelnd dagegen Pentz, AnwBl. 2018, 1, 5.

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delt in: „Die Diskussion um das deutsche Beschlussmängelrecht ist in keinem guten Zustand.“119 Dieser Befund gefällt in der pointierten Zuspitzung, aber ob er auch in der Sache zutrifft, ist doch zweifelhaft. Wenn man sich einmal ins Gedächtnis ruft, welche Hypertrophie unterschiedlichster Vorschläge noch auf dem 63. Deutschen Juristentag diskutiert wurde, und sie mit den doch sehr einheitlichen Vorstellungen vergleicht, die in den Verhandlungen des 72. Juristentags geäußert wurden, dann erkennt man, wie weit sich die rechtspolitischen Überzeugungen präzisiert haben. Es besteht heute ganz weitgehende Einigkeit, dass der schon im geltenden Recht eingeschlagene Weg, der auf den drei eingangs zitierten Grundlagen beruht (dazu oben unter II), weiter verfolgt werden soll. Die zahlreichen Alternativmodelle der Vergangenheit, wie etwa ausformulierte Missbrauchstatbestände, Belastungen des Klägers mit Schadensersatz- und Kostenfolgen oder das umgekehrte Freigabeverfahren,120 sind allesamt nicht wieder zur Diskussion gestellt worden.121 Stattdessen belegen die klaren Beschlussmehrheiten auf dem 72. Deutschen Juristentag, wie groß mittlerweile in den meisten Fragestellungen die inhaltlichen Übereinstimmungen sind.122 Es gibt nur noch sehr wenige wirklich umstrittene Stolpersteine, die aus dem Weg geräumt werden müssen, um zu einem sachgerechten und inhaltlich ausgewogenen Beschlussmängelrecht zu gelangen. Diese letzten Schritte sollten nicht dadurch gefährdet werden, dass die wenigen verbleibenden Unterschiede überbetont oder durch rechtspolitische Maximalforderungen Abwehrinstinkte auf politischer Seite provoziert werden.

119 Mülbert, NJW 2018, 2771. 120 Komprimierter Überblick bei J. Koch, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, 16 ff.; ausführlicher Überblick bei Homeier, Berufskläger im Aktienrecht, 2016, S. 135 ff. 121 Auch Ulrich Seibert, der sich einer großen Reform stets verwehrt hat, hat mittlerweile jedenfalls in zwei zentralen Fragen rechtspolitischen Handlungsbedarf konzediert, und zwar bei der Neufassung der Nichtigkeitsgründe (Seibert/Hartmann in FS Stilz, 2014, S. 585, 599, 600) und der Ausdehnung des Verhältnismäßigkeitsgedankens auf andere Beschlussformen (Seibert/Bulgrin in FS Marsch-Barner, 2018, S. 525 ff.). 122 In Mülberts Beitrag werden diese inhaltlichen Übereinstimmungen zum Teil dadurch verdeckt, dass er die (wenigen) Unterschiede zwischen dem Gutachtenvorschlag und dem Arbeitskreisvorschlag sehr stark in den Vordergrund stellt und die wesentlich größeren Gemeinsamkeiten nicht gleichermaßen hervorhebt. Abweichend insofern aber auch die Wahrnehmung anderer Arbeitskreismitglieder – vgl. etwa Noack, JZ 2018, 824 ff.; C. Schäfer, Der Konzern 2018, 413 ff.; ähnlicher Befund auch bei J. Lieder, NZG 2018, 1321, 1322 Fn. 7.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens – ein Beitrag zur Auslegung von §§ 90, 109 und 111 AktG Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Grenzen eines Rechts oder gar einer Pflicht zur Mitarbeiterbefragung ­angesichts der Struktur der deutschen Aktiengesellschaft 1. Schranken der Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats 2. Vorstand als Schuldner der Auskunft gem. § 90 AktG 3. Kein Recht und keine Pflicht des Aufsichtsrats zur allgemeinen Mitarbeiterbefragung aus § 109 Abs. 1 S. 2 AktG 4. Kein Recht und keine Pflicht des Aufsichtsrats zur allgemeinen Mitarbeiterbefragung aus § 111 Abs. 2 S. 2 AktG III. Besonderheiten des monistischen ­Systems 1. Mitarbeiterkontakte im monistischen System 2. Keine Übertragbarkeit auf das zweigliedrige deutsche System der AG IV. Fragwürdigkeit allgemeiner, „weicher“ Argumente für die Zulässigkeit von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern 1. Neuheit oder Modernität 2. Argumentation in Hinblick auf die Praxis bzw. ein praktisches Bedürfnis 3. Argumentation mit der Figur des ­„legal transplant“ 4. Effizienz-Argument



V. Gesellschaftsrechtliche und arbeitsrechtliche Bedeutung von Mitarbeiterkontakten und Mitarbeiterbefragung durch den Vorstand 1. Gesellschaftsrecht: Informations­ beschaffungspflicht des Vorstands im Rahmen von § 90 AktG



2. Arbeitsrecht: Weisungsbefugnis des Vorstands, nicht aber des Aufsichtsrats

VI. Keine Herleitung der Zulässigkeit von Direktkontakten aus § 84 AktG VII. Störungen des Verhältnisses Vorstand-Aufsichtsrat durch Direkt­ kontakte des Aufsichtsrats mit ­Mitarbeitern VIII. Internal Investigations und Whistle­ blowing 1. Internal Investigations 2. Whistleblowing IX. Direktkontakte des Aufsichtsrats mit leitenden Mitarbeitern und/oder Funktionsträgern des Unternehmens angesichts der Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats? 1. Überwachung der Erfüllung von ­Compliance-Pflichten des Vorstands 2. Überwachung der Zulässigkeit einer Delegation von Aufgaben X. Überdehnung der Haftung der ­Aufsichtsratsmitglieder XI. Übertragung von branchenspezifischem Sonderrecht (§ 25d KWG) in das allgemeine Aktienrecht? XII. Bedeutung des DCGK XIII. Ausnahmsweise bestehendes Recht zu Direktkontakten des Aufsichtsrats zu Mitarbeitern in Sondersituationen 1. Verweigerung jeglicher Kooperation des Vorstands mit dem Aufsichtsrat bzw. jeglicher Information des Aufsichtsrats durch den Vorstand 2. Wahrscheinlichkeit erheblicher Pflichtverletzungen der Mehrheit oder aller Vorstandsmitglieder

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3. Nachhaltige Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat

XIV. Möglichkeiten einvernehmlicher ­Lösungen zwischen Vorstand und ­Aufsichtsrat

XV. Informationsordnung als Grundlage für Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens XVI. Fazit

I. Einleitung Wie in einem Beitrag zur Festschrift für Reinhard Marsch-Barner1 kürzlich zutreffend betont wurde, ist das Problem der direkten Informationsbeschaffung von Mitarbeitern des Unternehmens seitens des Aufsichtsrats ungelöst. Hierbei geht es nicht um ein akademisches Glasperlenspiel, sondern um eine grundsätzliche Frage der Informationsordnung in der dualistisch verfassten AG.2 Eberhard Vetter – der Jubilar –3 hat dazu deutlich Stellung genommen: Mitarbeiter des Unternehmens zählen seiner Auffassung nach nicht zum Überwachungsobjekt des Aufsichtsrats, selbst wenn sie herausgehobene Positionen wie z.B. Generalbevollmächtigter, Bereichsleiter oder Direktor, bekleiden oder leitende Funktionen, etwa als Leiter einer Unternehmenssparte bei divisionaler Organisation, wahrnehmen oder an der Vorbereitung und Durchführung wichtiger unternehmerischer Entscheidungen mitwirken. Ihnen gegenüber habe, so der Jubilar, der Aufsichtsrat auch keine Ansprüche auf Berichterstattung. Auch wenn in der Praxis z.B. der Leiter der internen Revision oder der Compliance-Officer turnusgemäß in der Aufsichtsratssitzung berichten, erfolge dies – so weiter der Jubilar – typischerweise im Einvernehmen mit dem Vorstand. Es bleibe bei der Wahrnehmung der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats allein gegenüber dem Vorstand hinsichtlich Organisation, Delegation, Führung und Kontrolle (Direktionsrecht) dieser Mitarbeiter, für deren Führungsentscheidungen der Vorstand im Rahmen seiner Geschäftsführungsaufgabe gemäß §  76 AktG Verantwortung trage. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, darzulegen, warum die Ansicht des Jubilars im Gegensatz zu einer teilweise in der gesellschaftsrechtlichen Literatur4 und in der Literatur zur Compliance5 vertretenen Auffassung, dass Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens allgemein zulässig sind, zutreffend ist. 1 Drinhausen/Keinath/Waldvogel in FS Marsch-Barner, 2018, S. 159, 164. 2 So Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 145. 3 E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., 2018, Rz. 26.7. 4 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 495 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 80; Drygala in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 11 f.; Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 158 ff., 172 ff.; Roth, AG 2004, 1, 8 f.; Habersack, AG 2014, 1, 6 f.; tendenziell auch Kropff, NZG 2003, 346, 349; unklar Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 27. 5 Exemplarisch Blassl, WM 2017, 992, 996 f.; Fett/Habbe, AG 2018, 257, 263 ff.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

II. Grenzen eines Rechts oder gar einer Pflicht zur Mitarbeiterbefragung angesichts der Struktur der deutschen Aktiengesellschaft 1. Schranken der Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats Angesichts des dualistischen Systems der deutschen AG und der damit einhergehenden Trennung der Funktion des Vorstands als Leitungs- und Geschäftsführungsorgan und des Aufsichtsrats als Organ, das den Vorstand überwacht, spricht zunächst die Struktur der deutschen AG schon ohne Blick auf die einschlägigen Einzelnormen des AktG (§§ 90, 109, 111 AktG) gegen ein Recht oder gar eine Pflicht des Aufsichtsrats zum Direktkontakt mit Mitarbeitern des Unternehmens,6 es sei denn, man stellt die Funktionsfähigkeit der Regeln des deutschen AktG in Hinblick auf das dualistische System im Sinne einer „Systemkritik“ generell in Frage.7 Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten die Funktion des Aufsichtsrats weg von einer bloß passiven und nachträglich-reaktiven Kontrolle des Vorstandshandelns hin zu einer vorausschauenden, pro-aktiven und auch der Beratung des Vorstands dienenden Überwachung gewandelt.8 Im Kern bleibt es aber bei einer Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat.9 Einen Eingriff in die Geschäftsführungsbefugnisse des Vorstands schließt u.a. § 111 Abs. 4 AktG aus, worauf u.a. der Jubilar10 zutreffend hingewiesen hat. Die Pflicht und das Recht des Aufsichtsrats, nur den Vorstand zu überwachen, nicht aber überwachend in die Geschäftsführung einzugreifen und damit u.a. nicht Mitarbeiter des Unternehmens zu überwachen,11 wird bisweilen vor allem in der jüngeren Compliance-rechtlichen Literatur zu wenig beachtet.12 So ist es zwar zutreffend, dass den Aufsichtsrat – neben dem Vorstand – umfangreiche Compliance-Pflichten tref 6 Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 111 AktG Rz. 22. 7 In diese Richtung gehend Drygala in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 111 AktG Rz. 43 („entscheidende Schwachstelle des dualistischen Systems“); Drinhausen/Keinath/Waldvogel in FS Marsch-Barner, 2018, S. 159, 165 („Das AktG reflektiert eine Vorstellung von der Arbeit des Aufsichtsrats und des Vorstands, die die heute massiv gestiegenen Anforderungen der Unternehmenswirklichkeit einer AG aus dem Blick verloren hat.“); tendenziell auch schon Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 161 f. („Neugewichtung der aktienrechtlichen Systemvorgaben“). 8 Dazu E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103, 113 ff.; Lieder, ZGR 2018, 523, 524 f.; Börsig/Löbbe in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 125, 131 ff.; Seibt in FS Bergmann, 2018, S. 693, 699 f.; Drinhausen/Keinath/Waldvogel in FS Marsch-Barner, 2018, S. 159, 164 f. 9 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 85; Lieder, ZGR 2018, 523, 558; tendenziell anderes Konzept bei Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 267 ff. (Beteiligung des Aufsichtsrats an unternehmerischen Entscheidungen). 10 E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103, 116 ff. 11 Hoffmann-Becking in MünchHdb GesR, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 29 Rz. 29; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 187; insofern auch Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 25; a.A. Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 238 ff. 12 Exemplarisch Blassl, WM 2017, 992, 996.

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fen, diese beziehen sich aber – neben den auf das eigene Handeln des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder bezogenen Compliance-Pflichten – auf die Überwachung des Vorstands in Hinblick darauf, ob der Vorstand seinerseits vorstandsspezifische Pflichten erfüllt hat.13 Mithin reichen die Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats nicht so weit wie die Compliance-Pflichten des Vorstands.14 Daher geht es auch nicht an, die (direkte) Überwachung von Mitarbeitern des Unternehmens als Bestandteil der Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats anzusehen15 und hieraus die Zulässigkeit von Direktkontakten abzuleiten. Vielmehr ist die Aufklärung des Verdachts eines Mitarbeiter-Fehlverhaltens Gegenstand der Compliance-­ Pflichten des Vorstands, nur diesem gegenüber kann der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe Aufklärung verlangen.16 Die Unterscheidung zwischen Compliance-Pflichten des Vorstands und Compliance-­ Pflichten des Aufsichtsrats17 wird indessen nicht nur in Teilen der Compliance-Literatur missachtet, sondern auch von der Rechtsprechung nicht immer deutlich genug gesehen, so etwa in einer Entscheidung des LG Stuttgart vom 19.12.2017.18 Eine weitgehende oder vollständige Gleichsetzung des Umfangs der Compliance-­ Pflichten des Vorstands und der Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats führt häufig zur Statuierung angeblicher Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats im Rahmen von Compliance-Maßnahmen. Eine solche Ausweitung von Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats ist indessen fraglich und daher ist ebenfalls fraglich, ob der Aufsichtsrat im Rahmen einer derart weit verstandenen Compliance-Pflicht das Recht und die Pflicht hat, Mitarbeiter zu befragen. 2. Vorstand als Schuldner der Auskunft gem. § 90 AktG Grundnorm des Rechts und der Pflicht des Aufsichtsrats, sich zwecks Überwachung des Vorstands Informationen zu beschaffen, ist § 90 AktG. Unabhängig von der in Hinblick auf die Auslegung dieser Norm strittigen Frage, ob es sich hierbei um eine „Holschuld“ des Aufsichtsrats in Bezug auf die Informationen handelt19 oder um eine „Bringschuld“ des Vorstands, was letztlich weitgehend ein Scheinproblem oder eine Scheindiskussion sein dürfte, ergibt sich aus § 90 AktG jedenfalls im Grundsatz, dass

13 Habersack in FS Stilz, 2014, S. 191, 192 ff.; Binz/Sorg, BB 2019, 387, 393 f. 14 Kort in FS Hopt, 2010, S. 983, 997 f.; M. Arnold, ZGR 2014, 76; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 185 ff. 15 So aber Fett/Habbe, AG 2018, 257, 264 f.; zutreffend Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 225. 16 Winter in FS Hüffer, S. 2010, 1103, 1117. 17 Dazu schon E. Vetter in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 719, 732 ff.; Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1112 f.; ferner M. Arnold, ZGR 2014, 76, 85 f.; Reichert/Ott, NZG 2014, 241. 18 LG Stuttgart v. 19.12.2017 – 31 O 33/16 KfH, NZG 2018, 665; dazu Kort, NZG 2018, 641 sowie Mayer/Richter, AG 2018, 220. 19 So Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 220; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 189.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

Schuldner der Information nur der Vorstand (und seine Mitglieder) und niemand anderer ist20 und es damit auch nicht die Mitarbeiter des Unternehmens sind. Weder dem Wortlaut noch dem Telos von § 90 AktG lässt sich ein Recht oder eine Pflicht des Aufsichtsrats begründen, am Vorstand vorbei, also ohne Einvernehmen mit dem Vorstand oder gar ohne, dass der Vorstand etwas davon erfährt, Direktkontakte mit Mitarbeitern des Unternehmens aufzunehmen.21 Im Rahmen der Erfüllung seiner Informationspflichten kann der Vorstand seinerseits hingegen leitende Angestellte und Funktionsträger im Unternehmen wie etwa den (Chief) Compliance Officer anweisen, direkt dem Aufsichtsrat zu berichten.22 3. Kein Recht und keine Pflicht des Aufsichtsrats zur allgemeinen Mitarbeiterbefragung aus § 109 Abs. 1 S. 2 AktG Die Frage, ob Mitarbeiter des Unternehmens „Sachverständige“ sein können, die zur Beratung im Aufsichtsrat über einzelne Gegenstände nach § 109 Abs. 1 S. 2 AktG zugezogen werden können, ist strittig.23 Der Begriff des „Sachverständigen“ ist weit auszulegen, hierfür kommt jede Person in Betracht, die besondere Sachkunde in Hinblick auf den Beratungsgegenstand hat.24 Teilweise wird gegen die Auffassung, Arbeitnehmer des Unternehmens könnten als Sachverständige in Betracht kommen, angeführt, diese seien als Arbeitnehmer nicht unabhängig.25 Gegen diese Auffassung spricht, dass im mitbestimmten Aufsichtsrat ohnehin Arbeitnehmer des Unternehmens als Aufsichtsratsmitglieder fungieren. Gewisse Parallelen gibt es auch zwischen § 109 Abs. 1 S. 2 AktG und der Hinzuziehung von Sachverständigen zur Aufgabenwahrnehmung des Betriebsrats. § 80 Abs. 3 BetrVG wird so verstanden, dass als Sachverständige externe Dritte, durchaus aber auch Arbeitnehmer des Unternehmens in Betracht kommen können.26

20 Kort in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2015, §  90 AktG Rz.  94; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 222; Lieder, ZGR 2018, 523, 563 f.; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 86 f.; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 96. 21 Mertens/Cahn in Kölner Komm, 3. Aufl. 2010, § 90 Rz. 52; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195 f. 22 Spindler in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  109 AktG Rz.  20; Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1115; Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226, 234; Siepelt/Pütz, CCZ 2018, 78, 81. 23 Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  109 AktG Rz.  5; verneinend Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 17. 24 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36. 25 In diese Richtung gehend (entsprechend für § 111 Abs. 2 S. 2 AktG) Dreher in FS Ulmer, 2003, S. 87, 95 f.; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 97 f.; a.A. Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 223; Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226, 238. 26 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 80 Rz. 90 ff.

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Ferner können Mitarbeiter des Unternehmens als „Auskunftspersonen“ i.S. von § 109 Abs. 1 S. 2 AktG in Betracht kommen, wenn sie über bestimmte Ereignisse berichten können, insbesondere aus ihrer Tätigkeit für die AG.27 Hieraus lässt sich allerdings kein Hinweis auf ein allgemeines Recht oder eine allgemeine Pflicht des Aufsichtsrats, Kontakt mit Mitarbeitern des Unternehmens aufzunehmen, herleiten,28 denn § 109 Abs. 1 S. 2 AktG bezieht sich ersichtlich nur auf die Beratung über einzelne Gegenstände im Aufsichtsrat, nicht aber auf eine allgemeine Mitarbeiterbefragung durch den Aufsichtsrat oder einzelne seiner Mitglieder innerhalb oder außerhalb von Aufsichtsratssitzungen.29 Außerdem ergibt sich aus einer Gesamtschau von § 90 AktG und § 109 AktG, dass der Aufsichtsrat im Allgemeinen nur mit Einverständnis des Vorstands Mitarbeiter des Unternehmens als Sachverständige oder Auskunftspersonen i.S. von § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG hinzuziehen darf.30 4. Kein Recht und keine Pflicht des Aufsichtsrats zur allgemeinen Mitarbeiterbefragung aus § 111 Abs. 2 S. 2 AktG Nach § 111 Abs. 2 S. 2 AktG kann der Aufsichtsrat in Hinblick auf das Recht, Bücher und Schriften der AG einzusehen und zu prüfen (§ 111 Abs. 2 S. 1 AktG) u.a. für bestimmte Aufgaben „besondere Sachverständige“ beauftragen. Auch in Hinblick auf § 111 Abs. 2 S. 2 AktG ist strittig, inwiefern Mitarbeiter des Unternehmens als „Sachverständige“ in Betracht kommen.31 Parallele Überlegungen wie oben zu § 109 Abs. 1 S. 2 AktG sprechen durchaus dafür, dass im Einzelfall auch ein Mitarbeiter des Unternehmens als Sachverständiger i.S. von § 111 Abs. 2 S. 2 AktG in Betracht kommen mag. Jedoch bezieht sich § 111 Abs. 2 S. 2 AktG lediglich auf § 111 Abs. 2 S. 1 AktG, also auf das Einsichts- und Prüfungsrecht der Bücher und Schriften der AG, nicht aber auf die allgemeine Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats gem. § 111 Abs. 1 AktG. Daher lässt sich § 111 Abs. 2 S. 2 AktG kein Anhaltspunkt für ein Recht oder eine Pflicht

27 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 19; Spindler in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 20; Dreher in FS Ulmer, 2003, S. 87, 94. 28 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 22 und § 111 AktG Rz. 36; a.A. Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 27; Roth, AG 2004, 1, 8 und 10. 29 Insofern wie hier M. Arnold, ZGR 2014, 76, 93. 30 Spindler in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  109 AktG Rz.  22; Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, § 109 AktG Rz. 5; Israel in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 90 Rz. 15a; Hambloch-Gesinn/ Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 109 AktG Rz. 8; a.A. Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 19. 31 Dazu allg. Kropff, NZG 2003, 346, 349; für Sachverständigenqualität Korte, Die Information  des Aufsichtsrats durch die Mitarbeiter, 2009, S.  163; gegen Sachverständigenqualität von Mitarbeitern Dreher in FS Ulmer, 2003, S.  87, 94  ff.; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 93; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 97 f.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

des Aufsichtsrats entnehmen, allgemein im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe, Mitarbeiter des Unternehmens vorstandsunabhängig zu kontaktieren.32 Hinzu kommt, dass der Aufsichtsrat einen konkreten Anlass, etwa Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder für eine nicht ordnungsgemäße Information, haben muss, um sein Recht aus § 111 Abs. 2 S. 2 AktG auszuüben.33 Außerdem unterstehen die Mitarbeiter des Unternehmens im Falle ihrer Hinzuziehung nach § 111 Abs. 2 S. 2 AktG weiterhin dem Weisungsrecht des Vorstands und nicht einem Weisungsrecht des Aufsichtsrats.34

III. Besonderheiten des monistischen Systems 1. Mitarbeiterkontakte im monistischen System Befürworter der Auffassung, dass der Aufsichtsrat auch ohne Einbindung bzw. Einwilligung des Vorstands Mitarbeiter des Unternehmens kontaktieren darf, verweisen teilweise auf das monistische System, bei dem ein solches Recht bestehe.35 Zutreffend ist, dass sowohl nach dem Recht der monistischen SE als auch nach dem Gesellschaftsrecht solcher ausländischen Rechtsordnungen, die dem Board-System folgen, eine Mitarbeiterbefragung oder Mitarbeiterkontakte durch die Mitglieder des Verwaltungsrats bzw. des Boards im Rahmen von deren Aufgabenerfüllung möglich und ggf. geboten ist.36 2. Keine Übertragbarkeit auf das zweigliedrige deutsche System der AG Das Recht und ggf. die Pflicht zur Mitarbeiterbefragung sind gerade charakteristisch für das eingliedrige System. Weil die Mitglieder des (einzigen) Verwaltungsorgans auch für Leitungs- und Geschäftsführungsmaßnahmen zuständig sind, haben sie – ebenso wie der Vorstand der deutschen AG – im Rahmen dieser Aufgaben ein Recht und ggf. die Pflicht zur Mitarbeiterbefragung, zumal ihnen faktisch und teilweise rechtlich Arbeitgeberfunktion zukommt. Die Regelung der Rechte und Pflichten zur Mitarbeiterbefragung im eingliedrigen System lassen sich aber nicht auf das zweigliedrige deutsche System der AG übertragen.37 Im Gegenteil lässt sich der Regelung im 32 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 224; a.A. Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 485; Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 27. 33 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 89; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 97. 34 Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 152. 35 Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 83. 36 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 483; Roth, AG 2004, 1, 2; Theisen, ZGR 2013, 1, 22 f.; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, 219 f. und 221. 37 Börsig/Löbbe in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 125, 137 ff.; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195; Theisen, ZGR 2013, 1, 22 f.; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 111 AktG Rz. 22; a.A. Roth, AG 2004, 1, 13.

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eingliedrigen System entnehmen, dass sie Ausprägung der Besonderheiten des monistischen Systems ist. Auch gibt es durchaus in Hinblick auf das Recht und die Pflicht zur Mitarbeiterbefragung Differenzierungen innerhalb der Mitglieder des Verwaltungsrats bzw. des Boards. Diejenigen Mitglieder, denen dort eine Überwachungsfunktion zukommt, haben nicht in dem selben Maß das Recht und die Pflicht zur Mitarbeiterbefragung wie die executive directors.

IV. Fragwürdigkeit allgemeiner, „weicher“ Argumente für die Zulässig­ keit von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern 1. Neuheit oder Modernität Die Auffassung, dass Direktkontakte des Aufsichtsrats (oder seiner Mitglieder) mit Mitarbeitern des Unternehmens zulässig oder gar geboten sind, stuft sich selbst teilweise als neu oder modern ein38 und wird sogar von Skeptikern und Gegnern dieser Auffassung so oder ähnlich charakterisiert.39 Neuheit oder Modernität sind indessen kein dogmatisch tragfähiges Argument für die Auffassung, solche Direktkontakte seien zulässig oder geboten.40 Auch ist diese Auffassung gar nicht so neu, vielmehr wurde sie bereits – wenn auch nur vereinzelt – schon vor fast einem halben Jahrhundert vertreten.41 Umgekehrt gibt es auch und gerade in jüngerer und jüngster Zeit zahlreiche neue oder ihre Ansicht nach wie vor vertretende Befürworter der Auffassung, dass direkte 38 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 482 („traditionelle Interpretation des Aktiengesetzes“); Sven H. Schneider, Informationspflichten und Informationseinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S. 105 („Der moderne Aufsichtsrat …“); Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 160 („In der [noch] vorherrschenden rechtswissenschaftlichen Literatur …“); Habersack in FS Stilz, 2014, S. 191, 199 („eine im Vordringen befindliche, wenn nicht gar schon herrschende Ansicht“ …); Roth, AG 2004, 1, 9 („sich wandelnde Unternehmenskultur“) und 13 („modernes board“); Uwe H. Schneider, ZIP 2016, Beilage zu Heft 22, S. 70, 72 („… haben sich die Vorstellungen und die Praxis verändert.“); tendenziell auch Hemeling in Priester/Heppe/Westermann, Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht  – 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S.  151, 162 („überholtes Verständnis der aktienrechtlichen Bestimmungen“), allerdings das Direktkontaktrecht letztlich auf „anlassbezogene Einzelfälle“ beschränkend. 39 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39 („bisher verbreitete Ansicht“); Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36 („aktuelle Tendenzen“); Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 220 („bislang herrschende Meinung“); Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 152 („zumindest noch herrschende Meinung“); Theisen, ZGR 2013, 1, 22 („… eine im konservativen Sinne systemstabilisierende Kommentierung durch die Aktienrechtexperten erscheint … im Zeitablauf immer unwahrscheinlicher“). 40 Zutreffend Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 145: „angeblich ‚modernes‘ Verständnis der Informationsordnung der AG“. 41 Saage, DB 1973, 115, 117 f.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

Mitarbeiterkontakte des Aufsichtsrats im Grundsatz nicht zulässig oder jedenfalls nicht geboten sind.42 Eine Gegenüberstellung einer in Hinblick auf Direktkontakte herkömmlichen und einer neueren Auffassung ist also fragwürdig. 2. Argumentation in Hinblick auf die Praxis bzw. ein praktisches Bedürfnis Teilweise wird von den Befürwortern der Auffassung, dass Direktkontakte des Aufsichtsrats zulässig oder geboten sind, vorgetragen, dass derartige Direktkontakte entweder die Praxis seien oder jedenfalls ein dringendes Bedürfnis der Praxis für solche Drittkontakte bestehe.43 Was das diffizile und vielschichtige Verhältnis von Theorie (oder Wissenschaft) und Praxis betrifft, so hat Theisen44 in Bezug auf Informationsrechte des Aufsichtsrats zutreffend angemerkt, dass sich faktische, unternehmensbezogene Entwicklungen nicht zu rechtsbegründenden bzw. -abändernden Tatsachen hochstilisieren lassen. Auffällig ist, dass es in jüngerer Zeit gerade viele Praktiker sind, die sich für die Auffassung aussprechen, dass Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens im allgemeinen unzulässig sind, ohne diesen rechtlichen Befund aus praktischen Gründen zu beklagen oder eine Neuregelung de lege ferenda anzumahnen.45 3. Argumentation mit der Figur des „legal transplant“ Von den Befürwortern der Auffassung, dass Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern zulässig oder geboten sind, wird teilweise ausgesprochen, teilweise un42 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36; Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 90 Rz. 39; Bürgers in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 90 Rz. 15a; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 109 AktG Rz. 8; Link in Wachter, 3. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 27; Lieder, ZGR 2018, 523, 563 f.; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195 ff.; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., 2018, Rz. 26.7. 43 Exemplarisch Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  480  f. („Eine vorstandsunabhängige Information durch Angestellte … ist zutreffend auch in Deutschland praktisch richtig …“); Roth, AG 2004, 1, 9 („sich wandelnde Unternehmenskultur“); Uwe H. Schneider, ZIP 2016, Beilage zu Heft 22, S. 70, 72 („… haben sich die Vorstellungen und die Praxis verändert.“). 44 Theisen, ZGR 2013, 1, 10. 45 Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  90 Rz.  39; Bürgers in Bürgers/ Körber, 4. Aufl. 2017, § 90 Rz. 15a; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 144 ff.; Börsig/Löbbe in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 125, 137 f.; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 90 ff.; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195 ff.; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl., 2018, Rz.  26.7; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3.  Aufl. 2017, §  111 AktG Rz. 22; Link in Wachter, 3. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz. 27; auch schon Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 222 ff.

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ausgesprochen die Figur des „legal transplant“ zur Begründung ihrer Auffassung bemüht.46 Jedoch stützt die als solche zutreffende Charakterisierung des Phänomens, dass im angelsächsischen Rechtskreis eine Mitarbeiterbefragung durch board-Mitglieder zulässig und geboten sein mag, nicht die Argumentation, diese sei seitens des Aufsichtsrats im deutschen Aktienrecht ebenfalls zulässig und geboten.47 Es wäre gewissermaßen zirkelschlüssig, aus der Beschreibung eines Phänomens als „legal transplant“ zu schließen, dass die Transplantation in das deutsche Recht möglich oder gar zwingend ist.48 Vielmehr müsste umgekehrt dargelegt werden, warum (de lege lata) die Rechtslage in Deutschland mit derjenigen in anderen Rechtsordnungen insofern vergleichbar ist, etwa durch Analogieschlüsse, Erst-Recht-Schlüsse oder andere anerkannte Methoden der Rechtswissenschaft. Die bloße Etikettierung als legal transplant stützt diese Auffassung nicht. Sollte es sich bei der Etikettierung als legal transplant jedoch um ein rechtspolitisches Desiderat de lege ferenda handeln, so bedürfte es der Begründung, warum für das deutsche Aktienrecht ein Bedürfnis für ein solches legal transplant besteht, was indessen nicht der Fall ist. So hat Bürgers49 zutreffend darauf hingewiesen, dass das deutsche Aktienrecht in Hinblick auf die Frage der Mitarbeiterbefragung durch den Aufsichtsrat keineswegs international isoliert dasteht. 4. Effizienz-Argument In eine ähnliche Richtung wie das oben unter 2. beschriebene „Praxis“-Argument geht auch das Effizienz-Argument. Es lässt sich selbstverständlich nicht bestreiten, dass die Aufgabe des Aufsichtsrats zur Überwachung des Vorstands desto effizienter erfüllt werden kann, je mehr Informationen der Aufsichtsrat, u.a. durch direkte Mitarbeiterkontakte, hat.50 Fraglich ist aber, ob diese Form der Informationsbeschaffung durch den Aufsichtsrat rechtlich zulässig ist.51 46 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 481; Roth in FS Bergmann, 2018, S. 565, 567 ff.; Sven H. Schneider, Informationspflichten und Informationseinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S. 105; Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 192; Roth, AG 2004, 1, 2 und 13; ferner Habersack, AG 2009, 1, 6. 47 Kritisch Börsig/Löbbe in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 125, 138 („unreflektierte Übernahme von Vorstellungen aus dem angloamerikanischen Rechtsraum“); Theisen, ZGR 2013, 1, 10 („die Systemdifferenzen camouflierende, als ‚Gebot der Stunde‘ kaschierte Forderung nach einer entsprechenden Rechtsfortschreibung“); Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 111 Rz. 22. 48 Kritisch Theisen, ZGR 2013, 1, 20 („Imitationswettwerb“ statt „Innovationswettbewerb“). 49 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 207, 210. 50 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 80; Habersack, AG 2014, 1, 7; Habersack in FS Stilz, 2014, S. 191, 199. 51 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 89 f.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

Gegen ihre Zulässigkeit spricht zunächst die Gefahr der Informationsasymmetrie:52 Ließe man unbeschränkt derartige Mitarbeiterbefragungen des Aufsichtsrats zu, so bestünde die Gefahr, dass der Aufsichtsrat mehr weiß als der Vorstand. Ein solches Informationsübergewicht des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand, dem die gesamte Leitung und Geschäftsführung der AG obliegt, wäre jedoch für das Verhältnis der beiden Organe zueinander wegen des Ungleichgewichts abträglich. Auch besteht bei einer Informationsbeschaffung des Aufsichtsrats „hinter dem Rücken“ des Vorstands die Gefahr, dass der im deutschen System trotz Funktionentrennung angelegte Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit der beiden Organe „Vorstand“ und „Aufsichtsrat“ gefährdet wäre.53 Überdies bestünde bei einer Informationsbeschaffung durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder die Gefahr einer ebenfalls im deutschen Recht nicht angelegten Informationsasymmetrie innerhalb des Aufsichtsrats, also ein Informationsungleichgewicht zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Aufsichtsrats.

V. Gesellschaftsrechtliche und arbeitsrechtliche Bedeutung von Mitarbeiterkontakten und Mitarbeiterbefragung durch den Vorstand 1. Gesellschaftsrecht: Informationsbeschaffungspflicht des Vorstands im Rahmen von § 90 AktG § 90 AktG zeigt, dass es der Vorstand und nicht der Aufsichtsrat ist, der berechtigt, ggf. aber auch verpflichtet ist, im Rahmen der Informationsversorgung des Aufsichtsrats Mitarbeiter zu kontaktieren bzw. Mitarbeiter zu befragen.54 Das gilt unabhängig davon, ob man die Informationsversorgung des Aufsichtsrats als „Bringschuld“ oder als „Holschuld“ einstuft. Auch andere Rechte und Pflichten des Vorstands (außerhalb von § 90 AktG) können dem Vorstand das Recht oder die Pflicht auferlegen, Mitarbeiter zu kontaktieren oder Mitarbeiter zu befragen, so seine Leitungs- und Geschäftsführungsfunktion allgemein und seine Compliance-Pflichten insbesondere. Da der Aufsichtsrat im Allgemeinen kein Recht und keine Pflicht zur Befragung der Mitarbeiter des Unternehmens hat, besteht hingegen erst recht keine Pflicht des Vorstands, dem Aufsichtsrat bei einer vorstandsunabhängigen Erlangung von Informationen zu unterstützen und ihm gleichsam sogar zu helfen, vorstandsunabhängige Mitarbeiterkontakte herzustellen.55

52 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 226. 53 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 225 f. 54 Kort in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2015, § 90 AktG Rz. 94; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 21; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 154. 55 Theisen, ZGR 2013, 1, 10; a.A. Sven H. Schneider, Informationspflichten und Informationseinrichtungspflichten im Aktienkonzern, 2006, S. 103.

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2. Arbeitsrecht: Weisungsbefugnis des Vorstands, nicht aber des Aufsichtsrats Arbeitsrechtlich ist es der Vorstand, nicht aber der Aufsichtsrat, der gegenüber Mitarbeitern Arbeitgeberfunktion ausübt und demgemäß ein Weisungsrecht gem. §§ 611a BGB, 106 GewO hat.56 Dem Aufsichtsrat kommt hingegen trotz seiner Funktion als Organ der AG keine Arbeitgeberfunktion zu. Das spricht arbeitsrechtlich dagegen, dass Aufsichtsratsmitglieder ein Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern des Unternehmens haben. Der Aufsichtsrat kann ein eigenes arbeitsrechtliches Weisungsrecht auch nicht per Aufsichtsratsbeschluss „kreieren“.57 Mangels Weisungsrechts ist der Aufsichtsrat (und sind es seine Mitglieder) nicht befugt, Mitarbeiter zu befragen. Wegen des Fehlens des Weisungsrechts sind umgekehrt die Arbeitnehmer (einschließlich leitender Angestellter und sonstiger Mitarbeiter in Führungspositionen) ohne Einschaltung des Vorstands arbeitsrechtlich nicht verpflichtet, dem Aufsichtsrat (oder seinen Mitgliedern) Informationen zu erteilen. Auch bestünde bei einem allgemeinen Recht des Aufsichtsrats, Informationen von Arbeitnehmern zu erlangen, arbeitsrechtlich die Gefahr, dass die Arbeitnehmer in einen Loyalitätskonflikt geraten, wenn sie am Vorstand oder an ihren unmittelbar Vorgesetzten vorbei dem Aufsichtsrat (oder seinen Mitgliedern) Auskünfte geben bzw. geben müssten.58 Eine solche Information des Aufsichtsrats könnte in Konflikt mit der arbeitsrechtlichen Treuepflicht bzw. mit allgemeinen arbeitsrechtlichen Pflichten des befragten bzw. kontaktierten Arbeitnehmers kommen.59 Nicht nur gesellschaftsrechtliche, sondern auch arbeitsrechtliche Überlegungen sprechen mithin gegen ein Recht und eine Pflicht des Aufsichtsrats, Mitarbeiter zu kontaktieren oder zu befragen.

VI. Keine Herleitung der Zulässigkeit von Direktkontakten aus § 84 AktG Eine allgemeine Zulässigkeit von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern lässt sich auch nicht auf die Personalkompetenz des Aufsichtsrats gem. §  84 AktG stützen.60 Es wäre schon rechtssystematisch fragwürdig, aus dem allgemeinen Recht des Aufsichtsrats zur Bestellung, Anstellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern gem. § 84 AktG, also aus dem allgemeinen Personalkompetenz-Recht des Auf56 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 223 f.; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 94; M. Arnold/ Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 103 f.; insofern auch Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226, 234 f.; a.A. Roth, AG 2014, 1, 10. 57 A.A. Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 1.  Aufl. 2013, §  111 AktG Rz.  28; kritisch dazu M. ­Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 103 f. 58 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 226; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 102. 59 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 196. 60 So aber Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 111 AktG Rz. 27; in diese Richtung gehend auch Dreher in FS Ulmer, 2003, S. 87, 100 f.

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sichtsrats, das Recht ableiten zu wollen, Informationen auf direktem Wege von Mitarbeitern des Unternehmens zu erhalten, wenn schon diejenigen Normen des AktG, nämlich §§ 90, 109 und 111 AktG, in denen es um Rechte des Aufsichtsrats auf Information geht, keine Grundlage für ein Recht und eine Pflicht zur direkten Informationsbeschaffung gegenüber Mitarbeitern des Unternehmens stützen. Außerdem würde sich eine Herleitung eines Rechts des Aufsichtsrats zur Mitarbeiterbefragung aus der Personalkompetenz des Aufsichtsrats gem. § 84 AktG nur auf den Kreis derjenigen Mitarbeiter erstrecken können, die potentiell als Vorstandsmitglieder in Betracht kommen.61

VII. Störungen des Verhältnisses Vorstand-Aufsichtsrat durch Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern Wie bereits oben angemerkt, würde der im dualen System bestehende Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat durch Direktkontakte des Aufsichtsrats gegenüber Mitarbeitern am Vorstand vorbei in Frage gestellt.62 Das dadurch möglicherweise entstehende Informationsungleichgewicht sowie das „Schnüffeln hinter dem Rücken des Vorstands“ könnten dieses Verhältnis gefährden.63 Auch wird die ebenfalls dem dualistischen System immanente Autorität des Vorstands durch ein allgemeines Recht des Aufsichtsrats zu Direktkontakten mit Mitarbeitern untergraben.64

VIII. Internal Investigations und Whistleblowing 1. Internal Investigations In jüngerer Zeit wird vermehrt ausgeführt, der Aufsichtsrat habe ein Recht oder gar eine Pflicht, auch ohne Beteiligung des Vorstands eigenständig Internal Investigations durchzuführen.65 Hierbei wird teilweise angenommen, der Aufsichtsrat habe ein Recht und ggf. eine Pflicht, Mitarbeiter des Unternehmens, seien es nun leitende Mitarbeiter in Schlüsselfunktionen oder „einfache“ Mitarbeiter, zu überwachen oder 61 M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 99. 62 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 91; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 196 f. 63 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195. 64 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 90 Rz. 39; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 91; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 101; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197; insofern auch Hemeling in Prieter/Heppe/Westermann, Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht – 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S. 151, 162. 65 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 213 ff.; ferner Fuhrmann, NZG 2016, 881, 883; in diese Richtung gehend auch Habersack in FS Stilz, 2014, S. 191, 197 ff. sowie Stück, GmbHR 2019, 156, 157; a.A. M. Arnold, ZGR 2014, 76, 100 ff.

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etwa ein E-Mail-Screening bei Mitarbeitern jedenfalls in „Gefahrsituation“ oder bei möglichen Rechtsverstößen von Vorstandsmitgliedern durchzuführen.66 Es ist aber sehr fraglich, inwiefern der Aufsichtsrat überhaupt ein Recht oder gar eine Pflicht zur Durchführung eigener Internal Investigations im Rahmen seiner Compliance-Pflichten hat,67 wenn man unter „Internal Investigations“ nicht bloß die Ausübung der beschränkten Rechte aus §§ 109, 111 Abs. 2 AktG versteht, sondern umfangreiche Untersuchungen im Unternehmen selbst. Das Recht und die Pflicht zur Durchführung von Internal Investigations steht vielmehr dem Vorstand im Rahmen seiner Leitungs- und Geschäftsführungsaufgaben allgemein sowie seiner Pflicht aus § 91 Abs. 2 AktG (Risikofrüherkennung) und seiner Compliance-Pflichten zu. Eigene Internal Investigations des Aufsichtsrats aus eigener Initiative und ohne Beteiligung des Vorstands sind hingegen im deutschen Aktienrecht nicht angelegt. Derartige Internal Investigations durch den Aufsichtsrat sind allenfalls dann zulässig, wenn sich der Vorstand hartnäckig weigert, bei der Aufklärung möglicher Pflichtverletzungen seiner Mitglieder mitzuwirken (dazu unten XIII.). Im Übrigen aber gibt es entgegen Tendenzen in der Literatur zur Compliance keine gesellschaftsrechtliche Grundlage für Internal Investigations durch den Aufsichtsrat aus eigener Initiative. Selbst wenn man aber annehmen wollte, dass überhaupt ein Recht und ggf. eine Pflicht des Aufsichtsrats zur Durchführung von eigenen Internal Investigations bestehen würden, so umfassten dieses Recht und ggf. diese Pflicht jedenfalls nicht die Mitarbeiterbefragung ohne Einwilligung bzw. ohne Beteiligung des Vorstands.68 Wollte man im Rahmen von Internal Investigations ein Recht des Aufsichtsrats zur Mitarbeiterbefragung annehmen, würde sich überdies das Problem stellen, dass die Einzelheiten völlig unklar wären, insbesondere die Frage, welche Mitarbeiter in welchen Fällen wie zu befragen wären.69 2. Whistleblowing Nach der lex lata ist der Vorstand einer AG im Rahmen seiner Compliance-Aufgaben berechtigt, (noch) nicht aber verpflichtet, eine Whistleblower-Hotline im Unter­ nehmen einzurichten.70 Bei Beschreibung der Vorzüge einer solchen Whistleblower-­ Hotline zur Erfüllung von Compliance-Aufgaben werden allerdings vielfach die da66 So etwa Fett/Habbe, AG 2018, 257, 265; Habbe, CCZ 2019, 27, 31 f. 67 Für ein umfassendes Recht Habbe, CCZ 2019, 27; Fuhrmann, NZG 2016, 881; zurückhaltend und differenzierend Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 200  ff.; Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226, 235 f. 68 Winter in FS Hüffer, 2010, S. 1103, 1117; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 195. 69 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 199. 70 Drygala in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 111 Rz. 44; zur Pflicht zur Einrichtung eines Whistleblowing-Meldekanals s. die geplante EU-Richtlinie COM 2018/218/final sowie Wiedmann/Seyfert, CCZ 2019, 12, 16 ff.; Gerdemann, RdA 2019, 16, 19 f.

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tenschutzrechtlichen Implikationen einer Whistleblower-Hotline nicht genügend berücksichtigt. So ist es relativ schwierig, eine Whistleblower-Hotline in datenschutzrechtlich zulässiger Weise einzurichten, da sowohl die Datenschutzrechte des Whistle­ blowers selbst als auch desjenigen, über den im Rahmen des Whistleblowings berichtet wird, zu berücksichtigen sind. Der Aufsichtsrat hat hingegen nach geltendem Recht und zukünftigem (EU-)Recht kein Recht oder gar eine Pflicht zur Etablierung einer Whistleblower-Hotline.71 Daher hat er auch kein Recht, im Rahmen einer von ihm unzulässig eingerichteten Whistle­ blower-Hotline Kontakte zu Mitarbeitern des Unternehmens aufzunehmen.72 Da die Einrichtung eines Whistleblowing-Systems zur Geschäftsführung gehört und damit gemäß § 111 Abs. 4 S. 1 AktG in die Zuständigkeit des Vorstands fällt, hat der Aufsichtsrat auch kein Recht, auf die Einrichtung eines Hinweisgebersystems hinzuwirken,73 er kann das allenfalls anregen. Ferner hat der Aufsichtsrat im Allgemeinen kein Recht, an einer Whistleblower-Hotline oder an einem anderen Whistleblower-System, das der Vorstand eingerichtet hat, in der Weise teilzunehmen, dass er ohne Beteiligung des Vorstands Informationen direkt von Mitarbeitern erhält. Sehr wohl aber ist es umgekehrt möglich, dass der Vorstand seinerseits den Aufsichtsrat bei der Etablierung einer Whistleblower-Hotline oder eines sonstigen Whistle­ blower-Systems in der Weise einbindet, dass Direktkontakte, etwa des Whistle­blowers, mit dem Aufsichtsrat stattfinden. Durchgängig hat der Vorstand hierbei aber die „informationelle Oberhand“.

IX. Direktkontakte des Aufsichtsrats mit leitenden Mitarbeitern und/ oder Funktionsträgern des Unternehmens angesichts der Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats? 1. Überwachung der Erfüllung von Compliance-Pflichten des Vorstands Aus der Aufgabe des Aufsichtsrats, die Erfüllung der Compliance-Pflichten des Vorstands zu überwachen, folgt nicht, dass der Aufsichtsrat Mitarbeiter des Unternehmens in Schlüsselpositionen auch ohne Einvernehmen mit dem Vorstand kontaktieren und befragen darf, so etwa den Chief Compliance Officer oder auch andere leitende Mitarbeiter der oberen Hierarchiestufen des Unternehmens.74 Ein derartiges Recht des Aufsichtsrats besteht jedoch im Allgemeinen nicht. Hat der Aufsichtsrat (berechtigte) Zweifel an der ordnungsgemäßen Erfüllung von Compli­ 71 Lutter/Krieger/Verse in Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 251; a.A. Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 491 ff. 72 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36. 73 So aber Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 81. 74 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 99.

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ance-Pflichten durch den Vorstand, so hat er ggf. den Vorstand aufzufordern, den Chief Compliance Officer (oder sonstige Mitarbeiter der Compliance-Abteilung in entsprechenden Positionen) in Anwesenheit des Vorstands zu befragen. In Sondersituationen (konkrete Gefahr von Compliance-Verstößen des Vorstands insgesamt oder einer größeren Anzahl seiner Mitglieder) mag der Aufsichtsrat das Recht haben, den Chief Compliance Officer ohne Anwesenheit des Vorstands zu befragen. Dennoch wird auch im letztgenannten Fall der Aufsichtsrat verpflichtet sein, dem Vorstand diese geplante Befragung des Chief Compliance Officers mitzuteilen. 2. Überwachung der Zulässigkeit einer Delegation von Aufgaben Neben der Frage, ob der Chief Compliance Officer vom Aufsichtsrat kontaktiert werden darf, stellt sich getrennt davon die Frage, ob Direktkontakte des Aufsichtsrats zur Überprüfung der Zulässigkeit der Delegation von Geschäftsführungsaufgaben des Vorstands an leitende Mitarbeiter auf der Basis der allgemeinen Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats zulässig sind. Der Aufsichtsrat hat dieses Recht im Allgemeinen nicht, sondern darf nur im Fall von berechtigtem Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Delegation von Geschäftsführungsaufgaben an leitende Mitarbeiter diese leitenden Mitarbeiter in Anwesenheit des Vorstands oder bei Einverständnis des Vorstands auch ohne Anwesenheit des Vorstands befragen.

X. Überdehnung der Haftung der Aufsichtsratsmitglieder In Hinblick auf die Überwachung im Allgemeinen und die Compliance im Besonderen besteht durchgängig die Gefahr, dass das, was als Usancen der Praxis oder als Recht zur Überwachung statuiert wird, zu einer haftungsbewehrten Pflicht wird. Das gilt nicht nur für die Statuierung von Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats im Allgemeinen, sondern insbesondere auch für die Statuierung eines Rechts des Aufsichtsrats zur Mitarbeiterbefragung. Angesichts der allgemeinen Überwachungspflicht des Aufsichtsrats und von Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats würde die Statuierung eines solchen Rechts in aller Regel zu einer Pflicht des Aufsichtsrats umschlagen, im Rahmen seiner Compli­ancePflicht Mitarbeiter zu kontaktieren, da der Aufsichtsrat dann konsequent nur so seiner Aufklärungspflicht genügen könnte. Die Statuierung von Rechten des Aufsichtsrats zu Direktkontakten mit Mitarbeitern könnte insofern zur „Haftungsfalle“ gem. § 116 AktG werden.75 Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass in Hinblick auf die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats und in Hinblick auf die diesbezügliche Haftung des 75 Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter, 3.  Aufl. 2015, §  90 AktG Rz.  39; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 145; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 92 f.; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 101; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197 ff.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

Aufsichtsrats bei einer Pflichtverletzung die Business Judgment Rule gem. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG analog gilt.76 § 93 Abs. 1 S. 2 AktG verlangt für ein Eingreifen der Business Judgment Rule, dass der Aufsichtsrat auf der Grundlage angemessener Information handelt. Hält man Direktkontakte mit Mitarbeitern für allgemein zulässig, müsste man sie konsequent als „angemessene Information“ i.S. von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ansehen, so dass sich der Aufsichtsrat ohne Direktkontakte zu Arbeitnehmern nicht (mehr) auf die Business Judgment Rule berufen könnte.77 Insgesamt betrachtet führt die Statuierung der Zulässigkeit von direkten Mitarbeiterkontakten des Aufsichtsrats somit zu einer erheblichen Erweiterung der zivilrechtlichen Pflichtenstellung und damit zu einer erheblichen Erweiterung der zivilrechtlichen Haftung der Aufsichtsratsmitglieder.78 Über diese zivilrechtlichen Konsequenzen hinaus könnte die Statuierung eines Rechts und einer damit möglicherweise einhergehenden Pflicht des Aufsichtsrats zur Kontaktierung von Mitarbeitern sogar Relevanz für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder durch Garantenstellung haben.79

XI. Übertragung von branchenspezifischem Sonderrecht (§ 25d KWG) in das allgemeine Aktienrecht? Das in § 25d Abs. 8 S. 7, Abs. 9 S. 4 und Abs. 12 S. 7 KWG vorgesehene Recht des Leiters des Risikokontrollausschusses, des Prüfungsausschusses und des Vergütungskontrollausschusses bzw. bei Fehlen solcher Ausschüsse das Recht des Aufsichtsratsvorsitzenden, spezifische Funktionsträger des Unternehmens, nämlich den Leiter des Risikocontrolling bzw. den Leiter der Internen Revision bzw. den Leiter der Ver­ gütungssystem-Organisationseinheiten, unmittelbar zu befragen, ist nicht Ausdruck eines allgemeinen aktienrechtlichen Grundgedankens, sondern Element der branchenspezifischen Compliance- und Risikomanagement-Anforderungen im Bereich von Unternehmen, die dem KWG unterfallen, also im Banken- und Finanzdienstleistungssektor. Dass diese Normen nicht Ausdruck eines allgemeinen Willens des (deutschen) Gesetzgebers sind, allgemein Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern zuzulassen, zeigt sich schon daran, dass sie nur infolge der unionsrechtlichen Vorgaben der CDR-IV-Richtlinie erlassen wurden.80 Selbst diese branchenspezifischen Normen sehen keineswegs Direktkontakte des Aufsichtsrats oder seiner Mitglieder zu allen oder jedenfalls allen leitenden Mitarbeitern 76 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Lieder, ZGR 2018, 523, 525 ff.; Cahn, WM 2013, 1293. 77 Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 145; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 92 f.; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 1998 f. 78 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 199. 79 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 199. 80 Drinhausen/Keinath/Waldvogel in FS Marsch-Barner, 2018, S. 159, 164.

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des Unternehmens vor. Vielmehr wird das Recht zu Direktkontakten auf Seiten der Auskunftsberechtigten ersichtlich auf wenige Funktionsträger, nämlich die Leiter der genannten Ausschüsse, beschränkt. Nur im Falle des Fehlens dieser Ausschüsse hat der Aufsichtsratsvorsitzende ein (subsidiäres) Recht zu Direktkontakten. Ein Recht zu Direktkontakten des Aufsichtsrats selbst oder seiner gewöhnlichen Mitarbeiter wird überhaupt nicht angesprochen. Auf der Seite der Kontaktierten sind im KWG ebenfalls nur ganz spezifische Funktionsträger im Unternehmen genannt, nicht aber „gewöhnliche“ oder „gewöhnliche leitende“ Mitarbeiter. Auf beiden Seiten stehen sich somit Träger spezifischer Funktionen gleichsam „spiegelbildlich“ gegenüber. Daran zeigt sich, dass es in § 25d KWG um die sektorspezifische Erfüllung von Compliance- und Risikomanagement-Pflichten geht, nicht aber – gleichsam „exemplarisch“ für den Bankensektor geregelt – um ein allgemeines Recht zu Direktkontakten des Aufsichtsrats zu Mitarbeitern des Unternehmens. Die deutlich anders gestalteten Compliance-Anforderungen an Vorstand und Aufsichtsrat bei Aktiengesellschaften anderer als dieser Branchen, insbesondere bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften, lassen eine Übertragung der Rechtsgedanken von § 25d KWG auf das allgemeine Aktienrecht nicht zu.81 Vielmehr zeigt umgekehrt die ausdrückliche gesetzliche Regelung ganz spezifischer Mitarbeiterkontakte in § 25d KWG, dass die Zulassung solcher Mitarbeiterkontakte an der Geschäftsleitung vorbei einer gesetzlichen Grundlage bedarf, mithin eine Verallgemeinerung von § 25d KWG nicht möglich ist.82 Überdies ist zu bedenken, dass selbst diese sondergesetzlichen Regelungen im KWG nicht allgemein eine Mitarbeiterbefragung des Aufsichtsrats oder seiner Mitglieder zulassen, sondern nur besondere Fälle eines Rechts auf Direktbefragung betreffen, das überdies gar nicht dem Aufsichtsrat selbst oder seinen Mitgliedern zusteht, sondern den Leitern bestimmter Ausschüsse.83

XII. Bedeutung des DCGK Teilweise wird versucht, aus dem DCGK eine allgemeine Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat herzuleiten, die letztlich ein Recht des Aufsichtsrats zu Direktkontakten mit Mitarbeitern des Unternehmens umfasst.84 81 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 100; a.A. Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  80; offengelassen von Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 90 Rz. 44a („wird weitere Entwicklung zeigen“) und von M. Arnold, ZGR 2014, 76, 94 („bleibt abzuwarten“). 82 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197. 83 Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197. 84 Roth, AG 2014, 1, 10; Drinhausen/Keinath/Waldvogel in FS Marsch-Barner, 2018, S. 159, 165.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

Ganz abgesehen davon, dass der DCGK nur für börsennotierte Aktiengesellschaften gilt und überdies gem. § 161 AktG die (wenn auch begründungspflichtige) Möglichkeit einer Abweichung von seinen Bestimmungen besteht, können sich die Kodex-Bestimmungen nicht über die durch das dualistische System des deutschen Aktiengesetzes bedingte Funktionstrennung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und insbesondere auch nicht über die ausschließliche Zuweisung von Geschäftsführungsaufgaben an den Vorstand und nicht an den Aufsichtsrat in §§ 76 und 111 Abs. 4 AktG hinwegsetzen. Vor allem aber spricht die Entwicklung der Bestimmungen des DCGK, die sich auf die Information des Aufsichtsrats beziehen (bislang Ziffer 3.4; seit der (geplanten) Fassung 2019 Grundsatz 12), nicht für, sondern gegen eine Herleitung der Zulässigkeit von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern: War bis 2014 davon die Rede, dass die ausreichende Informationsversorgung des Aufsichtsrats gemeinsame Aufgabe von Vorstand und Aufsichtsrat sei,85 so heißt es seit 2015, die Information des Vorstands sei Aufgabe des Vorstands, der Aufsichtsrat habe jedoch sicherzustellen, dass er angemessen informiert wird. Jedenfalls sind die Bestimmungen des Kodex derartig allgemein gehalten, dass sich aus ihnen kein Recht und keine Pflicht des Aufsichtsrats oder seiner Mitglieder zur Befragung oder sonstigen Kontaktierung von Mitarbeitern des Unternehmens am Vorstand vorbei ablesen lässt.

XIII. Ausnahmsweise bestehendes Recht zu Direktkontakten des Aufsichtsrats zu Mitarbeitern in Sondersituationen Ein Recht zu Direktkontakten des Aufsichtsrats zu Mitarbeitern besteht nur in besonderen Situationen, also Ausnahmefällen.86 Auch bei solchen Ausnahmefällen ist der Vorstand bzw. der Vorstandsvorsitzende aber zu informieren (ggf. bei Gefahr der Vereitelung des Zwecks der Direktkontakte im Nachhinein).87

85 Kritisch Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 145 („zumindest missverständlich“). 86 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 36; Mertens/Cahn in Kölner Komm, 3. Aufl. 2010, § 90 Rz. 52; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Bürgers in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, §  90 Rz.  15a; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3.  Aufl. 2017, §  111 AktG Rz.  22; M. ­Arnold, ZGR 2014, 76, 91 ff.; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 101 ff.; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 199  f.; auch Hemeling in Prieter/Heppe/Westermann, Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht – 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S. 151, 162. 87 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S.  93, 103; Hemeling in Prieter/Heppe/Westermann, Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht – 10 Jahre Österberg Seminare, 2018, S. 151, 162.

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1. Verweigerung jeglicher Kooperation des Vorstands mit dem Aufsichtsrat bzw. jeglicher Information des Aufsichtsrats durch den Vorstand Wenn der Vorstand sich hartnäckig weigert, seinen Informationspflichten nach § 90 AktG nachzukommen bzw. jegliche Kooperation mit dem Aufsichtsrat generell verweigert oder falsche Auskünfte erteilt, besteht ausnahmsweise ein Recht des Aufsichtsrats zu Direktkontakten mit Mitarbeitern des Unternehmens ohne jegliches Einvernehmen des Vorstands und ohne jegliche Beteiligung des Vorstands an der Mitarbeiterbefragung.88 2. Wahrscheinlichkeit erheblicher Pflichtverletzungen der Mehrheit oder aller Vorstandsmitglieder Sollte eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehen und konkrete Anhaltspunkte gegeben sein, dass mehrere oder alle Vorstandsmitglieder sich erheblicher Pflichtverletzungen schuldig gemacht haben, können ebenfalls ausnahmsweise Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens ohne jegliches Einvernehmen mit dem Vorstand und ohne jegliche Beteiligung des Vorstands an der Mitarbeiterbefragung zulässig sein.89 Wenn hingegen die Möglichkeit von Pflichtverstößen bloß eines oder weniger Mitglieder des Vorstands in Rede steht (also nicht der Mehrheit oder aller Vorstandsmitglieder), so müssen die anderen Vorstandsmitglieder vom Aufsichtsrat im Rahmen von dessen Compliance-Pflichten befragt werden. Eine (zusätzliche) Befragung von Mitarbeitern des Unternehmens am Vorstand vorbei kommt dann nur als ultima ratio in Betracht.90 3. Nachhaltige Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat Mit den o.g. Konstellationen vergleichbar ist der (allerdings eher theoretische) Fall, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat nachhaltig gestört ist. Auch dann kann eine vorstandsunabhängige Mitarbeiterbefragung zulässig sein.91 Das gilt allerdings nur, wenn die Ursache für die Störung des Vertrauensverhältnisses im Verhalten des Vorstands und nicht im Verhalten des Aufsichtsrats liegt. Eine pflicht88 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 39; Lieder, ZGR 2018, 523, 564; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 222; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 92; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 193; Schmidt/Lutter, AktG, § 90 Rz. 3, 7. 89 Schmidt/Lutter, §  90 Rz.  37; Mertens/Cahn in Kölner Komm, 3.  Aufl. 2010, §  90 Rz.  52; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21; Link in Wachter, 3. Aufl. 2018, § 90 AktG Rz.  27; Lieder, ZGR 2018, 523, 536  f.; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 92; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 200; Reichert/Ott, NZG 2014, 241, 249 f. 90 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 92; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 102; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 200. 91 Lieder, ZGR 2018, 523, 562 und 563; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 193; M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93, 102 f.

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Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens

widrige Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat durch den Aufsichtsrat kann selbstverständlich nicht ansonsten nicht bestehende Rechte des Aufsichtsrats (hier: zur vorstandsunabhängigen Kontaktierung der Mitarbeiter) zur Folge haben.

XIV. Möglichkeiten einvernehmlicher Lösungen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat Unzweifelhaft zulässig ist ein spontanes oder ein dauerhaftes Einvernehmen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat in Hinblick auf die Frage von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens,92 etwa mit dem (Chief) Compliance Officer.93 Einvernehmliche Lösungen bieten sich insbesondere bei der Durchführung von Internal Investigations an.94 Allerdings kann sich der Vorstand auch im Rahmen solcher einvernehmlichen Lösungen nicht seiner ausschließlichen Befugnis zur Leitung und Geschäftsführung der AG entäußern. Daher ist das im Rahmen einer einvernehmlichen Lösung dem Aufsichtsrat ggf. eingeräumte Recht, vorstandsunabhängig und ohne jegliche Vorab-Information des Vorstands und ohne jegliche Beteiligung des Vorstands Mitarbeiter zu kontaktieren, auch ohne vertragliche Regelung eines solchen Widerrufsrechts durchgängig widerruflich.

XV. Informationsordnung als Grundlage für Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens Der nähere Inhalt der Berichtspflicht nach § 90 AktG kann in einer Informationsordnung festgelegt werden.95 In einer solchen Informationsordnung kann u.a. geregelt werden, dass der Aufsichtsrat Informationen auch bei Mitarbeitern des Unternehmens, etwa bei dem Vorstand unmittelbar unterstellten leitenden Angestellten, einholt.96

92 Mertens/Cahn in Kölner Komm, 3.  Aufl. 2010, §  90 Rz.  52; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 13, 44; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 111 AktG Rz. 22; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 228; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 94; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 193 f. 93 M. Arnold, ZGR 2014, 76, 99. 94 Dazu M. Arnold/Rudzio in FS Wegen, 2015, S. 93; M. Arnold, ZGR 2014, 76, 103 ff. 95 Hopt/Roth in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz. 503 ff.; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 13 und Rz. 43; Kort in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2015, § 90 AktG Rz. 33; Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  111 AktG Rz.  21; Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S.  219, 228  ff.; ­Habersack, AG 2014, 1, 7. 96 Kort in Großkomm (hrsg. von Hirte/Mülbert/Roth), 5. Aufl. 2015, § 90 AktG Rz. 35a.

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Michael Kort

Die Informationsordnung ist häufig Teil der Geschäftsordnung für den Vorstand.97 Wird der Vorstand bei der Schaffung dieser Informationsordnung nicht seinerseits beteiligt, so kann eine solche Informationsordnung freilich nicht die Rechte des Aufsichtsrats einseitig zu Lasten des Vorstands verschieben. Daher ist es im Ergebnis nicht möglich, dass der Aufsichtsrat durch eine von ihm selbst geschaffene Informationsordnung vorstandsunabhängige Direktkontakte zu Mitarbeitern auf eine zulässige Basis stellt. Vielmehr muss entweder die Informationsordnung des Aufsichtsrats eine Beteiligung des Vorstands bei der Mitarbeiterbefragung durch den Aufsichtsrat vorsehen oder aber eine vom Vorstand geschaffene Informationsordnung gleichsam als eine „Zulassung“ vorstandsunabhängiger Mitarbeiterkontakte des Aufsichtsrats durch den Vorstand98 vorsehen. Mit anderen Worten ist ohne Beteiligung des Vorstands entweder an der Informationsordnung selbst oder an der Mitarbeiterbefragung durch den Aufsichtsrat eine vorstandsunabhängige Information auch auf der Basis einer Informationsordnung nicht zulässig.99 Auch hat der Vorstand selbst dann, wenn er an der Schaffung der Informationsordnung beteiligt ist, das Recht, die Zulassung von Direktkontakten des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens zu widerrufen.100 Der Vorstand behält insofern die Lenkungsbefugnis in Hinblick auf die Mitarbeiterkontakte des Aufsichtsrats.101

XVI. Fazit Die Skepsis des Jubilars (und vieler anderer) gegenüber der allgemeinen Zulässigkeit vorstandsunabhängiger Direktkontakte des Aufsichtsrats mit Mitarbeitern des Unternehmens ist nach wie vor berechtigt.

97 Siepelt/Pütz, CCZ 2018, 78, 81. 98 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21 und § 90 AktG Rz. 1a. 99 Ähnlich Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 229. 100 Marsch-Barner in FS Schwark, 2009, S. 219, 229. 101 Ähnlich Bürgers, ZHR 179 (2015), 173, 197.

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Abführung der Aufsichtsratsvergütung durch Gewerkschaftsmitglieder Inhaltsübersicht 1. Einführung 2. Rechtsprechung und Literatur 3. Gesellschaftsrechtliche Bewertung der ­Abführungsverpflichtung a) Aktienrechtliche Ausgangs­ lage

b) Abführungspflicht als Eingriff in die Corporate Governance c) Gegenargumente 4. Verletzung des Rechts am eingerichteten Gewerbebetrieb und rechtliche Folge­ rungen

1. Einführung Mitglieder von Gewerkschaften müssen bekanntlich einen großen Teil ihrer Aufsichtsratsvergütung an ihre Gewerkschaft abführen. Grundlage dafür ist eine vom DGB-Bundesvorstand beschlossene Abführungsregelung, die in ihrer aktuellen Fassung für die Zeit seit dem Geschäftsjahr 2016 Anwendung findet.1 Danach haben gewerkschaftsangehörige Aufsichtsratsmitglieder für jedes ihrer Mandate einen Teil der jährlichen Aufsichtsratsvergütung abzuführen. Der abzuführende Anteil beläuft sich nach Ziff. II der Abführungsregelung bis zu einem bestimmten, von Zeit zu Zeit angepassten Sockelbetrag pro Mandat auf 10%, liegt die Vergütung über dem Sockelbetrag, sind von dem Mehrbetrag zusätzlich 90% abzuführen. Der Sockelbetrag beträgt derzeit für einfache Aufsichtsratsmitglieder 5.000 Euro, für stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende 7.500 Euro und für Aufsichtsratsvorsitzende 10.000 Euro. Er erhöht sich bei Ausschussmitgliedschaften um jeweils 2.500 Euro pro Ausschuss. Zusätzliche Sitzungsgelder sind bis 2.000 Euro p.a. abführungsfrei, bei höheren Beträgen greift auch für sie eine Abführungsregelung ein. Die abzuführenden Beträge sind ausschließlich an die Hans-Böckler-Stiftung oder an ähnliche gemeinnützige Einrichtungen zu überweisen, deren Unterstützungswürdigkeit vom DGB-Bundesvorstand im Einzelfall geprüft und festgestellt worden ist. Von DGB-Gewerkschaften werden nach Ziff. I der Abführungsregelung nur solche Kandidaten aufgestellt und unterstützt, die sich zuvor rechtsverbindlich verpflichtet haben, diese Abführungsregelung einzuhalten. Zusätzlich haben viele Einzelgewerkschaften die Abführungsregelung in ihrer Satzung verankert, zumeist in der Weise, dass die Satzung die Mitglieder verpflichtet, Aufsichtsratseinkünfte entsprechend einer vom jeweiligen Gewerkschaftsvorstand erlassenen Richtlinie abzuführen. Die auf

1 Abrufbar unter www.boeckler.de/pdf/foerderer_richtlinie_2016.pdf.

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dieser Basis erlassenen Richtlinien wiederum verweisen auf die Abführungsregelung des DGB-Bundesvorstands; teilweise wird diese modifiziert und ergänzt.2 Der Hans-Böckler-Stiftung fließen aufgrund dieser Abführungsverpflichtung hohe Beträge zu. Sie selbst führt auf ihrer Website aus, es komme „der Großteil der Einnahmen der Hans-Böckler-Stiftung … von Arbeitnehmervertreter/innen in Aufsichtsräten, die einen Teil ihrer Vergütungen abgeben müssen“.3 Im Jahresbericht 2017 der Hans-Böckler-Stiftung werden für das Jahr 2017 Einnahmen durch Fördererbeiträge in Höhe in Höhe von 46,5 Mio. Euro, entsprechend 60,8% der Gesamteinnahmen der Stiftung, genannt.4 Der Fördererkreis besteht aus den Aufsichtsräten, die einen Teil ihrer Vergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung abführen, daneben aus Einzelpersonen und Institutionen.5 Es kann also davon ausgegangen werden, dass mehr als die Hälfte der Gesamteinnahmen der Hans-Böckler-Stiftung aus abgeführten Aufsichtsratsvergütungen besteht. Ebenso beträchtlich ist die Abführungsverpflichtung aus der Sicht der betroffenen Aufsichtsratsmitglieder. Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende in DAX-Unternehmen erhielten im Geschäftsjahr 2016 eine durchschnittliche (Median) Gesamtvergütung von 249.000 Euro, wovon 127.500 Euro auf die Grundvergütung und der Rest auf Ausschussvergütungen und Sitzungsgelder entfielen.6 Unterstellt man für die stellvertretenden Vorsitzenden, die typischerweise Arbeitnehmervertreter sind, drei Ausschussmitgliedschaften und lässt die Sitzungsgelder außer Betracht, waren durchschnittlich 214.100 Euro abzuführen; das entspricht 86% der Gesamtvergütung. Bei einfachen Aufsichtsratsmitgliedern sind die Relationen ähnlich. Von der durchschnittlichen Gesamtvergütung von 134.000 Euro7 waren, unterstellt man die Mitgliedschaft in einem Ausschuss, 114.600 Euro (85,5%) abzuführen. In Unternehmen des M-DAX, S-DAX und Tec-DAX lagen die durchschnittlichen Vergütungen der stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden und der einfachen Aufsichtsratsmitglieder niedriger.8 Selbst einfache Aufsichtsratsmitglieder von Tec-DAX Unternehmen mit der niedrigsten durchschnittlichen Gesamtvergütung von 42.000 Euro mussten aber, unterstellt man eine Ausschussmitgliedschaft, 31.800 Euro (75,7%) ihrer Gesamtvergütung abführen. 2. Rechtsprechung und Literatur Die Frage, ob Gewerkschaftsmitglieder aufgrund der gewerkschaftlichen Abführungsregelungen wirksam verpflichtet werden, den Großteil ihrer Aufsichtsratsvergütung 2 Vgl. dazu im Einzelnen Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 12 ff. 3 www.boeckler.de/331.htm. 4 Hans-Böckler-Stiftung, Jahresbericht 2017, S. 57, abrufbar unter www.boeckler.de/pdf/Jah​ resbericht_2017/web/flipviewerxpress.html. 5 Vgl. www. boeckler.de/7.htm. 6 Goethe-Universität Frankfurt/pwc, Vergütungsstudie 2017, S. 49, abrufbar unter www.wiwi. uni-frankfurt.de/uploads/media/41813_verguetungsstudie_2017_17110_screen.pdf. 7 Goethe-Universität Frankfurt/pwc, Vergütungsstudie 2017, S. 49. 8 Zahlenangaben bei Goethe-Universität Frankfurt/pwc, Vergütungsstudie 2017, S. 55 ff.

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abzuführen, hat Rechtsprechung und Literatur – gerade auch in jüngerer Zeit – verschiedentlich beschäftigt, wobei vereins- und koalitionsrechtliche Erwägungen im Vordergrund stehen. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der Instanzgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sieht die Abfindungsverpflichtung bislang fast ausnahmslos als ohne Weiteres zulässig an.9 Das soll auch dann gelten, wenn das Gewerkschaftsmitglied ohne jede Unterstützung der Gewerkschaft in den Aufsichtsrat gewählt wurde.10 Konsequent angewandt müsste die Abführungspflicht sogar dann eingreifen, wenn das betreffende Gewerkschaftsmitglied nicht als Arbeitnehmervertreter, sondern als Anteilseignervertreter in den Aufsichtsrat gewählt wurde. Grundlage der Abführungsverpflichtung sei die jeweilige Gewerkschaftssatzung; auf die zusätzliche Verpflichtungserklärung komme es nicht an, sie sei nur eine deklaratorische Bekräftigung der bereits in der Satzung enthaltenen Abführungsverpflichtung. Es entspreche der Vereinsautonomie, jedenfalls aber der Freiheit der gewerkschaftlichen Betätigung, die durch Art. 9 GG besonders geschützt sei, dass eine Gewerkschaft solche Abführungsverpflichtungen in ihrer Satzung regeln könne.11 Das sei nach Treu und Glauben angemessen, halte der richterlichen Inhaltskontrolle stand und verstoße auch nicht ­gegen die vereinsrechtliche Pflicht zur Gleichbehandlung der Mitglieder.12 Die Zahlungsverpflichtung müsse zwar nach der Rechtsprechung des BGH zur Erhebung von Umlagen unter Vereinsmitgliedern in der Vereinssatzung nicht nur dem Grunde, sondern, zumindest in Gestalt einer Obergrenze, auch der Höhe nach bestimmt sein. Dem würden die von den Gewerkschaften getroffenen Regelungen jedoch gerecht.13 Die Einzelheiten der Abführungsverpflichtung müssten nicht in der Satzung selbst enthalten sein, sondern könnten, wie es in der Praxis jeweils geschehen ist, auch durch Richtlinien der Gewerkschaft bestimmt werden.14 Koalitionsrechtlich verstoße die Abführungsverpflichtung nicht gegen den Grundsatz, dass kein Verband zur Finanzierung des gegnerischen Verbands verpflichtet werden könne. Denn eine direkte Gegnerfinanzierung werde von den mitbestimmten Unternehmen nicht verlangt. In Betracht käme allenfalls eine mittelbare Gegnerfinanzierung, die sich aber im Grundsatz nicht von der Finanzierung der Gewerkschaften durch lohnabhängige Mitgliedsbeiträge unterscheide, deren Zulässigkeit wiederum unbestritten sei.15 9 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39; OLG Frankfurt v. 7.12.2017 − 3 U 167/14, NZG 2018, 870; OLG Stuttgart v. 5.2.2008 – 12 U 122/07, AuR 2008, 190; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533 f.; LG Frankfurt v. 27.4.2018 − 2-30 O 238/17, NZG 2018, 821; LG Stuttgart v. 27.7.2007 – 26 O 543/06, NZG 2008, 558; a.A. aber LG München I v. 17.3.2005 − 6 O 19204/04, NZG 2005, 522. 10 OLG Frankfurt v. 7.12.2017 − 3 U 167/14, NZG 2018, 870 Rz. 18. 11 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 40. 12 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 41; OLG Frankfurt v. 7.12.2017 − 3 U 167/14, NZG 2018, 870 Rz.  17  ff.; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 − 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 533 f.; LG Stuttgart v. 27.7.2007 − 26 O 543/06, NZG 2008, 558 f.; a.A. LG München I v. 17.3.2005 − 6 O 19204/04, NZG 2005, 522 f. 13 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 41 14 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 40. 15 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 42 (soweit dort nicht abgedruckt, juris Rz. 48); ebenso OLG Frankfurt v. 7.12.2017 – 3 U 167/14, NZG 2018, 870 Rz. 21.

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In der rechtswissenschaftlichen Literatur gehen die Meinungen auseinander. Während die Abführungsverpflichtung auch hier vielfach für wirksam angesehen wird,16 sind andere Stimmen kritischer. Die gewerkschaftlichen Satzungsregelungen zur Abführungspflicht halten nach Auffassung mancher Autoren der richterlichen Inhaltskontrolle nicht stand, sondern seien wegen Verstoßes gegen § 242 BGB unwirksam;17 daneben werden sie zum Teil auch wegen Verstoßes gegen die BGH-Rechtsprechung zu den Bestimmtheitsanforderungen an Satzungsregelungen über Mitgliedsbeiträge zum Verein als unwirksam angesehen.18 Soweit die Abführungsverpflichtung nicht nur auf Satzungsregelungen beruht, sondern zusätzlich einzelvertraglich vereinbart wird, wird darin zum Teil eine formnichtige Schenkung gesehen.19 Beanstandet wird auch, dass die Abführungsverpflichtung das (auch für Gewerkschaften geltende) Benachteiligungsverbot des § 26 MitbestG verletze20 und gegen das koalitionsrechtliche Verbot der Gegnerfinanzierung21 verstoße. Demgegenüber wird der Frage der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit der Abführungsverpflichtung weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Sie wird zwar in Rechtsprechung und Literatur unter dem Stichwort „Verstoß gegen § 113 AktG“ angesprochen. Die Rechtsprechung sieht gesellschaftsrechtlich jedoch kein Problem. Die Abführungsverpflichtung verstoße nicht gegen § 113 AktG, denn diese Vorschrift betreffe nur das Verhältnis zwischen der mitbestimmten AG und ihren Aufsichtsratsmitgliedern. In der Verwendung der Vergütung sei aber jedes Aufsichtsratsmitglied frei, und es sei auch nicht ersichtlich, dass aufgrund der Abführungspflicht das Aufsichtsratsmandat nicht mehr ordnungsgemäß wahrgenommen werden könne.22 In der Literatur wird die Abführungspflicht zwar unter Corporate-Goverance-Gesichtspunkten verbreitet als rechtspolitisch fragwürdig angesehen,23 gleichwohl aber als rechtswirk-

16 So insbesondere Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 21 ff. und die Autoren unten Fn. 24 17 So etwa Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, § 25 Rz. 9; Thüsing/Forst in FS v. Westphalen, 2010, S. 693, 702 ff.; Schäfer/Bachmaier, ZIP 2018, 2141, 2146 ff. 18 Schäfer/Bachmaier, ZIP 2018, 2141, 2145 f. 19 Thüsing/Forst in FS v. Westphalen, 2010, S. 693, 696 ff.; dagegen Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 36 f. 20 Rieble, AG 2016, 315, 316 f.; zustimmend Schäfer/Bachmaier, ZIP 2018, 2141, 2148. 21 So insbesondere Thüsing/Forst in FS v. Westphalen, 2010, S. 693, 711 f.; Theißen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987, S. 263; a.A. Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 21 ff. 22 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 41 f.; OLG Frankfurt v. 7.12.2017 – 3 U 167/14, NZG 2018, 870 Rz. 20; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 535. 23 Vgl. nur Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 6; Hopt/Roth, Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 13, 25 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 113 Rz. 4; Schäfer/Bachmaier, ZIP 2018, 2141, 2147 f.; Uffmann, ZfA 2018, 225, 240 ff.; Sünner, AG 2012, 265, 273.

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sam akzeptiert.24 Ob dieser gesellschaftsrechtlichen Beurteilung zu folgen ist, soll nachstehend näher beleuchtet werden. 3. Gesellschaftsrechtliche Bewertung der Abführungsverpflichtung a) Aktienrechtliche Ausgangslage Das Aktiengesetz stellt es den Gesellschaften frei, ihre Aufsichtsratsmitglieder zu vergüten oder nicht. Nach § 113 AktG „kann“ den Aufsichtsratsmitgliedern für ihre Tätigkeit eine Vergütung gewährt werden. Soll das geschehen, muss die Vergütung in der Satzung festgesetzt oder von der Hauptversammlung bewilligt werden. Sie soll in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen (§ 113 Abs. 1 Satz 1-3 AktG). § 113 Abs. 1 AktG stammt noch aus einer Zeit, in der die Aufsichtsratstätigkeit als ein mit wenig Arbeit und Verantwortung verbundenes Ehrenamt verstanden wurde. Die Vorschrift war inhaltsgleich schon in § 98 Abs. 1 AktG 1937 enthalten, und auch zu der Vorgängerregelung in § 245 HGB war anerkannt, dass eine Vergütung an die Mitglieder des Aufsichtsrats nur zu zahlen war, wenn dies in der Satzung der Gesellschaft bestimmt oder durch Hauptversammlungsbeschluss festgelegt wurde.25 Zu damaligen Zeiten wurden den Aufsichtsratsmitgliedern häufig nur die Auslagen erstattet. Angesichts der gerade in den letzten Jahrzehnten immer weiter gestiegenen zeitlichen und fachlichen Anforderungen an die Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied, der weitaus höheren Mitverantwortung, die der Aufsichtsrat nach heutigem Verständnis für das Wohlergehen des Unternehmens trägt, und seiner massiv gestiegenen Haftungsrisiken, wäre es heute jedoch kaum noch vertretbar, das Amt unvergütet zu lassen. Dementsprechend geht auch Ziff.  5.4.6 DCGK davon aus, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats eine Vergütung erhalten, und der im Oktober 2018 veröffentlichte Entwurf eines geänderten DCGK26 sieht vor, als Grundsatz 29 zu formulieren, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats eine Vergütung erhalten. Auch dass börsennotierte Gesellschaften nach dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechte-Richtlinie27 künftig gemäß § 113 Abs. 3 AktG-E verpflichtet sein sollen, alle vier Jahre die Hauptversammlung über die Vergütung der Aufsichtsratsmit24 So insbesondere Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 6; Habersack, NZG 2018, 127, 131; Hopt/Roth, Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 13, 25 f.; Hüffer/ Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 113 Rz. 2; Mertens/Cahn in Kölner Komm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 113 Rz. 58; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 7; Kremer in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 7.  Aufl. 2018, Rz. 1430; anders Schäfer/Bachmaier, ZIP 2018, 2141, 2147 f., die zwar eine eigenständige Nichtigkeit der Abführungsverpflichtung wegen Konflikts mit aktienrechtlichen Corporate Governance-Grundsätzen verneinen, diesen Konflikt aber im Rahmen der Billigkeitskontrolle berücksichtigen und zum Ergebnis kommen, die Abführungspflicht halte der Inhaltskontrolle nicht stand. 25 Vgl. nur Staub/Pinner, HGB, 12. und 13. Aufl. 1926, § 245 HGB, Anm. 2. 26 Abrufbar unter www.dcgk.de/de/konsultationen/aktuelle-konsultationen.html. 27 Abrufbar unter www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_AR​ GUS_II.html.

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glieder beschließen zu lassen und gemäß § 162 AktG-E jährlich im Vergütungsbericht auch über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder detailliert zu informieren, zeigt, wie selbstverständlich die Zahlung angemessener Aufsichtsratvergütungen heute ist. Ausnahmen mögen allenfalls bei kleinen Familiengesellschaften vorkommen. Dass hingegen Gesellschaften, die der gesetzlichen Mitbestimmung unterliegen, ihre Aufsichtsratsmitglieder unvergütet ließen, ist kaum noch vorstellbar und kann für die Praxis wohl ausgeschlossen werden. Dabei ist das Vergütungsniveau heute durchaus beachtlich. Die Vergütungsstudie 2017 der Goethe-Universität Frankfurt und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC hat für die Unternehmen des DAX, MDax, SDax und TecDax Durchschnittsgesamtvergütungen (Median) der Aufsichtsratsmitglieder von 134.000 Euro, 80.000 Euro, 45.000 Euro und 42.000 Euro ermittelt, wobei die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden im Median mit der 2,1-2,6fachen Grundvergütung der einfachen Mitglieder ­vergütet wurde; die stellvertretenden Vorsitzenden erhielten das 1,4-1,6fache.28 Wer heute das Amt des Aufsichtsratsmitglieds und die daraus folgende Arbeitsbelastung, Verantwortung und Haftung übernimmt, darf also erwarten, dafür angemessen vergütet zu werden. Entscheidet sich die Gesellschaft für die Vergütung ihrer Aufsichtsratsmitglieder, unterliegt sie der Verpflichtung zur Gleichbehandlung. Differenzierungen in der Vergütungshöhe sind nur anhand funktionsbezogener Merkmale (Vorsitz, stellvertretender Vorsitz, Ausschussmitgliedschaften) zulässig, während personenbezogene Differenzierungen ausscheiden. Insbesondere ist es der Gesellschaft verwehrt, bei der Vergütung zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern zu unterscheiden. Das ist für Gesellschaften in der Rechtsform der SE (§ 38 Abs. 1 SEBG) und für den Bereich der Montanmitbestimmung (§ § 4 Abs. 3 Montan-MitbestG, 5 Abs. 4 MitbestErgG) ausdrücklich gesetzlich geregelt, gilt aber nach allgemeiner Überzeugung auch für die Mitglieder anderer Pflicht-Aufsichtsräte. Denn alle Aufsichtsratsmitglieder, gleich von wem sie bestellt oder gewählt wurden, sind in ihren Rechten und Pflichten gleich.29 Das Gesetz differenziert an keiner Stelle hinsichtlich der Aufgaben und der Verantwortung der Anteilseigner- und der Arbeitnehmervertreter, sondern alle Aufsichtsratsmitglieder haben nach den gesetzlichen Vorschriften die gleichen Pflichten und tragen die gleiche Haftung. Das zwingt zur Gleichbehandlung auch bei den Rechten, denn wer nicht die gleichen Rechte hat, kann auch nicht die gleichen Pflichten tragen. Das betrifft auch die Vergütung.30 Von einem Aufsichtsratsmitglied, das trotz identischer Funktion und Verantwortung geringer bezahlt würde als die anderen, könnte nicht erwartet werden, dass es sein Amt mit dem gleichen Engagement versähe, und es wäre ungerecht, ihm die gleiche Verantwortung aufzuerlegen. Eine nicht funktionsbezogene Ungleichbehandlung bei der Vergütung würde sich als Diskriminierung 28 Goethe-Universität Frankfurt/pwc, Vergütungsstudie 2017, S. 49 ff. 29 Vgl. nur BGH v. 5.6.1975 − II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 330 − Bayer; BGH v. 25.2.1982 − II ZR 123/81, BGHZ 83, 106, 120 − Siemens; BGH v. 30.1.2012 − II ZB 20/11, ZIP 2012, 472, 473; aus der Literatur statt aller Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, vor § 95 Rz. 14; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 821. 30 Unbestritten statt aller Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 113 Rz. 2.

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Abführung der Aufsichtsratsvergütung durch Gewerkschaftsmitglieder

der Person darstellen und wäre mit der Gefahr verbunden, die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat zu belasten und die Motivation und das Selbstvertrauen der benachteiligten Aufsichtsratsmitglieder zu beschädigen. b) Abführungspflicht als Eingriff in die Corporate Governance Die gewerkschaftliche Abführungsverpflichtung führt dazu, dass alle Aufsichtsratsmitglieder, die einer DGB-Gewerkschaft angehören, den weitaus größten Teil ihrer Aufsichtsratsvergütung abführen müssen. Aus der Sicht des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds hat das eine massive Schlechterstellung gegenüber den nicht gewerkschaftsangehörigen Kollegen im Aufsichtsrat zur Folge. Für das einzelne Aufsichtsratsmitglied macht es im wirtschaftlichen Ergebnis keinen Unterschied, ob ihm die Gesellschaft eine geringere Vergütung zahlt, oder ob es von der Gesellschaft die gleiche Vergütung erhält wie die anderen Mitglieder des Aufsichtsrats, davon aber das allermeiste an seine Gewerkschaft abführen muss. Im Ergebnis steht sich das gewerkschaftsangehörige Aufsichtsratsmitglied bei weitem schlechter als seine nicht gewerkschaftsangehörigen Kollegen. Allerdings geht diese Schlechterstellung des Gewerkschaftsmitglieds bei seiner Aufsichtsratsvergütung nicht auf die Gesellschaft zurück, sondern auf die eigene Entscheidung zum Gewerkschaftsbeitritt. Gleichwohl ist diese wirtschaftliche Benach­ teiligung nicht nur für den jeweils Betroffenen von Relevanz, sondern auch für die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft ihren Aufsichtsratsmitgliedern eine Vergütung zahlt und in welcher Höhe sie vergütet werden, ist eine die Governance-Struktur der Gesellschaft betreffende Grundlagenentscheidung, die das Gesetz demgemäß in die Hände von Satzung und Hauptversammlung legt. Die Aktionäre sollen darüber entscheiden, ob sie ihren Aufsichtsratsmitgliedern eine unbezahlte, ehrenamtliche Tätigkeit abverlangen wollen, oder ob und in welchem Maße die Gesellschaft den Mit­ gliedern des Aufsichtsrats für die übernommene Aufgabe und Verantwortung eine Vergütung gewährt, um die Tätigkeit angemessen zu entlohnen und die Motivation für eine sorgfältige und engagierte Amtsführung zu steigern. Diese Entscheidung der Satzung oder der Hauptversammlung wird durch die gewerkschaftliche Abführungsverpflichtung unterminiert. Das Aufsichtsratsamt, das die Gesellschaft durch die von ihr getroffene Vergütungsregelung als professionelles Amt ausgestaltet hat, wird, wie es in der Literatur formuliert wurde, durch den von außen kommenden Eingriff der Gewerkschaft zum Ehrenamt umgestaltet.31 Durch die Abführungsverpflichtung mischt sich die Gewerkschaft in die Verfassungsstruktur der Gesellschaft ein, verändert die von den Aktionären gewollte und festgelegte Ausstattung des Aufsichtsratsmandats und gestaltet damit die Corporate Governance der Gesellschaft um, obwohl diese ihrem Zugriff nicht unterliegt. Eben dies ist der Grund dafür, dass die Literatur die gewerkschaftliche Abführungsregelung nahezu einhellig als jedenfalls rechtspolitisch fragwürdig ansieht.32 Eine durch Gewerkschaftssatzung oder durch eine allen 31 So die treffende Beschreibung von Rieble, AG 2016, 315, 316; aufgegriffen von Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 113 Rz. 2. 32 Vgl. oben Fn. 23.

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Gewerkschaftsmitgliedern abverlangte rechtsverbindliche Vereinbarung institutionalisierte Verpflichtung, die von den Gesellschaften gezahlte Aufsichtsratsvergütung abzuführen, ist ein massiver Eingriff in die Corporate Governance der Gesellschaft und die Entscheidung der Aktionäre über die Frage, wie sie das Aufsichtsratsmandat hinsichtlich der Vergütung ausgestalten wollen und ob sie eine angemessene Vergütung zur Motivation ihrer Aufsichtsratsmitglieder für sachgerecht ansehen. c) Gegenargumente Soweit Rechtsprechung und Literatur sich mit der Rechtmäßigkeit des geschilderten Eingriffs in die Corporate Governance-Struktur der Gesellschaft auseinandersetzen, erörtern sie dies unter der etwas schiefen Fragestellung, ob die Abführungsverpflichtung gegen § 113 AktG verstoße. Dahinter steht anscheinend bei einigen Autoren die Überlegung, dass die um den abzuführenden Betrag reduzierte Vergütung nicht mehr als „angemessene“, sondern als zu niedrige Vergütung iSv § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG anzusehen sei.33 Damit wird das eigentliche Problem jedoch etwas verdeckt. Das Angemessenheitsgebot des § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG richtet sich nur gegen eine unangemessen hohe Vergütung, das Gesetz wendet sich jedoch nicht gegen eine zu niedrige Vergütung, sondern lässt es im Gegenteil zu, von einer Aufsichtsratsvergütung ganz abzusehen. Bei den Bedenken gegen die gewerkschaftliche Abführungsregelung geht es deshalb nicht um die Angemessenheit des verbleibenden Vergütungsanteils, sondern es geht um die Einmischung Dritter in die Corporate Governance Struktur der Gesellschaft und um die Aushöhlung der ausschließlichen Kompetenz von Satzung und Hauptversammlung, über die Frage zu entscheiden, ob und ggf. in welcher Höhe sie das Aufsichtsratsamt als angemessen vergütete oder bloß ehrenamtliche Tätigkeit ausgestalten wollen. Das erste Argument, mit dem der „Verstoß gegen § 113 AktG“ in Rechtsprechung und Literatur verneint wird, geht dahin, § 113 AktG betreffe nur das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und ihren Aufsichtsratsmitgliedern. Diese seien jedoch in der Verwendung ihrer Vergütung frei und könnten daher auch Zahlungspflichten hinsichtlich der vom Unternehmen bezogenen Vergütung eingehen.34 Dieses Argument blendet aus, dass das einzelne Aufsichtsratsmitglied sich nicht in freier Entscheidung entschließt, seine Bezüge der Hans-Böckler-Stiftung zu spenden. Vielmehr betreiben die Gewerkschaften durch den Abführungsbeschluss des DGB-Bundesvorstands und seine einzelgewerkschaftliche Umsetzung eine institutionalisierte Abschöpfung der Aufsichtsratsvergütung und verändern auf diesem Wege die Corporate Governance-­ Struktur der Gesellschaften. Dass jedes Aufsichtsratsmitglied mit seinem Geld tun kann, was es will, ist so richtig wie für die Beurteilung der hier zu erörternden Fragestellung unerheblich. Dieses Argument würde allenfalls greifen, wenn es um die Frage 33 So deutlich Thüsing/Forst in FS v. Westphalen, 2010, S. 693, 708 f.; in diese Richtung auch Sura, EWiR 2018, 555, 556, der eine nähere Prüfung der Angemessenheit des Abführungsvolumens unter Corporate-Governance-Gesichtspunkten anregt. 34 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 41; OLG Frankfurt v. 7.12.2017 − 3 U 167/14, NZG 2018, 879 Rz. 20; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 − 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531, 535.

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ginge, ob sich die Abführungsverpflichtung mit einem etwaigen Vermögensschutz des Aufsichtsratsmitglieds vertrüge. Aber darum geht es gerade nicht, sondern es geht um die Corporate Governance-Struktur der Gesellschaft und ihren Schutz. In die gleiche Richtung scheint die Argumentation in einer unveröffentlichten Entscheidung des LG Frankfurt zu gehen, die von Hanau zitiert wird. Dort soll das LG Frankfurt einen Verstoß gegen § 113 AktG mit dem Argument verworfen haben, es sei „das Recht des Aufsichtsratsmitgliedes nach § 113 AktG nicht ausgehebelt, da es ihm jederzeit freistehe, seine Unterwerfung unter die Verfassung der Gewerkschaft durch Austritt zu beenden“.35 Auch hier zeigt sich wieder der durch die schiefe Formulierung der Fragestellung (Verstoß gegen § 113 AktG) vernebelte Blick auf das Problem. Es geht nicht um „das Recht des Aufsichtsratsmitglieds nach § 113 AktG“, sondern es geht um die Corporate Governance-Struktur der Gesellschaft und den Schutz ihres Selbstorganisationsrechts. Mit einem Austritt aus der Gewerkschaft kann ein Aufsichtsratsmitglied seine eigenen Interessen wahren. Die Corporate Governance der Gesellschaft wird durch dieses Recht jedoch nicht geschützt, denn die Gesellschaft hat keinen Einfluss darauf, ob das Aufsichtsratsmitglied aus der Gewerkschaft austritt oder nicht. Die Rechtsprechung verneint einen Verstoß gegen § 113 AktG mit dem weiteren Argument, es sei „nicht ersichtlich, dass aufgrund der Abführungspflicht das Aufsichtsratsmandat nicht mehr ordnungsgemäß wahrgenommen werden“ könne. Es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz und sei auch nicht dargelegt worden, „dass die ordnungsgemäße Wahrnehmung des Aufsichtsratsmandats davon abhängt, dass überhaupt eine Vergütung gezahlt wird, wie hoch diese sein muss und wie viel von dieser Vergütung das Aufsichtsratsmitglied für eigene Zwecke verwenden können muss und nicht an Dritte weitergeben braucht“.36 In die gleiche Richtung argumentiert auch Hanau, „für die Arbeitnehmerseite jedenfalls“ dürfe man sich als Motiv für gute Aufsichtsratstätigkeit nicht nur finanzielle Anreize vorstellen, sondern eine empirische Untersuchung vermittele im Gegenteil das Bild eines effizienten und erfolgreichen Einsatzes der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten.37 Aber auch da­ rum geht es nicht. Es mag sein, dass kein Erfahrungssatz existiert und auch nicht konkret dargelegt oder gar bewiesen werden kann, dass die Abführungsverpflichtung die ordnungsgemäße Wahrnehmung des Mandats beeinträchtigt, ebenso wie das allerdings umgekehrt auch nicht ausgeschlossen werden kann. Und natürlich kann man sich als Motiv für gute Aufsichtsratstätigkeit auch andere als finanzielle Anreize vorstellen, und zwar – entgegen der leichten Polemik von Hanau – unabhängig davon, welcher Seite das Aufsichtsratsmitglied angehört. Das alles ist aber nicht der Kern des Problems. Entscheidend ist nicht, ob die Wahrnehmung des Aufsichtsratsmandats 35 LG Frankfurt v. 13.5.2011 − 2-08 O 442/10, zitiert nach Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 39. 36 BAG v. 21.5.2015 − 8 AZR 956/13, AG 2016, 39, 41; ebenso OLG Frankfurt v. 7.12.2017 − 3 U 167/14, NZG 2018, 870 Rz. 20. 37 Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 41.

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tatsächlich beeinträchtigt wird oder nicht, entscheidend ist vielmehr, dass die Frage, ob und in welcher Höhe es zur Sicherstellung einer engagierten Aufsichtsratstätigkeit für erforderlich oder zweckmäßig angesehen wird, die Aufsichtsratsmitglieder zu ­vergüten, in die alleinige Entscheidungskompetenz von Satzung und Hauptversammlung fällt. Wenn die Gesellschaft die Entscheidung getroffen hat, ihre Aufsichtsratsmitglieder zu vergüten, weil sie dies für sachgerecht ansieht, dann darf diese Entscheidung über die Strukturierung des Aufsichtsratsmandats nicht von außen konterkariert werden. Ob es auch ohne Vergütung oder mit einer geringeren Vergütung getan wäre, haben weder die Gerichte noch die Gewerkschaften zu beurteilen, sondern diese ­Frage unterliegt der Entscheidungsautonomie von Satzung und Hauptversammlung. Deshalb ist es auch ohne Belang, ob die Abführungsregelung die Anreizfunktion der Vergütung und das Interesse der Aufsichtsratsmitglieder am langfristigen Unternehmenserfolg wirklich beeinträchtigt38 oder, wie Hanau meint, ganz im Gegenteil fördert.39 Auch dies zu beurteilen ist nicht Sache der Gerichte und der Gewerkschaften, sondern alleinige Kompetenz von Satzung und Hauptversammlung. Wäre das alles anders zu sehen und der mit der Abführungspflicht verbundene Eingriff in die Corporate Governance-Struktur der Gesellschaft von der Rechtsordnung gebilligt, würde sich im übrigen sogleich die Frage stellen, woraus sich dann noch das Gebot gleicher Vergütung für alle Aufsichtsratsmitglieder rechtfertigen sollte. Der Gleichbehandlungsgrundsatz soll die Funktion des Aufsichtsrats schützen und verhindern, dass im Aufsichtsrat Mitglieder minderen Rechts existieren, obwohl das Gesetz allen die gleichen Pflichten auferlegt. Wenn die Gleichbehandlung bei der Vergütung dafür keine Rolle spielte, wäre es nur konsequent, auf eine Gleichbehandlung bei der Vergütung zu verzichten und es der Gesellschaft zu gestatten, ihre Arbeitnehmervertreter nicht oder nur geringer zu vergüten. Wenn das Gesetz das aus gutem Grund nicht zulässt, sondern – im Interesse der Gesellschaft und der Funktionsfähigkeit ihres Organs Aufsichtsrat – die Gleichbehandlung aller Aufsichtsratsmitglieder verlangt, kann die Rechtsordnung es nicht hinnehmen, dass dieses Gleichbehandlungsgebot durch eine institutionalisierte gewerkschaftliche Abführungsverpflichtung im Ergebnis zunichte gemacht wird. 4. Verletzung des Rechts am eingerichteten Gewerbebetrieb und rechtliche Folgerungen a) Der Befund, dass die gewerkschaftliche Abführungsverpflichtung in die Gover­ nance-Struktur der Gesellschaft eingreift und die Vergütungsautonomie von Satzung und Hauptversammlung unterläuft, hat allerdings nicht automatisch die rechtliche Unzulässigkeit dieses Verhaltens zur Folge. Die Vorschriften des Aktiengesetzes jedenfalls begründen ein unmittelbares Verbot von außen kommender Eingriffe in die Corporate Governance der Gesellschaft nicht, und die Kompetenz- und Strukturvor38 So z.B. Thüsing/Forst, FS v. Westphalen, 2010, S.  693, 713; Habersack, NZG 2018, 2141, 2147. 39 Hanau, Die Verpflichtung zur Abführung von Aufsichtsratsvergütungen an die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 254 der Hans-Böckler-Stiftung, 2012, S. 40.

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schriften des Aktienrechts stellen auch keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dar. Der Eingriff in die Corporate Governance-Struktur der Gesellschaft stellt sich aber als rechtswidrige Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der betroffenen Gesellschaften dar, der als durch § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut anerkannt ist.40 Gegenstand dieses Rechtsschutzes ist die ungestörte rechtmäßige Betätigung und Entfaltung eines funktionierenden Betriebs im Wirtschafts­ leben.41 Dazu gehört alles, was den Betrieb in seiner Gesamtheit ausmacht, d.h. seine gesamte Organisation.42 Der mit der Abführungsverpflichtung verbundene Eingriff in die Corporate-Governance-Struktur der Gesellschaft und die Kompetenz ihrer Organe berührt daher den geschützten Gegenstand des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs. Der Eingriff erfüllt darüber hinaus das Erfordernis der Betriebsbezogenheit. Dieses Tatbestandsmerkmal stellt sicher, dass nur der unmittelbare Eingriff in den betrieblichen Tätigkeitskreis von § 823 Abs. 1 BGB erfasst wird, nicht jedoch eine bloß mittelbare Beeinträchtigung durch ein außerhalb eintretendes, mit der Wesenseigentümlichkeit des gestörten Gewerbebetriebs nicht in Beziehung stehendes Schadensereignis.43 Die Abführungsverpflichtung ist in diesem Sinne ein unmittelbar betriebsbezogener Eingriff. Zur Feststellung der Rechtswidrigkeit bedarf es bei Eingriffen in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb einer Interessen- und Güterabwägung zwischen den im Einzelfall kollidierenden Interessensphären.44 Diese Abwägung geht zu Lasten der Gewerkschaften aus. Zwar haben der DGB und seine Einzelgewerkschaften selbstverständlich ein berechtigtes Interesse an der Arbeit der Hans-Böckler-Stiftung und deren Finanzierung. Sie haben aber kein schutzwürdiges Interesse daran, sich diese Finanzierung auf Kosten der mitbestimmten Gesellschaften zu verschaffen, des eigenen finanziellen Vorteils willen die Corporate Governance-Struktur der Unternehmen zu verändern und die eigenverantwortliche Strukturentscheidung von Satzung und Hauptversammlung auszuhöhlen. Daran ändert es auch nichts, dass es den Gewerkschaften nach allgemeiner Überzeugung erlaubt ist, von ihren Mitgliedern einen (kleinen45) Prozentsatz des Arbeitseinkommens als Mitgliedsbeitrag einzufordern. Für die Rechtsprechung ist das der entscheidende Gesichtspunkt, mit dem sie zu begründen versucht, dass die erzwungene Abführung der Aufsichtsratsbezüge nicht gegen den Grundsatz verstoße, dass kein 40 Statt aller Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 823 Rz. 133 mwN. 41 BGH v. 18.3.1969 − VI ZR 204/67, NJW 1969, 1207, BAG v. 20.1.2009 − 1 AZR 515/08, NJW 2009, 1990 Rz. 24; Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 823 Rz. 134. 42 BGH v. 14.4.2005 − V ZB 16/05, NJW-RR 2005, 1175, 1177; BGH v. 24.4.1990 – VI ZR 358/89, VersR 1990, 1283; Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 823 Rz. 134. 43 BGH v. 21.4.1998 – VI ZR 196/97, BGHZ 138, 311, 317 f.; Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 823 Rz. 135. 44 BGH v. 16.12.2014 – VI ZR 39/14, ZIP 2015, 883; Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 823 Rz. 133. 45 BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 956/13, ZIP 2015, 2186, 2190 nennt einen Mitgliedsbeitrag iHv 1 % des Bruttolohns.

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Verband zur Finanzierung des gegnerischen Verbands verpflichtet werden kann.46 Diese Überlegung mag für die Bemessung des Mitgliedsbeitrags zutreffen, ist jedoch schon im Zusammenhang mit der Frage, ob die Verpflichtung zur Abführung der Aufsichtsratsvergütung sich als unzulässige Gegnerfinanzierung darstellt, nicht überzeugend, sondern verkennt, dass mit der Pflicht zur Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat und zu deren Vergütung nach Gleichbehandlungsgrundsätzen eine gesetzliche Beschäftigungs- und Vergütungspflicht geschaffen wird. Wenn man es dann den Gewerkschaften gestattet, diese Vergütung zum größten Teil abzuschöpfen, ist das letztlich nichts anderes als eine Verpflichtung, die Gewerkschaften zu finanzieren. Aber das kann dahinstehen. Jedenfalls im Zusammenhang mit dem Eingriff in den Gewerbebetrieb ist es rechtlich gänzlich unerheblich, dass die Gewerkschaften berechtigt sind, einen Teil der Arbeitsvergütung als Mitgliedsbeitrag einzufordern. Denn damit verbindet sich kein Eingriff in die Corporate Governance-­ Struktur der Gesellschaft, während das bei der massiven Abschöpfung des größten Teils der Aufsichtsratsvergütung der Fall ist. b) Erkennt man, dass die Abführungsverpflichtung ein rechtswidriger Eingriff in den Gewerbebetrieb der betroffenen Gesellschaften ist, hat das Auswirkungen auf die entsprechenden Satzungsregelungen der Gewerkschaften ebenso wie auf die den Gewerkschaftsmitgliedern zusätzlich abverlangten individuellen Abführungszusagen. Verstoßen Rechtsgeschäfte gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder die guten Sitten (§ 138 BGB), sind sie nichtig. Das gilt auch für Satzungsbestimmungen eines Vereins.47 Vereinbarungen und Satzungsregelungen, die eine unerlaubte Handlung zum Gegenstand haben, sind deshalb nichtig.48 Weder durch die Gewerkschafts­ satzung noch durch die nach der Abführungsregelung des DGB-Bundesvorstands heute verlangte individuelle Vorabverpflichtung, die Abführungsregelung einzuhalten, kann deshalb ein wirksamer Abführungsanspruch begründet werden. Daneben tritt ein weiteres. Der Verstoß gegen § 823 Abs. 1 BGB führt zu unmittelbaren Rechtsfolgen im Verhältnis zwischen den betroffenen Gesellschaften und den Gewerkschaften. Dabei mag der Schadensersatzanspruch des § 823 Abs. 1 BGB keine praktische Rolle spielen, wohl aber der mit einer Verletzung der Schutzgüter des § 823 Abs. 1 BGB außerdem verbundene Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch analog § 1004 BGB.49 Auch wenn man davon ausgeht, dass Satzungsregelungen und Vorabverpflichtungen ohnehin gemäß §§ 134, 138 BGB nichtig sind, bleibt als Beseitigungsanspruch eine Verpflichtung der Gewerkschaften, gegenüber ihren Mitgliedern klarzustellen, dass eine Pflicht zur Abführung der Aufsichtsratsvergütung nicht besteht. Der Unterlassungsanspruch richtet sich auf die Unterlassung jeglicher Schritte zur 46 BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 956/13, ZIP 2015, 2186, 2190; OLG Frankfurt v. 7.12.2017, NZG 2018, 870 Rz. 21. 47 Leuschner in MünchKomm. BGB, 8.  Aufl. 2018, §  25 Rz.  33; Erman/Westermann, BGB, 15. Aufl. 2017, § 25 Rz. 2. 48 Zur Parallele von Vereinbarungen, die die Begehung von Straftaten zum Inhalt haben, vgl. etwa Sack/Fischinger in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2017, § 138 Rz. 55; Armbrüster in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2018, § 138 Rz. 42. 49 Vgl. statt aller Palandt/Herrler, BGB, 78. Aufl. 2019, § 1004 Rz. 4.

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Abführung der Aufsichtsratsvergütung durch Gewerkschaftsmitglieder

Einforderung der Vergütungsabführung. Anspruchsgegner sind die jeweiligen Einzelgewerkschaften, nicht hingegen die Aufsichtsratsmitglieder. Ihnen ist es selbstverständlich nicht verboten, freiwillig Teile ihrer Vergütung an die Hans-Böckler-­Stiftung oder andere gemeinnützige Einrichtungen zu zahlen, die der DGB-Bundesvorstand als unterstützungswürdig festgestellt hat. Ebenso wenig ist es den Gewerkschaften verboten, ihre Mitglieder um freiwillige Abführung zu bitten. Unzulässig und unwirksam ist hingegen die Schaffung einer routinemäßigen und institutionalisierten Verpflichtung der Gewerkschaftsmitglieder, den größten Teil ihrer Aufsichtsratsvergütung abzuführen. Die Anschlussfrage, die sich dann stellt, geht dahin, ob der Vorstand einer betroffenen Gesellschaft verpflichtet ist, den Unterlassungsanspruch gegen DGB und Einzelgewerkschaften durchzusetzen. Diese Frage kann hier nicht vertieft werden, prima vista liegt es aber nahe, sie zu bejahen. Denn zu den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) gehört es, Schäden von der Gesellschaft abzuwenden.

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Interessenkonflikte im Aufsichtsrat Ein Exkurs in das österreichische Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht

I. Allgemeines

II. Inkompatibilitäten, die zu einem Tätigkeitsverbot führen 1. Die Tätigkeit als Vorstandsmitglied oder als Dienstnehmer der Gesellschaft oder eines Tochterunternehmens 2. Ausübung bestimmter politischer Mandate 3. Überschreitung der zulässigen Höchst­ anzahl von Mandaten 4. Überkreuzverflechtungen 5. Cooling-off Periode 6. Unabhängigkeit des Aufsichtsrates bei Kreditinstituten III. Interessenkonflikte, die einen richtigen Umgang erfordern 1. Tätigkeiten für Konkurrenzunter­ nehmen 2. Doppelmandate im und außerhalb des Konzerns 3. Rechtsgeschäfte von Aufsichtsratsmitgliedern mit der Gesellschaft





4. Abschluss von Rechtsgeschäften mit anderen related parties 5. Pflichtenkollisionen (andere Tätig­ keiten des AR Mitglieds) 6. Weitere Interessenkonflikte 7. Geschäftschancen – corporate ­opportunities 8. Umgang mit Interessenkonflikten 8.1. Offenlegung des Konflikts 8.2. Stimmverbote/Teilnahmeverbote/​ Infor­mationsbeschränkungen a) Stimmverbot b) Stimmenthaltung und Teilnahmeverbot c) Informationsbeschränkung 8.3. Ablehnung der Bestellung bzw. ­Amtsniederlegung 8.4. Abberufung 8.5. Verlagerung in Ausschüsse 8.6. Rechtsfolgen

I. Allgemeines Aufsichtsratsmitglieder unterliegen der organschaftlichen Treuepflicht und haben bei ihrem Handeln stets das Unternehmensinteresse als oberste Maxime zu beachten. Interessenkonflikte können dann entstehen, wenn Eigeninteressen von Aufsichtsratsmitgliedern mit ihrer Fremdinteressenwahrungspflicht für die Aktiengesellschaft kollidieren. Diese kollidierenden Eigeninteressen können sich zB bei Abschluss eines Geschäftes zwischen i) einem Aufsichtsratsmitglied und der Aktiengesellschaft als auch ii) der Aktiengesellschaft und einer anderen Gesellschaft, für die das Aufsichtsratsmitglied (zB als Vorstand oder Aufsichtsratsmitglied) tätig ist, manifestieren. Kollidierende Interessen können sich auch aus der hauptberuflichen Tätigkeit eines Aufsichtsratsmitgliedes ergeben und können auch hier zu Pflichtenkollisionen führen.

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Der österreichische Gesetzgeber sieht bestimmte Interessenkonflikte als derart gravierend an, dass er dafür Tätigkeitsverbote für das Aufsichtsratsmitglied normiert. Derartige Interessenkonflikte werden auch Inkompatibilitäten (in Deutschland auch Inhabilitäten) genannt. Niemand darf zum Beispiel in einer Aktiengesellschaft zugleich Vorstands- und Aufsichtsratsmitglied sein oder mehr als eine bestimmte Anzahl von Aufsichtsratsmandaten übernehmen oder zeitgleich Mitglied einer Bundesoder Landesregierung sein. Andere Interessenkonflikte führen nicht automatisch zu einem Tätigkeitsverbot, verpflichten aber die Aufsichtsratsmitglieder damit „richtig“ umzugehen. Ist es nicht möglich einen derartigen Interessenkonflikt durch gelindere Mittel so in den Griff zu bekommen, dass der Aktiengesellschaft kein Schaden entsteht, kann es auch hier zu einem Tätigkeitsverbot für das Aufsichtsratsmitglied ­kommen. Stehen zwei Aktiengesellschaften in Geschäftsbeziehungen, spricht grundsätzlich auch nichts dagegen, dass man in beiden Aktiengesellschaften eine Aufsichtsratsposition ausübt. Beginnen diese beiden Aktiengesellschaften einen wesentlichen Rechtsstreit oder konkurrieren sie um den Erwerb eines für sie jeweils wichtigen Unternehmens, kann in weiterer Folge eine an und für sich zulässige Doppelmandatstätigkeit aufgrund eines (im letztgenannten Beispiel evidenten) Interessenkonflikts unzulässig werden. Dieser Beitrag behandelt Interessenkonflikte eines Aufsichtsratsmitgliedes einer österreichischen Aktiengesellschaft. Zuerst werden die Interessenkonflikte dargestellt, die (immer) zu einem Tätigkeitsverbot führen (Inkompatibilitäten) und anschließend die Interessenkonflikte, bei deren Vorliegen eine Tätigkeit prinzipiell zulässig ist  – wenn damit richtig umgegangen wird. Abschließend wird dargelegt, wie mit Interessenkonflikten umzugehen ist.

II. Inkompatibilitäten, die zu einem Tätigkeitsverbot führen 1. Die Tätigkeit als Vorstandsmitglied oder als Dienstnehmer der Gesellschaft oder eines Tochterunternehmens Gemäß §§ 90 iVm 86 AktG ist es unzulässig, gleichzeitig Mitglied im Aufsichtsrat und im Vorstand derselben Gesellschaft oder einer Tochtergesellschaft zu sein. Aufsichtsratsmitglieder können auch nicht als Angestellte die Geschäfte der Gesellschaft führen.1 Diese Regelung umfasst auch Stellvertreter iSd von § 85 AktG.2 Davon ausgenommen ist das Vertretungsrecht des Aufsichtsrats, gemäß § 90 Abs. 2 AktG im Falle einer Behinderung eines Vorstandsmitgliedes auf bestimmte Zeit ein Aufsichtsratsmitglied zur Überbrückung einzusetzen. Sollte ein Ersatzmitglied für den Vorstand gemäß § 85 AktG vorhanden sein, liegt noch kein Verhinderungsfall

1 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG², § 90 Rz. 1; Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG5, § 90 Rz. 1.  2 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG², § 90 Rz. 3; Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG5, § 90 Rz. 5 f.

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Interessenkonflikte im Aufsichtsrat – Exkurs ins österreichische Gesellschaftsrecht

vor, der ein Vertretungsrecht des Aufsichtsrates rechtfertigt.3 Als Vertreter können nur jene Aufsichtsratsmitglieder bestellt werden, die Kapitalvertreter sind, weil § 110 Abs. 3 ArbVG Arbeitnehmervertreter ausdrücklich ausschließt. Das zum Vertreter bestellte Aufsichtsratsmitglied unterliegt allerdings nicht dem Wettbewerbsverbot gemäß § 79 AktG. 2. Ausübung bestimmter politischer Mandate Für bestimmte Politiker, namentlich die Mitglieder der Bundes- und Landesregierung, die Staatssekretäre, den Präsident des Nationalrates, die Obmänner der Klubs im Nationalrat und den Präsident des Rechnungshofes, ist gesetzlich vorgesehen, dass diese während ihrer Amtstätigkeit keinen Beruf mit Erwerbsabsicht ausüben dürfen. Das Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetz sieht weiters vor, dass die genannten Politiker keine Mitglieder des Vorstandes oder Aufsichtsrates einer AG oder GmbH sein dürfen. Die Ausübung solcher Funktionen in Unternehmen ist zulässig, wenn der Bund, das Land oder die Gemeinde an dem betreffenden Unternehmen beteiligt ist und es im Interesse der Gebietskörperschaften liegt, dass der betroffene Politiker die Leitung des Unternehmens innehat (§ 5 Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetz). 3. Überschreitung der zulässigen Höchstanzahl von Mandaten § 86 Abs. 2 Z 1 AktG4 sieht vor, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht sein kann, wer ua bereits in zehn Kapitalgesellschaften Aufsichtsratsmitglied ist, wobei die Tätigkeit als Vorsitzender doppelt auf diese Höchstzahl anzurechnen ist. Das Aufsichtsratsmitglied kann bis zu zehn weitere Aufsichtsratsmandate annehmen, sofern eine konzernmäßige Verbindung vorliegt. Demnach können ausnahmsweise zwanzig Aufsichtsratsmandate ausgeübt werden.5 Für börsennotierte Unternehmen sieht § 86 Abs. 4 AktG vor, dass ein Aufsichtsratsmitglied einer börsennotierten Gesellschaft nicht sein kann, wer bereits in acht börsennotierten Gesellschaften Aufsichtsratsmitglied ist, wobei die Tätigkeit als Vorsitzender doppelt auf diese Höchstzahl anzurechnen ist. Ein Konzernprivileg kommt hier nicht zur Anwendung. Die C-Regel 57 des Österreichischen Corporate Governance Kodex (ÖCGK) sieht vor, dass Aufsichtsratsmitglieder, die dem Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft 3 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG², § 90 Rz. 14; Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG5, § 90 Rz. 9. 4 Auf die Höchstzahlen sind bis zu 10 Sitze in Aufsichtsräten, in die das Mitglied gewählt oder entsandt ist, um die wirtschaftlichen Interessen des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder eines mit der Gesellschaft verbundenen oder an ihr unternehmerisch beteiligten Unternehmens (§ 189a Z 7 UGB) zu wahren, nicht anzurechnen. 5 Eckert/Schopper in Artmann/Karollus, AktG II6, § 86 Rz. 10.

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angehören, nicht mehr als vier Aufsichtsratsmandate (Aufsichtsratsvorsitze zählen doppelt) in konzernexternen Aktiengesellschaften wahrnehmen dürfen. Im Bundes-Public Corporate Governance Kodex (B-PCGK) ist in der K-Regel 11.2.1.3. geregelt, dass Mitglieder des Überwachungsorgans nicht mehr als acht Mandate in Überwachungsorganen gleichzeitig wahrnehmen dürfen, wobei die Tätigkeit als Vorsitzender doppelt auf diese Höchstzahl anzurechnen ist. Auf diese Höchstzahlen sind bis zu zehn Mandate, in die das Mitglied gewählt oder entsandt ist, um die wirtschaftlichen Interessen des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder einer konzernmäßigen Verbindung zu vertreten, nicht anzurechnen. Für Kreditinstitute, die von erheblicher Bedeutung sind,6 dürfen Aufsichtsratsmitglieder insgesamt nur eine Tätigkeit in geschäftsführender Funktion in Verbindung mit zwei Tätigkeiten als Aufsichtsratsmitglied oder insgesamt vier Funktionen als Aufsichtsratsmitglieder wahrnehmen.7 Aufsichtsratsfunktionen in derselben Gruppe, in einem institutsbezogenen Sicherungssystem oder bei Unternehmen, an denen das Kreditinstitut eine qualifizierte Beteiligung (ab 10% direkter oder indirekter Beteiligung) hält, zählen als eine Aufsichtsratsfunktion. 8 4. Überkreuzverflechtungen Gleichlautend mit der deutschen Regelung (§ 100 d AktG) sieht auch das österreichische Recht das Verbot der Überkreuzverflechtung vor (§ 86 Abs. 2 Z 3 AktG): Zum Aufsichtsratsmitglied einer Gesellschaft (A) darf nicht bestellt werden, wer bereits Vorstandsmitglied in einer anderen Gesellschaft (B) ist, wenn ein Aufsichtsrat der Gesellschaft (B) bereits Vorstandsmitglied in der Gesellschaft (A) ist. Anders als im deutschen Recht vorgesehen,9 gibt es von diesem Verbot allerdings zwei Ausnahmen: Erstens, wenn die Gesellschaften (A) und (B) konzernmäßig miteinander verbunden sind, allerdings noch nicht von einem Mutter-Tochter-Verhältnis iS von § 244 UGB auszugehen ist. Zweitens, wenn eine Gesellschaft an der anderen unternehmerisch beteiligt ist, wovon ab einer Beteiligungshöhe von 20% auszugehen ist (§ 189a Z 2 UGB).10 Zulässig ist daher eine Überkreuzverflechtung nur in Konzernen

6 Siehe § 5 Abs. 4 BWG. Ein Kreditinstitut ist von erheblicher Bedeutung, wenn seine Bilanzsumme im Durchschnitt zu den jeweiligen Stichtagen der letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre 5 Milliarden Euro erreicht oder überschritten hat; als Kreditinstitute von erheblicher Bedeutung gelten jedenfalls: (1) Kreditinstitute, die gemäß Art. 6 Abs. 4 der VO (EU) Nr.  1024/2013 nicht als weniger bedeutend gelten, beziehungsweise im Falle einer bedeutenden beaufsichtigten Gruppe gemäß Art. 2 Nr. 22 der VO (EU) Nr. 468/2014 nur das gemäß Teil 1 der VO (EU) Nr. 575/2013 konsolidierende Kreditinstitut oder (2) Kredit­ institute, die durch die FMA gemäß § 23b als Globales Systemrelevantes Institut oder gemäß § 23c als Systemrelevantes Institut eingestuft werden. 7 Egger in Laurer/M. Schütz/Kammel/Ratka, BWG4, § 28a Rz. 65. 8 § 28a Abs. 5 Z 5 BWG. 9 v. Schenck in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder4, § 1 Rz. 14. 10 Kalss/Schimka in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 2/56 mwN.

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und bei Unternehmen, die mindestens zu 20% und maximal zu 50% aneinander beteiligt sind. In allen anderen Fällen ist sie verboten.11 5. Cooling-off Periode § 86 Abs. 4 Z 2 AktG sieht vor, dass ein Aufsichtsratsmitglied in einem börsennotierten Unternehmen nicht sein kann, wer in den letzten zwei Jahren Vorstandsmitglied dieser Gesellschaft war, es sei denn, seine Wahl erfolgt auf Vorschlag von Aktionären, die mehr als 25 % der Stimmrechte an der Gesellschaft halten. Dem Aufsichtsrat darf jedoch nicht mehr als ein ehemaliges Vorstandsmitglied angehören, für das die zweijährige Frist noch nicht abgelaufen ist. § 92 Abs. 1a AktG regelt, dass ein Aufsichtsratsmitglied eines börsennotierten Unternehmens, das in den letzten zwei Jahren Vorstandsmitglied dieser Gesellschaft war, nicht zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt werden kann. Für Geschäftsleiter eines Kreditinstitutes gilt, dass erst nach Ablauf einer cooling-off Periode von zwei Jahren eine Tätigkeit als Vorsitzender des Aufsichtsrates innerhalb desselben Unternehmens aufgenommen werden darf (§ 28a Abs. 1 BWG).12 In der Lehre wird der Umstand, dass diese cooling-off Periode nur auf Aufsichtsratsvorsitzende zutreffen soll, kritisch gesehen.13 6. Unabhängigkeit des Aufsichtsrates bei Kreditinstituten Für Kreditinstitute hat sich mit der Umsetzung der EBA-Guidelines14 ein formales Unabhängigkeitskriterium für Mitglieder des Aufsichtsrates gesetzlich manifestiert. Neben den Fit & Proper Anforderungen, die alle Mitglieder des Aufsichtsrates gem. § 28a Abs. 5 BWG erfüllen müssen, haben seit 01.01.2019 ein bzw. zwei Mitglieder – je nachdem ob es sich um ein Institut von erheblicher Bedeutung15 handelt – des Aufsichtsrates unabhängig zu sein.16 Ist die nunmehr gesetzlich festgelegte Unabhängigkeit für Aufsichtsratsmitglieder bei Kreditinstituten nicht gegeben, kann die betreffende Person nicht als unabhängiges Aufsichtsratsmitglied tätig werden. 11 Kalss/Schimka in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 2/56 mwN. 12 Kalss/Schimka in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 2/51. 13 Chini in Chini/Oppitz, BWG – Bankwesengesetz – Kommentar, 2011, § 28a Rz. 1. 14 EBA/GL/2017/12, Leitlinien zur Bewertung der Eignung von Mitgliedern des Leitungsorgans und Inhabern von Schlüsselfunktionen v. 21.3.2018. 15 Siehe § 5 Abs. 4 BWG. Ein Kreditinstitut ist von erheblicher Bedeutung, wenn seine Bilanzsumme im Durchschnitt zu den jeweiligen Stichtagen der letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre 5 Milliarden Euro erreicht oder überschritten hat; als Kreditinstitute von erheblicher Bedeutung gelten jedenfalls: (1) Kreditinstitute, die gemäß Art. 6 Abs. 4 der VO (EU) Nr.  1024/2013 nicht als weniger bedeutend gelten, beziehungsweise im Falle einer bedeutenden beaufsichtigten Gruppe gemäß Art. 2 Nr. 22 der VO (EU) Nr. 468/2014 nur das gemäß Teil 1 der VO (EU) Nr. 575/2013 konsolidierende Kreditinstitut oder (2) Kredit­ institute, die durch die FMA gemäß § 23b als Globales Systemrelevantes Institut oder gemäß § 23c als Systemrelevantes Institut eingestuft werden. 16 § 28a Abs. 5a BWG.

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In § 28a Abs. 5b BWG sind entsprechend den EBA Guidelines die Kriterien festgelegt, die einer Unabhängigkeit entgegenstehen. Anders als das bisherige Verständnis zur Unabhängigkeit, liegt diese bereits dadurch nicht mehr vor, wenn das Aufsichtsratsmitglied beherrschender Anteilseigner ist oder die Interessen eines beherrschenden Anteilseigners vertritt. Genauso schädlich für die Unabhängigkeit ist es, wenn das Aufsichtsratsmitglied Angestellter eines beherrschenden Anteilseigners ist oder mit diesem eine wesentliche finanzielle oder geschäftliche Beziehung besteht. Bisher stellte es lediglich einen potentiellen Interessenkonflikt dar, wenn das Aufsichtsratsmitglied die Interessen des Mehrheitsaktionärs vertrat. Für das zweite unabhängige Aufsichtsratsmitglied gewährt §  28a Abs.  5c BWG eine widerlegbare Vermutung der fehlenden Unabhängigkeit. Folglich kann der Finanzmarktaufsicht (FMA) trotz Vorliegen eines der Unabhängigkeit widersprechenden Grundes (§  28a Abs.  5b BWG) nachgewiesen werden, „warum die Fähigkeit, ein objektives und ausgewogenes Urteil zu fällen und unabhängige, unter Berücksichtigung der Interessen aller Stakeholder, Entscheidungen zu treffen, gegeben ist“.17 Die Praxis wird noch zeigen, ob dieser Freibeweis eine tatsächliche Erleichterung darstellt.

III. Interessenkonflikte, die einen richtigen Umgang erfordern 1. Tätigkeiten für Konkurrenzunternehmen Auch wenn kein gesetzliches Konkurrenzverbot für Aufsichtsratsmitglieder vorgesehen ist, kann bei einer weiteren Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied bei einem Unternehmen, welches im Kernbereich der unternehmerischen Tätigkeit in Wettbewerb zu jenem Unternehmen steht, wo das Aufsichtsratsmitglied bereits tätig ist, uU ein Bestellungshindernis vorliegen. Daraus wird abgeleitet, dass das Aufsichtsratsmitglied die zeitlich nachfolgende Wahl zum Aufsichtsratsmitglied nicht annehmen darf bzw. bei Annahme der Wahl die Bestellung unwirksam ist.18 Der ÖCGK sieht für börsennotierte Unternehmen gemäß C-Regel 45 vor, dass Aufsichtsratsmitglieder keine Organfunktionen in anderen Gesellschaften wahrnehmen dürfen, die zum Unternehmen in Wettbewerb stehen. Anders verhält sich dies bei Konkurrenzsituationen, die im Randbereich der unternehmerischen Tätigkeit bestehen. Hier ist die Ausübung der Aufsichtsratsfunktion in beiden Unternehmen zulässig. Allerdings ist dieser Umstand bei der zeitlich späteren Wahl offenzulegen und die Hauptversammlung hat darüber zu entscheiden, ob ein Interessenkonflikt vorliegt oder nicht.19 Sollte eine ursprünglich zulässige Konkurrenzsituation, also die Ausübung von Aufsichtsratsfunktionen in Unternehmen im Randbereich der unternehmerischen Tätigkeit, nachträglich zu einer kritischen Konkurrenzsituation werden, ist das betroffene 17 FMA-Rundschreiben zur Eignungsprüfung von Geschäftsleitern, Aufsichtsratsmitgliedern und Inhabern von Schlüsselfunktionen (Fit & Proper – Rundschreiben) v. 30.8.2018, Rz. 95. 18 Feltl/Kraus, Wettbewerbsverbot für Aufsichtsratsmitglieder, wbl 2011, 67. 19 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Aufsichtsrat2, Rz. 25/ 26 ff.

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Aufsichtsratsmitglied letztendlich verpflichtet, diesen Konflikt offenzulegen und seine Funktion zurückzulegen.20 2. Doppelmandate im und außerhalb des Konzerns Doppelmandate in Konzernen sind kein Einzelfall: Aufsichtsratsmitglieder einer Muttergesellschaft üben zugleich die Vorstandsfunktion einer Tochter-AG aus. Diese Doppelbesetzung erfolgt aus verschiedenen Gründen. Unter anderem dienen sie einer effektiven Konzernorganisation, erleichtern die interne Kommunikation und helfen so nicht zuletzt strategische Entscheidungen der Muttergesellschaft in den Konzernuntergesellschaften umzusetzen. Mit anderen Worten: Doppelmandate sind ein Instrument der Konzernsteuerung.21 Die Grenzen solcher Doppelmandate zeigen sich dann, wenn die von den verschiedenen Gesellschaften verfolgten Interessen und Ziele unterschiedlich sind. Das ist für das betroffene Organ insbesondere problematisch, da das Organ den Interessen der jeweiligen Gesellschaft verpflichtet ist. Beispielsweise befindet sich ein Aufsichtsratsmitglied bei Ausübung von Doppelmandaten in einem Interessenkonflikt, wenn Investitionen bei der Tochtergesellschaft unterbleiben müssen, weil die Muttergesellschaft keine Finanzmittel zur Verfügung stellt.22 In der „Schaffgotsch“-Entscheidung des BGH23 wurde für das Aufsichtsratsmitglied festgehalten, dass sich das betroffene Aufsichtsratsmitglied ausschließlich an den Interessen der Gesellschaft zu orientieren hat, für welche es konkret tätig wird. Dh grundsätzlich ist es möglich, dass Konzerninteressen berücksichtigt werden, sofern diese mit den Interessen der Gesellschaft, für die das Aufsichtsratsmitglied konkret handelt, nicht in Widerspruch stehen.24 Durch die Ausübung von Doppelmandaten erlangt das betroffene Organ Informationen über mehrere Konzernebenen. In diesem Zusammenhang ist auf die bestehende Verschwiegenheitsverpflichtung hinzuweisen (§ 84 Abs. 1 iVm § 99 AktG), die sowohl für das Vorstandsmitglied als auch für das Aufsichtsratsmitglied Anwendung findet. Dies bedeutet, dass über vertrauliche Angaben wie zB Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse grundsätzlich Stillschweigen zu wahren ist.25 Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß § 47a AktG verbietet eigentlich ein Weitergaberecht der Informationen innerhalb des Konzerns. Bei börsennotierten Unternehmen sind zusätzlich

20 Feltl/Kraus, Wettbewerbsverbot für Aufsichtsratsmitglieder, wbl 2011, 67. 21 Kunz/Liemberger in Kalss/Frotz/Schörghofer, Handbuch für den Vorstand 2017, Rz. 15/110; Weiß, Vorstandsdoppelmandate im faktischen Konzern: Voraussetzungen, Interessenkonflikte, Anstellungsvertrag und Haftung, Compliance-Berater 4/2014, S. 97. 22 Kort in Hirte/Mülbert/Roth, AktG4, § 76 Rz. 182. 23 BGH v. 21.12.1979 – II ZR 244/78, NJW 1980, 1629. 24 Weiß, Vorstandsdoppelmandate im faktischen Konzern: Voraussetzungen, Interessenkonflikte, Anstellungsvertrag und Haftung, Compliance-Berater 4/2014, S. 99. 25 Eckert/Schopper in Artmann/Karollus, AktG II, § 99 Rz. 30.

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Geheimhaltungs- und Bekanntmachungspflichten zu beachten (Art  10 MarktmissbrauchsVO, L-Regel 71). Diese Verschwiegenheitsverpflichtung wird aufgrund der gesetzlich eingeräumten konzernbezogenen Informationsrechte (Fragerecht der Aktionäre gemäß § 118 AktG, Fragerecht des Aufsichtsrates gemäß § 95 Abs. 2 AktG, Vorlagepflichten für die Erstellung des Konzernabschlusses gemäß § 248 Abs. 3 UGB) durchbrochen. Nach herrschender Ansicht ist die Weitergabe der Informationen der abhängigen Gesellschaft an die herrschende Gesellschaft dann zulässig, wenn dies zur Wahrnehmung der Konzernleitung erforderlich ist, beispielsweise zur Sicherung der Konzernüberwachung oder zur Herstellung der konzernmäßigen Aufgaben- und Arbeitsteilung.26 Auch außerhalb des Konzerns kommen Doppelmandate regelmäßig vor: Das Aufsichtsratsmitglied ist bei zwei voneinander unabhängigen Gesellschaften tätig. Zu Interessenkonflikten kommt es dann, wenn die beiden Gesellschaften, bei welchen das Aufsichtsratsmitglied tätig ist, miteinander Geschäfte abschließen oder einen Rechtsstreit haben. Besonders heikel ist es dann, wenn die beiden Gesellschaften konkurrierend tätig sind (Pkt. III.1.). 3. Rechtsgeschäfte von Aufsichtsratsmitgliedern mit der Gesellschaft Der Abschluss von Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern bedarf gemäß § 95 Abs. 5 Z 12 AktG einer Zustimmung des Aufsichtsrates als Plenum. Die gesetzliche Regelung sieht vor, dass der Abschluss von Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern, durch die sich diese außerhalb ihrer Tätigkeit im Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft oder einem Tochterunternehmen (iSd § 189a Z 7 UGB) zu einer Leistung gegen ein nicht bloß geringfügiges Entgelt verpflichten, der Zustimmung des Aufsichtsrates vorbehalten ist. Dies gilt auch für Verträge mit Unternehmen, an denen ein Aufsichtsratsmitglied ein erhebliches wirtschaftliches Interesse hat. Durch diese Regelung sollen potenzielle Interessenkonflikte zwischen einem Aufsichtsratsmitglied und der Gesellschaft sowie der Anschein einer Befangenheit vermieden werden. Die deutsche Parallelregelung (§ 114 d AktG) sieht die Überschreitung eines bloß geringfügigen Entgeltes nicht vor, erfasst jedoch nur Tätigkeiten höherer Art, worunter Tätigkeiten mit einem Mindestmaß an geistigem Anspruch gemeint sind.27 Unter „Geschäfte“ sind Verträge aller Art, wie etwa Dienstleistungen oder Kauf- und Lieferverträge, zu verstehen.28 Nimmt man den Zweck dieser Zustimmungspflicht (potentielle Interessenkonflikte zu vermeiden) ernst, muss als Konsequenz zumindest eine analoge Anwendung auch auf Geschäfte, bei denen das Aufsichtsratsmitglied Leistungsempfänger ist, stattfinden.29 Nicht erfasst sind Leistungen, die das Aufsichts26 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 26/42. 27 Rodewig in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder4, § 8 Rz. 138. 28 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/12. 29 W. Doralt, JBl 2008, 759, 769; Fida, wbl 2006, 357.

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ratsmitglied im Zuge der Ausübung seiner Organtätigkeit ohnehin zu erbringen hat. Die Abgrenzung der Tätigkeit hat sich an dem konkreten Aufgabenbereich des jeweiligen Aufsichtsratsmitgliedes zu orientieren. Beispielsweise kann ein Aufsichtsratsmitglied, welches über juristische Fachkenntnisse verfügt, für grundlegende Entscheidungen und Leistungen, die in seine Organpflicht fallen, keine gesonderte Vergütung verlangen.30 Die Bearbeitung von Detailfragen im Tagesgeschäft des Vorstandes, sowie sonstige Beratungstätigkeiten, die eine komplexe und inhaltliche detaillierte Bearbeitung erfordern, sind von einem Aufsichtsratsmitglied nicht im Rahmen seiner gewöhnlichen Aufsichtsratstätigkeit zu erbringen (bspw die Beratung von Transkationen, Großinvestitionen etc).31 Der Abschluss des Geschäftes bedarf dann der Zustimmung des Aufsichtsrats, wenn für die Leistung des Aufsichtsratsmitgliedes ein nicht bloß geringfügiges Entgelt zu bezahlen ist. Konkret bedeutet dies, dass unentgeltliche Leistungen sowie Leistungen, die zu gewöhnlichen Bedingungen abgeschlossen werden und gleichzeitig Geschäfte des täglichen Lebens darstellen, keine Zustimmung bedürfen.32 In der Literatur werden zu den Betragsgrenzen unterschiedliche Ansichten vertreten. Teilweise wird die Betragsgrenze des § 28 Abs. 2 Z 2 BWG in der Höhe von 5.000 Euro für zustimmungsfreie Organgeschäfte herangezogen. Es empfiehlt sich, in der Praxis in der Satzung oder in der Geschäftsordnung eine Betragsgrenze zu normieren, um klar festzulegen, wann eine Zustimmung des Aufsichtsrates erforderlich ist.33 Um eine Umgehung der Zustimmungspflicht durch Dazwischenschalten eines weiteren Rechtsträgers, (der anstelle des Aufsichtsratsmitgliedes das Geschäft tätigt; der Vorteil aber letztlich dem Aufsichtsratsmitglied zukommt) zu vermeiden, besteht eine Zustimmungspflicht des Aufsichtsrates auch dann, wenn das Geschäft mit einem Unternehmen abgeschlossen wird, an dem das Aufsichtsratsmitglied ein erhebliches wirtschaftliches Interesse hat. Ein erhebliches wirtschaftliches Interesse ist vorrangig an der Beteiligungshöhe zu definieren und wird bei einer Beteiligung von mindestens 20% angenommen.34 Das wirtschaftliche Interesse kann sich jedoch nicht nur durch eine Beteiligung von dem jeweiligen Unternehmen ergeben, sondern auch durch eine Organfunktion in diesem Unternehmen. Die alleinige Ausübung einer Organfunktion in einem Unternehmen führt nicht per se zu einem Interessenkonflikt. Entscheidend ist, ob ein wesentlicher wirtschaftlicher Vorteil für den Organträger in der betroffenen Gesellschaft mit dem Geschäftsabschluss verbunden ist; nur dann wäre von einer Befangenheit des Aufsichtsratsmitgliedes auszugehen. Davon wird in den meis30 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/14 mwN. 31 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz.  13/17  ff.; Rodewig in Semler/​ v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder4, § 8 Rz. 139 ff. 32 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/22, Ch. Nowotny, RdW, 2005, 658. 33 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2, § 95 Rz. 121; Kutschera, GesRZ, 2011, 148. 34 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/27.

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ten Fällen auszugehen sein, wenn das Aufsichtsratsmitglied auch eine Vorstandsposition im betroffenen Unternehmen bekleidet. Für eine unbezahlte Vorstandsfunktion in Vereinen kann diese Annahme nicht unreflektiert übernommen werden, weil hier typischerweise kein gleiches wirtschaftliches Interesse des Vorstandes beim Geschäftsabschluss besteht, wie für den im Normalfall bezahlten und vom Unternehmenserfolg abhängig vergüteten Vorstand einer Kapitalgesellschaft. Im Einzelfall kann sich die Situation jedoch anders darstellen.35 Praktisch bedeutsam ist der Fall von Wirtschaftstreuhändern oder Rechtsanwälten als Aufsichtsratsmitglieder, wenn mit der jeweiligen Kanzlei ein Beratungsvertrag abgeschlossen wird, in dem das Aufsichtsratsmitglied beschäftigt oder Partner ist und die Mandatierung dem Aufsichtsratsmitglied zu einem finanziellen Vorteil gereicht.36 Von der Zustimmungspflicht sind auch jene Geschäfte erfasst, die das Aufsichtsratsmitglied mit Tochtergesellschaften der Gesellschaft abschließt (Tochterunternehmen iSd § 189a UGB). 4. Abschluss von Rechtsgeschäften mit anderen related parties Die Abgrenzung des Begriffs „related parties“ ergibt sich aus IAS 24.9. bis IAS 24.12.37 Als nahestehend gelten insbesondere Personen oder Familienangehörige der Personen, die einen beherrschenden oder zumindest maßgeblichen Einfluss auf das Unternehmen, mit welchem ein Geschäft abgeschlossen werden soll, haben oder die eine Schlüsselposition in diesem Unternehmen oder dem Mutterunternehmen innehaben. Die Aktionärsrechte-Richtlinie (EU) 2017/82838 regelt die Transparenz von und Zustimmung zu Geschäften mit nahestehenden Unternehmen oder Personen in ihrem Artikel 9c. Die Umsetzungsfrist endet am 10. Juni 2019; mit einem endgültigen Umsetzungsvorschlag39 für Österreich ist wohl bald zu rechnen. Inhaltlich sollen wesentliche Geschäfte mit nahestehenden Unternehmen und Personen veröffentlicht werden.40 Darüber hinaus muss die Hauptversammlung oder der Aufsichtsrat wesentlichen Geschäften zustimmen – welches Organ, ist im nationalen Recht festzulegen.41 Die Mitgliedstaaten haben die Schwellenwerte für diese „wesentlichen“ Transaktionen festzulegen.42

35 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/28 f. 36 Kalss in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 13/29. 37 In Europäisches Recht implementiert mit der VO (EG) Nr. 1606/2002. 38 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre. 39 Zum Zeitpunkt der Abgabe dieses Beitrags war noch kein Ministerialentwurf verfügbar. 40 Aktionärsrechte-Richtlinie (EU) 2017/828, Art. 9c Abs. 2. 41 Aktionärsrechte-Richtlinie (EU) 2017/828, Art. 9c Abs. 4. 42 Aktionärsrechte-Richtlinie (EU) 2017/828, Art. 9c Abs. 1.

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Ausgenommen von der Veröffentlichungs- und Genehmigungspflicht sind Geschäfte, die im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen getätigt werden. Allerdings ist ein internes Bewertungsverfahren verpflichtend vorgesehen, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um ein ordentliches und marktübliches Geschäft handelt. Von der Veröffentlichungs- und Genehmigungspflicht können Geschäftsarten mit nahestehenden Unternehmen und Personen von den Mitgliedstaaten ausgenommen werden. Wenngleich Geschäfte der Gesellschaft mit Familienmitgliedern des Aufsichtsratsmitgliedes aufgrund Art 9c der Aktionärsrichtlinie genehmigungspflichtig sind, stellt sich die Frage, wie nach aktueller österreichischer Rechtslage mit solchen Geschäften umzugehen ist. Geschäfte von Familienangehörigen des Aufsichtsratsmitgliedes mit der Gesellschaft stellen zumindest einen potenziellen Interessenkonflikt dar. Gesetzlich sind solche Interessenkonflikte nicht verboten, jedoch müssen diese entsprechend bewältigt werden.43 Ob ein solcher Interessenkonflikt nach aktueller Rechtslage zustimmungspflichtig wäre, ist nicht abschließend geklärt. Sinnvollerweise könnten solche Zustimmungspflichten in die Geschäftsordnung des Aufsichtsrates aufgenommen werden. Für Kreditinstitute sieht § 28 BWG vor, dass der Abschluss von Rechtsgeschäften mit Geschäftsleitern, Mitgliedern des Aufsichtsrates, gesetzlichen Vertretern und leitenden Angestellten in vom Kreditinstitut beherrschten und herrschenden Unternehmen, sowie Ehegatten, Lebensgefährten, Kindern oder Dritten, die für Rechnung der genannten Personen handeln, nur auf Grund eines einstimmigen Beschlusses aller Geschäftsleiter und mit Zustimmung des Aufsichtsrates oder des sonst nach Gesetz oder Satzung zuständigen Aufsichtsorgans zulässig ist.44 Den jeweils Betroffenen steht kein Stimmrecht zu. Diese Norm umfasst – um Umgehungshandlungen zu vermeiden – sowohl direkte als auch indirekte Rechtsgeschäfte sowie Rechtsgeschäfte, die über Treuhänder abgewickelt werden. Vor ausufernder analoger Anwendung wird aber gewarnt: So werden zB gute Freunde des Organs Angehörigen nicht gleichgehalten und die Arbeitnehmerkreditregelungen nicht auf Lebensgefährten von Arbeitnehmern ausgeweitet.45 Schließt ein Aufsichtsratsmitglied zulässigerweise mit einem Aktionär, einem Lieferanten oder dem Vorstand ein für das Aufsichtsratsmitglied wirtschaftlich besonders vorteilhaftes Geschäft ab, kann es ebenfalls zu einem Interessenkonflikt kommen, 43 Kalss, Interessenkonflikte bei Geschäften von Aufsichtsratsmitgliedern mit ihrer Gesellschaft, ecolex 2009, 923.  44 In § 28 Abs. 2 werden jene Rechtgeschäfte genannt, die keiner Beschlussfassung und Zustimmung unterliegen, das sind (i) Kredite und Vorschüsse, deren Gesamtausmaß ein Viertel des Jahresbezuges nicht übersteigt; (ii) andere Rechtsgeschäfte, bei denen das angemessene Entgelt ein Viertel des Jahresbezuges nicht übersteigt oder weniger als 5.000 Euro beträgt, (iii) Dauerschuldverhältnisse, bei denen das angemessene Entgelt jährlich kapitalisiert ein Viertel des Jahresbezuges nicht übersteigt, sowie (iv) Bankgeschäfte des täglichen Lebens zu marktüblichen Bedingungen. 45 Dellinger/Puhm in Dellinger, Bankwesengesetz, § 28 Rz. 5 und Rz. 44.

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wenn dadurch das Aufsichtsratsmitglied bei einem künftigen Aufsichtsratsbeschluss die Interessen des Vertragspartners berücksichtigen soll. Ein solcher Interessenkonflikt ist gesetzlich nicht verboten, sollte aber gemäß Punkt 8. bewältigt werden.46 5. Pflichtenkollisionen (andere Tätigkeiten des AR Mitglieds) Von einer Pflichtenkollision spricht man dann, wenn das Aufsichtsratsmitglied beispielsweise auf Grund einer Doppelorganschaft (Pkt. III.2.) oder auch auf Grund einer anderen Tätigkeit zwei widerstreitenden Interessen gerecht werden soll und die Erfüllung der einen Pflicht gleichzeitig einen Verstoß gegen die andere zur Folge hat. Die andere Tätigkeit wird sehr oft die Haupttätigkeit des Aufsichtsratsmitgliedes sein, da die Aufsichtsratstätigkeit üblicherweise nur eine Nebentätigkeit ist. Oft sind Rechtsanwälte neben ihrer Haupttätigkeit als Aufsichtsräte tätig und können in diesem Zusammenhang vor allem wegen ihren gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten in Pflichtenkollisionen kommen.47 Wenn beispielsweise ein Rechtsanwalt als Aufsichtsrat tätig ist und sich ein ehemaliger Mandant von ihm als Vorstand bei der börsennotierten  Gesellschaft bewirbt, kann es zu folgender Pflichtenkollision kommen: Der Rechtsanwalt weiß auf Grund des ehemaligen Mandatsverhältnisses Negatives (zB „Steuerhinterziehung“, die noch nicht verjährt ist) über den ehemaligen Mandanten, der sich jetzt als Vorstand bewirbt. Da die anwaltliche Verschwiegenheitsverpflichtung zeitlich unbegrenzt gilt, ist der Rechtsanwalt daran gebunden und darf nicht dagegen verstoßen. Das gilt auch dann, wenn es für ihn klar ist, dass der ehemalige Mandant den Vorstandsposten nie bekommen würde, wenn die anderen Mitglieder des Aufsichtsrates die gleichen Informationen hätten, die er aus der Mandatsbeziehung hat. Andererseits ist er aber als Aufsichtsrat auf Grund seiner organschaftlichen Treuepflicht verpflichtet, alles zu tun, um den Schaden, der der Gesellschaft durch Bestellung des ehemaligen Mandanten droht, zu verhindern.48 Wenn es dem Rechtsanwalt nicht gelingt, den ehemaligen Mandanten beispielsweise in einem vertraulichen Vieraugengespräch zu überreden, die Bewerbung freiwillig zurückzuziehen und die anderen Mitglieder des Aufsichtsrates den Bewerber zum Vorstandsmitglied bestellen würden und auch ohne seine Stimme könnten, dann muss er sich entscheiden, welche seiner beiden widersprechenden Verpflichtungen (anwaltliche Verschwiegenheit versus organschaftliche Treuepflicht) er einhält und welche nicht. In den meisten Fällen werden wohl die besseren Gründe dafür sprechen, der anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung den Vorzug zu geben.49

46 Kalss, ecolex 2009, 923. 47 Kunz in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 4/15. 48 Schauer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 45/41. 49 Schauer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 45/41.

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Interessenkonflikte im Aufsichtsrat – Exkurs ins österreichische Gesellschaftsrecht

6. Weitere Interessenkonflikte Es sind noch zahlreiche weitere Interessenkonflikte denkbar, deren Aufzählung den Umfang dieses Beitrages allerdings sprengen würde. Denkbar ist noch die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber dem Vorstand: Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, Pflichtverletzungen des Vorstandes aufzudecken, zu prüfen und – wenn die Durchsetzung sehr wahrscheinlich und wirtschaftlich erfolgversprechend ist – grundsätzlich auch allfällige Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand geltend zu machen.50 Gerade Letzteres sieht der deutsche Bundesgerichtshof sehr streng. In Österreich hingegen kommt dem Aufsichtsrat (der in diesem Fall durch die Business Judgement Rule geschützt ist) bei dieser Entscheidung breites Ermessen zu.51 Die Ansicht, dass von der Geltendmachung von Schadensersatzforderungen abgesehen werden darf, kann auf einen Vergleich mit Verzicht übertragen werden, der sohin – unter hier nicht zu vertiefenden Umständen – grundsätzlich möglich ist.52 Auch von der – grundsätzlich wirtschaftlich erfolgversprechenden – Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen kann (ausnahmsweise) abgesehen werden, wenn berücksichtigungswürdige Gründe (negative Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft, Behinderung der Vorstandsarbeit oder Beeinträchtigung des Betriebsklimas) vorliegen.53

50 Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2, § 97 Rz. 5; Reich-Rohrwig/Zimmermann, Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder − Eine Prüfungsanleitung, Aufsichtsrat aktuell, 2018, 8; BGH v. 21.4.1997 − II ZR 175/95, BGHZ 135, 244; Reich-Rohrwig/C. Grossmayer/K. Grossmayer/Zimmermann in Artmann/Karollus, AktG II6, §  84 Rz. 415 ff.; Kalss, Die Handlungs- und Entscheidungspflichten des Aufsichtsrats bei einem Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, in FS W. Jud, 2012, S. 285; Spindler in Spindler/Stilz, AktG³, 2015, § 116 Rz. 59; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG3, 2015, §  93 Rz.  46; Habersack in Münchener Kommentar zum AktG4, § 111 Rz. 38. 51 Reich-Rohrwig/Zimmermann, Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder − Eine Prüfungsanleitung, Aufsichtsrat aktuell, 2018, 8; BGH v. 21.4.1997 − II ZR 175/95, BGHZ 135, 244; Kalss, Die Handlungs- und Entscheidungspflichten des Aufsichtsrats bei einem Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, in FS W. Jud, 2012, S. 303 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG³, 2015, § 116 Rz. 59; Krieger/Sailer-­ Coceani in K. Schmidt/Lutter, AktG3, § 93 Rz. 46; Habersack in Münchener Kommentar zum AktG4, § 111 Rz. 38. 52 Dies teilweise übereinstimmend mit den Literturmeinungen vgl. Kalss, Die Handlungsund Entscheidungspflichten des Aufsichtsrats bei einem Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, in FS W. Jud, 2012; Karollus, Business Judgment Rule und Handeln auf Grundlage angemessener Information am Beispiel eines Vergleichs über Ansprüche gegen Dritte in FS W. Jud, 2012; insbesondere auch Goette in FS Winter, 2011; Goette in FS Hoffmann-Becking, 2013; Mertens in FS Schmidt, 2009, aA Reich-Rohrwig/​ C. Grossmayer/K. Grossmayer/Zimmermann in Artmann/Karollus, AktG II6, § 84 Rz. 477 f. 53 Reich-Rohrwig/Zimmermann, Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder − Eine Prüfungsanleitung, Aufsichtsrat aktuell, 2018, 8 (10) mit Verweis auf BGH v. 21.4.1997 − II ZR 175/95.

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Zumal der Aufsichtsrat betreffend die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen eine Ermessensentscheidung zu treffen hat und gegebenenfalls auch einen Vergleich (zB mit einer D&O Versicherung) abschließen kann, ist hier ein Interessenkonflikt vorprogrammiert: Dem Aufsichtsrat könnte zB daran gelegen sein, ein Verfahren zu vermeiden, und zwar um nicht selbst in dieses verwickelt zu werden. Dies gilt ganz besonders im Zusammenhang mit Sachverhalten, die sowohl für den Vorstand als auch für die Aufsichtsräte „brenzlig“ sein könnten,54 sodass beide ein Interesse daran haben könnten, solche Sachverhalte nicht (restlos) aufzuklären. Bemerkenswert ist hier, dass beispielsweise gemäß § 99 iVm § 84 Abs. 2 AktG die Gesellschaft Schadenersatzansprüche gegen den Aufsichtsrat geltend machen kann und dabei vom Vorstand vertreten wird.55 Aufsichtsrat und Vorstand stünden sich in diesem Fall als Widersacher gegenüber, was einen gegenseitigen Nichtangriffspakt für beide Seiten attraktiv erscheinen lässt. Dies ungeachtet dessen, dass die Pflichten eines Aufsichtsratsmitgliedes nicht mit jenen eines Vorstandsmitgliedes gleichgesetzt werden dürfen, sondern die Aufgaben des Aufsichtsrates deutlich geringer sind.56 Ein weiterer potenzieller Interessenkonflikt könnte sich in dem Fall ergeben, wenn die Geltendmachung von Ansprüchen gegen den Vorstand durch den Aufsichtsrat die Haftungssumme aus der D&O Versicherung ausschöpfen könnte, weil keine nach Vorstand und Aufsichtsrat getrennte Haftungssummen vereinbart wurden. Weder das grundsätzliche Bestehen von Ansprüchen gegen Aufsichtsräte noch gegen Vorstände löst eine mechanische Pflicht zur Durchsetzung aus. Es liegt geradezu auf der Hand, dass wechselseitige Ansprüche aus demselben Sachverhaltskomplex zu Interessenkonflikten führen. Der Aufsichtsrat darf nicht den Fehler machen, ein Verfahren gegen den Vorstand (nur) zu führen, um (i) „gehandelt zu haben“ und (ii) (aus Eigeninteresse) dem Vorwurf zu begegnen, die Ansprüche gegenüber dem Vorstand nicht geltend gemacht zu haben. Dieser Konflikt kann derart aufgelöst werden, dass auf die Geltendmachung von Ansprüchen nur verzichtet werden kann, wenn dies im Sinne des Unternehmenswohls geboten ist. Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die Verfahrensführung einen großen Aufwand nötig macht, ein hohes (Prozesskosten)risiko besteht, die Geltendmachung der Ansprüche mit einem hohen Reputationsschaden für das Unternehmen verbunden wäre oder ein negatives Signal an den Markt gesendet würde. Auch in diesen Fällen muss das Handeln des Aufsichtsrates auf das Unternehmenswohl ausgerichtet sein. Nach Abwägung der oben skizzierten Gründe kann der Aufsichtsrat von der Einleitung eines Verfahrens trotz einer möglichen Verantwortung des Vorstandes absehen, wenn dies zum Wohle des Unternehmens ist.

54 Beispielsweise könnte an einen Unternehmenskauf gedacht werden, der vom Aufsichtsrat genehmigt wurde. 55 Schauer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat, Rz.  45/58; Rauter in Straube, ­GmbHG, 2009, § 33 Rz. 14; Koppensteiner/Rüffler, GmbHG³, § 33 Rz. 1; Eckert/Schopper in Torggler, GmbHG, 2014, § 33 Rz. 5. 56 Ausdrücklich OGH 1 Ob 144/01k; Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2, § 99 Rz. 5.

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7. Geschäftschancen – corporate opportunities Ein Vorstandsmitglied hat die Pflicht, ein Geschäft, welches in den Geschäftsbereich der Gesellschaft fällt, für diese vorteilhaft ist und mit konkreter Aussicht auf Geschäftserfolg von ihr abgeschlossen werden kann oder ihr aufgrund bestimmter Umstände bereits zugeordnet ist, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln herbeizuführen. Das Vorstandsmitglied darf Geschäftschancen nur dann selbst nutzen, wenn diese bereits vorher von der Gesellschaft erkannt und nicht genutzt worden sind.57 In der Lehre umstritten ist, ob der Aufsichtsrat seine Einwilligung zur Ausübung der Geschäftschance durch das Vorstandsmitglied erteilen kann.58 Das Verbot Geschäftschancen selbst wahrzunehmen, gilt auch für Aufsichtsratsmitglieder, ist aber gegenüber dem für Vorstandsmitglieder geltenden Verbot eingeschränkt. Aufsichtsratsmitglieder sind nach der gesetzlichen Konzeption nebenberuflich und vorwiegend überwachend tätig, weshalb der Umfang der Treuepflicht für Aufsichtsratsmitglieder ein anderer ist als für Vorstandsmitglieder.59 Aufgrund der vorgesehenen nebenberuflichen Tätigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern kann die für Vorstandsmitglieder geltende Treuepflicht und Geschäftschancenlehre nicht unterschiedslos auf Aufsichtsratsmitglieder angewendet werden. Gesetzliche Regelungen, wann eine Geschäftschance vorliegt und wie damit umzugehen ist, gibt es in Österreich keine. Der ÖCGK sieht für börsennotierte Unternehmen in der L-Regel 44 vor, dass Aufsichtsratsmitglieder Geschäftschancen, die der Gesellschaft zu stehen, nicht für sich nützen dürfen.60 Auch für öffentliche Unternehmen sieht der B-PCGK eine gleichlautende Bestimmung vor.61 Geschäftschancen, die einem Aufsichtsratsmitglied im Zuge der Aufsichtsratstätigkeit bekannt werden, dürfen nur dann, wenn die Aktiengesellschaft daran kein Interesse hat (und das Vorstandsmitglied und/oder die anderen Aufsichtsratsmitglieder zustimmen), von diesem Aufsichtsratsmitglied wahrgenommen werden. Anders verhält es sich bei Geschäftschancen, die ein Aufsichtsratsmitglied im Zuge einer anderen Tätigkeit oder auch als Privatmann und ohne Bezug zur Aktiengesellschaft in Erfahrung bringt.62 Diese werden im Normalfall nicht unter das Verbot fallen und können daher vom Aufsichtsratsmitglied wahrgenommen werden. Demgegenüber wird eine Geschäftschance, die ein Vorstandsmitglied in Erfahrung bringt, im Zweifel immer der Aktiengesellschaft zustehen und darf daher nur vom Vorstandsmitglied wahrge57 Kort, Interessenkonflikte bei Organmitgliedern der AG, ZIP 16/2008, 717; NJÖW, 1986, 584 f.; NJW, 1989, 2687 f.; Merkt, ZHR, 159, 1995, 425 ff. 58 Hopt/Roth in Hopt/Wiedemann, AktG (2015), §  88 Rz.  190  ff.; aA G. Schima, Der Aufsichtsrat als Gestalter des Vorstandsverhältnisses (2016), Rz. 236. 59 Weisser, Corporate Opportunities, S. 138. 60 ÖCGK (Fassung Jänner 2018) https://www.corporate-governance.at/uploads/u/corpgov/ files/kodex/corporate-governance-kodex-012018.pdf. 61 B-PCGK (Fassung 2017) Rz. 11.6.1. 62 Mertes/Cahn in Zöllner/Noack, Kölner Kommentar3, § 116 Rz. 26.

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nommen werden, wenn sie von der Gesellschaft nicht genutzt wird und der Aufsichtsrat zustimmt. 8. Umgang mit Interessenkonflikten Neben den bereits skizzierten gesetzlichen Fällen, die einen Interessenkonflikt ausschließen, haben sich in der Lehre und Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, wie mit Interessenkonflikten umzugehen ist. 8.1. Offenlegung des Konflikts Das betroffene Aufsichtsratsmitglied hat bei einem bestehenden Interessenkonflikt umgehend den Aufsichtsratsvorsitzenden vollumfänglich und wahrheitsgemäß zu informieren. Für den Fall, dass der Aufsichtsratsvorsitzende selbst betroffen ist, hat dieser seinen Stellvertreter umgehend zu informieren. Dies ist schon aus der bestehenden Treuepflicht ableitbar. Das betroffene Mitglied hat alle Informationen offenzulegen, damit der Aufsichtsrat mit dem bestehenden Interessenkonflikt umgehen und richtig agieren kann. Das bedeutet, dass der Interessenkonflikt so zu beschreiben ist, dass für die anderen Organe eine fundierte Grundlage für die Entscheidungsfindung geschaffen wird. Der Aufsichtsratsvorsitzende bzw. der Stellvertreter haben in weiterer Folge die übrigen Aufsichtsratsmitglieder vom bestehenden Interessenkonflikt zu informieren. Auch bei Abschluss von Geschäften mit dem Vorstand, Lieferanten oder Aktionären (Pkt. III.4.) sollte ein möglicher Interessenkonflikt gegenüber dem Aufsichtsrat offengelegt werden und im Zweifel eine Zustimmung des Aufsichtsrates eingeholt werden. Auf jene Fälle, wo eine Offenlegung aufgrund einer bestehenden Verschwiegenheitsverpflichtung nicht möglich ist, wird auf den Pkt III.2. und 5. verwiesen. 8.2. Stimmverbote/Teilnahmeverbote/Informationsbeschränkungen a) Stimmverbot Anders als für den Vorstand gibt es keine eigene gesetzliche Regelung von Stimmverboten von Aufsichtsratsmitgliedern. In der Lehre soll ein Stimmverbot des betroffenen Aufsichtsratsmitgliedes gelten, wenn ein Rechtsgeschäft mit dem betroffenen Aufsichtsratsmitglied abgeschlossen werden soll oder die Einleitung eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft und dem betroffenen Aufsichtsratsmitglied angedacht ist.63 In der Lehre wird überwiegend die Meinung vertreten, dass auch bei sonstigen Inte­ ressenkonflikten das betroffene Aufsichtsratsmitglied einem Stimmverbot unterliegt.64 Koppensteiner/Rüffler65 lehnen eine Ausdehnung eines Stimmverbotes auf ech63 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 127 f. 64 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 128; Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2, § 92 Rz. 88. 65 Koppensteiner in Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, § 30g Rz. 11.

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te Interessenkollisionen ab, vielmehr wird die Ansicht vertreten, dass ein Stimmverbot für die Fälle des § 39 Abs. 4 und 5 GmbHG analog herangezogen werden soll. Dies soll beispielsweise jedenfalls dann gelten, wenn Geschäfte abgeschlossen werden, an denen das Aufsichtsratsmitglied ein wirtschaftliches Interesse hat (zB Beteiligung des Aufsichtsratsmitgliedes oder Ausübung einer Vorstandsfunktion) oder wenn es sich um eine Befreiung von einer Verpflichtung des betroffenen Aufsichtsratsmitgliedes handelt.66 b) Stimmenthaltung und Teilnahmeverbot Das vom Interessenkonflikt betroffene Aufsichtsratsmitglied hat neben der Information des Aufsichtsratsvorsitzenden über den Interessenkonflikt sich uU der Abstimmung zu enthalten. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat das Aufsichtsratsmitglied darauf hinzuweisen, dass er einem Interessenkonflikt unterliegt und seine Stimme bei Stimm­enthaltung nicht mitzuzählen ist. Dieser Umstand ist ebenfalls in der Niederschrift aufzunehmen.67 Unklar ist in der Lehre, ob ein Stimmrechtsausschluss automatisch zu einem Teilnahmeverbot an der Aufsichtsratssitzung führt. Einerseits wird ein Teilnahmeausschluss angenommen, um eine unbefangene Beurteilung durch die übrigen Aufsichtsratsmitglieder gewährleisten zu können.68 Andererseits soll kein automatischer Teilnahmeausschluss bestehen, da auch § 125 AktG nicht verbietet an der Hauptversammlung teilzunehmen, da dem betroffenen Aktionär weiterhin die Möglichkeit eingeräumt werden soll, seine Argumente und Bedenken darzulegen und mit den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern zu diskutieren. Dies spricht dafür, dass das betroffene Aufsichtsratsmitglied sich bei der Abstimmung seiner Stimme enthalten soll, aber grundsätzlich zur Teilnahme an der Aufsichtsratssitzung berechtigt ist.69 Besteht das Risiko, dass durch die Teilnahme des betroffenen Aufsichtsratsmitglied die Vertraulichkeit der Informationen nicht gewahrt werden kann (zB in den Fällen von konkurrenzierenden Tätigkeiten oder bei Pflichtenkollisionen Pkt III.2. und 5.) ist ein Teilnahmeverbot zu bejahen.70 c) Informationsbeschränkung Bei Vorliegen eines Stimm- bzw. Teilnahmeverbotes sind entsprechende Vorkehrungen zu treffen, um den Informationsfluss an das betroffene Aufsichtsratsmitglied zu beschränken.71 66 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 128. 67 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 130; Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG2, § 92 Rz. 89; Fida, RdW, 2010, 454. 68 Koppensteiner/Rüffler, GmbHG3, § 30h Rz. 1. 69 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 131 mwN. 70 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30g Rz. 131; Reich-Rohrwig I2, Rz. 4/222; Kalss in Doralt/ Nowotny/Kalss, AktG2, § 92 Rz. 90. 71 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 25/44.

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8.3. Ablehnung der Bestellung bzw. Amtsniederlegung Sollte bereits vor der Bestellung eines Aufsichtsratsmitgliedes ein nicht zu lösender Interessenkonflikt vorliegen, ist das Mitglied dazu verpflichtet, die Bestellung als Aufsichtsratsmitglied abzulehnen.72 Das vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglied ist jedenfalls vor der Wahl der Hauptversammlung gemäß § 87 Abs. 2 AktG dazu verpflichtet ua alle Umstände darzulegen, die die Besorgnis einer Befangenheit begründen könnten.73 Bei einem Interessenkonflikt, der die jeweilige Ausübung der Organfunktion des Aufsichtsratsmitgliedes dauerhaft verhindert, ist dieser als ultima ratio dazu verpflichtet, sein Amt niederzulegen (beispielsweise die Tätigkeit in konkurrierenden Unternehmen). Nur wenn die vorher genannten Instrumentarien nicht zur Bewältigung des Interessenkonflikts führen, kommt eine Amtsniederlegung in Betracht.74 8.4. Abberufung Grundsätzlich kann das Aufsichtsratsmitglied durch Hauptversammlungsbeschluss abberufen werden. Ein wichtiger Grund muss für die vorzeitige Abberufung nicht vorliegen.75 Der Beschluss der Hauptversammlung bedarf einer ¾ Mehrheit. Jedoch ist für eine gerichtliche Abberufung des Aufsichtsratsmitgliedes ein wichtiger Grund für einen Antrag einer (Aktionärs-)Minderheit nach § 87 Abs. 10 AktG er­ forderlich. Grundsätzlich kann das Vorliegen eines Interessenkonfliktes als wichtiger Grund gewertet werden.76 Eine derartige Abberufung kann aber  – anders als in Deutschland gemäß § 103 Abs. 3 dAktG – nicht vom Aufsichtsrat selbst bei Gericht beantragt werden, sondern dafür ist immer ein Antrag einer Aktionärsminderheit notwendig. 8.5. Verlagerung in Ausschüsse Der Aufsichtsrat kann aus seiner Mitte Ausschüsse bilden. Der Aufsichtsrat kann entscheiden, ob die Einrichtung eines Ausschusses zweckmäßig erscheint, um seine gesetzlichen Funktionen zu erfüllen.77 Aus diesem Grund ist es denkbar, dass der Aufsichtsrat einen Ausschuss einrichtet, dem das betroffene Aufsichtsratsmitglied nicht angehört. Dem einzurichtenden Ausschuss muss die Kompetenz eingeräumt werden, Beschlüsse fassen zu können.78

72 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 25/46. 73 M. Doralt in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 8/51 ff. 74 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 25/47. 75 Rauter in Straube, WK GmbHG, § 30b Rz. 54. 76 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 25/48. 77 Schimka in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 29/5 f. 78 Frotz/Schörghofer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat², Rz. 25/45.

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8.6. Rechtsfolgen Durch die in Österreich seit 01.01.2016 geltende Business Jugdment Rule wird das Organmitglied von seiner Haftung dann befreit, wenn es eine unternehmerische Entscheidung auf Grundlage angemessener Information und frei von sachfremden Interessen trifft und dabei vernünftigerweise annehmen durfte, im Interesse der Gesellschaft zu handeln.79 Das bedeutet: Ein unrichtiger Umgang mit Interessenkonflikten stellt grundsätzlich ein pflichtwidriges Handeln des Aufsichtsratsmitgliedes dar und kann das Aufsichtsratsmitglied schadenersatzpflichtig machen.

79 Schauer in Kalss/Kunz, Handbuch für den Aufsichtsrat2, Rz. 45/32.

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Die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmens­ führung durch den Aufsichtsrat (§ 289f HGB) – Betriebswirtschaftliche Forderung und rechtsdogmatische Ausfüllung – Inhaltsübersicht I. Einführung II. Betriebswirtschaftliche Forderung 1. Kongruenz von Entscheidungs- und ­Berichtskompetenz 2. Kohärenz aus Investorensicht 3. Kooperation als Gestaltungsprinzip III. Aktienrechtliche Verantwortungsteilung 1. Historische Ursprünge 2. Fortentwicklung durch Sonder­ zuweisungen 3. Annexkompetenzen in der Diskussion IV. Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung 1. Berechtigung zur Mitwirkung

a) Berichtskompetenzen, §§ 161, 171 AktG, § 162 AktG-E, § 27 WpÜG b) Sachentscheidungen, § 289f HGB c) Überwachungsauftrag, § 111 Abs. 1 AktG 2. Mitwirkung im Ermessen a) Ermessensfreiraum b) Ermessensausübung c) Mitwirkungspflichten 3. Uneinigkeit der Organe a) Eingrenzung möglicher Uneinigkeiten b) Einwirkungsmöglichkeiten des ­Aufsichtsrats c) Folgen von Uneinigkeiten V. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Die Anforderungen an die mitunternehmerische Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats steigen immer weiter an. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung vor gut zwanzig Jahren mit der vom BGH entwickelten und fortan zugrunde gelegten Vorstellung eines mitgestaltenden Überwachungsorgans. Mittlerweile wird der Aufsichtsrat auch und zunehmend in die Kommunikation mit dem Anlegerpublikum eingebunden. Seit 2001 hat er zu einem Übernahmeangebot mit oder neben dem Vorstand eine Stellungnahme abzugeben. Im Jahr 2002 trat die von beiden Organen gemeinsam abzugebende jährliche Erklärung zum Umgang mit den Empfehlungen des Deutschen Corporate Gov­ernance Kodex (DCGK) hinzu. Der zeitglich eingeführte DCGK empfahl den Organen außerdem, gemeinsam einen Corporate Governance Bericht zu veröffentlichen. Erweiterungen der Berichtsgegenstände ergaben sich sodann durch die 2009 eingeführte Erklärung zur Unternehmensführung, in die neuerdings neben anderen vom Aufsichtsrat zu verantwortenden Berichtsinhalten auch Angaben zu Diversitätszielen aufzunehmen sind. Zur Verfestigung der Erwartungen an einen nach außen sichtbaren Aufsichtsrat trug zuletzt die 2016 in den Kodex aufgenommene Anregung bei, Investoren auch unterjährig zum Dialog zur Verfügung zu stehen. Nach dem Regierungsentwurf zum ARUG II von 2019 haben die Organe 397

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künftig gemeinsam zu ihrer Vergütung zu berichten. Im 2019 neugefassten DCGK heißt es bloß noch feststellend: Aufsichtsrat und Vorstand berichten über die Corporate Governance. Eberhard Vetter hat den fortlaufenden Anstieg der Erwartungen an die Überwachung als Aufsichtsratsmitglied selbst erfahren. Als rechtsanwaltlicher Berater und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge hat er den Aufgabenwandel des Aufsichtsrats begleitet.1 Außenorgan ist der Vorstand. Gleichwohl ist auch der Aufsichtsrat in die Außenkommunikation eingebunden. Der dafür bislang von Ziff. 3.10 DCGK empfohlene gemeinsame Corporate Governance Bericht entfällt künftig aus Gründen der Vereinfachung und Klarheit des Berichtswesens.2 Daraus erklärt sich die künftig zentrale Stellung der Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB für die Berichterstattung über die Überwachung. Der bei der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft eingerichtete Arbeitskreis Corporate Governance Reporting fordert die Mitunterzeichnung dieser Erklärung durch den Aufsichtsrat.3 Der vorliegende Beitrag ordnet diese aus betriebswirtschaftlicher Sicht unterbreite Forderung in die aktienrechtliche Dogmatik ein und geht der Frage nach, ob und inwieweit der Aufsichtsrat berechtigt und möglicherweise sogar verpflichtet ist, für die Berichterstattung über die Corporate Governance nach außen Verantwortung zu übernehmen. Zunächst werden dazu die betriebswirtschaftlichen Argumente für die Aufsichtsratsbeteiligung dargelegt (II.). Sodann sind die Möglichkeiten ihrer rechtlichen Einpassung in zwei verdichtenden Schritten zu ergründen: Im ersten Schritt erfolgt eine Bestandsaufnahme zu Entwicklung und heutigem Stand der mitunterneh1 Mit dem hier behandelten Themenfeld der Kommunikationsaufgaben des Aufsichtsrats hat sich Eberhard Vetter intensiv beschäftigt, angefangen vom Bericht an die Hauptversammlung (Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §§ 170-176) über den Investorendialog (AG 2016, 873) bis hin zur Einordnung in die Grundsatzfragen von Kapitalmarktkommunikation, Kapitalmarktdruck und Corporate Governance (AG 2014, 387), dies stets mit Blick auf den DCGK als Treiber der Entwicklung, den er als Testballon für den Gesetzgeber (ZIP 2004, 1527) und später als zahnlosen Tiger kritisierte (NZG 2008, 121), bis dieser Tiger vermittelt durch die Rechtsprechung zur Entlastungsanfechtung die Zähne zeigte (NZG 2009, 561), aber nach der jüngsten Rechtsprechung zur mangelnden Anfechtbarkeit der Aufsichtsratswahl dann doch gebändigt wurde (NZG 2019, 379). 2 Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, Deutscher Corporate Governance Kodex, 9.5.2019, Begründung, S. 5; abrufbar unter: www.dcgk.de. Zu den Reformzielen der Vorsitzende der Regierungskommission DCGK Nonnenmacher, WPg 2018, 709. 3 Arbeitskreis Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2019, 317. Der Verfasser des hier vorliegenden Beitrags hat die Erarbeitung des Vorschlags durch eine Untergruppe des Arbeitskreises koordiniert und dankt den Mitgliedern dieser Gruppe für die konstruktive Zusammenarbeit, für Hinweise zum vorliegenden Beitrag Herrn Prof. Axel v. Werder. Zur Einordnung in die übergreifenden Ziele des Arbeitskreises siehe dessen Beiträge in DB 2016, 2130 und DB 2018, 2125, zu deren öffentlicher Diskussion Hillmer, KoR 2018, 199, zum weiteren Vorschlag einer Mustergliederung Hommelhoff in Priester/Heppe/H. P. Westermann (Hrsg.), Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht, 2018, S. 185, 196 ff.

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Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung durch den Aufsichtsrat

merischen Aufsichtsratsaufgabe (III.). Im zweiten Schritt wird der Vorschlag einer Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung durch den Aufsichtsrat an seiner Berechtigung zur Außenkommunikation, Reichweite und Grenzen des Aufsichtsratsermessens und abschließend den Folgen von Uneinigkeiten der Organe gemessen (IV.). Die wesentlichen Ergebnisse sind thesenförmig zusammengefasst.

II. Betriebswirtschaftliche Forderung Bei der Publizität der Corporate Governance ist ohne eine Einbeziehung des Aufsichtsrats schon deshalb nicht mehr auskommen, weil sich wichtige Berichtspflichten an beide Organe richten und sich zahlreiche berichtspflichtige Sachverhalte auf Gestaltungsentscheidungen des Aufsichtsrats beziehen. Für die von § 289f Abs. 2 Nr. 3 HGB geforderten Angaben zur Arbeitsweise des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse ist das offensichtlich. Vermittelt durch die Geschäftsordnungskompetenz nach § 77 Abs.  2 Satz 1 AktG und die darin verbürgte Möglichkeit zur Gestaltung der Vorstandsarchitektur gilt dies letztlich auch für die Organisation der Leitung durch den Vorstand.4 Mit der Feststellung der unternehmensinternen Gestaltungskompetenz ist allerdings richtigerweise noch nichts über die Verantwortung für die Berichterstattung nach a­ ußen gesagt. Vom Aufsichtsrat getroffene Entscheidungen können vom Vorstand kommuniziert werden. Zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Unternehmenskommunikation bedarf es insoweit keiner weiteren Beteiligung oder gar einer Verantwortungsübernahme des Aufsichtsrats. Denkbar wäre letztlich gar der gegenteilige Schluss, also der auf eine strikte Aufgabentrennung. Der Aufsichtsrat hätte sich dann im Wesentlichen auf eine nachgelagerte Kontrolle der vom Vorstand geleisteten Berichterstattung zurückzuziehen. Dies erschiene wenig überzeugend. 1. Kongruenz von Entscheidungs- und Berichtskompetenz In der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre finden sich Ansätze zu einer kongruenten Gestaltung, also zu einem Gleichlauf von Sachentscheidungs- und Berichtskompetenz.5 Nach dem bereits von Erich Gutenberg, einem Pionier der modernen Betriebswirtschaftslehre, zugrunde gelegten und die Managementtheorie bis heute anleitenden Kongruenzprinzip sind Aufgabe, Kompetenz und nachgeordnete Verantwortung deckungsgleich zu übertragen.6 In der modernen Organisationslehre findet sich diese Überlegung in facettenreichen Konzeptionen zur Herstellung leistungsfähiger Anreizstrukturen innerhalb der Aufgabenhierarchie wieder.7 4 Zur Gestaltung der Vorstandsarchitektur durch den Aufsichtsrat v. Werder, DB 2017, 977, 982. 5 Kneubühl/Züger, Organisation, 4. Aufl. 2015, S. 58 (Abschn. 5.1.3); Weber, Externes Corporate Governance Reporting, 2011, S. 400. 6 Erich Gutenberg, Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, 1958, S. 51. Näher R. H. Schmidt in Albach u.a. (Hrsg.), Erich Gutenberg and the Theory of the Firm, 2000, S. 3. 7 Statt vieler Paetzmann, Corporate Governance, 2. Aufl. 2012, S. 81, mit instruktiver Übersicht S. 97; v. Werder, Führungsorganisation, 3. Aufl. 2015, S. 18, 61 ff.

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Der aktienrechtlichen Diskussion über die Füllung von Lücken der gesetzlichen ­Organisationsverfassung ist das Kongruenzprinzip keineswegs verborgen geblieben. Zu nennen ist die zunächst noch weitgehend betriebswirtschaftlich geprägte Suche nach Grundsätzen ordnungsgemäßer Überwachung, deren Erträge sich die nicht mehr nach Disziplinen unterscheidende Kodexbewegung zu Nutze macht.8 Überlegungen zur Kongruenz von Aufgabe und Kompetenz finden sich auch bei der Begründung von Informationsrechten des Aufsichtsrats gegenüber Angestellten des Unternehmens.9 Aktuell ist die durch neuere Rechtsprechung (wieder-)belebte Diskussion um das Budget des Aufsichtsrats zu nennen, bei der es ebenfalls um die Annahme einer Außenkompetenz zur Erfüllung von Innenaufgaben geht.10 Soweit es die hier zu be­handelnde Berichterstattung anbelangt, lässt sich nicht zuletzt durch § 161 AktG die in die Hände beider Organe gelegte Erklärung zum Umgang mit den Empfehlungen des DCGK als Ausdruck des Kongruenzprinzips einordnen. Nach dem heutigen Stand der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre sind bei der Beurteilung der Schlüssigkeit von Kompetenzgefügen auch Komplementaritäten, also die wechselseitige Ergänzung von Systemkomponenten durch innerhalb und ­außerhalb der Unternehmung angesiedelte Faktoren zu berücksichtigen.11 Hiernach können sich auch Kompetenzgefüge, die das Kongruenzprinzip nicht in einem eng verstan­denen Sinne umsetzen, infolge historisch-kulturell, wirtschaftlich oder rechtlich geprägter Pfadabhängigkeiten als funktionstauglich erweisen.12 Das Kongruenzprinzip ­bietet damit zwar eine erste und durchaus wertvolle Annäherung, ist aber in Zusammenschau mit weiteren, insbesondere den außerhalb der Unternehmung angesiedelten Einflussfaktoren auszufüllen. 2. Kohärenz aus Investorensicht Zu den außerhalb der Unternehmung angesiedelten Faktoren zählt die Investorenerwartung. Die Außenkommunikation des Unternehmens ist ein Informationsangebot und muss demzufolge auf die Informationsnachfrage abgestimmt sein. Die Informationsnachfrage kann durchaus heterogen ausfallen, insbesondere wenn neben den hier ausschnittsweise diskutierten Investorenerwartungen die Informationsinteressen aller für den Wertschöpfungsprozess relevanten Bezugsgruppen einbezogen werden.13 Schon für die Investorenseite lässt sich die Bedeutung von Informationen zur

8 Theisen, Die Überwachung der Unternehmungsführung, 1987. 9 Aus betriebswirtschaftlicher Sicht Theisen, zfbf 61 (2009), 530, 543; Theisen, ZGR 2013, 2, 13; aus rechtlicher Sicht Leyens, Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 26 ff., 182 ff. m.w.N. 10 BGH v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, WM 2018, 905 zur Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats gegenüber Sachverständigen. Befürwortend unter Berufung auf das betriebswirtschaftliche Kongruenzprinzip Theisen, AG 2018, 589, 591 und 599. 11 Milgrom/Roberts, Economics, Organization and Management, 1992, S. 118. 12 Bratton/McCahery, 38 Colum. J. Transnat’l L. 213 (1999); Bebchuk/Roe, 52 Stan. L. Rev. 127 (1999). 13 Arbeitskreis Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2016, 2130, 2132 (These 5).

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Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung durch den Aufsichtsrat

Corporate Governance nicht mit abschließender Sicherheit quantifizieren.14 Über die grundsätzliche Aufmerksamkeit des Investorenpublikums gegenüber der Berichterstattung zur Corporate Governance kann dies nicht hinwegtäuschen. Diese Aufmerksamkeit ist an Corporate Governance Scorecards, den Anlageleitlinien einflussreicher institutioneller Investoren oder auch den Kriterienkatalogen der von diesen beauftragten Stimmrechtsberater klar erkennbar.15 Die Sichtbarkeit der Aufsichtsratsüberwachung nach außen gilt dabei als Selbstverständlichkeit.16 Aus diesen Beobachtungen lässt sich mit Blick auf die Aufsichtsratsbeteiligung die Forderung nach Kohärenz von interner Aufgabenwahrnehmung und externer Berichterstattung ableiten.17 Das Kohärenzprinzip kann als Fortsetzung der zuvor diskutierten Innenkongruenz von Aufgabe und Verantwortung verstanden werden. Im Gefüge von Informationsnachfrage und -angebot ist der Kohärenzgedanke durch eine von vornherein an den Investorenerwartungen ausgerichtete, also proaktive Unter­nehmenspublizität umzusetzen.18 Eine proaktiv, also nicht erst auf Nachfrage ­reagierende Befriedigung von Informationsbedürfnissen hat die aus Sicht des In­ vestorenpublikums maßgeblichen unternehmensinternen Entscheidungsprozesse mit hinreichender Verlässlichkeit zu kommunizieren. Mit Blick auf (mit-)unternehmerische Gestaltungsentscheidungen des Aufsichtsrats lässt sich dies durch seine Verantwortungsübernahme nach außen umsetzen. Die wohl wichtigste Funktionsgrenze kohärenter Berichterstattung ergibt sich aus der Gefahr von Erwartungslücken. Ursache solcher Lücken ist eine Nichtübereinstimmung der durch die Berichterstattung angeleiteten Investorenerwartungen mit dem rechtstatsächlichen Aufgaben- oder Verantwortungsumfang. Diskutiert werden systemschädliche Erwartungslücken vor allem für die Abschlussprüfung.19 Die externe Prüfung bildet im Prozess der Außenkommunikation des Unternehmens den Schlusspunkt. Die fortlaufende Überwachung der Geschäftsführung durch den Aufsichtsrat ist ihr vorgelagert und erstreckt sich auch auf die Erstellung verlässlicher Berichte durch den Vorstand. Wird der Aufsichtsrat jedoch infolge einer Übernahme von Mitverantwortung nach außen indirekt bereits in den Erstellungsprozess eingebunden, könnte seine Überwachung zur Selbstprüfung werden und drohte dadurch gegenstandslos zu werden. 14 Näher Velte, zfbf 61 (2009), 702, 705. 15 DVFA, Scorecard for German Corporate Governance, abrufbar unter: http://www.dvfa.de. Instruktive tabellarische Gegenüberstellung zu Vorgaben von institutionellen Investoren und Stimmrechtsberatern: o.V., Audit Committee Quarterly IV/2018, H. 4, S. 16. 16 Zur Investorenerwartung Bortenlänger, Board 2014, 71; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337, 349. Zu Stimmrechtsberatern Heinen/Koch, BB 2018, 2731, 2733. 17 Arbeitskreis Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2019, 317, 319. 18 Zum DCGK v. Werder, DB 2015, 847, 848; zum unionsrechtlichen Kontext Leyens, ZEuP 2015, 388, 411. 19 Näher Mattheus in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Hdb. Corporate Governance, 2.  Aufl. 2009, S.  563, 567. Im Einzelnen Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarkts, 2017, S. 17, 77, 304.

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Soweit es die Berichterstattung über die Corporate Governance anbelangt, sind die zugrunde liegenden Gestaltungsentscheidungen nach geltender Gesetzeslage allerdings ohnehin dem Aufsichtsrat zugeordnet.20 Deshalb birgt letztlich nicht eine Übernahme von Berichtsverantwortung durch den Aufsichtsrat nach außen, sondern eine mangelnde Auseinandersetzung des Aufsichtsrats mit den von ihm verantworteten Berichtsthemen Gefahren einer Erwartungslücke.21 3. Kooperation als Gestaltungsprinzip Die vorgestellten Überlegungen zur kongruenten Kompetenzverteilung und kohärenter Außenkommunikation legen als daran anknüpfendes Gestaltungsprinzip die Kooperation der Organe im Schnittfeld von Leitung und Überwachung nahe. Damit ist nicht die Auflösung der aktienrechtlichen Aufgabenteilung gemeint, sondern die seit der Anerkennung der mitunternehmerischen Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats vorausgesetzte Zusammenarbeit mit dem Vorstand. Vom Aufsichtsrat ist dabei eine eigenständige inhaltliche Auseinandersetzung mit den berichtspflichtigen Sachverhalten zu fordern. Schon in seiner Erstfassung betonte der DCGK das Zusammenwirken der Organe durch einen den weiteren Einzelbestimmungen zu Vorstand und Aufsichtsrat vorangestellten Abschnitt.22 Die Beteiligung des Aufsichtsrats an der ­Außenkommunikation, wie sie bislang durch den Corporate Governance Bericht ­gewährleistet war, ist Ausdruck und Fortsetzung des Kooperationsprinzips in der Unternehmenspublizität.23 Folgerichtig müsste der Aufsichtsrat nach Wegfall dieses Berichtsinstruments für die künftig ins Zentrum der Berichterstattung rückende Erklärung zur Unternehmensführung durch seine Mitunterzeichnung Verantwortung nach außen übernehmen.

III. Aktienrechtliche Verantwortungsteilung Die betriebswirtschaftliche Forderung nach Kooperation der Organe und nach Übernahme von Außenverantwortung für die Berichterstattung durch den Aufsichtsrat ist nur bei Einpassung in das aktiengesetzliche Kompetenzgefüge friktionsfrei umzusetzen. Zuvorderst sticht ins Auge, dass die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung Außenauftritt des Aufsichtsrats wäre. Dadurch bewegte er sich aus der seine Rolle lang bestimmenden Vorstellung von einem bloßen Innenorgan heraus. Die Vorstellung vom Aufsichtsrat als Innenorgan mag unter Berücksichtigung der in der Einführung beschriebenen Entwicklungen bei der Publizität der Corporate Gov­ernance ein gutes Stück weit überkommen sein.24 Die Außenbeteiligung des Aufsichtsrats an der Erklärung zur Unternehmensführung erscheint im Zeichen dieser 20 Näher unten Abschn. IV. 1. b. 21 Arbeitskreis Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2019, 317, 320. 22 Siehe Ziff. 3 DCGK a.F. 23 Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 430 ff., 434. 24 Pointiert Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 733 („bloßes Konstrukt“, „konturlos“).

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Entwicklungen nur folgerichtig, dogmatisch ist sie aber erst durch weitere Denkschritte abzusichern. 1. Historische Ursprünge Die Einbindung des Aufsichtsrats in die Berichterstattung nach außen könnte als Rückbesinnung auf seine historischen Ausgangspunkte im Verwaltungsratsmodell zu verstehen sein.25 Mit der Einführung des Pflichtaufsichtsrats leitete die Novelle zum ADHGB von 1870 allerdings gerade die Abkehr vom Verwaltungsratsmodell ein. Die Oberleitung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat blieb zunächst weiterhin möglich.26 Die Aufgabentrennung zwischen den Organen wurde aber durch das AktG von 1937 verpflichtend.27 Der Gesetzgeber hat diese Trennung fortan nur in Bezug auf einzelne Funktionen angetastet.28 Eine Oberleitung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat, entsprechend zum einstigen Verwaltungsratsmodell, ist jedenfalls ausgeschlossen.29 Diese Mediatisierung der Verwaltungsbefugnisse zugunsten des frei von Weisungen des Aufsichtsrats handelnden Vorstands behielt auch das AktG von 1965 bei. Erst zum Ausgang des 20. Jahrhunderts formte sich der heute verfestigte Gedanke von der gemeinsamen Verwaltung des Unternehmens.30 Zunächst entschied der BGH im Jahr 1991, dass der Aufsichtsrat den Vorstand fortlaufend zu beraten habe, sodann im Jahr 1997, dass dem Aufsichtsrat im Rahmen seiner präventiven Überwachung Aufgaben der begleitenden Mitgestaltung zukommen.31 Das durch diese Rechtsprechung angeleitete Rollenverständnis griff der DCGK wie beschrieben bereits durch die für seine Erstfassung von 2002 gewählte Struktur auf.32 Nach modernem Verständnis steht die Verantwortung des Aufsichtsrats neben der des Vorstands, greift also nicht erst danach ein, führt aber umgekehrt auch nicht zu einer einseitigen Auflösung der Aufgabenteilung zugunsten des Aufsichtsrats.33 Festzuhalten ist, dass die nach § 289f HGB an die Gesellschaft bzw. das Unternehmen gerichteten Berichtspflichten nach dem aktienrechtlichen Trennungsprinzip vom Vorstand wahrzunehmen sind. Über die Beteiligungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats sagt dies nichts aus. Aufschluss könnten die im Folgenden zu erörternden gesetzli25 Zur Entwicklung Velte, ZRG (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte) 127 (210) 188, 193 mit instruktiver Übersicht. 26 Allgemeine Begründung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, 1984, S. 404, 460. 27 Zum Ganzen Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 482 ff., 591. 28 Näher dazu Abschn. III.2. 29 Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 107 Rz. 31. 30 Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 344 f. 31 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, juris-Rz. 10 und BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, juris-Rz. 25. Näher Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 45 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 58. 32 Oben Abschn. II. 3. 33 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 481

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chen Fortentwicklungen des Trennungsprinzips durch sogenannte Sonderzuweisungen geben. 2. Fortentwicklung durch Sonderzuweisungen Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit der Außenkommunikation weist der Gesetzgeber, wie neuerdings verstärkt zu beobachten, nicht nur dem Vorstand, sondern auch dem Aufsichtsrat zu. Gesprochen wird dann von einer besonderen Kompetenzzuweisung an den Aufsichtsrat oder kürzer von einer Sonderzuweisung. Mit dieser aktienrechtlich nicht vorgegebenen Begriffswahl wird zum Ausdruck gebracht, dass der Aufsichtsrat kraft gesetzlicher Anordnung berechtigt und auch verpflichtet ist, innerhalb des eigentlich dem Vorstand zugewiesenen Aufgabenbereichs tätig zu werden. Sonderzuweisungen sind von den allein dem Aufsichtsrat, also von vornherein nicht dem Vorstand zugeordneten Aufgaben abzugrenzen. Im Themenfeld der Unternehmenskommunikation zählt dazu der in § 171 Abs. 2 AktG angeordnete Bericht des Aufsichtsrats gegenüber der Hauptversammlung. Während sich infolge dieses gesellschaftsinternen Überwachungsberichts keine kompetenzrechtlichen Fragen auftun, haben Sonderzuweisungen von Berichtsverantwortung nach außen zu Unsicherheiten im Umgang mit dem Trennungsprinzip geführt. Anlass zur Diskussion bot vor allem die gemeinsame Erklärung zum Umgang mit dem DCGK. Nach dem Wortlaut von § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG erklären sich „Vorstand und Aufsichtsrat“ zu den Kodexempfehlungen. Heute besteht Einigkeit darüber, dass damit nicht die Schaffung eines neuen, aus Vorstand und Aufsichtsrat zusammengesetzten Beschluss­organs bezweckt ist.34 Im Weiteren gehen die Meinungen über die Einpassung in das Kompetenzgefüge auseinander. Nach wie vor finden sich Stellungnahmen, denen zufolge die Erklärungspflicht auch durch getrennte und ggf. inhaltlich voneinander abweichende Berichte gewahrt werden kann und gegebenenfalls auch muss.35 Ver­mittelnd wird betont, dass die Kodexerklärung den Organen zur gemeinsamen Abgabe „anvertraut“ sei.36 Von der Veröffentlichung abweichender Auffassungen, also dem „Offenbarungseid“ gestörter Zusammenarbeit wird mancherorts lediglich abgeraten.37 Wie ein Auseinanderfallen der Berichterstattung von Vorstand und Aufsichtsrat zu ihrem Umgang mit allgemein anerkannten Best-Practice-Empfehlungen und insbesondere zum Zusammenwirken aus Sicht des Unternehmensinteresses gerechtfertigt sein könnte, wird daraus nicht klar.38 Die eigentlichen Ziele einer kraft Sonderzuweisung an den Aufsichtsrat begründeten gemeinsamen Erklärungspflicht mit dem Vor34 Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 161 Rz. 40. 35 Statt vieler Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, §  161 Rz.  11, 19 allerdings einschränkend („notfalls“). 36 Lutter in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1838. 37 Krieger in FS Ulmer, 2003, S. 365, 370. 38 Anders Koch in Hüffer/Koch, AktG, Aufl. § 161 Rz. 19.

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stand dürften anders zu verstehen sein: Die gemeinsame Berichtspflicht erfordert die Abstimmung der Erklärungsinhalte zwischen den Organen.39 Sie legt also einen diskursiven Prozess an, baut dadurch die mitunternehmerische Rolle des Aufsichtsrats aus und nimmt ihn in Bezug auf die dem Bericht zugrunde liegenden Gestaltungsentscheidungen in die Pflicht. Bei der Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB hat der Gesetzgeber allerdings von einer solchen Sonderzuweisung abgesehen. Eine Pflicht des Aufsichtsrats zur Mitübernahme von Erklärungsverantwortung nach außen ist dem Wortlaut der Norm nicht zu entnehmen. Ob aber bei Absehen von einer Sonderzuweisung zugleich von einem zwingenden Ausschluss der Aufsichtsratsbeteiligung auszugehen ist, lässt sich nicht für alle Berichtsinstrumente einheitlich beantworten.40 Soweit es den Jahresabschluss anbelangt, schafft das Gesetz durch die in den §§ 170 ff. HGB geregelte Vorlage, Billigung und Feststellung bzw. den Anrufungsbeschluss ein in sich geschlossenes Entscheidungs- und Verantwortungssystem.41 Rückschlüsse auf den Umgang mit den weiteren Berichten können daraus nicht gezogen werden. Für die Erklärung zur Unternehmensführung könnte aus dem Fehlen einer Sonderzuweisung schon deshalb nicht auf ein Beteiligungsverbot des Aufsichtsrats zu schließen sein, weil ihre Themen der mitunternehmerischen Überwachung zuzuordnen sind. Umgekehrt ergibt sich aus dem Fehlen eines Beteiligungsverbots allerdings noch keine positiv-­kompetenzrechtliche Aussage. Fortzusetzen ist die Suche demnach bei den nicht ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen. 3. Annexkompetenzen in der Diskussion Entscheidungskompetenzen im Schnittfeld zur Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat auch ohne ausdrückliche Sonderzuweisung zustehen. Zumeist werden die in Betracht kommenden Konstellationen unter dem Begriff der Annexkompetenz diskutiert.42 Hergeleitet werden solche Annexkompetenzen aus dem Sachzusammenhang mit konkreten Organaufgaben, aus dem Gedanken der Hilfszuständigkeit, einer übergreifenden Organkompetenz für Konnexmaterien zur geschriebenen Zuständigkeit oder, bei konkurrierenden Organzuständigkeiten, aus dem stärkeren Sachzusammenhang. Die so umschriebenen Kategorien sind Rückgriff auf öffentlich-rechtliche Denkmuster und schaffen eine gewisse argumentative Absicherung. Dieser Zweck wäre fehlverstanden, wenn daraus eine vollständige Übertragbarkeit der öffentlich-rechtlichen 39 Siehe zu §  161 AktG BegrRegE TransPuG, BT-Drs. 14/8769 v. 11.4.2002, S.  21 (jährlich wiederkehrende Auseinandersetzung der Organe); zu § 27 WpÜG siehe BegrRegE WpÜG, BT-Drs. 14/7034, S. 52 (Stellungnahme von den Organen vorab gemeinsam zu erörtern). 40 Bachmann, ZIP 2010, 1517, 1522 hält die Mitunterzeichnung der Erklärung nach § 289f HGB für zulässig. 41 Kocher, DStR 2010,  1034. Grundlagen bei E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 8 f. 42 Zum Folgenden Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 454.

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Dogmatik abgleitet würde. Das gilt insbesondere für das Verbot des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis.43 Im Subordinationsverhältnis zwischen Staat und Bürger dient dieses Verbot dem Schutz grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen und dem Geltungsanspruch der Gewaltenteilung. Das aktienrechtliche Trennungsprinzip entspringt hingegen einer im privatrechtlichen Gleichordnungsverhältnis angesiedelten Organisationsstruktur mit anders gelagerter Zielsetzung. Formelhaft ist eine Annexkompetenz nur dann ausgeschlossen, wenn ihre Anerkennung die durch das Trennungsprinzip zu verwirklichenden Ziele der Aktiengesellschaft als spezifischer Form zur Organisation privater Kooperation beeinträchtigte.44 Die konkrete Ausfüllung dieser Formel ist vor allem aus zwei Gründen eine fortlaufende Herausforderung: Erstens weist die gesetzliche Kompetenzordnung an zahlreichen für ihre Funktionstauglichkeit maßgeblichen Schnittstellen der Zusammenarbeit Unvollständigkeiten auf. Das gilt nicht nur für die Aufsichtsratskompetenzen. Bereits das Reichsgericht hatte sich mit den Annexkompetenzen eines besonderen Vertreters der Aktionäre (heute: § 147 Abs. 2 AktG) zu beschäftigen und entschied, dass dessen Aufgabenerfüllung vom Vorstand nicht „durch Vereitelung der nötigen Information zu durchkreuzen“45 sei. Zugrunde liegt der Gedanke, dass eine aktienrechtlich vorgesehene Institution nicht ihren Zweck verfehlen soll. Das daraus abgeleitete Vereitelungsgebot muss erst recht zugunsten des auch in präventiver Funktion tätigen Aufsichtsrats gelten. Abzuleiten ist daraus allerdings lediglich eine Eskalationskompetenz, also ein bei Kooperationsverweigerung durch das andere Organ eingreifender Kompetenztitel. Zu Ausübungsmodalitäten und Umfang der als Annex verbürgten Kompetenz schafft dies für den Aufsichtsrat ebenso wenig wie für die nach wie vor umstrittenen Kompetenzen des Sondervertreters Gewissheit.46 Zweitens sind die Ziele der Aktiengesellschaft und die diese verwirklichenden Kompetenzen nicht starr. Eine gewisse Bereitschaft zum flexiblen Umgang mit dem Kompetenzgefüge findet sich bereits in der Begründung zum AktG von 1965, nach der die Kompetenzordnung nicht um ihrer selbst willen zu schützen sein soll.47 Später setzte der Gesetzgeber den Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis gleichsam voraus, als er dem Aufsichtsrat durch das KonTraG von 1998 mit § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG die 43 Als Standardbeispiel gilt die polizeiliche Gefahrenabwehr, für sich in den Polizeigesetzen der Länder eine Aufgabenzuweisung aus § 1 PolG ergibt, zu deren Umsetzung aber auf die gesetzlichen Einzelbefugnisse mit jeweils unterschiedlicher Eingriffstiefe zurückzugreifen ist. 44 Zurückhaltend Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13 Aufl. 2018, § 111 Rz. 34: Maßstab insbesondere „Funktionsfähigkeit des Systems der Checks and Balances, Organadäquanz und korrespondierendes Haftungsrisiko“. Tendenziell weiter Roth, AG 2004, 1, 4 f. zur Aufsichtsratsinformation. 45 RG v. 4.11.1913 – II 297/13, RGZ 83, 248, 249 f. 46 Zum Sondervertreter einerseits Hüffer, ZHR 174 (2010) 642, 671 ff., 676 (Informationsbefugnisse nur soweit zur Umsetzung erforderlich), andererseits Mock, ZHR 181 (2017) 688, 718  f. (umfassende Annexkompetenz zur Informationsbeschaffung, allein unter Missbrauchsvorbehalt). Zu den Unterschieden im Abwägungsmaterial bei Sondervertreter und Aufsichtsrat Leyens, ZGR 2019, i.E. 47 BegrRegE AktG 1995, abgedr. bei Kropff, AktG 1965, S. 373.

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Aufgabe zur Mandatierung des Abschlussprüfers übertrug und dabei von der Kompetenz des Aufsichtsrats zur Außenvertretung der Gesellschaft bei der Erteilung des Prüfungsvertrags ausging.48 In jüngerer Zeit entschied der BGH gleichförmig zu der in § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG vorgesehenen Bestellung und Beauftragung von Sachverständigen.49 Über das gleichwohl fortgeltende Trennungsprinzip darf sich die Rechtsfigur der Annexkompetenz nicht nach Belieben hinwegsetzen. Beispielsweise hat allein der Aufsichtsrat nach § 171 Abs. 2 AktG über die von seinem Prüfungsausschuss aufgedeckten Unzulänglichkeiten des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems zu berichten. Gestalterische Eingriffe in das Kontrollsystem bleiben dem Aufsichtsrat demgegenüber versagt.50 Das in der Literatur geforderte Verständnis einer die Überwachungsaufgaben „effektuierenden Auslegung“51 der Aufsichtsratskompetenzen bedarf demzufolge im Bereich der mitunternehmerischen Überwachung auch weiterhin vorsichtiger Abwägung.

IV. Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung Die Berechtigung des Aufsichtsrats zu einer Verantwortungsübernahme für die Regelberichterstattung nach außen erweist sich vor dem beschriebenen Hintergrund als offene Frage des Aktienrechts. Richtigerweise ist die Möglichkeit des Aufsichtsrats zur Außenbeteiligung anzuerkennen. Dieser Schluss ist aber erst auf Grundlage einer weiteren Durchdringung seiner Rolle im Kompetenzgefüge, von Reichweite und Grenzen des Aufsichtsratsermessens und schließlich des unter Geltung des Trennungsprinzips zum Einsatz kommenden Verfahrens bei Uneinigkeiten der Organe abzusichern. 1. Berechtigung zur Mitwirkung Zu kurz gegriffen erscheint die Ableitung einer Aufsichtsratskompetenz allein aus der von Ziff. 3.10 DCGK seit der Erstveröffentlichung des Kodexwerks und bis zur Neufassung im Jahr 2019 empfohlenen gemeinsamen Berichterstattung im Corporate Governance Bericht. Aus einer Kodexregel kann nicht auf die aktienrechtliche Zulässigkeit eines bestimmten Organverhaltens geschlossen werden.52 Für die fehlende Aufmerksamkeit des aktienrechtlichen Diskurses in Bezug auf die durch Ziff.  3.10 DCGK a.F. aufgeworfene Kompetenzfrage kann es viele Gründe geben. In den Anfängen wurde die Kodexregulierung in der Berichtspraxis nicht überall ernst genommen.53 Das änderte sich erst durch das Urteil des BGH zum Fall Kirch/Deutsche 48 BegrRegE KonTraG 1998, BT-Drs. 13/9712 v. 28.1.1998, S. 16 f. 49 BGH v. 20.3.2018 – II ZR 359/16, WM 2018, 905. 50 Windbichler, NJW 2012, 2625, 2629. Weitere Beispiele bei Koch, ZHR 180 (2016) 578, 591 ff. 51 Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 454, 456. 52 Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 100 ff., 106. 53 Statt vieler E. Vetter, NZG 2008, 121: „Der Deutsche Corporate Governance Kodex nur ein zahnloser Tiger?“.

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Bank54 von 2009 und der seitdem anerkannten Justiziabilität gesetzlicher Entsprechungserklärungen im Rahmen der Entlastungsanfechtung wegen Informationsmängeln nach § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG.55 Bis dahin hatte sich der gemeinsame Corporate Governance Bericht allerdings bereits etabliert.56 Der durch die Neufassung des Kodexwerks bewirkte Wegfall dieses Berichts stellt eine Zäsur dar und verlangt nach Neuorientierung der Aufsichtsratsbeteiligung an der Berichterstattung. Wird hierzu, wie vorgeschlagen, eine Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB gewählt, müssen die Möglichkeiten der Aufsichtsratsbeteiligung (erstmals ernsthaft) in den Blick genommen werden. Amtierende Aufsichtsräte werden trotz betriebswirtschaftlicher Anleitung kaum auf eigenes Risiko auf einer Annexkompetenz beharren wollen. Rechtsdogmatisch ist die Begründung eines Beteiligungsrechts des Aufsichtsrats nach außen auch auf Stand der Lehre zu Annexkompetenzen oder zur effektuierenden Auslegung keineswegs leicht zu begründen.57 a) Berichtskompetenzen, §§ 161, 171 AktG, § 162 AktG-E, § 27 WpÜG Die vorhandenen Berichtskompetenzen sind als Überwachungsberichte oder Er­ klärungspflicht kraft Sonderzuweisung ausgestaltet. Sie dienen der Befriedigung ­unterschiedlich gelagerter Informationsbedürfnisse, die sich schwerpunktmäßig im Zusammenhang mit der Stimmrechtsausübung oder Eintritts- bzw. Austrittsentscheidungen ergeben (voice, entry, exit). Eine übergreifende Berechtigung des Aufsichtsrats zur Außenkommunikation ist auf diese Einzelkompetenzen nicht zu stützen.58 Für den Bericht an die Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 AktG folgt dies schon aus seiner Konzeption als gesellschaftsinterne, nicht -externe Kommunikation. Der Bericht dient dem Austausch mit den Aktionären und der Ermöglichung einer informierten Stimmabgabe in der Hautversammlung (voice).59 Für die Analogiefähigkeit fehlt es an der Vergleichbarkeit mit der an die Investorenöffentlichkeit gerichteten Außenkommunikation durch die Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB. Die Außenberichterstattung über den Umgang mit den Empfehlungen des DCGK ist dem Aufsichtsrat nach § 161 AktG gemeinsam mit dem Vorstand übertragen. Dass es 54 BGH v. 16.2.2009 – II ZR 185/07 (Kirch/Deutsche Bank), BGHZ 180, 9; jüngst bestätigt durch BGH v. 9.10.2018 – II ZR 78/17, WM 2019, 258, zur Aufsichtsratswahl, wenngleich i.E. ablehnend. 55 Zum damit verbundenen Verständniswechsel E. Vetter, NZG 2009, 561: „Der Tiger zeigt die Zähne“. Rechtsprechungsentwicklung bei Bayer/Scholz, ZHR 181 (2017) 861; Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 471 ff., 474. 56 Aktuelle Bestandsaufnahme bei v. Werder/Danilov, DB 2018, 1997, 2006. Frühere Erhebungen sind abrufbar unter http://bccg.projects.tu-berlin.de. 57 Zu den Grundlagen oben Abschn. III. 3. 58 So bereits E. Vetter, AG 2014, 387, 389 ff. 59 Zu dieser und weiteren Funktionen E. Vetter in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  171 Rz. 199 ff., 205 ff.

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sich nicht um eine Innenkommunikation mit den Aktionären handelt, ergibt sich aus Abs. 2 der Norm, nach der die Entsprechenserklärung zum DCGK öffentlich zugänglich zu machen ist. Die Erklärung dient damit auch der Ermöglichung informierter Eintrittsentscheidungen von nicht zum Aktionariat zählenden Investoren (entry). Eine analoge Anwendung dieser Verantwortungszuweisung wurde bei Einführung der Erklärung zur Unternehmensführung durch das BilMoG von 2009 erwogen,60 stößt heute aber auf Ablehnung.61 Schon die Planwidrigkeit einer allein dem Vorstand überantworteten Berichtspflicht ist nicht erkennbar. Das Regelungsmodell der gemeinsamen jährlichen Berichterstattung war bereits seit der Aufnahme von §  161 AktG durch das TransPuG von 2002 etabliert, also zum Zeitpunkt der Einführung von § 289f HGB (seinerzeit § 289a HGB) bekannt.62 Lehnt man die Analogiefähigkeit von § 161 AktG nicht schon wegen seiner Natur als Sonderzuweisung ab, müssten Zweifel an der Vergleichbarkeit überwunden werden. Bezugspunkt der Erklärungspflicht nach § 161 AktG ist ein untergesetzliches Kodexwerk, während § 289f HGB systematisch im Zusammenhang mit dem Lagebericht steht, also einem Bericht zu dem vom Vorstand aufzustellenden Jahresabschluss. Zu denken wäre noch an eine Gesamtanalogie unter Berücksichtigung der weiteren Außenkommunikation. Gesamtanalogien bergen nicht nur wegen der unterschied­ lichen Zielsetzungen von Einzelkompetenzen erhebliche Unsicherheiten, sondern auch deshalb, weil jeweils eigene Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Vorstand vorgesehen sind. Nach der anstehenden Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie durch das ARUG II sollen Vorstand und Aufsichtsrat durch § 162 AktG-E gemeinsam dazu verpflichtet werden, jährlich über ihre Vergütung zu berichten.63 Insoweit handelt es sich allerdings nur um einen Ausschnitt der mitunternehmerischen Überwachung. Neben übergreifenden Transparenzzielen dient der Vergütungsbericht der Vorbereitung des neu gestalteten Vergütungsvotums der Hauptversammlung nach § 120a AktG-E.64 Verfahrensunterschiede im Zusammenwirken der Organe sind für die Feststellung des Jahresabschlusses bereits aufgezeigt, ergeben sich aber beispielsweise auch bei der kapitalmarktrechtlich verankerten Pflicht von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft eines Übernahmeangebots. Nach § 27 WpÜG haben die Organe eine begründete Stellungnahme zum Angebot abzugeben. Zuzuordnen ist dies der Publizität aus Anlass einer Fundamentaländerung, also einer im Vergleich zur Regelberichter-

60 Kozikowski/Röhm-Kottmann in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, §  289a Rz.  12, m.w.N.; abwägend auch DAV-Handelsrechtsausschuss, Stellungnahme Nr. 38/08, Juli 2008, Rz. 40. 61 Grottel in Beck’scher BilanzKomm., 11. Aufl. 2018, § 289f Rz. 35; Lange in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 289a Rz. 6; Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 424; von der Linden in Wilsing u.a. (Hrsg.), DCGK, § 289a HGB Rz. 13; Morck in HGB, 8. Aufl. 2015, § 289a Rz. 2. 62 Bachmann, ZIP 2010, 1517, 1521; Kocher, DStR 2010, 1034. 63 RegE ARUG II, BT-Drs. 19/9739 v. 29.4.2019. 64 BegrRegE ARUG II, S. 92.

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stattung agenturtheoretisch anders gelagerten Publizitätspflicht.65 Auf Grundlage der Stellungnahme sollen Aktionäre darüber entscheiden, ob sie das Übernahmeangebot annehmen, also in der Gesellschafft verbleiben oder aus ihr austreten (exit). Die Organe mögen insoweit zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Voneinander abweichende Stellungnahmen, Begründungen und auch Minderheitsvoten können für die Aktionäre von Vorteil sein. Folgerichtig wird abweichend von der Kodexerklärung davon ausgegangen, dass gegebenenfalls auch getrennte Bewertungen zu veröffentlichen sind.66 Mit diesem Vorgehen wäre bei der Regelberichterstattung demgegenüber kaum etwas zu gewinnen. b) Sachentscheidungen, § 289f HGB Die Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB kann nur abgegeben werden, wenn die berichtspflichtigen Entscheidungen getroffen sind. Bei Durchsicht der Berichtsgegenstände des Abs. 2 ist festzustellen, dass sich diese auf Entscheidungen beziehen, die von den Organen gemeinsam, unter Beteiligung des Aufsichtsrats oder vom Aufsichtsrat in Alleinverantwortung getroffen werden.67 Das gilt für die von den Organen gemeinsam abzugebende Erklärung zum DCGK (Nr.  1). Die Angabe von Unternehmensführungspraktiken, also beispielsweise von Ethikrichtlinien, verlangt nach Aufsichtsratsbeteiligung, wenn die Richtlinien nicht nur Mitarbeiter, sondern auch die Organe verpflichten sollen (Nr. 2).68 Angaben zur Arbeitsweise der Organe und ihrer jeweiligen Ausschüsse stehen auch in Bezug auf die Arbeitsweise des Vorstands in der Mitverantwortung des Aufsichtsrats, weil dieser kraft seiner Ge­schäftsordnungs­kompetenz über die Gestaltung der Vorstandsarchitektur bestimmen kann (Nr. 3).69 Hinzu kommen Entscheidungen des Aufsichtsrats über die Organ­besetzung unter Berücksichtigung des Frauenanteils in Vorstand und Aufsichtsrat (Nr. 4), zu den ­Mindestanteilen der Geschlechter (Nr. 5) und zum Diversitätskonzept (Abs. 5). Bei A ­ bweichungen von den zu diesen Themen vom Aufsichtsrat gesetzten Zielen ist der Erklärung eine Begründung beizufügen. Für diese Begründung ist allein der Aufsichtsrat verantwortlich. Vor diesem Hintergrund ist zu erwägen, seine Kompetenz zur Beteiligung an der Berichterstattung nach außen aus der zur Sachentscheidung über die Berichtsinhalte abzuleiten.70 Nach Stand der Diskussion um Annexkompetenzen ist der Schluss von der Innenaufgabe auf die Außenbefugnis zwar nicht grundsätzlich unzulässig. Im Zeichen der 65 Näher Hopt, Europäisches Übernahmerecht, 2013, S. 5 ff., 77 ff., 92. 66 BegrRegE WpÜG, BT-Drs. 14/7034, S. 52 (gemeinsame Stellungnahme möglich, aber nicht verpflichtend). Näher dazu Noack/Holzborn in Schwark/Zimmer, WpÜG, 4. Aufl. 2010, § 27 Rz. 18; Wackerbarth in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2017, WpÜG § 27 Rz. 11. 67 Im Einzelnen Arbeitskreis Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Köln, DB 2019, 317, 318 f. 68 Für die Kommunikation ethischer Grundsätze durch den Aufsichtsrat Scherer, Der Aufsichtsrat 2012, 106, 107, allerdings ohne kompetenzrechtliche Absicherung. 69 Näher v. Werder, DB 2017, 977, 982. 70 So noch Kozikowski/Röhm-Kottmann in Beck’scher BilanzKomm., 7. Aufl. 2010, § 289a Rz. 12.

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Wahrung des Trennungsprinzips erscheint aber eine Einpassung in verfestigte Kategorien geboten, die nicht leicht fällt: Die Annahme einer Hilfszuständigkeit liegt fern, weil Entscheidungen des Aufsichtsrats auch allein durch den Vorstand übermittelt werden können. Besonders deutlich wird dies an den nach § 285 Nr. 9 lit. a HGB in den Anhang aufzunehmenden Angaben zur Vorstandsvergütung. Zugrunde liegt eine Aufsichtsratsentscheidung, gleichwohl ist der Anhang Vorstandsaufgabe.71 Auch bei Einwänden gegen Vorstandsberichte vermag der Aufsichtsrat nicht eine eigene Berichterstattung an die Stelle derer des Vorstands zu setzen. Die Kompetenz zur Außenkommunikation lässt sich deshalb auch nicht generell als Konnexmaterie, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs oder als übergreifende Organzuständigkeit des Aufsichtsrats fassen. Anderenfalls müsste vollständig von der im Trennungsprinzip angelegten Unterscheidung zwischen Innen- und Außenaufgaben abgerückt werden. Vor allem führte die Annahme einer Zuständigkeit des Aufsichtsrats nach allgemeiner Regel dazu, dass dieser, nicht der Vorstand verpflichtet wäre. Bei Annahme eines stärkeren Sachzusammenhangs zur Aufsichtsratsaufgabe oder auch einer übergreifenden Zuständigkeit des Aufsichtsrats hätte dieser, nicht der Vorstand, die entsprechenden Berichtsaufgaben wahrzunehmen. Darauf zielt die Berichtspflicht aus § 289f HGB erkennbar nicht ab. Insgesamt erscheint die Begründung einer Annexkompetenz des Aufsichtsrats zur Außenkommunikation auf Grundlage seiner unternehmensinternen Entscheidungsaufgaben aus § 289f HGB zwar auf den ersten Blick naheliegend, bei näherem Besehen aber doch unsicher. c) Überwachungsauftrag, § 111 Abs. 1 AktG Für die kompetenzrechtliche Absicherung einer Berechtigung, nicht Verpflichtung zur Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung bleibt damit nur ein im obigen Sinne zu den Zielen des Trennungsprinzips passendes „effektuierendes“ Verständnis der Überwachungsaufgabe aus § 111 Abs. 1 AktG. Die tradierte Vorstellung vom Aufsichtsrat als Innenorgan ist nicht als petitio principii misszuverstehen und steht aus genannten Gründen ebenso wenig entgegen wie ein für das Privatrecht zu eng verstandenes Verbot des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis.72 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass diese nur vermeintlich geltenden Organisationsprinzipien den Gesetzgeber nicht davon abgehalten haben, mit § 161 AktG oder auch § 27 WpÜG Sonderzuweisungen zur Außenkommunikation des Aufsichtsrats vorzusehen. Die Regierungskommission DCGK ging bei der Aufnahme der Anregung zum Investorendialog des Aufsichtsrats im Jahr 2016 von dessen grundsätzlicher Berechtigung zur Außenkommunikation aus.73 Im neuen Grundsatz 22 DCGK formuliert sie bloß 71 Zum künftigen Vergütungsbericht nach § 162 AktG-E (ARUG II) im vorhergehenden Abschn. 72 Siehe aber Koch, AG 2017, 129, 131. 73 Der frühere Kommissionsvorsitzende Gentz ging davon aus, „dass der Aufsichtsrat be­ ziehungsweise dessen Vorsitzender, (…) eine aus der Sache folgende Annexkompetenz be-

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noch feststellend, dass „Aufsichtsrat und Vorstand“74 in der Erklärung zur Unternehmensführung über die Corporate Governance berichten. Von der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Außenkommunikation überwachungsrelevanter Informationen durch den Aufsichtsrat ist auch der BGH in der Bayer-Entscheidung von 1975 ausgegangen.75 In der Literatur wird eine Außenkommunikation des Aufsichtsrats bereits bei „Sachdienlichkeit“ angenommen,76 teilweise aber erst bei „Erforderlichkeit“77 als möglich erachtet. Für die anlass- und einzelfallbezogene Außenkommunikation, z.B. in Interviews, müssen diese Auffassungsunterschiede nicht zwingend zu abweichenden Ergebnissen führen. Die öffentliche Klarstellung von Aufsichtsratsentscheidungen zu Personaloder Vergütungsentscheidungen könnte sogar unter dem Gesichtspunkt einer engen Eskalationskompetenz als zulässig erachtet werden.78 Der Berichterstattung des Vorstands ist insoweit keine der Außenkommunikation durch den Aufsichtsrat vergleichbare Chance auf Behebung konkreter Unsicherheiten im Investorenpublikum zu­ zuerkennen. Die aktiengesetzliche Kompetenzordnung der Außenkommunikation verfehlte also gleichsam ihren Zweck.79 Bei der nicht-anlassbezogenen Kommunikation wirken sich die Auffassungsunterschiede hingegen deutlich stärker aus. Besonders der unterjährige Investorendialog des Aufsichtsrats ist in der Literatur auf vehementen Widerspruch gestoßen.80 Der hier diskutierte Vorschlag einer Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung geht bei Lichte besehen noch darüber hinaus. Anders als bei einer ­öffentlichen Klarstellung besteht für eine Aufsichtsratsbeteiligung an der Regelberichterstattung kein konkreter Anlass. Sie wird sich, abweichend vom Investorendialog, zumeist auch nicht unter Verweis auf eine konkrete Informationsnachfrage bei den Berichtsempfängern absichern lassen. Infolgedessen muss die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung durch den Aufsichtsrat auf Ablehnung stoßen, wenn von einer auf den Ausnahmefall züglich der externen Unternehmenskommunikation hat. Diese erlaubt (…) Gespräche zu aufsichtsratsspezifischen Themen (…) mit Investoren (…).“; siehe Gentz, in Kurvenlage – Halbjahresbericht des Deutschen Aktieninstituts, 1. Halbj. 2016, S. 37, 38 f. 74 Man beachte die die von der Regierungskommission gewählte Reihenfolge. 75 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73 (Bayer), NJW 1975, 1412: Kein grundsätzliches Verbot, Gegenstand, Verlauf und Ergebnis von Aufsichtsratsverhandlungen zu offenbaren. 76 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 152. 77 So Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 683. 78 So auch Koch, AG 2017, 129, 133  f. Konzeptionell anders Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f. und E. Vetter, AG 2014, 387, 392 f., die eine Kommunikation im Zusammenhang mit der Überwachungsaufgabe als zulässig erachten. 79 Grundlagen zu Zweckverfehlung, Vereitelungsverbot und Eskalationskompetenz oben ­Abschn. III. 3. 80 Die Anregung geht zurück auf die Leitsätze der Arbeitsgruppe Developing Shareholder Communication, AG 2016, R300. Näher dazu Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016 725, 726. Kritisch zum Investorendialog Grunewald, ZIP 2016, 2009 f.; E. Vetter, AG 2016, 873 ff. Zu Zweifeln an der gewählten Regelungstechnik Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 88b.

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beschränkten Kommunikationskompetenz ausgegangen wird.81 Vermittelnd ließe sich möglicherweise ein – dann allerdings zur Regel – erhobener Ausnahmefall aus dem Gedanken einer Abwendung erheblicher Nachteile begründen. Solche Nachteile können sich auch aus der fehlenden Rückendeckung institutioneller Investoren oder einer ablehnenden Haltung von Stimmrechtsberatern ergeben.82 Vollständig überzeugend ist diese Begründung nicht. Der Ablehnung einer Berechtigung des Aufsichtsrats zur Beteiligung an der Regelberichterstattung liegt die An­ nahme eines Kommunikationsverbos zugrunde, dass nur aus besonderem Anlass zu durchbrechen ist. Ein solches Verbot ist weder in der Entwicklungsgeschichte angelegt, noch lässt es sich aus einer vermeintlichen Rolle des Aufsichtsrats als reines Innenorgan herleiten.83 Im Ergebnis liefe die Ablehnung auf der kompetenzrechtlichen Ebene darauf hinaus, dass der Überwachte die Belange des ihn Überwachenden nach außen wahrnimmt, der Aufsichtsrat sich seine Beteiligung also vom Vorstand absegnen lassen müsste.84 Für im Schnittfeld zur mitunternehmerischen Überwachung angesiedelte Themen ist die Berechtigung des Aufsichtsrats zur Beteiligung an der Regelberichterstattung auf seine Überwachungsaufgabe aus § 111 Abs. 1 AktG und die darin angelegte Mitverantwortung für die Außendarstellung der Gesellschaft zu stützen.85 Dieser Schluss erscheint auch deshalb richtig, weil die nach zurückhaltenderer Auffassung verlangte Erforderlichkeit eine Beurteilung voraussetzt, die allein dem Aufsichtsrat überantwortet sein kann. Zielführender erscheint, den im Einzelnen durchaus berechtigen Bedenken gegen eine vom Vorstand losgelöste Außenkommunikation des Aufsichtsrats nicht auf der Kompetenz-, sondern auf der Ermessensebene Rechnung zu tragen.86 2. Mitwirkung im Ermessen Zu Interviews entschied das OLG Stuttgart im Fall Piëch von 2012, dass „pointierte Meinungsäußerungen“ eines Aufsichtsratsmitglieds zu einem unternehmensinternen Konflikt bis hin zu einer Kreditgefährdung der Gesellschaft reichen können.87 Ein dahingehender Ermessensfehlgebrauch ist in Bezug auf die Regelberichterstattung zu Themen der mitunternehmerischen Überwachung kaum denkbar. Gleichwohl bieten sich Eingrenzungen des Ermessensfreiraums und Überlegungen zur Ermessensaus81 So Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 683; stark einschränkend auch E. Vetter, AG 2014, 387, 392 f. 82 Mit diesem Beispiel, aber deutlich enger Koch, AG 2017, 129, 133. 83 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 107 Rz. 160, 577. 84 Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 107 Rz. 293. 85 Jeweils zum Investorendialog: Bachmann in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 136, 150: praktische Konkordanz; Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 365: Kommunikationskompetenz entsprechend zur Überwachungsaufgabe; Hopt/ Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 577, 586: keine Rechtsfortbildung erforderlich. Tendenziell enger, aber bejahend für die Kommunikation von Überwachungsentscheidungen Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010 f.; E. Vetter, AG 2014, 387, 392 f. 86 Nachw. ebd. 87 OLG Stuttgart v. 29.2.2012 – 20 U 3/11 (Piëch), AG 2012, 298, 303.

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übung an, nicht zuletzt um über eine zumindest theoretisch denkbare Verdichtung des Aufsichtsratsermessens zur verpflichtenden Mitwirkung an der Außenkommunikation entscheiden zu können. a) Ermessensfreiraum Abgabe und Inhalt der Erklärung zur Unternehmensführung sind nach § 289f HGB gesetzlich vorgegeben. Verpflichtet wird nach dem Wortlaut der Norm in Abs. 1 die Gesellschaft bzw. nach Abs.  4 das Unternehmen. Aus der gesetzlichen Systematik folgt, dass mit dieser Formulierung keine Berichtspflichten des Aufsichtsrats angelegt werden, sondern dass der Vorstand für die Berichterstattung verantwortlich ist.88 Der Aufsichtsrat kann die Berichtsaufgabe also nicht an sich ziehen. In seinem Ermessen steht lediglich die Beteiligung durch eine Verantwortungsübernahme nach außen, insbesondere durch eine Mitunterzeichnung der Erklärung. b) Ermessensausübung Für die anlassbezogene Beteiligung an der Außendarstellung der Gesellschaft, vor allem in Interviews, wird von einem Mäßigungsgebot des Aufsichtsrats ausgegangen.89 Auf den Punkt gebracht, soll eine „One-Voice-Policy“ bestehen, nach der eine vom Vorstand abweichende Meinungskundgabe nur im eng begrenzten Ausnahmefall ermessenskonform sein kann.90 Bei der Erklärung zur Unternehmensführung kann es nach dem hier zugrunde gelegten Kompetenzverständnis von vornherein nicht zu einer Kundgabe auseinander­ fallender Meinungen der Organe kommen. Die Abgabe der Erklärung obliegt dem Vorstand, der Aufsichtsrat kann sich lediglich anschließen. Mögliche Uneinigkeiten zwischen den Organen treten also im Außenverhältnis nicht offen zu Tage. Sie betreffen das Innenverhältnis und werden deshalb unten noch separat besprochen.91 Bei seiner Ermessensausübung, also der präventiven Überwachung der Unternehmenspublizität und darunter auch der Entscheidung über die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung kann der Aufsichtsrat die aus betriebswirtschaftlicher Sicht hervorgehobenen Vorteile einer proaktiven Berichterstattung berücksichtigen.92 Eine proaktiv, also nicht erst auf Nachfrage, sondern kohärent zu den Innenaufgaben ausgestaltete Aufsichtsratsbeteiligung wird den Erwartungen der Investoren aller Voraussicht nach am besten entsprechen. Insoweit fällt ins Gewicht, dass mit der Erklärung zur Unternehmensführung – wie beschrieben93 – über Gestaltungsentscheidungen des Aufsichtsrats zu berichten ist. 88 Oben Abschn. III. 1. 89 Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 107 Rz. 61; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 107 Rz. 152. 90 Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360, 365 f. 91 Unten Abschn. IV. 3. 92 Zu diesen Vorteilen oben Abschn. II. 2. 93 Oben Abschn. IV. 1. b.

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c) Mitwirkungspflichten Ermessensfreiräume können sich nach allgemeiner Regel zu einer Pflicht verdichten. Im Zusammenhang mit der Erklärung zur Unternehmensführung und den diese ausmachenden Berichtsgegenständen ist die Verdichtung des Aufsichtsratsermessens zur Pflicht schlecht vorstellbar. Anstelle einer Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung werden auch alternative Maßnahmen zur Befriedigung von Informationsnachfrage und zur Untermauerung der Verlässlichkeit von interner Corporate Governance und ihrer Publizität in Betracht kommen. Ein Beispiel für solche alternative Maßnahmen bietet der Investorendialog. Ein Zwang zur Mitunterzeichnung kann infolgedessen nur im eng begrenzten Ausnahmefall in Betracht kommen. 3. Uneinigkeit der Organe Uneinigkeiten zwischen den Organen werden in der Praxis selten auftreten. Die hier gleichwohl unternommene Durchsicht möglicher Ursachen von Uneinigkeiten und ihrer Folgen dient infolgedessen mehr dazu, die Schlüssigkeit einer Beteiligung des Aufsichtsrats an der Regelberichterstattung nach außen und des zugrunde gelegten Konzepts der Organzusammenarbeit zu verdeutlichen. a) Eingrenzung möglicher Uneinigkeiten Über die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung entscheidet der Aufsichtsrat obigen Ausführungen folgend nach eigenem Ermessen, muss also nicht die Zustimmung des Vorstands einholen und ist insoweit nicht auf Konsens angewiesen.94 Auf den ersten Blick könnte dieses Verständnis im Falle von Uneinigkeiten über den Inhalt der Erklärung zu Verwerfungen in der Organzusammenarbeit führen. Bei näherem Besehen zeigt sich, dass die Konstellationen möglicher Uneinigkeiten zum einen eng begrenzt sind und zum anderen auf Ursachen zurückgehen, die auch in anderem Zusammenhang auftreten können und nach den allgemeinen Regeln zu lösen sind. Ursachen und Folgen möglicher Uneinigkeiten sind für die Entsprechenserklärung zum DCGK in ausgreifender Literatur diskutiert.95 Die Kodexerklärung bildet heute eine Komponente der Erklärung zur Unternehmensführung (§  289f Abs.  2 Nr.  1). Nach § 161 AktG steht die Kodexerklärung allerdings ohnehin in der gemeinsamen Verantwortung der Organe. Mittlerweile ist anerkannt, dass sich keine Änderungen des Kompetenzgefüges ergeben. Jedes der Organe hat also für sich darüber zu befinden, ob die Kodexbefolgung erklärt wird oder eben nicht. Bei Uneinigkeit über das Verhalten des jeweils anderen Organs in der Vergangenheit oder über die Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten in der Zukunft kommt nach Sinn und Zweck von 94 Zu Kompetenzerweiterungen kraft Vereinbarungen mit dem Vorstand Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 612, 620 ff. Ablehnend für den Investorendialog Koch, AG 2017, 129, 134. 95 Zum Diskussionsstand Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 177 ff. m.w.N.

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§  161 AktG nur die gemeinsame Kundgabe einer Nichtbefolgung der betreffenden Empfehlung des DCGK in Betracht.96 Die weiteren Komponenten der Erklärung zur Unternehmensführung nach §  289f Abs. 2 Nr. 2 ff. beziehen sich zwar teilweise ebenfalls auf das künftige Vorgehen. Wiederzugeben sind aber nur die dazu gefassten Beschlüsse. Im Falle der mangelnden Umsetzung ist anders als bei der Kodexerklärung keine unterjährige Korrektur, sondern bloß eine Begründung im Nachhinein erforderlich.97 In Bezug auf diese weiteren Komponenten sind die Organe also an die Fakten gebunden und unterliegen der allgemein für Rechnungslegung und Außenberichterstattung geltenden Wahrheitspflicht.98 Das schränkt Kreis und Ursachen möglicher Uneinigkeiten wie folgt weiter ein. Bloße Angabepflichten, z.B. zur aktuellen Zusammensetzung der Ausschüsse (Nr. 3), lassen keinen Raum für Uneinigkeiten. Dasselbe gilt für die Wiedergabe von Entscheidungen des Aufsichtsrats zur Organbesetzung unter Berücksichtigung des Frauenanteils in Vorstand und Aufsichtsrat (Nr. 4), zu den Mindestanteilen der Geschlechter (Nr. 5), zum Diversitätskonzept (Abs. 5) und die Wiedergabe der Begründung des Aufsichtsrats für eine Zielverfehlung im Berichtsjahr. Als Gegenstände einer möglichen Uneinigkeit bleiben hiernach nur die Beschreibung relevanter Unternehmensführungspraktiken (Nr. 2) und der Arbeitsweise der Organe bzw. ihrer jeweiligen Ausschüsse (Nr. 3). In der Praxis wird für Unternehmensführungspraktiken auf im Unternehmen niedergelegte Grundsätze wie Ethikrichtlinien und für die Arbeitsweise auf die Geschäftsordnungen verwiesen. Uneinigkeiten können sich theoretisch gleichwohl ergeben: Zum einen ist eine abweichende Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen denkbar, z.B. zur Relevanz einzelner Unternehmensführungspraktiken, zum anderen kann sich während des Berichtszeitraums eine Übung im Verhalten des Vorstands abgezeichnet haben, die von den Vorgaben seiner Geschäftsordnung abweicht. b) Einwirkungsmöglichkeiten des Aufsichtsrats In diesen (eng begrenzten) Konstellationen hat der Aufsichtsrat wie sonst auch auf die Einhaltung der gesetzlichen Berichtspflichten hinzuwirken. Das ist allerdings keine spezifisch durch eine gewillkürte Verantwortungsübernahme nach außen selbstbegründete Pflicht, sondern Teil seiner allgemeinen Überwachungsaufgabe.99 Der Aufsichtsrat müsste demnach so oder so einschreiten, also auch dann, wenn er die Erklärung nicht mitunterzeichnet. Ein Weisungsrecht steht dem Aufsichtsrat in Bezug auf die dem Vorstand überantworteten Aufgaben nicht zu.100 Zur präventiven Unterbindung eines im Vorfeld als 96 Statt vieler Goette in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 161 Rz. 71. Zur abweichenden Ansicht Nachweise in Fn. 35 und umgebender Text. 97 Grottel in Beck’scher BilanzKomm., 11. Aufl. 2018, § 289f Rz. 87; Kocher, DStR 2010, 1034. 98 Zur Kodexerklärung Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 297 ff., 307. 99 E. Vetter, ZGR 2010, 751, 762 ff. 100 Deutlich BGH v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, AG 2008, 541 Rz. 13.

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pflichtwidrig erkannten Verhaltens kommt der Erlass eines Zustimmungsvorbehalts nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG in Betracht.101 Der Einsatz dieses Instruments wird von Teilen der Literatur in Bezug auf gesetzliche Berichtspflichten des Vorstands mit dem Argument abgelehnt, bei gesetzlichen Erklärungspflichten handele sich um „zugewiesene“ Aufgaben, die der Einwirkung durch den Aufsichtsrat entzogen seien.102 Dem liegt ein Verständnis des Trennungsprinzips zugrunde, demzufolge der Aufsichtsrat selbst eine strafbewehrte Fehlinformation der Öffentlichkeit nicht verhindern könnte oder Ordnungsgelder zulasten des Unternehmens sehenden Auges in Kauf zu nehmen hätte.103 Überzeugender ist die Unterscheidung zwischen Ob und Wie der Berichterstattung, wobei auch dann die durch die Ausgestaltung des Zustimmungsvorbehalts als Vetorecht vorgegebenen Grenzen zu wahren sind. Zu Erklärungsbestandteilen aus dem Aufgabenbereich des Vorstands kann der Aufsichtsrat seine Zustimmung nicht allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen verweigern. Die Zustimmung zu der vom Vorstand gewählten Fassung kann (und muss) demnach nur verweigert werden, wenn der Aufsichtsrat die gewählte Berichtsfassung für unvertretbar hält. Der eigentliche Nutzen eines Zustimmungsvorbehalts ist freilich anders gelagert. Im Kern geht es um einen diskursiven Abgleich gerade von Zweckmäßigkeitserwägungen.104 Die Mitunterzeichnung der Erklärung kann der Aufsichtsrat vom Ausgang dieses diskursiven Abgleichs abhängig machen. Vor einer Versagung der Mitunterzeichnung wird er abzuwägen haben, ob ein Absehen seiner Verantwortungsübernahme nach außen zu einer nachteiligen Außendarstellung der Gesellschaft führt. c) Folgen von Uneinigkeiten Lässt sich eine Uneinigkeit in einer der beiden in Betracht kommenden Konstella­ tionen, also Auslegung oder Subsumtion, ausnahmsweise nicht diskursiv beheben, kommt ein Zustimmungsvorbehalt auch ad-hoc in Betracht, die Verweigerung der Zustimmung aber wiederum nur, wenn die vom Vorstand abgefasste Erklärung unvertretbar erscheint. Ob dann die ansonsten zulässige Anrufung der Hauptversammlung nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG zur Klärung gewählt werden darf, ist rechtlich unsicher. In der Literatur wird dieses Vorgehen in Bezug auf die Entsprechenserklärung zum DCGK vereinzelt in Erwägung gezogen.105 Mittlerweile wird es überwiegend mit dem Argument abgelehnt, die der Entsprechenserklärung zugrunde liegenden Entscheidungen des Vor101 Goette in FS Baums, 2017, S. 475, 477 f. 102 Statt vieler Koch in Hüffer/Koch, AktG, Aufl. § 161 Rz. 12. 103 Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 688. 104 Übergreifend Goette in FS Baums, 2017, S. 475, 477 f.; Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 288 zur Kodexerklärung. 105 Hommelhoff/Schwab in Hommelhoff/Hopt/v. Werder (Hrsg.), Hdb. Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 71, 92 f.; Seibt, AG 2002, 249, 253. Ohne Festlegung Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 111 Rz. 772.

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stands seien nicht seiner Geschäftsführungs-, sondern seiner Leitungsverantwortung zuzuordnen.106 Dieser Gedanke mag auf die Erklärung zur Unternehmensführung übertragbar sein. Praxisrelevanz wird die Frage kaum je erlangen, schon weil Vorstand und Aufsichtsrat darauf bedacht sein werden, eine mögliche Uneinigkeit nicht vermittelt über die Hauptversammlung in die Öffentlichkeit zu tragen.107 Die mangelnde Fähigkeit der Organe, Einigkeit in Auslegungs- und Subsumtionsfragen zu erzielen, kann Anzeichen einer tieferliegenden Störung der Zusammenarbeit sein. Darauf müsste der Aufsichtsrat mit seiner Personalkompetenz aus § 84 Abs. 3 AktG reagieren.

V. Zusammenfassung in Thesen 1. Aus der mitgestalterischen Rolle des Aufsichtsrats bei der Corporate Governance folgt die Erwartung seiner Übernahme von Verantwortung für die Berichterstattung nach außen, der nach dem Wegfall des Corporate Governance Berichts künftig durch die Mitunterzeichnung der Erklärung zur Unternehmensführung (§  289f HGB) Rechnung getragen werden kann und sollte. 2. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sprechen dafür die Kongruenz von Innen- und Außenaufgabe, die hieran orientierte Kohärenz mit den Investorenerwartungen und das daraus abzuleitende Kooperationsprinzip der Organe in den Schnittfeldern von Leitung und Überwachung. 3. Der gewillkürten Beteiligung des Aufsichtsrats an der vom Vorstand abzufassenden Erklärung zur Unternehmensführung stehen weder das aus der historischen Entwicklung abzuleitende Verbot einer Oberleitung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat, noch das Absehen des Gesetzgebers von einer besonderen gesetzlichen Zuweisung von Erklärungsverantwortung in § 289f HGB entgegen. Umgekehrt ist keine Annexkompetenz zu begründen, kraft derer der Aufsichtsrat den Vorstand aus dessen Berichtsaufgabe verdrängen könnte. 4. Herzuleiten ist die Berechtigung des Aufsichtsrats zur Übernahme von Erklärungsverantwortung nach außen aus seiner in §  111 Abs.  1 AktG niedergelegten Über­ wachungsaufgabe, die ihm auch in Bezug auf die Außenpublizität einen an seiner mitunternehmerischen Gestaltungsaufgabe ausgerichteten und an ordnungsgemäß ausgeübtes Ermessen gebundenen Einsatz abverlangt, ohne dass es bei Uneinigkeiten über den Inhalt der Erklärung zu einer Durchbrechung des Trennungsprinzip kommen könnte.

106 Goette in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 161 Rz. 47, 57; Lutter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 161 Rz. 41 f. Weitere Nachw. bei Leyens in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 161 Rz. 159. 107 E. Vetter, Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Hdb. Börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 2640: Anrufung praktisch bedeutungslos.

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Virtuelle Versammlungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Binnenrechtsvergleich 1. Gesellschafterversammlung der GmbH a) Beschlussfassung im schriftlichen Verfahren b) Zulässigkeit der virtuellen Gesellschafterversammlung c) Ausgestaltung der virtuellen Gesellschafterversammlung 2. Mitgliederversammlung des Vereins a) Zulässigkeit der virtuellen ­Mitgliederversammlung b) Notwendigkeit einer satzungsmäßigen Grundlage c) Mehrheitserfordernis für die ­Satzungsänderung 3. Generalversammlung der Genossenschaft 4. Zwischenergebnis III. Hauptversammlung der Aktiengesellschaft: Status quo nach der lex lata 1. Online-Teilnahme an der Haupt­ versammlung 2. Keine virtuelle Hauptversammlung IV. Sinnhaftigkeit einer Online-Haupt­ versammlung de lege ferenda 1. Faktische Entkörperung der Präsenz­ versammlung

2. Ökonomische Gründe 3. Rechtsvergleichende Argumente a) Binnenrechtsvergleich b) US-amerikanische Rechtslage c) European Model Company Act 4. Kein faktischer Ausschluss von ­Aktionären 5. Kein Recht der Aktionäre auf physische Anwesenheit 6. Interaktion zwischen Aktionären und Management 7. Technische Komplexität, Rechtsunsicherheit und Anfechtungsrisiken 8. Sachlicher Anwendungsbereich V. Ausgestaltung einer Online-Haupt­ versammlung im Einzelnen 1. Satzungsgrundlage 2. Minderheitsrecht auf Präsenz­ versammlung 3. Technische Vorkehrungen zur Durch­ führung der Hauptversammlung 4. Elektronische Ausübung von Aktionärsrechten 5. Protokollierung 6. Beschlussmängel 7. Anpassung des Umwandlungsgesetzes VI. Schluss und Zusammenfassung

I. Einleitung Jede Generation hat ihr Thema: Das Thema unserer Generation ist die Digitalisierung, und zwar die Digitalisierung aller nur denkbaren Lebensbereiche. Gerade sind wir Zeugen der Vierten Industriellen Revolution (Industrie 4.0).1 Sie ist gekennzeichnet durch den Einsatz einer ganzen Reihe neuer digitaler Technologien, die in vielfältiger 1 Dazu näher BMBF, Zukunftsbild „Industrie 4.0“, abrufbar unter: https://www.bmbf.de/de/ zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html (1.4.2019); Bräutigam/Kindt, NJW 2015, 1137; Kaufmann, Geschäftsmodelle in Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge, 2015; Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, 2016; zurückhaltend Schlinkert, ZRP 2017, 222.

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Weise miteinander kombiniert werden können. In Stichworten gesprochen geht es um Big Data und Künstliche Intelligenz, Biometrie und Blockchain, Cloud Computing und das Internet der Dinge,2 einschließlich SmartFactory, SmartLogistics, SmartProducts, SmartProperty, SmartHome, SmartCities, SmartMeter.3 Der Einsatz digitaler Technologien stellt das Recht und den Rechtsanwender vor neuartige Herausforderungen. Denn die Digitalisierung von Unternehmen geht notwendig einher mit einer zunehmenden Digitalisierung des Unternehmensrechts.4 Man denke etwa an die Online-Gründung von Gesellschaften,5 an die Anwendung von Blockchain Technologie bei der Übertragung von Aktien und GmbH-Geschäftsanteilen6 oder die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz für die Corporate Governance von Aktiengesellschaften.7 Als Themen einer Festschrift für Eberhard Vetter eignen sich grundsätzlich alle diese Fragestellungen, verfügt der Jubilar doch über ein enormes Erfahrungsspektrum in der unternehmensrechtlichen Beratung. Einen Schwerpunkt seiner Beratungstätigkeit und seines wissenschaftlichen Interesses bildet – neben dem Aufsichtsrat – die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft; Grund genug, sich über die Zukunft der Hauptversammlung und deren (vollständige) Digitalisierung an dieser Stelle tiefergehende Gedanken zu machen. Zu diesem Zweck wird zunächst ein binnenrechtsvergleichender Blick auf die Gesellschafterversammlung der GmbH, die Mitgliederversammlung des eingetragenen Vereins und die Generalversammlung der eingetragenen Genossenschaft geworfen (unter II.). Im Anschluss daran werden die nach der lex lata eröffneten Möglichkeiten für den Einsatz digitaler Technologien in der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft skizziert (unter III.), bevor de lege ferenda über die Sinnhaftigkeit (unter IV.) und die konkrete Ausgestaltung einer rein virtuellen Hauptversammlung (unter V.) gehandelt wird. Am Schluss (unter VI.) werden die zentralen Erkenntnisse noch einmal thesenartig zusammengestellt.

2 Vgl. exemplarisch Börding/Jülicher/Röttgen/v. Schönfeld, CR 2017, 134; Bormann, ZGR 2017, 621 (622); Paal, ZGR 2017, 590 (592, 599 ff.). 3 Speziell zum letzten Aspekt Paulus/Matzke, NJW 2018, 1905. 4 Zum Problemkreis im Überblick vgl. etwa Sattler, BB 2018, 2243; Spindler, ZGR 2018, 17; Spindler, DB 2018, 41. 5 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der RL 2017/1132/(EU) im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 25.4.2018, COM (2018) 239 final; dazu ausf. Bock, DNotZ 2018, 643; Knaier, GmbHR 2018, 560; Lieder, NZG 2018, 1081; Noack, DB 2018, 1324; J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229; Seibert in FS Bergmann, 2018, S. 677; Teichmann, ZIP 2018, 2451. 6 Dazu ausf. Lieder, Revue Trimestrielle de Droit Financier (RTDF) 2018, N°2/3, 49; vgl. zu verwandten Fragestellungen noch Knaier/Wolff, BB 2018, 2253; Laschewski, Wpg. 2017, 359; Markendorf, ZD 2018, 409. 7 Dazu ausf. Bayern/Burri/Grant/Häusermann/Möslein/Williams, AJP 2017, 192; Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131.

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II. Binnenrechtsvergleich Bevor die virtuelle Hauptversammlung der Aktiengesellschaft im Zentrum des Beitrags steht, erscheint es lohnend, sich zunächst über die Zulässigkeit und Ausgestaltung von Online-Versammlungen anderer Verbandsformen Gewissheit zu verschaffen. 1. Gesellschafterversammlung der GmbH Nach dem gesetzlichen Regelfall des § 48 Abs. 1 GmbHG ist die Gesellschafterversammlung der GmbH als Präsenzversammlung konzipiert. a) Beschlussfassung im schriftlichen Verfahren Allerdings ermöglicht § 48 Abs. 2 GmbHG, Beschlüsse ohne gleichzeitige Anwesenheit der Gesellschafter in einem schriftlichen Verfahren zu treffen. Das setzt allerdings voraus, dass alle Gesellschafter sich entweder in Textform mit der zu treffenden Entscheidung oder mit der schriftlichen Abgabe der Stimmen einverstanden erklären. Mit Blick auf das allseitige Einverständnis nach der 2. Alt. ist hierbei sehr umstritten, ob tatsächlich die Schriftform iSd. § 126 BGB, einschließlich des Erfordernisses eigenhändiger Unterschrift, einzuhalten ist8 oder ob – in Parallele zur 1. Alt. – Textform iSd. § 126b BGB auch in diesem Zusammenhang ausreicht.9 Für ein großzügiges Verständnis spricht zunächst das Regelungsziel des § 48 Abs. 2 GmbHG, den Gesellschaftern ein rasches und kostensparendes Instrument an die Hand zu geben, um unternehmerische Entscheidungen auch bei Fremdgeschäftsführung ohne Einhaltung von Einberufungsfristen treffen zu können.10 Das gilt umso mehr, als die Gesetzesänderung von 2001,11 auf welche die Gegenauffassung in systematischer Hinsicht verweist und mit welcher das Textformerfordernis in Alt. 1 aufgenommen wurde, gerade darauf abzielte, die Beschlussfassung zu erleichtern.12 Dementsprechend genü 8 Hillmann in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 26; Masuch in Bork/Schäfer, GmbHG, 3. Aufl. 2015, § 48 GmbHG Rz. 16; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 63; Teichmann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 23. 9 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 26; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 165; Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 37; Wolff in Münch. Hdb. Ges III, 5. Aufl. 2018, § 39 Rz. 102; Hoffmann-Becking in FS Priester, 2007, S. 233 (240). 10 Zum Regelungsziel vgl. Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz.  140; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 205; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 29; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 58. 11 Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vom 13.7.2001, BGBl. I, 1542. 12 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/4987, S. 30: „Die h.M. geht schon bisher davon aus, dass ,schriftlich‘ i.S.d. Absatz 2 nicht Schriftform i.S.v. § 126 BGB bedeutet; erforderlich ist lediglich, dass die Abstimmungserklärung oder das isolierte Einverständnis zur schriftlichen Ab-

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gen für beide Alternativen nach zutreffender Auffassung Fernschreiben, (Computer-) Fax oder E-Mail,13 nicht aber Telefon- oder Videokonferenzen und der Einsatz anderer elektronischer Kommunikationsmittel, soweit diese – entgegen § 126b BGB – keine lesbare Erklärung hervorbringen, die auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben wird. b) Zulässigkeit der virtuellen Gesellschafterversammlung Mit Blick auf diese Einschränkungen bei der Verwendung digitaler Kommunikationsmittel sowie den skizzierten Meinungsstreit erscheint es nach dem Vorsichtsprinzip ratsam, eine hinreichend bestimmte Regelung in den Gesellschaftsvertrag aufzunehmen. Nach Maßgabe des § 45 Abs. 2 GmbHG, der die gesetzlichen Vorschriften über die Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung der GmbH zur Disposition der Gesellschafter stellt, können nach einhelliger Auffassung noch weitergehende Erleichterungen vorgesehen werden.14 Dies steht im Einklang mit dem Grundsatz der Satzungsautonomie als zentralem Struktur- und Wertungsprinzip des stark personalistisch geprägten GmbH-Rechts15 und dient dem Interesse der Gesellschafter, die innerorganisatorische Willensbildung nach ihren eigenen Präferenzen möglichst selbstbestimmt und flexibel handhaben zu können. Vor diesem Hintergrund bestehen auch keine Bedenken dagegen, dass die Gesellschafter auf den durch die Formerfordernisse des § 48 Abs. 2 GmbHG vermittelten Schutz vor unüberlegten und übereilten Entscheidungen (Warnfunktion) zu verzichten.16 Das gilt umso mehr, als mit dem Textformerfordernis gerade keine überindividuellen Interessen des Verkehrsschutzes verbunden sind. Einbußen mit Blick auf die Beweisfunktion schriftlicher Abstimmungen gehen reflexartig zulasten der Gesellschafter, die sich aber durch eine sorgfältige Dokumentation der Beschlussergebnisse vor Nachweisschwierigkeiten schützen können. Auch wenn die Zulässigkeit einzelner Gestaltungsmöglichkeiten im Schrifttum noch immer streitig diskutiert werden, wie zB Klauseln, nach denen das Schweigen des Gesellschafters als Zustimmung zu werten sei,17 ist man sich doch im Ergebnis zumindest darüber einig, dass eine Beschlussstimmung der Gesellschaft als schriftlich verkörperte Willenserklärung zugehen. So genügen schon bisher telegraphische, fernschriftliche oder fernkopierte Erklärungen.“ 13 Vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 24; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 160, 165; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 61. 14 Vgl. nur Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 175; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  48 GmbHG Rz. 281; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 44; Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 48; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 28. 15 Vgl. etwa Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl. 2014, §  45 GmbHG Rz.  1; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  45 GmbHG Rz.  2; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 45 GmbHG Rz. 6. 16 Vgl. auch Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 175. 17 Für eine Zulässigkeit etwa Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz.  178; Meyer-Landrut in Meyer-Landrut/Miller/Niehus, GmbHG, 1987, §  48 GmbHG

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fassung ohne Präsenzversammlung und unter Verzicht auf das Textformerfordernis iSd. § 48 Abs. 2 GmbHG auf Grundlage einer statutarischen Regelung zulässig ist.18 c) Ausgestaltung der virtuellen Gesellschafterversammlung Fehlt es an Regelungen in der Gründungssatzung, kann eine entsprechende Klausel mittels satzungsändernden Beschlusses mit qualifizierter Mehrheit nachträglich in den Gesellschaftsvertrag eingefügt werden (§ 53 Abs. 2 Satz 1 GmbHG).19 Zulässige Gestaltungen sind etwa Telefon- und Videokonferenzen,20 aber auch eine fernmündliche Beschlussfassung im Rundruf sowie Abstimmungen per E-Mail oder Chat. Das bedeutet im Ergebnis, dass bereits nach der gegenwärtigen Lage des GmbH-Rechts rein virtuelle Gesellschafterversammlungen21 auf Grundlage einer eindeutigen Satzungsklausel rechtssicher durchgeführt werden können. Ebenso gut kann eine Präsenzversammlung mit einer elektronischen Teilnahme von Gesellschaftern kombiniert werden.22 Für sämtliche Fälle sollten die Verfahrensvorschriften für eine elektronische oder kombinierte Beschlussfassung im Gesellschaftsvertrag mit hinreichender Bestimmtheit niedergelegt werden. Einzugehen ist neben der Beschlussfassung auch darauf, auf welche Weise die Mitglieder ihre übrigen gesellschafterlichen Rechte ausüben können. Bei der Schaffung der Vorschriften ist insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, dass ein Willensbildungsprozess überhaupt stattfinden kann und dass sich innerhalb des Willensbildungsprozesses auch die bestehenden Mehrheitsverhältnisse widerRz.  23; Vogel, Gesellschafterbeschlüsse und Gesellschafterversammlung, 2.  Aufl. 1986, S. 164; dagegen Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 29; Seibt in Scholz, GmbHG, 11.  Aufl. 2014, §  48 GmbHG Rz.  64; offenbar ebenso Hüffer/ Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl. 2014, §  48 GmbHG Rz.  62; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 44. 18 Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2.  Aufl. 2014, §  48 GmbHG Rz. 62; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 178; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  48 GmbHG Rz. 291; Schindler in BeckOK, GmbHG, Stand: 1.2.2018, § 48 GmbHG Rz. 103 ff.; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 65; Wertenbruch, GmbHR 2019, 149 ff. 19 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 29; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, §  48 GmbHG Rz.  175; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 55, 64. 20 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 29; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 62; Schindler in BeckOK, GmbHG, Stand: 1.2.2018, §  48 GmbHG Rz.  104; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 65; K. Schmidt, NJW 2006, 2599 (2600); Wernicke/Albrecht, GmbHR 2010, 393 (397). 21 Vgl. auch Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 48 GmbHG Rz. 29; Hohlfeld, GmbHR 2000, R53; Paal, ZGR 2017, 590 (595); Zwissler, GmbHR 2000, 28 (29 f.). 22 Vgl. Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 48 GmbHG Rz. 178; Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 48 GmbHG Rz. 290; Schindler in BeckOK, GmbHG, Stand: 1.2.2018, § 48 GmbHG Rz. 104; Zwissler, GmbHR 2000, 28 (29).

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spiegeln.23 Davon abgesehen müssen die Regelungen insgesamt vom Gedanken der Gesellschaftergleichbehandlung getragen sein.24 Zudem sollte genau vorgeschrieben werden, in welcher Weise und in welchem Umfang die Beschlussergebnisse zu dokumentieren sind.25 Gerade bei einer formlosen respektive elektronischen Beschlussfassung kommt der Dokumentation zentrale Bedeutung zur Vermeidung nachträglicher Gesellschafterstreitigkeiten zu. 2. Mitgliederversammlung des Vereins Im Vereinsrecht werden Beschlüsse über die Angelegenheiten des Vereins in der Versammlung der Mitglieder gefasst (§ 32 Abs. 1 Satz 1 BGB). a) Zulässigkeit der virtuellen Mitgliederversammlung Eine Beschlussfassung kann auch ohne Mitgliederversammlung erfolgen, wenn sämtliche Mitglieder ihre Zustimmung mit dem konkreten Beschluss erklären (§ 32 Abs. 2 BGB). Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis weist bemerkenswerte Parallelen zum GmbH-­Recht (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GmbHG) auf, wird im Vereinsrecht aber von einer verbreiteten Auffassung im Schrifttum26 – deutlich großzügiger – dahingehend interpretiert, dass unter „Versammlung der Mitglieder“ iSd. § 32 Abs. 1 Satz 1 BGB ohne Weiteres auch eine virtuelle Zusammenkunft zu verstehen sei. Das ist mit Blick auf die Systematik des § 32 Abs. 1 und Abs. 2 BGB und das tradierte Verständnis durchaus gewagt.27 Soweit eine entsprechende Satzungsklausel die virtuelle Versammlung für zulässig erklärt, ist mit der ganz hM freilich nichts gegen die Anerkennung reiner Online-Versammlungen einzuwenden. Die rechtsdogmatische Grund­ lage ist aber kein überdehnter Versammlungsbegriff, sondern die Disponibilität des § 32 BGB nach Maßgabe des § 40 Satz 1 BGB. b) Notwendigkeit einer satzungsmäßigen Grundlage Dementsprechend ist auch die zentrale Streitfrage, ob es zur Durchführung einer virtuellen Mitgliederversammlung – abgesehen von dem Fall der Zustimmung aller Mit23 Vgl. dazu (zum Verein) Fleck, DNotZ 2008, 245 (250). 24 Zum gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz allgemein Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006; speziell zur GmbH vgl. noch Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 13 GmbHG Rz. 108 ff. 25 Vgl. Seibt in Scholz, GmbHG, 11.  Aufl. 2014, §  48 GmbHG Rz.  65; Wernicke/Albrecht, ­GmbHR 2010, 393 (397) mit konkretem Vorschlag einer Satzungsregelung (S. 398 f.). 26 Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, §  32 BGB Rz.  289  ff.; Burhoff, Vereinsrecht, 4. Aufl. 2000, Rz. 271; Schuller in Baumann/Sikora, VereinsR-HdB, 2. Aufl. 2017, § 7 Rz. 12; Piper, NZG 2012, 735 (737); vgl. noch Mecking, ZStV 2011, 161 (162 f.); aA Otto in Stöber, VereinsR-HdB, 11. Aufl. 2016, Rz. 638. 27 Maßgeblich auf § 40 Satz 1 abstellend OLG Hamm v. 27.9.2011 – 27 W 106/11, NJW 2012, 940 (941); Beck, RNotZ 2014, 160 (167); Fleck, DNotZ 2008, 245 ff.; für eine Verortung im Rahmen des §  32 Abs.  2 BGB Arnold in MünchKomm. BGB, 7.  Aufl. 2015, §  32 BGB Rz. 66 f.

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glieder analog § 32 Abs. 2 BGB28 – einer satzungsmäßigen Grundlage bedarf29 oder nicht,30 mit Blick auf berechtigte Interessen der Minderheitsgesellschafter im Sinne der Notwendigkeit einer Satzungsregelung zu entscheiden. Dafür spricht sowohl die abgestufte Regelung des § 32 Abs. 1 und Abs. 2 BGB. Zudem kann – gerade mit Blick auf den Meinungsstand im GmbH-31 und Aktienrecht32 – keineswegs davon ausgegangen werden, dass der Begriff der Versammlung iSd. § 32 Abs. 1 Satz 1 BGB allein durch technologische Innovation inzwischen von einer physischen zu einer rein virtuellen Veranstaltung mutiert ist. Den Mitgliedern ist es nach § 40 Satz 1 BGB allerdings freigestellt, das Innenleben des Vereins nach ihren Präferenzen zu gestalten und insbesondere durch Satzungsregelung an die digitalen Entwicklungen anzupassen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht hier nicht um die Frage, ob eine Online-Versammlung durch das Vereinsrecht ausgeschlossen ist (was nicht der Fall ist), sondern allein darum, ob es einer Satzungsgrundlage bedarf. Deshalb kann die Gegenauffassung auch nicht mit dem Hinweis gehört werden, dass es kein abstraktes Recht auf körperliche Anwesenheit gebe.33 Tatsächlich lässt sich dem geltenden Vereinsrecht – gerade mit Blick auf die Satzungsdisponibilität – ein physisches Teilnahmerecht gerade nicht entnehmen. Nur lässt sich daraus umgekehrt auch nicht schließen, dass der Vorstand aus eigener Machtvollkommenheit nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheiden kann, ob die Mitgliederversammlung als Präsenz- oder als Online-Versammlung durchzuführen ist. Vielmehr entspricht es der Kompetenzverteilung und Funktionentrennung im Vereinsrecht sowie der Wertung des § 40 Satz 1 BGB, dass die Satzung die Modalitäten der Durchführung und der Beschlussfassung in der Mitgliederversammlung regelt. Die Vereinsmitglieder kraft Satzungsregelung entscheiden zu lassen, entspricht zugleich der in Art. 9 Abs. 1 GG verbürgten Vereinsautonomie, die nicht allein das Recht zur Bildung von Vereinigungen garantiert, sondern auch deren Ausgestaltung durch die Vereinsmitglieder.34

28 Ellenberger in Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 32 BGB Rz. 1 aE; Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 294; Otto in jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 32 BGB Rz. 14; Heidel/Lochner in NK-BGB, 3. Aufl. 2016, § 32 BGB Rz. 28; Schöpflin in BeckOK, BGB, Stand: 1.11.2018, § 32 BGB Rz. 45; Waldner in Münch. HdB GesR V, 4. Aufl. 2016, § 29 Rz. 24; aA Otto in Stöber, VereinsR-HdB, 11. Aufl. 2016, Rz. 638. 29 Ellenberger in Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 32 BGB Rz. 1 aE; Heidel/Lochner in NK-BGB, 2. Aufl. 2016, § 32 BGB Rz. 28; Otto in jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 32 BGB Rz. 14; Waldner in Münch. HdB GesR V, 4. Aufl. 2016, § 29 Rz. 24; Burhoff, Vereinsrecht, 4. Aufl. 2000, Rz. 272, 274; Fleck, DNotZ 2008, 245 ff.; ebenso Westermann in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 32 BGB Rz. 3; Mecking, ZStV 2011, 161 (164), die noch weitere Voraussetzungen formulieren. 30 Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, §  32 BGB Rz.  294; Noack, NJW 2018, 1345 (1349 f.); Piper, NZG 2012, 735 (737). 31 Siehe nochmals oben II. 2. 32 Siehe unten III. 3. 33 So dezidiert Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 294 iVm. Rz. 292. 34 Vgl. nur Arnold in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2015, § 40 Rz. 3; Fleck, DNotZ 2008, 245 (246).

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Abgesehen von der reinen Rechtsfrage muss auch die Gegenauffassung einräumen, dass die Durchführung einer Online-Versammlung mit signifikanten Rechtsrisiken verbunden ist, die sich aus einem etwaigen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot und das Teilnahmerecht ergeben können.35 Es kann der Vereinspraxis daher nur dringend angeraten werden, eine hinreichend bestimmte Satzungsgrundlage für virtuelle Mitgliederversammlungen zu schaffen. Das eröffnet zugleich die Möglichkeit, die konkreten Modalitäten auf ein rechtssicheres Fundament zu stellen. Freilich kann es dabei nicht darum gehen, sämtliche technischen Details und Einrichtungen satzungsmäßig festzuschreiben. Das würde auch mit Blick auf in Zukunft zu erwartende technische Innovationen wenig Sinn ergeben. Die elektronische Beschlussfassung sowie die digitale Ausübung der gesetzlichen Mitgliedschaftsrechte müssen aber zumindest in Grundzügen fixiert werden. In diesem Zusammenhang kann etwa vorgesehen werden, dass der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen im jeweiligen Einzelfall darüber entscheidet, ob eine physische oder virtuelle oder aber eine kombinierte Mitgliederversammlung durchgeführt werden soll. Ebenso gut können bestimmte Beschlussgegenstände einer Online-Abstimmung entzogen werden. c) Mehrheitserfordernis für die Satzungsänderung Abschließend ist noch zu klären, ob eine die Online-Versammlung billigende Satzungsklausel durch (qualifizierte) Mehrheitsentscheidung getroffen werden kann36 oder der Zustimmung sämtlicher Mitglieder bedarf.37 Mit Blick auf die in § 33 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BGB niedergelegten Grundsätze zur Satzungsänderung wird man sich – in Ermangelung abweichender Mehrheitsklauseln in der Satzung – mit einem Mehrheitsbeschluss von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen begnügen können. Aus der Systematik des § 33 Abs. 1 BGB ergibt sich zwanglos, dass allein für Änderungen des Vereinszwecks eine Zustimmung aller Mitglieder erforderlich ist. Mit der Einführung virtueller Versammlungsformate verändert sich aber weder der Vereinszweck, noch ist die Zulassung von Online-Versammlungen nach der Interessenlage einer Zweckänderung vergleichbar, so dass auch eine analoge Anwendung des § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB ausscheidet. De lege lata muss es daher beim Grundfall der Satzungsänderung bleiben, der nach § 33 Abs. 1 Satz 1 BGB mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden kann. 3. Generalversammlung der Genossenschaft Mit Blick auf die Digitalisierung von Versammlungen weist das Genossenschaftsrecht mit § 43 Abs. 7 GenG die modernste normative Grundlage auf. Danach kann die Sat35 Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 294. – Gerade der in Betracht gezogene Verstoß gegen das Teilnahmerecht lässt tief blicken. 36 Noack, NJW 2018, 1345 (1350); offenbar ebenso Schöpflin in BeckOK, BGB, Stand: 1.11.2018, § 32 BGB Rz. 45; Schuller in Baumann/Sikora, VereinsR-HdB, 2. Aufl. 2017, § 7 Rz. 22; Mecking, ZStV 2011, 161 (166). 37 In diese Richtung offenbar Westermann in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 32 BGB Rz. 3; Beck, RNotZ 2014, 160 (167 f.); Otto in Stöber, VereinsR-HdB, 11. Aufl. 2016, Rz. 639.

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zung zulassen, dass Beschlüsse der Mitglieder schriftlich oder in elektronischer Form gefasst werden. Auch die Einzelheiten sind einer satzungsmäßigen Regelung anheimgestellt. Trotz dieser erfreulich klaren Vorschrift ist der konkrete Regelungsgehalt von § 43 Abs. 7 GenG umstritten. So wird im Schrifttum verbreitet die Auffassung vertreten, dass die Durchführung einer virtuellen Generalversammlung von der Vorschrift gerade nicht gedeckt sei.38 Dieser Position ist dezidiert zu widersprechen.39 Für die Zulässigkeit einer virtuellen Generalversammlung spricht zunächst der Wortlaut. Der Gesetzestext spricht ausdrücklich davon, dass Beschlüsse „in elektronischer Form gefasst werden“ können. Die Vorschrift geht damit erkennbar weiter als § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG, der – nach seinem insofern klaren Wortlaut – nur eine Online-­ Teilnahme an einer Präsenz-Hauptversammlung ermöglicht. Ohne entsprechende Einschränkung im Wortlaut deutet die grammatikalische Interpretation des §  43 Abs. 7 GenG darauf hin, dass elektronische Beschlüsse ohne weitere Voraussetzungen, wie zB die physische Anwesenheit auch nur eines Gesellschafters, rein virtuell gefasst werden können. Diese Lesart wird durch die Einlassung des Gesetzgebers der großen GenG-Novelle von 200640 gestützt. In den Materialien41 heißt es wörtlich: „Unter diesen Voraussetzungen [scil.: Wahrung der Mitgliederrechte und Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Stimmabgabe] ist auch die Durchführung einer virtuellen Generalversammlung per Internet denkbar“.

Auch wenn der Gesetzgeber meint, dass diese Option derzeit nur für Genossenschaften im IT-Bereich praktische Bedeutung habe, lässt sich an der grundsätzlichen Zulässigkeit virtueller Generalversammlungen schwerlich zweifeln, schon gar nicht mit dem polemischen Hinweis, dass „(n)icht alles, was denkbar ist, (…) auch zulässig“ sei.42 Der Regierungsbegründung ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass der Begriff „denkbar“ im vorliegenden Zusammenhang als „zulässig“ zu lesen ist. Über den so verstandenen Willen des Gesetzgebers der Novelle von 2006 kann sich das Schrifttum schon mit Blick auf Aspekte der Gewaltenteilung und des Rechtsstaats­prinzips nicht hinwegsetzen.

38 Beuthien, GenG, 16. Aufl. 2018, § 43 GenG Rz. 53; Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4.  Aufl. 2012, §  43 GenG Rz.  60; Geibel in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 43 GenG Rz. 6; Beck, RNotZ 2014, 160 (167); Wittenberg, Willensbildung der Mitglieder und Corporate Governance im neuen Genossenschaftsgesetz, 2013, S. 59 ff. 39 Ebenso Bauer, Genossenschafts-HdB, Stand: Nov. 2006, §  43 GenG Rz.  209  f.; Cario in Lang/Weidmüller, GenG, 38. Aufl. 2016, § 43 GenG Rz. 114; Keßler in BerlKomm. GenG, 2001, § 43 GenG Rz. 5, 120; Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 291; Gätsch in Beck’sches HdB Genossenschaft, 2009, § 5 Rz. 197; Gschwandtner/Helios, Genossenschaftsrecht, 2006, S.  116  f.; Gschwandtner/Helios, NZG 2006, 691 (693); Hirte, DStR 2007, 2166 (2171); Klein, ZIP 2016, 1155 (1156 f.); obiter auch OLG Hamm v. 27.9.2011 – 27 W 106/11, NJW 2012, 940 (941). 40 Bekanntmachung der Neufassung des Genossenschaftsgesetzes v. 16.10.2006, BGBl. I, S. 1911 ff., 2268 ff. 41 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/1025, S. 87. 42 So aber Beuthien, GenG, 16. Aufl. 2018, § 43 GenG Rz. 53.

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Die Gegenauffassung vermag auch mit dem Argument nicht durchzudringen, dass in der Vorschrift nur von der Beschlussfassung die Rede sei, die Ausübung mitgliedschaftlicher Rechte und Pflichten indes an die Präsenz in der Generalversammlung gebunden sei.43 Schließlich ermöglicht die moderne Kommunikationstechnologie, dass die Mitglieder ihre Rechte und Pflichten – ebenso wie das Stimmrecht – auf elektronischem Wege ausüben.44 Gleiches gilt für die (Online-)Teilnahme von Prüfungsverbänden nach § 59 Abs. 1 GenG. Eine „Verlesung“ des Prüfungsberichts nach Maßgabe des §  59 Abs.  3 GenG kann  – ohne gegen die legislatorische Intention der Verlesungspflicht45 zu verstoßen – ohne Weiteres auch im Rahmen einer Telefon- oder Videokonferenz erfolgen. Soweit schließlich darauf verwiesen wird, das Gesetz gehe selbst an verschiedenen Stellen, wie zB § 43 Abs. 7 Satz 2 GenG oder § 47 Abs. 1 Satz 2 GenG, von der Notwendigkeit einer Präsenzversammlung aus,46 dann wird übersehen, dass die Neuregelung des § 43 Abs. 7 Satz 1 GenG zu diesen herkömmlichen Vorschriften als lex specialis zu verstehen ist. Im Falle einer virtuellen Generalversammlung werden die bezeichneten Vorschriften folglich zum Teil verdrängt bzw. sie sind orientiert am Normzweck des §  43 Abs.  7 Satz 1 GenG teleologisch zu reduzieren. Dementsprechend kann im Zusammenhang mit dem Ort in der Niederschaft iSd. § 47 Abs. 1 Satz 2 GenG schlicht darauf verwiesen werden, dass die Generalversammlung in rein virtueller Weise stattgefunden hat. In Anlehnung an die Regierungsbegründung zum ARUG47 könnte man als Versammlungsort auch schlicht „Cyberspace“ angeben. 4. Zwischenergebnis Der binnenrechtsvergleichende Rundblick zeigt, dass die Vorschriften über Versammlungen der GmbH, des Vereins und der Genossenschaft den Gesellschaftern weitestgehend die Nutzung moderner Kommunikationsmittel und digitaler Technologien ermöglichen. Zwar sind de lege lata noch eine ganze Reihe von Fragen umstritten. Die hiermit verbundenen Rechtsrisiken halten sich indes in Grenzen, weil es die Beteiligten grundsätzlich selbst in der Hand haben, durch die Schaffung satzungsmäßiger Grundlagen ein rechtssicheres Fundament für die virtuelle Willensbildung zu legen. Rechtspolitischer Handlungsbedarf besteht nur in sehr eingeschränktem Maße. Insbesondere erscheint es mit Blick auf berechtigte Interessen der (Minderheits-)Ge­ sellschafter nicht als gerechtfertigt, dass die Gesellschaftermehrheit  – zulasten einer überstimmten Minderheit – das Beschlussverfahren ohne Satzungsänderung mittels Gesellschafterbeschlusses ad hoc abändern kann. Eine eindeutige Satzungsregelung ist hier auch de lege ferenda die vorzugswürdige Lösung. Umgekehrt sind keine ver43 So Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl. 2012, § 43 GenG Rz. 60. 44 Dazu im Einzelnen unten V. 45 Zum Regelungsziel vgl. nur Bloehs in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4.  Aufl. 2012, § 59 GenG Rz. 5; Schöpflin in Beuthien, GenG, 16. Aufl. 2018, § 59 GenG Rz. 5; Bauer, Genossenschaftshandbuch, § 59 GenG Rz. 8. 46 So Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl. 2012, § 43 GenG Rz. 60. 47 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 26. – Zur Bedeutung des ARUG sogleich unten III.

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nünftigen Gründe dafür ersichtlich, im Falle des allseitigen Einverständnisses sämtlicher Gesellschafter eine formale Satzungsänderung zu verlangen. Eine sinnvolle Innovation im GmbH-Recht bestünde deshalb darin, den Gesellschaftern – auch ohne Satzungsgrundlage  – die Möglichkeit zu eröffnen, bei einhelliger Zustimmung ein elektronisches Beschlussverfahren zu vereinbaren und den Beschluss sogleich im Wege einer rein virtuellen Abstimmung zu fassen.48 Diese Regelung sollte durch eine § 48 Abs. 3 GmbHG entsprechende Dokumentationspflicht flankiert werden.

III. Hauptversammlung der Aktiengesellschaft: Status quo nach der lex lata Auch wenn sich in den letzten beiden Dekaden durch eine ganze Reihe von Neuregelungen die Einsatzmöglichkeiten neuer Medien in der Hauptversammlung signifikant erweitert haben,49 bleibt der Rechtsstand im Aktienrecht doch nicht unerheblich hinter dem GmbH-, Vereins- und Genossenschaftsrecht zurück. Der gesetzliche Regelfall ist nach Maßgabe des § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG die Präsenz-Hauptversammlung. 1. Online-Teilnahme an der Hauptversammlung Nach Inkrafttreten des ARUG 200950 kann die Satzung aber zumindest vorsehen, dass Aktionäre mittels elektronischer Kommunikationsmittel an der Hauptversammlung teilnehmen (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG).51 Entsprechend der Intention der hiermit umgesetzten Aktionärsrechterichtlinie52 in nationales Recht ging es dem deutschen Gesetzgeber in erster Linie darum, den (ausländischen) Aktionären die Ausübung von Mitgliedschaftsrechten zu erleichtern.53 Aus rechtsökonomischer Perspektive besteht Grund zu der Annahme, dass die zeit- und kosteneffektive Möglichkeit einer elektronischen Versammlungsteilnahme und Stimmabgabe geeignet ist, die rationale Apathie der Aktionäre zu überwinden.54 Das gilt umso mehr, als die Aktionärsstruktur der deutschen Aktiengesellschaften in den letzten beiden Dekaden deutlich internati48 Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 58; K. Schmidt, NJW 2006, 2599 (2602) mit Formulierungsvorschlag für eine Gesetzesänderung. 49 Vgl. nur Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 15 ff.; Dauner-Lieb, WM 2007, 9 (11); Hartmann, ZNotP 2001, 250  f.; Kindler, NJW 2001, 1678; Paal, ZGR 2017, 590 (593). 50 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 30.7.2009, BGBl. I, S. 2479. 51 Zur Abgrenzung von der Stimmabgabe auf elektronischem Wege nach § 118 Abs. 2 AktG vgl. Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  118 AktG Rz.  95; Herrler/Reymann, DNotZ 2009, 815 (821); v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (731 f.). 52 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2007, L184, 17 ff. 53 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 97; v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (730). 54 Vgl. Beck, RNotZ 2014, 160 (164); Drinhausen/Keinath, BB 2009, 2322 (2326); Paal, ZGR 2017, 590 (594).

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onaler geworden ist. Nach gegenwärtigem Stand befinden sich etwa die Anteile der DAX30-Unternehmen mehrheitlich in der Hand ausländischer Investoren.55 Für diese ist die Online-Teilnahme ein kostengünstiger Weg, um ihre mitgliedschaftlichen Rechte in Echtzeit ausüben zu können. Nach dem Regelungskonzept des § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG ist die elektronische Teilnahme des Aktionärs seiner physischen Präsenz und Mitwirkung am Veranstaltungsort im Grundsatz gleichgestellt. Die elektronischen Teilnehmer sind im Rechtssinne „erschienen“56 und können  – nach Maßgabe der konkreten Satzungsregelung  – im Wege neuer Medien in Echtzeit Auskunft verlangen57 und ihr Stimmrecht ausüben.58 Sie können Widerspruch zur Niederschrift erklären59 und Beschlussmängel geltend machen.60 Allerdings kann der Online-Teilnehmer kraft Satzungsregelung mit geringeren Befugnissen ausgestattet werden als Präsenz-Teilnehmer, ohne damit gegen den aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 53a AktG zu verstoßen. Zudem kann die Satzung nicht nur selbst eingehende Regelungen fixieren, sondern auch den Vorstand zur Festlegung der Modalitäten einer Online-Teilnahme ermächtigen. Der Gesellschaft ist demnach ein ganz erheblicher Spielraum für die Ausgestaltung der elektronischen Ausübung von Aktionärsrechten eröffnet.61 Es besteht allerdings keinerlei Zwang, überhaupt von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu machen.62 Die Gesellschaften können dementsprechend auch weiterhin Beschluss ausschließlich im Rahmen einer physischen Zusammenkunft der Aktionäre treffen. 55 Siehe die Studien von Ernst & Young, Wem gehört der FAX?, April 2018; abrufbar unter: https://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-wem-gehoert-der-dax/$FILE/ey-wemgehoert-der-dax.pdf (9.1.2019). 56 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 27; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 15; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 12; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 100; Noack, NZG 2008, 441 (444). 57 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 20; Kersting, NZG 2010, 130 (133); Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 12; Beck, RNotZ 2014, 160 (162); Herrler/Reymann, DNotZ 2009, 815 (821). 58 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 20; Herrler in Grigoleit, AktG, 2013, §  118 AktG Rz.  7; Koch in Hüffer/Koch AktG, 13.  Aufl. 2018, §  118 AktG Rz.  12; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 15; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 35. 59 Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 36 f.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 81; Noack, WM 2009, 2289 (2293); für technische Einzelheiten s. Wicke in FS Kanzleiter, 2010, S. 415 (420 f.). 60 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 27; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 81; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 36. 61 Zum Ganzen ausf. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 81 ff.; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 36 ff.; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 11; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 103 ff.; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 5b f. 62 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S.  26; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 35; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 10; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 99; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 5a; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 52; Seibert/Florstedt, ZIP 2008, 2145 (2146).

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2. Keine virtuelle Hauptversammlung Demgegenüber ist man sich – nicht zuletzt wegen der unmissverständlichen Worte der Regierungsbegründung zum ARUG63 – darüber ein, das de lege lata an der Präsenz-Hauptversammlung kein Weg vorbeiführt und eine reine Online-Versammlung ausgeschlossen ist.64 Zudem hat der Gesetzgeber auch davon abgesehen, die Bindung der Aktionärsrechte an die Hauptversammlung (§ 118 Abs. 1 Satz 1 AktG) und die Bestimmungen über den Versammlungsort (vgl. § 121 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 AktG) abzuändern. Soweit nur ein physischer Versammlungsort bestimmt wird, ist es aber ohne Weiteres zulässig, dass sich sämtliche Aktionäre nach Maßgabe einer auf § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG beruhenden Satzungsklausel mittels elektronischer Kom­ munikationsmittel dieser Versammlung zuschalten.65 Nur die Verwaltungsmitglieder und der Notar müssen sich am Versammlungsort befinden; die Aktionäre können sich auf freiwilliger Grundlage auf elektronischem Wege zuschalten. Von dieser Gestaltung bis zur echten virtuellen Hauptversammlung ist es nicht mehr weit. Schon dieser Umstand spricht dafür, dass man der Zulassung einer reinen Online-Hauptversammlung de lege ferenda nähertreten sollte.

IV. Sinnhaftigkeit einer Online-Hauptversammlung de lege ferenda Tatsächlich ist die Zulassung rein virtueller Versammlungen auch im Aktienrecht vielfach gefordert worden;66 aber auch die Kritiker sind bisher nicht verstummt.67 Im Folgenden sollen daher die Vorteile einer noch weitergehenden Digitalisierung der Hauptversammlung herausgestellt und etwaige Einwände entkräftet werden.

63 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 26: „Dabei geht es aber nicht um die Einführung der sog. virtuellen Hauptversammlung, also der Versammlung, die in keinem physischen Raum mehr stattfindet und deren Versammlungsort der Cyberspace ist …“. 64 Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 15; Herrler in Grigoleit, AktG, 2013, § 118 AktG Rz. 6; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 41; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 99; Beck, RNotZ 2014, 160 (164); v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (730); Wicke in FS Kanzleiter, 2010, S.  415 (416 f.); aA Pielke, Virtuelle Hauptversammlung, 2009, S. 144. 65 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 99; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 9; v. Holten/ Bauerfeind, AG 2018, 729 (730); aA Pielke, Virtuelle Hauptversammlung, 2009, S. 144. 66 Bachmann in FS G. H. Roth, 2011, S. 37; Claussen, AG 2001, 161 (171); Habersack, ZHR 165 (2001), 172 (179); Habersack, Verhandlungen 69. DJT, Bd. I, 2012, S.  E89; Hasselbach/ Schuhmacher, ZGR 2000, 258 (263); Hirte in FS Buxbaum, 2000, S. 291; Noack in 50 Jahre Aktiengesetz, ZGR-Sonderheft 19 (2015), S. 163 (180 f.); Noack in Zetzsche, Die virtuelle  Hauptversammlung, 2002, Rz.  12; Rieger, ZHR 165 (2001), 204  ff.; Piko/Preissler in ­Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, Rz. 380; Noack, BB 1998, 2533 (2535). 67 Bröcker/Schouler in Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, Rz. 125; Fuhrmann/ Göckeler/Erkens in Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, Rz. 156; Keunecke in Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, Rz. 352; Kindler, NJW 2001, 1678 (1689); Zätsch/Gröning, NZG 2000, 393 (395).

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1. Faktische Entkörperung der Präsenzversammlung Eingangs sei noch einmal betont, dass der Schritt von einer Online-Teilnahme aller Aktionäre hin zu einer rein virtuellen Versammlung nur marginal ist. Auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsgestaltung unter Rückgriff auf § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG kann eine „faktische Entkörperung der Präsenzversammlung“68 schon heute erzielt werden. Die ausdrückliche Zulassung einer reinen Online-Versammlung wäre nur die konsequente Fortschreibung der bisherigen Einwirkung beim Einsatz neuer Medien in der Hauptversammlung; sie wäre gleichsam der Schlussstein im Gebäude der digitalisierten Hauptversammlung. 2. Ökonomische Gründe Davon abgesehen gelten die zur Online-Teilnahme vorgetragenen Argumente umso mehr für rein virtuelle Versammlungen. Sie ermöglicht eine besonders breite und noch stärkere Beteiligung von (ausländischen) Aktionären. Zugleich ergeben sich ganz erhebliche Zeit- und Kostenersparnisse für die Teilnahme der Aktionäre, mehr aber noch für die Durchführung der Hauptversammlung aufseiten der AG. Zwar müssen Unternehmen zur Abhaltung einer Online-Versammlung in IT, nicht zuletzt Sicherheitssysteme und Schutzmechanismen, sowie internen und externen Sachverstand investieren. Umgekehrt entfallen aber die Kosten – bei großen Publikumsgesellschaften in Millionenhöhe69 – für die Abhaltung eines physischen Aktionärstreffens, etwa für Mieten, Reisen, Organisation vor Ort, Verpflegung usw. Gerade wenn sich Gesellschaften für eine kontinuierliche Abhaltung von Online-Versammlungen entscheiden und die für die erstmalige Durchführung notwendigen Anlaufkosten nicht mehr von Bedeutung sind, wird ein Gesamtkostenvergleich regelmäßig zugunsten der virtuellen Hauptversammlung ausfallen. 3. Rechtsvergleichende Argumente Hinzu kommen rechtsvergleichende Argumente mit Blick auf andere deutsche Rechtsformen, das US-amerikanische Recht und den European Model Company Act (EMCA). a) Binnenrechtsvergleich Der Seitenblick auf andere Verbandsformen deutscher Provenienz hat gezeigt, dass im GmbH-,70 Vereins-71 und Genossenschaftsrecht72 kraft Satzungsregelung schon nach geltender Rechtslage eine reine Online-Versammlung durchgeführt werden kann. Wie die weitere Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten zeigen wird, sind sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung der Aktiengesellschaft nicht er68 So treffend Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 291. 69 Vgl. Martens, Leitfaden Hauptversammlung, 3. Aufl. 2003, S. 4: 2 bis 3,5 Mio. Euro. 70 Siehe nochmals oben II. 1. 71 Siehe nochmals oben II. 2. 72 Siehe nochmals oben II. 3.

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sichtlich. Das zeigt sich besonders deutlich bei einem Vergleich der GmbH mit einer nichtbörsennotierte kleinen oder mittelgroßen AG, aber selbst für die große börsennotierte Publikumsgesellschaft kann im Ergebnis nichts anderes gelten. b) US-amerikanische Rechtslage Während ein rechtsvergleichender Blick ins europäische Ausland eher ernüchternd ausfällt,73 anerkennt das US-amerikanische Gesellschaftsrecht, das bekanntlich in die Gesetzgebungszuständigkeit der einzelnen Staaten fällt,74 in zahlreichen Bundesstaaten virtuelle Versammlungen (remote-only shareholders‘ meetings),75 allen vo­ran in Delaware (Del.Gen.Corp.L. § 211(a)(1), (2), (e)), dem auch in puncto Digitalisierung der Hauptversammlung einmal mehr eine Schrittmacherfunktion zukam. Heute ermöglichen mehr als 20 Bundesstaaten reine Online-Hauptversammlungen. Zumeist entscheidet der board of directors über das Ob und das Wie der Durchführung.76 In rechtstatsächlicher Hinsicht werden Online-Versammlungen immer beliebter.77 c) European Model Company Act Abschließend lohnt noch ein kurzer Blick auf den im September 2017 vorgelegten European Model Company Act (EMCA).78 Das von einer Expertengruppe entworfene Modellgesetz erweist sich insofern als digitalisierungsfreundlich, als s. 11.05(2) EMCA ausdrücklich vorsieht, dass die Gesellschafterversammlung der vorgeschlagenen Modellkapitalgesellschaft nicht nur als Präsenz-, sondern auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsregelung auch als reine Online-Versammlung durchgeführt werden kann. Insofern knüpft das Modellgesetz an die Vorarbeiten der Informal Company Law Expert Group (ICLEG) an, die in ihrem Digitalisierungsbericht aus März 2016 ebenfalls für die nationalstaatliche Zulassung rein virtueller Hauptversammlungen eingetreten ist.79 73 Dazu ausf. v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (733  ff.): Keine rein virtuelle Hauptversammlung zulässig in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Österreich; unklare Rechtslage im Vereinigten Königreich; Zulässigkeit aber zumindest in Luxemburg. Auch Dänemark lässt echte Online-Hauptversammlungen zu; vgl. comments to s. 11.05 EMCA (dazu sogleich IV. 3. c)). 74 Dazu allgemein Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2013, Rz. 182. 75 Für Einzelheiten vgl. Fairfax, 40 Seton Hall L. Rev. 1367 (2010); vgl. weiter Birnhak, 29 Rutgers Computer & Tech. L.J. 423 (2003); McLean, 23-WTR Kann. J.L. & Pub Pol’y 203 (2013/14). 76 Dazu kritisch Fairfax, 40 Seton Hall L. Rev. 1367 (2010); McLean, 23-WTR Kann. J.L. & Pub Pol’y 203 (2013/14). 77 Favoccia/Rieckers, FAZ v. 4.4.2018, S. 16. 78 Abrufbar unter: https://ssrn.com/abstract=2929348 (9.1.2019); dazu ausf. Baums/Teichmann, AG 2018, 562; Bayer/J. Schmidt, BB 2016, 1923 (1933); Döge, EuZW 2017, 707; J. Schmidt, ZHR 181 (2017), 43; J. Schmidt, Der Konzern 2017, 1. 79 ICLEG, Report on digitalisation in company law, 2016, S.  36; abrufbar unter: https:// ec.euro­pa.eu/info/sites/info/files/icleg-report-on-digitalisation-24-march-2016_en.pdf (10.1.2019).

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4. Kein faktischer Ausschluss von Aktionären Gegen die Zulassung reiner Online-Versammlungen kann auch nicht eingewandt werden, technisch unversierte Personen würden dadurch von der Teilnahme faktisch ausgeschlossen, was mit Blick auf die mitgliedschaftliche Rechtsstellung der Aktionäre unvereinbar sei. Tatsächlich wird es nicht wenige – vornehmlich ältere – Aktionäre geben, die zwar zu einer physischen Zusammenkunft reisen und in Person teilnehmen würden, sich aber eine Online-Teilnahme bisher nicht vorstellen können. Allerdings dürfte die große Mehrheit dieses Personenkreises zumindest über die notwendige technische Grundausstattung für eine virtuelle Teilnahme verfügen. Wo dies nicht der Fall, erscheint es mit Blick auf die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche nicht unzumutbar, von den Aktionären entsprechende Investitionen zur Anschaffung des notwendigen Equipments zu verlangen. Gleiches gilt für das Erlernen und die Übung im Umgang mit der Online-Plattform, über welche die Online-Hauptversammlung durchgeführt wird. Auch diese Form der Investition in Fähigkeiten und Kenntnisse erscheint nicht von vornherein unzumutbar. Das gilt umso mehr, als Unternehmen ihren Aktionären mit der Einberufung etwa ein Merkblatt mit technischen Informationen zusenden können.80 Aber auch Härtefälle sind nicht von vornherein ausgeschlossen. Um dem berechtigten Interesse der (Minderheits-)Aktionäre Rechnung zu tragen, sollte ein gesetzliches Minderheitsrecht etabliert werden, wonach eine qualifizierte Minderheit die Durchführung einer Präsenzhauptversammlung verlangen kann.81 Bei nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften, die durch Satzungsänderung nachträglich die Möglichkeit einer Online-Versammlung vorsehen, sollte Aktionären zudem ein Austrittsrecht gegen Abfindung zum objektiven Anteilswert eingeräumt werden.82 Die Anteilsinhaber börsennotierter Gesellschaften haben die Möglichkeit, ihr Investment über den Kapitalmarkt zu liquidieren. Unter diesen Voraussetzungen kann auch von einem Verstoß gegen den aktienrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 53a AktG keine Rede sein.83 Von den Aktionären wird erwartet, dass sie die technische Grundausstattung anschaffen und sich die notwendigen Kenntnisse aneignen, um an einer Online-Versammlung teilnehmen zu können. Sind sie dazu nicht willens oder nicht in der Lage, können sie entweder schlicht passiv bleiben, ihre Aktien veräußern oder in nichtbörsennotierten AG gegen Abfindung auszutreten. Jedenfalls sollte im Gesetz oder zumindest in der Gesetzesbegründung klargestellt werden, dass mangelnde Voraussetzungen zur Online-Teilnahme aufseiten des Aktionärs in seinen Risikobereich fallen und daher keineswegs einen Beschlussmangel wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgebots darstellen.

80 Vgl. (zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 102; Reger in Bürgers/Körbers, AktG, 4. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 5d. 81 Dazu näher unten V. 2. 82 Dazu näher unten V. 1. aE. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, §  32 BGB Rz. 292; Riegger/Mutter, ZIP 1998, 637 (638); Mankowski, ZMR 2002, 246 (248).

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5. Kein Recht der Aktionäre auf physische Anwesenheit Im aktienrechtlichen Schrifttum wird nicht selten die Auffassung vertreten, jeder Aktionär habe ein Recht auf physische Anwesenheit in der Hauptversammlung.84 Das mag zwar mit Blick auf § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG der geltenden Rechtslage im Aktienrecht entsprechen, weil nach zutreffender hM an der Präsenzversammlung – auch bei einer etwaigen Online-Teilnahme – kein Weg vorbeiführt und insbesondere auch kein Aktionär gezwungen werden kann, elektronische Kommunikationsmittel zu nutzen. Überlegungen de lege ferenda können an diesem Punkt aber schwerlich stehenbleiben. Denn die körperliche Anwesenheit in der Präsenzhauptversammlung soll es dem Aktionär schlicht ermöglichen, seine mitgliedschaftlichen Rechte auszuüben. Hintergrund ist die Versammlungsgebundenheit der Aktionärsrechte nach § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG.85 Mit anderen Worten, die physische Anwesenheit ist notwendige Bedingung, um sich de lege lata an der Willensbildung innerhalb der Präsenzhauptversammlung zu beteiligen.86 In der Sache handelt es sich lediglich um ein erforderliches Hilfsrecht ohne rechtlichen Eigenwert.87 Das wird deutlich, wenn man sich die Situation der rein virtuellen Hauptversammlung vor Augen führt. Dort wird es dem Aktionär ermöglicht, alle seine mitgliedschaftlichen Rechte, die er zuvor zumindest auch kraft körperlicher Anwesenheit wahrnehmen könnte, im Wege elektronischer Kommunikationsmittel auszuüben. Das gilt nicht nur für das Stimmrecht, sondern auch für alle weiteren versammlungsgebundenen Rechte, wie zB Rede-, Frage-, Einsichtnahme- und Widerspruchsrecht, ebenso für die dem Aktionäre im Vorfeld der Hauptversammlung zustehenden Rechte, wie zB Informations- und Antragsrechte. Dass der Aktionäre alle diese Rechte auf elektronischem Wege ungehindert ausüben kann, muss umgekehrt aber auch durch gesetzliche Regelungen sichergestellt sein.88 6. Interaktion zwischen Aktionären und Management Gegen die rein virtuelle Hauptversammlung wird weiter geltend gemacht, die (räumliche) Distanz und die Anonymität des Aktionariats erschwere die Interaktion zwischen Aktionären und Management.89 Zudem seien Mimik, Gestik, Rhetorik und die Reaktion der Teilnehmer nicht ebenso gut wahrnehmbar wie bei einer Präsenzver84 Vgl. nur Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 65; Liebscher in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 10; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 99. 85 Siehe nochmals oben III. 1. 86 Für den Zusammenhang zwischen Rechtsausübung und Teilnahmerecht vgl. nur Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 Rz. 66. 87 Vgl. auch Drygala in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 13 UmwG Rz. 10; Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 292. 88 Dazu näher unten V. 4. 89 Aus dem US-amerikanischen Schrifttum vgl. Fairfax, 40 Seton Hall L. Rev. 1367, 1391 ff. (2010); McLean 23-WTR Kann. J.L. & Pub Pol’y 203 (2013/14).

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sammlung.90 Schließlich bestehe die Gefahr, dass sich der Vorstand unbequemen Fragen entziehe.91 Im Ausgangspunkt wird man zunächst die rechtlich relevanten Aspekte von eher atmosphärischen Gesichtspunkten unterscheiden müssen. Es steht vollkommen außer Frage, dass der Vorstand dem eminent wichtigen Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG durch Abhaltung einer Online-Versammlung nicht entgehen kann. Im Rahmen der Ausgestaltung einer virtuellen Hauptversammlung de lege ferenda ist daher zu gewährleisten, dass Informationsrechte durch Aktionäre ebenso effektiv genutzt werden können wie im Rahmen der Präsenzversammlung. Gleiches gilt für alle weiteren mitgliedschaftlichen Rechte. Ist dies aber der Fall, dann erscheint die räumliche Distanz zwischen den Aktionären von subalterner Bedeutung. Auch von einer Anonymität der online teilnehmenden Aktionäre kann keine Rede sein, weil nur solche Aktionäre an der virtuellen Versammlung teilnehmen dürfen, die sich durch die Verwendung der im Vorfeld zugesandten Einwahldaten und Passworte gegenüber der Gesellschaft ordnungsgemäß identifiziert und legitimiert haben.92 Dass die Atmosphäre nicht ebenso gut wahrgenommen werden kann, als wenn sich die Aktionäre in einem gemeinsamen  – typischerweise recht großen  – Raum be­ finden, ist mit Blick auf die eingangs bezeichneten Vorteile einer Online-Hauptversammlung93 in der Gesamtbetrachtung verschmerzbar.94 Zudem ist das berechtigte Interesse der Aktionäre durch ein Minderheitsrecht auf Durchführung einer Präsenzversammlung95 im Einzelfall sicherzustellen. 7. Technische Komplexität, Rechtsunsicherheit und Anfechtungsrisiken Schließlich wird aus der Praxis berichtet, dass viele Unternehmen vor einer umfassenden Nutzung der Online-Teilnahme nach § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG zurückscheuen, weil sie kritischen Aktionären keine zusätzliche Plattform bieten wollen. Diese Bedenken sind eng verbunden mit der Vorstellung, dass eine Online-Teilnahme aufgrund der technischen Komplexität des elektronischen Verfahrens zu einer erhöhten Rechtsunsicherheit führen kann, namentlich in Form von Anfechtungsrisiken.96 Diese Probleme sind bestens bekannt97 und ernst zu nehmen. Allerdings sind die damit verbundenen Schwierigkeiten für die Funktionsfähigkeit der AG und die Be90 Vgl. Spindler, ZGR 2000, 420 (441); zum Vereinsrecht Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 300. 91 Vgl. v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (734); siehe umgekehrt zur Problematik kritischer Aktionäre v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (735 f.). 92 Dazu näher unten V. 3. 93 Siehe nochmals oben IV. 2. 94 Im Ergebnis ebenso Spindler, ZGR 2000, 420 (441 f.). 95 Siehe unten V. 2. 96 Zum Ganzen näher v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (731). 97 Dazu ausf. Fuhrmann/Göckeler/Erkens in Zetzsche, Die virtuelle Hauptversammlung, 2002, Rz. 151 ff.; Horn, ZIP 2008, 1558 (1564); Paschos/Goslar, AG 2008, 605 (610); v. Holten/ Bauerfeind, AG 2015, 489 (491 ff.).

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standskraft von Hauptversammlungsbeschlüssen bereits für die Online-Teilnahme mit der Einschränkung des § 243 Abs. 3 Nr. 1 AktG erheblich entschärft. Freilich trifft den Vorstand ungeachtet dieser Vorschrift auch bei aus ihrer Sphäre herrührenden Störungen eine Beseitigungspflicht. Er muss durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen dafür sorgen, dass die Online-Versammlung einwandfrei durchgeführt werden kann.98 Dabei handelt es sich aber um keinen signifikanten Unterschied zur Durchführung einer Präsenzhauptversammlung, die ebenfalls sorgfältig zu organisieren und durchzuführen ist. 8. Sachlicher Anwendungsbereich Das alles spricht im Grundsatz und unter der Voraussetzung einer mit hinreichenden Schutzmechanismen versehenen Ausgestaltung99 für die Zulassung rein virtueller Hauptversammlungen kraft Satzungsregelung. Mit Blick auf die zentralen Argumente für und gegen Online-Versammlungen mag es sein, dass große börsennotierte Publikumsgesellschaften mit einer international breitgestreuten Eigentümerstruktur in besonderem Maße von den technischen Möglichkeiten profitieren, die ökonomischen Gründe hier womöglich stärker ins Gewicht fallen als bei kleinen oder mittelgroßen nichtbörsennotierten AG.100 Gleiches gilt indes auch für die Online-Teilnahme an einer Präsenzhauptversammlung, und dennoch hat sich der Gesetzgeber des ARUG zu Recht für eine unterschiedslose Geltung des § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG entschieden. Denn die mit der Vorschrift verbundenen Erleichterungen kommen im Grundsatz auch der nichtbörsennotierten AG zugute. Zudem zeigt der Blick auf andere Verbandsformen, insbesondere die vielfach personalistisch strukturierte GmbH, dass auch kompaktere Rechtsformen von einer Online-Versammlung profitieren können. Und auch im US-amerikanischen Recht findet sich eine Differenzierung zwischen börsennotierten und nichtbörsennotierten AG im Hinblick auf remote-only share­ holders‘ meetings nur vereinzelt.101 Dementsprechend sollte alle Aktiengesellschaften die Möglichkeit eröffnet werden, sich kraft Satzungsregelung für eine rein virtuelle Hauptversammlung zu entscheiden. Das schließt es freilich nicht aus, mit Blick auf flankierende Schutzmechanismen zu differenzieren.102

98 Für Details bei § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG vgl. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 91; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 17; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 38; Herrler in Grigoleit, AktG, 2013, § 118 AktG Rz. 8. 99 Dazu sogleich unten V. 100 Eine Beschränkung auf publicly traded companies findet sich etwa bei ICLEG, Report on digitalisation in company law, 2016, S. 36; abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/sites/ info/files/icleg-report-on-digitalisation-24-march-2016_en.pdf (10.1.2019). 101 Dazu näher Fairfax, 40 Seton Hall L. Rev. 1367, 1368 f. (2010). 102 Speziell zum Austrittsrecht in der nichtbörsennotierten AG siehe unten V. 1. aE.

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V. Ausgestaltung einer Online-Hauptversammlung im Einzelnen Die hier empfohlene Zulassung von Online-Hauptversammlungen ist – wie die vorstehende Evaluierung der Vor- und Nachteile gezeigt hat – untrennbar mit deren konkreter Ausgestaltung verbunden. Nicht nur die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Aktiengesellschaft, sondern auch berechtigte Interessen von (Minderheits-)Aktionären müssen durch obligatorische Mindeststandards effektiv geschützt sein. 1. Satzungsgrundlage Dem entspricht es, dass die Zulassung und Ausgestaltung ausschließlich auf Grundlage satzungsmäßiger Regelungen erfolgen kann. Für die deutsche AG kann in diesem Zusammenhang nichts anderes gelten als für GmbH,103 Verein104 und Genossenschaft105 sowie für US-amerikanische Gesellschaften106 und die europäische Modellkapitalgesellschaft.107 Mit der Festlegung in der Satzung wird für alle aktuellen und künftigen Aktionäre und für den Rechtsverkehr im Allgemeinen erkennbar, dass eine Hauptversammlung nicht nur physisch, sondern auch ausschließlich virtuell durchgeführt werden kann. In Anlehnung an § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG sollte es möglich sein, dass die Satzung selbst die Modalitäten der Online-Versammlung ausbuchstabiert. Zudem sollte auch der Vorstand ermächtigt werden können, in Abhängigkeit von den konkreten Rahmenbedingungen der anstehenden Beschlussgegenstände über die konkrete Art und Weise der Durchführung der Hauptversammlung zu entscheiden. Das entspricht nicht nur seiner Rechtsstellung innerhalb des aktienrechtlichen Systems der Kompetenzverteilung und Funktionentrennung, sondern ermöglicht es ihm auch, flexibel auf Änderungen der Wirtschaftswelt, aber auch technologische Innovationen zu reagieren.108 Umgekehrt sollte – wiederum in Parallele zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG – auf die Festlegung technischer Vorgaben und etwaiger Sicherheitsstandards im Gesetz verzichtet werden. Soweit nicht bereits die Gründungssatzung eine solche Klausel enthält, sollte es mit Blick auf die aktienrechtlichen Grundsätze der Satzungsänderung zulässig sein, dass die reine Online-Versammlung – ebenso wie die Online-Teilnahme de lege lata109 – 103 Siehe oben II. 1. b. 104 Siehe oben II. 2. b. 105 Siehe oben II. 3. 106 Siehe oben IV. 3. b. 107 Siehe oben IV. 3. c. 108 Vgl. (zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 26; Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  118 AktG Rz.  37; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 103; v. Holten/Bauerfeind, AG 2015, 489 (490); Drinhausen/ Keinath, BB 2009, 64 (67). 109 Vgl. dazu Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 86; Koch in Hüffer/ Koch AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 11; Drinhausen in Hölters AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 16.

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mit qualifizierter Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Grundkapitals nachträglich eingeführt wird (§ 179 Abs. 2 Satz 1 AktG). Das entspricht zum einen der Rechtslage bei anderen Verbandsformen. Zum anderen steht es den (Minderheits-)Aktionären börsennotierter Gesellschaften frei, ihr Investment durch Aktienverkauf zu beenden. Die berechtigten Interessen an nichtbörsennotierten AG beteiligter Aktionäre sollten durch die Einführung eines Austrittsrecht gegen Abfindung zum objektiven Anteilswert geschützt werden.110 2. Minderheitsrecht auf Präsenzversammlung Zum Schutz der (Minderheits-)Aktionäre sollte weiterhin die gesetzliche Befugnis festgeschrieben werden, dass auf Verlangen durch eine qualifizierte Minderheit eine Präsenzversammlung durchzuführen ist.111 Systemgerecht ist eine Anlehnung des Mindestquorums an § 122 Abs. 1 und Abs. 2 AktG. Danach könnten Aktionäre, deren Anteile zusammen 5 % des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von 500.000 Euro erreicht, die Durchführung einer Präsenzversammlung verlangen. Darüber hi­ naus erscheint es unbedenklich, wenn einer weniger qualifizierten Minderheit ein vergleichbares Recht kraft Satzungsregelung zugebilligt wird.112 Mit Blick auf die berechtigten Belange der Minderheit erscheint es hingegen nicht gerechtfertigt, das Bestehen eines solchen Minderheitsrechts ausschließlich der Satzungsgestaltung zu überlassen. Steht ein solches Minderheitsrecht den Aktionären kraft Gesetzes zu, dann wird man schwerlich annehmen können, dass der Vorstand ermessensfehlerhaft und daher pflichtwidrig handelt, wenn er eine virtuelle Hauptversammlung einberuft. Namentlich im Vereinsrecht wird die Auffassung vertreten, der Vorstand überschreite sein Ermessen, wenn mit Blick auf den konkreten Beschlussgegenstand ein dialektischer Willensbildungsprozess nur im Rahmen einer physischen Zusammenkunft denkbar erscheine.113 Abgesehen davon, dass man kaum rechtssicher feststellen kann, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Fall vorliegt, erscheint es mit Blick auf die damit verbundenen Anfechtungsrisiken und im Hinblick auf das vorgeschlagene Minderheitsrecht, im Einzelfall die Einberufung einer Präsenzversammlung zu verlangen, wenig opportun, diesem Gedanken im aktienrechtlichen Kontext näherzutreten. 3. Technische Vorkehrungen zur Durchführung der Hauptversammlung Die virtuelle Hauptversammlung steht und fällt mit einer technisch einwandfreien Ausrichtung. Ebenso wie es den Aktionären obliegt, sich für eine Online-Teilnahme 110 Vgl. ICLEG, Report on digitalisation in company law, 2016, S. 32; abrufbar unter: https:// ec.europa.eu/info/sites/info/files/icleg-report-on-digitalisation-24-march-2016_en.pdf (10.1.2019); dem folgend Spindler, ZGR 2018, 17 (25). 111 In der Sache ebenso ICLEG, Report on digitalisation in company law, 2016, S. 36; abrufbar unter: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/icleg-report-on-digitalisation-24-march-​ ­2016_en.pdf (10.1.2019). 112 Vgl. comments s. 11.05 EMCA. 113 So namentlich Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 300.

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zu rüsten (oder auszuscheiden), muss aufseiten der AG durch den Vorstand114 sichergestellt sein, dass die virtuelle Hauptversammlung unter Beachtung der allgemeinen aktienrechtlichen Standards mittels elektronischer Kommunikationsmittel rechtssicher durchgeführt werden kann. Zudem muss die AG gewährleisten, dass sich die Aktionäre über die Vorgänge in der Versammlung ein Bild machen, eine eigene Meinung bilden und alle ihre Rechte auf elektronischem Wege ausüben können.115 Das setzt zunächst eine ordnungsgemäße Einberufung voraus, die im Wege elektronischer Kommunikationsmittel den Aktionären zu übermitteln ist. Zugleich müssen die relevanten Vorabinformationen digital, etwa per E-Mail oder auf der Homepage des Unternehmens, zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sind den Aktionären fristgerecht, ordnungsgemäß und verlässlich ihre persönlichen Zugangs- und Einwahldaten nebst Zugangscodes zu übermitteln,116 mit deren Hilfe sie sich passwortgeschützt an der Online-Versammlung beteiligen können. Mit Blick auf das Stimmrecht ist sicherzustellen, dass jeder stimmberechtigte Aktionär sich an der Beschlussfassung auf elektronischem Wege beteiligen kann, nicht aber außenstehende Dritte, und dass der jeweilige Aktionär seine Stimme auch nur einmal abgeben kann. Das lässt sich nach dem heutigen Stand der Technik ohne Weiteres bewerkstelligen.117 Zentrale Voraussetzung für die virtuelle Teilnahme ist die rechtssichere Identifizierung der Aktionäre, um ihre Teilnahme- und Stimmberechtigung verifizieren zu können.118 Gerade bei der Identifizierung ausländischer Aktionäre bestehen noch immer Defi­ zite.119 Durch die Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie120 in Form eines ARUG II121 werden die Gesellschaften aber nun mit effektiven Instrumenten ausge-

114 Für eine Verantwortlichkeit des Notars bei beurkundungsbedürftigen Beschlüsse: Spindler, ZGR 2018, 17 (24). 115 Zur Ausübung der mitgliedschaftlichen Rechte sogleich im Einzelnen unten V. 4. 116 Vgl. (zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 102; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 5d; Beck, RNotZ 2014, 160 (162); (zum Vereinsrecht) Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 297; Dehesselles/Richter, npoR 2016, 246 (250). 117 Vgl. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 19; Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 97; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 118 AktG Rz. 49. 118 Vgl. allgemein Spindler, ZGR 2018, 17 (24); (zu §  118 Abs.  1 Satz 2 AktG) Mülbert in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 102; Wicke in FS Kanzleiter, 2010, S. 415 (418); (zum Vereinsrecht) OLG Hamm v. 27.9.2011 – 27 W 106/11, NJW 2012, 940 (941); Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 297; Burhoff, Vereinsrecht, 4. Aufl. 2000, Rz. 276; Erdmann, MMR 2000, 526 (528 f.); Fleck, DNotZ 2008, 245 (254 f.). 119 Dazu ausf. v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (737). 120 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der RL 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl EU v. 20.5.2017, L132/1. 121 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 11.10.2018; abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungs​ verfahren/DE/Aktionaersrechterichtlinie_II.html (14.1.2019).

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stattet, um die Identität der tatsächlichen Anteilsinhaber deutlich besser als in der Vergangenheit feststellen zu können (know your shareholder).122 4. Elektronische Ausübung von Aktionärsrechten Entscheiden sich Gesellschaften für die Durchführung einer reinen Online-Versammlung, dann müssen alle Aktionäre die Möglichkeit haben, sämtliche Rechte elektronisch auszuüben. Im Gegensatz zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG ist es bei virtuellen Versammlungen nicht länger zulässig, dass nur einzelne Aktionärsrechte im Wege elektronischer Kommunikationsmittel wahrgenommen werden. Denn während die Aktionäre nach der lex lata stets die Möglichkeit haben, sämtliche Mitgliedschaftsrechte in der obligatorischen Präsenzhauptversammlung auszuüben, ist ihnen diese Option bei der Wahl einer reinen Online-Versammlung verwehrt. Deshalb müssen die Aktionäre mit Blick auf ihre Rechtsstellung innerhalb der aktienrechtlichen Unternehmensverfassung sämtliche Befugnisse ausnahmslos auf elektronischem Wege wahrnehmen können. Ebenso wie nach dem Konzept des § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG ist auch bei der virtuellen Hautversammlung eine Zwei-Wege-Verbindung in Echtzeit123 notwendig, auf deren Grundlage die Aktionäre ihre mitgliedschaftlichen Befugnisse ausüben, aber zugleich auch den Gesamtablauf der Hauptversammlung im Übrigen, namentlich den Bericht des Vorstands und die Äußerungen anderer Aktionäre, störungsfrei wahrnehmen können.124 5. Protokollierung Der Protokollierung einer virtuellen Hauptversammlung kommt besondere Bedeutung zu, weil sich die Kommunikation auf elektronischem Wege vollzieht. Im Interesse der Funktions- und Handlungsfähigkeit der AG sowie im Interesse der Rechts­ sicherheit im Allgemeinen muss eine Online-Protokollierung nach vergleichbaren Maßstäben gewährleistet sein wie bei einer Präsenzversammlung. Zu diesem Zweck wird man schwerlich umhinkommen, die Vorschriften über die Niederschrift der Verhandlung (§ 130 AktG) anzupassen. Dabei darf es aber – ebenso

122 DAV, NZG 2019, 12 Rz. 2 ff.; Foerster, AG 2019, 17 ff.; Grobecker/Wagner, Konzern 2018, 419 f.; Paschos/Goslar, AG 2018, 857 (858 ff.); J. Schmidt, NZG 2018, 1201 (1214 ff.); Seulen, DB 2018, 2915 (2918 ff.); Zetzsche, AG 2019, 1 (14); zur Richtlinie ausf. Noack, NZG 2017, 561. 123 Vgl. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 80; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 10; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 118 AktG Rz. 15; Liebscher in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 118 AktG Rz. 10. 124 Vgl. (zu § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) Hoffmann in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 38; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 87 ff.; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 54; (zum Vereinsrecht) Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 297; Burhoff, Vereinsrecht, 4. Aufl. 2000, Rz. 273; Erdmann, MMR 2000, 526 (528).

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wie der geplanten Online-Gründung von Gesellschaften125  – zu keiner Absenkung der Schutzstandards kommen. Dementsprechend kann auch bei der Online-Hauptversammlung einer börsennotierten AG auf die Mitwirkung eines Notars nicht verzichtet werden. In technischer Hinsicht erfolgt dann eine Online-Beurkundung, die auf einer elektronischen Echtzeitverbindung beruht, etwa in Form einer Videokonferenz oder unter Verwendung sonstiger elektronischer Kommunikationsmittel.126 Entscheidet man sich für eine virtuelle Hauptversammlung muss die Wahrnehmung der Verhandlungen auf elektronischem Wege auch für eine entsprechende Protokollierung genügen.127 Zudem erscheint es sachgerecht, wenn der Notar die Ergebnisse von Beschlüssen in dieser Form festhält.128 Die Grundzüge eines solchen Online-Beurkundungsverfahrens müssen in gesetzlicher Form fixiert werden.129 Das gilt auch für Regelungen im Falle einer technischen Störung.130 6. Beschlussmängel Verstöße gegen die vorstehenden Grundsätze einer ordnungsgemäßen Durchführung der Online-Versammlung begründen Beschlussmängel, die mit den allgemeinen aktienrechtlichen Rechtsbehelfen angegriffen werden können. Von besonderer Bedeutung sind Verstöße gegen das Teilnahmerecht von Aktionären, wenn zB die Zugangsoder Einwahldaten unrichtig waren, oder wenn der Aktionär aus anderen – von der AG zu vertretenden Gründen – an der Ausübung seiner Rechte gehindert war. Im Interesse der Funktionsfähigkeit der Hauptversammlung und des Verkehrsschutzes im Allgemeinen ist eine Anfechtung in Anlehnung an § 243 Abs. 3 Nr. 1 AktG auszuschließen, soweit der Verstoß gegen die Satzung oder das Gesetz auf einer ­technischen Störung beruht, es sei denn, der Gesellschaft fällt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last.131 Die Gesellschaft muss also jedenfalls das technische und

125 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der RL 2017/1132/(EU) im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht vom 25.4.2018, COM (2018) 239 final; dazu ausf. Bock, DNotZ 2018, 643; Knaier, GmbHR 2018, 560; Lieder, NZG 2018, 1081; Noack, DB 2018, 1324; J. Schmidt, Der Konzern 2018, 229; Seibert in FS Bergmann, 2018, S. 677; Teichmann, ZIP 2018, 2451. 126 Vgl. Erwägungsgrund 13 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der RL 2017/1132/(EU) im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht v. 25.4.2018, COM (2018) 239 final; Lieder, NZG 2018, 1081 (1088); vgl. noch Noack, DB 2018, 1324 (1325). 127 Beck, RNotZ 2014, 160 (165); Erdmann, MMR 2000, 526 (529); aA Sasse, Hauptversammlung und Internet, 2002, S. 177 ff. 128 Beck, RNotZ 2014, 160 (165); Pielke, Virtuelle Hauptversammlung, 2009, S. 179; (für den Verein) Erdmann, MMR 2000, 526 (529); Krüger, MMR 2012, 85 (88). 129 Siehe dazu die Vorüberlegungen von Klumpen, Die elektronische Gesellschaftsgründung über die Grenze, 2018, S. 273 ff. 130 Speziell dazu Beck, RNotZ 2014, 160 (165 f.). 131 Vgl. noch die rechtspolitische Kritik bei Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 243 AktG Rz. 110.

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organisatorische Mindestmaß an Sorgfalt eingehalten haben. Das Gegenteil ist vom Anfechtungskläger darzulegen und zu beweisen.132 7. Anpassung des Umwandlungsgesetzes Schließlich sind im Zuge der Zulassung von Online-Hauptversammlungen noch umwandlungsrechtliche Spezialvorschriften zu korrigieren. Denn nach Maßgabe der §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 125 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 2 UmwG können Umwandlungsbeschlüsse nur in einer Versammlung der Anteilsinhaber gefasst werden. Die hM im GmbH-,133 Vereins-134 und Umwandlungsrecht135 interpretiert diese Vorschriften in dem Sinne streng, dass eine virtuelle Versammlung hierfür nicht ausreicht. Hiergegen formiert sich seit geraumer Zeit nicht unerheblicher Widerstand, der bereits de lege lata gute Gründe auf seiner Seite hat.136 Denn mit Blick auf andere Grundlagen- und Strukturbeschlüsse vermögen strengere Maßstäbe für Umwandlungsbeschlüsse schwerlich zu überzeugen. Auch die Materialien zum UmwG liefern keine Sachargumente für die Versammlungsbindung der Beschlussfassung, sondern verweisen allein auf einzelne, über­ kommene Vorschriften des alten Rechts, die aus Gründen der Klarstellung Mitte der 1990er Jahre einer einheitlichen Regelung zugeführt werden sollen.137 Die bahnbrechenden Entwicklungen der Digitalisierung und neuen Medien standen dem damaligen Gesetzgeber offensichtlich nicht vor Augen. Plädiert man nun für die Einführung einer rein virtuellen Hauptversammlung und sind Online-Versammlungen auch im GmbH-, Vereins- und Genossenschaftsrecht zulässig, dann ist ein Sonderrecht für Umwandlungsbeschlüsse umso weniger zu rechtfertigen. Deshalb sollten einheitlich (und damit auch im Umwandlungsrecht) die allgemeinen Grundsätze der Beschlussfassung der jeweiligen Verbandsformen gelten. Zu diesem Zweck sind §§ 13 Abs. 1 Satz 2 UmwG, 193 Abs. 1 Satz 2 UmwG ersatzlos zu streichen. Mit Blick auf den bereits de lege lata bestehende Wertungswiderspruch, braucht der Gesetzgeber mit der 132 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/11642, S. 40. 133 Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, §  48 GmbHG Rz.  21; Hüffer/ Schürnbrand in Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 55; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 55. 134 Schöpflin in BeckOK, BGB, Stand: 1.11.2018, § 32 BGB Rz. 45; Schuller in Baumann/Sikora, VereinsR-HdB, 2010, §  7 Rz.  17, 23; Wagner in Reichert/Schinke/Dauernheim, VereinsR-HdB, 2010, Kap. 2 Rz.  1905; Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 2016, Rz. 210. 135 Bärwaldt in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl. 2017, § 193 UmwG Rz. 8; Winter in Schmitt/ Hörtnagl/Stratz, UmwG, 8. Aufl. 2018, § 193 UmwG Rz. 7; Drinhausen/Keinath in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 193 UmwG Rz. 1 f.; Decher/Hoger in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2013, § 193 UmwG Rz. 3; Weiler in Widmann/Mayer, UmwG, 2018, § 193 UmwG Rz. 15. 136 Kritisch auch Drygala in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 13 UmwG Rz. 10 ff.; Gehling in Semler/Stengel, UmwG, 4. Aufl. 2017, § 13 UmwG Rz. 14; Notz in BeckOGK, BGB, Stand: 15.9.2018, § 32 BGB Rz. 296; Seibt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 48 GmbHG Rz. 55; Simon in KölnKomm. UmwG, 2009, § 13 UmwG Rz. 11 f. 137 Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6699, S. 85 f.

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Streichung auch gar nicht bis zur Einführung der virtuellen Hauptversammlung zu warten.

VI. Schluss und Zusammenfassung Auch wenn sich zahlreiche Praktiker zur Durchführung rein virtueller Versammlungen, namentlich mit Blick auf große Börsengesellschaften, wegen technischer Un­ wägbarkeiten und daraus resultierenden Rechtsrisiken noch immer zurückhaltend äußern,138 der Vormarsch der Digitalisierung in der Hauptversammlung ist nicht aufzuhalten.139 Zweifelsohne wird es noch viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte dauern, bis wir einen substanziellen Anteil reiner Online-Versammlungen auch in konservativ ausgerichteten Großunternehmen sehen werden. Aufgabe der Unternehmensrechtswissenschaft ist es aber gerade vorauszudenken und für diesen Fall angemessene Lösungen zu entwickeln, die – womöglich aufgrund von europäischen Initiativen – wertungs- und systemkonform im deutschen Recht etabliert werden können. Dazu wollte dieser  – Eberhard Vetter in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmeter  – Aufsatz beitragen. Seine wesentlichen Ergebnisse seien thesenhaft wie folgt zusammengefasst: 1. Die Gesellschafterversammlung der GmbH, die Mitgliederversammlung des eingetragenen Vereins und die Generalversammlung der eingetragenen Genossenschaft können de lege lata als rein virtuelle Versammlungen stattfinden. Notwendige Vo­ raussetzung ist jeweils eine hinreichend bestimmte Satzungsklausel, die nachträglich mit qualifizierter Mehrheit eingeführt werden kann. 2. Demgegenüber muss die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft nach geltendem Recht als Präsenzversammlung durchgeführt werden. Zulässig ist es aber, dass (alle) Aktionäre mittels elektronischer Kommunikationsmittel teilnehmen. 3. De lege ferenda sollte eine rein virtuelle Hauptversammlung auch im Aktienrecht zugelassen werden. Dafür sprechen ökonomische und (binnen-)rechtsvergleichende Argumente. Weder werden Aktionäre damit faktisch von der Beschlussfassung ausgeschlossen, noch ist ein Recht der Aktionäre auf physische Anwesenheit anzuerkennen. Zudem kann eine Interaktion zwischen Aktionariat und Management auch online erfolgen und Anfechtungsrisiken ist mit geeigneten Vorschriften zu begegnen. 4. Die rein virtuelle Hauptversammlung sollte börsennotierten und nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften offenstehen. Sie bedarf einer hinreichend bestimmten Satzungsgrundlage, die nachträglich durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss geschaffen 138 Vgl. etwa Austmann in Münch. HdB GesR IV, 4.  Aufl. 2015, §  40 Rz.  25, 30; Kubis in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 24: v. Holten/Bauerfeind, AG 2015, 489 (493); v. Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (731, 736); Wicke in FS Kanzleiter, 2010, S. 415 (429). 139 Wie hier auch Noack, ZDRW 2018, Sonderheft 1, S. 31 (36 f.); J. Schmidt, ZHR 181 (2017), 43 (72); Zetzsche, AG 2019, 1 (15).

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Virtuelle Versammlungen

werden kann. Überstimmte Minderheitsaktionäre nichtbörsennotierter Aktiengesellschaften sollten durch ein gesetzliches Austrittsrecht gegen Abfindung geschützt werden. Zudem sollte eine gesetzliche Befugnis festgeschrieben werden, wonach eine qualifizierte Minderheit die Durchführung einer Präsenzversammlung verlangen kann. Weiterhin ist zu gewährleisten, dass alle Aktionäre sämtliche mitgliedschaftlichen Rechte ebenso ausüben können wie auch in der Präsenzversammlung; Einschränkungen sind unzulässig. Die Protokollierung nach § 130 AktG ist um die Möglichkeit der Online-Beurkundung zu ergänzen. Beschlussmängel wegen technischer Störungen können nur eingeschränkt angegriffen werden. 5. Ein Sonderrecht für Umwandlungsbeschlüsse nach §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 193 Abs. 1 Satz 2 UmwG ist rechtspolitisch verfehlt und sollte durch ersatzlose Streichung dieser Vorschriften bei nächster Gelegenheit beseitigt werden.

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„Know your shareholder“ oder: Vom schleichenden Ende der Inhaberaktie Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Entwicklung von der Inhaber- zur ­Namensaktie 1. Ausgangspunkt: Dominanz der Inhaberaktie 2. Renaissance der Namensaktie III. EU-Harmonisierung und ihre Umsetzung in deutsches Recht 1. Ziele von ARRL II und ARUG II 2. Die Informationspflichten im Einzelnen a) Gegenstand und Zweck der Informa­ tion, §§ 67a-d AktG-RefE b) Der Intermediär – auch in der Kette – als Informationsintermediär c) Informationsfluss zum Aktionär

d) Informationsfluss zur Gesellschaft e) Verarbeitung personenbezogener Daten der Aktionäre, § 67e AktG-RefE f) Kosten, § 67f AktG-RefE IV. Kritische Würdigung 1. Notwendigkeit einer gesetzlichen ­Regelung 2. Einebnung der Unterschiede zwischen Namens- und Inhaberaktie 3. Keine Minimalschwelle 4. Verhältnis von Informationsanspruch und -pflicht 5. Aktienrechtliche Informationspflicht und kapitalmarktrechtliche Meldepflicht V. Fazit

I. Einleitung Eine Aktiengesellschaft sollte wissen, wer ihre Aktionäre sind. Man könnte meinen, dass es sich bei diesem Postulat um eine Binsenwahrheit handelt. Indessen führte es in Deutschland lange Zeit ein Schattendasein, was damit zu tun hatte, dass die Rolle der Kleinaktionäre in der Publikums-AG über nahezu ein Jahrhundert marginal war. Schon in der dualistischen Verfassung der deutschen Aktiengesellschaft ist angelegt, dass die Überwachung der Geschäftsführung Aufgabe des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 1 AktG), nicht der Hauptversammlung ist. Deren Zuständigkeit beschränkt sich auf den engen Katalog des § 119 AktG. Und soweit es um die Abstimmung in der Hauptversammlung geht, wird seit jeher vom Depotstimmrecht Gebrauch gemacht. Dass man den einzelnen Aktionär als Adressat von Kommunikation sucht, dass man sein Potential als Akteur entdeckt und zu nutzen sucht, ist hingegen eine vergleichsweise neue Entwicklung, der sich in jüngerer Zeit auch die EU-Kommission unter der Überschrift „know your shareholder“ gewidmet hat. Mit der zweiten EU-Aktionärsrechterichtlinie (ARRL II) von 20171 und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht durch das Aktionärsrechterichtlinie-Umsetzungsgesetz II 1 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwir-

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(ARUG II)2 werden dazu die Regelungen in § 67 AktG um einen umfangreichen Regelungskomplex in den neuen §§ 67a bis 67f AktG ergänzt und erweitert. Die neuen Vorschriften regeln die Übermittlung von Informationen zur Ausübung der Rechte der Aktionäre einschließlich der Intermediäre sowie der Intermediäre in der Kette (§ 67a AktG-RefE), die Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre (§ 67b AktG-RefE), die Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft (§ 67c AktG-RefE), den Informationsanspruch der Gesellschaft gegenüber Intermediären (§ 67d AktG-RefE) und schließlich die Verarbeitung und Berichtigung personenbezogener Daten der Aktionäre (§ 67e AktG-RefE). Ergänzt werden diese neuen Bestimmungen durch eine Regelung zu den Kosten und eine Verordnungsermächtigung (§ 67f AktG-RefE). Im Kern geht es darum, die Inhaberaktie der Namensaktie weiter anzugleichen. Denn die Anonymität, die der klassischen Inhaberaktie innewohnt, erscheint unter den veränderten Bedingungen des modernen Aktienmarkts weder sachgerecht noch angemessen. Der folgende Beitrag möchte diese Neuregelung in den größeren historischen und sachlichen Kontext einordnen, die einzelnen Neuregelungen kurz vorstellen und am Schluss einer kurzen Würdigung unterziehen.

II. Entwicklung von der Inhaber- zur Namensaktie 1. Ausgangspunkt: Dominanz der Inhaberaktie Die Frage, ob und wieviel Informationen die Aktiengesellschaft über ihre Aktionäre und deren Identität haben soll bzw. haben muss, beschäftigt das Aktienrecht seit seinen Anfängen.3 Ausgangspunkt war der Befund, dass die Gesellschaft grundsätzlich wissen muss, wer ihre Gesellschafter sind. Denn die Beteiligung als Gesellschafts­ mitglied begründet vielfältige Rechte und Pflichten zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, und es leuchtet unmittelbar ein, dass die Gesellschaft zur Geltendmachung ihrer Rechte gegen die Gesellschafter deren Identität kennen muss ebenso wie die Gesellschaft nur auf der Grundlage der Kenntnis von der Identität der Gesellschafter kung der Aktionäre, ABl. L 132/1 v. 20.5.2017. Die Umsetzungsfrist läuft am 10.6.2019 ab; zur ARRL II etwa Bayer/Schmidt, BB 2017, 2114, 2115; Brehmer, NZG 2017, 577; Hallemeesch, ECFR 2018, 197; Heldt, AG 2018, R153; Inci, NZG 2017, 579; Kumpan/Pauschinger, EuZW 2017, 327; Lanfermann/Maul, BB 2018, 1218; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl., 2017, 1166; Mörsdorf/Pieroth, ZIP 2018, 1469; Noack, NZG 2017, 561; Zetzsche, NZG 2014, 1121. 2 Bei Abschluss dieses Manuskripts lag das Gesetz als Referentenentwurf des BMJV v. 10.11.2018 vor (RefE ARUG II); dazu etwa Bayer/Schmidt, BB 2018, 2562; Böcking/Bundle, Der Konzern 2018, 496, 497; DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2019, 12; Eggers/De Raet, AG 2017, 464; Grobecker/Wagner, Der Konzern 2018, 419; Johannsen-Roth/Illert, DB 2018, Beilage 4 zu Heft Nr. 51-52, S. 17; Noack, NZG 2017, 561; Paschos/Goslar, AG 2018, 857; Schmidt, NZG 2018, 1201; Seulen, DB 2018, 2915; Tröger, ZGR 2019, 126; Zwirner, DB 2018, 3007. 3 Nachweise bei Merkt, Die Geschichte der Namensaktie, in von Rosen/Seifert (Hrsg.), Die Namensaktie, Schriften zum Kapitalmarkt Band 3, 2000, 63 ff.

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prüfen kann, ob eine bestimmte Person tatsächlich berechtigt ist, etwa Mitwirkungsoder Gewinnbezugsrechte geltend zu machen. Nun hat die Herausbildung der großen Publikums-AG mit ihren Tausenden von Aktionären gezeigt, dass die Kenntnis von der Identität des einzelnen Aktionärs keineswegs zwingend ist. Vielmehr liegt in der Unpersönlichkeit der mitgliedschaftlichen Stellung und der einfachen Übertragbarkeit der Beteiligung gerade der besondere Vorzug und Reiz dieser Gesellschaftsform. Nicht ohne Grund heißt sie im Französischen „société anonyme“. Für den Nachweis der Berechtigung zur Teilnahme an der Hauptversammlung und zum Gewinnbezug genügt völlig die Vorlage der Aktienurkunde oder des Coupons bzw. einer Bescheinigung der Depotbank. Genau dies führte dazu, dass der Inhaberaktie mit der industriellen Revolution und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Siegeszug beschert war und die traditionelle Namensaktie nur noch bei Gesellschaften mit verhältnismäßig wenigen Aktionären, die mit ihrem Aktienbesitz die Absicht der Daueranlage verbanden, etwa bei Familien-AGs, zu finden war.4 2. Renaissance der Namensaktie Das ändert sich erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Namensaktie aus unterschiedlichen Gründen eine Renaissance5 erlebte. Dabei stand zunächst der Gedanke der Kontrolle des Aktionärskreises im Mittelpunkt. Zunächst waren es die US-amerikanischen und britischen Besatzungsmächte, die den Versuch unternahmen, mithilfe der aus ihren Heimatwirtschaften vertrauten Namensaktie die Entflechtung der deutschen Stahlindustrie durch stärkere Kontrolle der Aktieninhaber zu fördern. Vergleichbare Bestrebungen bei der Privatisierung des Volkswagenwerks blieben in der Planungsphase stecken.6 In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre kam es zu einem deutlichen Umschwung. Immer mehr Publikumsaktiengesellschaften stellten von den herkömmlichen Inhaberaktien auf Namensaktien um. Diese Renaissance der Namensaktie hat unterschiedliche Ursachen. Am Anfang stand die Umwandlung von Inhaber- in vinkulierte ­Namensaktien bei der Lufthansa AG. Der Grund dafür lag in internationalen Luftverkehrsabkommen7 sowie in EU-rechtlichen Anforderungen8 an Beteiligungsverhältnisse und Beherrschungsverträge bei Luftfahrtunternehmen.9 Mag die Umstellung im Fall Lufthansa AG wegen der spezifischen luftverkehrsrechtlichen Bedingungen keine 4 Merkt (Fn. 3), 82. 5 Merkt (Fn. 3), 64. 6 Merkt (Fn. 3), 86 f. 7 Siehe das Gesetz zur Sicherung des Nachweises der Eigentümerstellung und der Kontrolle von Luftfahrtunternehmen für die Aufrechterhaltung der Luftverkehrsbetriebsgenehmigung und der Luftverkehrsrechte v. 1.7.1997, BGBl. I 1997, 1322. 8 Verordnung EWG Nr. 2407/92 des Rates v. 23.7.1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen, ABl. L 240/1 v. 24.8.1992. 9 Dazu das Informationsmemorandum zur Privatisierung der Deutschen Lufthansa AG von 1997, 59.

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Pilotfunktion gehabt haben, zumal nur vinkulierte Namensaktien zum Einsatz kamen, so spielte der nächstfolgende spektakuläre Fall des Wechsels zur Namensaktie gewiss eine Vorreiterrolle: Bei dem Zusammenschluss von Daimler und Chrysler ergab sich die Notwendigkeit zur Einführung von Namensaktien aus den Anforderungen der New Yorker Börse, an der die Aktie des neuen Unternehmens gehandelt werden sollte. Der New York Stock Exchange lässt zum Handel nur Namensaktien zu. Daher führte man mit Errichtung der neuen Gesellschaft sogleich Namensaktien ein. Auf diese Weise sparte sich das Unternehmen die Ersetzung der Aktiennotierung durch die sogenannten American Depositary Receipts.10 Zugleich verfügte das neue Unternehmen nunmehr über eine „globale“ Aktie, die auf sämtlichen bedeutsamen Kapitalmärkten der Welt einheitlich gehandelt werden konnte. Dies sollte dazu beitragen, dass die Daimler/Chrysler-Aktie für internationale Investoren attraktiver wird.11 Im Gefolge dieser Entwicklung stellten weitere große Publikums-AGs ihren Aktienbestand auf Namensaktien um, darunter Siemens, die Deutsche Bank und die Deutsche Telekom. Für diese Unternehmen dürfte die Pflege der Investor Relations die ausschlaggebende Rolle für den Schritt zur Namensaktie gespielt haben.12 So begründet etwa die Deutsche Telekom diese Maßnahme damit, dass die Gesellschaft „einen direkten Kontakt mit allen Aktionären pflegen und deren Interessen besser kennenlernen“ wolle.13 Die Namensaktie eröffnet einen solchen direkten, nicht über eine Depotbank vermittelten Kontakt. So befindet sich die Namensaktie spätestens seit dem Ende der neunziger Jahre in Deutschland wieder auf dem Vormarsch.14 Dies beruhte insbesondere auf der sich stetig internationalisierenden Ausrichtung deutscher Aktiengesellschaften um internationale Investoren und Aktionäre zu gewinnen. Durch das Namensaktiengesetz15 wurde die Attraktivität der Namensaktie weiter gesteigert,16 weshalb man auch von einer „Renaissance der Namensaktie“ spricht.17 Schließlich wurde durch die Aktienrechtsnovelle 201618 die Zulässigkeit von Inhaberaktien rechtlich eingeschränkt. Eine Wahlmöglichkeit bei der Aktienausgabe zwi10 Dazu von Rosen/Seifert (Hrsg.), Zugang zum US-Kapitalmarkt für deutsche Aktiengesellschaften, 1998. 11 Siehe den Bericht zu den Tagesordnungspunkten 1 und 2 der außerordentlichen Hauptversammlung der Daimler-Benz AG v. 18.9.1998, 69 und 85. 12 Diese Erkenntnis ist keineswegs neu: Unter dem Begriff Public Relations wurde die Vorteilhaftigkeit der Namensaktie für die Pflege der Beziehung der Gesellschaft zu ihren Aktionären bereits in den frühen fünfziger Jahren erörtert, so etwa von Rasch, ZgesKW 1952, 230, 231. 13 Siehe die Aktionärsinformation zu Tagesordnungspunkt 9 der Hauptversammlung v. 27.5.1999. 14 Eggers/de Raet, AG 2017, 464, 466; Huepp, WM 2000, 1623. 15 Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz – NaStraG) v. 18.1.2001, BGBl. I 2001, 123. 16 Näher Merkt in Hopt/Wiedemann (Hrsg.), Großkomm AktG, 5. Aufl., 2018, §  67 AktG Rz. 3 ff. 17 Drygala, ZIP 2011, 798. 18 Durch Beschlussfassung des Bundestags v. 12.11.2015 trat die Aktienrechtsnovelle 2016 nach Ablauf der Einspruchsfrist am 18.12.2015 am 31.12.2015 in Kraft, BGBl. I 2015, 2565.

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schen Inhaber- und Namensaktien besteht gem. §§ 10 Abs. 1 S. 2 und 3, 23 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AktG seither nur noch bei nicht börsennotierten Gesellschaften i.S.d. § 3 Abs. 2 AktG. Dadurch soll der mangelnden Transparenz der Beteiligungsverhältnisse bei der Ausgabe von Inhaberaktien durch nicht börsennotierte Gesellschaften zum Zweck der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung entgegengewirkt werden.19

III. EU-Harmonisierung und ihre Umsetzung in deutsches Recht Ihre Vorläuferin findet die ARRL II, die eine reine Änderungsrichtlinie ist, in der ersten EU-Aktionärsrechterichtlinie von 2007 (ARRL I),20 die durch das erste Aktionärsrechterichtlinie-Umsetzungsgesetz (ARUG I)21 in nationales Recht überführt wurde. Schon durch die ARRL I und ARUG I wurden erste Schritte unternommen, um Klein- und Kleinstaktionäre zu aktivieren. So sollte hauptsächlich durch die Ver­ wendung des Internets als Kommunikationsmedium und der Vereinfachung der Verfahren zur Stimmrechtsvertretung den Aktionären die Wahrnehmung ihrer Stimmrechte auch grenzüberschreitend erleichtert werden.22 Beispiele hierfür sind die mit dem  ARUG I eingeführten Internetveröffentlichungspflichten börsennotierter Gesellschaften (§ 124a AktG) und insbesondere die Möglichkeit der Online-Teilnahme der Aktionäre an der Hauptversammlung (§ 118 Abs. 1 AktG). Eine weitere und jüngste Etappe auf dem Weg der Annäherung der Inhaber- an die Namensaktie markiert die Weltfinanzkrise. Seit 2008 wurden auf EU-Ebene der Ruf nach stärkerer Überwachung der Aktiengesellschaften und die Forderung nach einer stärkeren Einbindung der Aktionäre lauter.23 Die EU-Kommission reagierte im Jahre 2011 mit einem Grünbuch,24 das u.a. eine stärkere Einbindung institutioneller Investoren in die Unternehmensüberwachung und eine Beschränkung der Stimmrechtsberatung forderte.25 Im April 2014 wurde von der EU-Kommission ein Vorschlag26 zur Änderung der bestehenden Aktionärsrechterichtlinie27 vorgelegt, um langfristig orientierte Aktio19 Söhner, ZIP 2016, 151; Dahgles, GWR 2016, 45. 20 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184/17 v. 14.7.2007. 21 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie v. 30.7.2009, BGBl. I 2009, 2479. 22 Vgl. die Erwägungsgründe ARRL I. 23 Wilsing, ZGR 2012, 291, 292. 24 Grünbuch „Europäischer Corporate Governance Rahmen“ der Europäischen Kommission v. 5.4.2011, KOM(2011) 164/3. 25 Wilsing, ZGR 2012, 291 f.; Heuser, Der Konzern 2012, 308, 311. 26 Vorschlag der Kommission v. 9.4.2014 für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Einbeziehung der Aktionäre, COM(2014) 213 final. 27 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. L 184/17 v. 14.7.2007.

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näre stärker in die Unternehmensführung einzubinden, erhöhte Transparenz zwischen Unternehmen und Anteilseignern zu schaffen und langfristig orientiere Investitionen zu fördern.28 Nachdem sich der Europäische Rat mit dem Vorschlag beschäftigt hatte,29 erschien im Mai 2015 der Bericht des Europäischen Parlaments mit Änderungsanträgen zum Vorschlag der Kommission.30 Das Gesetzgebungsvorhaben befand sich lange Zeit im Trilogverfahren zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament. Nach kontroversen Diskussionen31 wurde am 17. Mai 2017 die ARRI II verabschiedet. Das BMJV legte am 11. Oktober 2018 den Referentenentwurf für das ARUG II vor. 1. Ziele von ARRL II und ARUG II Die Richtlinienänderung zielt vor allem darauf ab, in den Bereichen Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, Rechtsgeschäfte mit nahestehenden Personen und Stimmrechtspolitik unter Hinzunahme von Stimmrechtsberatern mehr Transparenz zu schaffen. Dadurch erhofft man sich, die Mitwirkung der Aktionäre bei börsennotierten Gesellschaften zu verbessern und die grenzüberschreitende Information sowie die Ausübung von Aktionärsrechten zu erleichtern.32 Dahinter steht der Gedanke einer nachhaltigen Unternehmensführung. Die ARRL II eröffnet den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht unterschiedliche Wahlrechte, die der deutsche Gesetzgeber nutzen möchte, um die Vorgaben der Richtlinie möglichst behutsam in das deutsche System der dualistischen Unternehmensverfassung umzusetzen.33 Dabei stehen insbesondere die folgenden vier Themenbereiche im Mittelpunkt: (1) die Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung (say on pay); (2) Rechtsgeschäfte mit nahestehenden Personen (related party trans­ actions); (3) die Identifizierung und Information der Aktionäre („know your share­ holder“) und (4) die Offenlegung der Einbeziehungs- und Stimmrechtspolitik (­comply or explain). Im Folgenden soll es nur um den 3. Bereich des „know your shareholder“ gehen. 2. Die Informationspflichten im Einzelnen Kapitel Ia (Art. 3a bis 3f) der ARRL II sieht detaillierte Regelungen zur Identifizierung von Aktionären, zur Informationsübermittlung und zur Erleichterung der Ausübung von Aktionärsrechten im Falle der Zwischenschaltung von Intermediären bzw. Intermediärsketten vor. Diese Vorgaben werden durch eine EU-Durchführungsverord28 Lanfermann/Maul, BB 2014, 1283. 29 Wettich, AG 2015, 681, 688. 30 Bericht des Europäischen Parlaments v. 12.5.2015 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Einbeziehung der Aktionäre, A8-0158/2015. 31 Hommelhoff, NZG 2015, 1329, 1332. 32 4. Erwägungsgrund der ARRL II; RefE ARUG II, 1. 33 RefE ARUG II, 1.

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nung34 vom 3. September 2018 (ARRL II-DVO) weiter konkretisiert und sollen im Folgenden näher dargestellt werden. Die ARRL II-DVO soll durch die Schaffung gemeinsamer Formate für die Übermittlung von Daten und Mitteilungen eine effiziente Verarbeitung ermöglichen und die Interoperabilität zwischen Intermediären, Gesellschaften und Aktionären fördern.35 Umgesetzt werden diese Vorgaben durch Einfügung der neuen §§ 67a bis 67f in das AktG. a) Gegenstand und Zweck der Information, §§ 67a-d AktG-RefE Die Neuregelungen dienen insgesamt dem Zweck, die Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen der Gesellschaft und ihren Aktionären zu verbessern, um dadurch die Ausübung von Aktionärsrechten und die Mitwirkung der Aktionäre zu erleichtern.36 Die Gesellschaft soll in die Lage versetzt werden, ihre derzeitigen Aktionäre zu  identifizieren, um direkt mit ihnen kommunizieren zu können, sodass die Zu­ sammenarbeit zwischen Gesellschaft und Aktionären erleichtert wird, Art. 3a Abs. 4 ARRL II. Dazu enthalten die §§ 67a bis 67f AktG-RefE zum einen Regelungen, die einen besseren Informationsaustausch zwischen der Gesellschaft und ihren Aktionären gewährleisten sollen.37 Dies umfasst insbesondere die Verpflichtungen der Intermediäre zur Weiterleitung und Übermittlung bestimmter Informationen an die Gesellschaft sowie an die Aktionäre in den §§ 67a bis 67c AktG-RefE. Zum anderen ist in §  67d AktG-RefE ein Informationsanspruch der börsennotierten Gesellschaften gegenüber den Intermediären zur Identifikation ihrer Aktionäre vorgesehen. b) Der Intermediär – auch in der Kette – als Informationsintermediär Durch Art. 1 Abs. 5 ARRL II werden Intermediäre in den Anwendungsbereich von Kapitel Ia der Richtlinie einbezogen. Nach der Definition in § 67a Abs. 4 AktG-RefE ist ein Intermediär eine Person, die für Aktionäre oder andere Personen Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten erbringt, die sich auf Aktien von Gesellschaften beziehen, die ihren Sitz in einem Staat haben, der dem Anwendungsbereich der ARRL II unterliegt. Dabei kommt es nicht auf den Sitz des Intermediärs selbst an.38 Dadurch soll sicher­ gestellt werden, dass die Informationsweiterleitung auch ausländische Aktionäre erreicht.39 Da Kleinanleger Aktien regelmäßig auf dem Sekundärmarkt erwerben und 34 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2018/1212 der Kommission v. 3.9.2018 zur Festlegung von Mindestanforderungen zur Umsetzung der Bestimmung der RL 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Identifizierung der Aktionäre, die Informationsübermittlung und die Erleichterung der Ausübung der Aktionärsrechte, ABl. L 223/1 v. 4.9.2018. 35 2. Erwägungsgrund der ARRL II-DVO. 36 Vgl. 4. Erwägungsgrund ARRL II. 37 RefE ARUG II, 58; dazu etwa Foerster, AG 2019, 17; Seulen, DB 2018, 2915, 2918; Zetzsche, ZGR 2019, 1. 38 RefE ARUG II, 60. 39 Grobecker/Wagner, Der Konzern 2018, 419.

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ein solcher Erwerb ohne Einschaltung eines Intermediärs nicht möglich ist, ist es auch konsequent, letztere als Informationsknotenpunkte heranzuziehen. c) Informationsfluss zum Aktionär Oftmals werden die Aktien börsennotierter Gesellschaften über komplexe Verwahrketten von Intermediären gehalten, was die Ausübung von Aktionärsrechten behindert.40 Mit der Förderung des Informationsflusses durch das Einführen einer Pflicht der Gesellschaft zur Informationsweiterleitung an den Aktionär sollen diese Hindernisse für die Mitwirkung von Aktionären überwunden werden. aa) Informationsübermittlung Gesellschaft zu Intermediär, § 67a AktG-RefE § 67a AktG-RefE setzt unter anderem Art. 3b Abs. 1 bis 3 ARRL II um und enthält sowohl die an alle Gesellschaften gerichtete Verpflichtung, bestimmte Informationen, die für die Ausübung von Rechten der Aktionäre von Bedeutung sind, den Intermediären zu übermitteln, als auch die Verpflichtung der Intermediäre, solche Informationen durch die Kette an die nächsten Intermediäre weiterzuleiten. Dazu hat §  67a Abs. 1 S. 1 AktG-RefE die Gesellschaft den Intermediären eine Reihe von Informationen zur Weiterleitung an die Aktionäre elektronisch zu übermitteln, soweit die Informationen nicht den Aktionären direkt mitgeteilt werden, darunter die Einberufung der Hauptversammlung nach § 121 AktG, ferner Mitteilungen über Umtausch-, Bezugs-, Einziehungs- und Zeichnungsrechte sowie über Wahlrechte bei Dividenden. Sind die Informationen auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich, genügt eine Mitteilung darüber unter Angabe der Internetseite, §  67a Abs.  1 S.  2 AktG-RefE. Abs.  3 befasst sich mit dem Intermediär in der Kette: Er hat Informationen nach Abs. 1, die er von einem anderen Intermediär oder der Gesellschaft erhält, unverzüglich dem nächsten Intermediär weiterzuleiten, es sei denn, dem Intermediär in der Kette ist bekannt, dass der nächste Intermediär in der Kette sie seinerseits von der Gesellschaft erhält. Abs.  4 enthält die Legaldefinition des Intermediärs. Er ist eine Person, die Dienstleistungen der Verwahrung oder der Verwaltung von Wertpapieren oder der Führung von Depotkonten für Aktionäre oder andere Personen erbringt, wenn die Dienstleistungen im Zusammenhang mit Aktien von Gesellschaften stehen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben und deren Aktien zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind. Ein Intermediär in der Kette ist gem. Abs. 5 überdies eine Person, die Aktien der Gesellschaft für einen anderen Intermediär verwahrt. Art, Form und Inhalt der Übermittlung der Informationen werden durch Art. 4 und 8 ARRL II-DVO geregelt.

40 4. Erwägungsgrund ARRL II.

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bb) Informationsweiterleitung Intermediär zu Aktionär, § 67b AktG-RefE Die Vorschrift des § 67b AktG-RefE regelt die Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Aktionäre. Wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt, hat dem Aktionär nach §  67a Abs.  1 AktG-RefE erhaltene Informati­onen unverzüglich elektronisch zu übermitteln. Die Mitteilung der Internetseite entsprechend § 67a Abs. 1 S. 2 AktG-RefE genügt. Die Übermittlungspflicht gilt auch für Informationen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Dadurch soll das bisherige Informationsdefizit „über die Grenze“ hinweg beseitigt werden. d) Informationsfluss zur Gesellschaft Ziel der ARRL II ist es, den Informationsfluss in beide Richtungen zu stärken. Somit muss auch der Intermediär bestimmte Informationen an die Gesellschaft weiterleiten. In der ARRL II wurde daher in Art. 3a Abs. 1 S. 1 niedergelegt, dass die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind sicher zu stellen, dass Gesellschaften das Recht haben, ihre Aktionäre zu identifizieren. Zudem müssen sie gem. Art. 3a Abs. 2 ARRL II auch sicherstellen, dass Intermediäre der Gesellschaft auf deren Antrag Informationen über die Identität von Aktionären übermitteln. Die ARRL II legt dabei in Art. 2j den Mindestinhalt der zu übermittelnden Informationen fest. Die Umsetzung in das deutsche Recht soll durch die Neueinfügung der §§ 67c und 67d AktG-RefE geschehen. aa) Informationsweiterleitung Intermediär zu Gesellschaft, § 67c AktG-RefE § 67c AktG-RefE regelt die Übermittlung von Informationen durch Intermediäre an die Gesellschaft. Wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt, hat die vom Aktionär erhaltenen Informationen über dessen Ausübung seiner Rechte als Aktionär unverzüglich, entweder direkt an die Gesellschaft oder an einen Intermediär in der Kette zu übermitteln. Intermediäre in der Kette haben diese Informationen unverzüglich an den jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten, bis die Informationen die Gesellschaft erreichen. Wer als Intermediär für einen Aktionär Aktien einer Gesellschaft verwahrt, stellt dem Aktionär auf dessen Anfrage über dessen Anteilsbesitz unverzüglich einen Nachweis in Textform aus oder übermittelt diesen der Gesellschaft. Eine ähnliche Regelung existiert bereits in § 123 Abs. 4 S. 1 AktG, wonach bei Inhaberaktien börsennotierter Gesellschaften ein Nachweis des Anteilsbesitzes durch das depotführende Institut in Textform ausreichend ist. Diese Vorschrift fällt weg und wird durch die neue Regelung des § 67 Abs. 2 AktG-RefE verallgemeinert und auf Namensaktien ausgedehnt.41

41 RefE ARUG II, 62.

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bb) Auskunftsanspruch der Gesellschaft gegenüber dem Intermediär, § 67d AktG-RefE Zudem ist in § 67d AktG-RefE ein Informationsanspruch der börsennotierten Gesellschaft gegenüber den Intermediären zur Identifikation ihrer Aktionäre vorgesehen. Die genauen Informationen über die Identität der Aktionäre sind in §  67d Abs.  2 AktG-RefE aufgelistet. Dazu gehören u.a. Name, Geburtsdatum, Postanschrift, Zahl und Gattung der Aktien sowie deren Erwerbsdatum. Speziell für Inhaberaktien ist mit dieser Regelung eine sehr grundlegende Änderung verbunden.42 Denn damit wird die bisherige Anonymität beseitigt. Die ARRL II sieht hinsichtlich des Auskunftsanspruchs in Art. 3a Abs. 1 S. 2 und S. 3 eine Beschränkungsmöglichkeit vor. Danach können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Informationen nur von Aktionären eingeholt werden dürfen, die einen bestimmten Prozentsatz an Aktien oder Stimmrechten haben. Dieser Prozentsatz darf 0,5 % nicht überschreiten. Der deutsche Gesetzgeber möchte von der Möglichkeit einer solchen Schwelle hinsichtlich der Identifizierung keinen Gebrauch machen. Somit bleibt es zur Disposition der Gesellschaften, ob sie Identifizierungsanfragen erst nach Überschreiten einer bestimmten Schwelle stellen.43 Auch im Rahmen dieser Informationsweiterleitung ist der Intermediär gem. §  67d Abs. 3 AktG-RefE verpflichtet, das Informationsverlangen an den nächsten Intermediär in der Kette weiterzureichen bis derjenige Intermediär erreicht ist, der die Aktien für den Aktionär verwahrt. Der Letztintermediär ist sodann gem. § 67d Abs. 4 AktG-­ RefE verpflichtet, die Informationen entweder über die Intermediärskette an die Gesellschaft weiterzuleiten oder sie ihr direkt zukommen zu lassen. Somit hat die Gesellschaft im Ergebnis einen Auskunftsanspruch gegenüber jeden Intermediär in der Kette.44 Die erforderliche Form und der Inhalt des Informationsverlangens werden durch Art. 2 ARRL II-DVO vorgegeben. Die dargestellten Grundsätze gelten auch für das Informationsverlangen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder eines von der Gesellschaft benannten Dritten, soweit nach dessen Recht ein Auskunftsanspruch besteht. Und schließlich kann auch die Satzung der nicht börsennotierten Gesellschaft bestimmen, dass die genannten Grundsätze des § 67d AktG anwendbar sind. Das neue Regelungsregime hat zur Folge, dass es zukünftig einheitliche Regelungen zur Identifizierung der Aktionäre von Inhaber- und Namensaktien geben wird.45 Bisher waren diese Informationen den Gesellschaften nur bei Namensaktien über die Einsicht ins Aktienregister ersichtlich, vgl. § 67 Abs. 1 AktG. Hat die Aktiengesellschaft jedoch (auch) Inhaberaktien ausgegeben, kennt sie in den meisten Fällen den 42 Bayer/Schmidt, BB 2018, 2562, 2578. 43 RefE ARUG II, 63; dazu Bayer/Schmidt, BB 2018, 2562, 2578; Böcking/Bundle, Der Konzern 2018, 496, 498. 44 RefE ARUG II, 64. 45 RefE ARUG II, 58.

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Großteil ihrer Aktionäre nicht. Ein Recht auf Identifizierung der Aktionäre von Inhaberaktien besteht bisher nicht.46 Eine Identifizierung kommt nur dann in Betracht, wenn Inhaberaktionäre ihre Aktionärsstellung gegenüber der Gesellschaft offenlegen müssen, um ihre Aktionärsrechte im Rahmen der Hauptversammlung ausüben zu können. e) Verarbeitung personenbezogener Daten der Aktionäre, § 67e AktG-RefE Gemäß § 67a AktG-RefE dürfen Gesellschaften und Intermediäre personenbezogene Daten der Aktionäre für die Zwecke der Identifikation, der Kommunikation, der Ausübung der Rechte der Aktionäre und für die Zusammenarbeit mit den Aktionären verarbeiten. Erlangen Gesellschaften oder Intermediäre Kenntnis davon, dass ein Aktionär nicht mehr Aktionär der Gesellschaft ist, dürfen sie dessen personenbezogene Daten vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelungen nur noch für höchstens zwölf Monate speichern. Eine längere Speicherung ist nur durch die Gesellschaft zulässig, solange dies für Rechtsverfahren erforderlich ist. Mit der Offenlegung von Informationen über die Identität von Aktionären gegenüber der Gesellschaft oder weiterleitungspflichtigen Intermediären nach § 67d AktG-RefE verstoßen Intermediäre nicht gegen vertragliche oder gesetzliche Verbote. Und schließlich kann, wer mit unvollständigen oder unrichtigen Informationen als Aktionär identifiziert wurde, von der Gesellschaft und von dem Intermediär, der diese Informationen erteilt hat, die unverzügliche Berichtigung verlangen. f) Kosten, § 67f AktG-RefE Die Gesellschaft trägt die Kosten für die nach den §§ 67 Abs. 4 S. 1 AktG-RefE und den §§ 67a bis 67e AktG-RefE notwendigen Aufwendungen der Intermediäre, soweit diese auf Methoden beruhen, die dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen. Die Intermediäre legen die Entgelte für die Aufwendungen für jede Dienstleistung, die nach den §§ 67a bis 67e AktG-RefE erbracht wird, offen. Die Offenlegung erfolgt getrennt gegenüber der Gesellschaft und denjenigen Aktionären, für die sie die Dienstleistung erbringen. Unterschiede zwischen den Entgelten für die Ausübung von Rechten im Inland und in grenzüberschreitenden Fällen sind nur zulässig, wenn sie gerechtfertigt sind und den Unterschieden bei den tatsächlichen Kosten, die für die Erbringung der Dienstleistungen entstanden sind, entsprechen.

IV. Kritische Würdigung 1. Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung Grundsätzlich stellt sich natürlich zunächst die Frage nach der Notwendigkeit und dem Sinn einer gesetzlichen Regelung. Bekanntlich hat es seine Gründe, dass Anleger, vor allem Kleinanleger wenig bzw. gar keinen Kontakt zu „ihrer“ Gesellschaft pflegen. 46 Foerster, AG 2019, 17, 20.

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Denn rationale Apathie47 erweist sich ökonomisch durchaus als sinnvoll, weil sie Mittel spart, deren Einsatz aus Sicht des Kleinanlegers keinen äquivalenten Vorteil bringen. Angesichts der geringen Beteiligung hat die Ausübung der mitgliedschaftlichen Rechte für den Kleinanleger keine Aussicht auf Erfolg. Andererseits weiß der Kleinaktionär, dass er sein Engagement auch zugunsten von Trittbrettfahrern erbringt. Zugleich eröffnet rationale Apathie die Möglichkeit, selber zum „free rider“ zu werden. Das hält den Aktionär davon ab, kollektive Interessen zu verfolgen. Eine zwingende Regelung, die die Kommunikation zwischen Gesellschaft und Aktionär verbessern bzw. intensivieren will, um den apathischen zum aktiven Aktionär zu machen und dadurch die Corporate Governance zu verbessern, durchkreuzt dieses rationale Kalkül. Nun lässt sich dieser Argumentation entgegenhalten, dass es sich bei den Informationen der Gesellschaft an die Adresse der Anleger lediglich um ein Angebot bzw. eine Einladung handelt, sich aktiv in das Geschehen in der Gesellschaft einzubringen. Kein Anleger wird gezwungen, sich aktiv als Mitglied zu beteiligen. In einem Punkt allerdings kann sich der Aktionär dem Konzept des „know your shareholder“ nicht entziehen: An den Kosten des neuen Informationsregimes wird er mittelbar beteiligt, denn sie sind von der Gesellschaft zu tragen. Ein weiteres kommt hinzu: Die Anonymität der Inhaberaktie macht diese Form der Anlage für viele Anleger attraktiv. Es gibt gute und auch völlig legitime Gründe, als Anleger anonym zu bleiben. Darauf wurde weder im europäischen noch im nationalen Gesetzgebungsverfahren eingegangen. Selbst das Aufsichtsrecht, das immerhin Allgemeinwohlinteressen (Markt- bzw. Institutionenschutz) für sich in Anspruch nehmen kann, macht bei einer Beteiligung unterhalb von 3 % Halt (§ 33 Abs. 1 WpHG). Dass und aus welchen Gründen das Aktienrecht strengere Maßstäbe anlegt, wurde jedenfalls im Gesetzgebungsverfahren nicht thematisiert. 2. Einebnung der Unterschiede zwischen Namens- und Inhaberaktie Deutlich erkennbar ist, dass die Umsetzung des „know your shareholder“-Konzeptes durch die ARRL II und das ARUG II zu einer deutlichen Einebnung der Unterschiede zwischen Inhaber- und Namensaktie führt. Das mag für andere Rechtsordnungen, die aus historischen Gründen der Inhaberaktie seit jeher kritischer gegenüberstehen,48 weniger bedeutsam erscheinen. Für das deutsche Recht ist es zu Recht als „kleine Revolution“49 bezeichnet worden. Zwar wird am Unterschied zwischen Namens- und Inhaberaktie, insbesondere hinsichtlich ihrer Verkehrsfähigkeit, (noch) festgehalten.50 Ob das auf Dauer so bleiben

47 Dazu grundlegend bereits Berle/Means, The Modern Corporation and Private Property, 1932, passim; ferner Easterbrook/Fischel, J.L. & Econ. 26 (1983), 402; Baums/von Randow, AG 1995, 145, 147 f.; Schmolke, ZGR 2007, 701, 707 ff.; Siems, Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre, 2005, 111 ff. 48 Näher Merkt (Fn. 3), 76 ff. 49 J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1214. 50 RefE ARUG II, 30.

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wird, wird im RefE ARUG II explizit offengelassen.51 Überzeugender als eine gesetzgeberische Vorgabe erscheint es, die Entscheidung zwischen Namens- und Inhaberaktie der Hauptversammlung zu überlassen. Mag der Markt darüber befinden, ob und in welchem Umfang die Aktionäre in der einzelnen Gesellschaft die Notwendigkeit der Identifikation auch aller Klein- und Kleinstaktionäre sehen. 3. Keine Minimalschwelle Wie ausgeführt, hat der deutsche Gesetzgeber davon abgesehen, von dem Mitgliedstaatenwahlrecht in Art. 3a Abs. 1 S. 2 ARRL II Gebrauch zu machen und eine Minimalschwelle von maximal 0,5 % einzuführen, unterhalb der eine Identifizierungsabfrage nicht stattfindet. Das ist aus zwei Gründen bedauerlich: Zum einen hätte es den radikalen Bruch mit der bisherigen Dichotomie von Namens- und Inhaberaktie etwas abgemildert. Dass bedeutende EU-Mitglieder wie Frankreich schon eine Abfrage ohne Mindestschwelle kennen,52 trifft zwar zu, ist aber nur von beschränktem Erkennt­ niswert, denn für das französische Aktienrecht spielt die klassische „anonyme“ Inhaberaktie nicht jene zentrale Rolle, die sie im deutschen Recht einnimmt. Zum anderen macht es ökonomisch durchaus Sinn, bei kleinen und kleinsten Beteiligungen von der Identifizierungsabfrage grundsätzlich abzusehen. Inwieweit es in der Praxis gelingen wird, zur Einsparung nicht unerheblichen administrativen Aufwands mit durchaus überschaubarem Nutzen eine statutarische Schwelle einzuführen, wird man abwarten müssen. 4. Verhältnis von Informationsanspruch und -pflicht Einen gewissen Systembruch stellt die Regelung in § 67d AktG-RefE dar, wonach die Gesellschaft einen Informationsanspruch gegen den Intermediär hat. In § 67a Abs. 1 AktG-RefE trifft die Gesellschaft gegenüber dem Aktionär bzw. dem Intermediär eine Informationspflicht. Und auch § 67b Abs. 1 sowie § 67c Abs. 1 und 2 AktG-RefE statuieren eine Informationspflicht des Intermediärs. Warum bei § 67d AktG-RefE von diesem Muster abgewichen wird, erschließt sich nicht. Stimmig wäre es, den Intermediär zur Übermittlung der Informationen i.S.v. § 67d Abs. 2 AktG-RefE zu verpflichten. 5. Aktienrechtliche Informationspflicht und kapitalmarktrechtliche Meldepflicht Eine sehr grundlegende Frage betrifft schließlich das Verhältnis der aktienrechtlichen Informationspflicht zur kapitalmarktrechtlichen Meldepflicht nach §§ 33 ff. WpHG, die nach geltendem Recht erst bei 3 % einsetzt. Es wurde zuvor bereits angedeutet, dass es ohne Weiteres nicht nachvollziehbar ist, warum das Aktienrecht hier strengere Maßstäbe als das Wertpapierhandelsrecht anlegt. Inwieweit das Aktienrecht hier in 51 RefE ARUG II, 30. 52 J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1214.

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den Dienst der Kapitalmarktaufsicht genommen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin spielt die Kenntnis der Identität von Aktionären im Rahmen von Unternehmensübernahmen nach dem WpÜG für Bieter- wie Zielgesellschaft eine zentrale Rolle. Nicht unvorstellbar ist, dass das Aktienrecht hier eine Vorreiterrolle übernimmt und dass sich das Wertpapierhandelsrecht mit einer Erweiterung von Mitteilungspflichten früher oder später anschließt.

V. Fazit Auf dem Weg zu einem Ausbau des innergesellschaftlichen Kommunikationssystems zwischen Aktionären und Gesellschaft über Intermediäre und ggf. über Grenzen hinweg im Interesse einer Optimierung der Corporate Governance stellen ARRL II und ARUG II sicher einen konsequenten Schritt dar. Ob es glücklich ist, dieses Ziel auf Kosten der klassischen Inhaberaktie und des Aktionärstypus des rational apathischen Anlegers zu verfolgen, ist allerdings nicht frei von Zweifeln.

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Die Bilanz(sonder)prüfung – zur Pflicht und zum Recht auf eine nachträgliche Prüfung von ­Unternehmensabschlüssen – Inhaltsübersicht A. Einleitung

B. Prüfung der Unternehmensabschlüsse im Rahmen der Auf- und Feststellung bzw. Billigung



I. Pflicht zur Aufstellung der Unternehmensabschlüsse als Ausgangspunkt

II. Prüfung durch den Abschlussprüfer (§ 317 HGB)





III. Prüfung durch den Aufsichtsrat (§ 171 AktG) IV. Zwischenergebnis C. Durchführung einer nachträglichen Überprüfung der Unternehmens­ abschlüsse

I. Denknotwendige Anforderungen an eine Prüfung

II. Pflicht des Vorstands zur nachträg­ lichen Prüfung 1. Pflicht zur nachträglichen Überprüfung aufgrund der Pflicht zur Auf­ stellung der Unternehmensabschlüsse? 2. Sorgfaltspflicht des Vorstands (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) 3. Trennung der Pflicht zur nachträglichen Prüfung von der Pflicht zur ­Korrektur der Unternehmens­ abschlüsse III. Pflicht des Aufsichtsrats zur nach­ träglichen Prüfung IV. Einleitung einer Überprüfung durch die Hauptversammlung und einzelne Aktionäre



1. Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 258 ff. AktG) a) (Beschränkte) Historische Ein­ schätzung durch den Gesetzgeber b) (Beschränkte) Tatsächliche ­Reichweite c) (Fehlende) Praktische Bedeutung d) Zwischenergebnis 2. Allgemeine Sonderprüfung (§§ 142 ff. AktG) a) Keine generelle Erfassung der Unternehmensabschlüsse als solche b) Prüfung einzelner Posten c) Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufstellung, der Prüfung und der Feststellung d) Rechtsfolgen 3. Zwischenergebnis V. Keine (Pflicht zur) Einleitung durch den Abschlussprüfer 1. (Eingeschränktes) Recht auf Nach­ prüfung 2. (Keine) Pflicht auf Nachprüfung 3. Folgen der nachträglichen Aufdeckung der fehlerhaften Prüfung durch den Abschlussprüfer

VI. (Keine) Erzwingung einer ­Bilanz(sonder)prüfung im ­Enforcement-Verfahren (§§ 342b ff. HGB, §§ 106 ff. WpHG) VII. Keine (nachträgliche) Prüfung durch den Betreiber des Bundesanzeigers D. Fazit

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A. Einleitung Die Unternehmensabschlüsse sind sowohl für die gesellschaftsinterne als auch für die gesellschaftsexterne Kommunikation der AG von entscheidender Bedeutung, da die bestehenden Aktionäre und Vertragspartner an diesen den Verbleib in der AG bzw. in dem Vertragsverhältnis und die künftigen Aktionäre und Vertragspartner die Eingehung einer Rechtsbeziehung mit der AG davon abhängig machen. Sowohl die Aktionäre als auch die Vertragspartner der AG stehen dabei vor dem Problem, dass sie die Unternehmensabschlüsse selbst nicht prüfen können bzw. der Aufwand hierfür meist exorbitant groß ist und diese in der Regel keinen Zugang zu den Dokumenten haben, die man für eine Prüfung einsehen müsste. Daher sieht das Aktien- und Bilanzrecht verschiedene Instrumente in Form der Abschlussprüfung (§ 317 HGB) oder der vom Jubilar in seinem wissenschaftlichen Werk umfassend mitgeprägten Prüfung durch den Aufsichtsrat (§ 171 AktG)1 vor, um eine (weitgehende) Richtigkeit der Unternehmensabschlüsse zu gewährleisten. Diese Prüfung erfolgt aber nur im Zeitraum der Auf- und Feststellung bzw. Billigung der Unternehmensabschlüsse und sichert damit nur eine zeitlich beschränkte Richtigkeit. Oftmals ist es aber für die Adressaten der Unternehmensabschlüsse wichtig, die tatsächliche Richtigkeit der Unternehmensabschlüsse zu einem späteren Zeitpunkt feststellen zu lassen und sozusagen eine Bilanz(sonder)prüfung einzuleiten. Ein besonderes Interesse kann insbesondere dann bestehen, wenn nach der Feststellung bzw. Billigung Umstände bekannt werden, die an der Richtigkeit der Unternehmensabschlüsse Zweifel aufkommen lassen. Der nachfolgende Beitrag geht der Frage nach, in welchem Umfang und auf welche Art und Weise die an der Aufstellung, Prüfung und Feststellung der Unternehmensabschlüsse beteiligten Personen, die Gesellschaftsorgane und die Adressaten eine solche Prüfung nachträglich einleiten können. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf die Gesellschaftsorgane und die Aktionäre gelegt werden, so dass man die Ausführungen sozusagen als interne Bilanzpolizei zur Ergänzung der externen Bilanzpolizei in Form der Prüfstelle für Rechnungslegung (§ 342b HGB) und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (§§ 106 ff. WpHG) verstehen kann.

B. Prüfung der Unternehmensabschlüsse im Rahmen der Auf- und Feststellung bzw. Billigung I. Pflicht zur Aufstellung der Unternehmensabschlüsse als Ausgangspunkt Ausgangspunkt der erforderlichen Richtigkeit von Unternehmensabschlüssen ist zunächst die Pflicht der Geschäftsleiter, diese aufzustellen (§ 91 Abs. 1 AktG [Führung der Handelsbücher]; §§  264 Abs.  1 Satz 1 HGB [Jahresabschluss], 290 Abs.  1 Satz 1 HGB [Konzernabschluss], §§ 114 Abs. 1 [Jahresfinanzbericht], 115 Abs. 1 [Halbjahres1 Hier ist vor allem die vom Jubilar verfasste Kommentierung der §§ 170 ff. AktG im Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2018, zu nennen.

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finanzbericht], 116 Abs. 1 WpHG [Zahlungsbericht]). Dabei besteht selbstverständlich die Pflicht, die Abschlüsse ordnungsgemäß aufzustellen, was typischerweise erfordert, dass die Unternehmensabschlüsse unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft vermitteln müssen (§§ 264 Abs. 2, 297 Abs. 2 HGB, §§ 114 Abs. 2 Nr. 1, 115 Abs. 3 Satz 2 WpHG). Dieser Pflichtenkanon trifft alle Vorstandsmitglieder gleichermaßen, so dass diese Pflicht nicht (mit Enthaftungswirkung) vollständig delegiert werden kann.2 Konsequenterweise besteht für die Vorstandsmitglieder keine Pflicht zur Prüfung der Unternehmensabschlüsse, da die Statuierung einer solchen Pflicht auf eine reine Selbstprüfung hinauslaufen würde, mit der kein Gewinn verbunden wäre. Etwas anderes gilt nur, wenn nach der Geschäftsverteilung nicht alle Vorstandsmitglieder zur Aufstellung berufen sind. In diesem Fall sind die für die Aufstellung nicht verantwortlichen Vorstandsmitglieder für die sorgfältige Auswahl und Überwachung des zuständigen Vorstandsmitglieds verantwortlich.3

II. Prüfung durch den Abschlussprüfer (§ 317 HGB) Die eigentliche Prüfung der Unternehmensabschlüsse wird vielmehr durch den Abschlussprüfer durchgeführt, der den Jahres- und den Konzernabschluss darauf zu prüfen hat, ob die gesetzlichen Vorschriften und sie ergänzende Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags oder der Satzung beachtet worden sind (§  317 Abs.  1 Satz 2 HGB). Der Lage- und der Konzernlagebericht sind hingegen nur darauf zu prüfen, ob diese mit den Unternehmensabschlüssen in Einklang stehen und ob diese insgesamt ein zutreffendes Bild von der Lage des Unternehmens bzw. des Konzerns vermitteln (§ 317 Abs. 2 HGB). Diese Prüfung stellt dabei aber keine lückenlose Vollprüfung dar, da eine solche weder vom Abschlussprüfer zu leisten noch von der zu prüfenden ­Aktiengesellschaft vertretbar vergütet werden könnte.4 Der Halbjahresfinanzbericht muss hingegen nicht eine Prüfung durch den Abschlussprüfer unterzogen werden, da eine entsprechende prüferische Durchsicht freiwillig ist (§ 115 Abs. 5 Satz 1 WpHG). Soweit eine solche prüferische Durchsicht erfolgt, muss diese sicherstellen, dass der im Halbjahresfinanzbericht enthaltene verkürzte Abschluss und der Zwischenlagebericht in wesentlichen Belangen den anzuwendenden Rechnungslegungsgrundsätzen nicht widersprechen.5 2 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 91 Rz. 3; Kort in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 91 Rz. 10 ff.; Mertens/Cahn in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2010, § 91 Rz. 6; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 91 Rz. 6 ff.; vgl. auch Stöber in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Kommentar zum Bilanzrecht, 2017, § 264 Rz. 8. 3 Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 238 Rz. 9, 11; ebenso für die Buchführung bei der GmbH BGH, 8.7.1985  – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55; vgl. auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 91 Rz. 3; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 91 Rz. 6 ff. jeweils zur Buchführungspflicht nach § 91 AktG. 4 Ausführlich dazu Ebke in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 317 Rz. 14 ff.; Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, HGB, 2017, § 317 Rz. 31 ff. 5 Ausführlich zur prüferischen Durchsicht Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37w Rz. 110 ff.; Zimmermann in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 37w Rz. 24 ff.

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III. Prüfung durch den Aufsichtsrat (§ 171 AktG) Schließlich sind die Unternehmensabschlüsse auch vom Aufsichtsrat nach §  171 AktG zu prüfen. Bei Bestehen einer Pflicht zur Prüfung durch den Abschlussprüfer (§ 316 HGB) erfolgt diese Prüfung durch den Abschlussprüfer zeitlich nachgelagert, da der Abschlussprüfer nach §  171 Abs.  1 Satz 2 AktG an den Verhandlungen des Aufsichtsrats über die aufgestellten Unternehmensabschlüsse teilzunehmen und über die wesentlichen Ergebnisse seiner Prüfung zu berichten hat.6 Die in § 171 AktG vorgesehene Prüfung der Unternehmensabschlüsse durch den Aufsichtsrat steht allerdings vor dem praktischen Problem, dass die meisten Aufsichtsratsmitglieder schon aufgrund fehlender Erfahrung oder Kenntnis vom Rechnungslegungsrecht nicht in der Lage sind, eine solche Prüfung vorzunehmen. Der Gesetzgeber hat zwar versucht, diesem Problem durch die Schaffung von § 100 Abs. 5 AktG vorzubeugen, wonach mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats einer kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaft über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung und Abschlussprüfung verfügen muss. Die praktischen Auswirkungen dieser Regelung sind allerdings eher als gering einzuschätzen,7 was nicht zuletzt durch die geringen Sanktionen bei einem Verstoß gegen diese Anforderungen belegt wird.8 Bei der Prüfung durch den Aufsichtsrat handelt es sich nicht um eine lückenlose Vollprüfung. Vielmehr muss der Aufsichtsrat einen problemorientierten Prüfungsmaßstab anlegen, so dass insbesondere erfahrungsgemäß schwierige und streitanfällige Bilanzierungssachverhalte einer genaueren Prüfung zu unterziehen sind.9 Im Rahmen seiner Prüfung muss der Aufsichtsrat – im Gegensatz zum Abschlussprüfer – auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung vornehmen.10

IV. Zwischenergebnis Die Richtigkeit der Unternehmensabschlüsse wird bei der AG durch die Abschlussprüfung und die Prüfung durch den Aufsichtsrat gewährleistet, auch wenn letzterer oftmals kaum in der Lage ist, eine tatsächliche Prüfung vorzunehmen. Bei beiden Prüfungen handelt es sich nicht um anlassbezogene, sondern um Routineprüfungen, die allerdings keine Vollprüfung darstellen. In zeitlicher Hinsicht sind beide Prüfungen zwischen der Aufstellung und der Feststellung bzw. Billigung der Unternehmensabschüsse angesiedelt. 6 Dazu ausführlich E. Vetter in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 171 Rz. 131 ff. 7 Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 225 ff. 8 Zu den Sanktionen vgl. nur Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 75 ff.; Hopt/Roth, Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 240 ff.; strenger hinsichtlich der möglichen Sanktionen Wöhe/Mock, Die Handels- und Steuerbilanz, 6. Aufl. 2010, S. 235 f. 9 Dazu Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 Rz. 33; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Kommentar zum Bilanzrecht, 2017, § 171 AktG Rz. 30 ff.; E. Vetter (Fn. 1), § 171 Rz. 42 ff. 10 Hennrichs/Pöschke (Fn. 9), § 171 Rz. 36 ff.; Mock (Fn. 9), § 171 AktG Rz. 30 ff.; E. Vetter (Fn. 1), § 171 Rz. 51 ff.

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Die Bilanz(sonder)prüfung

C. Durchführung einer nachträglichen Überprüfung der Unternehmensabschlüsse Da die bisher genannten Prüfungen alle lediglich im Zeitraum zwischen der Auf- und der Feststellung der Unternehmensabschlüsse durchgeführt werden, stellt sich die Frage, inwiefern danach auftretenden Zweifeln an der Richtigkeit der Unternehmensabschlüsse nachgegangen werden kann. Dabei ist zunächst zu klären, auf welche Art und Weise eine derartige nachträgliche Prüfung überhaupt durchgeführt werden kann (siehe C.I.). Darüber hinaus ist zu klären, ob eine solche Prüfung durch die Geschäftsleiter (siehe C.II.), durch den Aufsichtsrat (siehe C.III.), durch die Aktionäre (siehe C.IV.), durch den Abschlussprüfer (siehe C.V.), durch die Prüfstelle für Rechnungslegung bzw. die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (siehe C.VI.) oder durch den Betreiber des elektronischen Bundesanzeigers (siehe C.VII.) vorgenommen werden kann.

I. Denknotwendige Anforderungen an eine Prüfung Die Durchführung einer anlassbezogenen Bilanz(sonder)prüfung erfordert zunächst einen direkten Zugang zu den Rechnungslegungsunterlagen der AG. Anderenfalls ist die Prüfung auf eine reine Evidenzkontrolle beschränkt, da aus den Unternehmensabschlüssen als solchen nur festgestellt werden kann, ob diese rechnerisch richtig sind und Posten ausweisen bzw. einer Gliederung folgen, die bilanzrechtlich zulässig ist. Da die Rechnungslegungsunterlagen nur bei der AG selbst verfügbar sind, ist der Kreis derjenigen, die eine solche Prüfung vornehmen können, denknotwendigerweise sehr eingeschränkt bzw. erfordert einen entsprechenden Zugang von außen. Dieser Aspekt spielt vor allem bei der Einleitung einer Prüfung durch die Aktionäre eine große Rolle.11

II. Pflicht des Vorstands zur nachträglichen Prüfung Primärer Adressat der Prüfung der Unternehmensabschlüsse nach deren Feststellung bzw. Billigung scheinen zunächst die Vorstandsmitglieder zu sein, da diese als geschäftsführendes Organ die Jahresabschlüsse aufzustellen haben (§§ 242 Abs. 1, 264 Abs. 1, 290 Abs. 1 HGB, §§ 115 Abs. 1, 117 WpHG § 76 Abs. 1 AktG). 1. Pflicht zur nachträglichen Überprüfung aufgrund der Pflicht zur Aufstellung der Unternehmensabschlüsse? Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass die Begründung einer Pflicht zur nachträglichen Überprüfung der Unternehmensabschlüsse mit Schwierigkeiten verbunden ist. Denn so knüpfen die normativen Grundlagen für die Aufstellung der Un11 Siehe ausführlich C.IV.

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ternehmensabschlüsse in Form der §§ 242 Abs. 1, 264 Abs. 1, 290 Abs. 1 HGB, §§ 115 Abs. 1, 117 WpHG ausdrücklich nur an die Pflicht zur Aufstellung der entsprechenden Unternehmensabschlüsse an und nehmen auf den Zeitraum danach keinerlei Bezug. Daher können diese nicht als Basis für die Begründung einer nachträglichen Prüfungspflicht dienen. Daran ändert sich auch nichts bei Annahme einer etwaigen Nichtigkeit des Jahresabschlusses (§ 256 AktG). Denn auch wenn die Geschäftsleiter dann möglicherweise verpflichtet sind, die Nichtigkeit geltend zu machen12 und die AG bei einer erfolgreichen Geltendmachung der Nichtigkeit nicht über einen Jahresabschluss verfügt, gelangt man sozusagen wieder an den Anfang der Pflichtenkette und damit zur Aufstellungspflicht. Eine unmittelbare Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses kann daher daraus nicht abgeleitet werden. 2. Sorgfaltspflicht des Vorstands (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) Als weiterer Ansatzpunkt kommt die Sorgfaltspflicht des Vorstands nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG in Betracht, wonach die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden haben. Da es sich bei den Unternehmensabschlüssen um die zentralen Mittel der Außenkommunikation der AG handelt, muss insofern angenommen werden, dass die Aufklärung einer möglichen Fehlerhaftigkeit der Unternehmensabschlüsse zum Kernbestand der Sorgfaltspflichten eines Geschäftsleiters gehört. Denn anderenfalls drohen der AG zum einen weitreichende Sanktionen13 und zudem kann sich eine Fehlerhaftigkeit der Unternehmensabschlüsse auch auf die nachfolgenden, ggf. noch zu erstellenden Unternehmensabschlüsse auswirken und das Ausgangsproblem sozusagen potenzieren. Eine Pflicht zur nachträglichen Prüfung der Unternehmensabschlüsse besteht allerdings nur dann, wenn für den Vorstand tatsächlich Anhaltspunkte gegeben sind, die eine Fehlerhaftigkeit indizieren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Sonderprüfer14 im Rahmen seiner Prüfung zu entsprechenden Erkenntnissen gelangt ist. Darüber hinaus besteht die Prüfungspflicht im Grundsatz nur für die jeweils letzten – also zuletzt festgestellten oder gebilligten – Unternehmensabschlüsse. Ein Interesse an einer Aufklärung der Fehlerhaftigkeit weiter zurückliegender Unternehmensabschlüsse besteht grundsätzlich nicht und dürfte nur dann anzunehmen sein, wenn besondere Umstände dies erfordern. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Feststellung der Fehlerhaftigkeit für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen erforderlich ist oder aber die weiter zurückliegenden Unternehmensabschlüsse noch Auswirkungen auf die aktuellen Abschlüsse haben. Typisches Beispiel wären etwa die Missachtung von Aktivierungs- oder Passivierungsverboten oder die fehlerhafte Bildung, Dotierung oder Auflösung von Rücklagen. Die Durchführung der nachträgli12 Dazu ausführlich Mock, Die Heilung fehlerhafter Rechtsgeschäfte, 2014, S. 534 ff. 13 Neben bußgeld- und strafrechtlichen Sanktionen gegenüber dem Vorstand (§§ 331, 334, 335 HGB) droht der AG aufgrund der Fehlerhaftigkeit die Nichtigkeit des Jahresabschlusses (§ 256 AktG), die Anfechtbarkeit der Feststellung (§ 257 AktG) sowie ein erheblicher Reputationsschaden, der bei börsennotierten AGs zu einem Kursverfall führen kann. 14 Zur Sonderprüfung nach §  258 AktG siehe C.IV.1. und zur Sonderprüfung nach §  142 AktG siehe C.IV.2.

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chen Prüfung der Unternehmensabschlüsse ist für den Vorstand auch ohne weiteres möglich, da er einen uneingeschränkten Zugang zu den für die Rechnungslegung relevanten Unterlagen hat. Soweit der Vorstand eine nachträgliche Prüfung der Unternehmensabschlüsse nicht vorgenommen hat, obwohl dies anhand der genannten Kriterien angezeigt gewesen wäre, folgt daraus aber nicht notwendigerweise das Vorliegen einer Pflichtverletzung, da in diesem Zusammenhang die Business Judgement Rule zur Anwendung (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) kommt. Die Untersuchung bereits festgestellter bzw. gebilligter Unternehmensabschlüsse auf ihre Richtigkeit stellt eindeutig eine unternehmerische Entscheidung dar. Auch kann sich in diesem Zusammenhang nicht das Problem der Beschränkung unternehmerischer Entscheidungen auf rechtmäßige Entscheidungen stellen,15 da die mögliche Fehlerhaftigkeit und damit fehlende Rechtmäßigkeit der Unternehmensabschlüsse von der Frage der Prüfung dieser Umstände zu trennen ist. Denn mit der Feststellung bzw. Billigung des Unternehmensabschlusses erlangt dieser umfassende Bestandskraft, so dass sich eine aus der Legalitätspflicht ergebende Pflicht zur Korrektur der Unternehmensabschlüsse stets nur auf die Korrektur im Rahmen des als nächsten aufzustellenden Unternehmensabschlusses beziehen kann. Hinsichtlich des weiterhin erforderlichen Handelns auf Grundlage angemessener Informationen kommt es darauf an, welche Informationen dem Vorstand zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Einleitung einer eigenen Prüfung zur Verfügung standen. Bei lediglich vagen und unpräzisen Behauptungen außenstehender Personen dürfte der Maßstab insofern gering anzusetzen sein. Liegen dem Vorstand hingegen konkrete Informationen für eine Fehlerhaftigkeit – wie etwa in Form von Berichten des Sonderprüfers16 – vor, müssen für die Ablehnung einer nachträglichen Prüfung weitere Informationen  – etwa von Rechnungslegungsexperten  – eingeholt werden, um die Annahme des Vorliegens einer Fehlerhaftigkeit zu entkräften. Das ebenfalls erforderliche Handeln zum Wohle der AG ist bei der Ablehnung der Einleitung einer nachträglichen Prüfung in der Regel gegeben, soweit bei den Vorstandsmitgliedern keine Interessenkonflikte vorliegen. 3. Trennung der Pflicht zur nachträglichen Prüfung von der Pflicht zur Korrektur der Unternehmensabschlüsse Von der Frage des Bestehens einer Pflicht zur nachträglichen Prüfung der Unternehmensabschlüsse ist schließlich zu trennen, welche weiteren Handlungspflichten sich aus einer gegebenenfalls erfolgenden Feststellung der Fehlerhaftigkeit ergeben.17

15 Dazu nur Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 23 f.; Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2016, § 93 Rz. 73 ff. ; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 16; Spindler (Fn. 2), § 93 Rz. 52. 16 Dazu C.IV.1. und C.IV.2. 17 Dazu ausführlich Hennrichs/Pöschke (Fn.  9), §  172 Rz.  17  ff.; Mock (Fn.  9), §  172 AktG Rz. 30 ff.; E. Vetter (Fn. 1), § 172 Rz. 99 ff.

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III. Pflicht des Aufsichtsrats zur nachträglichen Prüfung Für den Aufsichtsrat ist die Begründung einer Pflicht zur nachträglichen Prüfung der Unternehmensabschlüsse verhältnismäßig einfacher, da in diesem Zusammenhang an die Überwachungspflicht des § 111 Abs. 1 AktG angeknüpft werden kann, die insofern neben18 die im Rahmen der Auf- und Feststellung erfolgende Prüfung nach § 171 AktG19 tritt. Insofern gilt für die Aufsichtsratsmitglieder ein ähnlicher Maßstab wie für die Vorstandsmitglieder,20 so dass auch diese stichhaltigen Hinweisen auf die Fehlerhaftigkeit der Unternehmensabschlüsse nachgehen müssen. Es wäre wenig konsequent und überzeugend, wenn sich der Aufsichtsrat hinsichtlich der Unternehmensabschlüsse auf den Standpunkt zurückziehen könnte, dass sich seine Prüfung auf den Zeitraum zwischen Auf- und Feststellung beschränkt und die Bewältigung einer erst nachträglich erkennbaren Fehlerhaftigkeit allein Aufgabe des Vorstands sei. Für die Durchführung der nachträglichen Prüfung der Unternehmensabschlüsse stehen dem Aufsichtsrat die Möglichkeiten nach § 111 Abs. 2 AktG zur Verfügung. Insbesondere kann er auch einen externen Experten mit der Prüfung betrauen (§ 111 Abs.  2 Satz 2 AktG). Die Einleitung einer Sonderprüfung durch den Aufsichtsrat kommt hingegen nicht in Betracht, da dieser weder bei einer allgemeinen Sonderprüfung noch bei einer Sonderprüfung nach den §§ 258 ff. AktG antragsberechtigt ist (arg. §§ 142 Abs. 2 Satz 1, 258 Abs. 2 Satz 3 AktG). Dem Aufsichtsrat steht es aber offen, eine sogenannte freiwillige Sonderprüfung einzuleiten.21

IV. Einleitung einer Überprüfung durch die Hauptversammlung und einzelne Aktionäre Für die Aktionäre kommt eine eigenständige Prüfung der Unternehmensabschlüsse nicht in Betracht, da diesen ein Zugang zu den Unterlagen der AG fehlt, die für eine Prüfung unverzichtbar sind.22 Insofern sind die Aktionäre darauf beschränkt, eine ­Sonderprüfung entweder als Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 258 ff. AktG) oder als allgemeine Sonderprüfung (§§ 142 ff. AktG) einzuleiten.

1. Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 258 ff. AktG) Vorrangig steht den Aktionären zur Nachprüfung die Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung (§§ 258 ff. AktG) zur Verfügung, die nur auf Antrag gerichtlich 18 Zur fehlenden Exklusivität von §  171 AktG im Verhältnis zu §  111 AktG vgl. E.  Vetter (Fn. 1), § 171 Rz. 19. 19 Dazu B.III. 20 Dazu C.II. 21 Zur freiwilligen Sonderprüfung ausführlich Marsch-Barner, FS Baums, 2018, S.  775  ff.; Mock in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 142 Rz. 244 ff. 22 Siehe C.I.

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angeordnet werden kann (§ 258 Abs. 2 AktG). Diese Sonderprüfung ist allerdings tatbestandlich auf eine nicht unwesentliche Unterbewertung der in § 256 Abs. 5 Satz 3 AktG genannten Posten (§ 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG) oder fehlende – und auch in der Hauptversammlung nicht nachgeholte  – Anhangangaben (§  258 Abs.  1 Satz 1 Nr. 2 AktG) beschränkt. a) (Beschränkte) Historische Einschätzung durch den Gesetzgeber Dieser äußerst eingeschränkte Tatbestand der Sonderprüfung nach § 258 AktG hat seinen Ursprung im Aktiengesetz 1965. Während die allgemeine Sonderprüfung der §§ 142 ff. AktG ihren Ursprung bereits in der Zweiten Aktienrechtsnovelle von 1884 hat (Art. 222a ADHGB),23 wurde die Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung erst 1965 eingeführt. Regelungsanliegen des Gesetzgebers war die Verhinderung der Bildung stiller Reserven bzw. die Vermeidung einer Anfechtungsmöglichkeit der Feststellung des Jahresabschlusses bei Vorliegen von stillen Reserven,24 so dass die §§ 258 ff. AktG zum Teil auch als Regelung des Beschlussmängelrechts verstanden werden müssen. Die Einkleidung in den Rahmen der Sonderprüfung – inklusive der Bezeichnung als solcher25 – haben die §§ 258 ff. AktG erst auf Initiative des Rechtsausschusses erfahren,26 ohne dabei freilich den systematisch sinnvolleren Schritt der Integration dieser Regelung in die allgemeine Sonderprüfung nach §§ 142 ff. AktG vorzunehmen. Ziel des Gesetzgebers war es somit, es den Aktionären zu ermöglichen, gegen die Bildung stiller Reserven im Jahresabschluss vorzugehen, ohne die Bestandskraft des festgestellten Jahresabschlusses zu gefährden.27 Die durch die Sonder­prüfung aufgedeckten stillen Reserven sollen vielmehr dann in einem der Folgeabschlüsse ausgewiesen werden und in die Ergebnisverwendung einfließen. Nicht ganz in dieses Regelungsanliegen passt allerdings die Tatbestandsvariante des §  258 Abs.  1 Satz 1 Nr. 2 AktG, wonach Anhangsangaben einer Prüfung durch einen Sonderprüfer unterzogen werden können. Diese Variante wurde erst durch den Rechtsausschuss bei der Aktienrechtsreform 1965 eingeführt, ohne dass allerdings aus den Gesetzesmaterialien eindeutig hervorgeht, in welchem Verhältnis diese Erweiterung zu dem Regelungsgedanken der Sonderprüfung insgesamt bzw. der Tatbestandsvariante nach § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG steht.28 23 Zur Entstehungsgeschichte der allgemeinen Sonderprüfung vgl. Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 10 ff. 24 Begr RegE AktG 1965, BT-Drucks. IV/171, S. 207. 25 So wird im Gesetzesentwurf und in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. IV/171) die Bezeichnung Rechtsbehelf gegen unzulässig gebildete stille Rücklagen (§§ 249 f. AktG-E) verwendet. Erst im überarbeiteten Entwurf (Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. IV/3296, S. 140) wird die Bezeichnung Sonderprüfung verwendet. 26 Ausschussbericht Rechtsausschuss AktG 1965, BT-Drucks. IV/3296, S. 98. 27 Ähnlich aber ohne Nennung der Bestandskraft Bezzenberger in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl. 2012, § 258 Rz. 2; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 258 Rz. 2, der lediglich die Durchsetzung der Bewertungsvorschriften, den Schutz der organschaftlichen Zuständigkeit der Hauptversammlung und die Durchsetzung vollständigen Berichterstattung als Regelungsziele ausmacht. 28 So enthält der Bericht des Rechtsausschusses (BT-Drucks. IV/3296, S.  44) dahingehend keine Begründung.

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b) (Beschränkte) Tatsächliche Reichweite Diese historische Ausgangslage hinterlässt eine wenig nachvollziehbare Systematik für die Rechtsanwendung der §§ 258 ff. AktG. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Tatbestandsvariante des § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG. Denn dieser erfasst – entgegen der historischen Zielsetzung des Gesetzgebers – lediglich einen möglichen Fall der Bildung stiller Reserven, indem aufgrund der Bezugnahme auf § 256 Abs. 5 Satz 3 AktG nur Unterbewertungen von Aktivposten erfasst werden. Die Bildung stiller Reserven durch die Überbewertung von Passivposten – etwa durch einen zu hohen Ausweis von Rücklagen oder übermäßige Dotierung der Rücklagen – wird gerade nicht erfasst. Insofern wäre es konsequenter gewesen, im Rahmen des Tatbestands von § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG auf die ergebnisrelevante Bildung stiller Reserven insgesamt abzustellen. Eine dahingehende Korrektur lässt sich im Rahmen der juristischen Methoden nicht mehr erreichen, so dass mit einer dahingehenden Beschränkung von § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG auszukommen ist. Unklar bleibt zudem, welche Reichweite der Tatbestandsvariante des § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG zuerkannt werden soll. So dürfte es aufgrund des eindeutigen Wortlauts und der fehlenden historischen Bezugnahme schon ausscheiden, nur die Anhangsangaben als zulässigen Prüfungsgegenstand der Sonderprüfung anzuerkennen, die einen Bezug zu den Bewertungsvorschriften haben. Vielmehr muss jede Anhangsangabe als zulässiger Prüfungsgegenstand anerkannt werden, was aufgrund der vor allem in den vergangenen beiden Jahrzehnten erheblichen Ausweitung der Anhangsangaben eine erhebliche Erweiterung darstellt. Darüber hinaus dürfte sich die Sonderprüfung nach § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG wohl auch nicht nur auf den Jahresabschluss beschränken, sondern auch den Konzernanhang (§§ 313 f. HGB) und den Anhang des verkürzten Abschlusses des Halbjahresberichts (§ 115 Abs. 3 Satz 1 WpHG) erfassen. Zwar scheint § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG durch die Bezugnahme auf den Anhang nur auf einen Anhang und damit auf denjenigen des Jahresabschlusses Bezug zu nehmen.29 Berücksichtigt man aber die ohnehin fehlende Bezugnahme auf einen bestimmten inhaltlichen Zusammenhang im Rahmen des § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG liegt es näher, die Anhangsangaben aller in Betracht kommenden Unternehmensabschlüsse insgesamt einer Sonderprüfung unterwerfen zu können. c) (Fehlende) Praktische Bedeutung Diese zahlreichen Beschränkungen führen in der bisherigen Praxis dazu, dass von dem Recht auf Einleitung einer Sonderprüfung nach den §§ 258 ff. AktG faktisch kein Gebrauch gemacht wird. Dies dürfte aber nicht nur an den umfangreichen tatbestandlichen Beschränkungen von § 258 Abs. 1 Satz 1 AktG liegen, sondern auch da­ rauf zurückzuführen sein, dass die Einleitung der Sonderprüfung für die antragsberechtigten Aktionäre mit keinerlei bzw. vernachlässigbaren Vorteilen verbunden ist. Selbst wenn ein Aktionär eine Sonderprüfung wegen unzulässiger Unterbewertung nach § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG einleitet, eine Unterbewertung festgestellt, diese 29 In diesem Sinn vor allem Euler/Wirth in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 258 Rz. 3; Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2016, § 258 Rz. 10; Koch (Fn. 27), § 258 Rz. 4.

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im Folgeabschluss korrigiert und eine erhöhte Ausschüttung vorgenommen wird, dürfte diese im Umfang für den einzelnen Aktionär kaum in einen wirtschaftlichen Verhältnis zu dem Aufwand für die Beantragung der Sonderprüfung stehen. Noch deutlicher ist dies bei der Sonderprüfung wegen fehlender oder fehlerhafter Anhangsangaben nach § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AktG, da diese schon der Sache nach nicht zu einem unmittelbaren Vermögensvorteil des antragstellenden Aktionärs führen können. Insofern bauen die §§ 258 ff. AktG auf einem gewissen Altruismus der antragstellenden Aktionäre auf, was im Ergebnis die Antwort auf die Frage nach der fehlenden praktischen Bedeutung der §§ 258 ff. AktG sein dürfte. d) Zwischenergebnis Die Sonderprüfung nach §§ 258 ff. AktG ist im historischen Kontext als eine Maßnahme zum Schutz der Aktionäre vor der Bildung stiller Reserven und zum Schutz der Bestandskraft des festgestellten Jahresabschlusses zu begreifen. Die Einordnung oder Bezeichnung als Sonderprüfung ist insofern irreführend, zumal sie kaum lösbare Abgrenzungsfragen zur allgemeinen Sonderprüfung nach den §§ 142 ff. AktG aufwirft. Wenig Bezug und daher etwas in der Luft hängt hingegen die Sonderprüfung der Anhangsangaben nach § 258 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG, die keinen eigenständigen (besonderen) Zweck zu verfolgen scheint. Die umfangreichen tatbestandlichen Beschränkungen führen in der Kombination mit der fehlenden Anreizstruktur für die antragsberechtigten Aktionäre im Ergebnis zu einer nahezu vollständig fehlenden praktischen Bedeutung der §§  258  ff. AktG, so dass diese abgeschafft bzw. in die §§ 142 ff. AktG integriert werden sollten. 2. Allgemeine Sonderprüfung (§§ 142 ff. AktG) Weiterhin kommt für die Aktionäre die Einleitung einer (allgemeinen) Sonder­prüfung nach § 142 AktG in Betracht, die entweder aufgrund eines Beschlusses der Hauptversammlung (§ 142 Abs. 1 AktG) oder aufgrund einer gerichtlichen An­ordnung auf Antrag einzelner Aktionäre (§ 142 Abs. 2 AktG) durchgeführt werden muss. a) Keine generelle Erfassung der Unternehmensabschlüsse als solche Dabei besteht allerdings die Einschränkung, dass der Jahresabschluss und der Lagebericht30 sowie der Konzernabschluss und der Konzernlagebericht31 als solche nicht 30 OLG Hamburg v. 23.12.2010 – 11 U 185/09, AG 2011, 677, 681; AG Ingolstadt v. 18.1.2001 – HRB 2468, AG 2002, 110; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1997, §§ 142-146 Rz. 8; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 Rz. 40; Bezzenberger in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 Rz. 16; Habersack, FS Wiedemann, 2002, S. 889, 900 f.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 142 Rz. 6; Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 62 ff.; Rieckers/Vetter in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 Rz. 121; Wilsing/von der Linden in Heidel, AktG, 4. Aufl. 2014, § 142 Rz. 15; a.A. aber Schedlbauer, Sonderprüfungen, 1984, S. 143. 31 Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 63; Rieckers/Vetter (Fn. 30) § 142 Rz. 121; Wilsing/von der Linden (Fn. 30), § 142 Rz. 15.

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Prüfungsgegenstand der Sonderprüfung sein können, obwohl es sich bei diesen um Vorgänge der Geschäftsführung im Sinne von § 142 Abs. 1 Satz 1 AktG handelt. Zur Begründung der fehlenden Erfassung dieser Unternehmensabschlüsse durch §  142 Abs. 1 Satz 1 AktG wird vor allem darauf verwiesen, dass diese nicht konkret gegenständlich abgrenzbar seien. Dabei handelt es sich der Sache nach um ein teleologisches Argument im Rahmen der Auslegung von § 142 Abs. 1 Satz 1 AktG, da es auf dem Sinn und Zweck der Sonderprüfung basiert. Durch diese soll gerade keine ge­ nerelle Überprüfbarkeit des Handelns der Geschäftsleiter erreicht werden, sondern lediglich einzelne, konkrete Geschäftsvorgänge einer Prüfung unterzogen werden.32 Würde man die Unternehmensabschlüsse als solche als Prüfungsgegenstände an­ erkennen, würde die allgemeine Sonderprüfung als weiteres eigenständiges (bilanzrechtliches) Prüfungsverfahren neben die bereits bestehenden Prüfungsinstrumente treten, obwohl es als solches nicht konzipiert ist. Hinzu kommt, dass §  142 Abs.  3 AktG diejenigen Vorgänge als Prüfungsgegenstände der allgemeinen Sonderprüfung ausklammert, die bereits Gegenstand einer Sonderprüfung nach §  258 AktG sein können. Dabei ist aber zu beachten, dass die Sonderprüfung nach § 258 AktG nur auf bestimmte Posten des Jahresabschlusses und Angaben im Anhang beschränkt ist,33 so dass sich der sich aus § 142 Abs. 3 AktG ergebende Vorbehalt auch nur darauf erstrecken kann. b) Prüfung einzelner Posten Die fehlende Erfassung der Unternehmensabschlüsse bedeutet allerdings nicht automatisch, dass nicht einzelne Posten der Unternehmensabschlüsse einer Prüfung unterzogen werden können.34 Dies muss aufgrund der Beschränkung der Prüfungsgegenstände im Rahmen von § 142 Abs. 1 AktG auf Vorgänge aber abgelehnt werden, da die bilanzielle Darstellung einzelner Posten bereits kein Vorgang der Geschäftsführung sein kann.35 Zudem würde die in § 142 Abs. 3 AktG angeordnete Spezialität der Sonderprüfung nach den §§ 258 ff. AktG vollständig umgangen werden.36 Daher bedarf es eines differenzierten Ansatzes. Aufgrund der Beschränkung von § 142 Abs. 1 AktG auf Vorgänge (der Geschäftsführung) kommt nur eine inzidente Prüfung37 ein32 Vgl. nur Arnold (Fn.  30), §  142 Rz.  16  ff.; Mock (Fn.  21), §  142 Rz.  48; Rieckers/Vetter (Fn. 30), § 142 Rz. 114. 33 Siehe C.IV.1. 34 Für eine Prüfung einzelner Posten Arnold (Fn.  30), §  142 Rz.  40; Bezzenberger (Fn.  30), § 142 Rz. 16, 18; Habersack, FS Wiedemann, 2002, S. 889, 901; Jänig, Die aktienrechtliche Sonderprüfung, 2. Aufl. 2008, S. 223 ff.; Rieckers/Vetter (Fn. 30), § 142 Rz. 123; Wilsing/von der Linden (Fn. 30), § 142 Rz. 15. 35 Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 64; ebenso Bachmann, ZIP 2018, 101, 103; Rieckers/Vetter (Fn. 30), § 142 Rz. 25; a.A. KG v. 5.1.2012 – 2 W 95/11, AG 2012, 412, 413; Slavik, WM 2017, 1684, 1685; Wilsing, Der Schutz vor gesellschaftsschädigenden Sonderprüfungen, 2014, S. 21. 36 Ebenso Adler/Düring/Schmaltz (Fn. 30), §§ 142-146 Rz. 8; Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 64. 37 LG München I v. 30.12.2010  – 5 HK O 21707/09, AG 2011, 760, 761  f.; Adler/Düring/­ Schmaltz (Fn.  30), §§  142-146 Rz.  8; Bezzenberger (Fn.  30), §  142 Rz.  16; Habersack, FS Wiedemann, 2002, S.  889, 901; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  142 Rz.  6; Arnold (Fn. 30), § 142 Rz. 40; Wilsing/von der Linden (Fn. 30), § 142 Rz. 15.

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zelner Posten dahingehend in Betracht, ob die zugrundeliegenden Geschäftsvorgänge richtig abgebildet wurden. Insofern stellt der Vorgang der bilanziellen Abbildung eines Geschäftsvorgangs den eigentlichen Prüfungsgegenstand der Sonderprüfung dar. Daher kann im Rahmen der Sonderprüfung nach § 142 Abs. 1 AktG nicht nur etwa der Abschluss eines Vertrags durch den Vorstand mit einem Mehrheitsaktionär untersucht werden, sondern auch, ob die bilanziellen Folgen dieses Vertragsabschlusses einen korrekten Niederschlag in den Unternehmensabschlüssen gefunden haben. Ebenso kann Gegenstand einer Sonderprüfung sein, ob durch die AG Menschenrechtsverletzungen begangen wurden und darauf im Rahmen der CSR-Berichterstattung38 hinreichend eingegangen wurde. Dies muss allerdings in dem Prüfungsauftrag des Sonderprüfers gesondert angegeben werden, so dass etwa der Prüfungsauftrag „Prüfung der vertraglichen Verhältnisse mit dem Mehrheitsaktionär im Geschäftsjahr X“ nicht die Prüfung der richtigen bilanziellen Abbildung der Folgen dieses Vorgangs mit umfasst. Der Erfassung der bilanziellen Folgen eines Geschäftsvorgangs durch die Sonderprüfung steht auch nicht entgegen, dass es sich dabei der Sache nach um eine rechtliche Würdigung handelt. Denn zum einen kann der Sonderprüfer auch eine rechtliche Würdigung vornehmen39 und zum anderen muss sich die Sonderprüfung nicht zwangsläufig auf eine rechtliche Würdigung beziehen, sondern kann sich auf eine Darstellung der (tatsächlichen) Bilanzierung des Geschäftsvorfalls beschränken, ohne diesen rechtlich zu würdigen. Ob dies geschehen soll oder nicht, kann und sollte im Prüfungsauftrag hinreichend bestimmt werden. Gegen eine fehlende vollständige Ausklammerung bilanzieller Fragestellungen bei der allgemeinen Sonderprüfung der §§ 142 ff. AktG spricht zudem die vom Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 AktG angeordnete Mitteilungspflicht der AG gegenüber der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), da diese nicht notwendig wäre, wenn im Rahmen der Sonderprüfung nicht auch auf Vorgänge mit einem Bezug zu den im Enforcement-Verfahren zu überprüfenden Unternehmensabschlüssen eingegangen werden könnte.40 Diese somit mögliche Prüfung des bilanziellen Niederschlags eines Geschäftsvorgangs findet ihre Beschränkung allerdings in der Sonderprüfung nach §§ 258 ff. AktG. Soweit die bilanziellen Folgen eines Geschäftsvorgangs auch Gegenstand einer Sonderprüfung nach §§  258  ff. AktG sein könnten, greift insofern die Subsidiaritäts­ klausel des § 142 Abs. 3 AktG, so dass keine Prüfung im Rahmen einer allgemeinen Sonderprüfung der §§ 142 ff. AktG erfolgen kann. Der Vorrang der Sonderprüfung nach § 258 begründet sich vor allem aus der dort nach § 258 Abs. 2 bestehenden Monatsfrist für die Antragstellung.41 Die Subsidiaritätsklausel des § 142 Abs. 3 AktG ist schließlich schon selbst ein Fingerzeig des Gesetzgebers, dass eine vollständige Ausklammerung bilanzieller Fragestellungen die ausdrückliche Normierung einer sol-

38 Zur Prüfung der CSR-Bericherstattung im Rahmen der Sonderprüfung Mock (Fn.  21), § 142 Rz. 65; ders. (Fn. 9), § 289b Rz. 73; ders. in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility, 2018, S. 125, 169. 39 Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 52. 40 In diese Richtung auch BegrRegE BilKoG BT-Drs. 15/3421 S. 14. 41 Ausführlich dazu Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 201 ff.

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chen Subsidiarität nicht erforderlich gemacht hätte.42 Diese notwendige Berücksichtigung der Sonderprüfung nach §§ 258 ff. AktG im Rahmen des § 142 Abs. 1 AktG ist im Ergebnis freilich wenig überzeugend. Allerdings ist dies im Ergebnis auf das unsystematische Vorgehen des Gesetzgebers selbst zurückzuführen, da dieser die Sonderprüfung nach §§ 258 ff. AktG nicht in die §§ 142 ff. AktG integriert hat, womit diese Abstimmungsschwierigkeiten hätten vermieden werden können. c) Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufstellung, der Prüfung und der Feststellung Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob auch verfahrensrechtliche Fragen im Zusammenhang mit den Unternehmensabschlüssen Gegenstand der allgemeinen Sonderprüfung sein können. In Betracht kommt insofern das Verfahren der Aufstellung durch den Vorstand, der Prüfung durch den Aufsichtsrat, die Feststellung durch den Aufsichtsrat bzw. die Hauptversammlung (§§ 172, 173 Abs. 1 AktG) und die Interaktion von Abschlussprüfer und Aufsichtsrat (§ 171 Abs. 1 Satz 2 AktG) und verbotenerweise mit dem Vorstand (§ 318 Abs. 1 Satz 4 HGB). Da es sich bei diesen Maß­ nahmen um Vorgänge der Geschäftsführung handelt, muss von einer generellen Zulässigkeit als Prüfungsgegenstand ausgegangen werden. Etwas anderes gilt lediglich hinsichtlich des Hauptversammlungsbeschlusses zur Feststellung des Jahresabschlusses, da dafür mit dem speziellen Beschlussmängelrecht der §§ 256 f. AktG ein besonderes Verfahren existiert, um diesen Beschluss auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.43 d) Rechtsfolgen Hinsichtlich der Rechtsfolgen bleibt die allgemeine Sonderprüfung hinter der Sonderprüfung nach den §§ 258 ff. AktG weit zurück. Der Sonderprüfer muss lediglich einen Sonderprüfungsbericht erstellen, der dann weitestgehend veröffentlicht wird. Eine zwingende Berücksichtigung der Ergebnisse der Sonderprüfung bei der Aufstellung des nächsten Unternehmensabschlusses besteht – im Gegensatz zur Rechtslage bei der Sonderprüfung wegen Unterbewertung (§ 261 Abs. 1 AktG) – gerade nicht. Auch kann der Sonderprüfungsbericht keine Nichtigkeit des Jahresabschlusses (§ 256 AktG) auslösen. Soweit ein Nichtigkeitsgrund nach § 256 Abs. 1 AktG vorliegt, wird dessen Existenz durch die Feststellungen des Sonderprüfers nicht berührt, da diese Feststellungen nicht bindend sind. Entweder liegt ein Nichtigkeitsgrund vor oder nicht; die Durchführung einer Sonderprüfung hat darauf keinen Einfluss. Allerdings müssen sich der Vorstand und der Aufsichtsrat im Rahmen der Ausübung ihres unternehmerischen Ermessens bei der Aufstellung des nachfolgenden Unternehmens-

42 Ebenso LG München I v. 30.12.2010 – 5 HK O 21707/09, AG 2011, 760, 761 f.; Habersack, FS Wiedemann, 2002, S. 889, 902; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Auf. 2015, § 142 Rz. 19; Wilsing/von der Linden (Fn. 30), § 142 Rz. 14. 43 Ebenso Jänig (Fn. 34), S. 237; Mock (Fn. 21), § 142 Rz. 60 am Ende.

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abschlusses mit dem Sonderprüfungsbericht auseinandersetzen,44 um sich auf die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) berufen zu können.45 3. Zwischenergebnis Aufgrund der tatbestandlichen Beschränkungen der beiden Sonderprüfungstatbestände in § 142 Abs. 1, 258 Abs. 1 Satz 1 AktG steht den Aktionären einer AG nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit der nachträglichen Überprüfung der Unternehmensabschlüsse zur Verfügung. So können die Aktionäre insbesondere nicht eine vollständige nachträgliche Überprüfung der Unternehmensabschlüsse erreichen. Dies steht in einem gewissen rechtspolitischen Spannungsverhältnis zu der sonst vor allem bei der allgemeinen Sonderprüfung bestehenden Möglichkeit der Überprüfung einzelner Geschäftsführungsvorgänge. Während somit die Leitung der AG durch den Vorstand und die Überwachung durch den Aufsichtsrat im Einzelnen auf Initiative der Aktionäre hin geprüft werden kann, bleiben die Unternehmensabschlüsse als solche den Aktionären dahingehend verschlossen.

V. Keine (Pflicht zur) Einleitung durch den Abschlussprüfer Weiterhin stellt sich die Frage, ob auch der Abschlussprüfer des jeweiligen Unternehmensabschlusses die Möglichkeit hat, eine (nachträgliche) Prüfung des von ihm geprüften Unternehmensabschlusses einzuleiten. Ein Interesse für das Bestehen einer solchen Möglichkeit liegt für den Abschlussprüfer auf der Hand. Stellt dieser nach Abschluss der Prüfung fest, dass ihm bei dieser ein Fehler unterlaufen ist, könnte er durch eine eigene Aufklärung den damit verbundenen Reputationsschaden und ­gegebenenfalls die eigene Schadenersatzpflicht ein Stück weit beschränken. Bei dieser Frage muss grundsätzlich zwischen dem Recht auf Nachprüfung (siehe C.V.1.), der Pflicht auf Nachprüfung (siehe C.V.2.) und den Folgen einer nachträglichen Aufdeckung der Fehlerhaftigkeit durch den Abschlussprüfer (siehe C.V.3.) unterschieden werden. 1. (Eingeschränktes) Recht auf Nachprüfung Zunächst muss dem Abschlussprüfer ein eingeschränktes Recht auf Nachprüfung der von ihm geprüften Unternehmensabschlüsse eingeräumt werden. Dem Abschlussprüfer ist es unbenommen, die von ihm vorgenommene Prüfung auch nach deren Abschluss noch einmal kritisch zu hinterfragen. Allerdings ist er dabei auf die Unterlagen beschränkt, die ihm noch zur Verfügung stehen. Ein Recht auf Zugang zu den Unterlagen der Unternehmensabschlüsse bei dem geprüften Unternehmen steht dem Abschlussprüfer nicht zu. Dieses Recht erlischt mit der Fertigstellung der Prüfung. Soweit der Abschlussprüfer nach Abschluss der Prüfung Zweifel an der Richtigkeit 44 Siehe C.II. 45 Zur Geltung der Business Judgment Rule im Rahmen von Bilanzierungsentscheidungen vgl. nur Merkt, Konzern 2017, 353 ff.

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der Unternehmensabschlüsse und/oder seiner Prüfung hat, kann er dies nur noch anhand der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen überprüfen. Unabhängig davon besteht für ihn die Möglichkeit, das geprüfte Unternehmen auf diesen Verdacht hinzuweisen. 2. (Keine) Pflicht auf Nachprüfung Darüber hinaus trifft den Abschlussprüfer aber keine Pflicht zur Durchführung einer Nachprüfung. Mit Abschluss der Prüfung treffen den Abschlussprüfer grundsätzlich keine über allgemeine Interessenwahrungspflichten (z.B. Verschwiegenheitspflicht) hinausgehenden Pflichten mehr. Eine Pflicht zur Nachprüfung der Unternehmensabschlüsse und/oder seiner Prüfung kann auch nicht im Rahmen der culpa post contrahendo46 abgeleitet werden, da damit nur Pflichtverletzungen nach Vertragsende adressiert werden und keine neuen (Primär-)Pflichten begründet werden können. 3. Folgen der nachträglichen Aufdeckung der fehlerhaften Prüfung durch den Abschlussprüfer Wenn der Abschlussprüfer die Fehlerhaftigkeit des Unternehmensabschlusses feststellt und dies der AG mitteilt, kann dieser – soweit er nicht nichtig ist (§ 256 AktG) – abgeändert werden.47 Dabei besteht auch eine Pflicht zur Änderung aufgrund des Legalitätsprinzips,48 da die Organmitglieder zur Auf- und Feststellung (wesentlich) fehlerfreier Jahresabschlüsse verpflichtet sind. Etwaige Änderungen erfordern eine erneute Abschlussprüfung (§  316 Abs.  3 HGB) und eine erneute Veröffentlichung nach § 325 HGB mit einem entsprechenden Zusatzvermerk. Zudem kann – bei einer fehlenden Einhaltung der Mindestanforderungen bei der Abschlussprüfung  – eine Nichtigkeit nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 AktG eintreten, so dass die AG dann nicht (mehr) über einen festgestellten Jahresabschluss verfügt. Die Fehlerhaftigkeit der Prüfung der anderen Unternehmensabschlüsse bleibt hingegen ohne Folgen, da § 256 AktG auf diese nicht (analog) anwendbar ist.49

46 Dazu nur Herresthal in BeckOGK, Stand 1.8.2018, § 311 Rz. 475 ff. 47 Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Auf. 2015, § 172 Rz. 26; Hennrichs/Pöschke (Fn. 9), § 172 Rz. 80; Kropff, FS Budde, S. 341, 357; Lutter, FS Helmrich, S. 685, 691 f.; Mock (Fn. 9), § 172 AktG Rz. 24; Schön, FG 50 Jahre BGH, S. 153, 159; a.A. Ekkenga in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2015, § 172 Rz. 28. 48 Mock (Fn. 9), § 172 AktG Rz. 24; zum Legalitätsprinzip allgemein Fleischer (Fn. 15), § 93 Rz. 23 ff.; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 6. 49 Zur fehlenden analogen Anwendbarkeit von § 256 AktG auf den Konzernabschluss BGH v. 14.1.2008 – II ZR 282/06, AG 2008, 325; OLG Frankfurt/Main v. 21.11.2006 – 5 U 115/05, AG 2007, 282, 282 f.; OLG Köln v. 17.2.1998 – 22 U 163/97, NZG 1998, 553, 554; LG München I v. 12.4.2007 – 5 HK O 23424/06, BB 2007, 2510, 2512; vgl. auch Mock (Fn. 12), S. 590; zur fehlenden Anwendbarkeit auf den Halbjahresfinanzbericht vgl. Mock (Fn.  5), §  37w Rz. 140 mit weiteren Nachweisen.

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VI. (Keine) Erzwingung einer Bilanz(sonder)prüfung im EnforcementVerfahren (§§ 342b ff. HGB, §§ 106 ff. WpHG) Schließlich besteht noch die Möglichkeit der Einleitung einer Bilanz(sonder)prüfung im Enforcement-Verfahren (§§ 342b ff. HGB, §§ 106 ff. WpHG). Eine solche Prüfung kann von der Prüfstelle für Rechnungslegung auf der ersten Ebene (§ 342b Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 HGB) eingeleitet werden. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) kann aufgrund der Anerkennung einer Prüfstelle eine anlassbezogene Prüfung nur dann durchführen, wenn die Prüfstelle der BaFin berichtet, dass ein Unternehmen seine Mitwirkung bei einer Prüfung verweigert oder mit dem Ergebnis der Prüfung nicht einverstanden ist (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 WpHG) oder erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Prüfungsergebnisses der Prüfstelle oder an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestehen (§  108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 WpHG). Auch wenn somit eine Bilanz(sonder)prüfung im Enforcement-Verfahren möglich ist, können weder die Organmitglieder50 noch die Aktionäre oder Dritte51 daraus ein unmittelbares Antragsrecht ableiten. Das Enforcement-Verfahren ist kein Antragsverfahren, so dass niemand die Prüfstelle oder die BaFin zwingen kann, eine solche Prüfung einzuleiten. Einzig die BaFin selbst kann von der Prüfstelle die Einleitung einer Prüfung erzwingen, wenn die BaFin selbst eine solche – ohne Anerkennung einer Prüfstelle – einleiten könnte (§ 108 Abs. 2 WpHG). Somit bleiben die Akteure darauf beschränkt, die Einleitung einer Prüfung bei der Prüfstelle oder der BaFin anzuregen.52 Die BaFin wiederrum darf solchen Anregungen allerdings nur nachgehen, wenn diese glaubwürdig und stichhaltig sind, wobei im Wesentlichen auf den Maßstab des § 258 Abs. 1 AktG abzustellen ist.53

VII. Keine (nachträgliche) Prüfung durch den Betreiber des Bundesanzeigers Keine nachträgliche Prüfung der Unternehmensabschlüsse erfolgt schließlich durch den Betreiber des Bundesanzeigers bzw. des Unternehmensregisters, da § 329 Abs. 1 HGB ausdrücklich klarstellt, dass lediglich geprüft wird, ob die Unterlagen fristgemäß und vollzählig eingereicht worden sind. Eine inhaltliche Prüfung findet gerade nicht

50 Mock (Fn. 5), § 37o Rz. 41; Schmidt-Versteyl, Durchsetzung ordnungsgemäßer Rechnungslegung in Deutschland, 2008, S. 86 f. 51 Hommelhoff in Großkommentar zum AktG, 5.  Aufl. 2012, §  342b Rz.  40; Mock (Fn.  5), § 37o Rz. 42. 52 Diese Möglichkeit ausdrücklich erwähnend Begr RegE BilKoG, BT-Drucks. 15/3421, S. 9 (Anregungen betroffener Gläubiger, Aktionäre, Arbeitnehmer oder Berichte aus der Wirtschaftspresse). 53 Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 403; Mock (Fn. 5), § 37o Rz. 18; Tielmann, Durchsetzung ordnungsmäßiger Rechnungslegung, 2001, S. 236; ähnlich Zimmermann in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 37o, 37p Rz. 12.

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statt.54 Dies gilt auch dann, wenn die Unternehmensabschlüsse bereits eingereicht und veröffentlicht wurden und sich eine mögliche Fehlerhaftigkeit erst später zeigt.

D. Fazit Das geltende Aktien- und Bilanzrecht konzentriert sich im Hinblick auf die Gewährleistung der Richtigkeit von Unternehmensabschlüssen auf das Feststellungs- oder Billigungsverfahren und die Einbindung des Abschlussprüfers. Mit Abschluss des Feststellungs- oder Billigungsverfahrens ist eine Überprüfung der Unternehmensabschlüsse nur noch eingeschränkt möglich. Eine dahingehende Pflicht besteht für den Vorstand und den Aufsichtsrat, soweit stichhaltige Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit der Unternehmensabschlüsse vorliegen. Die Aktionäre können eine solche nachträgliche Prüfung nur sehr eingeschränkt erzwingen, was unter anderem auf die bruchstückhafte und unsystematische Regelung dieses Aspekts in den §§ 142 ff. AktG und §§  258  ff. AktG und auf die fehlende Abstimmung dieser beiden Sonder­ prüfungstatbestände untereinander zurückzuführen ist. Diese beiden Regelungskomplexe sollten im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit auf die Unternehmensabschlüsse insgesamt einer grundlegenden Reform unterzogen werden, bei der nicht nur die grundsätzliche Frage der Überprüfbarkeit von Unternehmensabschlüssen auf Veranlassung von Aktionären bzw. der Hauptversammlung diskutiert werden, sondern auch eine Zusammenführung der beiden Regelungskomplexe erfolgen sollte.

54 Zu der beschränkten Prüfungspflicht vgl. nur Fehrenbacher in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 329 Rz. 1; Zetsche in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, HGB, 2017, § 329 Rz. 1.

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Die Angemessenheit von Related Party Transactions Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Das RPT-Regime im Überblick 1. Zustimmungs- und Transparenz­ erfordernisse 2. Ausnahmen III. Bedeutung des Angemessenheits­ kriteriums

IV. Maßstäbe 1. Vernunft 2. Gesellschaftsinteresse 3. Das hypothetische Vergleichsgeschäft

V. Unternehmerisches Ermessen des ­Aufsichtsrats

VI. Nachteil und Nachteilsausgleich VII. Fazit

I. Einleitung Die 2017 nach intensiver Debatte reformierte Aktionärsrechte-Richtlinie (ARRL)1 verlangt von den EU-Mitgliedstaaten, Regelungen zum Schutz der börsennotierten Gesellschaften vor unangemessenen Geschäften mit nahestehenden Unternehmen und Personen in ihr jeweiliges nationales Recht aufzunehmen. Der deutsche Gesetzgeber ist bei der Umsetzung dieser Vorgaben durch das ARUG II2 sehr behutsam vorgegangen und hat die von der Richtlinie gewährten Spielräume genutzt, um Friktionen mit bestehenden Schutzvorschriften und eine schädliche Doppelregelung derselben Sachverhalte nach Möglichkeit zu vermeiden.3 Gleichwohl sind die Veränderungen durch das neu geschaffene Regime zur Regulierung von Related Party Transactions (RPT) erheblich. Sie stellen die Rechtsanwender vor große Herausforderungen. Zentrale Bedeutung kommt hier der Frage zu, unter welchen Voraussetzungen solche Geschäfte als angemessen zu qualifizieren sind. Anliegen des folgenden Beitrags ist es, hierzu Kriterien herauszuarbeiten und diese anhand ausgewählter Beispielsfälle zu erproben. Der Verfasser hofft bei seinen Überlegungen auf das wohlwollende Interesse des Jubilars, dem das deutsche Aktienrecht wichtige, durch eine seltene Kombination von Praxisnähe und wissenschaftlichem Anspruch geprägte Impulse verdankt. 1 Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre, ABl. L 132 v. 20.5.2017, S. 1; zur Entstehungsgeschichte Roth, Related Party Transactions auf dem Prüfstand, 2018, S. 110 ff.; Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 187 ff. 2 Der Beitrag beruht auf dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 20.3.2019, BR-Drucks. 156/19.  3 Begründung RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 34.

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II. Das RPT-Regime im Überblick 1. Zustimmungs- und Transparenzerfordernisse Kern der Neuregelung ist, dass wesentliche Geschäfte der börsennotierten Gesellschaft mit nahestehenden Personen und Unternehmen im Sinne der weitgefassten Definition der internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS 24.9, IFRS 10, IFRS 11, IAS 28) der Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines von ihm bestellten Ausschusses unterliegen (§  111b AktG) und unverzüglich bekannt zu machen sind (§  111c AktG). Der Begriff des Geschäfts wird verstanden als Rechtsgeschäft oder Maßnahme, durch die ein Gegenstand oder anderer Vermögenswert entgeltlich oder unentgeltlich übertragen oder überlassen wird (§ 111a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG). Ein bloßes Unterlassen wird nicht erfasst (§ 111a Abs. 1 Satz 3 AktG). Wesentlich ist ein Geschäft, wenn sein wirtschaftlicher Wert allein oder zusammen mit allen innerhalb des laufenden Geschäftsjahres mit derselben Related Party vorgenommenen Geschäfte 2,5 % der Summe des bilanziell ausgewiesenen Anlage- und Umlaufvermögens der Gesellschaft bzw. des Konzerns übersteigt (§ 111b Abs. 1, 3 AktG). Dieser Schwellenwert ist recht hoch4 und dürfte dazu führen, dass in Deutschland Geschäfte des ­Emittenten mit nahestehenden natürlichen Personen − Privataktionären, Managern, Angehörigen − selbst in problematischen Fällen kaum einmal den neuen Zustimmungs- und Transparenzerfordernissen unterliegen. Im Geschäftsverkehr zwischen verbundenen Unternehmen ist ein etwaiges Überschreiten des Schwellenwerts aber ein durchaus relevantes Szenario.5 2. Ausnahmen Ausgenommen sind – vorbehaltlich einer abweichenden Klausel in der Satzung – im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen getätigte Geschäfte, was im Rahmen eines internen Verfahrens regelmäßig zu bewerten ist (§ 111a Abs. 2 AktG). Bedeutung hat die Regelung vor allem für den normalen Leistungsaustausch im faktischen Konzern. Durch das Merkmal „im ordentlichen Geschäftsgang“ werden nach Art und Umfang außergewöhnliche Geschäfte von der Privilegierung ausgenommen.6 Für die Abgrenzung empfiehlt sich eine Orientierung an den zu § 116 Abs. 2 HGB entwickelten Kriterien.7 Der Begriff der Marktüblichkeit ist i.S.v. Art. 17 lit. r Abs. 2 der EU-Bilanzrichtlinie (2013/34/EU) bzw. § 285 Nr. 21 HGB zu verstehen.8 Maßgeblich ist daher, ob die Bedingungen der Transaktion einem Drittvergleich standhalten.9 Lässt sich ein Marktpreis tatsächlich ermitteln, so ist dieser zugrunde zu legen. Hilfsweise kann jedoch auch auf Schätzpreise zurückgegriffen werden.10 4 KritischTröger/Roth/Strenger, BB 2018, 2946, 2948 f. 5 Engert/Florstedt, ZIP 2019, 493, 497 ff. 6 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 89. 7 Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441, 2445. 8 Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441, 2444. 9 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 89; Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 204; Grottel in Beck Bilanz-Komm., 11. Aufl. 2018, § 285 HGB Rz. 621 f. 10 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 89.

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§ 111a Abs. 3 Nr. 1-6 AktG enthält dann einen umfangreichen Katalog weiterer Ausnahmetatbestände. So gelten Geschäfte mit Tochtergesellschaften, die eine bestimmte Beteiligungsstruktur aufweisen oder die selbst in einem EU-Mitgliedstaat ansässig und börsennotiert sind, nicht als relevante Transaktionen (§ 111a Abs. 3 Nr. 1 AktG). Außerdem besteht ein Vorbehalt für Geschäfte, die auf einer Zustimmung oder Ermächtigung der Hauptversammlung beruhen (§  111a Abs.  3 Nr.  2, 3 AktG). Diese Regelung hat insbesondere Bedeutung für den Vertragskonzern, denn sie führt dazu, dass nicht nur der Abschluss des Unternehmensvertrages privilegiert ist, sondern auch die auf seiner Grundlage vorgenommenen Geschäfte § (111a Abs. 3 Nr. 3 lit. a AktG). Für den faktischen Konzern ist jedoch keine vergleichbare Bereichsausnahme vorgesehen. Hier gilt das RPT-Regime daher für den konzerninternen Geschäftsverkehr, wenn nicht einer der speziellen Ausnahmetatbestände in § 111a Abs. 2, 3 AktG greift (§ 311 Abs. 3 AktG).11

III. Bedeutung des Angemessenheitskriteriums § 111b Abs. 1 AktG statuiert zwar den formalen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats, nennt aber leider keinen inhaltlichen Maßstab, an dem die Entscheidung auszurichten ist. Einen Hinweis gibt jedoch §  111c Abs.  2 Satz 3 AktG. Danach muss die öffentliche Bekanntmachung alle wesentlichen Informationen enthalten, die erforderlich sind, um die Angemessenheit des Geschäfts aus Sicht der Gesellschaft und der außenstehenden Gesellschafter zu bewerten. Wegen des engen Zusammenhangs von Zustimmungs- und Publizitätspflichten ist von einem Gleichlauf der Kriterien auszugehen. Die Stakeholder sollen aufgrund der Angaben beurteilen können, ob sich der Aufsichtsrat inhaltlich am Kriterium der Angemessenheit orientiert hat. Diese Ausrichtung entspricht auch dem Normzweck der RPT-Regeln, der darauf gerichtet ist, zu verhindern, dass die nahestehende Person ihre Position ausnutzt, um sich zu Lasten der Gesellschaft und ihrer außenstehenden Aktionäre Vermögensvorteile zu verschaffen.12 Der Gefahr des sog. Tunneling kann nur wirksam begegnet werden, wenn der Aufsichtsrat seine Zustimmung davon abhängig macht, dass die Bedingungen der Transaktion angemessen sind.13 Ist das Geschäft nicht angemessen, so ist es gleichwohl wirksam. Der Gesetzgeber hat auf die Nichtigkeitssanktion bewusst verzichtet. Unsicherheiten, die sich aus der der Bewertung der einzelnen Transaktionen ergeben, sollen nicht auf das Außenverhältnis durchschlagen.14 Der Gesellschaft stehen auch keine Rückgewähransprüche zu, wenn sich solche nicht aus anderen Gesichtspunkten ergeben (§§ 52, 57, 62 AktG, § 826 BGB).15 Stimmt der Aufsichtsrat pflichtwidrig materiell unangemessenen, die Gesellschaft und ihre außenstehenden Gesellschafter benachteiligenden Transaktio11 Näher dazu H. F. Müller, ZGR 2019, 97, 119 ff. 12 S. Erwägungsgrund 42 ARRL II. 13 Bungert/Berger, DB 2018, 2860, 2864; Lanfermann, BB 2018, 2859, 2860; Tarde, ZGR 2017, 360, 382; J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 312; zweifelnd Heldt, AG 2018, 905, 918 f. 14 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 93. 15 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 93.

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nen zu, so haftet er allerdings neben dem Vorstand (§ 93 Abs. 2 AktG) nach Maßgabe von § 116 Satz 1, § 93 Abs. 2 AktG.16 Die potenzielle persönliche Haftung soll nach Einschätzung des Gesetzgebers genügen, um die Organwalter zur Beachtung des Angemessenheitspostulats anzuhalten.17

IV. Maßstäbe 1. Vernunft Weder die Richtlinie noch das sie umsetzende Gesetz enthält eine Definition der Angemessenheit. Bei einem Textvergleich fällt zunächst auf, dass Art.  9c Abs.  2, 3, 7 ARLL darauf abhebt, dass die Transaktion angemessen und vernünftig („fair and reasonable“) sein muss. Auf das zuletzt genannte, zusätzliche Kriterium ist im Gesetzgebungsverfahren zutreffend verzichtet worden, da die Beurteilung, ob das Geschäft „vernünftig“ ist, in der Angemessenheitsprüfung aufgeht.18 Eine angemessene Transaktion ist stets auch vernünftig im Sinne der europarechtlichen Vorgaben. 2. Gesellschaftsinteresse Bei der Beurteilung der Angemessenheit kommt es auf die Sicht der börsennotierten Gesellschaft und der Aktionäre an, die keine nahestehende Person oder Unternehmen sind (Art. 9c Abs. 2, 3, 7 ARLL bzw. § 111c Abs. 2 Satz 3 AktG). Sie sollen davor bewahrt werden, dass die Related Party sich zu ihren Lasten bereichert. Daraus folgt zunächst, dass der Aufsichtsrat ohne Weiteres einer vom Vorstand vorgeschlagenen Transaktion, die für die eigene Gesellschaft vorteilhaft, aus Sicht des der Gesellschaft nahestehenden Vertragspartners aber ungünstig ist, zustimmen darf und muss, wenn nicht zwingende gesetzliche Vorschriften entgegenstehen. Der Aufsichtsrat hat die Belange der Gesellschaft zu wahren, nicht die der Related Party. Auch ein übergeordnetes Konzerninteresse darf den Aufsichtsrat bei seiner Entscheidung über die Zustimmung nicht leiten. Daher vermag eine insgesamt kohärente und ausgewogene Gruppenpolitik die Zustimmung zu einzelnen nachteiligen Maßnahmen nicht zu legitimieren.19 Sind die Bedingungen des Geschäfts aus Sicht der Gesellschaft angemessen, so sind damit in der Regel auch die Belange der außenstehenden Gesellschafter gewahrt, denn hier besteht typischerweise ein Gleichlauf der Interessen. Maßnahmen, die sich speziell gegen die Interessen der Minderheitsgesellschafter richten, wie etwa das „Aushungern“ durch Thesaurierung von Gewinnen oder ein Squeeze Out gegen unangemessen niedrige Abfindung,20 fallen regelmäßig in die Zuständigkeit der Hauptversammlung und damit unter die Bereichsausnahme nach § 111a Abs. 3 Nr. 2, 3 AktG. Eine etwaige Mediatisierung von Mitgliedschaftsrechten durch Über16 H. F. Müller, ZGR 2019, 97, 105. 17 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 93 f. 18 Begr. RefE ARUG II, abrufbar unter www.bmjv.de, S. 80. 19 Tarde, ZGR 2017, 360, 382. 20 Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 16.

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tragung von Betriebsteilen ist nicht zu berücksichtigen, denn das RPT-Regime zielt ausschließlich auf die Wahrung der finanziellen Interessen der Außenseiter.21 3. Das hypothetische Vergleichsgeschäft Die Transaktion ist angemessen, wenn ein sorgfältig und gewissenhaft agierender Geschäftsleiter sie mit einem unabhängigen Dritten zu gleichen Konditionen abgeschlossen hätte.22 Es kommt dabei auf die konkret-individuellen Verhältnisse im Zeitpunkt der Vornahme des Geschäfts an. Ein solcher hypothetischer Fremdvergleich wird im Gesellschaftsrecht insbesondere bei der Beurteilung von Ausschüttungen an Gesellschafter (§  57 AktG) sowie bei der Ermittlung eines Nachteils im Sinne von § 311 AktG vorgenommen. Insofern liegt es nahe, die hierzu entwickelten Kriterien heranzuziehen.23 Diese orientieren sich wiederum hinsichtlich der Methodik der Bewertung an den steuerrechtlichen Grundsätzen der verdeckten Gewinnausschüttung.24 Danach ist darauf abzustellen, ob die Korporation der Related Party einen Vermögensvorteil zugewandt hat, den ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einem Dritten nicht gewährt hätte. Besteht bei einem Vertrag zwischen Leistung und Gegenleistung ein objektives Missverhältnis zum Nachteil der Gesellschaft, so kann unterstellt werden, dass das Geschäft aufgrund des Einflusses der nahestehenden Person getätigt wurde. Ein wichtiges Instrument zur Bildung des Vergleichsmaßstabs ist die Untersuchung tatsächlicher Fremdgeschäfte. Dabei ist vorrangig zu schauen, zu welchen Konditionen die Gesellschaft gleichartige Geschäfte mit fremden Lieferanten oder Abnehmern schließt (interner Vergleich). Hilfsweise kann auf die zwischen unabhängigen Dritten ausgehandelten Konditionen abgestellt werden (externer Vergleich).25 Lässt sich so ein Marktpreis für die von der Gesellschaft zu erbringende Leistung ermitteln, so ist dieser Preis Ausgangspunkt für die Angemessenheitsprüfung des Aufsichtsrats. Dabei darf dieser es jedoch nicht belassen, sondern er muss die Auswirkungen der Transaktion im konkreten Einzelfall in den Blick nehmen. Zu marktüblichen Bedingungen abgeschlossene Geschäfte sind deshalb nicht stets angemessen.26 So können die Interessen der Gesellschaft und der außenstehenden Gesellschafter beim Verkauf zu Marktpreisen an die Related Party beeinträchtigt sein, wenn etwa auf eine lukrative Weiterverarbeitung verzichtet oder betriebsnotwendiges Anlagevermögen veräußert wird. Umgekehrt kann es ausnahmsweise zum Wohl der Gesellschaft geboten sein,

21 J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 321; Wiersch, NZG 2014, 1131, 1133. 22 Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 16. 23 H. F. Müller, ZGR 2019, 97, 122; J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 298. 24 Vgl. BGH v. 1.3.1999 – II ZR 312/97, BGHZ 141, 79, 84 ff.; Hogh, Die Nachteilsermittlung im Rahmen des § 311 I AktG, 2004, S. 191 ff.; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 312 AktG Rz. 203 ff.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 54; H. F. Müller in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 311 AktG Rz. 32 f. 25 Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 20. 26 S. schon J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 298.

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ein Geschäft abzuschließen, auch wenn dies nicht zu arm’s length-Konditionen möglich ist, etwa um einen dringenden Liquiditätsbedarf zu decken.27 Hat die Gesellschaft ein Angebot eines nicht verbundenen Unternehmens erhalten, so bildet dies den Vergleichsmaßstab, denn der pflichtgemäß handelnde Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft würde nicht zu ungünstigeren Bedingungen kontrahieren, wenn nicht besondere Gründe gegeben sind.28 Liegt der mit der Related Party vereinbarte Preis unter dem Angebotspreis, darf der Aufsichtsrat regelmäßig dem Geschäft nicht zustimmen. Lässt sich ein Marktpreis nicht ermitteln und liegen auch keine Angebote Dritter vor, so muss auf Hilfsrechnungen zurückgegriffen werden. Hierfür kommen vor allem die Kostenaufschlagsmethode und die Absatzpreismethode in Betracht.29 Nach der Kostenaufschlagsmethode berechnet sich der angemessene Preis nach den Selbstkosten der Gesellschaft zuzüglich einer branchenüblichen Gewinnspanne. Dagegen setzt die Absatzpreismethode bei dem erzielten Endpreis an und zieht die den zwischengeschalteten Unternehmen zuzurechnenden Anteile ab. Der Buchwert des Vertragsgegenstands ist regelmäßig kein geeigneter Maßstab, da er nicht den realen Wert wiedergibt.30 Bei der Vergabe von Darlehen an eine Related Party muss zunächst die Verzinsung marktkonform sein. Zu berücksichtigen ist aber auch das Ausfallrisiko. Dieses lässt sich durch Stellung einer hinreichenden Kreditsicherheit ausschließen. §  57 Abs.  1 Satz 3 Hs. 2 AktG lässt jedoch die Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs genügen. Diese gesetzgeberische Wertung gilt es auch im hier interessierenden Zusammenhang zu beachten. Die Hingabe eines nicht besicherten Darlehens kann daher angemessen sein, wenn die Rückzahlung nicht ernstlich gefährdet ist.31 Die Bonität des Schuldners haben Vorstand und Aufsichtsrat sorgfältig zu prüfen. Zentrale Cash-Pooling Systeme können nach der Begründung des Regierungsentwurfs sogar unter die Ausnahme des § 111a Abs. 2 AktG für marktübliche Geschäfte im ordentlichen Geschäftsgang fallen, wenn die Kautelen den allgemein üblichen Konditionen bei solchen Systemen entsprechen.32 Auf das zwingende Erfordernis einer Besicherung, die das wirtschaftliche sinnvolle Cash Pooling unattraktiv machen würde,33 kann auch hier verzichtet werden. Zu beachten ist bei der Beurteilung von Darlehen aber schließlich ein etwaiges Liquiditätsrisiko. Es muss gewährleistet sein, dass der Gesellschaft keine zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs notwendigen liqui27 Begr. RefE ARUG II, abrufbar unter www.bmjv.de, S. 80. 28 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 212; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8. Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 55; H. F. Müller in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 311 AktG Rz. 35. 29 Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 21 f. 30 Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 56; H. F. Müller in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 311 AktG Rz. 37. 31 Näher BGH v. 1.12.2008  – II ZR102/07, BGHZ 179, 71  Rz.  9  ff.; Habersack, ZGR 2009, 347 ff.; Kropff, NJW 2009, 814 ff. 32 Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 89. 33 Altmeppen, NZG 2010, 401, 403.

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den Mittel entzogen werden und dass sie im Bedarfsfall jederzeit die Rückführung von Liquidität verlangen kann.34 Besondere Schwierigkeiten bereitet die Ermittlung der Angemessenheit von sonstigen Maßnahmen wie zum Beispiel Produktionsverlagerungen, Produktionsänderungen, Investitionsentscheidungen oder der Stilllegung von Betriebsteilen,35 da sie sich in vielfältiger, kaum zuverlässig zu prognostizierender Weise auf die Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft auswirken. Nach den oben dargelegten Grundsätzen kommt es darauf an, ob der sorgfältige Geschäftsleiter einer von der Related Party unabhängigen Gesellschaft unter sonst gleichen Bedingungen die Maßnahme getroffen hätte. Die Angemessenheit kann hier auf der Grundlage der durch die von der Betriebswirtschaftslehre entwickelten und immer weiter verfeinerten Wirtschaftlichkeitsrech­ nungen beurteilt werden. So sind bei Investitionen die auf diese voraussichtlich ent­ fallenden Einnahmen und Ausgaben auf den maßgeblichen Beurteilungszeitraum abzuzinsen.36 Unvertretbar hohe, existenzbedrohende Risiken darf ein pflichtgemäß handelnder Geschäftsleiter nicht eingehen. Solche Risiken lassen sich aber unter Umständen durch die Übernahme von Garantien oder Verlustübernahmezusagen seitens der Related Party angemessen abschirmen. Die Aufgabe von Geschäftsfeldern kann durch Ersatz des entgangenen Gewinns oder die Zuweisung neuer, gleichwertiger Geschäftschancen kompensiert werden.37

V. Unternehmerisches Ermessen des Aufsichtsrats Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile des Geschäfts handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats, die gerichtlich nur beschränkt überprüfbar ist.38 Dieser Handlungsspielraum ist in dem unbestimmten Merkmal der Angemessenheit wohl bereits angelegt, folgt aber jedenfalls aus dem über § 116 Satz 1 AktG anwendbaren § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.39 Maßgeblich ist, ob auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer mit der Related Party nicht verbundenen Gesellschaft das in Rede stehende Geschäft abschließen würde. Bei der Beurteilung dieser Frage kann er sich fachkundig beraten lassen, doch muss er letztlich die Entscheidung eigenverantwortlich selbst treffen.40 Die Rolle des Aufsichtsrats beschränkt sich auch nicht darauf, zu überprüfen, ob der Vorstand seinerseits die Grenzen der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verankerten Business Judgement Rule eingehalten hat, die Entscheidung also vertretbar ist. Denn mit dem Zustimmungsvorbehalt wird

34 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 266 ff. 35 S. Begr. RegE ARUG II, BR-Drucks. 156/19, S. 87. 36 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2015, § 311 AktG Rz. 220. 37 H. F. Müller in FS für Stilz, 2014, S. 427, 437. 38 Bungert/Berger, DB 2018, 2860, 2864. 39 So allgemein zum Zustimmungsvorbehalt BGH v. 10.7.2018  – II ZR 24/17, NJW 2018, 3574, 3579. 40 H. F. Müller, ZGR 2019, 97, 103 f.; J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 310 f.; für eine stärkere Rolle des Wirtschaftsprüfers aber Lanfermann, BB 2018, 2859, 2863.

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Hans-Friedrich Müller

dem Aufsichtsrat ein Instrument begleitender Mitgestaltung an die Hand gegeben.41 Diese Funktion hat der Vorbehalt auch und gerade dann, wenn es um die Einwilligung in großvolumige Transaktionen mit nahestehenden Personen oder Unternehmen geht. Der Aufsichtsrat hat sein unternehmerisches Ermessen daher unabhängig von dem des Vorstands auszuüben. Dies kann dazu führen, dass er zu einer anderen Einschätzung der Chancen und Risiken gelangt und die Entscheidungen der beiden Organe auseinanderfallen.42 Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, so bleibt dem Vorstand allerdings noch die Möglichkeit, der Hauptversammlung − unter Ausschluss der an der Transaktion beteiligten Aktionäre − die Sache gemäß § 111b Abs. 4 AktG zur Beschlussfassung vorzulegen. Angesichts des mit einer solchen Vorlage verbundenen organisatorischen Aufwands und des Anfechtungsrisikos sollte er sich aber gut überlegen, ob er von dieser Option wirklich Gebrauch machen will.43

VI. Nachteil und Nachteilsausgleich Auf der Ebene der börsennotierten abhängigen Gesellschaft kommt es durch die Reform zu einer Doppelregulierung. Die neu geschaffenen Schutzvorkehrungen ergänzen das herkömmliche Recht des faktischen Konzerns. Nach den etablierten §§ 311 ff. AktG müssen die Konzernbeziehungen umfassend dokumentiert und geprüft und etwaige Nachteile im Einzelnen ausgeglichen werden. Hinzu kommen bei für sich genommen oder in der Summe sehr großvolumigen Transaktionen mit verbundenen Unternehmen nunmehr die Zustimmungs- und Publizitätserfordernisse nach den §§ 111a-c AktG. Die notwendige Abstimmung der beiden Regime wird dadurch erleichtert, dass der für die RPT-Regeln zentrale Begriff der Angemessenheit mit dem des Nachteils in § 311 Abs. 1 AktG korrespondiert.44 Nachteil meint jede Minderung oder konkrete Gefährdung der Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft ohne Rücksicht auf Quantifizierbarkeit, soweit sie als Abhängigkeitsfolge eintritt.45 Ein in diesem Sinne nachteiliges Geschäft dürfte jedenfalls im Ausgangspunkt auch als unangemessen zu qualifizieren sein. Hier wie dort ist auf das hypothetische Verhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer unabhängigen Gesellschaft abzustellen.46 Bei der Angemessenheitsprüfung kann sich der Aufsichtsrats daher an den bewährten Kriterien zur Nachteilsermittlung orientieren, die ihm durch die alljährliche Prüfung des Abhängigkeitsberichts des Vorstands gemäß §§  312  ff. 41 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NJW 2018, 3574, 3579. 42 S. allgemein BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NJW 2018, 3574, 3579. 43 DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2019, 12, 18. 44 S. bereits oben IV.3. 45 BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 Rz. 8; BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 Rz. 37; Lutter, Festschrift für Peltzer, 2001, S. 241, 244 f.; Mülbert/Leuschner, NZG 2009, 281, 284; Fleischer in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 317 AktG Rz. 35 f.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 39. 46 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 Rz. 38; H. F. Müller, ZHR 182 (2018), 482, 483  f.; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 8.  Aufl. 2016, § 311 AktG Rz. 40, 53. 

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Die Angemessenheit von Related Party Transactions

AktG vertraut sind. Darüber hinaus ist die Vornahme eines für sich betrachtet nachteiligen Geschäfts nicht zu beanstanden, wenn das herrschende Unternehmen gleichzeitig einen kompensierenden Vorteil gewährt oder verbindlich zusagt. Nicht zulässig ist dagegen der Aufschub des Nachteilsausgleichs bis zum Ende des Geschäftsjahres. Diese in § 311 Abs. 2 AktG dem herrschenden Unternehmen eingeräumte Privilegierung gilt für das RPT-Regime nicht, denn der Aufsichtsrat soll präventiv das Handeln des Vorstands kontrollieren und schon das Zustandekommen unangemessener Geschäfte verhindern.47 Er darf sich daher nicht vertrösten lassen, sondern muss seine Zustimmung davon abhängig machen, dass bereits bei Abschluss des Geschäfts ein angemessener Ausgleich gewährleistet ist. Ein nachgelagerter Ausgleich ist dem herrschenden Unternehmen allerdings gestattet, solange der Schwellenwert des §  111b Abs. 1 AktG noch nicht erreicht ist. Erst wenn der Wert überschritten wird und der Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats greift, entfällt diese Möglichkeit. Diese Einschränkung ihrer Flexibilität belastet die betroffenen Unternehmen angesichts der hohen Aufgreifschwelle allerdings nicht allzu sehr. Die Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 111b AktG hat keine ratifizierende Wirkung. Ist das Geschäft objektiv nachteilig, muss der Nachteil bis spätestens zum Ende Abschluss des Geschäftsjahres nach § 311 Abs. 2 AktG ausgeglichen werden, ansonsten haften das herrschende Unternehmen und seine organschaftlichen Vertreter gemäß § 317 AktG auf Schadensersatz. Dass der Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft das Geschäft – zu Unrecht! – als angemessen beurteilt und sein Einverständnis erklärt hat, ändert daran nichts.

VII. Fazit Die in Umsetzung der reformierten Aktionärsrechterichtlinie neu in das deutsche Recht eingefügten RPT-Regeln stärken die Rolle des Aufsichtsrats. Er erhält durch den obligatorischen Zustimmungsvorbehalt bei wesentlichen Geschäften der börsennotierten Gesellschaft mit nahestehenden Personen oder Unternehmen nach § 111b AktG ein wichtiges zusätzliches Instrument zur präventiven Kontrolle des Vorstands. Leider geben aber weder die Richtlinie noch das ARUG II konkrete Kriterien für die Beurteilung der Angemessenheit der Transaktion vor. Vorstehend wurde aufgezeigt, dass sich insoweit eine Orientierung an den zur Ausfüllung des Nachteilsbegriffs (§ 311 AktG) im faktischen Konzern bewährten Maßstäben und Bewertungsmethoden empfiehlt. Dieser Ansatz erleichtert den Unternehmen den Umgang mit den neuen Regeln und ermöglicht zugleich eine sinnvolle Abstimmung mit den etablierten §§ 311 ff. AktG. Es bleibt zu hoffen, dass er dazu beitragen kann, das als „legal transplant“ aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis importierte und hierzulande zunächst sehr skeptisch betrachtete RPT-Regime nahtlos in das bewährte deutsche Aktien- und Aktienkonzernrecht zu integrieren. 47 Tarde, Related Party Transactions, 2018, S. 230; H. F. Müller, ZGR 2019, 97, 122; anders J. Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 313: Nachträgliche Ausgleichsvereinbarung unterliegt der RPT-Kontrolle.

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Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Intersexualität auf das Aktien- und GmbH-Recht* Inhaltsübersicht I. Einführung II. Das dritte Geschlecht III. Gesellschaftsrechtliche „Personen­ verzeichnisse“ und Handelsregister­ eintragungen natürlicher Personen

IV. Regelungen des Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst V. Ausblick

I. Einführung Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Anerkennung der Intersexualität1 hatte schon bei Verkündung in den Medien2 ein breites Echo gefunden. Unmittelbar betrifft der Beschluss vermeintlich nur das Personenstandsrecht, welches der ­Gesetzgeber bereits an die Existenz des dritten Geschlechts anpasste.3 In § 22 Abs. 3 PStG neuer Fassung wird die Möglichkeit eingeräumt, bei der Beurkundung der Geburt eines Neugeborenen neben den Angaben „weiblich“ und „männlich“ auch die Bezeichnung „divers“ zu wählen. Mit letzterem löst sich das deutsche Recht zwar fortan von den Wurzeln der biblischen Schöpfungsgeschichte, die bekanntlich ein anderes Verständnis hat: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild (…). Männlich und weiblich erschuf er sie.“4 Das bleibt aber letztlich unvermeidbar, wenn man Intersexualität mit dem Bundesverfassungsgericht nicht – wie etwa die Weltgesundheitsorganisation5 – als Krankheit begreift. * Für ihre Bereitschaft zur offenen Diskussion meiner Thesen aus verfassungsrechtlicher Sicht danke ich Frau Rechtsanwältin Dr. Yvonne Kerth, Partnerin der Dannecker & Kerth ­PartmbB Rechtsanwälte, Hamburg. 1 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1-30. 2 Exemplarisch Spiegel v. 8.11.2017, http://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/ das-dritte-geschlecht-was-bedeutet-intersexualitaet-a-1177033.html und FAZ, https://www. faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/intersexualitaet-diese-varianten-sind-keine-krankhei ten-15290710.html, zuletzt aktualisiert am 15.11.2017. 3 Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben, Bundestags-­ Drucksache 19/4669. 4 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, überarbeitete Ausgabe 2016 der Katholische Bibel­ anstalt, Stuttgart, dort Zitat Gen 1, 27. 5 ICD-10-GM 2014, dort Kapitel XVII, insbesondere Q56 „Unbestimmtes Geschlecht und Pseudohermaphroditismus“; abrufbar https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/ icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2014/block-q50-q56.htm.

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Zugleich liegt auf der Hand, dass von dieser Weichenstellung der Geschlechterweitung durch das Bundesverfassungsgericht auch das Gesellschaftsrecht nicht unberührt bleiben kann. Soweit ersichtlich hat als erstes die Hauptversammlungspraxis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagiert.6 Ob und welche Ausstrahlungen in das Aktien- und GmbH-Recht es darüber hinaus geben könnte, wird im Folgenden untersucht.

II. Das dritte Geschlecht Worum geht es? Medizinisch wurde erwiesen, dass es, neben Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, auch Intersexuelle gibt, die „sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.“ Das Bundesverfassungsgericht referiert in Randnummer 10 seines Beschlusses7 eine Häufung von 1:500 in der Bevölkerung, andere nennen deutlich niedrigere Zahlen. Eine nicht nur medizinische Frage ist, ob man diesen Befund „nur“ als Sexualdifferenzierungsstörung8 einordnet oder weitergehend zum Anlass einer rechtlichen Ausformung eines dritten Geschlechts nimmt. Der Deutsche Ethikrat hat sich ihr bereits vor einigen Jahren auf hunderten Seiten umfassend gestellt.9 Das kann hier nicht nachgezeichnet werden; aber auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind die Überlegungen des Deutschen Ethikrates für den Juristen namentlich in der weitergehenden Aufarbeitung des römischen Rechts, der mittelalterlichen deutschen Rechtsgeschichte und den aktuellen rechtsvergleichenden Ausführungen unverändert lesenswert.10 Die Antwort des Bundesverfassungsgerichts ist bekannt: Es leitet für diese Personen aus dem Grundgesetz einen doppelten Schutz ab. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG schütze (auch) deren geschlechtliche Identität. Weitergehend schütze Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (auch) Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts.

6 Exemplarisch: Einberufung der Hauptversammlung 2019 der thyssenkrupp AG im Bundesanzeiger v. 19.12.2018, abrufbar www.bundesanzeiger.de. Auch das Schrifttum hat das Bundesverfassungsgericht bereits aufgegriffen, vgl. Mutter, Erste Überlegungen zu Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Intersexualität auf das Aktienund GmbH-Recht https://blog.otto-schmidt.de/gesellschaftsrecht/2018/04/06/erste-ueber​ legungen-zu-auswirkungen-der-entscheidung-des-bundesverfassungsgerichts-zur-interse xualitaet-auf-das-aktien-und-gmbh-recht/. 7 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1-30. 8 Vgl. Nachweis in Fn. 5. 9 Deutscher Ethikrat, Intersexualität, Stellungnahme v. 23.2.2012, abrufbar https://web.archive. org/web/20160318005607/http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexu alitaet.pdf. 10 Deutscher Ethikrat, Intersexualität, Stellungnahme v. 23.2.2012, abrufbar https://web.archive. org/web/20160318005607/http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexu alitaet.pdf., S. 116 ff.

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Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Intersexualität

Bei näherer Betrachtung sind von diesem Schutz letztlich zwei Fallgruppen umfasst, die auch der Gesetzgeber durch unterschiedliche Regelungen in Umsetzung der Entscheidung abgebildet hat: Zum einen sind dies die bereits bei Geburt dem Geschlecht divers zuzuordnenden Personen, bei denen der medizinische Befund es (Dritten) erlaubt, den Neugeborenen entsprechend zuzuordnen. Ihn regelt §  22 Abs.  3 PStG: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so kann der Personenstandsfall auch ohne eine solche Angabe oder mit der Angabe „divers“ in das Geburtenregister eingetragen werden.“ Zum anderen gibt es aber auch jene Fälle, in denen die Zuordnung zum Geschlecht nicht bereits bei Geburt, sondern erst später durch die betroffene Person selbst erfolgt. Sie regelt § 45b PStG: „Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung können gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstands­ eintrag durch eine andere in §  22 Absatz 3 vorgesehene Bezeichnung ersetzt oder ge­ strichen werden soll. (…)“. Freilich reicht für eine „Umschreibung“ nicht die bloße Selbsteinschätzung, sondern es bedarf nach § 45b Abs. 3 PStG der Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung zum Nachweis, dass eine Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt. Dieses Erfordernis nähert die beiden Fälle im Ergebnis an, da die Abgrenzung letztlich doch weniger in der Selbsteinschätzung liegt als im zeitlichen Moment. Abzugrenzen ist Diversität zur Vermeidung von Missverständnissen schließlich gegen Transsexualität, die sich nicht durch Verschiedenheit von männlich und weiblich auszeichnet, sondern sozusagen „nur“ den Wechsel unter den Geschlechtern betrifft.

III. Gesellschaftsrechtliche „Personenverzeichnisse“ und Handelsregistereintragungen natürlicher Personen Nachdem das Bundesverfassungsgericht beschlossen hat, dass Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, in beiden vorgenannten Grundrechten verletzt werden, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt,11 sind auch gesellschaftsrechtliche Personenverzeichnisse am selben Maßstab zu messen. Denn hier kann von Verfassung wegen nichts anderes gelten. Sowohl das Aktien- wie auch das GmbH-Recht kennen vielfach Personenverzeichnisse. Anzuführen sind beispielsweise für die AG das Teilnehmerverzeichnis der Hauptversammlung (§  129 Abs.  1 Satz 2 AktG) und das Aktienregister (§  67 Abs.  1 S.  1 AktG) sowie für die GmbH insbesondere die Liste der Gesellschafter (§ 40 GmbHG). Für das Genossenschaftsrecht kann man beispielsweise die Mitgliederliste anführen (§ 30 GenG). Natürliche Personen gelangen zudem vielfach zur Eintragung in das Handelsregister, insbesondere als Kaufleute, Gesellschafter, Prokuristen, Vorstandsmitglieder, Mitglie11 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1 ff., dort bereits Leitsatz 3.

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der des Leitungsorgans, geschäftsführende Direktoren, Geschäftsführer, Abwickler usw. (§ 24 Abs. 1 HRV). Alle diese Regelungen unterscheiden sich von § 21 Abs. 1 Nr. 3 PStG allerdings gerade dadurch, dass dort keine Angabe des Geschlechts verlangt wird. Einer Ausdehnung von zwei auf drei Geschlechter bedarf es hier also nicht. Insoweit stellt sich jedoch die Frage, ob das Ausleben der geschlechtlichen Identität „auch hier“ verfassungsrechtlich nicht vielleicht eine Erweiterung gebietet, aufgrund derer man auch aus dem Handelsregister bzw. den verschiedenen gesellschaftsrecht­ lichen Listen und Verzeichnissen das Geschlecht ersehen kann. Das ist jedoch auf Grundlage der Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts im angeführten Beschluss klar zu verneinen.12 Dort legt das Gericht nämlich sichtlich Spur für eine diskriminierungsfreie Gestaltung des Personenstandsrechts durch Verzicht auf Geschlechtsangaben. Dass der Gesetzgeber sich bei der Reform des Personenstandsrechts für eine andere Lösung entschieden hat, ändert aber nichts daran, dass der Verzicht auf Geschlechtsangaben in gesellschaftsrechtlichen Registern, Verzeichnissen und Listen eine verfassungskonforme Variante ist.

IV. Regelungen des Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst Damit rücken jene Bestimmungen des Gesellschaftsrechts in den Fokus, die ausdrücklich „nur“ das männliche und das weibliche Geschlecht ansprechen. Dies sind die verschiedenen Quotenregelungen, die das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst im Aktiengesetz, im Mitbestimmungsgesetz, im Drittelbeteiligungsgesetz, im SE-Ausführungsgesetz, im GmbH-Gesetz und weiteren Gesetzen verankert hat. Konkret in Erinnerung zu rufen sind hier etwa §  96 Abs.  2 AktG, der für die ­Besetzung von Aufsichtsräten „nur“ Mindestanteile von Frauen und Männern vorschreibt, nicht aber Mindestanteile an Intersexuellen. Ähnliche Regelungen enthalten §§ 76 Abs. 4, 111 Abs. 5 AktG oder § 52 Abs. 2 GmbHG. Hier stellt sich ganz offensichtlich die Frage der Vereinbarkeit des Ausschlusses von Intersexuellen mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Denn dass man Diversität anders angehen kann, zeigt schon der Deutsche Corporate Gov­ ernance Kodex, der in seinen Empfehlungen in Ziffer 5.1.2 DCGK13 für die Zusammensetzung des Vorstands und in Ziffer 5.4.114 für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats jeweils „Vielfalt (Diversity)“ als Ziel hervorhebt. Dass Vielfalt hier weit mehr sein soll als das binäre Grundmuster von Mann und Frau unterstreicht das „insbeson12 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1 ff., Rz. 47. 13 In der bei Manuskriptschluss geltenden Fassung v. 7.2.2017; ebenso Grundsatz 22 des Konsultationsentwurfes zur Neufassung des Kodex. 14 In der bei Manuskriptschluss geltenden Fassung v. 7.2.2017; ebenso Grundsatz 20 des Konsultationsentwurfes zur Neufassung des Kodex.

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dere“ in Ziffer 4.1.5 DCGK,15 wo es heißt: „Der Vorstand soll bei der Besetzung von Führungsfunktionen im Unternehmen auf Vielfalt (Diversity) achten und dabei insbesondere eine angemessene Berücksichtigung von Frauen anstreben.“ Diese auf eine festen Quotenregelung verzichtenden, aber auf Diversität drängenden Empfehlungen und Grundsätze des Deutschen Corporate Governance Kodex bleiben allerdings offensichtlich hinter dem Regelungsziel des Bundesgesetzgebers zurück, bestimmte (höhere) Quoten an Frauen durchzusetzen, um die Vertretung aller Geschlechter in Führungspositionen zu verbessern. Insoweit sind sie mit Gewissheit kein Maßstab, um die gesetzlichen Regelungen an der Verfassung zu messen, wohl aber ein erstes deutliches Indiz, dass es geschlechtsneutral(er)e Formulierungen auch hier geben kann. Gesetzesregelungen, mittels derer gar eine Mindestvertretung von nur zwei von drei Geschlechtern abgesichert wird, wie dies etwa in § 96 Abs. 2 AktG geschieht („Bei börsennotierten Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, setzt sich der Aufsichtsrat zu mindestens 30 Prozent aus Frauen und zu mindestens 30 Prozent aus Männern zusammen.“16), stehen mit der Anerkennung des dritten Geschlechts daher besonders auf dem Prüfstand. Hier muss man sich heute wohl zwingend damit und daran messen lassen, dass durch das Bundesverfassungsgericht entschieden wurde, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (auch) Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts schütze.17 Auf den ersten Blick schreit dieses Verbot geradezu nach einer Ergänzung der mit dem Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst geschaffenen binären Regelungswelt. Bei einer näheren Betrachtung kann man m.E. aber überzeugender vertreten, dass es keiner Änderung dieser Bestimmungen bedarf. Warum? Dafür streitet die Besonderheit, dass das gesetzliche Anliegen, die Vertretung der Frauen durch Regelungen des Gesellschaftsrechts zu verbessern, auf einer spezielle(re)n Regelung des Grundgesetzes beruht, nämlich Art 3 Abs. 2 GG. Diese Vorschrift des Grundgesetzes stellt nun gerade, anders als Art 3 Abs. 3 GG schon nach dem Wortlaut nicht auf das Geschlecht ab, sondern auf Mann und Frau. Diesen Unterschied arbeitete letztlich auch das Bundesverfassungsgericht in einer systematischen Verfassungsauslegung klar heraus,18 indem es ausführte: „Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs.  3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von 15 In der bei Manuskriptschluss geltenden Fassung v. 7.2.2017; ebenso Grundsatz 8 des Konsultationsentwurfes zur Neufassung des Kodex. 16 Ähnliche Regelungen enthalten §§ 76 Abs. 4, 111 Abs. 5 AktG oder § 52 Abs. 2 GmbHG. 17 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1 ff., dort bereits Leitsatz 2. 18 BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1 ff., dort Rz. 60.

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Art.3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt.“ Die genannten Bestimmungen des Aktien- bzw. GmbH-Rechts sind daher ungeachtet der Nichtnennung Intersexueller dem Staatsziel des Grundgesetzes aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 („Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“) entsprechende einfachgesetzliche Konkretisierungen. Die Entscheidung, das weitergehende Gleichberechtigungsgebot auf Mann und Frau zu beschränken, hat die Verfassung selbst getroffen. Das ist auf der Ebene nachgeordneten (Aktien- und GmbH-) Rechts de lege lata nicht zu revidieren. De lege ferenda kommt hinzu, dass bislang der empirische Nachweis einer Notwendigkeit der Beseitigung bestehender Nachteile für Intersexuelle im Kontext der Besetzung von Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst wissenschaftlich nicht erbracht wurde. Das aber wäre nach dem Verfassungswortlaut notwendige Voraussetzung aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG für rechtspolitische Ausdehnungserwägungen.

V. Ausblick Eine andere, rechtspolitische Frage, die an die Überlegungen des Ethikrates aus 2012 zur Rechtsgestaltung rückkoppelt, ist, ob man (nicht trotzdem) anlässlich einer nächsten Gesetzesreform eine Überarbeitung vornimmt, die auch Intersexualität Raum lässt. Dies könnte vergleichsweise einfach geschehen, indem der Gesetzgeber sich die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex zum Vorbild nimmt19 und seinen Quotenregelungen das allgemeine Leitbild der Vielfalt voranstellt, das dann insbesondere dadurch verfolgt wird, dass den Organen bestimmte Quoten an Männern und Frauen angehören. Auch für Intersexuelle eine Quote vorzusehen, gibt das Mengengerüst der Geschlechter nicht her.20 Das würde sich dann auch nahtlos anfügen an die bereits bestehenden handelsrechtlichen Berichtspflichten nach § 289f Abs. 2 Nr. 6 HGB neuer Fassung, wonach das verfolgte Diversitätskonzept und dessen Umsetzung sowie erreichte Ergebnisse darzustellen sind. Ob allerdings Frauen und Männer des oberen Managements tatsächlich in größerer Zahl bereit sein werden, sich zur Intersexualität zu bekennen, ist eine andere Frage. Wenn man sich kurz in Erinnerung ruft, wie wenige Jahre eine gesetzliche Anerken-

19 Siehe oben IV., insbesondere die Wiedergabe von Ziffer 4.1.5 DCGK dort. 20 Basierend auf den Angaben des Bundesverfassungsgerichts gelangte man bei einer Ins-Verhältnis-Setzung der de lege lata gesetzlich vorgesehenen 30 % Männer und Frauen zu einer Quote weit unter 0,1 Prozent.

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nung der seit Jahrtausenden bekannten gleichgeschlechtlichen Orientierung zurückliegt,21 spricht viel dafür, davon nicht auszugehen. Damit bleibt in diesem Kontext abschließend nur noch den Blick auf eine letzte, ebenfalls ausschließlich rechtspolitische Aufgabenstellung im Zuge einer künftigen Gesetzesreform zu richten, nämlich die Verwendung gender-sensibler Schreibweisen im Gesetz. Richtigerweise erschöpfen sich diese freilich nicht in einem Umbau zugunsten tradierter Sprachformeln wie „Aktionärinnen und Aktionäre“,22 sondern schaffen durch einen gender-gap eine Heimstätte – um ein früheres Zitat zu wiederholen23 – nicht nur für die fließenden Übergänge zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, sondern einen Ort, an dem Überschneidungen und Wanderungen zwischen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen einen Platz haben.

21 Das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (EheRÄndG) datiert erst vom 20.7.2017. 22 So zB der Vorschlag der SPD-Fraktion, abrufbar https://www.spdfraktion.de/system/files/ documents/gesetzentwurf_manager-verguetungen_spdbt_final.pdf, dort Artikel 4 Ziffer 1. 23 Vgl. Mutter, AG-Report 2017, R. 103, dort rechte Spalte mit weiterem Nachweis.

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Der digitale Aufsichtsrat Inhaltsübersicht I. Der Aufsichtsrat in der alten und neuen Digitalisierung 1. Wie es begann … 2. … um was es nicht geht II. „Der Aufsichtsrat kann weg!“ III. Aufsichtsrat als Subjekt der ­Digitali­sierung 1. Unternehmerische Ausrichtung auf ­Digitalisierung 2. KI-gestützte Geschäftsmodelle und der AR 3. Vorstandsangelegenheiten a) Chief Digital Officer als Vorstands­ ressort

b) Vorstandsvergütung 4. Corporate Digital Responsibility IV. Aufsichtsrat als Objekt der ­Digitalisierung 1. Board-Portal statt E-Mail 2. Digitale Diversität im AR 3. Technischer Ausschuss V. Zur Erledigung von AR-Aufgaben durch KI 1. Eigenes KI-System für den AR? 2. Nutzung des Vorstands-Systems VI. Fazit

Der Aufsichtsrat ist nicht digital. Weder sind es seine Mitglieder noch ist es das Organ der Gesellschaft. Damit ist das Thema gleich erledigt – oder doch nicht? Der Jubilar als gestandener Berater zahlreicher Aufsichtsräte weiß natürlich um die vielschichtige Problematik, die mit dem Gegenstand „digitaler Aufsichtsrat“ verknüpft ist. Es geht um die Ein- und Anpassung dieses wichtigen Organs in einen sich rapide verändernden Metabolismus, um im Bild zu bleiben. Der Aufsichtsrat thront nicht über den Wolken, wenn das Unternehmen der Gesellschaft in die Digitalisierung 2.0. eintritt, die nach innen und außen Grundstürzendes bewirkt.

I. Der Aufsichtsrat in der alten und neuen Digitalisierung 1. Wie es begann … Mit den sogenannten „neuen Medien“, die heute mittelalt wirken, fing es in den neunziger Jahren an. Die viel diskutierte Online-Hauptversammlung ist mittlerweile in der Praxis angekommen.1 Aber wer (außer dem Jubilar, selbstverständlich) weiß, dass der Aufsichtsrat am Beginn dieser Entwicklung stand? Im Jahr 1998 kam es zur transatlantischen Fusion der Daimler-Benz AG mit der Chrysler Corp., die Industriegeschichte geschrieben hat, allerdings ohne Happy End. Sollten die Aufsichtsräte wirk1 Bestandsaufnahme bei von Holten/Bauernfein, AG 2018, 729 ff.

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lich regelmäßig den Atlantik überqueren, um sich zu treffen? Da hatte der Gesetzgeber ein Einsehen und es kam zu einem der minimalinvasiven Eingriffe, die stilbildend für die kleinen Aktienrechtsreformen wurden. Sind „fernmündliche oder andere vergleichbare Formen der Beschlussfassung des Aufsichtsrats“ durch die Satzung oder die Geschäftsordnung vorgesehen, kann das einzelne AR-Mitglied nicht auf einer Präsenzsitzung beharren.2 Damit war die Telefon- und Videokonferenz anerkannt, um AR-Sitzungen nach Anordnung des Vorsitzenden auf diese Weise „abhalten“3 zu können. Soweit hier noch gestritten wird, geht es um die Anrechnung der Medienkonferenz auf die Pflichtsitzungen (§ 110 Abs. 3 AktG).4 Das Gesetz schweigt dazu, es gibt keine absolute Regel, sondern die aus der Situation sich ergebende Notwendigkeit. Sitzungen mit körperlicher Anwesenheit können erforderlich sein, weil die Lage des Unternehmens (Übernahme, Krise, Umstrukturierung) danach verlangt. Im Allgemeinen ist heute eine gut durchgeführte Videokonferenz als gleichwertig anzuerkennen,5 und zwar nicht nur im begründeten Ausnahmefall.6 Auch in der Binnenkommunikation mit dem Vorstand war der Aufsichtsrat schon früh nicht mehr auf Papierakten angewiesen, sondern die Berichte sind „in der Regel in Textform zu erstatten“ (§ 90 Abs. 4 S. 2 AktG). Diese seit dem Jahr 2002 geltende,7 auf § 126b BGB hinweisende Bestimmung sollte den elektronischen Kommunikationsweg öffnen, was mittlerweile gang und gäbe ist (aber auch Sicherheitsprobleme aufwirft; dazu unten IV. 1.). Schließlich gestattet § 118 Abs. 3 S. 2 AktG eine Satzungsregel, wonach Mitglieder des AR „im Wege der Bild- und Tonübertragung“ an der Hauptversammlung teilnehmen können. Diese ebenfalls im Jahr 2002 eingeführte Möglichkeit ist, soweit ersichtlich, zwar nicht zu praktischer Bedeutung gelangt, doch ist sie ein weiterer Mosaikstein dieser Zeit. Man sieht, der Aufsichtsrat ist von der ersten Welle elektronischen Medieneinsatzes durchaus erfasst worden, jedoch nur am Rande. So liegt es auch bei den vielen analog 2 Neufassung des § 108 Abs. 4 AktG durch das Namensaktiengesetz (NaStraG) v. 18.1.2001, BGBl. 2001, 123; s. dazu die BegrRegE BT-Drs. 14/4051, S. 12: neue Kommunikationsmittel sollen genutzt werden können. 3 Das frühere „zusammentreten“ in § 110 Abs. 3 AktG hat man durch den neuen Ausdruck ersetzt – Feintuning zur Öffnung für die neuen Möglichkeiten. 4 Schmidt, S. H., Videokonferenzen als Aufsichtsratssitzungen, 2012, S. 315 ff.; Kindl, ZHR 166 (2002), 335; Miettinen/Villeda, AG 2007, 346 ff.; Mertens/Cahn in KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2012, §  110 AktG Rz.  33 (nur Videokonferenz); Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, § 108 Rz. 61 und § 110 Rz. 48; Spindler, ZGR 2018, 17, 28 f. 5 I.d.S.  Wasse, AG 2011, 685; Simons, AG 2013, 547; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 110 AktG Rz. 45; a.A. Drygala in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 110 AktG Rz. 20. 6 So E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., 2018, § 27 Rz. 27; Begr.RegE. zum TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 17. 7 Eingeführt durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz (TransPuG), BGBl. 2002, 2681, empfohlen von der seinerzeitigen Corporate Governance-Kommission (Baums-Bericht, 2001, Rz. 25).

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wirtschaftenden Unternehmen, die mit einer Minimal-EDV über die Runden kommen. Doch ganz ohne Computer und offline geht es bei keinem, da schon der Rechtsverkehr mit dem Fiskus, dem Handelsregister und den Trägern der Sozialversicherung seit längerem als elektronischer vorgeschrieben ist. Die zweite Welle der Digitalisierung, die heute rollt, hat die Unternehmensträger und deren Organe gesetzgeberisch noch nicht erreicht, in der Sache aber schon in vieler Hinsicht sichtbare Spuren hinterlassen. Dem gilt es mit Blick auf den – daher: digitalen – Aufsichtsrat nachzugehen. 2. … um was es nicht geht Im Folgenden soll nicht darüber verhandelt werden, was man als Management-Themen bezeichnen könnte. Dazu zählt das Räsonieren über die digitale Transformation als solcher, über Disruption und Führung, über die Start-up-Denkweise und den digital induzierten (oder verbrämten) Kulturwandel usw. Auch der wohlfeile Rat sei dahingestellt, dass der Aufsichtsrat mit seinem Vorstand über die neue Digitalisierung in engem Austausch zu stehen hat, dass die Personalplanung dazu passen muss, dass die IT-Budgets entsprechend dotiert werden.8 Eher an aktienrechtlichen Linien bewegt sich, wer ein der modernen Informationstechnologie genügendes Überwachungssystem anmahnt, die Beherrschung der Cyber-Risiken gewährleistet sehen will und den AR für die vom Vorstand zu besorgende Digital Compliance mit in die Pflicht nimmt. Doch auch diese durch die Digitalisierung aufgeworfenen bzw. veränderten Arbeitsaufgaben stehen nicht im Zentrum der Überlegungen, sondern es ist die Rolle des Aufsichtsrats in einer algorithmischen Welt,9 die Anforderungen an seine Arbeitsweise – und die Frage nach seiner Existenzberechtigung!

II. „Der Aufsichtsrat kann weg!“ Diese Vision dürfte nicht nur den Freunden der Mitbestimmung sauer aufstoßen. Ganz unbefangen von geltendem Recht und deutscher rechtspolitischer Gravitation diskutieren Ökonomen und internationale Forscher, wie die Korporation der Zukunft strukturiert sein könnte. Futuristisch muten Modelle an, wonach das Unternehmen nicht mehr von Menschen, sondern vollständig informationstechnisch geführt wird. Ansätze in diese Richtung gab es bereits: dezentrale autonome anonyme Organisationen (DAO) auf Basis der Ethereum-Blockchain. Allerdings ist der erste bekanntgewordene DAO-Versuch gescheitert, weil ein Fehler im Code zu Attacken einlud.10 Diese Kinderkrankheiten werden wohl überwunden, aber das Grundproblem bleibt, dass 8 Kaspar, BOARD 2018, 202, 203 f. 9 Enriques/Zetzsche, Corporate Governance in an Algorithmic World – CorpTech’s Impact on Boards of Directors, 2019, https://papers.ssru.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3392​ 321. 10 M. Mann, NZG 2017, 1014 (bei Fn. 1).

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die Blockchain-Korporation nur sehr begrenzt operativ einsetzbar ist, etwa als Invest­ mentvehikel.11 Ubiquitär verwendbar wäre hingegen eine Gesellschaft, die von einer starken Künstlichen Intelligenz (KI) geleitet wird.12 Indessen: Es gibt keine starke KI. Was gegenwärtig als KI ausgegeben wird, sind sektoriell sehr mächtige Computerprogramme, die bestimmte Aufgaben zum Teil selbstständig bearbeiten können.13 Doch sind es abgegrenzte Bereiche (Schach spielen, ein Auto navigieren bzw. fahren, Online-Handel betreiben), eine Generalisierung in Richtung einer allgemeinen KI („Superintelligenz“) ist nicht in Sicht. Menschliche Führung, sei es im Vorstand, sei es im Aufsichtsrat, kann durch schwache KI unterstützt, aber nicht ersetzt werden (dazu noch unten V). Eine dritte Richtung in dieser spekulativen Zone will den Aufsichtsrat durch die Schwarmintelligenz der Aktionäre ersetzen.14 Seit den Anfängen des Aktienwesens waren die Aktionäre auf die Einsetzung eines Ausschusses angewiesen, der ihre Interessen gegenüber der Verwaltung zu wahren versprach. In Zukunft könnte eine perfekte Kommunikation unter den Aktionären dafür sorgen, dass eine solche verfasste Repräsentation überflüssig wird. Ob aus dieser basisdemokratischen Träumerei je etwas wird, sei dahingestellt. Der Zweck vorstehender Darlegungen bestand darin zu zeigen, dass der Aufsichtsrat nicht als Monolith gleichsam naturrechtlich verankert ist, sondern durch technologische Innovation der Disruption (jetzt ist es gesagt) anheimfallen könnte.

III. Aufsichtsrat als Subjekt der Digitalisierung 1. Unternehmerische Ausrichtung auf Digitalisierung Der Aufsichtsrat ist nicht in die Geschäftsführung, aber doch in die strategischen Weichenstellungen, in die Unternehmensplanung und in die grundsätzlichen Entscheidungen eingebunden. Er kontrolliert das Vergangene und hat für das Zukünftige „die Pflicht, den Vorstand in übergeordneten Fragen der Unternehmensführung zu beraten.“15 Damit ist die digitale Transformation ein fester Bestandteil des Pflichtenheftes. Aktienrechtlich ist allerdings kaum mehr zu sagen. Denn wie intensiv und mit welchen Instrumenten (workshop, externe Expertise, Ausschuss etc.) der AR diesen weitgefassten, von den jeweiligen Unternehmensverhältnissen konturierten Gegenstand im Dialog mit dem Vorstand angeht, lässt sich naturgemäß nicht verbindlich 11 Zu Blockchain und Gesellschaftsrecht Beurskens in FS Seibert, 2019 (im Erscheinen). 12 Armour/Eidenmüller, ZHR 183 (2019), 169 ff. 13 Anderes Begriffsverständnis bei Strohn, ZHR 182 (2018), 371 f., der schon selbstlernende begrenzte Systeme als „starke KI“ bezeichnet, was dem Wortgebrauch der KI-Forschung allerdings nicht entspricht. 14 Bankewitz/Aberg/Teuchert, Digitalization and Boards of Directors: A New Era of Corporate Governance?, Business and Management Research, Vol. 5, No. 2, (2016), http://www.sciedu​ press.com/journal/index.php/bmr/issue/view/457. 15 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 = NJW 1991, 1830.

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fixieren. Der AR muss sich um die Datensicherheit und überhaupt um die IT des Unternehmens kümmern, denn in der Regel ist sie „Chefsache“.16 Damit wird ausgedrückt, dass unter heutigen Verhältnissen eine Vorstandsverankerung unabdingbar ist, was in der Folge auch eine AR-Verantwortung bedeutet. Was die unternehmerische Ausrichtung und deren Umsetzung anbelangt, ist die Nutzung von Zustimmungsvorbehalten (§ 111 Abs. 4 S. 2 AktG) von hohem Belang. Je nach ihrer Ausgestaltung rückt der Aufsichtsrat in eine mitentscheidende, jedenfalls in eine Veto-Position. Da es um „bestimmte Arten von Geschäften“ gehen muss, sind Einzelmaßnahmen der Digitalisierung nicht betroffen, es sei denn, sie können die „Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage des Unternehmens grundlegend verändern“.17 So wäre denkbar, dass die Auslagerung der gesamten IT in eine Cloud sich als solche Maßnahme darstellt18 oder die Einbindung in eine Industrie 4.0.-Struktur. Auch einschneidende Umwälzungen der technischen Infrastruktur können unter Vorbehalt gestellt werden. Es handelt sich hier um eine unternehmensinterne Leitungsmaßnahme, die ebenso wie ein Rechtsgeschäft bei hinreichender Erheblichkeit19 als zustimmungsbedürftig anzusehen ist.20 In der Praxis dürfte der Zustimmungskatalog vielfach noch keine Anpassung an die Digitalisierungswelt kennen, zumal es überaus schwierig ist, eine zulässige Vorbehaltsklausel bei diesem beweglichen Gegenstand zu formulieren. Indessen bleibt dem Aufsichtsrat immer noch, einen Vorbehalt ad hoc für den gravierenden Einzelfall zu erheben, was nach ganz h.M. zulässig ist.21 2. KI-gestützte Geschäftsmodelle und der AR Die neue Digitalisierung geht weit über die Umstellung auf eine „elektronische Datenverarbeitung“ hinaus. Sie betrifft alle Prozesse des Unternehmens. Doch nicht allein die Reichweite, vor allem die Qualität der Digitalität ist anders. Statt linearer Abarbeitung festgelegter Strukturen sind auf großer Datenbasis ansetzende Algorithmen in gewisser Weise befähigt, eigene Entscheidungen zu treffen. So kann zum Beispiel die Festsetzung der Preise für die Angebote des Unternehmens dynamisch erfolgen.22 Wie das Navigationssystem im Fahrzeug die beste Route vorschlägt, wählt der Preis-Algorithmus einen aus „seiner“ Sicht der Situation angemessenen Betrag. Oder 16 Kort in GroßKomm.AktG, 5. Aufl. 2015, § 76 AktG Rz. 37 (anders noch in der Voraufl.); Spindler, ZGR 2018, 1, 40; Noack, ZHR 183 (2019), 105 ff. 17 So die Formulierung des Deutschen Corporate Governance Kodex  – DCGK (2017), Nr. 3.3. S. 2); krit. Mertens/Cahn in KölnKomm.AktG, § 111 AktG Rz. 85; Koch in Hüffer/ Koch, AktG, 13. Aufl., 2018, § 111 AktG Rz. 41. 18 Zur Auslagerung der IT schon früh BGH v. 28.11.1988 – II ZR 57/88, NJW 1989, 979 (Opel AG  – allerdings ohne Entscheidung in der Sache); U. Stein, ZGR 1988, 163, 168  ff.; aus heutiger Sicht Uwer, ZHR 183 (2019), 154 ff. 19 Fleischer, BB 2013, 835, 839. 20 Altmeppen in FS K. Schmidt, 2009, S. 23, 29. 21 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 127 = NJW 1994, 520; s. auch DCGK (2017) Nr. 3.3. S. 1. 22 Bernhard/Meßmer, FAZ v. 19.12.2018; dies., Unternehmensjurist 5/2018, S. 48 f.

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eine digitale Produktionsplanung ändert Konfigurationen und bestellt selbständig neues Material, was in der Industrie 4.0. strukturell angelegt ist. Oder ein für human ressources eingesetzter Algorithmus klassifiziert Bewerber bzw. schlägt Entlassungen vor. Mit Blick auf die Kontroll- und Beratungstätigkeit des AR sieht Strohn bei selbstlernenden KI-Systemen ein wesentliches Problem. Denn der Vorstand könne seiner Aufgabe, über die Geschäftsvorfälle zu berichten, nicht hinreichend nachkommen. „Da niemand Zugriff auf den Inhalt der Black Box hat, kann auch niemand eine valide Risikoabschätzung vornehmen. Das ist keine Frage der Information, weil diese Information für niemanden abrufbar ist.“23 Daher könne die Abwägung ergeben, „auf die Verwendung selbstlernender KI-Programme schlicht zu verzichten. Das ist der sicherste Weg. Je nach Zuschnitt des Unternehmens ist es auch der sinnvollste.“ Dieser Warnruf sollte gehört werden, soweit er darauf aufmerksam macht, dass Vorstand und Aufsichtsrat für unternehmerische Entscheidungen eine angemessene Information benötigen. Wenn diese Information sich in einer unzugänglichen ­ schwarzen Kiste verschanzt, wäre es fatal für die Verwaltungsmitglieder, die schließlich im Haftungsprozess einer entsprechenden Darlegungs- und Beweislast unterliegen. Doch geht die Auffassung fehl, der einzelne Geschäftsprozess, der von einem KI-System initiiert oder begleitet wurde, müsse von A bis Z erklärbar sein. Nicht die Herleitung der Entscheidungswege der KI-Algorithmen ist die wesentliche Information i.S.d. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, sondern dass die Funktionsweise erklärbar, das Funktionieren überwacht und die Ergebnisse im erwarteten Rahmen liegen. Um in diesem Punkt die künstliche mit der menschlichen Intelligenz zu vergleichen: Ein z.B. im Biotech-Sektor hochqualifiziertes Fachteam wird auch nicht alle Innovationsideen und Gedankenblitze dokumentiert offenlegen können, dennoch werden die Spezialisten dort beschäftigt – für den Vorstand und mittelbar für den Aufsichtsrat kommt es darauf an, dass die Experten sorgfältig ausgewählt wurden und ihr Tun in verhältnismäßiger Weise überwacht wird, so dass ethische und rechtliche Grenzen eingehalten werden. Ähnlich wäre der Ansatz, wenn eine Labor-KI zu Werke ginge. Der Vorstand berichtet dem AR über den Einsatz und das Ergebnis, doch er muss nicht den Weg dahin im Einzelnen nachzeichnen können. Der grundsätzlichen Empfehlung, auf den KI-Einsatz zu verzichten, um Haftungsrisiken zu vermeiden, kann daher nicht zugestimmt werden. Vielmehr eröffnet sich ein (i.d.R. nicht justitiables) Unternehmensrisiko, wenn diese Technologie wegen der Bedenken ignoriert wird. Ist die Konkurrenz aus dem In- und Ausland damit erfolgreich, dürfte die peinliche Frage auftauchen, ob man verschlafen habe  – wenn es außer dem Insolvenzverwalter noch Fragesteller gibt. 3. Vorstandsangelegenheiten a) Chief Digital Officer als Vorstandsressort Der Aufsichtsrat kann mittels einer Geschäftsordnung die Art und Weise der Geschäftsführung durch den Vorstand bestimmen (§ 77 Abs. 2 AktG; Nr. 4.2.1 DCGK 23 Strohn, ZHR 182 (2018) 371, 376.

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2017). Dazu gehört insbesondere die Ressortverteilung. Vom Arbeitsdirektor abgesehen24 ist der AR weithin frei darin, welche Ressorts es gibt und welchen Zuschnitt sie haben. Ob ein „Chief Digital Officer“ (CDO) bestellt, also ein eigenes IT-Vorstandsressort geschaffen wird, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Fast die Hälfte der DAX30-­ Gesellschaften kennt eine solche oder eine vergleichbare Zuständigkeit auf Vor­ standsebene.25 Gegen eine Ressortierung des Gegenstandes spricht, dass die digitale Transformation alle Führungskräfte angeht, nicht nur den „Nerd vom Dienst“. Der AR wird abwägen, ob und wie er die Digitalisierung in der Geschäftsordnung so verankert, dass sie seiner Überwachung zugänglich ist. Dieser Aspekt dürfte meistens den Ausschlag dafür geben, mit dem CDO einen Ansprechpartner im Vorstand zu haben. Dass der AR bei der Vorstandsauswahl auf die digitale Affinität achten wird, wenn eine Neubesetzung ansteht, versteht sich von selbst. b) Vorstandsvergütung Den gerechten Preis wird man kaum finden, auch und vor allem nicht auf dem Markt für Führungskräfte. Aber die Entgeltfindung wird zunehmend zu einer Spezialmaterie, für die sich Beratungsunternehmen anbieten. Dass der AR sich ihrer Hilfe bedienen kann, steht außer Frage. Und daher wird auch eine technische Unterstützung, sei es eine Old-School-Excel-Berechnung oder eine KI-Implementation, von Nutzen sein. Die alte Tabellenkalkulation folgt einer festen Programmstruktur, während die neue KI Optionen eruieren und wählen kann. Kein AR-Mitglied wird das neuronale Netz der KI kennen, aber ebenso wenig den Programmcode von Microsoft. Insoweit besteht kein Unterschied, beide Male handelt es sich aus Sicht der Entscheider um eine Black Box. Statt eine unrealistische, zum Teil unmögliche Offenlegung der algorithmischen Arbeitsweise zu fordern, sollte sich die Aufmerksamkeit auf den Input und die vorgegebenen Parameter richten. Dann wird klar, dass es sich um Menschenwerk handelt, das interessengeleitet ist. Auf die Aufdeckung dieser Interessen kommt es an, nicht auf eine technische Kapriziosität. 4. Corporate Digital Responsibility Ausgehend vom Vorstand und mit ihm entwickelt der Aufsichtsrat die unternehmerische Ausrichtung der Gesellschaft, kurzgefasst: die grundlegende Unternehmensstrategie. Dazu kann mehr gehören, als nur mit dem Geschäftsmodell möglichst viel Geld zu verdienen. Auch auf weiche Faktoren ist zu achten, die in der vernetzten Welt von heute schnell auch zu ökonomischen Fakten werden können, etwa wenn ein Reputationsschaden droht.26 An die Debatte rund um eine Corporate Social Responsibility, welche schließlich in „hartes“ Recht (§ 289b HGB) mündete, sei erinnert. Mit Blick auf den Einsatz von KI und anderen digitalen Innovationen entwickelt sich derzeit Ähnliches: Corporate Digital Responsibility (CDR). Es sollen „Werte wie Gerechtigkeit, Teilhabe, Vertrauen, Autonomie, Transparenz und Nachhaltigkeit“ befördert 24 Mertens/Cahn in KölnKomm.AktG, § 77 AktG Rz. 66. 25 Handelsblatt v. 6.3.2018. 26 Schmolke/Klöhn, NZG 2015, 689 ff.

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werden, heißt es sehr abstrakt in der Beschreibung einer Initiative der Bundesregierung und etlicher großer Unternehmen. Die Deutsche Telekom AG hat sich neun Leitlinien für die Entwicklung und den Einsatz von KI gegeben.27 Zum Beispiel: „Wir sind dazu in der Lage, unsere KI-Systeme jederzeit anzuhalten oder abzuschalten (Not-Aus-Schalter). Zudem entfernen wir Daten, die zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Wir achten sowohl auf die Informationen, die in das System eingespeist werden, als auch auf die Entscheidungen, die die künstliche Intelligenz trifft“. Der Aufsichtsrat ist gut beraten, über den Tellerrand hinauszublicken und diese Entwicklung einer „KI-Ethik“ mitzuprägen. Gerade wer im operativen Geschäft aufgeht, wie es typischerweise bei Vorständen der Fall ist, hat dafür oft nicht mehr die nötige Distanz. Wegen der zunehmenden Bedeutung der CDR sollte der AR die Hoheit über das Thema wahren. Eine Auslagerung auf ein externes Gremium28 ist aktienrechtlich möglich,29 doch harmonischer erscheint die Einpassung in die vorhandene Governance-Struktur.

IV. Aufsichtsrat als Objekt der Digitalisierung Der Aufsichtsrat ist nicht nur Subjekt im Digitalisierungsprozess, sondern in weitem Umfang auch das Objekt, insoweit seine Arbeitsweise und Zusammensetzung betroffen sind.30 1. Board-Portal statt E-Mail Die sichere und schnelle Information, die effiziente Kommunikation im Gremium, die umfassende Vernetzung, die Nutzung elektronischer Endgeräte usw. sind Kennzeichen einer modernen AR-Tätigkeit. Die Kommunikation des Aufsichtsrats mit dem Vorstand und der Aufsichtsräte untereinander ist sensibel. Eine triviale Feststellung, aus der aber handfeste Folgerungen gezogen werden müssen. Auch fahrlässiger Umgang mit der Vertraulichkeit kann zur Haftung führen. Daher wird der offene E-Mail-Verkehr als höchst bedenklich, wenn nicht als unzulässig einzustufen sein, wenn es um schützenswerte Informationen geht.31 Dienstleister begegnen dieser Unsicherheit mit spezifischen Angeboten für einen digitalen „Board-Room“.32 Diese IT-Lösung soll einen sicheren Dokumentaustausch

27 https://www.telekom.com/de/konzern/digitale-verantwortung/details/ki-leitlinien-der-­ telekom-523904. 28 S. zum Ethik-Beirat der SAP SE mit „Fachleuten aus Wissenschaft, Politik und Industrie“ https://news.sap.com/germany/2018/09/ethik-beirat-fuer-kuenstliche-intelligenz/. 29 Habersack in MünchKomm.AktG, 5. Aufl. 2019, § 95 AktG Rz. 6. 30 Theisen/Probst, DB 2018, 2885, 2887 f. 31 Spindler, ZGR 2018, 1, 31. 32 Zu frühen Überlegungen eines AR-Intranet v. Schenck, NZG 2022, 64, 67; aus heutiger Sicht Deutschmann, BOARD 2016, 214 f.

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und eine effiziente Arbeitsgrundlage bieten.33 International ist diese elektronische Board-Kommunikation in geschlossener Umgebung weit verbreitet. In Skandinavien und den angelsächsischen Ländern nutzen nach der Umfrage eines Dienstleisters über 90 Prozent ein Board-Portal, im deutschsprachigen Raum immerhin 70 Prozent.34 2. Digitale Diversität im AR Der Namensvetter des Jubilars hat in der FAZ postuliert: „Der Aufsichtsrat braucht digitale Kompetenz“.35 Das wird man schwerlich bestreiten wollen. In dieses Horn tuten praktisch alle Studien36 und Beiträge37 zu diesem Thema. Für AR-Vorsitzende und Nominierungsausschüsse ergibt sich danach die Notwendigkeit, entsprechend fachlich befähigte Personen zu finden, die man der Hauptversammlung vorschlagen kann (§ 124 Abs. 3 S. 1 AktG). Die Problematik der Digital-Qualifikation besteht auch für die Arbeitnehmerseite, was dort zu einigen Anstrengungen führt.38 Die herkömmlichen Kriterien werden dabei anzupassen sein, denn es wird kaum gelingen, sowohl Branchenerfahrung als auch digitale Kompetenz gebündelt zu finden: ersteres haben wohl Ältere, letzteres eher Jüngere. Die sowohl gesetzeskonforme als auch sachgerechte AR-Besetzung gerät nicht nur wegen der neuen Herausforderung zu einer Quadratur des Kreises. Es sollen den Rat bilden: die Arbeitnehmer schon lange, die Geschlechter (nur zwei  – Skandal!), die Unabhängigen, die Fachkundigen, die Internationalen und die Repräsentanten sowie eine für Rechnungslegung ausgewiesene Person. Weit hat er sich entfernt, der professionelle Aufsichtsrat unserer Zeit, von dem Spiegel des Aktionariats (und der Arbeitnehmerschaft). Vielleicht gelingt es bei zunehmender Unterstützung durch kluge Algorithmen, die eine und andere hochgesteckte Erwartung an das Individuum wieder auf ein realistisches Niveau herunter zu schrauben. Wie schön wäre, wenn Menschen mit aus dem Leben geschöpfter Urteilskraft das Gremium zieren, während die KI im Maschinenraum ihr Werk verrichtet. So könnte die Digitalisierung zu wahrer, nicht nur quotaler, Diversität39 verhelfen.

33 https://diligent.com/board-portal. 34 https://blog.brainloop.com/de-de/digitalisierung-erobert-aufsichtsrat (befragt wurden 2.800 Unternehmen in BeNeLux, DACH, Frankreich, Skandinavien, UK und Irland). 35 Jochen Vetter (mit D. Favoccia), FAZ v. 28.11.2017. 36 Große WP-Gesellschaften, oft in Zusammenarbeit mit Anwaltskanzleien, haben in den letzten Jahren etliche Umfragen unter Aufsichtsräten veranstaltet (man fragt sich, wer da­ ran ernsthaft teilnimmt), die ein digitales Manko ergeben. 37 Theisen/Probst, DB 2018, 2885; Kaspar, BOARD 2018, 202; zutr. zurückhaltend Zetzsche, AG 2019, 1, 13 („keineswegs erforderlich, massenhaft IT-Ingenieure in Aufsichtsräte zu entsenden“). 38 S. die Weiterbildungsangebote der Hans-Böckler-Stiftung, www.boeckler.de. 39 Zu Kommunikationsaspekten Backhaus in FS 10 Jahre Österberg-Seminare, 2018, S. 93 ff.

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3. Technischer Ausschuss Die Selbstorganisation des Aufsichtsrats erlaubt, aus seiner Mitte einen oder mehrere Ausschüsse zu bestellen (§ 107 Abs. 3 AktG). Hier ist ein Trend dahin zu beobachten, einen – so oder ähnlich genannten  – Technikausschuss einzurichten. Diese Vorgehensweise ist einerseits gut, weil so eine engere Begleitung des Vorstands möglich wird, andererseits schlecht, weil dadurch die Gefahr entsteht, die digitale Transformation als exklusive Spielwiese für Experten zu betrachten. Eine allgemeine Empfehlung kann hier nicht gegeben werden.

V. Zur Erledigung von AR-Aufgaben durch KI Eine volle Delegation von Entscheidungen an eine KI, was verschiedentlich als Vision aufscheint („robots in the boardroom“40), ist nach gegenwärtigem Stand technisch kaum machbar und vor allem rechtlich unzulässig. Beschlüsse des AR zur Vorstandsbestellung und -abberufung, zu seinen Vertragskonditionen, über die Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, die Verhandlung des Jahresabschlusses und Vorschläge für die Hauptversammlung sind durch „LegalTech“ oder „CorpTech“ nicht zu erledigen, da zu viele diskretionäre Komponenten bei der Entscheidung einfließen. Samt und sonders handelt es sich dabei nicht um repetitive Tätigkeiten, deren Substitution durch eine sektorintelligente Technik in Betracht kommt. Auch selbstlernende Algorithmen folgen dem binären Prinzip der ausschließlichen Alternativen: richtig oder falsch, schwarz oder weiß, null oder eins.41 Unternehmerische Führungsentscheidungen sind auf dieses Muster nicht herabzubrechen. Eine Entscheidungshilfe ist hingegen gerne gesehen.42 Sie mag in einer Weise perfekt sein, dass der Aufsichtsrat keine weiteren Anstrengungen unternimmt. So wie bei der Finanzverwaltung ein Prüfprogramm die Steuererklärung für schlüssig befindet, so kann auch ein Bilanzprogramm das vorgelegte Zahlenwerk gutheißen. Dann wird der AR nicht anlasslos tiefer einsteigen, sondern er kann sich im Allgemeinen darauf verlassen. 1. Eigenes KI-System für den AR? Der Aufsichtsrat kann auf eine IT-Unterstützung setzen, wenn es um die Kontrolle des Vorstands geht. Dafür kommen die unternehmenseigenen Systeme in Betracht und auch eigens für den Aufsichtsrat konzipierte Tools. Im letzteren Fall wäre es für 40 Eingehend und weiterführend Möslein in Barfield/Pagallo (Ed.), Research Handbook on the Law of Artificial Intelligence, 2019, S. 649 ff. 41 Ganz neue Ansätze wollen Unsicherheit in Algorithmen einprogrammieren, damit diese sich über mehrere Lösungsalternativen mit ihren jeweiligen Folgen an ein Problem herantasten und dann die Entscheidung an die Menschen zurückspielen. S. https://www.techno​ logyreview.com/s/612764/giving-algorithms-a-sense-of-uncertainty-could-make-them-­ more-ethical/. 42 Fleischer, Der Aufsichtsrat, 2018, 121.

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die unabhängige Überwachung vorteilhaft, wenn der Aufsichtsrat diese Software selbst beschaffen könnte, was die – hier nicht zu klärende – Streitfrage nach einem eigenen Budget aufwirft.43 Zahlen und Grafiken sind nicht alles, das weiß ein guter Aufsichtsrat. Ihm muss allerdings auch klar sein, dass die Datenbasis aus dem Unternehmen kommt, das der Vorstand kontrolliert, der wiederum vom AR kontrolliert werden soll. Hier lauert in „krummen“ Fällen die Gefahr, dass die Computer unauffällige Ergebnisse liefern, aber der Input das Problem war. Gerade auf diesem Felde können KI-gestützte Analysen eingesetzt werden, um Ungereimtes aufzudecken.44 Überhaupt dürfte die Anwendung moderner Technik bei der Plausibilitätskontrolle durch den AR stark zunehmen, sei es im Compliance-Bereich, sei es bei der Prüfung der Rechnungslegung, sei es bei der Zustimmung zu M&A-Transaktionen.45 2. Nutzung des Vorstands-Systems Der Vorstand berichtet dem AR, doch aus welchen Quellen? Es ist weithin das Management-Informationssystem, aus dem die Zahlen und Auswertungen gezogen werden. Das AktG ermöglicht, dass der der AR oder ein AR-Ausschuss die „Bücher“ und „Schriften“ einsieht (§ 111 Abs. 2 S. 1 AktG). Unstreitig sind die elektronischen Aufzeichnungen damit ebenfalls erfasst.46 Bei den bisherigen Aufzeichnungen in diversen Datenbanken war bzw. ist ein ordnender, menschlicher Geist dabei, die Informationen für den AR aufzubereiten. Insofern wäre ein permanenter Direktzugriff des AR-Vorsitzenden oder eines Ausschusses auf diese proprietären Systeme ein durchaus weitgehender Eingriff, der überwiegend abgelehnt wird.47 Doch in Zukunft könnte diese h.M. zum Umdenken gebracht werden mit folgender Erwägung: Wenn der Vorstand im Grunde nur Bote des Systems ist, liegt es nahe, diesen Zwischenschritt zu sparen. Übernimmt eine KI die Auswertung quer durch die Datenlandschaft des Unternehmens, wäre es nur folgerichtig, diese Schnittstelle sowohl für den Vorstand als auch für den Aufsichtsrat zur Verfügung zu stellen.48 Ob man dann noch zwei Organe braucht, ist eine weitere Frage, die nicht nur von dem Informationszugang abhängt. Ein Stück in Richtung monistische Struktur geht, wer unterhalb der noch auf lange Zeit menschlichen Führung auf algorithmische Steuerung setzt.

43 Dazu Bulgrin, Ein eigenes Budget für den Aufsichtsrat, AG 2019, 101 ff. 44 Dazu wurde 2019 ein Forschungsprojekt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter Beteiligung von Ökonomen, Informatikern und Juristen gestartet (corporate fraud und KI). 45 Fleischer, Der Aufsichtsrat, 2018, 121. 46 Habersack in MünchKomm.AktG, § 111 AktG Rz. 74. 47 Lieder, ZGR 2018, 523, 563 m.w.N.; für Zugriff bereits Zöllner in Noack/Spindler, Unternehmensrecht und Internet, 2011, S. 69, 86; Noack in FS Druey, 2002, S. 869, 871. 48 So auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht Brauer/Linz, FAZ v. 20.5.2019, S. 16.

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VI. Fazit Der Roboter sitzt weder heute noch morgen im Rat. Er assistiert ihm in immer besserer Weise, was auf eine kongeniale Mensch-Maschine-Partnerschaft hoffen lässt. Gegenwärtig ist die Herausforderung der Digitalisierung für den Aufsichtsrat, sich als Subjekt dieses Prozesses durchzusetzen. Das heißt, mit dem Vorstand die digitale Transformation anzuschieben und zu überwachen. Die Überwachung scheitert nicht daran, dass die KI-Systeme typischerweise keine genaue Auskunft über deren Entscheidungsfindung erlauben, da es auf die Herleitung letztlich nicht ankommt. Der Einsatz „intelligenter“ Algorithmen kann die Kontrolltätigkeit des Aufsichtsrats befördern, aber nicht ersetzen. Eine breitflächige Nutzung von KI im Unternehmen dürfte das Zusammenwirken der Organe auf eine neue Grundlage stellen, da beide aus derselben Quelle schöpfen. Der Jubilar mit seiner reichen Erfahrung wird hoffentlich noch viele Jahre mit hoher natürlicher Intelligenz die Einpassung der künstlichen beratend begleiten.

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Hartmut Oetker

Innere Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung Inhaltsübersicht

I. Einleitung



V. Beschlussfähigkeit des mitbestimmten Aufsichtsrates

II. Innere Ordnung des Aufsichtsrates als Kompetenzkonflikt

VI. Vertagungsklauseln

III. Die Wahl „weiterer“ Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden

VII. Zweitstimmrecht des Aufsichtsrats­ vorsitzenden als Problemlieferant

IV. Vorsitzender und Stellvertreter des Aufsichtsrates – ein Tandem?

VIII. Summa

I. Einleitung Der Jubilar hat in den vergangenen Jahrzehnten die Diskussionen zur Corporate Gov­ ernance durch zahlreiche Beiträge aus seiner Feder maßgeblich geprägt und hierdurch insbesondere aufgrund seines reichhaltigen Erfahrungsschatzes aus seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Unternehmensjurist den Blick für die praktische Relevanz der juristischen Fragestellungen geschärft.1 Lässt man das opulente wissenschaftliche Œuvre des Jubilars Revue passieren, so fällt auf, dass er der Integration der Unternehmensmitbestimmung in die Corporate Governance bislang keine vertiefte Aufmerksamkeit geschenkt hat.2 Dieses Defizit sollen die nachstehenden Zeilen nicht kompensieren.3 Mit ihnen will der Verfasser vielmehr den ersten rechtswissenschaftlichen Schritten des Jubilars in seiner im Jahre 1982 publizierten Kölner Dissertation4 seine Referenz erweisen, in der er zahlreiche Konfliktfelder thematisiert hat, die aus der

1 Siehe z.B. zum Problemkomplex shareholder communication AG 2014, 387  ff.; AG 2016, 873 ff.; zur Corporate Governance in der GmbH GmbHR 2011, 449 ff. sowie zum Deutschen Corporate Governance Kodex VersR 2002, 951 ff.; DNotZ 2003, 748 ff.; BB 2005, 1689 ff.; DB 2007, 1963 ff.; NZG 2008, 121 ff. 2 Angemahnt wurde dies aber von dem Jubilar in seiner Besprechung der 4. Auflage des von Raiser verfassten Kommentars zum MitbestG; s. E. Vetter, AG 2003, 464. 3 Siehe dazu stattdessen im Überblick Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, MitbestR Rz. 47 ff., mit zahlreichen Nachweisen sowie ausführlich in neuerer Zeit z.B. Gietzen, Unternehmensmitbestimmung, Corporate Governance und der Deutsche Corporate Governance Kodex, 2013 sowie zuletzt auch Seifert, ZfA 2018, 198 ff. 4 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982.

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Integration der Unternehmensmitbestimmung in die gesellschaftsrechtlich determinierte Aufsichtsratsverfassung resultieren.5 Unmittelbar nach Inkrafttreten des MitbestG 1976 erwiesen sich vor allem die neuen §§ 27 bis 29 MitbestG zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates als zentraler Problemlieferant für das Verhältnis von gesellschaftsrechtlich strukturierter Aufsichtsratsverfassung zu den neuen sondergesetzlichen Regelungen, mit denen der Gesetzgeber auch aus Sicht der Unternehmensmitbestimmung partiell Neuland betrat. Während der normative Datenkranz zur Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat, wie er damals in den §§ 76 ff. BetrVG 1952 abgebildet war, von Eingriffen in die innere Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrates absah,6 kennt das Recht der Montan-Mitbestimmung seit jeher eine freilich singuläre Bestimmung zur Beschlussfähigkeit, die apodiktisch und autoritativ festlegt, dass der Aufsichtsrat beschlussfähig ist, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder, aus denen er zu bestehen hat, an der Beschlussfassung teilnimmt. Erstmals ist diese Regelung in § 10 Satz 1 Montan-MitbestG anzutreffen. Eine Wiederholung erfuhr sie nachfolgend in § 11 Satz 1 MitbestG­ ErgG, und auch der Gesetzgeber des MitbestG 1976 stufte sie für den Telos der ­paritätischen Unternehmensmitbestimmung und die Arbeit des paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrates als so elementar ein, dass er sie als § 28 Satz 1 MitbestG in das Reformwerk einfügte.7 Angesichts des durch die §§ 27 bis 29 MitbestG aufgeworfenen Problemhaushalts und der aufzulösenden Spannungen zu den aktienrechtlich ausgeformten Rahmendaten widmeten sich gerade in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des MitbestG 1976 zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten diesem Themenkomplex. Noch bevor der BGH in seinen drei Leitentscheidungen vom 25.2.19828 die Gelegenheit zu ersten grundsätzlichen Weichenstellungen nutzte,9 bezog auch der Jubilar mit fundierter Argumentation zu den verschiedenen Kontroversen Stellung, die unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes ausbrachen und in denen nicht selten der rechtspolitische Disput über die Ausdehnung der Unternehmensmitbestimmung im Gewande der Rechtsdogmatik eine Fortsetzung erlebte.10 Aus heutiger Sicht ist es deshalb reizvoll, die d ­ amaligen Kernthesen des Jubilars in Erinnerung zu rufen und im Lichte der 5 Siehe ferner auch seine Besprechung der 4. Auflage des Buches „Aktienrecht und Mitbestimmung“ von Lehmann und Heinsius in ZHR Bd. 145 (1981), 83 ff. 6 Die nunmehr geltenden Bestimmungen des DrittelbG haben diese Konzeption beibehalten. 7 Verständlich ist diese Adaption aus der Montan-Mitbestimmung vor dem Hintergrund der damaligen rechtspolitischen Diskussion, die von gewichtigen Akteuren von dem Ziel geleitet war, die Montan-Mitbestimmung zu generalisieren. 8 S. BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 ff.; BGH v. 25.2.1982 – II ZR 102/81 – Dynamit Nobel, BGHZ 83, 144 ff.; BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 ff. 9 Nachfolgend ferner zum Arbeitsdirektor BGH v. 14.11.1983 – II ZR 33/83 – Reemstma, BGHZ 89, 48  ff. sowie zu den Ausschüssen des mitbestimmten Aufsichtsrates BGH v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342 ff. 10 Zu den divergierenden Auslegungsmaximen stellvertretend Säcker, ZHR Bd. 148 (1984), 153 ff. sowie im Überblick Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 25 MitbestG Rz. 5 ff., m.w.N.

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nachfolgenden Diskussionen Revue passieren zu lassen. Dabei kann indes nicht jede Einzelfrage, die der Jubilar damals als vertiefungswürdig bewertet hat, aufgegriffen werden; das Format eines Beitrages für eine Festschrift erzwingt die Setzung von Schwerpunkten.11

II. Innere Ordnung des Aufsichtsrates als Kompetenzkonflikt Als Zentralproblem erwies sich unmittelbar nach Inkrafttreten des MitbestG 1976 die Kompetenz zum Erlass ergänzender Bestimmungen zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates, da diese durch das aktienrechtliche Normengefüge und trotz ergänzender Regelungen im MitbestG 1976 nur zurückhaltend vorstrukturiert ist. Vor diesem Hintergrund entsprach es vor Inkrafttreten des MitbestG dem nahezu einmütig konsentierten Verständnis, dass Ausgestaltung und Konkretisierung der inneren Ordnung des Aufsichtsrates in der von der Hauptversammlung beschlossenen Satzung erfolgen könne und sich vom Aufsichtsrat beschlossene Geschäftsordnungen darauf beschränken müssen, den hierdurch belassenen Spielraum zu füllen. Gleichwohl war die Praxis vor Inkrafttreten des MitbestG 1976 verbreitet durch einen vergleichsweise weiten Gestaltungsspielraum für vom Aufsichtsrat zu beschließende Geschäftsordnungen geprägt. Dieses Verhältnis kehrte sich durch das MitbestG 1976 um, da verbreitet versucht wurde, die Gestaltungsspielräume des Aufsichtsrates durch statutarische Vorgaben einzugrenzen, insbesondere um über den tradierten Vorrang der Satzungsautonomie gegenüber der Geschäftsordnung den Interessen der Anteilseigner ungefiltert von dem im Aufsichtsrat aktualisierten Einfluss der Arbeitnehmervertreter Rechnung zu tragen. Mit Inkrafttreten des MitbestG 1976 wurde die tradierte gesellschaftsrechtliche Grundposition von beachtlichen Stimmen im Schrifttum angegriffen und die Unabhängigkeit des mitbestimmten Aufsichtsrates als Gesellschaftsorgan proklamiert, so dass die Regelung der inneren Ordnung des Aufsichtsrates der gesellschaftsrechtlich begründeten Satzungskompetenz entzogen sei.12 Eberhard Vetter hat sich mit gewichtigen Argumenten gegen diese Position gestemmt. Die für die mitbestimmungsfreie Aktiengesellschaft zu bejahende Organisationsprärogative zugunsten der Satzung,13 stelle das MitbestG 1976 nicht in Frage, insbesondere rechtfertigten die §§ 25 ff. MitbestG nicht den Schluss auf ein „satzungsresistentes Selbstorganisationsrecht“ des Aufsichtsrates.14

11 Die höchst kontrovers diskutierte Problematik der Zusammensetzung von Ausschüssen des Aufsichtsrates bleibt bewusst ausgeklammert, da auch der Jubilar diese Thematik in seiner Dissertation nicht aufgegriffen hat. 12 So insbesondere Hommelhoff, BFuP 1977, 507 ff.; Naendrup in GK-MitbestG, 1978, § 25 Rz. 13 f.; Raiser, MitbestG, 1. Aufl. 1977, § 25 Rz. 15. 13 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 47 ff. 14 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 52 ff.

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In seiner Leitentscheidung vom 25.2.1982 ist der II. Zivilsenat des BGH dieser Grundposition bekanntlich gefolgt.15 Aus dem MitbestG 1976 lasse sich eine „Verschiebung der Organisationszuständigkeit von der Satzung auf den Aufsichtsrat nicht ent­ nehmen“,16 vielmehr folge aus § 25 Abs. 2 MitbestG ein Fortbestand der bisherigen Regelungskompetenz für die Satzung.17 Angesichts der deutlichen Diktion des BGH überrascht es nur wenig, dass die ursprünglich verfochtenen Restriktionen der Satzungsautonomie im neueren Schrifttum keine Befürworter mehr finden.18 Zugleich wurde damit die Problemlösung von dem mitbestimmungsrechtlichen Korsett befreit und zu den allgemeinen aktienrechtlichen Grundsätzen überführt, die auch bei der mitbestimmungsfreien AG die Organisationsautonomie des Aufsichtsrates als Schranke für statutarische Bestimmungen zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates installieren, um die sachliche Gestaltung der Aufsichtsratsarbeit vor statutarischer Eingrenzung abzuschirmen.19

III. Die Wahl „weiterer“ Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden Vor Inkrafttreten des MitbestG 1976 entsprach es verbreiteter und von § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht untersagter Satzungspraxis, für den Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden die Wahl mehrerer Stellvertreter vorzusehen. Die Harmonie einer derartigen Satzungspraxis mit den aktienrechtlichen Vorgaben lag schon deshalb auf der Hand, weil § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG die Wahl von „mindestens einem Stellvertreter“ vorsieht und die konkrete Zahl der Stellvertreter der Satzungsautonomie überantwortet.20 Da § 27 Abs. 1 und 2 MitbestG lediglich für die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und „einem Stellvertreter“ eine der paritätischen Zusammensetzung des Aufsichtsrates Rechnung tragende Bestimmung schuf, lag die Vorstellung einer abschließenden und die Satzungsautonomie verdrängenden gesetzlichen Regelung nahe. Dementsprechend wurden Satzungsbestimmungen, die die Wahl weiterer Stellvertreter vorsahen, verbreitet als im Widerspruch zu §  27 Abs.  1 und 2 MitbestG stehend und 15 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 (119). 16 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 (119). 17 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 (119). 18 Statt aller Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 25 MitbestG Rz. 10; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 25 MitbestG Rz. 6; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  28 MitbestG Rz.  8; Raiser in Raiser/Veil/­ Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 25 MitbestG Rz. 11 f.; Schubert in Wißmann/ Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 25 MitbestG Rz. 15 sowie zuvor bereits Canaris, DB 1981, Beil. zu Heft 14, S. 3 ff.; Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 136 ff. 19 Siehe Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 176; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 107 Rz. 272. 20 Stellvertretend für die unverändert allgemeine Ansicht Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 28; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 107 Rz. 222; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, §  107 MitbestG Rz.  11; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 107 Rz. 53.

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­damit rechtsunwirksam bewertet.21 Die gegenteilige Auffassung stützte sich demgegenüber auf die wegen der Verweisung in § 25 Abs. 1 Satz 1 MitbestG auf § 107 AktG fortbestehende Satzungsautonomie, die durch §  27 Abs.  1 und 2 MitbestG nur im Hinblick auf die Wahl des Vorsitzenden und „eines“ Stellvertreters verdrängt werde, im Übrigen die Satzungsautonomie jedoch unberührt lasse und dementsprechend einer statutarischen Vorgabe zur Wahl „weiterer“ Stellvertreter nicht entgegenstehe.22 Im Fokus stand damit die Auslegungsfrage, ob § 27 Abs. 1 und 2 MitbestG die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seiner Stellvertreter abschließend regeln. Eberhard Vetter hat einer engen Auslegung der Norm widersprochen und gestützt auf grammatikalische, teleologische sowie historische Argumente § 27 Abs. 1 MitbestG als zwingende Norm bewertet, die der Wahl „weiterer“ Stellvertreter entgegensteht und damit die in § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG eröffnete Satzungsautonomie einschränkt.23 Allerdings plädierte er unter Hinweis auf das allgemeine Aktienrecht für eine Beschränkung dieser Sichtweise auf den gesetzlich festgelegten Aufgabenkreis des Aufsichtsratsvorsitzenden. Würden ihm qua Satzung weitere Aufgaben übertragen, wie z.B. die Leitung der Hauptversammlung, sei das Satzungsorgan frei in der Entscheidung, durch welches Aufsichtsratsmitglied der Aufsichtsratsvorsitzende bei Eintritt einer Verhinderung vertreten werde.24 Beim II. Zivilsenat des BGH hat die Argumentation des Jubilars in der Leitentscheidung vom 25.2.1982 kein Gehör gefunden. Für eine die allgemeine Vorschrift des § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG vollständige Verdrängung durch § 27 Abs. 1 und 2 MitbestG vermisste der Senat hinreichend deutliche Hinweise im Gesetz. Mit der herausgehobenen Stellung des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines nach § 27 Abs. 1 und 2 MitbestG gewählten Stellvertreters sei es vereinbar, für den Bedarfsfall weitere Stellvertreter vorzusehen.25 Eine Schranke werde jedoch durch die in §  107 Abs.  1 Satz 1 AktG niedergelegte Wahlfreiheit des Aufsichtsrates sowie den Grundsatz der individuell gleichen Berechtigung und Verantwortung aller Aufsichtsratsmitglieder unabhängig davon, von wem sie in den Aufsichtsrat gewählt worden sind, gesetzt. Hiermit sei es unvereinbar, wenn die Satzung für den „weiteren“ Stellvertreter die Zugehörigkeit zu den Anteilseignervertretern vorschreibe.26 Seit diesem Machtwort aus Karlsruhe ist die Diskussion weitgehend verstummt. Die Kernaussage des II. Zivilsenats des BGH, dass § 27 MitbestG hinsichtlich der Wahl 21 So Fitting/Wlotzke/Wißmann, MitbestG, 1. Aufl. 1976, § 27 Rz. 4; Meyer-Landrut, DB 1978, 443; Naendrup in GK-MitbestG, 1978, § 27 Rz. 9; Säcker, Anpassung von Satzungen und Geschäftsordnungen an das Mitbestimmungsgesetz 1976, 1977, S. 22 Fn. 38. 22 S. insbesondere Canaris, DB 1981, Beil. zu Heft 14, S. 11 ff.; Martens, DB 1980, 1384 ff.; Wank, AG 1980, 150 ff.; H. P. Westermann in FS Fischer, 1979, S. 837 ff.; ferner auch Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 289 ff. 23 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 98 ff. 24 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 103 ff. 25 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 (111 f.). 26 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 123/81 – Siemens, BGHZ 83, 106 (112 f.).

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der Stellvertreter keine abschließende Regelung treffe und der Wahl weiterer Stellvertreter nicht entgegenstehe, wird im neueren Schrifttum nicht mehr in Frage gestellt und die höchstrichterliche Prämisse nahezu allgemein akzeptiert.27 Durch die hiermit verbundene Verlagerung der Diskussion auf die Auswahlfreiheit des Aufsichtsrates wurde zugleich der von Eberhard Vetter noch unternommene Versuch obsolet, die Bestellung eines weiteren Stellvertreters nur für bestimmte Sonderkonstellationen zu eröffnen.

IV. Vorsitzender und Stellvertreter des Aufsichtsrates – ein Tandem? Für die Funktionsfähigkeit des paritätisch zusammengesetzten Aufsichtsrates ist wegen des Zweitstimmrechts des Aufsichtsratsvorsitzenden (§ 29 Abs. 2 MitbestG) die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters von herausragender Bedeutung und war Gegenstand eines im Gesetzgebungsverfahren erzielten Kompromisses, der beim Scheitern einer teilweise auch von Anteilseigner- bzw. Arbeitnehmervertretern mitgetragenen Wahl zum Vorsitzenden bzw. Stellvertreter im 2. Wahlgang der Anteilseignerseite das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden reserviert (§ 27 Abs. 2 MitbestG). Im deutlichen Gegensatz dazu steht die Regelungsabstinenz zur Amtszeit, was insbesondere dann problematisch ist, wenn das Amt des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters nach dessen Wahl vakant wird. Die naheliegende Konsequenz, die Vakanz auf das freigewordene Amt zu beschränken und für den Wahlmodus zunächst auf § 27 Abs. 1 MitbestG, jedenfalls aber auf § 27 Abs. 2 MitbestG, zurückzugreifen, blieb nicht ohne Widerspruch. Ihr stand die namentlich von Naendrup entwickelte Tandem-Theorie gegenüber, der sich zunächst auch der sog. Referentenkommentar von Fitting/ Wlotzke/Wißmann anschloss. Für den Fall, dass Vorsitzender und Stellvertreter nicht nach dem Modus des § 27 Abs. 2 MitbestG, sondern nach § 27 Abs. 1 MitbestG mit 2/3-Mehrheit gewählt wurden, sollte das vorzeitige Amtsende des einen Amtsträgers ipso iure auch die Amtszeit des anderen Amtsträgers beenden, so dass für beide Ämter eine Nachwahl durchzuführen sei.28 27 So Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 27 MitbestG Rz. 5; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 27 MitbestG Rz. 18; Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, § 31 Rz. 31; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, §  107 Rz.  10; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 673; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 27 MitbestG Rz. 14; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  27 MitbestG Rz.  19; Raiser in Raiser/Veil/­ Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 27 MitbestG Rz. 15; Schubert in Wißmann/ Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 27 MitbestG Rz. 17; Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, 8. Aufl. 2018, §  27 MitbestG Rz.  4; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 107 Rz. 53; Uffmann in MünchHandbuch ArbR, 4. Aufl. 2019, § 377 Rz. 3; a.A. noch Köstler/Müller/Sick, Aufsichtsratspraxis, 10. Aufl. 2013, Rz. 389 a.E. sowie die kritische Würdigung von Köstler, Das steckengebliebene Reformvorhaben, 1987, S. 176 ff. 28 So Naendrup in GK-MitbestG, 1978, § 27 Rz. 19; ebenso noch Fitting/Wlotzke/Wißmann, MitbestG, 1. Aufl. 1976, § 27 Rz. 14; abgeschwächt bereits Fitting/Wlotzke/Wißmann, MitbestG, 2. Aufl. 1978, § 27 Rz. 16, wonach die Tandem-Theorie nur dann zur Anwendung

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Gegenüber einer derartigen Verkopplung beider Amtsträger nach erfolgter Wahl zu einem Tandem hat Eberhard Vetter dezidiert und mit abgewogener Argumentation Widerspruch angemeldet.29 Er bestreitet nicht nur die tatsächliche Prämisse, dass eine nach § 27 Abs. 1 MitbestG erfolgte Wahl beider Amtsträger auf einem in Vorgesprächen abgestimmten Personalpaket beruhe,30 sondern betont vor allem, dass selbst eine derartige Praxis im MitbestG 1976 keinen Niederschlag finde und sich auch nicht auf den Zweck des § 27 MitbestG stützen lasse, da § 27 Abs. 1 MitbestG von dem Ziel geleitet sei, eine Verständigung beider Gruppen im Aufsichtsrat zu fördern, was auf die Situation der Nachwahl nicht übertragbar sei. Die von der Tandem-Theorie propagierte Ausstrahlung auf das jeweils andere Amt weiche fundamental von dem allgemeinen Gesellschaftsrecht ab, so dass es für deren Anerkennung einer ausdrücklichen Regelung im MitbestG bedurft hätte.31 Zudem beeinträchtige der mit der Tandem-Theorie verbundene gleichzeitig eintretende Amtsverlust die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates32 und berge die Gefahr, dass durch den Amtsverzicht des Stellvertreters das Patt auflösende Zweitstimmrecht entfalle, so dass das verfassungsrechtlich gebotene (leichte) Übergewicht der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat während des Interimszeitraumes nicht mehr gewährleistet sei.33 Bereits bei Anfertigung seiner Dissertation befand sich Eberhard Vetter mit seiner Ablehnung der Tandem-Theorie im Einklang mit der im noch jungen Schrifttum überwiegend verfochtenen Position.34 Die Überzeugungskraft der nicht zuletzt auch von dem Jubilar entfalteten Argumentation hat dazu geführt, dass das mit der Tandem-­ Theorie umschriebene Konzept im neueren Schrifttum keine Anhänger mehr findet35 kommen sollte, wenn bei einer Nachwahl die von § 27 Abs. 1 MitbestG geforderte 2/3-Mehrheit verfehlt wird. Zur Aufgabe der Tandem-Theorie sodann Koberski in Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2008, § 27 Rz. 16. 29 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 113 ff. 30 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 116 f. 31 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 114 f. 32 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 115. 33 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 118. 34 Ablehnend z.B. bereits Hoffmann/Lehmann/Weinmann, MitbestG, 1978, §  27 Rz.  22; Meyer-Landrut, DB 1978, 444; Philipp, ZGR 1978, 63 (69); siehe auch ausführlich Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 264 ff. 35 Siehe Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  27 MitbestG Rz.  14; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, §  27 MitbestG Rz.  12; Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, §  31 Rz.  33; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 108 Rz. 76; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 107 Rz. 7; Köstler/Müller/Sick, Aufsichtsratspraxis, 10. Aufl. 2013, Rz. 387; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz.  677; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 27 MitbestG Rz. 8; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  27 MitbestG Rz.  17; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, §  27  MitbestG Rz.  21; Säcker, DB 2008, 2252 (2252); Schubert in Wißmann/Kleinsorge/

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und als überholt gelten kann.36 Letztlich wird heute nur noch kontrovers diskutiert, ob auch bei einer nach § 27 Abs. 2 MitbestG erfolgten Wahl für den Fall einer Nachwahl erneut zunächst der Versuch unternommen werden muss, in einem ersten Wahlgang eine 2/3-Mehrheit zu erreichen, so dass erst nach Scheitern eines derartigen Versuchs das Wahlrecht im zweiten Wahlgang derjenigen Seite zusteht, die den weggefallenen Amtsträger gewählt hat. Eberhard Vetter hat sich mit Recht dieser Position angeschlossen, da dem Kandidaten nicht die Chance vorenthalten werden solle, um das Vertrauen des gesamten Aufsichtsrates nachzusuchen.37 Auch diese Position hat sich im Schrifttum inzwischen weitgehend durchgesetzt.38

V. Beschlussfähigkeit des mitbestimmten Aufsichtsrates Die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrates zählt zu den tradierten Elementen für dessen innere Ordnung, bei denen das Aktienrecht der Satzungsautonomie einen weiten Gestaltungsspielraum belässt. Lediglich § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG schränkt diesen dahin ein, dass an der Beschlussfassung stets drei Mitglieder des Aufsichtsrates teilnehmen müssen. Vor dem Hintergrund der durch das MitbestG 1976 vorgegebenen paritätischen Zusammensetzung des Aufsichtsrates fehlte es deshalb nach Inkrafttreten des Gesetzes nicht an Versuchen, durch Satzungsgestaltungen sicherzustellen, dass allein durch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat keine rechtswirksamen Beschlüsse gefasst werden können. Mit § 28 Satz 1 MitbestG legt das Gesetz zwar fest, Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 27 MitbestG Rz. 21; Spindler in Spindler/ Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 107 Rz. 33; Uffmann in MünchHandbuch ArbR, 4. Aufl. 2019, § 377 Rz. 8. 36 Ein gleichzeitiges Amtsende beider Amtsinhaber wird über die Annahme eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage nur noch für den Sonderfall erwogen, dass bei Besetzung der Ämter einvernehmlich von dem Aufteilungsmodell in § 27 Abs. 2 Satz 2 MitbestG abgewichen wurde; hierfür Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 27 MitbestG Rz. 11; i.E. auch Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 27 MitbestG Rz. 22 a.E.: a.A. Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 268 f. 37 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 120. 38 So z.B. Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 27 MitbestG Rz. 15; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, §  27 MitbestG Rz.  11; Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, § 31 Rz. 33; Köstler/Müller/Sick, Aufsichtsratspraxis, 10. Aufl. 2013, Rz. 387; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 677; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 27 MitbestG Rz. 8; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 27 MitbestG Rz. 17; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 27 MitbestG Rz. 23; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 27 MitbestG Rz. 23; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 107 Rz. 33; Uffmann in MünchHandbuch ArbR, 4. Aufl. 2019, § 377 Rz. 8 sowie bereits Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 272 ff.; einschränkend für den Fall, dass die Wahl des Weggefallenen nach § 27 Abs. 2 MitbestG erfolgte, Koberski in Wlotzke/Wißmann/Koberski/ Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2011, § 27 Rz. 17.

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dass der Aufsichtsrat beschlussfähig ist, wenn die Hälfte der Mitglieder, aus denen er nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat, an der Beschlussfassung teilnimmt, ohne indes die naheliegende Frage zu beantworten, ob qua Satzung über das Gesetz hi­ nausgehende strengere Anforderungen an die Beschlussfähigkeit aufgestellt werden dürfen.39 Neben der verbindlichen Teilnahme des in der Praxis stets von den Anteilseignervertretern gestellten Aufsichtsratsvorsitzenden waren Satzungsklauseln zu beurteilen, die das in § 28 Satz 1 MitbestG festgelegte Quorum erhöhten und z.B. die Teilnahme von 3/4 der Mitglieder, aus denen der Aufsichtsrat zu bestehen hat, zur Voraussetzung für die Beschlussfähigkeit erhoben40 oder aber forderten, dass sich unter den an der Beschlussfassung Teilnehmenden zur Hälfte Vertreter der Anteilseigner und der Aufsichtsratsvorsitzende befinden müssen.41 Bei alleiniger Betrachtung der aktienrechtlichen Vorgaben wären derartige Satzungsregelungen – abgesehen von der für unabdingbar erklärten Teilnahme des Aufsichtsratsvorsitzenden – nicht zu beanstanden,42 jedoch darf sich die Satzungsautonomie wegen § 25 MitbestG nur in dem Raum entfalten, den ihr die §§ 27 bis 29 MitbestG belassen. Der Widerspruch der vorgenannten Satzungsklauseln hierzu lag zumindest dann auf der Hand, wenn § 28 Satz 1 MitbestG nicht nur als eine mit § 108 Abs. 2 Satz 2 AktG vergleichbare gesetzliche Regelung zur Beschlussfähigkeit bewertet wird, sondern ihr zugleich der Charakter zweiseitig zwingenden Rechts beigemessen wird, das nicht nur eine Abschwächung des Quorums für die Beschlussfähigkeit untersagt, sondern zugleich unterbindet, dass qua Satzung strengere Anforderungen an die Beschlussfähigkeit aufgestellt werden. Die Ausgangslage für den rechtswissenschaftlichen Diskurs war hiermit vorgezeichnet. Ausgehend von der aktienrechtlichen Satzungsautonomie wurde einerseits ein Vorrang der Satzungsautonomie postuliert und Einschränkungen durch gesetzliche Regelungen nur soweit akzeptiert, als dies dem Gesetz ausdrücklich zu entnehmen ist. Dies sei bezüglich § 28 Satz 1 MitbestG nur im Hinblick auf einen zwingenden Mindeststandard der Fall. Strengere Anforderungen zur Beschlussfähigkeit untersage die Norm hingegen nicht, so dass sie der Satzungsautonomie nicht entgegenstehe.43 Die 39 Verständlich ist die Regelungsabstinenz des Gesetzgebers nur vor dem Hintergrund des von ihm vorgefundenen Meinungsstandes zu §  10 Montan-MitbestG und §  11 Mitbest­ ErgG, zu denen der zweiseitig zwingende Charakter der Normen unbestritten war; s. O ­ etker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  10 Montan-MitbestG Rz.  2, m.w.N. sowie für das zeitgenössische Schrifttum Boldt, Mitbestimmungsgesetz Eisen und Stahl, 1952, § 10 Anm. 2; Kötter, Mitbestimmungsrecht, 1952, § 10 Anm. 3 a.E. 40 So die Satzungsgestaltung bei OLG Hamburg v. 4.4.1984 – 2 W 25/80, ZIP 1984, 957 ff.; zustimmend dazu Feldmann, DB 1985, 29 ff.; ablehnend demgegenüber Oetker, BB 1984, 1766 ff. 41 So die vom BGH in dem Urteil v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 ff., beurteilte Satzungsbestimmung. 42 Statt aller Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  108 Rz.  38; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  108 Rz.  91; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 Rz. 79 f. 43 Stellvertretend für diese Position OLG Hamburg v. 4.4.1984 – 2 W 25/80, ZIP 1984, 957 ff.; ebenso im Schrifttum z.B. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 14;

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gegenläufige Position stützt sich hingegen auf den Zweck des § 28 Satz 1 MitbestG und befürwortet im Hinblick auf den Umfang der zwingenden Wirkung ein extensives Verständnis, nachdem der Aufsichtsrat bei Erreichung des in § 28 Satz 1 MitbestG festgelegten Quorums stets beschlussfähig sein soll, mit der weiteren Folge, dass die gesetzliche Regelung in § 28 Satz 1 MitbestG strengeren Satzungsanforderungen „entgegensteht“.44 Der letztgenannten Position schloss sich auf der Grundlage einer detailreichen und tiefschürfenden Normexegese auch Eberhard Vetter an45 und verwarf damit die anfangs insbesondere von den Instanzgerichten46 verfochtene gegenteilige Position. Der Gesetzeswortlaut sei für die Entscheidung der Streitfrage zwar unergiebig,47 aus der Gesetzessystematik folge aber, dass § 108 Abs. 2 Satz 1 bis 3 AktG von § 28 Satz 1 MitbestG verdrängt werde und damit die nach § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG notwendige gesetzliche Grundlage für die Zulassung der Satzungsautonomie fehle.48 Für diese Auslegung stützte sich Eberhard Vetter vor allem auf § 28 Satz 2 MitbestG, der ausdrücklich § 108 Abs. 2 Satz 4 AktG für anwendbar erklärt, was nur dann sinnvoll sei, wenn – per argumentum e contrario – die Vorschrift des § 108 Abs. 2 AktG im Übrigen keine Anwendung finde. Zusätzlich verwies er auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber im Recht der Montanmitbestimmung Feldmann, DB 1984, 29 f.; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 108 Rz. 46; Heinsius, AG 1977, 281 (282 f.); Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, § 31 Rz. 63; Lieder, ZHR Bd. 172 (2008), 306 (329 f.); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 718; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3.  Aufl. 2013, §  28 MitbestG Rz.  2; Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der ­mitbestimmten AG, 1982, S.  154  ff.; Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende, 1983, S.  332  ff.; Preusche, AG 1980, 125 (126 f.); Seibt in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 28 MitbestG Rz. 2. 44 So namentlich OLG Karlsruhe v. 20.6.1980  – 15 U 171/79, NJW 1980, 2137 (2139); im Schrifttum ebenfalls Geitner, AG 1982, 212 (217); Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, §  28 MitbestG Rz.  4a; Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 108 Rz. 90; Köstler, Das steckengebliebene Reformvorhaben, 1987, S. 170 f.; Köstler/Müller/Sick, Aufsichtsratspraxis, 10. Aufl. 2013, Rz.  456; Oetker, BB 1984, 1766 (1769); Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 28 MitbestG Rz. 8; Raiser in Raiser/ Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, §  28 MitbestG Rz.  3; Säcker, JZ 1980, 82 (84); Säcker, Anpassung von Satzungen und Geschäftsordnungen an das Mitbestimmungsgesetz 1976, 1977, S.  23 Fn.  40; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 28 MitbestG Rz. 9; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 108 Rz. 46; Uffmann in MünchHandbuch ArbR, 4. Aufl. 2019, § 377 Rz. 20; Wiesner, AG 1979, 205; Wißmann in MünchHandbuch ArbR, 3. Aufl. 2009, § 282 Rz. 7. 45 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 127 ff. 46 Siehe LG Frankfurt a.M. v. 3.10.1978 – 3/11 T 32/78, NJW 1978, 2398 f.; LG Hamburg v. 29.6.1979 – 64 T 3/79, NJW 1980, 235 f.; LG Mannheim v. 23.7.1979 – 12 O 16/79, NJW 1980, 236 f. 47 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 127. 48 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 128 ff.

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vorgefundenen Normsituation dafür spreche, dass § 28 MitbestG keinen Spielraum zur statutarischen Erhöhung des gesetzlichen Quorums eröffne.49 Auch die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG fordere nicht die Möglichkeit zur satzungsmäßigen Heraufsetzung des gesetzlichen Quorums, da § 108 Abs. 3 AktG den abwesenden Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseignerseite die schriftliche Stimmabgabe eröffne, um ihr verfassungsrechtlich gebotenes Übergewicht abzusichern.50 Schließlich führe eine statutarische Erhöhung des Quorums zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Aufsichtsratsmitglieder, da einer Aufsichtsratsseite oder ggf. sogar einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied ein absolutes Vetorecht eingeräumt werde, das über das im MitbestG 1976 angelegte Übergewicht der Anteilseignerseite hi­ nausgehe.51 Dieses habe der Gesetzgeber in den §§ 27, 29, 31 und 32 MitbestG ausgeformt, in § 28 MitbestG indes von einer vergleichbaren Absicherung abgesehen.52 In seiner Grundsatzentscheidung vom 25.2.1982 hat der II. Zivilsenat des BGH die Auslegungsfrage zu § 28 MitbestG ausdrücklich unbeantwortet gelassen.53 Einer Stellungnahme konnte der Senat ausweichen, weil er für die streitgegenständliche Satzungsklausel einen Verstoß gegen den Grundsatz der (individuellen) Gleichbehandlung aller Aufsichtsratsmitglieder bejahte.54 Durch die von der Satzung geforderte Voraussetzung, dass sich unter den Teilnehmern an der Beschlussfassung mindestens zur Hälfte Vertreter der Anteilseigner befinden, werde der Grundsatz der Gleichbehandlung schon deshalb verletzt, weil die Unterschreitung dieses Quorums auf Seiten der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat dessen Beschlussfähigkeiten nicht in Frage stelle.55 Auch für die Voraussetzung, dass sich unter den an der Beschlussfassung Teilnehmenden der Aufsichtsratsvorsitzende befinden müsse, nahm der II. Zivilsenat nicht abschließend zur Auslegung von § 28 MitbestG Stellung, da eine derartige Satzungsgestaltung dazu führe, dass die Rechtsstellung des Vorsitzenden des Aufsichtsrates gesetzeswidrig verstärkt werde,56 und dem Stellvertreter hierdurch zudem die gesetzlich vorausgesetzte Funktion der Sitzungsleitung bei einer Verhinderung des Vorsitzenden vorenthalten werde.57 Die ausweichende Argumentation des BGH konnte zwar die konkrete Satzungsgestaltung mit überzeugender Begründung auch im Sinne der von Eberhard Vetter befürworteten Position verwerfen, sie ließ allerdings die Grundsatzfrage unbeantwortet, wenn die Satzungsbestimmung das für die Beschlussfähigkeit erforderliche Quorum 49 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 131 ff. 50 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 136 ff. 51 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 134 f. 52 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 135. 53 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 (153 f.). 54 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 (154 ff.). 55 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 (154). 56 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 (156 f.). 57 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 145/80 – Bilfinger & Berger, BGHZ 83, 151 (157).

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auf 3/4 der Aufsichtsratsmitglieder erhöht. Da ein Verstoß gegen den Grundsatz der individuellen gleichen Berechtigung der Aufsichtsratsmitglieder bei einer alleinigen Erhöhung des Beschlussfähigkeitsquorums nicht vorliegt,58 kann die Rechtsunwirksamkeit einer derartigen Satzungsbestimmung nur auf einen Verstoß gegen § 28 Satz 1 MitbestG gestützt werden, da es einer Seite ermöglicht würde, durch geschlossenes Fernbleiben ihrer Mitglieder die Beschlussfassung des Aufsichtsrates zu torpedieren.59 Gerade dies war die Intention der regelungstechnischen Vorlage in § 10 Montan-­ MitbestG; keine Mitgliedergruppe sollte über die Rechtsmacht verfügen, für sich alleine Beschlüsse zu fassen oder eine Beschlussfassung im Aufsichtsrat zu verhindern.60 Damit bedarf die von Eberhard Vetter diskutierte Grundsatzproblematik zur zwingenden Wirkung von § 28 Satz 1 MitbestG unverändert einer abschließenden höchstrichterlichen Klärung, da die hier und auch von dem Jubilar bezogene Position unverändert nicht allseits auf Zustimmung stößt.61

VI. Vertagungsklauseln Aus der paritätischen Zusammensetzung des nach dem MitbestG 1976 mitbestimmten Aufsichtsrates und dem für die Ausübung des Zweitstimmrechtes notwendigen Erfordernis einer Stimmengleichheit (§ 29 Abs. 2 MitbestG) folgt die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass die Anteilseignervertreter bei einer Abstimmung infolge einer Zufallsmehrheit überstimmt werden, wenn sie wegen einer vorübergehenden Vakanz nicht vollständig an der Abstimmung teilnehmen können. Um derartige Zufallsmehrheiten zu vermeiden, wurden nach Inkrafttreten des MitbestG 1976 verbreitet Vertagungsklauseln in Satzungen oder Geschäftsordnungen des Aufsichtsrates propagiert, die für den Fall, dass nicht sämtliche Aufsichtsratsmitglieder oder eine bestimmte Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner- bzw. der Arbeitnehmerseite anwesend sind, einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern das Recht einräumen, eine Vertagung der Beschlussfassung zu beantragen, ohne dass es hierfür eines Mehrheitsbeschlusses des Aufsichtsrates bedarf. Der Zielkonflikt zur gesetzlich fixierten Beschlussfähigkeit des § 28 Satz 1 MitbestG liegt auf der Hand, da ein von einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern gestellter Antrag zu 58 So z.B. Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 28 MitbestG Rz. 11. 59 So Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, §  28 MitbestG Rz.  3; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 28 MitbestG Rz. 11; a.A. Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 28 MitbestG Rz. 4. 60 Siehe Kötter, Mitbestimmungsrecht, 1952, § 10 Anm. 3; ferner Boldt, Mitbestimmungsgesetz Eisen und Kohle, 1952, § 10 Anm. 3. 61 Ablehnend im neueren Schrifttum z.B. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 108 Rz. 14; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 108 Rz. 46; Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, §  31 Rz.  63; Lieder, ZHR Bd. 172 (2008), 306 (329 f.); Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 718; Tomasic in Grigoleit, AktG, 2013, § 108 Rz. 14.

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einer Vertagung der Beschlussfassung führt, obwohl der Aufsichtsrat nach Maßgabe von § 28 Satz 1 MitbestG beschlussfähig ist. Dementsprechend fehlt es im Schrifttum nicht an Stimmen, die derartige Vertagungsklauseln als mit den zwingenden Vorgaben in § 28 Satz 1 MitbestG unvereinbar ansehen.62 Eberhard Vetter hat dieser Argumentation nachdrücklich widersprochen und mit Recht die gravierenden Unterschiede zwischen Beschlussfähigkeit und Vertagung der Beschlussfassung betont,63 zugleich aber hervorgehoben, dass bei einer fehlenden zeitlichen Limitierung eine Umgehung des § 28 Satz 1 MitbestG vorliege.64 Bei der Beschränkung auf eine einmalige Vertagung sei die Gefahr einer Gesetzesumgehung indes nicht gegeben.65 Zum entscheidenden rechtlichen Kontrollmaßstab erhebt Eberhard Vetter deshalb den Grundsatz der (individuellen) Gleichbehandlung aller Aufsichtsratsmitglieder. Aus diesem folge, dass das zwingend zur Vertagung führende Antragsrecht unabhängig von der Zugehörigkeit zur Anteilseigner- oder Arbeitnehmerseite bestehen und unabhängig davon ausgestaltet werden müsse, welche Aufsichtsratsmitglieder der Aufsichtsratssitzung nicht beiwohnen.66 Bei Wahrung der bereits aus § 28 Satz 1 MitbestG abgeleiteten Einschränkung der Vertagungsklausel auf eine einmalige Verschiebung der Abstimmung seien auch die auf die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrates gestützten rechtlichen Bedenken unbegründet, weil es zu keiner dauernden Blockade der Aufsichtsratsarbeit kommen könne.67 Selbst wenn das Antragsrecht abweichend von § 110 Abs. 2 AktG bereits einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied zugebilligt werde, sei dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.68 Der von Eberhard Vetter herausgearbeitete zweistufige Prüfungsansatz führt zu sachgerechten Problemlösungen. Obwohl Vertragsklauseln nicht unmittelbar gegen § 28 Satz 1 MitbestG verstoßen, ist die Gefahr einer Gesetzesumgehung nicht von der Hand zu weisen. Diese besteht indes nicht, wenn die Vertagung auf ein Mal beschränkt bleibt.69 Abgesehen davon weist der Rekurs auf den Grundsatz der (individuell) glei62 So Koberski in Wlotzke/Wißmann/Koberski/Kleinsorge, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2011, § 28 MitbestG Rz. 7; Naendrup in GK-MitbestG, 1978, § 25 Rz. 80; Köstler, Das steckengebliebene Reformvorhaben, 1987, S. 173. 63 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 144 f. 64 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 145. 65 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 145. 66 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 146 ff. 67 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 148 f. 68 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 150. 69 So auch Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 28 MitbestG Rz. 7; Hambloch-Gesinn/Gesinn in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 108 Rz. 46; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 108 Rz. 83; Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 199 f.; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs,

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chen Behandlung aller Aufsichtsratsmitglieder in die richtige Richtung. Werden die hierdurch gezogenen Grenzen beachtet, sind Vertragsklauseln aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.70 Eine Grenzüberschreitung liegt jedoch stets dann vor, wenn auf der Tatbestandsebene und/oder bei dem Kreis der Antragsberechtigten zwischen den Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und denen der Arbeitnehmer differenziert bzw. das Antragsrecht mit der Abwesenheit bestimmter Aufsichtsratsmitglieder verknüpft wird, da diese hierdurch eine dilatorisch wirkende Vetomacht erlangen.71

VII. Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden als Problemlieferant Als Mechanismus zur Auflösung einer in der paritätischen Mitbestimmung angelegten Pattsituation und zur verfassungsrechtlich gebotenen Absicherung eines (leichten) Übergewichts der Anteilseignerseite ist das in § 29 Abs. 2 MitbestG dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesene Zweitstimmrecht bei einer erneuten (zweiten) Abstimmung von entscheidender Bedeutung.72 Abweichend von § 31 Abs. 4 Mit­bestG hat der Gesetzgeber bewusst davon abgesehen, dem Aufsichtsratsvorsitzenden bereits bei der Abstimmung über einen Beschlussgegenstand zwei Stimmen zuzuweisen, sondern in § 29 Abs. 2 MitbestG ein zweistufiges Verfahren etabliert, das den Einsatz der Zweitstimme zwingend mit der Durchführung einer erneuten Abstimmung verknüpft. Angesichts der zentralen Bedeutung des dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesenen Zweitstimmrechts war absehbar, dass die knapp formulierte Vorschrift nach ihrem Inkrafttreten zahlreiche Auslegungsfragen aufwarf, zu denen auch der Jubilar detailliert Stellung bezog. Gegenstand eines breiten Meinungsspektrums war bereits die Frage, ob es überhaupt zur Durchführung einer zweiten Abstimmung über den Beschlussgegenstand kommt. Während die Antragskompetenz des Aufsichtsratsvorsitzenden wegen seiner Sitzungsleitungskompetenz73 unbestritten war74 und ein Antragsrecht des Vorstandes mit

MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 28 MitbestG Rz. 4; Tomasic in Grigoleit, AktG, 2013, §  108 Rz.  16; wohl auch Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 28 MitbestG Rz. 15 a.E. 70 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 724; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, §  28 MitbestG Rz. 14. 71 S.  näher Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG, 1982, S. 200 ff. 72 Kritisch hierzu während des Gesetzgebungsverfahrens Philipp, DB 1976, 195 ff. 73 Dazu statt aller Hopt/Roth in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 107 Rz. 126 ff. 74 Für die unverändert allg. Ansicht stellvertretend Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 13; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, §  29 MitbestG Rz.  11; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 20.

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Innere Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft

Recht nur vereinzelt Fürsprecher fand,75 hat Eberhard Vetter mit gewichtigen Argumenten dafür plädiert, auch dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied das Recht zuzubilligen, die Durchführung einer zweiten Abstimmung zu beantragen, das weder durch die Satzung noch durch die Geschäftsordnung des Aufsichtsrates oder einen Mehrheitsbeschluss des Aufsichtsrates entziehbar sein soll.76 Ausgehend hiervon ist es konsequent, dass er sich gegen die Rechtswirksamkeit einer Satzungsbestimmung ausspricht, die die Durchführung einer zweiten Abstimmung verbindlich vorschreibt.77 Während die letztgenannte Position heute unbestritten ist,78 konnte sich der Jubilar mit seinem Plädoyer für ein eigenes Antragsrecht des einzelnen Aufsichtsratsmitgliedes79 nicht durchsetzen.80 Für eine derartige Rechtsposition, die im Widerspruch zu der Sitzungsleitungskompetenz des Aufsichtsratsvorsitzenden steht, lassen sich im Wege der Auslegung aus § 29 Abs. 2 MitbestG keine hinreichend gewichtigen Argumente gewinnen. Angesichts des Schweigens des Gesetzes zu der Frage, ob über den Beschlussgegenstand abweichend von den allgemeinen Beschlussregeln eine erneute Abstimmung durchzuführen ist, richtet sich die Antwort nach der ausschließlich dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesenen Sitzungsleitungskompetenz. Es bleibt deshalb der Satzung oder der Geschäftsordnung des Aufsichtsrates vorbehalten, eine derartige Rechtsposition zugunsten eines einzelnen oder mehrerer Aufsichtsratsmitglieder zu begründen.81

75 Hierfür noch Raiser, MitbestG, 1. Aufl. 1977, § 29 Rz. 10, der diese Position jedoch bereits in der 2. Aufl. 1984 (§ 29 Rz. 10) ausdrücklich aufgab. Ablehnend auch E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 164 f.; ebenso für die heute einhellige Ansicht statt aller Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 13; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 29 MitbestG Rz. 11; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 13; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 20. 76 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 165 ff., 168 ff., 171 ff. 77 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 168 ff. 78 S.  statt aller Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  29 MitbestG Rz.  11; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 29 MitbestG Rz. 16; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 25; a.A. noch Hoffmann/Lehmann/Weinmann, MitbestG, 1978, § 29 Rz. 33. 79 Hierfür im Schrifttum zuvor auch U. H. Schneider in GK-MitbestG, 1978, § 29 Rz. 69. 80 Ablehnend z.B. Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 29 MitbestG Rz. 9; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, §  29 MitbestG Rz.  13; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 29 MitbestG Rz. 11; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 13; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/ DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 29 MitbestG Rz. 11 a.E. 81 Für die Rechtswirksamkeit entsprechender Bestimmungen Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  29 MitbestG Rz.  9; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 19; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 736; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 29 Mit­ bestG Rz. 13; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 29 MitbestG

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Hartmut Oetker

Nicht zuletzt die Funktion des dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesenen Zweitstimmrechts, ein leichtes Übergewicht der Anteilseignerseite abzusichern, hat zudem Überlegungen herausgefordert, das Zweitstimmrecht mittels eines restriktiven Normverständnisses auf bestimmte Beschlussgegenstände zu beschränken und das „Tagesgeschäft“ hiervon auszunehmen.82 Mit der bereits damals vorherrschenden Auffassung hat Eberhard Vetter diesen Bestrebungen mit überzeugender Argumentation widersprochen83 und prägte damit die auch heute unverändert vorherrschende Meinung.84 Für eine gegenteilige Position, für die es des methodischen Vehikels einer teleologischen Reduktion der Norm bedürfte,85 lassen sich dem Gesetz keine tragfähigen Anhaltspunkte entnehmen. Mit dem Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden wird zwar die Funktionsfähigkeit des Organs gewährleistet, hieraus folgt aber weder eine Beschränkung auf Sachentscheidungen oder gar solche, die die Funktionsfähigkeit des Unternehmens betreffen. Dementsprechend steht dem Aufsichtsratsvorsitzenden das Zweitstimmrecht insbesondere auch bei der Einrichtung und der Besetzung von Ausschüssen des Aufsichtsrates zu.86 Zu den anfänglichen Problemkomplexen bezüglich des in § 29 Abs. 2 MitbestG zu­ gebilligten Zweitstimmrechts, mit denen sich Eberhard Vetter auseinandergesetzt hat, gehörte auch die Frage, ob die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden bei Stimmengleichheit in der zweiten Abstimmung automatisch doppelt zählt87 oder von ihm gesondert abzugeben ist. Ausgehend von dem Gesetzeswortlaut, der ausdrücklich die Rz. 16; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 22. 82 So z.B. Jürgens/Unterhinninghofen, MitbestGespr. 1976, 91; Reich/Lewerenz, ArbuR 1976, 261 (271). 83 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 180 ff. 84 Für diese z.B. Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 29 MitbestG Rz. 8; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 10; Lutter/ Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 735; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 29 MitbestG Rz. 6; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 10; Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende, 1983, S. 236 ff.; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 29 MitbestG Rz. 10; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 16. 85 Hierfür partiell sogar Lieb, JA 1978, 318 (321). 86 Stellvertretend für die vorherrschende Ansicht Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, §  25 MitbestG Rz.  8; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4.  Aufl. 2018, §  25 MitbestG Rz.  123, 127; Hoffmann-Becking in MünchHandbuch AG, 4. Aufl. 2015, § 32 Rz. 38; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, § 25 MitbestG Rz. 41; Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende, 1983, S. 249 f.; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/ DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 25 MitbestG Rz. 57; Rellermeier, Aufsichtsratsausschüsse, 1986, S. 103 f.; Uffmann in MünchHandbuch ArbR, 4. Aufl. 2019, § 377 Rz. 27; offen Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, §  25 MitbestG Rz. 126; a.A. Lieb, JA 1978, 318 (321); Reich/Lewerenz, ArbuR 1976, 261 (271); Wißmann, MünchHandbuch ArbR, 3. Aufl. 2009, § 282 Rz. 12. 87 Hierfür Luther, ZGR 1977, 306 (310); Säcker, Anpassung von Satzungen und Geschäftsordnungen an das Mitbestimmungsgesetz 1976, 1977, S. 24 Fn. 42, wenn auch die zweite Abstimmung Stimmengleichheit ergibt.

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Innere Ordnung des mitbestimmten Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft

Abgabe einer zweiten Stimme vorsieht, plädierte Eberhard Vetter gestützt auf den Normzweck für die letztgenannte Position und gegen einen Zählautomatismus.88 Die hiermit an sich eröffnete Entscheidungsfreiheit des Aufsichtsratsvorsitzenden schränkte er jedoch auf der anderen Seite wieder ein, indem er dem Aufsichtsratsvorsitzenden die Möglichkeit einer uneinheitlichen Stimmabgabe verwehrt und ihm in der erneuten Abstimmung lediglich die Variante der Stimmenthaltung belässt.89 Durchgesetzt hat sich diese Position indes nicht.90 Es obliegt vielmehr dem Ermessen des Aufsichtsratsvorsitzenden, ob und wie er seine zweite Stimme einsetzt. Andernfalls hätte § 29 Abs. 2 MitbestG anordnen müssen, dass die von dem Aufsichtsratsvorsitzenden abgegebene Stimme doppelt zählt. In Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens ist der Aufsichtsratsvorsitzende deshalb auch berechtigt, seine Zweitstimme gegenläufig abzugeben.

VIII. Summa Der Jubilar stellte bei dem Titel seines Werkes ganz bewusst das Wort „Beiträge“ an den Anfang und verzichtete auf eine abschließende Zusammenfassung. Dies veranlasst den Verfasser der vorstehenden Zeilen zu einem vergleichbaren Verzicht und belässt es bei einem Dank für die zahlreichen Inputs, die er aus der Lektüre der von Eberhard Vetter vorgelegten Dissertation gewonnen hat und deren Thesen und Argumente auch nach über 35 Jahren von aktueller Bedeutung und ebenso wie der Jubilar jung geblieben sind. Ad multos annos!

88 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 189 ff.; ebenso für die heute allg. Ansicht Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 16; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  29 MitbestG Rz.  18; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6.  Aufl. 2015, §  29 MitbestG Rz.  14; Schubert in Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 29 MitbestG Rz. 31 sowie bereits Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende, 1983, S. 251 f. 89 E. Vetter, Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, 1982, S. 199 ff.; im Grundsatz auch Luther, ZGR 1977, 306 (310). 90 S. Annuß in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 29 MitbestG Rz. 12; Habersack in Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Aufl. 2018, § 29 MitbestG Rz. 16; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 735; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 29 MitbestG Rz. 12; Oetker in Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2018, §  29 MitbestG Rz.  19; Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende, 1983, S.  255  f.; Raiser in Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG/DrittelbG, 6. Aufl. 2015, § 29 MitbestG Rz. 14; Schubert in  Wißmann/Kleinsorge/Schubert, Mitbestimmungsrecht, 5. Aufl. 2017, §  29 MitbestG Rz. 30.

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Walter G. Paefgen

Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB) Inhaltsübersicht



I. Einführung 1. Sitzspaltungsfreiheit bei GmbH und Aktiengesellschaft a) Satzungssitz b) Kollisionsrechtlicher Verwaltungssitz c) Dreidimensionale Sitzspaltungsfreiheit kraft primären Unionsrechts d) Das kapitalgesellschaftsrechtliche Sitzspaltungsmodell von § 4a ­GmbHG und § 5 AktG nach dem MoMiG 2. Sitzspaltungsfreiheit auch im Recht der Personenhandelsgesellschaften?

II. Niederlassungsschutz der Personenhandelsgesellschaften III. Der gesellschaftsvertragliche Sitz von OHG und KG iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB 1. Unionsrechtlicher Niederlassungsschutz



2. Abkommensrechtlicher Nieder­ lassungsschutz 3. Kein gesetzgeberischer Korrektur­ bedarf

IV. § 106 Abs.  2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisionsnorm 1. Sitzspaltung im europäischen ­Binnenmarkt 2. Keine Sitzspaltung über die Grenzen des europäischen Binnenmarkts und staatsvertraglichen Niederlassungsschutzes hinaus

V. § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als Sitz­ verlegungsverbot

VI. Internationalverfahrensrechtliche ­Aspekte 1. Satzungsmäßiger Sitz iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO 2. Der Gesellschaftssitz iSv Art. 24 Nr. 2 EuGVVO VII. Zusammenfassung

I. Einführung 1. Sitzspaltungsfreiheit bei GmbH und Aktiengesellschaft a) Satzungssitz Für die deutsche GmbH und die Aktiengesellschaft schreiben § 4a GmbHG und der im Wesentlichen wortgleiche §  5 AktG vor, dass diese beiden Gesellschaftsformen einen statutarisch festzulegenden Satzungssitz haben müssen, der u.a. den Gerichtsbezirk festlegt, in dem solche Gesellschaften gem. § 377 Abs. 1 FamFG zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden sind.1 Der Satzungssitz muss nach § 4a GmbHG, § 5 AktG im Inland liegen. Ohne einen inländischen Satzungssitz, der die Zugehörig1 Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 19. Aufl., 2016, § 4a Rz. 4, § 7 Rz. 3; Hüffer/Koch, AktG, 9. Aufl., 2018, § 5 Rz. 4, § 14 Rz. 3.

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Walter G. Paefgen

keit zur deutschen Rechtsordnung gebührend dokumentiert, würde eine deutsche Kapitalgesellschaft rechtlich gewissermaßen „in der Luft hängen“.2 b) Kollisionsrechtlicher Verwaltungssitz Vom Satzungssitz ist der tatsächliche oder effektive Verwaltungssitz der Gesellschaft iS der Sitztheorie des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts zu unterscheiden. Nach der Rechtsprechung des BGH ist der kollisionsrechtliche Gesellschaftssitz der Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden.3 In Konzernverhältnissen handelt es sich dabei um den Ort, an dem die Geschäftsführung der abhängigen Gesellschaft die Vorgaben des herrschenden Unternehmens ausführt.4 Der kapitalgesellschaftsrechtliche Satzungssitz steht, sofern nur ein inländischer Sitz gewählt wird (vgl. unten V.) zur Disposition der Gesellschafter, wie die Formulierungen in § 4a GmbHG („den der Gesellschaftsvertrag bestimmt“) und §  5 AktG („den die Satzung bestimmt“) un­ zweifelhaft ergeben. Dagegen handelt es sich bei dem tatsächlichen Verwaltungssitz iSd deutschen Gesellschaftskollisionsrechts um ein zwingendes Anknüpfungsmerkmal, das bezweckt, der Durchsetzung inländischer Schutzinteressen des von der ­Tätigkeit einer Gesellschaft in der Regel am stärksten betroffenen Sitzstaates zu dienen.5 c) Dreidimensionale Sitzspaltungsfreiheit kraft primären Unionsrechts Kollisionsrechtlich kommt die Dispositionsfreiheit der Gesellschafter in der auf der Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften im EU/EWR Binnenmarkt nach Art. 49, 54

2 Vgl. Weller in FS Blaurock, 2013, S. 497, 509 ff., mit der illustrativen Feststellung: ”Eine deutsche GmbH mit Satzungssitz in London ist genauso ausgeschlossen wie eine englische Limited mit registered office in Berlin”; Weller, Sitzverlegung von Gesellschaften in Europa: rechtliche und praktische Probleme, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht, Universität Bonn, Heft Nr. 198, S. 13 ff.; MünchKommAktG/Ego, 4. Aufl. 2017, Europäische Niederlassungsfreiheit, Rz. 61; Verse, ZEuP 2013, 458, 460 Fn. 5; anders dagegen aber wohl Korch/ Thelen, IPRax 2018, 248, 249, wo irriger Weise davon die Rede ist, eine Gesellschaft könne unter Beibehaltung ihrer bisherigen Rechtsform nur ihren Satzungssitz ins Ausland verlegen. 3 BGHZ 97, 269, 272; OLG Frankfurt/M., GmbHR 1999, 1254 m. Anm. Borges; KG, NJW 1989, 3100, 3101; BayObLG, BayObLGZ 1985, 272, 279; MünchKomm.BGB/Kindler, 7. Aufl. 2018, IntGesR, Rz.  456  ff.; MünchKomm.GmbHG/Weller, 3.  Aufl. 2018, Einl. Rz.  321  f.; Sandrock in FS Beitzke, 1979, S. 669, 683; Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S.  28; allg. zur Sitzteorie des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts MünchKomm.BGB/ Kindler, 7. Aufl. 2018, IntGesR, Rz. 420 ff.; Staudinger/Großfeld, 1998, IntGesR, Rz. 750 ff. 4 Staudinger/Großfeld, 1998, IntGesR, Rz. 230 ff.; Koppensteiner, Internationale Unternehmen im deutschen Gesellschaftsrecht, 1971, S. 124. 5 BGH NZG 2000, 926 (Vorlagebeschluss „Überseering“); BGH NJW 1967, 36, 38; MünchKomm.BGB/Kindler, 7. Aufl. 2018, Int­GesR, Rz. 421; Paefgen, WM 2003, 561, 563.

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

AEUV gründenden sog. europarechtlichen Gründungstheorie zum Ausdruck.6 Das Recht der in einem EU- bzw. EWR-Staat gegründeten Gesellschaften, als Gesellschaft des Rechts ihres Gründungsstaats durch Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, hat der EuGH im „Überseering“-Urteil mit aller Deutlichkeit statuiert und im „Inspire Art“-Urteil nochmals bekräftigt.7 Nach dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet die Niederlassungsfreiheit den Mitgliedstaaten die Anerkennung aus einem anderen Mitgliedstaat zuziehender, d.h. ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Inland verlegender ausländischer Gesellschaften telle quelle als Gesellschaften des Rechts ihres Gründungsstaates. Die durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistete Sitzspaltungsfreiheit kommt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur in der Möglichkeit der Verlegung des Verwaltungssitzes vom Gründungsstaat in einen anderen Mitgliedstaat (EuGH-Urteile „Überseering“ und „Inspire Art“) zum Ausdruck, sondern auch in den primärrechtlich geschützten Sitzspaltungsoptionen der grenzüberschreitenden Verschmelzung (EuGH-Urteil „SEVIC“) und des grenzüberschreitenden Formwechsels (EuGH-Urteil „Polbud“).8 d) Das kapitalgesellschaftsrechtliche Sitzspaltungsmodell von § 4a GmbHG und § 5 AktG nach dem MoMiG Bekanntlich hat die Rechtsprechung des EuGH den deutschen Gesetzgeber veranlasst, im Zuge der MoMiG-Reform von 20089 den jeweils zweiten Absatz des §  4a GmbHG a.F. und des § 5 AktG a.F., wo noch ein Gesellschaftssitz am Ort der Verwaltung, der Geschäftsführung oder einer Betriebsstätte der Gesellschaft gefordert wurde, zu streichen.10 Richtig verstanden enthalten § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG versteckte Kollisionsnormen, die der deutschen GmbH und AG die Möglichkeit eröffnen, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter Beibehaltung des durch den 6 Zur Einbeziehung der Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften der EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen nach Art. 31, 34 des EWR-Abkommens in den Schutzbereich des EU-Rechts EuGH Slg. 2003, I-9743, Tz. 28 ff. (Schlössle Weissenberg); BGHZ 178, 192, 196  ff.  – „Trabrennbahn“; OLG Frankfurt, IPRax 2004, 56, 58  ff.; Baudenbacher/Buschle, IPRax 2004, 26 ff. 7 EuGH Slg. 2002, I-9919, Tz. 61 ff., insb. Tz. 70 f., 80 (Überseering) m. Bespr. Paefgen, WM 2003, 561 ff.; EuGH, Slg. 2003, I-10155, Tz. 102 f., 137 ff. (Inspire Art) m. Anm. Paefgen, WuB II N. Art. 43 EG 2.04, S. 122. 8 EuGH, Slg. 2005, I-10805, Tz. 16 ff. (SEVIC); EuGH, WM 2017, 239 ff. (Polbud); näher zu dem sich damit auf der Ebene des primären Unionsrechts entfaltenden Szenario einer dreifaltigen Sitzspaltungsfreiheit Paefgen, WM 2019, 1029, 1030 f. 9 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. 10 Vgl. Begr. RegE MomiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 29: „Durch die Streichung des § 4a Abs. 2 und der älteren Parallelnorm des § 5 Abs. 2 AktG (s. Artikel 5 Nr. 1) soll es deutschen Gesellschaften ermöglicht werden, einen Verwaltungssitz zu wählen, der nicht notwendig mit dem Satzungssitz übereinstimmt. Damit soll der Spielraum deutscher Gesellschaften erhöht werden, ihre Geschäftstätigkeit auch ausschließlich im Rahmen einer (Zweig-)Niederlassung, die alle Geschäftsaktivitäten erfasst, außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets zu entfalten.“ Zur alten Rechtslage siehe Großkomm.GmbHG/Löbbe, 2. Aufl., 2013, § 4a Rz. 2.

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Satzungssitz begründeten deutschen Gesellschaftsstatuts ins Ausland zu verlegen.11 Mit § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG wurde so den deutschen Kapitalgesellschaften dem primären Unionsrecht entsprechend die Option der Aufspaltung von kollisionsrechtlichem Verwaltungssitz einerseits und sachrechtlichem Satzungssitz andererseits eingeräumt. Das Wesensmerkmal dieses Regelungsansatzes ist die Anerkennung zweier unterschiedlicher Arten von Gesellschaftssitzen, die sich jeweils an unterschiedlichen Orten befinden können. Dafür bietet sich die Bezeichnung Sitzspaltungsmodell an. Von dem vorstehend angesprochenen Sitzspaltungsmodell scharf zu unterscheiden ist die Frage nach der Zulässigkeit statutarischer Festlegung eines Doppelsitzes an verschiedenen Orten im Inland. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher Doppelsitz ist zulässig ist, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beurteilt.12 Auf diese Meinungsunterschiede kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. 2. Sitzspaltungsfreiheit auch im Recht der Personenhandelsgesellschaften? Richtet man den Blick auf die Personenhandelsgesellschaften, so gelangt man zu der Frage, ob das vorstehend skizzierte, für die Kapitalgesellschaften geltende Regelungsmodell eines zweidimensionalen Sitzbegriffs auch für die Personenhandelsgesellschaften Geltung beansprucht. Die praktische Relevanz dieser Fragestellung dürfte nicht zuletzt aus der weiten Verbreitung der Rechtsform der GmbH & Co. KG folgen. Nachstehend soll zunächst auf die unions- und kollisionsrechtlichen Aspekte der Fragestellung eigegangen werden. Dabei geht es zuerst um die grundsätzliche Frage, ob den Personenhandelsgesellschaften als solchen überhaupt primärrechtlicher Niederlassungsschutz nach Art. 49, 54 AEUV zukommt (unten II.). Sodann gilt es, sich Klarheit über den Begriff des Gesellschaftssitzes iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu verschaffen. Allgemein gefasst lautet die Fragestellung hier, ob es sich dabei – vergleichbar dem Satzungssitz der Kapitalgesellschaft (vgl. vorstehend I.1.a)) – um den gesellschaftsvertraglich zu bestimmenden Sitz der Personengesellschaft handelt, den es vom Gesellschaftssitz iSd der kollisionsrechtlichen Sitztheorie zu unterscheiden gilt (unten III.). 11 Vgl. Hoffmann, ZIP 2007, 1581, 1586, 1589; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 62; Goette, DStR 2009, 128; Paefgen, WM 2009, 529, 530 f.; Lutter/Hommelhoff/Bayer, 19. Aufl. 2016, § 4a Rz. 15; sinngleich auch Hüffer/Koch, AktG, 9. Aufl., 2018, § 5 Rz. 3 („kollisionsrechtliches Neuland“); a.A. KölnKomm.AktG/Dauner-Lieb, 3. Aufl. 2010, § 5 AktG Rz. 28 (lediglich Sachnorm); Kindler in Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009, S. 246 ff.; Kindler, IPRax 2009, 189, 197: Anwendbarkeit nur bei Rückverweisung auf deutsches Recht durch Gründungstheoriestaat. 12 Abl. Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 4a Rz. 6 („Die Gesellschaft hat nur einen Sitz“); weniger rigide Lutter/Hommelhoff/Bayer, 19. Aufl. 2016, § 4a GmbHG Rz. 6, der aus der Verwendung der Singularform im Wortlaut von § 4a GmbHG und § 5 AktG („der Ort“) die grundsätzliche Unzulässigkeit ableiten, doch aber Ausnahmen zulassen will; für Zulässigkeit in Ausnahmefällen aus aktienrechtlicher Sicht Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 5 Rz. 10 mit guter Übersicht zum sehr differenzierten Meinungsspektrum in Rechtsprechung und Literatur.

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

Kollisionsrechtlich stellt sich dann die Frage, ob §  106 Abs.  2 Nr.  2 HGB wie §  4a GmbHG und § 5 AktG (vgl. oben I.1.d)) eine versteckte Kollisionsnorm zugunsten der grenzüberschreitenden Mobilität von OHG und KG (§ 162 Abs. 1 S. 1 HGB) iS der europarechtlichen Gründungstheorie entnehmen lässt (unten IV.). Folgefragen betreffen sodann die Zulässigkeit der Verlegung des gesellschaftsvertraglichen Sitzes ins Ausland (V.) und die Bedeutung des Gesellschaftssitzes iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB für die internationale Gerichtszuständigkeit (VI.). Die Ergebnisse der vorstehend avisierten Prüfungen sind zum Schluss des Beitrags kurz zusammenzufassen (VII.). Die hier vorgelegte Studie zum Sitzbegriff im Recht der Personenhandelsgesellschaften ist Eberhard Vetter, dem hochgeschätzten rheinischen Landsmann des Verf. zum 70. Geburtstag zugeeignet, verbunden mit dem Wunsch, dass Vetters ganz in der ­Tradition seines großen akademischen Lehrmeisters Herbert Wiedemann stets mit bewundernswerter Akribie ausgearbeiteten Beiträge zur Wissenschaft vom Gesellschaftsrecht die Fachdiskussion in der gesellschaftsrechtlichen community noch lange in gewohnter Weise befruchten mögen.

II. Niederlassungsschutz der Personenhandelsgesellschaften Bei der GmbH und der Aktiengesellschaft beruht die Möglichkeit der Spaltung des Gesellschaftssitzes in der Form eines deutschen Satzungssitzes (§  4a GmbHG, §  5 AktG) und eines in einem anderen Mitgliedstaat befindlichen tatsächlichen Verwaltungssitzes im kollisionsrechtlichen Sinne auf der primärrechtlichen Prämisse der durch Art. 49, 54 AEUV geschützten Niederlassungsfreiheit deutscher Kapitalgesellschaften im europäischen Binnenmarkt (vgl. oben I.1.c)). Der unionsrechtliche Niederlassungsschutz kommt aber nicht nur den Kapitalgesellschaften zugute, sondern auch den Personengesellschaften einschließlich der den Gegenstand dieser Abhandlung bildenden Personenhandelsgesellschaften.13 Dies gilt trotz des insoweit unklaren Wortlauts des Art. 54 Satz 2 AEUV, der von „Gesellschaften“ und „sonstigen juristischen Personen“ spricht.14 Im „Überseering“-Urteil bezieht der EuGH sich durchweg auf die Frage der Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Gesellschaften als die durch

13 MünchKomm.BGB/Kindler, 7. Aufl. 2018, IntGesR, Rz. 282 ff.; Heidel/Schall, HGB, 2. Aufl. 2015, Anh Int. PersGR, Rz.  71; Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38.  Aufl. 2018, Einl. vor § 105 HGB Rz. 29; Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, §  60 Rz.; I-4887  ff.; Paefgen, WM 2019, 1029, 1032; Paefgen, WM 2003, 561, 565 f.; Wiedemann, GesR II, 2004, S. 60 f.; Koch, ZHR 173 (2009), 101, 112 f.; Saenger in FS Pöllath + Partner, 2008, S. 295, 296 f.; monografisch Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S.  78  ff.; Lechner, Das Schicksal der europäischen Personengesellschaften im Zeitalter der Niederlassungsfreiheit, Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Einfluss der Niederlassungsfreiheit auf die kollisionsrechtliche Behandlung der Personengesellschaften, 2014, S. 13 ff., 50 ff. 14 Korte in Callies/Ruffert/Bröhmer, EUV/EGV, 5. Aufl. 2016, Art. 54 AEUV Rz. 4 („Rechtsgrundverweis auf das Gesellschaftsrecht im Gründungsstaat“); Paefgen, WM 2009, 529, 531; Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 933.

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den unionsrechtlichen Niederlassungsschutz aufgeworfene Rechtsfrage.15 Darum geht es aber gerade auch bei den Personenhandelsgesellschaften (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB). Nicht zuletzt ergibt sich die Erstreckung des unionsrechtlichen Schutzes der Niederlassungsfreiheit auf die rechtsfähigen Personengesellschaften auch deutlich daraus, dass der EuGH im Fall „Cartesio“, wo es sich um die Verlegung des Verwaltungssitzes einer ungarischen KG (betéti társaság) von Ungarn nach Italien handelte, ohne weiteres von der Geltung der Niederlassungsfreiheit ausging.16 Der Niederlassungsschutz der Personenhandelsgesellschaften umfasst das gesamte dreidimensionale Spektrum der primärrechtlich gewährleisteten Sitzspaltungsfreiheit der in einem Mitgliedstaat geründeten Gesellschaften von der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat über die grenzüberschreitende Verschmelzung bis zum grenzüberschreitenden Formwechsel.17 Dabei ist zu beachten, dass der unionsrechtliche Niederlassungsschutz auch dann zum Tragen kommt, wenn bereits zum Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung der effektive Verwaltungssitz einer deutschen OHG oder KG im europäischen Ausland angesiedelt wird. Denn der Niederlassungsschutz bezieht sich auf den durch die Trennung von tatsächlichem Verwaltungssitz und Satzungssitz begründeten grenzüberschreitenden Zustand, nicht dagegen auf das Vorliegen einer tatsächlichen Mobilitätskomponente.18

III. Der gesellschaftsvertragliche Sitz von OHG und KG iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB 1. Unionsrechtlicher Niederlassungsschutz In der obergerichtlichen Rspr. nach der MoMiG-Reform 2008 und in der ganz überwiegenden Kommentarliteratur wird der „Ort, an dem die Gesellschaft ihren Sitz hat“ iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als der Ort der Hauptverwaltung definiert.19 Legt man 15 EuGH, Slg. 2002, I-9919, Tz. 22 f., 26, 36, 46 f., 61 f., 73, 82, 93 ff. (Überseering). 16 EuGH, Slg. 2008, I-9641, Tz. 99 ff. (Cartesio); dazu Paefgen, WM 2009, 529, 531;Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, §  60 Rz. I-4889; Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S. 79. 17 Ausführlich dazu Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4883 ff. (Verlegung des Verwaltungssitzes), Rz. I-4950 ff. (Verschmelzung) und Rz. I-4982 ff. (Formwechsel). 18 OLG Zweibrücken NZG 2003, 537, 538; Schön, ZGR 2013, 333, 352 f.; Verse, ZEUP 2013, 458, 473; Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2243 f.; Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 926, 929; Weller, IPRax 2003, 324, 327; Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4885; a.A. Kindler, EuZW 2012, 888, 890; Teichmann, DB 2012, 2087; G. Roth, ZIP 2012, 1744 f.; W.-H. Roth, IPRax 2003, 117, 126; Kieninger, ZGR 1999, 724, 728 ff. 19 KG, ZIP 2012, 1668 f. („Sitz stets am Ort der faktischen Geschäftsleitung“); KG, NZG 2012, 1346, 1347 („Sitz der tatsächlichen Hauptverwaltung also der Geschäftsführung“); MünchKomm.HGB/Langheim, 4. Aufl., 2016, § 106 Rz. 26 („Ort der Hauptverwaltung“); Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl., 2014, § 106 Rz. 14 („Ort, von dem aus tatsächlich die Geschäfte geleitet werden und an dem sich der Schwerpunkt der unternehmerischen Betätigung befindet“); Henssler/Strohn/Steitz, GesR, 4.  Aufl., 2019, §  106 HGB

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

diese Interpretation zugrunde, müsste der mit dem gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB beim Handelsregister anzumeldenden Gesellschaftssitz identische Ort der Hauptverwaltung einer deutschen OHG oder KG stets im Inland liegen. Teile des Schrifttums beziehen sich zur Begründung dieser Auffassung auf zwei ältere BGH-Urteile aus einer Zeit lange vor der MoMiG-Reform 2004.20 Der Verf. ist der Ansicht, dass diesen Urteilen nach der aktuellen, durch das MoMiG geprägten Rechtslage keine Bedeutung mehr zukommt. Vielmehr liegt es auf der Hand, dass die Auffassung der h. M. mit dem primärrechtlichen Schutz der Niederlassungsfreiheit von OHG und KG im europäischen Binnenmarkt nach Art. 49, 54 AEUV und der darauf gründenden Sitzspaltungsfreiheit (vgl. oben I.1.c)) und II.) nicht zu vereinbaren ist. Richtig erscheint es, mit einer im Vordringen begriffenen Meinung, den Gesellschaftssitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB nach dem Vorbild des Satzungssitzes der Kapitalgesellschaft (vgl. oben I.1.a) und c)) und im Einklang mit der üblichen Terminologie des Personengesellschaftsrechts als gesellschaftsvertraglichen Sitz der OHG und der KG zu definieren, von dem der allein kollisionsrechtlich relevante tatsächliche Verwaltungssitz (vgl. zu den Kapitalgesellschaften oben I.1.b)) sorgfältig zu unterscheiden ist.21 Es zeigt sich somit, dass § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB für die Personenhandelsgesellschaften einem Regelungsansatz folgt, der dem für die Kapitalgesellschaften nach § 4a GmbHG, § 5 AktG geltenden Sitzspaltungsmodell (vgl. oben I.1.d)) durchaus vergleichbar ist. Wie bei den Kapitalgesellschaften ist auch bei den Personenhandelsgesellschafen diese Form der grenzüberschreitenden Sitzspaltung sorgfältig von der allgemein ablehRz. 13 („der tatsächliche Verwaltungssitz, d.h. der Ort, von dem aus die Geschäfte der Gesellschaft faktisch geleitet werden bzw. – sofern dies auf mehrere Orte zutrifft – der Ort der Hauptverwaltung“); Kindler in Koller/Kindler/Roth/Morck, HGB, 8.  Aufl., 2015, §  106 Rz. 2 („Ort der tatsächlichen Verwaltung“); BeckOK.HGB/Klimke, § 106 Rz. 21 („Anschrift der Geschäftsräume …, in denen die faktische Geschäftsleitung stattfindet“); Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 106 Rz. 8 (Ort der Geschäftsführung Sitz auch bei ab­ weichender Vertragsbestimmung und Eintragung); Krafka/Kühn, Registerrecht, 10. Aufl., 2017, Rz.  607 („Ort der tatsächlichen Geschäftsführung“) und 641; Fleischhauer/Preuß, Handelsregisterrecht, 3.  Aufl., 2014, Rz.  68 („Ort der tatsächlichen Geschäftsführung“; Melchior, GmbHR 2013, 853, 855 f.; J. Heinemann, FGPrax 2012, 173; Jaensch, EWS 2007, 97, 99; offen gelassen von OLG Schleswig, GmbHR 2012, 802. 20 BGH WM 1957, 999, 1000; BGH BB 1969, 329 (JurionRS 1969, 1572); auf diese Urteile bezugnehmend Born, Roth, Steitz, jeweils a.a.O., vorige Fn. 21 Vgl. BayObLG, ZIP 2004, 806, 808; österr. OGH, NZG 1998, 504 f.; Haas in Röhricht/Graf v. Westphalen, HGB, 4. Aufl., 2014, § 106 Rz. 10; Habersack/Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Neubearb. Aufl., 2018, § 116 Rz. 19; Roth in Baumbach/Hopt, 38. Aufl. 2018, § 106 HGB Rz. 8; Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4895; W.-H. Roth, ZGR 2014, 168, 197 f.; Koch, ZHR 173 (2009), 101 ff.; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 548; Fingerhuth/Rumpf, IPRax 2008, 90, 93 f.; Pluskat, WM 2004, 601, 608  f.; Trautrims, Das Kollisionsrecht der Personengesellschaften, 2009, S. 180 ff.; Lechner, Das Schicksal der europäischen Personengesellschaften im Zeitalter der Niederlassungsfreiheit, Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Einfluss der Niederlassungsfreiheit auf die kollisionsrechtliche Behandlung der Personengesellschaften, 2014, S. 78, 81 („neues Sitzverständnis“ geboten); anders dagegen Saenger in FS Pöllath + Partner, 2008, S. 295, 302 (Personengesellschaft verfügt über keinen statutarischen Sitz).

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nend beschiedenen Frage nach der Vereinbarkeit eines inländischen Doppelsitzes der deutschen OHG bzw. KG mit § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu unterscheiden.22 2. Abkommensrechtlicher Niederlassungsschutz In einer Reihe von Staatsverträgen wie insbesondere Art. XXV Abs.  5 Satz  2 des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika v. 29.10.195423 wird wechselseitig die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften des jeweils anderen Vertragsstaates im Inland gewährleistet. Dieser staatsvertragliche Niederlassungsschutz kommt auch deutschen Personengesellschaften wie der OHG und der KG zugute.24 Das hat der BGH in mehreren Urteilen ausdrücklich bestätigt.25 Der II. Zivilsenat des BGH hat dazu ausgeführt, für den bilateralen Abkommensschutz habe Ähnliches zu gelten wie im Bereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 und 54 AEUV.26 In Anbetracht diese Gleichlaufs von unionsrechtlichem und abkommensrechtlichem Niederlassungsschutz und muss das Sitzspaltungsmodell des § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB (vgl. vorstehend II.1.) auch bei der Ansiedlung des Verwaltungssitzes einer deutschen Personenhandelsgesellschaft in einem Staat zur Geltung kommen, der den deutschen Gesellschaften staatsvertraglichen Niederlassungsschutz gewährt, wie etwa einer deutschen KG, deren Geschäftsführung in Florida angesiedelt ist. 3. Kein gesetzgeberischer Korrekturbedarf Der von Teilen des Schrifttums für die Personenhandelsgesellschaften zwecks Gleichschaltung mit der durch das MoMiG geänderten Rechtslage bei der GmbH und der AG (oben I.1.d)) geforderten gesetzgeberischen Korrektur bedarf es nach Ansicht des Verf. nicht.27 Dass der MoMiG-Gesetzgeber mit § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB das mit der Neufassung von § 4a GmbHG und § 5 AktG für die Kapitalgesellschaften festgeschriebene Sitzspaltungsmodell auch für die OHG und die KG absichern wollte, folgt bereits deutlich daraus, dass nach § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB die Anmeldung der Gesell22 Zur Unzulässigkeit des Doppelsitzes nach § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB Born in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl., 2014, § 106 Rz. 14 („Die OHG [KG] kann nur einen Sitz haben.“) und Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 106 Rz. 9, jeweils m.w.Nachw. zur einhelligen Meinung im Schrifttum; zum diesbezüglichen Meinungsstreit betreffend die Kapitalgesellschaften oben I.1.d) bei Fn.12. 23 BGBl. II 1956, 487. 24 MünchKomm.BGB/Kindler, 7. Aufl. 2018, IntGesR, Rz. 334; Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4899. 25 BGHZ 153, 353, 356 f. m. Bespr. Paefgen, DZWIR 2003, 441 ff.; BGH ZIP 2004, 1549, 1550 m. Anm. Paefgen, EWiR § 128 HGB 1/04, S. 919 f.; BGH BB 2004, 2595 f. – „GEDIOS“ m. Anm. Goette, DStR 2004, 2114 f. 26 BGH ZIP 2004, 1549, 1550 („Insofern gilt hier ähnliches wie im Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit gem. Art. 43 und 48 EGV“). 27 Eine solche Korrektur fordernd MünchKomm.HGB/Langheim, 4. Aufl., 2016, § 106 Rz. 28; Roth in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 106 Rz. 8; Fleischhauer/Preuß, Handelsregisterrecht, 3. Aufl., 2014, Rz. 69; Wicke, DNotZ 2017, 261, 272; Leitzen, NZG 2009, 728.

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

schaft zum Handelsregister die inländische Geschäftsanschrift enthalten muss. Mit dieser mit § 8 Abs. 4 Nr. 1 GmbHG und § 37 Abs. 3 Nr. 1 AktG idF des MoMiG koinzidierenden Regelung wollte der Gesetzgeber die Erreichbarkeit und Zustellungsbereitschaft solcher Personenhandelsgesellschaften sicherstellen, deren Verwaltungssitz nicht an dem in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB angesprochen deutschen Registersitz der Personenhandelsgesellschaft liegt. Müsste der zwingend inländische Gesellschaftssitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB (näher dazu unten V.) stets mit dem Verwaltungssitz der Gesellschaft zusammenfallen, wäre diese Regelung obsolet.28

IV. § 106 Abs.  2 Nr. 2 HGB als versteckte Kollisionsnorm 1. Sitzspaltung im europäischen Binnenmarkt Liegt, wie vorstehend unter II. und III. ausgeführt wurde, der Regelung des Sitzes der OHG und der KG nach §§ 106 Abs. 2 Nr. 2, 162 Abs. 1 S. 1 HGB das gleiche Sitzspaltungsmodell wie § 4a GmbHG und § 5 AktG idF des MoMiG zugrunde, so ist in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB genauso eine im Gesellschaftssachrecht versteckte, die europarechtliche Gründungstheorie in das deutsche Kollisionsrecht der Personenhandelsgesellschaften einbettende Kollisionsnorm zu erkennen, wie dies im Hinblick auf §  4a ­GmbHG und § 5 AktG für die Kapitalgesellschaften zutrifft (vgl. oben I.1.d)). Für die damit einhergehende Untermauerung der unionsrechtlich geschützten Niederlassungsfreiheit der im europäischen Binnenmarkt tätigen deutschen OHGs und KGs (vgl. oben II.) spricht nicht zuletzt, dass die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter bei den Personenhandelsgesellschaften als idealtypisch gestaltungsoffenen Gesellschaftsformen (§§ 109, 163 HGB) gerade auch, was die Wahl des Gesellschaftsstatuts anbetrifft, nicht hinter der Gestaltungsfreiheit bei den Kapitalgesellschaften zurückbleiben sollte.29

28 Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 49 mit Verweis auf S. 35 f., wo es mit Bezug auf die Parallelregelung zur inländischen Geschäftsanschrift in §  8 Abs.  4 GmbHG heißt: „In der Regel wird die angegebene Geschäftsanschrift mit der Anschrift des Geschäftslokals, dem Sitz der Hauptverwaltung oder des maßgeblichen Betriebes übereinstimmen. Besitzt die Gesellschaft solche Einrichtungen nicht oder nicht mehr, wird eine andere Anschrift als „Geschäftsanschrift“ angegeben werden müssen. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn die Gesellschaft ihren Verwaltungssitz über eine Zweigniederlassung im Ausland hat.“ Instruktiv dazu auch Krafka/Kühn, Registerrecht, 10.  Aufl., 2017, Rz.  340a: „durchaus denkbar, dass die … Lage der Geschäftsräume in Paris (Frankreich), der regis­ trierte Satzungssitz in Bremen und die im Register eingetragene … inländische Geschäftsanschrift in … Berlin … liegt.“ 29 Vgl. Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4896 (so bereits schon seit 2010); sowie erfreulich deutlich nunmehr auch Oetker/Lieder, HGB, 5. Aufl. 2017, § 106 Rz. 23: „Mit Blick auf die durch das MoMiG bewerkstelligte Entkopplung von Verwaltungs- und Satzungssitz bei Kapitalgesellschaften ist eine deutlich strengere Handhabung für Personengesellschaften schwerlich zu rechtfertigen. Das gilt umso mehr mit Blick auf das hohe Maß an Gestaltungsfreiheit, das Personengesellschaften nach dem gesetzlichen Regelungssystem der §§ 105 ff. zuteil wird“.

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2. Keine Sitzspaltung über die Grenzen des europäischen Binnenmarkts und staatsvertraglichen Niederlassungsschutzes hinaus Von der Fallkonstellation einer nach § 106 HGB im deutschen Handelsregister eingetragenen Personenhandelsgesellschaft mit tatsächlichem Verwaltungssitz im EU/ EWR-­Ausland (vorstehend III. 1.) oder einem Land, das bilateralen Abkommensschutz gewährt (vorstehend III. 2.) zu unterscheiden ist die Frage, ob eine OHG oder KG mit tatsächlichem Verwaltungssitz außerhalb des europäischen Binnenmarktes und staatsvertraglichen Abkommensschutzes (etwa Schweiz, Kanada, Bahamas, Belize oder Brasilien) mit deutschem gesellschaftsvertraglichem Sitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB im deutschen Handelsregister eingetragen werden kann. Hier ist zu berücksichtigen, dass den in § 4a GmbHG, § 5 AktG und nach hier vertretener Ansicht auch in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB (vorstehend IV.1.) enthaltenen versteckten Kollisionsnormen nicht der Übergang zur Gründungstheorie nach unionsrechtlichem Muster als universaler Anknüpfungsregel des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts entnommen werden kann.30 Vielmehr gilt für die außerhalb des Niederlassungsschutzes angesiedelten Auslandsgesellschaften die Sitztheorie des autonomen deutschen Gesellschaftskollisionsrechts, nach der Gesellschaftsstatut das Recht des ausländischen Verwaltungssitzes ist.31 Im Gegensatz zu Personenhandelsgesellschaften mit unionsrechtlichem bzw. staatsvertraglichem Niederlassungsschutz können solche niederlassungsrechtlich ex­ traterritorialen Auslandsgesellschaften von vornherein nicht gemäß §§  106 Abs.  2 Nr. 2, 162 Abs. 1 S. 1 HGB als deutsche OHG oder KG im deutschen Handelsregister eingetragen werden.

V. § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB als Sitzverlegungsverbot Ein Beschluss über die Verlegung des gesellschaftsvertraglichen Sitzes einer deutschen Personenhandelsgesellschaft ins Ausland ist nichtig. Sub specie des Kapitalgesellschaftsrechts gilt dies für Verstöße gegen das Gebot des Inlandssitzes gemäß § 4a GmbHG, § 5 AktG.32 Ein solcher Beschluss darf in das Handelsregister nicht eingetragen werden.33 Entsprechendes muss auch für einen Beschluss über die Verlegung des 30 Vgl. Paefgen, WM 2009, 529, 531 (zu § 4a GmbHG und § 5 AktG); a.A. Hoffmann, ZIP 2007, 1581, 1584 ff. 31 BGHZ 178, 192, 196 ff. – „Trabrennbahn“; BGHZ 151, 204, 206 ff. – „Jersey Company“; BGHZ 97, 269, 271 f.; BGHZ 78, 318, 322, 334; BGHZ 53, 181, 183; BGHZ 25, 134, 144; MünchKomm.BGB/Kindler, 7. Aufl. 2018, IntGesR, Rz. 420 ff., 455 ff.; Leible in Michalski/ Leible/Heidinger/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, Syst. Darst. 2 Rz. 4 ff.; Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4874. 32 Zu § 4a GmbHG BGH ZIP 2008, 1627, 1628; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 4a Rz. 7; MünchKomm.GmbHG/Heinze, 3. Aufl. 2018, § 4a GmbHG Rz. 87; Lutter/ Hommelhoff/Bayer, 19. Aufl. 2016, § 4a GmbHG Rz. 19; zu § 5 AktG Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 5 Rz. 9; für Auflösung der Gesellschaft dagegen OLG Hamm, NJW 2001, 2183 f.; OLG Düsseldorf, BB 2001, 901 f. 33 BGH ZIP 2008, 1627, 1628; BayObLG, ZIP 2004, 806 f.; dazu auch LG Leipzig, AG 2004, 459; sowie Schrifttumsnachw. vorstehende Fn.

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

gesellschaftsvertraglichen Sitzes iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB ins Ausland gelten. Denn ohne einen inländischen Registersitz, der die Zugehörigkeit zur deutschen Rechtsordnung gebührend dokumentiert, würde eine deutsche Personenhandelsgesellschaft rechtlich gewissermaßen „in der Luft hängen“.34 Erfolgt die Eintragung dennoch in unzulässiger Weise, droht Amtslöschung nach § 395 FamFG.35 Von der vorstehend angesprochenen unzulässigen Bestimmung eines ausländischen Sitzes der deutschen Personenhandelsgesellschaft iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu unterscheiden ist allerdings die Verlegung des gesellschaftsvertraglichen Sitzes einer deutschen Personenhandelsgesellschaft im Wege des grenzüberschreitenden Formwechsels, der wesensgemäß zur Änderung des Gesellschaftsstatuts führt. Im Urteil „Polbud“ hat der EuGH einen solchen grenzüberschreitenden Formwechsel dem Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV unterstellt.36 Das gilt auch für deutsche Personengesellschaften in den Rechtsformen der OHG oder der KG.37

VI. Internationalverfahrensrechtliche Aspekte 1. Satzungsmäßiger Sitz iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO Aus der Sicht des Internationalen Zivilprozessrechts kommt dem vorstehend herausgearbeiteten, der für die Kapitalgesellschaften geltenden Rechtslage vergleichbaren Sitzspaltungsmodell Bedeutung für das Verständnis des die internationale Zustän­ digkeit begründenden satzungsmäßigen Sitzes der Personenhandelsgesellschaft iSv Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO zu. Hier gilt es, sich zu verdeutlichen, dass der satzungsmäßige Sitz im internationalverfahrensrechtlichen Sinne der vom tatsächlichen Verwaltungssitz zu unterscheidende gesellschaftsvertragliche Sitz der OHG und KG ist, so wie er entsprechend den vorstehenden Ausführungen zu § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu verstehen ist (vgl. oben III.). Ganz im Einklang damit hat der VI. Zivilsenat des BGH in einem neueren Urteil, in dem es um die Klage gegen eine deutsche GmbHG mit Verwaltungssitz in Italien ging, ausgeführt, dass der Begriff des Satzungssitzes iSv 34 Vgl. dazu das Zitat von Weller zum Gesellschaftssitz der Kapitalgesellschaften, a.a.O. (Fn. 2). 35 MünchKomm.FamFG/Krafka, 2. Aufl., 2013, § 395 Rz. 11 (Eintragung zu löschen, wenn sie die materielle Rechtslage unzutreffend darstellt); Holzer in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., 2018, § 395 Rz. 9; Haußleiter/Schemann, FamFG, 2. Aufl., 2017, § 395 Rz. 11; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1999, 1052, 1053; OLG Zweibrücken, ZIP 1989, 241, 242; entsprechend zu § 399 Abs. 4 Alt. 2 FamFG bei der GmbH BGH ZIP 2008, 1627, 1628. 36 EuGH, WM 2017, 239, Rz. 29 ff. 41 (Polbud); dazu die ausführliche Besprechung von Paefgen, WM 2019, 981 ff., 1029 ff.; besonders deutlich zu der mit dem grenzüberschreitenden Formwechsel einhergehenden isolierten Satzungssitzverlegung das „Polbud“-Urteil in Rz. 41, wo es heißt, es könne „allein der Umstand, dass Polbud beschlossen ha[be], nur ihren satzungsmäßigen Sitz nach Luxemburg zu verlegen, und ihr tatsächlicher Sitz von dieser Verlegung unberührt bleib[be], nicht dazu führen, dass diese Verlegung nicht in den Anwendungsbereich der Art. 49 und 54 AEUV fall[e].“ 37 Ausführlich zum grenzüberschreitenden Formwechsel von Personengesellschaften auf der Grundlage des unionsrechtlichen Niederlassungsschutzes Paefgen in Westermann/Wertenbruch, Handbuch der Personengesellschaften, Stand 2019, § 60 Rz. I-4982 ff.

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Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO keine Verwaltungs- oder Geschäftstätigkeit am Ort des Satzungssitzes der GmbH und generell keinen über den Registertatbestand hinausgehenden realwirtschaftlichen Bezug zum Registerstaat erfordere.38 Gleiches muss nach dem vorstehend im Einzelnen erläuterten personengesellschaftsrechtlichen Sitzspaltungsmodell auch für die OHG und die KG mit Verwaltungssitz im europäischen Ausland gelten.39 International zuständigkeitsbegründende Bedeutung kommt hier allein dem Gesellschaftssitz nach § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB zu, der, wie vorstehend ausgeführt wurde, vom Ort der tatsächlichen Verwaltung zu unterscheiden ist und keinerlei realwirtschaftlichen Bezug zum Staat der Registeranmeldung voraussetzt (vgl. oben III.). 2. Der Gesellschaftssitz iSv Art. 24 Nr. 2 EuGVVO Den für die Begründung der internationalen Zuständigkeit in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten maßgeblichen Begriff des Gesellschaftssitzes iSv Art. 24 Nr.  2 EuGVVO (vormals Art. 22 Nr. 2) hat der II. Zivilsenat des BGH unter Berufung auf die europarechtliche Gründungstheorie (vgl. oben I.1.c)) als den Satzungssitz im Herkunftsland der Gesellschaft definiert, wobei es auf einen realwirtschaftlichen Bezug zum Gründungsstaat nicht ankomme.40 Für die deutsche OHG und KG folgt daraus die Maßgeblichkeit des Sitzbegriffs von § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB, der weder einen Verwaltungssitz im Registerstaat noch grundsätzlich auch sonst irgendeinen realwirtschaftlichen Bezug zu diesem Staat voraussetzt (vgl. oben III.).

VII. Zusammenfassung Als Kernthese dieser kurzen Studie zum Gesellschaftssitz der Personenhandelsgesellschaft ist festzuhalten, dass der in §  106 Abs.  2 Nr.  2 HGB angesprochene Sitz der Personenhandelsgesellschaft entgegen der wohl noch h.M. nicht als Ort der Verwaltung, der faktischen Geschäftsleitung oder des Schwerpunktes der unternehmerischen Betätigung der OHG oder KG zu verstehen ist. Vielmehr handelt es sich dabei um den vom tatsächlichen Verwaltungssitz iS der Sitztheorie des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts zu unterscheidenden, von den Gesellschaftern für die Anmeldung der Gesellschaft nach § 106 HGB zu bestimmenden und in diesem Sinne gesellschaftsvertraglichen Registersitz, ganz so wie dies § 4a GmbHG und § 5 AktG für den Satzungssitz der GmbH und der Aktiengesellschaft vorschreiben. Die Unterscheidung dieses gesellschaftsvertraglichen Sitzes vom kollisionsrechtlichen Sitzbegriff findet ihre Grundlage in der auf der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV und dieser vergleichbaren völkerrechtsvertraglichen Abkommensschutzregelungen fußenden unionsrechtlichen bzw. staatsvertraglichen Gründungstheorie, die es zulässt, den tatsächlichen Verwaltungssitz einer unions- bzw. abkommensrechtlich geschütz38 BGH NJW 2018, 290, 291, m. Anm. Rüdiger, GmbHR 2018, 375 f., Werner, GmbHR 2018, 372 und Schwetlik, GmbH.StB 2018, 145 ff. 39 Vgl. Ringe, IPRax 2007, 388, 389 („satzungsmäßiger Sitz“ ist nach allgemeiner Auffassung derjenige Sitz, der im Gesellschaftsvertrag genannt ist). 40 BGH NZG 2011, 1114, 1116 f.

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Der Sitz der Personenhandelsgesellschaft (§ 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB)

ten Gesellschaft in einen anderen Staat als den Gründungsstaat zu legen. Dementsprechend ist in § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB genauso wie in § 4a GmbHG und § 5 AktG eine versteckte Kollisionsnorm zu erkennen, die die Aufspaltung des Gesellschaftssitzes auf zwei unterschiedliche Staaten zulässt (unions- bzw. abkommensrechtliches Sitzspaltungsmodell). Die Bestimmung eines ausländischen Gesellschaftssitzes iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB für eine in Deutschland zum Handelsregister anzumeldende Personenhandelsgesellschaft ist unzulässig. Davon zu unterscheiden ist allerdings der durch das „Polbud“-Urteil des EuGH unionsrechtlich abgesicherte, mit dem Wechsel in ein ausländisches Gesellschaftstaut einhergehende grenzüberschreitende Formwechsel. Internationalverfahrensrechtlich kommt dem entsprechend den hier angestellten Überlegungen als Registersitz verstandenen Gesellschaftssitz iSv § 106 Abs. 2 Nr. 2 HGB Bedeutung für die Bestimmung der internationalen Gerichtszuständigkeit gemäß Art. 24 Nr. 2 und Art. 63 Abs. 1 lit. a EuGVVO zu.

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Zur Rechtsstellung des Aufsichtsrats in der Eigenverwaltung Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Grundsätzliche Rechtsstellung des Schuldners in der Eigenverwaltung III. Einschränkungen durch die Zuständigkeiten des Sachwalters und der Gläubiger 1. Aufsicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Sachwalters a) Aufsicht des Sachwalters b) Begrenzung der Schuldnerbefugnisse durch besondere insolvenzrechtliche Zuständigkeiten des Sachwalters 2. Begrenzung der Schuldnerbefugnisse durch die Gläubigerzuständigkeit 3. Folgen eines Verstoßes gegen Verhaltens­ obliegenheiten des Schuldners 4. Folgerungen für die Einordnung der Rechtsstellung des Schuldners in der ­Eigenverwaltung IV. Die Aktiengesellschaft als Schuldner in der Eigenverwaltung 1. Überlagerung des Verbandszwecks 2. Auswirkungen auf die aktienrechtliche Organisationsverfassung 3. Besondere aktienrechtliche Befugnisse des Sachwalters V. Rechtsstellung des Aufsichtsrats 1. Kein Einfluss auf die Geschäftsführung 2. Begrenzung auf die Verwaltung und die Verwertung der Insolvenzmasse

3. Folgerungen für Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Hauptversammlung 4. Keine Geltung von Zustimmungs­ vorbehalten 5. Suspendierung der Kontrollaufgaben, auch kein Zugriff auf organisatorisch nachgeordnete Stellen 6. Keine Beratungspflicht 7. Haftungsrechtliche Folgerungen 8. Verbleibende Bestellungs- und ­Abberufungskompetenz a) Grundsatz b) Zustimmung des Sachwalters als Wirksamkeitserfordernis 9. Mitwirkung des Sachwalters bei der ­Kündigung des Vorstandsanstellungs­ vertrags? a) Streitstand b) Stellungnahme 10. Vertretung der Aktiengesellschaft im Rechtsstreit mit einem Vorstandsmitglied 11. Vertretungsbefugnis bei Vertrags­ abschlüssen als Annexbefugnis des ­Aufsichtsrats a) Keine gesellschaftsrechtlichen ­Bedenken b) Keine insolvenzrechtlichen Bedenken 12. Vom Aufsichtsrat verursachte Kosten als Masseverbindlichkeiten VI. Zusammenfassung der wichtigsten ­Ergebnisse

Die hauptsächliche Aufgabe des Aufsichtsrats bei der werbenden Aktiengesellschaft ist die Kontrolle und die Beratung des Vorstands. In diesem Rahmen besitzt der Aufsichtsrat gewisse Einflussmöglichkeiten, auch wenn dem Vorstand gesetzlich die eigenverantwortliche Leitung der Aktiengesellschaft zugewiesen ist. In der Eigenverwaltung ist der Aufsichtsrat nach den insolvenzrechtlichen Vorgaben ausdrücklich von dem Einfluss auf die Geschäftsführung ausgeschlossen. Ungeachtet dessen bleibt  – wie auch in der Fremdverwaltung – seine Zuständigkeit für die Abberufung und Neubestellung der Vorstandsmitglieder grundsätzlich unberührt. Anders als in der Fremdverwaltung sind seine Maßnahmen insoweit jedoch nur wirksam, wenn der Sachwal541

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ter zustimmt. Einigen Fragen zu der damit umrissenen Rechtsstellung des Aufsichtsrats in der Eigenverwaltung soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierzu sollen nach einer kurzen Vorbemerkung zur Eigenverwaltung (unter I.) zunächst die grundsätzliche Ausgestaltung der Rechtsstellung des Schuldners sowie die in diesem Zusammenhang bestehenden Einschränkungen durch die Zuständigkeiten des Sachwalters und der Gläubiger dargestellt werden (nachstehend unter II. und III.). Im Anschluss hieran wird (unter IV.) auf die Aktiengesellschaft als Schuldner in der Eigenverwaltung eingegangen und sodann werden (unter V.) verschiedene Aspekte der Rechtsstellung des Aufsichtsrats in der Eigenverwaltung näher untersucht. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (unter VI.) schließt den Beitrag ab. Der Jubilar ist bekanntermaßen als Kenner des Aufsichtsratsrechts ausgewiesen.1 Der Verfasser hofft deshalb, mit diesem Thema des dem Jubilar in Freundschaft zugeeigneten Beitrags auf sein Interesse zu stoßen.

I. Vorbemerkung Während der Erste Bericht der Kommission für Insolvenzrecht zur InsO noch vorgeschlagen hatte, im neu zu regelnden Insolvenzverfahren immer einen Verwalter zu bestellen und die Eigenverwaltung auszuschließen, weil die Geschäftsleitung des Schuldners aus diversen Gründen zur Abwicklung des Insolvenzverfahrens nicht geeignet sei,2 wurde angesichts der unter der Geltung der Vergleichsordnung gemachten Erfahrungen bereits mit der Einführung der Insolvenzordnung durch § 270 InsO die Möglichkeit der Eigenverwaltung unter der Aufsicht eines Sachwalters eingeführt. Ziel war es, die Kenntnisse und Erfahrungen der bisherigen Geschäftsleitung optimal zu nutzen, die Einarbeitungszeit für einen Fremdverwalter zu vermeiden, Aufwand und Kosten zu sparen und einen Anreiz für einen rechtzeitigen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu setzen.3

II. Grundsätzliche Rechtsstellung des Schuldners in der Eigenverwaltung Nach § 270 Abs. 1 S. 1 InsO ist der Schuldner im Falle der Eigenverwaltung berechtigt, die Insolvenzmasse unter Aufsicht eines Sachwalters zu verwalten und über sie zu verfügen. Die Eigenverwaltung selbst setzt gemäß § 270 Abs. 1 S. 1 InsO eine entsprechende Anordnung des Insolvenzgerichts im Eröffnungsbeschluss voraus. Die Anordnung erfolgt nach § 270 Abs. 2 InsO unter zwei Voraussetzungen: Zum einen muss die Ei1 Vgl. neben einer Vielzahl von Beiträgen seine umfassende Darstellung des Aufsichtsratsrechts in Marsch-Barner/Schäfer Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., §§ 23 ff. 2 Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, Begründung zu Leitsatz 1.3, S. 125 ff. 3 Vgl. hierzu BT-Drucks. 12/2443, S. 222 f.

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genverwaltung vom Schuldner beantragt worden sein und zum anderen dürfen keine Umstände bekannt sein, die erwarten lassen, dass die Anordnung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Ist der Antrag des Schuldners auf Eigenverwaltung nicht offensichtlich aussichtslos, soll das Gericht im Eröffnungsverfahren gemäß § 270a Abs. 1 InsO von der Verhängung eines allgemeinen Verfügungsverbots sowie der Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts absehen; anstelle eines vorläufigen Insolvenzverwalters bestellt es einen vorläufigen Sachwalter. Mit dieser durch das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) 20124 eingeführten Regelung soll das Institut der Eigenverwaltung gefördert, der unternehmerische Schuldner zu einer frühzeitigen Stellung des Eröffnungsantrags veranlasst und die Sanierungschancen verbessert werden.5 Zur Vorbereitung einer Sanierung bestimmt das Insolvenzgericht im nächsten Schritt gemäß §  270b InsO auf Antrag des Schuldners eine maximal 3-monatige Frist zur Vorlage eines Insolvenzplans. Dem Antrag des Schuldners muss eine mit Gründen versehene Bescheinigung einer qualifizierten Person beigefügt sein, aus der sich ergibt, dass drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, aber keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt und die angestrebte Sanierung nicht offensichtlich aussichtslos ist.

III. Einschränkungen durch die Zuständigkeiten des Sachwalters und der Gläubiger Ordnet das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung an, bestellt es gemäß §  270c S.  1 InsO einen Sachwalter. Dieser Sachwalter ist gemäß §  270c S.  2 InsO Adressat der Forderungsanmeldungen der Gläubiger. Vor allem aber übt der Sachwalter neben den Aufgaben nach §§ 281 bis 285 InsO, wie sich aus § 270 Abs. 1 S. 1 InsO ergibt, die Aufsicht über die Verwaltung und Verfügung des Schuldners über die Insolvenzmasse aus. Die Rechtsstellung des Sachwalters wird in § 274 InsO geregelt. Die für den Insolvenzverwalter anwendbaren Vorschriften für die Bestellung des Sachwalters, seine Stellung zum Insolvenzgericht, seine Haftung und seine Vergütung gelten nach § 274 Abs. 1 InsO in entsprechender Weise. Nach § 274 Abs. 2 InsO hat der Sachwalter die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und insbesondere die Geschäftsführung zu überwachen; hierzu stehen ihm die in § 22 Abs. 3 InsO genannten Be­ fugnisse zu. Gemäß § 274 Abs. 3 InsO hat der Sachwalter unverzüglich Gericht und Gläubigerausschuss zu unterrichten, wenn er erkennt, dass bei einer Fortsetzung der Eigenverwaltung Nachteile für die Gläubiger drohen.

4 Gesetz v. 7.12.2011, BGBl I, S. 2582. 5 Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 270a Rz. 1 mwN.

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1. Aufsicht und Einwirkungsmöglichkeiten des Sachwalters a) Aufsicht des Sachwalters Wie bereits dargelegt, ist der Schuldner nach § 270 Abs. 1 S. 1 InsO in der Eigenverwaltung berechtigt, die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen, auch wenn dies unter der Aufsicht des Sachwalters erfolgt. Auch die Verwertung von Sicherungsgut steht gemäß § 282 InsO dem Schuldner zu, wenngleich er sein Verwertungsrecht im Einvernehmen mit dem Sachwalter ausüben soll. Die Kassenführung kann der Sachwalter gemäß §  275 Abs.  2 InsO an sich ziehen und bestimmen, dass alle eingehenden Gelder nur von ihm entgegengenommen und Zahlungen nur von ihm geleistet werden. Nach § 283 InsO kann der Sachwalter im Zusammenhang mit der Befriedigung der Gläubiger eine Forderung mit der Folge bestreiten, dass sie als nicht festgestellt gilt, er hat die Verteilung zu prüfen und ggf. Einwendungen geltend zu machen. Obliegt die Ausarbeitung des Insolvenzplans dem Schuldner, hat der Sachwalter diesen nach § 284 InsO zu beraten und die Planerfüllung zu überwachen. Verbindlichkeiten, die nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, soll der Schuldner gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 InsO nur mit Zustimmung des Sachwalters eingehen. Dass der Schuldner Verbindlichkeiten, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, eingehen darf, folgt bereits aus § 270 Abs. 1 S. 1 InsO unmittelbar, allerdings auch aus einem Umkehrschluss aus § 275 Abs. 1 S. 1 InsO. Widerspricht der Sachwalter, soll der Schuldner nach § 275 Abs. 1 S. 2 InsO auch solche, zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehörende Verbindlichkeiten nicht eingehen. Um den Sachwalter in die Lage zu versetzen, von seinen hiernach bestehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen, stehen ihm die in §§ 274 Abs. 2 S. 2, 22 Abs. 3 InsO statuierten Informationsrechte zu, die spiegelbildlich mit einer entsprechenden Informationsobliegenheit des Schuldners verbunden sind.6 Zweckmäßigerweise bestimmt dabei der Sachwalter zu Beginn des Verfahrens, bei welchen Arten von Geschäften er vorab zu informieren ist, um erforderlichenfalls von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch zu machen.7 Ein im Vorhinein erklärter genereller Widerspruch des Sachwalters gegen die Eingehung von Verbindlichkeiten durch den Schuldner zu dem Zweck, dem Sachwalter insoweit letztlich ein allgemeines Alleinentscheidungsrecht zu geben, wäre unzulässig; denn ein solches Recht widerspräche dem Konzept der Eigenverwaltung, in welcher die Verwaltung dem Schuldner obliegt und der Sachwalter lediglich die Aufsicht führt.8 b) Begrenzung der Schuldnerbefugnisse durch besondere insolvenzrechtliche Zuständigkeiten des Sachwalters Ferner ist die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners insoweit eingeschränkt, als gemäß § 280 InsO nur der Sachwalter die Haftung nach §§ 92, 93 InsO geltend machen bzw. Rechtshandlungen nach den §§  129 bis 147 InsO anfechten kann. Insoweit geht es um Ansprüche der Insolvenzgläubiger auf Ersatz eines Scha6 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 11. 7 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 11 mwN. 8 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 9 mwN.

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dens, den die Gläubiger gemeinschaftlich durch eine Verminderung des Massevermögens vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlitten haben, sowie die persönliche Haftung eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft bzw. die besonderen insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbestände. § 280 InsO wird darüber hinaus entsprechend auf die Geltendmachung von Ersatzansprüchen zumindest gegen aktuelle Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer angewandt.9 Auf besondere aktienrechtliche Zuständigkeiten des Sachwalters wird noch gesondert zurückzukommen sein (unter IV. 3.). 2. Begrenzung der Schuldnerbefugnisse durch die Gläubigerzuständigkeit Eine weitere Grenze für die Befugnisse des Schuldners setzt § 276 InsO. Denn hiernach hat der Schuldner die Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw., wenn ein solcher nicht besteht, die der Gläubigerversammlung einzuholen, wenn er Rechtshandlungen vornehmen will, die für das Insolvenzverfahren von besonderer Bedeutung sind. Beispiele für solche Rechtshandlungen ergeben sich aus §§ 276 S. 2, 160 Abs. 2 InsO und betreffen Handlungen von besonderem Gewicht, beispielsweise die Veräußerung des vom Schuldner getragenen Unternehmens, des ganzen Warenlagers, die Aufnahme von die Insolvenzmasse erheblich belastenden Darlehen oder Maßnahmen im Zusammenhang mit bedeutsamen rechtlichen Auseinandersetzungen. Eine weitergehende Begrenzung der Befugnisse des Schuldners kann sich aus § 277 InsO ergeben. Denn hiernach ordnet das Insolvenzgericht auf Antrag der Gläubigerversammlung an, dass bestimmte Rechtsgeschäfte des Schuldners nur wirksam sind, wenn der Sachwalter ihnen zustimmt. Die Folgen einer derartigen Anordnung entsprechen der bei einem gewöhnlichen Insolvenzverfahren gegebenen Situation; die betreffenden Rechtsgeschäfte sind nur mit Zustimmung des (in diesem Zusammenhang dann auch haftenden) Sachwalters wirksam und ohne seine Zustimmung  – schwebend – unwirksam.10 3. Folgen eines Verstoßes gegen Verhaltensobliegenheiten des Schuldners Verstößt der Schuldner gegen die Obliegenheiten nach § 276 S. 1 InsO den Gläubigern gegenüber, lässt dies die Wirksamkeit seiner Handlungen nach der ausdrücklichen Anordnung in §§ 276 S. 2, 164 InsO unberührt. Für einen Verstoß gegen die Soll-Vorschrift des § 275 Abs. 1 InsO, wonach nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehörende Verbindlichkeiten nur mit Zustimmung des Sachwalters eingegangen werden sollen, fehlt eine entsprechende ausdrückliche Regelung. Die Wirksamkeit von Verbindlichkeiten, die unter Verstoß gegen §  275 Abs. 1 InsO eingegangen worden sind, folgt jedoch bereits aus der allgemeinen Ver-

9 Kreutz/Ellers in BeckOK InsO, 13. Ed. Stand 28.1.2019, § 280 Rz. 2 mwN. 10 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 277 Rz. 39.

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waltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners nach §  270 Abs.  1 S.  1 InsO.11 Ohne Sanktionen ist ein Verstoß gegen § 275 Abs. 1 InsO indessen nicht. Denn im Innenverhältnis kann ein solcher Verstoß einen Umstand darstellen, der erwarten lässt, dass die Fortsetzung der Eigenverwaltung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird, und deshalb vom Sachwalter gemäß § 274 Abs. 3 InsO dem Gläubigerausschuss bzw. den Gläubigern und dem Insolvenzgericht anzuzeigen ist.12 Die hierneben bestehende Haftung des Schuldners nach §§ 270 Abs. 1 S. 2, 60 InsO ist unter wirtschaftlichen Aspekten uninteressant.13 Zu den Folgen eines Verstoßes gegen eine Anordnung gemäß § 277 InsO s. bereits vorstehend unter 2; die Rechtsgeschäfte sind bis zur Erteilung der Zustimmung durch den Sachwalter – schwebend – unwirksam, mit Zustimmung wirksam und nach verweigerter Zustimmung unwirksam. 4. Folgerungen für die Einordnung der Rechtsstellung des Schuldners in der Eigenverwaltung Aus den vorstehend umrissenen Regelungen folgt, dass der Schuldner in der eröffneten Eigenverwaltung nicht seine ursprüngliche Verfügungsmacht über sein Ver­mögen behält. Vielmehr wird ihm die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Gegenstände der Insolvenzmasse als Amtswalter in eigener Sache übertragen.14 Anders ließe sich die Zuordnung bestimmter, in der Fremdverwaltung dem Insolvenzverwalter zugewiesener Rechte an den Schuldner bzw. die ihm obliegenden Verpflichtungen gegenüber dem Sachwalter oder der Gläubigerversammlung nicht erklären. Einen „Verdrängungsbereich“, wie dieser wegen der Zuständigkeit des Insolvenzverwalters nach § 80 InsO im Fremdverfahren besteht, gibt es in der Eigenverwaltung mithin so nicht.15 Auch in dem durch § 280 InsO erfassten Bereich dürfte nicht von einem Verdrängungsbereich auszugehen sein, weil die dortigen Befugnisse ihrer Qualität nach von Anfang an dem Schuldner nicht zugeordnet sind und er insoweit keinerlei Zuständigkeiten besitzt, aus denen er verdrängt würde. Die von dem Schuldner im Rahmen seiner Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 270 Abs. 1 S. 1 InsO begründeten Verbindlichkeiten werden aufgrund der dem Schuldner zugewiesenen Rechtsstellung Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr.  1 InsO, und zwar nach streitiger, aber zutreffender Auffassung ungeachtet der Frage, ob es sich insoweit um Geldschulden oder um sonstige Verpflichtungen handelt.16

11 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 15 mit Vorbehalt für Kollusionsfälle. 12 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 16 mwN. 13 Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 16 mwN. 14 Tetzlaff in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 270 Rz. 141 mwN.; nicht ganz eindeutig Andres in Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl., § 270 Rz. 12: Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verbleibe beim Insolvenzschuldner. 15 Klöhn, NZG 2013, 81, 82. 16 Hierzu Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 6.

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IV. Die Aktiengesellschaft als Schuldner in der Eigenverwaltung 1. Überlagerung des Verbandszwecks Handelt es sich bei dem Schuldner um eine Aktiengesellschaft, wird diese nach § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst. Die juristische Person als solche bleibt bestehen, es kommt jedoch nach herrschender Meinung zu einer Zweckänderung dahin, dass an die Stelle des bisherigen, typischerweise auf die Gewinnerzielung durch den Betrieb des Gesellschaftsunternehmens gerichteten Zwecks der Liquidationszweck tritt,17 bzw. nach anderer Auffassung der Verbandszweck durch den Liquidationszweck als Verfahrenszweck überlagert wird und die Rechte und Pflichten der Gesellschaftsorgane sowie der Verbandsmitglieder verändert.18 Beruht die Auflösung der Gesellschaft auf der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, erfolgt die Abwicklung der Gesellschaft gemäß § 264 Abs. 1 AktG nicht nach den einschlägigen Bestimmungen des Aktiengesetzes in §§  265  ff. AktG, sondern nach den Regelungen der Insolvenzordnung, in der Eigenverwaltung mithin nach den Bestimmungen der §§ 270 ff. InsO. Die Rechtfertigung hierfür liegt darin, dass in der Insolvenz wirtschaftlich gesehen die Gläubiger letztlich die Eigentümer der Gesellschaft sind und das Abwicklungsverfahren deshalb in ihrem Interesse betrieben werden soll.19 2. Auswirkungen auf die aktienrechtliche Organisationsverfassung Die Überlagerung der Rechte und Pflichten der Gesellschaftsorgane in der insolvenzrechtlichen Fremdverwaltung bedeutet, dass die Existenz der Gesellschaft unberührt und ihre Organstruktur bestehen bleibt.20 Der Vorstand verbleibt zwar im Amt, seine Mitglieder werden jedoch nicht zu Abwicklern im Sinne von § 265 Abs. 1 AktG und seine Zuständigkeit bezieht sich nur noch auf die Bereiche, die durch die ausschließlich dem Insolvenzverwalter zugeordnete Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse nach § 80 InsO nicht erfasst werden.21 Der Aufsichtsrat bleibt ebenfalls im Amt und besitzt die ihm aktienrechtlich zugeordneten Befugnisse; Befugnisse dem Insolvenzverwalter gegenüber besitzt er jedoch nicht und ihm sollen auch keine Vergütungsansprüche gegen die Masse zustehen.22 In gleicher Weise bleiben auch die Mitglieder des Aufsichtsrats im Amt23 und ebenso behält die Hauptversammlung grundsätzlich 17 Statt anderer Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 262 Rz. 12. 18 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 11 V 4. c); zust. etwa Bachmann in Spindler/ Stilz, AktG, 4. Aufl., § 262 Rz. 5 f. 19 Ähnlich Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 6; vgl. auch Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, St. 07/2012, § 276a Rz. 1. 20 Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl., § 284 AktG Rz. 8; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 43. 21 BGH, NJW 1996, 2035. 22 Statt anderer: Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl., § 284 AktG Rz. 8. 23 Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl., § 284 AktG Rz. 8; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 43, auch zur Frage der Vergütung des Aufsichtsrats; ausf. zur Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder in der Insolvenz Oechsler, AG 2006, 606 ff.

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ihre Zuständigkeit, soweit diese nicht von der Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters überlagert wird.24 In diesem Zusammenhang wird im Anschluss an die grundlegenden Überlegungen von Friedrich Weber25 unterschieden zwischen dem Verdrängungsbereich, in welchem die Zuständigkeiten des Insolvenzverwalters diejenigen der Gesellschaftsorgane verdrängen, dem Schuldnerbereich, der – allerdings mit der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Gläubigerbelange – die Ausübung und Erfüllung der insolvenzverfahrensrechtlichen Rechte und Pflichten der Gesellschaft, die Verwaltung und Verwertung des insolvenzfreien Vermögens und die Vornahme insolvenzneutraler Geschäfte umfasst, und (streitig) einem Überschneidungsbereich, in welchem Insolvenzverwalter und Gesellschaftsorgane zur Kooperation verpflichtet sind.26 Auch in der Eigenverwaltung der Aktiengesellschaft bleibt die Gesellschaft als solche bestehen. Sie ist Schuldner im Sinne von § 11 InsO. Die ihr insoweit zustehende Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wird durch den Vorstand nach Maßgabe des insolvenzrechtlichen überlagerten Zwecks der Gesellschaft ausgeübt. Die Befugnisse des Aufsichtsrats werden unter Aspekten des Gläubigerschutzes durch § 276a InsO eingeschränkt (näher bei V.). Die Zuständigkeiten der Hauptversammlung bleiben unberührt, insbesondere kann die Hauptversammlung versuchen, durch geeignete Maßnahmen, insbesondere eine Kapitalerhöhung, den Insolvenzgrund zu beseitigen und die Einstellung des Insolvenzverfahrens zu erreichen.27 3. Besondere aktienrechtliche Befugnisse des Sachwalters Zusätzlich zu den in der Insolvenzordnung geregelten Befugnissen stehen dem Sachwalter aktienrechtliche Befugnisse zu, die über seine in § 274 InsO gekennzeichnete Rechtsstellung deutlich hinausgehen. So können nach § 62 Abs. 2 S. 1 AktG auch Gläubiger, soweit sie von der Gesellschaft keine Befriedigung erlangen können, den Rückerstattungsanspruch wegen Verstoßes gegen die Kapitalbindung aus § 62 Abs. 1 AktG geltend machen. Nach zutreffender Auffassung geht es insoweit nicht um ein eigenes, den Gläubigern materiell zustehendes Forderungsrecht gegenüber dem Empfänger der verbotswidrigen Leistung, sondern um die Geltendmachung des der Gesellschaft zustehenden Anspruchs im Wege 24 Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl., § 284 AktG Rz. 8; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 43. 25 KTS 1970, 73. 26 Statt anderer: Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 2 mwN. 27 OLG München, NZI 2018, 538 Rz. 25; Eidenmüller, NJW 2014, 17, 18; Spahlinger in Kübler/ Prütting/Bork, InsO § 225a Rz. 103; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 182 Rz. 32; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 75; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 182 Rz. 83; Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 182 Rz. 72, alle mwN.; zT einschr. Sax, NZI 2018, 541 ff. mit der (wegen eines fehlenden Anspruchs hierauf und der insolvenzrechtlich im Vordergrund stehenden Gläubigerbefriedigung nicht überzeugenden) Begründung, hierdurch könne ein Debt Equity Swap unterlaufen werden; zT ebenfalls kritisch Thole, BB 2018, 1360 ff.

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der gesetzlichen Prozessstandschaft auf Leistung an diese.28 In der Eigenverwaltung übt nach § 62 Abs. 2 S. 2 AktG allein der Sachwalter dieses Recht der Gesellschaftsgläubiger gegenüber den Aktionären aus. Seine Befugnisse verdrängen also letztlich die insoweit bestehende Gläubigerzuständigkeit. Diese Zuständigkeit bezieht sich auf den ohnehin der Gesellschaft zugeordneten und an sie zu erfüllenden Anspruch. Wohl vor diesem Hintergrund gehen die Gesetzesmaterialien zu § 62 Abs. 2 S. 2 AktG29 und die ganz herrschende Meinung30 davon aus, dass auch die der Aktiengesellschaft als dem Schuldner zustehenden Ansprüche nur durch den Sachwalter verfolgt werden könnten. Zwingend ist dies allerdings nicht. Die Bestimmung könnte angesichts ihres engeren Wortlauts auch dahin verstanden werden, dass durch sie allein die Verfolgung durch die Gläubiger ausgeschlossen und dem Sachwalter die Befugnis zur Verfolgung der Ansprüche eingeräumt, die Verfolgung der Ansprüche durch die Gesellschaft (den Schuldner) selbst aber nicht ausgeschlossen werden soll. Das unter entsprechenden Voraussetzungen gegebene Verfolgungsrecht der Gläubiger nach § 93 Abs. 5 S. 1 und 2 AktG gegenüber Vorstandsmitgliedern, die ihre Pflichten gröblich verletzt bzw. die Pflichten nach § 93 Abs. 3 AktG verletzt haben, stellt demgegenüber wegen der in diesem Zusammenhang gesetzlich angeordneten Wirkungslosigkeit eines etwaigen Vergleichs zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied nach ganz herrschender Meinung einen Fall der materiellrechtlichen Anspruchsvervielfältigung eigener Art dar.31 Dieses Gläubigerrecht wird in der Eigenverwaltung nach § 93 Abs. 5 S. 4 AktG ebenfalls allein durch den Sachwalter ausgeübt, der damit ähnlich wie der Insolvenzverwalter im Zusammenhang mit § 171 Abs. 2 HGB zum Zwecke der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger32 die alleinige Einziehungszuständigkeit erhält. Eine Verdrängung der Zuständigkeit des Aufsichtsrats nach § 112 AktG liegt in diesem Zusammenhang demgegenüber nicht vor. Denn aufgrund der materiellrechtlichen Anspruchsvervielfältigung geht es in diesem Zusammenhang um originär den Gläubigern zustehende Ansprüche, für die es an der Inhaberschaft der Gesellschaft und damit auch an der Vertretungszuständigkeit des Aufsichtsrats von vornherein fehlt. 28 Vgl. hierzu statt anderer nur Bayer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 62 Rz. 84; Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 62 Rz. 101; Fleischer in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 62 Rz.  27; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl., §  62 Rz.  15; Henze in GroßKomm. AktG, 4. Aufl., § 62 Rz. 100. 29 Die  – unter methodischen Gesichtspunkten bei der Auslegung nicht bindende (Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3.  Aufl., S.  150)  – Gesetzesbegründung geht wohl davon aus, dass auch die der Gesellschaft zustehenden Ansprüche ausschließlich durch den Sachwalter selbst zu verfolgen sind; vgl. BT-Drucks. 12/3803, S. 84: „Wenn im Insolvenzverfahren die Eigenverwaltung … angeordnet ist …, soll der Sachwalter, nicht die Gesellschaft selbst, diese Ansprüche ausüben“. 30 Bayer in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl., §  62 Rz.  108; Fleischer in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 62 Rz. 33; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 81, jeweils mwN. 31 Statt anderer: Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 93 Rz. 294; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 62 Rz. 80 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 93 Rz. 180 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl., § 93 Rz. 301, jeweils mwN. 32 Karsten Schmidt in MünchKomm. HGB, 3. Aufl., § 172 Rz. 100; Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl., § 171 Rz. 94.

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Auch im Zusammenhang mit den den Gläubigern zustehenden Verfolgungsrechten nach § 117 Abs. 5 S. 1 AktG und nach § 309 Abs. 4 S. 3 AktG (ggf. iVm. §§ 310 Abs. 4, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4 AktG) ist schon wegen der auch in diesem Zusammenhang jeweils angeordneten Wirkungslosigkeit eines Vergleichs zwischen Gesellschaft und Schädiger von einer materiellrechtlichen Anspruchsvervielfältigung eigener Art zugunsten der Gesellschaftsgläubiger auszugehen. Diese Gläubigerrechte werden in der Eigenverwaltung nach §§  117 Abs.  5 S.  3, 309 Abs.  4 S.  5 AktG (ggf. iVm. §§  310 Abs. 4, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4 AktG) ebenfalls allein durch den Sachwalter ausgeübt. Da es insoweit um originäre Gläubigerrechte geht, und nicht um Rechte der Gesellschaft (des Schuldners) selbst, liegt auch insoweit keine Verdrängung der Befugnisse des Schuldners bzw. des dortigen Aufsichtsrats vor.

V. Rechtsstellung des Aufsichtsrats Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben, wonach in der Eigenverwaltung – trotz der vereinzelten Durchbrechung dieses Grundsatzes – der Schuldner selbst die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis besitzt, verwundert es nicht, dass es vor Inkrafttreten von § 276a InsO streitig war, ob die gesellschaftsrechtlichen Aufsichts- und Kontrollbefugnisse des Aufsichtsrats und der Hauptversammlung in der Eigenverwaltung bestehen blieben. Denn wenn der Schuldner im Sinne von § 270 InsO, nach § 11 Abs. 1 InsO also die Aktiengesellschaft selbst, Eigenverwalter und damit Inhaber der Kompetenzen nach §  270 InsO ist, sie durch ihre Geschäftsleiter vertreten wird und es konsequenterweise keinen Verdrängungsbereich geben kann,33 ist es begründungsbedürftig, warum dann nicht auch das für den Schuldner geltende Innenrecht anwendbar sein sollte.34 Die Begründung hierfür wurde in einer teleologischen Auslegung der §§ 270 ff. InsO mit der Folge gesehen, dass das Aktienrecht zurücktreten müsse, soweit der Vorstand anstelle des Insolvenzverwalters tätig werde,35 bzw. auf der Grundlage insolvenzrechtlicher (Wertungs-)Vorgaben entwickelt.36 Unter gesellschaftsrechtlichen Aspekten lief diese Sichtweise allerdings letztlich auf eine Vermengung des Schuldners (der Aktiengesellschaft) und seines Vorstands hinaus.37 33 Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 23. 34 Überblick über die seinerzeitige Diskussion bei Klöhn in MünchKomm. InsO, 3.  Aufl., § 276a Rz. 3; Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, St. 07/2012, § 276a Rz. 10 ff.; vgl. auch bei Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 14 mwN. 35 In diesem Sinne Hüffer in MünchKomm. AktG, 3. Aufl., § 264 Rz. 82; zur seinerzeitigen Diskussion vgl. insbes. einerseits Prütting/Huhn, ZIP 2002, 777, 778 ff.; Uhlenbruck in FS Metzeler, 2002, S. 85, 95 ff.; andererseits Ringstmeier/Hormann, NZG 2002, 406 ff.; Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 602; differenzierend Noack, ZIP 2002, 1873 ff.; Smid, DZWiR 2002, 493, 499 f.; weitere Nachweise bei Bachmann in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 14; eingehend auch Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, St. 07/2012, § 276a Rz. 10 ff. 36 Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, St. 07/2012, § 276a Rz. 12 ff. 37 Vgl. Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 602: „Eigenverwaltung ist Selbsthandeln des Schuldners (hier also: der Aktiengesellschaft). Wenn also die Gesellschaft das Recht erhält, als

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Die durch das ESUG 2012 eingefügte Regelung des § 276a S. 1 InsO bestimmt, dass der Aufsichtsrat, die Gesellschafterversammlung oder entsprechende Organe keinen Einfluss auf die Geschäftsführung des Schuldners haben. Nach dem der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Plan obliegt die Kontrolle der wirtschaftlichen Entscheidungen der Geschäftsleitung in der Eigenverwaltung allein dem Sachwalter, dem Gericht und dem Gläubigerausschuss. Die Überwachungsorgane sollten bei der Eigenverwaltung im Wesentlichen keine weiter geltenden Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftsführung haben als im Falle der Fremdverwaltung einem Insolvenzverwalter gegenüber; eine zusätzliche Überwachung durch die Organe des Schuldners erschien nicht erforderlich und wurde sogar als möglicherweise hemmend bzw. blockierend angesehen.38 Letzterem liegt wohl die insbesondere auf die Gesellschafterversammlung einer GmbH bezogene Überlegung zugrunde, die Beteiligten sollten mit dem – wirtschaftlich gesehen nur noch durch die Gläubiger aufgebrachten – Vermögen der Gesellschaft nicht spekulieren dürfen, da sie mangels eigener Betroffenheit in diesem Zusammenhang zu mehr Risiken neigen könnten.39 Ob die vorstehenden Überlegungen bei einem Aufsichtsrat in gleicher Weise wie bei der Gesellschafterversammlung der GmbH gerechtfertigt sind, ist fraglich. Mit Blick auf die mit der Eigenverwaltung für die bisherigen Gesellschafter verbundenen Gefahren40 wäre unter rechtspolitischen Aspekten auch an eine parallel fortbestehende Kontrollbefugnis der gesellschaftsrechtlichen Organe mit Überwindungsbefugnis des Sachwalters ähnlich zu § 308 Abs. 2 S. 2 AktG zu denken. De lege lata ist die Situation jedoch aktienrechtlich eindeutig; der Aufsichtsrat hat keinen Einfluss auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft. 1. Kein Einfluss auf die Geschäftsführung Der Begriff der Geschäftsführung umfasst in § 276a S. 1 InsO wie im Gesellschaftsrecht jede rechtsgeschäftliche oder tatsächliche Tätigkeit in Verfolgung des Gesellschaftszwecks, und umfasst im Aktienrecht auch die Leitung der Gesellschaft gemäß § 76 Abs. 1 AktG.41 Indem § 276a S. 1 InsO den Aufsichtsrat vom Einfluss auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft ausschließt, schließt er ihn von einem Ein‚debtor in posession‘ selbst zu agieren, dann handelt der Vorstand nach Aktienrecht und nicht anders“. 38 Zu diesen Erwägungen BT-Drucks. 17/5712, S. 42. 39 Vgl. hierzu das Beispiel bei Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 9. 40 S. hierzu den vorgetragenen Sachverhalt bei BVerfG, NZG 2019, 75 sowie die Inhibierungsversuche des Vorstands in dem den Entscheidungen OLG München, ZIP 2018, 1038; OLG München, ZIP 2018, 1796 zugrunde liegenden Sachverhalt in der gleichen Auseinandersetzung. 41 Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 26; zur gesellschaftsrechtlichen Definition vgl. statt anderer Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 77 Rz. 3; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 77 Rz. 3, § 76 Rz. 8; Kort in GroßKomm. AktG, 5. Aufl., § 77 Rz. 3, § 76 Rz. 29a; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl., § 77 Rz. 2, § 76 Rz. 4; Seibt in Schmidt/ Lutter, AktG, 3. Aufl., § 77 Rz. 4, § 76 Rz. 9; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 77 Rz. 6.

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fluss auf das Organ aus, dem die Geschäftsführung obliegt, mit Blick auf §§ 76 Abs. 1, 77 AktG mithin vom Einfluss auf den Vorstand. Der Gesellschaftszweck selbst ist, wie vorstehend dargelegt, in der Insolvenz − und damit auch in der Eigenverwaltung − insolvenzrechtlich geprägt. 2. Begrenzung auf die Verwaltung und die Verwertung der Insolvenzmasse Während die Geschäftsführung gesellschaftsrechtlich sowohl das Innen- und das Außenverhältnis der Gesellschaft umfasst,42 bedarf es bei § 276a S. 1 InsO einer gegenständlichen Beschränkung der Reichweite dieser Bestimmung. Denn eine Beschränkung der Einflussnahme ist nur insoweit gerechtfertigt, als es um die Verwaltung und die Verwertung der Insolvenzmasse geht. Dies folgt aus dem die Eigenverwaltung bestimmenden und auch in § 276a S. 2 und 3 InsO offenbar werdenden Gedanken, dass eine Verdrängung oder Überlagerung der Organkompetenzen nur so weit angezeigt ist, als dies unter dem Aspekt einer möglichen Gläubigergefährdung gerecht­ fertigt erscheint. Dies ergibt sich auch aus der in den Materialien zu findenden, als (Kontroll-)Überlegung verwendbaren43 Bemerkung, Grundgedanke der Regelung des § 276a InsO sei, die Überwachungsorgane sollten bei der Eigenverwaltung im Wesentlichen keine weitergehenden Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftsführung haben als in dem Fall, dass ein Insolvenzverwalter bestellt ist.44 Denn diese Erwägung ist außerhalb des Bereichs der Verwaltung und der Verwertung der Insolvenzmasse von vornherein nicht einschlägig und deshalb nicht geeignet, eine weiterreichende Einschränkung zu veranlassen.45 3. Folgerungen für Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Hauptversammlung Ebenso wenig wie in der Fremdverwaltung werden außerhalb der Geschäftsführung die Befugnisse der Hauptversammlung in der Eigenverwaltung beschnitten. Insbesondere bleibt es der Hauptversammlung unbenommen, durch eine Kapitalerhöhung den Insolvenzgrund zu beseitigen und hierüber die Einstellung des Insolvenzverfahrens nach § 212 InsO zu erzwingen.46 42 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 77 Rz. 3; Kort in GroßKomm. AktG, 5. Aufl., § 77 Rz.  3; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl., §  77 Rz.  2; Seibt in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 77 Rz. 4; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 77 Rz. 6. 43 In diesem Sinne insbes. Klöhn, DB 2013, 41, 42; Klöhn, NZG 2013, 81, 82; Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 4. 44 BT-Drucks. 17/5712, S. 42. 45 Zu diesen Erwägungen s. bereits Klöhn, NZG 2013, 81, 83; Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 22; Riggert in Nerlich/Römermann, InsO, Stand 10/2018, § 276a Rz. 4. 46 OLG München, NZI 2018, 538 Rz. 25; Eidenmüller, NJW 2014, 17, 18; Spahlinger in Kübler/ Prütting/Bork, InsO § 225a Rz. 103; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 182 Rz. 32; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 75; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 182 Rz. 83; Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 182 Rz. 72, alle mwN.; zT einschr. Sax, NZI 2018, 541 ff. mit der (wegen eines fehlenden Anspruchs hierauf und der insolvenzrechtlich im Vordergrund stehenden Gläubigerbefriedigung nicht überzeugen-

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Zu jedem Gegenstand der Tagesordnung einer Hauptversammlung, über den beschlossen werden soll, haben gemäß § 124 Abs. 3 S. 1 AktG Vorstand und Aufsichtsrat, zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern und Prüfern nur der Aufsichtsrat, in der Bekanntmachung Vorschläge zur Beschlussfassung zu machen. Ist der Gegenstand der Beschlussfassung aufgrund eines Minderheitsverlangens gemäß § 122 AktG auf die Tagesordnung gesetzt worden, ist nach §  124 Abs.  3 S.  3 AktG ein solcher Beschlussvorschlag nicht erforderlich. Die Organe der Gesellschaft sind aber zu solchen Vorschlägen berechtigt.47 Will der Aufsichtsrat einen Beschlussvorschlag hiernach unterbreiten, hat ihm der Vorstand sämtliche Informationen zugänglich zu machen, die der Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang benötigt, wobei offen bleiben kann, ob dieses Recht unmittelbar aus § 90 Abs. 3, 111 Abs. 2 AktG48 oder aus dem Gebot zur kollegialen Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat folgt. Der Vorstand kann die Informationen insbesondere nicht mit der Begründung versagen, der Aufsichtsrat erfahre hierdurch von Umständen, die seiner Kontrolle wegen § 276a S. 1 InsO nicht unterlägen. Die Vorschläge zur Beschlussfassung nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG dienen der sachgemäßen Information der Aktionäre, die diese zur sachgerechten Ausübung ihrer Mitgliedschaftsrechte in der Hauptversammlung sowie zu der Entscheidung darüber benötigen, ob sie die Hauptversammlung überhaupt besuchen.49 Ein nach §  276a S.  1 InsO unzulässiger Eingriff in die Geschäftsführung ist schon aufgrund dieser Zielrichtung der Bestimmung nicht gegeben, und eine Versagung dieser Informationsrechte unter dem Aspekt der schweren Verletzung der organschaftlichen Treupflicht, also einer funktionswidrigen Ausübung der dem Aufsichtsrat zustehenden Rechte, dürfte praktisch kaum in Betracht kommen.50 4. Keine Geltung von Zustimmungsvorbehalten Eine unmittelbare Einflussnahme auf die Geschäftsführung im positiven Sinne dahin, dass er den Vorstand zu bestimmten Maßnahmen veranlassen könnte, besitzt der Aufsichtsrat nicht.51 Maßnahmen der Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 4 S. 1 AktG nicht übertragen werden. Abgesehen von seiner Personalkompetenz, auf die mit Blick auf ihre Regelung in § 276a S. 2 InsO noch gesondert zurückzukommen sein wird (unter 8.), suspendiert § 276a S. 1 InsO damit wegen des hiermit verbundenen Einflusses auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft in den) Begründung, hierdurch könne ein Debt Equity Swap unterlaufen werden; zT ebenfalls kritisch Thole, BB 2018, 1360 ff. 47 Statt anderer: Pentz in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 16 Rz. 152; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 124 Rz. 24; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 124 Rz. 32, jeweils mwN. 48 OLG München, ZIP 2018, 1796; LG München, BeckRS 2018, 20131 Rz. 25. 49 BGHZ 153, 32, 36 = NJW 2003, 970; Butzke in GroßKomm. AktG, 5. Aufl., § 124 Rz. 1, 5; Kubis in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl., §  124 Rz.  13; Rieckers in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 124 Rz. 1, alle mwN. 50 Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 1. Aufl., § 25 Rz. 866; allgemein zu den durch Rechtsmissbrauch bzw. eine unzulässige Rechtsausübung gesetzten Grenzen Schubert in MünchKomm. BGB, 8. Aufl., § 242 Rz. 199 ff., 239 ff. mwN. 51 E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., § 23 Rz. 20.

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erster Linie die satzungsmäßigen oder vom Aufsichtsrat gesetzten Zustimmungsvorbehalte gemäß § 111 Abs. 4 S. 2 AktG. An dessen Stelle treten, was den Sachwalter angeht, im Wesentlichen §§ 275 Abs. 1, 274 Abs. 2 S. 2 iVm. § 22 Abs. 3 InsO sowie – in den Wirkungen deutlich weiter – § 277 InsO, hinsichtlich der Gläubiger § 276 InsO. 5. Suspendierung der Kontrollaufgaben, auch kein Zugriff auf organisatorisch nachgeordnete Stellen Darüber hinaus ist mit Blick auf den in der Eigenverwaltung gegebenen Regimewechsel und die Kontrollzuständigkeit von Sachwalter, Insolvenzgericht und Gläubigern auch die Überwachungsaufgabe nach § 111 Abs. 1 AktG einschließlich der damit verbundenen Hilfsrechte suspendiert. Dies gilt auch hinsichtlich der aktienrechtlich umstrittenen52 Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Aufsichtsrat von sich aus auf organisatorisch dem Vorstand nachgeordnete Stellen zugreifen kann. Denn eine solche Kompetenz, wenn man sie denn im Einzelfall bejaht, beruht auf der Kontrollfunktion des Aufsichtsrats gegenüber der Geschäftsführung des Vorstands. An die Stelle von § 111 Abs. 1 und Abs. 2 AktG treten damit, was den Sachwalter angeht, § 274 Abs. 2 und 3 InsO. 6. Keine Beratungspflicht Angesichts der ausdrücklichen Anordnung in §  276a S.  1 InsO entfällt zudem die Rechtsstellung des Aufsichtsrats als institutioneller Ratgeber und Gesprächspartner des Vorstands53 und die in diesem Zusammenhang bestehende Beratungspflicht des Aufsichtsrats, die mit einer Verpflichtung des Vorstands korrespondiert, sich durch den Aufsichtsrat beraten zu lassen.54 Denn diese Beratungspflicht des Aufsichtsrats ist Ausfluss seiner allgemeinen Überwachungspflicht, die nicht nur vergangenheits- und gegenwarts-, sondern auch zukunftsbezogen ist.55 Entfällt die auf die Geschäftsführung bezogene Überwachungspflicht als solche, entfällt konsequenterweise zugleich die hieraus resultierende Beratungspflicht. Auch insoweit erweist sich die im An52 Hierzu statt anderer Pentz in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1.  Aufl., §  16 Rz. 28 ff.; ausf. Darstellung des Streitstands bei Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl., § 111 Rz. 21, 25, 80 f. 53 Treffende Formulierung bei Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl., § 5 Rz. 103 im Anschluss an BGHZ 114, 127, 130 = NJW 1991, 1830 („ständige Diskussion“, „laufende Beratung“), bestätigt durch BGHZ 126, 340, 344  f. = NJW 1994, 2484. 54 Pentz in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1.  Aufl., §  16 Rz.  38; Lutter/Krieger/­ Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl., § 3 Rz. 103 ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl., § 111 Rz. 12, jew. mwN. 55 Vgl. hierzu bereits die Materialien zu §§ 75, 76 AktG bei Kropff, AktG mit Begründung des Regierungsentwurfs und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 1965, S. 96; grundlegend BGHZ 114, 127, 130 = NJW 1991, 1830; Pentz in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1. Aufl., § 16 Rz. 38; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl., §  3 Rz.  103  ff.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl., §  111 Rz. 12, jew. mwN.

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schluss an die Gesetzesmaterialien entwickelte Kontrollfrage, ob der Insolvenzverwalter im Falle der Fremdverwaltung der Kontrolle und Beratung des Aufsichtsrats unterläge, als fruchtbar. Denn ebenso wenig wie dem Aufsichtsrat in der Fremdverwaltung eine solche Befugnis zukäme, kann er diese in der Eigenverwaltung haben. 7. Haftungsrechtliche Folgerungen § 276a S. 1 InsO und die hieraus für die Eigenverwaltung folgende, erhebliche relativierte Funktion des Aufsichtsrats hat jedoch noch weitergehende Folgen. Denn wenn der Aufsichtsrat hiernach keinen Einfluss auf die Geschäftsführung des Schuldners, sprich der Aktiengesellschaft, hat, sondern hiervon ausdrücklich ausgeschlossen ist, folgt zugleich für seine Haftung nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG, dass ihn dann in diesem Zusammenhang auch keine Haftungsfolgen treffen. Denn eine Haftung ­dafür, etwas nicht wahrgenommen zu haben, was nach der gesetzlichen Anordnung des § 276a S. 1 InsO nicht wahrgenommen werden darf, kann es nicht geben. In dem seiner Kontrolle entzogenen Bereich bewendet es deshalb bei der Haftung des Vorstands gemäß § 93 AktG56 und, wenn die Gesellschaft als Schuldner die im Rahmen der Eigenverwaltung begründeten Verbindlichkeiten nicht erfüllen kann, seiner Haftung analog §§  60, 61 InsO57 bzw. einer etwaigen Haftung des Sachwalters gemäß §§ 274 Abs. 1, 60 Abs. 1 InsO. 8. Verbleibende Bestellungs- und Abberufungskompetenz a) Grundsatz Da die Suspendierung der Einflussrechte auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft auf den Bereich der Verwaltung und der Verwertung der Insolvenzmasse beschränkt ist, verbleiben dem Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand sämtliche Rechte, die ihm außerhalb dieses Bereichs zustehen. Auch wenn die Personalkompetenz mit der hiermit verbundenen Möglichkeit, den Vorstand nach Maßgabe von § 84 Abs. 3 AktG abzuberufen, das gleichsam stärkste Mittel der Einflussnahme auf die Geschäftsführung des Vorstands darstellt,58 verbleibt sie – da sie nicht auf die Verwaltung und die Verwertung der Insolvenzmasse unmittelbar bezogen ist – nach § 276a S. 2 InsO in der Kompetenz des Aufsichtsrats.59 Zwar könnte der Aufsichtsrat im Falle der 56 Zu dieser Haftung in der Eigenverwaltung vgl. BGH, NZI 2018, 519 Rz. 30 ff. mwN. 57 BGH, NZI 2018, 519. 58 Zipperer, ZIP 2012, 1492, 1493: intensivste Form der Einflussnahme; gesellschaftsrechtlich wird die Personalkompetenz des Aufsichtsrats (auch) zu den Einwirkungsmöglichkeiten auf die Geschäftsführung angesehen, vgl. etwa Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl., § 3 Rz. 109: Abberufung von Vorstandsmitgliedern als Einwirkungsmöglichkeit des Aufsichtsrats; Pentz in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 1. Aufl., § 16 Rz. 106: gewährt in gewissem Maße einen Einfluss auf die Richtung des mutmaßlichen Vorstandshandelns, gibt dem Aufsichtsrat aber keine unmittelbaren Einflussmöglichkeiten auf das Vorstandshandeln selbst. 59 Teleologische und systematische Bedenken in diesem Zusammenhang bei Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 49.

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Fremdverwaltung einen Insolvenzverwalter nicht abberufen. Aber dieser Aspekt spielt deshalb keine Rolle, weil es die Aktiengesellschaft als solche ist, die in der Eigenverwaltung als Schuldner im Sinne von § 270 Abs. 1 S. 1 InsO die Insolvenzmasse verwaltet und über sie verfügt; der Vorstand handelt insoweit lediglich als ihr Organ, auch wenn er es ist, der durch § 276a S. 1 InsO in seiner Geschäftsführung aufgrund der vorstehend dargelegten insolvenzrechtlichen Erwägungen dem Einfluss des Aufsichtsrats entzogen wird. Hinzu kommt, dass der Austausch der Geschäftsleitung auch in der Fremdverwaltung zum Schuldnerbereich gehört60 und es insoweit nur folgerichtig ist, Entsprechendes bei der Eigenverwaltung vorzusehen. Die Kompetenz dem Aufsichtsrat zu nehmen, erschien im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten nicht angebracht, weil auch während eines Insolvenzverfahrens der Wechsel in der Geschäftsleitung erforderlich sein kann und weder das Gericht noch der Sachwalter geeignet erschienen, an die Stelle des zuständigen Gesellschaftsorgans zu treten.61 b) Zustimmung des Sachwalters als Wirksamkeitserfordernis Die Kompetenz des Aufsichtsrats zur Abberufung und Neubestellung von Vorstandsmitgliedern wird allerdings nach §  276a S.  2 InsO dadurch beschränkt, dass diese Maßnahmen nur wirksam sind, wenn der Sachwalter zustimmt. Die Regelung statuiert eine echte Wirksamkeitsvoraussetzung, sodass eine Abberufung, der der Sachwalter nicht im Vorhinein oder im Nachhinein zugestimmt hat, unwirksam ist.62 Diese Bestimmung wurde eingeführt, um einen missbräuchlichen Austausch der Geschäftsleitung zu verhindern und die Unabhängigkeit der Geschäftsleitung von den übrigen Gesellschaftsorganen zu stärken.63 Mit Blick auf diesen engen Regelungshintergrund ist nach § 276a S. 3 InsO die Zustimmung des Sachwalters zu erteilen, wenn die Maßnahme nicht zu Nachteilen für die Gläubiger führt.64 Hält der Insolvenzverwalter diese Grenze nicht ein, ist streitig, ob die Zustimmung im Wege der Leistungsklage vor den Zivilgerichten geltend zu machen ist oder über §§ 274 Abs. 1, 58 InsO aufsichtsrechtliche Maßnahmen des Insolvenzgerichts veranlasst sind; aufgrund der Sachnähe des Insolvenzgerichts und der praktischen Schwierigkeiten eines zivilgerichtlichen Rechtsstreits erscheint Letzteres überzeugend.65

60 Vgl. etwa BGH, NZG 2007, 384 Rz. 21 (zur GmbH); Brinkmanns in Kayser/Thole, InsO, 9. Aufl., § 276a Rz. 14; Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 49. 61 BT-Drucks. 17/5712, S. 42. 62 Statt anderer: Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 56. 63 BT-Drucks. 17/5712, S. 42. 64 Zur streitigen Frage, wem in diesem Zusammenhang die Darlegungs- und Beweislast obliegt, vgl. statt anderer Brinkmanns in Kayser/Thole, InsO, 9. Aufl., § 276a Rz. 13 mwN. 65 Näher Brinkmanns in Kayser/Thole, InsO, 9. Aufl., § 276a Rz. 13; Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 59 ff.; Zipperer in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl., § 276a Rz. 11, jew. mwN.

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9. Mitwirkung des Sachwalters bei der Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags? a) Streitstand Von der Regelung des § 276a S. 2 InsO unberührt bleibt nach überwiegender Auffassung das Recht des Aufsichtsrats, den Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds zu kündigen, auch wenn dies wegen § 279 Abs. 1 InsO im Einvernehmen mit dem Sachwalter erfolgen soll; ein fehlendes Einvernehmen des Sachwalters lässt die Wirksamkeit der Kündigung unberührt.66 Unstreitig ist die (alleinige) Kündigungszuständigkeit des Aufsichtsrats allerdings nicht. So wird teilweise vertreten, unter Geltung des früheren, bis zum 1.3.2012 (also bis zum Inkrafttreten des § 276a InsO) geltenden Rechts habe „Allein der Sachwalter … den Anstellungsvertrag eines Geschäftsführers mit der Insolvenzmasse kündigen“ können; folge man dieser Auffassung vom Vorrang des Insolvenzrechts gegenüber dem Gesellschaftsrecht, ergäben sich nach Inkrafttreten des ESUG am 1.3.2012 keine grundlegenden Neuerungen.67 Dies dürfte dahin zu verstehen sein, dass ungeachtet der auf die Abberufung und die Neubestellung beschränkten Formulierung von §  276a S.  2 InsO allein der Sachwalter für die Kündigung des Dienstvertrags eines Vorstands zuständig ist, er insoweit also eine gleichsam originäre Zuständigkeit besitzen soll. Eine andere Auffassung spricht sich für eine analoge Anwendung von § 276a S. 2 InsO aus und vertritt die Auffassung, die Kompetenz zur Regelung des Anstellungsverhältnisses der Vorstandsmitglieder verbleibe zwar primär beim Aufsichtsrat; seine Entscheidung sei aber nur wirksam, wenn der Sachwalter zustimme.68 b) Stellungnahme Beiden Auffassungen ist nicht zu folgen. Auch in der Eigenverwaltung liegt die Entscheidung über die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags allein beim Aufsichtsrat und bedarf zu ihrer Wirksamkeit keiner Zustimmung des Sachwalters; eine originäre Zuständigkeit des Aufsichtsrats stünde in Widerspruch zu der gesetzlichen Ausgestaltung der Rechtsstellung des Sachwalters (unter aa) und einer Analogie steht das Fehlen einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke entgegen (unter bb): aa) Keine originäre Kündigungszuständigkeit des Sachwalters Bedenken gegen die Auffassung, allein der Sachwalter könne den Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds kündigen, entstehen bereits im Ansatz mit Blick auf einen 66 Klöhn in MünchKomm. InsO, 3.  Aufl., §  276a Rz.  50; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 87 Rz. 77; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 87 Rz. 34; Koch in MünchKomm. AktG, 4. Aufl., § 264 Rz. 81; Kort in GroßKomm. AktG, 11. Aufl., § 87 Rz. 487; Schwennicke in Grigoleit Aktiengesetz, 1. Aufl., § 87 Rz. 49; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl., § 87 Rz. 228; s. auch AG Duisburg NZG 2006, 112: Zuständigkeit der Gesellschaftsorgane für den Abschluss oder die Änderung eines Geschäftsführerdienstvertrags in der Eigenverwaltung. 67 Pape in Kübler/Prütting/Bork, InsO, St. 07/2012, § 276a Rz. 19 f. 68 Seyfarth, Vorstandsrecht, 1. Aufl., § 18 Rz. 177.

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dann gegebenen Wertungswiderspruch zu § 276a S. 2 InsO: Denn wenn der Sachwalter hiernach an der Entscheidung über die Abberufung bzw. Neubestellung selbst nicht beteiligt, sondern auf einen nur in engen Grenzen (§ 276a S. 3 InsO) zulässigen Zustimmungsvorbehalt verwiesen ist, wäre es unstimmig, ihm hinsichtlich der Entscheidung über die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags, also die Willensbildung und die Umsetzung dieser einseitigen rechtsgeschäftlichen Erklärung, eine Zuständigkeit zuzuweisen. Diese Überlegung weist zugleich auf den Widerspruch dieser Auffassung zu den gesetzlichen Vorgaben hin. Denn in der Eigenverwaltung stehen dem Sachwalter keine Verwaltungs- bzw. Verfügungsbefugnisse zu. Ausnahmen gelten, wie vorstehend bereits dargelegt, nach § 280 InsO nur für bestimmte Haftungsansprüche und Anfechtungsrechte bzw. – in Analogie zu dieser Bestimmung – ggf. für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen aktuelle Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer.69 Im Übrigen beschränkt sich die Rolle des Sachwalters auf bestimmte Zustimmungszuständigkeiten, etwa nach §§ 275 Abs. 1, 277 Abs. 1, 276a S. 2 InsO. Den Sachwalter vor diesem Hintergrund als selbst kündigungsberechtigt anzusehen, vermag vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Vorgaben zu seiner Rechtsstellung nicht zu überzeugen. Ihm würde hierdurch eine rechtliche Zuständigkeit und Rechtsmacht erwachsen, die im Gesetz so nicht angelegt ist, sondern systemwidrig weit darüber hinausginge. bb) Keine Analogie zu § 276a S. 2 InsO Schwieriger ist die Frage einer Analogie zu § 276a S. 2 InsO mit der Folge eines Zustimmungserfordernisses von Seiten des Sachwalters als Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigungserklärung zu beantworten. Denn für eine solche Analogie könnte immerhin auch die Überlegung sprechen, dass im GmbH-Recht etwa anerkannt ist, dass aus der Bestellungs- und Abberufungskompetenz der Gesellschafterversammlung nach §  46 Nr.  5 GmbHG die Annexkompetenz erwächst, auch über den Abschluss und die Beendigung des Geschäftsführerdienstvertrags zu entscheiden.70 ­Insoweit läge es auf den ersten Blick nahe, Entsprechendes auch bei § 276a S. 2 InsO anzunehmen. Ebenfalls für eine Analogie könnte man die Überlegung heranziehen, dass es anderenfalls dem Aufsichtsrat möglich wäre, durch eine Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags dem betroffenen Vorstandsmitglied die wirtschaftliche Grundlage seiner Tätigkeit zu entziehen und ihn auf diesem Wege zu einer Amtsniederlegung zu veranlassen, also mittelbar das herbeizuführen, wozu der Aufsichtsrat nach den gesetzlichen Vorgaben unter Aspekten des Gläubigerschutzes der Zustimmung des Sachwalters bedarf. 69 Kreutz/Ellers in BeckOK InsO, 13. Ed. Stand 28.1.2019, § 280 Rz. 2 mwN. 70 Statt aller: Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9.  Aufl., §  46 Rz.  48  ff.; Ganzer in ­Rowedder, GmbHG, 6.  Aufl., §  46 Rz.  35  f.; Hüffer/Schürnbrand in Ulmer/Habersack/­ Löbbe, GmbHG, 3. Aufl., § 46 Rz. 61 f.; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 46 Rz. 124 ff.; Karsten Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 46 Rz. 70 ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 46 Rz. 36, alle mwN.; ausführlich zur Dogmatik der Annexkompetenz im Aktien- und GmbH-Recht Fleischer, GmbHR 2010, 449 ff.

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Gleichwohl ist für die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags eine Analogie zu § 276a S. 2 InsO zu verneinen: Eine analoge Anwendung der Bestimmung würde voraussetzen, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke aufweist und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht sowie mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, in dem Sinne vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen.71 Gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spricht bereits im Ausgangspunkt der Wortlaut des § 276a S. 2 InsO, der eindeutig allein auf die Abberufung und die Neubestellung, und damit ausdrücklich auf die organschaftliche Ebene abstellt. Nachdem das Gesetz üblicherweise klar zwischen der Bestellungsebene und der Anstellungsebene unterscheidet (vgl. § 84 Abs. 1, 3 AktG; § 38 Abs. 1 GmbHG; § 24 Abs. 3 GenG), ist es unwahrscheinlich, dass dieser Unterschied bei der Eigenverwaltung nicht erkannt worden ist, zumal der Anstellungsvertrag des Geschäftsleiters in der Eigenverwaltung (und auch in der Fremdverwaltung) als solcher zunächst unberührt bleibt. Der Wortlaut der Bestimmung erhält zudem dadurch besonderes Gewicht, dass bei den Gesetzgebungsarbeiten davon ausgegangen wurde, dass das in der Verwaltung dem Insolvenzverwalter zustehende Recht zur vorzeitigen Kündigung eines Dienstverhältnisses (§  113 InsO) im Falle der Eigenverwaltung dem Schuldner zusteht, wenn auch unter der Aufsicht des Eigenverwalters.72 Hieraus folgt, dass der Wortlaut des § 276a S. 2 InsO mit Bedacht allein auf die Bestellungsebene bezogen ist und nach dem hierhinter stehenden Plan des Gesetzes entsprechend dieser Formulierung der Schuldner, also die in der Eigenverwaltung gegenüber dem Vorstand gemäß §  112 AktG durch den Aufsichtsrat vertretene Aktiengesellschaft, für die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags zuständig sein sollte, selbst wenn dies im Einvernehmen mit dem Sachwalter erfolgen sollte. Eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz kann vor diesem Hintergrund nicht gesehen werden. Mit Blick darauf, dass es sich bei § 276a S. 2 InsO – da die Bestellung und Abberufung von Mitgliedern der Geschäftsleitung in der Fremdverwaltung dem Schuldnerbereich zuzuordnen ist73 – ohnehin systematisch gesehen um eine Ausnahmebestimmung handelt, spricht auch der im Rahmen einer Analogie häufig herangezogene Grundsatz, Gleiches auch gleich zu behandeln,74 ebenfalls nicht für, sondern gegen den in der Literatur vertretenen Analogieschluss. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, dass das Gesetz eine Norm nicht enthält, die es nach seiner immanenten Teleologie enthalten sollte;75 es fehlt an der für die erwogene Analogie erforderlichen ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke. 71 Zuletzt BGH v. 8.1.2019 – II ZR 364/18 Rz. 14 mwN.; ausführlich hierzu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 191 ff. 72 Vgl. den Regierungsentwurf zum EGInsO, BT-Drucks. 12/3803, S. 85 li. Sp zu Nr. 3. 73 Klöhn in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 276a Rz. 49 sieht deshalb in § 276a Abs. 2 InsO einen teleologischen und systematischen Bruch. 74 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 193. 75 Hierzu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 195.

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Mit der herrschenden Meinung ist sonach in der Eigenverwaltung gemäß § 112 AktG ausschließlich der Aufsichtsrat als für die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags zuständig anzusehen. 10. Vertretung der Aktiengesellschaft im Rechtsstreit mit einem Vorstandsmitglied Schon mit Blick auf die vorstehenden Ergebnisse kommt für die Vertretung der Aktiengesellschaft im Rechtsstreit mit einem Vorstandsmitglied über die Wirksamkeit seiner Abberufung und/oder der Kündigung seines Vorstandsanstellungsvertrags allein der Aufsichtsrat in Betracht. Seine Vertretungsmacht für die Aktiengesellschaft als dem Schuldner folgt aus der gesetzlichen Vorgabe des § 112 AktG,76 nachdem die insolvenzrechtlichen Bestimmungen zu abweichenden Zuständigkeiten weder direkt noch entsprechend anwendbar sind. Die Übertragung der Vertretungszuständigkeit auf den Sachwalter wäre sowohl unter dem Aspekt des § 112 AktG gesellschaftsrechtlich als auch wegen der gesetzlich vorgegebenen, grundsätzlich auf die Überwachung beschränkten Funktion des Sachwalters insolvenzrechtlich77 unzulässig. 11. Vertretungsbefugnis bei Vertragsabschlüssen als Annexbefugnis des Aufsichtsrats Mit Blick auf seine Vertretungsbefugnis nach § 112 AktG ist der Aufsichtsrat auch ermächtigt, die in diesem Zusammenhang erforderlichen Verträge, insbesondere Mandatsverträge mit Rechtsanwälten, abzuschließen. Denn soweit der Aufsichtsrat sein Recht zur Vertretung der Gesellschaft wahrnimmt, steht ihm zumindest gesellschaftsrechtlich auch ein Vertretungsrecht für solche Hilfsgeschäfte zu, die zur Wahrnehmung der Aufgaben des Aufsichtsrats abgeschlossen werden; Gegenteiliges ist weder aus § 78 Abs. 1 S. 1 AktG noch aus § 112 S. 1 AktG abzuleiten.78 Dem lässt sich weder gesellschaftsrechtlich noch insolvenzrechtlich entgegenhalten, der Aufsichtsrat greife insoweit unzulässig in die Geschäftsführung ein: a) Keine gesellschaftsrechtlichen Bedenken Was die gesellschaftsrechtliche Seite angeht, wonach gemäß § 111 Abs. 4 S. 1 AktG Maßnahmen der Geschäftsführung dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden können, so stehen diese Vorgaben der Vertretung durch den Aufsichtsrat nicht entgegen. Denn es ist allgemein anerkannt, dass dieses Verbot den Bereich, in welchem der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Personalkompetenz und allgemein bei der Ausübung

76 Zur Reichweite des § 112 AktG vgl. statt anderer nur E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl., § 26 Rz. 52 mit umf. Nachweisen. 77 Vgl. BGH, NZI 2016, 963 Rz. 55 f.: Sachwalter darf nicht als Vertreter des Schuldners auftreten. 78 Ausführlich BGH, NZG 2018, 629 Rz. 11 ff. mwN.

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der ihm zustehenden Vertretungsbefugnis gemäß § 112 AktG tätig wird, keine Anwendung findet.79 b) Keine insolvenzrechtlichen Bedenken Insolvenzrechtlich lässt sich nicht argumentieren, der Aufsichtsrat sei nach § 276a S. 1 InsO vom Einfluss auf die Geschäftsführung des Schuldners ausgeschlossen und es sei widersprüchlich, wenn er dann gleichwohl die Aktiengesellschaft als Schuldner im Rechtsstreit selbst vertreten könne. Hiergegen spricht bereits, dass ein anderes Vertretungsorgan als der Aufsichtsrat mit Blick auf § 112 AktG nicht zur Verfügung steht. Im Übrigen betrifft auch der Rechtsstreit gegen ein Vorstandsmitglied die Geschäftsführung des Schuldners, der gemäß § 270 Abs. 1 S. 1 InsO die Insolvenzmasse selbst verwaltet und über sie verfügt. Wenn dieser Schuldner als Aktiengesellschaft nach § 112 AktG gesetzlich durch den Aufsichtsrat vertreten wird, ändert dies nichts daran, dass es nach wie vor der Schuldner ist, der insoweit tätig wird. Grundlegende Unterschiede zwischen einem Tätigwerden des Vorstands und einem Tätigwerden des Aufsichtsrats für die Aktiengesellschaft als Schuldner bestehen insoweit nicht. Bedenken im Hinblick auf die Verfügung über die Masse durch den Aufsichtsrat ist dadurch gerecht zu werden, dass er als Vertreter des Schuldners in der Eigenverwaltung den gleichen Bindungen wie sonst der Vorstand unterworfen ist. 12. Vom Aufsichtsrat verursachte Kosten als Masseverbindlichkeiten Die Kosten, die aufgrund der Beauftragung durch den Aufsichtsrat in Vertretung für die Aktiengesellschaft als Schuldner im Rahmen der Wahrnehmung seiner ihm in der Eigenverwaltung verbliebenen Aufgaben entstehen, sind als Masseverbindlichkeiten anzusehen. Denn soweit der Aufsichtsrat als Vertreter der Aktiengesellschaft als Schuldner tätig wird, handelt er im Rahmen der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners nach §  270 Abs.  1 S.  1 InsO und begründet damit Masse­ verbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO.80 Da diese Verbindlichkeiten typischerweise nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, sollen sie gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 InsO nur mit Zustimmung des Sachwalters eingegangen werden; das Fehlen der Zustimmung lässt die Wirksamkeit der Begründung derartiger Verbindlichkeiten allerdings – wie bereits ausgeführt81 – unberührt.

VI. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Aus den vorstehenden Ausführungen lässt sich zur Rechtsstellung des Aufsichtsrats in der Eigenverwaltung damit festhalten:

79 Statt anderer: Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl., § 111 Rz. 113. 80 Hierzu Tetzlaff/Kern in MünchKomm. InsO, 3. Aufl., § 275 Rz. 6; vgl. auch hierzu bereits oben unter III. 3. 81 Vgl. oben unter III. 3.

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1. Der Ausschluss des Einflusses des Aufsichtsrats auf die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft in der Eigenverwaltung ist entsprechend der Zielrichtung des § 276a S. 1 InsO auf die Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse begrenzt. 2. Aus dieser Begrenzung folgt, dass Tätigkeiten des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit der Hauptversammlung, insbesondere die Unterbreitung von Beschlussvorschlägen nach § 124 Abs. 3 S. 1 AktG, von § 276a S. 1 InsO nicht erfasst werden. 3. Aufgrund der insolvenzrechtlichen Überlagerung der Rechtsverhältnisse in der Eigenverwaltung unterliegt der Vorstand in seiner auf die Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse bezogenen Geschäftsführung nicht mehr der Kontrolle des Aufsichtsrats. Dieser Ausschluss erfasst einen Zugriff auf organisatorisch dem Vorstand nachgeordnete Stellen. Auch in der Satzung oder vom Aufsichtsrat festgesetzte Zustimmungsvorbehalte gemäß § 111 Abs. 4 S. 2 AktG gelten in der Eigenverwaltung nicht. In gleicher Weise ist die Beratungspflicht des Aufsichtsrats als Ausfluss seiner Kontrollpflicht suspendiert. Umgekehrt trifft den Aufsichtsrat in diesem Bereich in der Eigenverwaltung keine Verantwortung und demzufolge auch keine Haftung mehr. 4. Die Bestellungs- und Abberufungskompetenz des Aufsichtsrats bleibt in der Eigenverwaltung unberührt, lediglich die Zustimmung des Sachwalters kommt als besonderes Wirksamkeitserfordernis unter Aspekten des Gläubigerschutzes hinzu. Überschreitet der Sachwalter die ihm nach §  276a S.  3 InsO gesetzten Grenzen, sind aufsichtsrechtliche Maßnahmen des Insolvenzgerichts veranlasst. 5. In der Eigenverwaltung ist ausschließlich der Aufsichtsrat für die Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags zuständig. Eine Anwendung von § 276a S. 2 InsO scheidet entgegen abweichender Stimmen im Schrifttum aus. Eine originäre Kündigungszuständigkeit des Insolvenzverwalters scheitert daran, dass diesem in der Eigenverwaltung keine Verwaltungs- und Verfügungszuständigkeit zukommt. Einer Analogie zu § 276a S. 2 InsO, etwa im Sinne einer Annexkompetenz, steht das Fehlen einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke entgegen; denn es ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass der eingeschränkte Wortlaut mit Bedacht gewählt worden ist und auch unter Aspekten des Gleichbehandlungsgebots ergibt sich kein anderes Ergebnis. 6. Die Vertretung der Aktiengesellschaft im Rechtsstreit mit einem Vorstandsmitglied über die Rechtmäßigkeit seiner Abberufung oder der Kündigung seines Anstellungsvertrags obliegt gemäß § 112 AktG ausschließlich dem Aufsichtsrat. 7. Dem Aufsichtsrat steht im Rahmen der ihm verbleibenden Kompetenzen auch in der Eigenverwaltung eine Annexkompetenz zum Abschluss von Verträgen mit Dritten zu. Die in diesem Zusammenhang verursachten Kosten sind Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Da diese Verbindlichkeiten typischerweise nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, sollen sie entsprechend den allgemeinen Regeln nur mit Zustimmung des Sachwalters eingegangen werden; das Fehlen der Zustimmung des Sachwalters steht der Wirksamkeit dieser Verbindlichkeiten allerdings nicht entgegen.

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Aktuelle Fragen der Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 MAR* Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Einleitung III. Pflicht zur Veröffentlichung von ­Insiderinformationen 1. Voraussetzungen einer Insider­ information a) Nicht öffentlich bekannte Information b) Präzise Information c) Emittenten- oder Finanzinstrumentenbezug d) Erhebliches Kursbeeinflussungs­ potential 2. Unmittelbare Betroffenheit des ­Emittenten IV. Aufschub der Veröffentlichung von ­Insiderinformationen 1. Erfordernis einer Aufschubentscheidung 2. Voraussetzungen der Aufschub­ entscheidung

a) Berechtigtes Interesse des Emittenten b) Fehlende Eignung zur Irreführung der Öffentlichkeit c) Sicherstellung der Geheimhaltung der Insiderinformation 3. Rechtsfolge der Aufschubentscheidung 4. Behandlung von Insiderinformationen im Rahmen der Hauptversammlung a) Umfang des Auskunftsrechts b) Auskunftsverweigerungsrecht V. Zuständigkeit für Entscheidungen im Rahmen der Ad-hoc-Publizität 1. Grundsatz: Zuständigkeit des Vorstands a) Möglichkeit der Delegation b) Organisatorische Vorkehrungen 2. Zuständigkeit des Aufsichtsrats VI. Fazit

I. Vorbemerkung Eberhard Vetter, dem diese Zeilen in hoher Wertschätzung und Dankbarkeit aus ­Anlass seines 70. Geburtstags gewidmet sind, hat sich mit den Problemfeldern des Aktien- und Kapitalmarktrechts seit jeher intensiv auseinandergesetzt und sich in diesem Bereich durch seine Tätigkeit in Praxis und Wissenschaft große Verdienste erworben. Auch seine Erfahrungen mit der Ad-hoc-Publizität reichen weit zurück. Bereits wenige Tage nach Inkrafttreten des durch das 2.  FFG1 eingeführten §  15 WpHG am 1.1.1995 stellte der Jubilar beim damaligen Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel (BAWe), das erst mit Beginn des Jahres 1995 seine Arbeit aufgenommen hatte, einen Antrag auf Befreiung von der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung kursbeeinflussender Tatsachen und betrat damit juristisches Neuland. Da Fragestellungen der Ad-hoc-Publizität auch heute noch Gegenstand der anwaltlichen * Das Manuskript wurde im März 2019 abgeschlossen. 1 Gesetz über den Wertpapierhandel und zur Änderung börsenrechtlicher und wertpapierrechtlicher Vorschriften (Zweites Finanzmarktförderungsgesetz) v. 26.7.1994, BGBl. I 1994, S. 1749 ff.

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Tätigkeit des Jubilars sind, finden die nachfolgenden Ausführungen hoffentlich sein Interesse.

II. Einleitung Seit dem 3.7.2016 stellt die Marktmissbrauchsverordnung2 (Market Abuse Regula­ tion – „MAR“) EU-weit einheitliche Anforderungen an die Kapitalmarkt-Compliance börsennotierter Gesellschaften. Ein Kernbereich – wenn nicht gar das Herzstück – ist in diesem Zusammenhang die sog. Ad-hoc-Publizitätspflicht, d.h. die Pflicht von Emittenten der Öffentlichkeit Insiderinformationen, die unmittelbar den Emittenten betreffen, unverzüglich bekannt zu geben (Art. 17 Abs. 1 MAR), sofern keine Selbstbefreiung (Art. 17 Abs. 4 MAR) erfolgt. Da der EU-Verordnungsgeber die zuvor geltende Rechtslage3 aufgegriffen und nur punktuell fortentwickelt hat, kann für die Auslegung des Art. 17 MAR vielfach auf die zur alten Rechtslage entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden.4 Gleichwohl haben eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe sowie das Erfordernis anspruchsvoller prognostischer Beurteilungen, insbesondere zur Beurteilung des Kursbeeinflussungspotentials einer Information, zu einer beachtlichen Verunsicherung der Marktteilnehmer bei der Erfüllung der Ad-hoc-Publizitätspflichten geführt. So hat eine im Jahr 2018 durchgeführte Befragung von insgesamt 252 börsennotierten Gesellschaften, unter denen sich fast alle Unternehmen aus dem DAX, MDAX, SDAX und TecDAX befanden, ergeben, dass 54 % der Emittenten eine gesunkene bzw. sogar stark gesunkene Rechtssicherheit bei der Ad-hoc-Publizität attestieren. Neun von zehn Unternehmen wünschen sich eine Präzisierung der rechtlichen Vorgaben.5 Da möglicherweise unvollständige oder verspätete Ad-hoc-Meldungen heutzutage oftmals nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, führt für die betroffenen Emittenten häufig schon der bloße Verdacht eines Fehlverhaltens zu einem immensen Reputationsverlust. Sofern es tatsächlich zu einem Fehlverhalten im Zusammenhang mit der Ad-hoc-Publizitätspflicht gekommen ist, drohen gravierende Sanktionen. Insbesondere die verwaltungsrechtlichen

2 Verordnung (EU) Nr.  596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG und 2004/72/EG der Kommission. 3 Durch das Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes (AnSVG) v. 29.10.2004, BGBl. I 2004, 2530 war mit den §§ 12 ff. WpHG a.F. die Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (EU-­ Marktmissbrauchsrichtlinie) in deutsches Recht umgesetzt worden. 4 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 1.2; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 28. 5 DAI/Hengeler Mueller, Studie „Zwei Jahre EU-Marktmissbrauchsverordnung“ v. 12.12.2018, abrufbar unter https://www.dai.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 4, 8.

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Aktuelle Fragen der Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 MAR

Maßnahmen und Sanktionen wurden im Jahr 2016 durch das 1. FiMaNoG6 erheblich verschärft. Bei Verstößen gegen die Ad-hoc-Publizitätspflicht können Emittenten mit Geldbußen in Höhe von bis zu 2,5 Mio. Euro bzw. 2 % des Gesamtumsatzes, den der Emittent im der maßgeblichen Behördenentscheidung vorangegangenen Geschäftsjahr erzielt hat, belegt werden.7 Ferner droht die zwingende Bekanntmachung des Verstoßes und der Sanktion auf der Homepage der BaFin8 (sog. „Naming and Shaming“).9 Bedingt durch die gestiegene Unsicherheit auf Seiten der Emittenten und das verschärfte Sanktionsregime hat sich die Anzahl der Ad-hoc-Meldungen in den letzten Jahren signifikant erhöht. Im Jahr 2017 waren knapp 2.200 Ad-hoc-Meldungen zu verzeichnen und damit deutlich mehr als in den Jahren zuvor.10 Im Folgenden werden zunächst die rechtlichen Voraussetzungen für die Pflicht zur Bekanntgabe von Insiderinformationen beleuchtet (III.). Im Anschluss wird analysiert, unter welchen Voraussetzungen eine Selbstbefreiung von der Veröffentlichungspflicht in Betracht kommt und wie Insiderinformationen im Rahmen von Hauptversammlungen zu behandeln sind (IV.). Sodann wird die Frage der Zuständigkeit für die Ad-hoc-Publizität aufgegriffen und untersucht, ob und an wen diesbezügliche Entscheidungen delegiert werden können (V.). Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse (VI.).

III. Pflicht zur Veröffentlichung von Insiderinformationen Nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 MAR hat ein Emittent der Öffentlichkeit Insiderinformationen, die unmittelbar diesen Emittenten betreffen, unverzüglich bekannt zu geben. Dies gilt unabhängig davon, ob die ad-hoc-publizitätspflichtige Tatsache innerhalb oder außerhalb der Börsenhandelszeiten eingetreten ist.11 Der Emittent ist verpflichtet, die erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, um die Veröffentlichung unverzüglich durchführen zu können. Allerdings kann er, ohne dass 6 Erstes Gesetz zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Erstes Finanzmarktnovellierungsgesetz - 1.  FiMaNoG) v. 30.6.2016, BGBl. I 2016, S. 1514 ff.; infolge des Zweiten Gesetzes zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz - 2. FiMaNoG) v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, S. 1693 ff., finden sich die Ordnungswidrigkeitentatbestände nun in § 120 WpHG wieder. 7 § 120 Abs. 15 Nr. 6-11, Abs. 18 WpHG. 8 § 125 WpHG. 9 Ausführlich zu den Rechtsfolgen bei Verstößen gegen die Ad-hoc-Publizitätspflichten ­Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 298 ff. 10 BaFin, Jahresbericht 2017, abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 138. 11 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz.  66; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 131; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 17 MAR Rz. 6; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 33; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1908.

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darin ein schuldhaftes Zögern läge, das Vorliegen der Mitteilungspflicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums prüfen, der auch den für die Prüfung der Befreiungsentscheidung und gegebenenfalls die Heranziehung externer Berater erforderlichen Zeitrahmen einschließt.12 1. Voraussetzungen einer Insiderinformation Die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität erfordert das Vorliegen einer Insiderinformation. Unter welchen Voraussetzungen eine Information als Insiderinformation zu qualifizieren ist, ergibt sich aus Art. 7 MAR. Nach der Legaldefinition in Art. 7 Abs. 1 lit. a) MAR sind alle nicht öffentlich bekannten präzisen Informationen erfasst, die Emittenten oder Finanzinstrumente betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder damit verbundener Derivate erheblich zu beeinflussen. a) Nicht öffentlich bekannte Information Eine Information ist erst dann öffentlich bekannt, wenn sie dem breiten Anlegerpu­ blikum und damit einer unbestimmten Zahl von Personen zugänglich gemacht wurde.13 Das breite Anlegerpublikum setzt sich aus der Gesamtheit aller professionellen und nicht professionellen Anleger zusammen, die nach Informationen suchen, um sie am Kapitalmarkt zu verwerten.14 Für die öffentliche Bekanntheit ist es nicht ausreichend, wenn der Emittent Analysten oder Journalisten einlädt, um über die fraglichen Umstände zu berichten.15 Auch das Einstellen von Informationen auf der Website des Unternehmens macht diese grundsätzlich nicht öffentlich bekannt im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. a) MAR.16 Gleiches gilt

12 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 5.1; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz. 66; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 129; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 17 MAR Rz. 6; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13.  13 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9 (III.5.c); Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 126; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 5; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13. 14 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 126. 15 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz. 69; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 5; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13; Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 97; Sethe in Assmann/Schütze, Hdb. Kapitalanlagerecht, 4. Aufl. 2015, § 8 Rz. 57. 16 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz.  137; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13; Apfelbacher in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 57, 61.

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für Informationen, die über soziale Netzwerke17 oder über einen nur in bestimmten Kreisen einschlägigen Börseninformationsdienst18 verbreitet werden, und für Informationen, die im Rahmen von Gerichtsverfahren19 sowie  – ggf. „live“ im Internet übertragenen – Hauptversammlungen20 publik werden, da hierbei regelmäßig nur ein bestimmter Personenkreis zeitgleich unterrichtet wird. Öffentlich bekannt sind hingegen etwa Informationen, die durch ein allgemein zugängliches, elektronisches Informationsverbreitungssystem veröffentlicht werden.21 Insoweit ist erforderlich, dass die Kosten nicht so hoch sind, dass sie nur von professionellen Anlegern geschultert werden können.22 Auch wenn nach dem Vorstehenden eine Veröffentlichung in den Medien nicht zwingend erforderlich ist, werden z.B. auch Informationen, die in bundesweit erscheinenden Tageszeitungen enthalten sind, im Moment des Erscheinens dieser Zeitungen öffentlich bekannt. Stellen diese Zeitungen die Information schon vorher auf ihre Website, ist die öffentliche Bekanntheit ab diesem Zeitpunkt gegeben.23 Nicht erforderlich ist, dass die betreffende Information dem breiten Anlegerpublikum in der gesamten EU bekannt ist. Ausreichend ist eine Bekanntmachung in denjenigen EU-Mitgliedstaaten, in denen die betroffenen Finanzinstrumente auf Antrag des Emittenten hin zum Handel auf einem geregelten Markt oder in einem multilateralen Handelssystem zugelassen sind.24 b) Präzise Information Nach Art. 7 Abs.  2 S.  1 MAR sind Informationen als präzise anzusehen, wenn sie Umstände oder Ereignisse betreffen, die bereits gegeben bzw. eingetreten sind oder 17 Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707, 728.  18 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9 (III.5.c); Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 5. 19 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz. 69; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 5; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707, 729 f.; Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 99. 20 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9 (III.5.c); Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7.  Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz.  70; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 5; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707, 729 f.; Mennicke/Jakovou in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 13 WpHG Rz. 98. 21 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S.  9 (III.5.c); Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3.  Aufl. 2018, § 22 Rz. 13, der Reuters, dpag und Bloomberg als Beispiele nennt. 22 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 136. 23 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 135. 24 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 3.3; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707, 720.

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bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein bzw. eintreten werden, und wenn sie spezifisch genug sind, um einen Schluss auf die möglichen Auswirkungen der Umstände bzw. Ereignisse auf die Kurse der betroffenen Finanzinstrumente zu erlauben. Aus Art. 7 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 MAR folgt, dass sowohl Informationen über gegenwärtige Umstände oder Ereignisse als auch über zukünftige Umstände oder Ereignisse als Insiderinformationen zu qualifizieren sein können. Nach Art. 7 Abs.  2 S.  1 Hs. 2 MAR müssen die Informationen eine hin­ reichende Grundlage für eine Einschätzung über den zukünftigen Verlauf des Börsen- oder Marktpreises bilden können. Dies bedeutet, dass die Verlässlichkeit der Informationen nicht so niedrig sein darf, dass ein verständiger Anleger sie bei seiner Anlageentscheidung nicht berücksichtigen würde.25 Wie der EuGH in seinem Lafonta-Urteil entschieden hat, kann eine Information auch dann präzise sein, wenn sie es nicht erlaubt, die Änderung des Kurses in eine bestimmte Richtung vorherzusehen.26 Dem ist zuzustimmen, da die Richtung der Kursbewegung nicht immer prognostizierbar ist, etwa wenn der Kurs trotz eines deutlich erhöhten Gewinns des Emittenten fällt, da viele Marktteilnehmer insgeheim eine noch stärkere Gewinnsteigerung erwartet hatten. Um bei künftigen Ereignissen und Umständen „vernünftigerweise“ davon ausgehen zu können, dass diese eintreten bzw. gegeben sein werden, muss eine umfassende Würdigung der bereits verfügbaren Anhaltspunkte ergeben, dass tatsächlich erwartet werden kann, dass sie in Zukunft existieren oder eintreten werden. Eine hohe Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich, vielmehr ist ausreichend, wenn der Eintritt des künftigen Ereignisses wahrscheinlicher ist als sein Ausbleiben, d.h. eine Wahrscheinlichkeit von „50% plus x“ gegeben ist.27 In Kodifizierung der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Gelt/Daimler28 ist in Art. 7 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 MAR nunmehr ausdrücklich geregelt, dass bei zeitlich gestreckten Vorgängen auch Zwischenschritte eine Insiderinformation darstellen können, falls sie für sich genommen die Kriterien für Insiderinformationen erfüllen. Hierzu gehören etwa Vorgänge, an denen mehrere Entscheidungsträger beteiligt sind und zustimmen müssen. Auch in Anbetracht der hohen Bedeutung, die die BaFin der Begleitung und Begutachtung von gestreckten Sachverhalten beimisst,29 ist in diesen 25 Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz. 43. 26 EuGH v. 11.3.2015 – C-628/13, NZG 2015, 432 Rz. 34; vgl. hierzu auch BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 8 (III.5.b). 27 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 7 (III.5.a); Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz.  97; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3.  Aufl. 2018, §  22 Rz.  9; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz. 45; Kumpan, DB 2016, 2039, 2041; Poelzig, NZG 2016, 528, 532. 28 EuGH v. 28.6.2012 – C-19/11, EuZW 2012, 708. 29 Vgl. BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 10 (III.6.).

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Fällen während des gesamten Prozesses kontinuierlich zu prüfen, ob ein bereits eingetretener Zwischenschritt oder ein bevorstehender Zwischenschritt bzw. das End­ ergebnis als zukünftiges Ereignis die Voraussetzungen einer ad-hoc-publizitätspflichtigen Insiderinformation erfüllt. c) Emittenten- oder Finanzinstrumentenbezug Eine nicht öffentlich bekannte präzise Information kommt nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) MAR nur dann als Insiderinformation in Betracht, wenn sie direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft. Dieses Erfordernis hat neben dem Merkmal der erheblichen Kursrelevanz keine selbstständige Abgrenzungswirkung, denn es gibt keine kursrelevante Information, die nicht zumindest mittelbar einen Emittenten oder ein Finanzinstrument betreffen würde.30 d) Erhebliches Kursbeeinflussungspotential Eine Insiderinformation setzt zwingend ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential der betreffenden Information voraus. Nach Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR ist dieses gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung nutzen würde. Das ist der Fall, wenn ein Kaufoder Verkaufsanreiz besteht und das Geschäft dem verständigen Anleger lohnend erscheint.31 Die Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung beurteilt sich damit aus der ex ante-Perspektive eines verständigen Anlegers.32 Bei dieser im Detail anspruchsvollen Prognoseentscheidung sind, wie sich aus Erwägungsgrund 14 MAR ergibt, alle öffentlich bekannten Informationen zu berücksichtigen. Ob eine Information kursrelevant ist, hängt vor allem von den Erwartungen des Marktes ab, d.h. ob und inwieweit dieser von der Information überrascht werden würde. Als Grundsatz gilt: Je größer die Überraschung, desto kursrelevanter ist die Information.33 Umgekehrt können sogar höchst bedeutsame Informationen für das erhebliche Kursbeeinflussungspotential irrelevant sein, sofern sie aufgrund der Markt­ erwartungen bereits im Kurs reflektiert sind.34 Überdies ist zu beachten, dass der Preis 30 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 116. 31 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 7 (III.5.b); J. Vetter/Engel/Lauterbach, AG 2019, 160, 163; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 54; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 16; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765, 775 f.; Apfelbacher in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 57, 62; Kumpan, DB 2016, 2039, 2042. 32 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz.  169; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 7; Hopt/Kumpan in Schimansky/ Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 54. 33 Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz. 54; Kumpan, DB 2016, 2039, 2042. 34 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz. 180.

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eines Finanzinstruments nicht nur von den Informationen über das betreffende Unternehmen selbst, sondern auch von der Verfassung des Gesamtmarktes oder der jeweiligen Branche geprägt wird.35 Solche rein marktbedingten Kursbewegungen sind bei der Beurteilung der Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung nicht zu berücksichtigen. Mit einzufließen hat in die Betrachtung hingegen die übliche Volatilität des betreffenden Finanzinstruments.36 Nach der Vorgabe in Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR ist Maßstab für die Beurteilung des erheblichen Kursbeeinflussungspotentials der des verständigen Anlegers. Der Verordnungsgeber hat auf eine genaue Definition dieser Figur verzichtet. Zwar lassen sich den Erwägungsgründen 14 und 15 MAR einige Aussagen über den verständigen Anleger dahingehend entnehmen, dass er für seine Entscheidungen alle öffentlich bekannten Informationen heranzieht und hieraus vernünftige Schlussfolgerungen zieht. Die genaue Bestimmung ist jedoch umstritten. Der BGH hat in seiner IKB-Entscheidung zu § 13 Abs. 1 S. 2 WpHG a.F. ausgeführt, dass es sich bei einem verstän­ digen Anleger um einen mit den Marktgegebenheiten vertrauten, börsenkundigen Anleger handelt, der auch irrationale Reaktionen anderer Marktteilnehmer zu berücksichtigen hat.37 Dieses Verständnis wird in der Literatur teilweise auch in Bezug auf Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR für zutreffend gehalten38 und auch die BaFin geht davon aus, dass ein verständiger Anleger erwartetes irrationales Anlegerverhalten berücksichtigt.39 Nach der Gegenansicht müssen die möglichen irrationalen Reaktionen anderer Marktteilnehmer bei der Subsumtion unter Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR ausgeblendet werden.40 Für diese Auffassung spricht, dass irrationale Reaktionen anderer Anleger sich kaum vorhersehen lassen und sich für die Emittenten eine erhebliche Rechtsunsicherheit ergibt. Es verwundert nicht, dass knapp drei Viertel der deutschen börsennotierten Unternehmen sich eine Präzisierung der Vorgaben zum erheblichen Kursbeeinflussungspotential wünschen.41 Die Unsicherheit der Emittenten in Verbindung mit dem erheblich verschärften Sanktionsregime führt im Ergebnis dazu, dass in immer mehr Situationen nach dem Grundsatz in dubio pro publicatione42 verfahren wird. Zur von

35 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 8 (III.5.b); vgl. auch Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz. 89. 36 Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 8. 37 BGH v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, WM 2012, 303, 308. 38 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 7 MAR Rz. 84. 39 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 8 (III.5.b). 40 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 7 MAR Rz.  284; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 MAR Rz. 8; Hopt/Kumpan in Schimansky/ Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 55. 41 Vgl. hierzu DAI/Hengeler Mueller, Studie „Zwei Jahre EU-Marktmissbrauchsverordnung“ v. 12.12.2018, abrufbar unter https://www.dai.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9. 42 Hierzu Widder, DB 2008, 1480.

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Art. 17 MAR bezweckten Sicherung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes43 trägt diese Entwicklung freilich nicht bei. 2. Unmittelbare Betroffenheit des Emittenten Nach Art. 7 Abs. 1 lit. a) MAR können auch solche Informationen Insiderinformationen darstellen, die Emittenten oder Finanzinstrumente nur indirekt betreffen. Für die Ad-hoc-Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR bedarf es hingegen einer Insider­ information, die den Emittenten unmittelbar betrifft. Eine unmittelbare Betroffenheit liegt stets vor, wenn sich die Insiderinformation auf Umstände bezieht, die im Tätigkeitsbereich des Emittenten eingetreten sind. In den Tätigkeitsbereich des Emittenten fallen alle Tatsachen, die sich als unmittelbare Folge seiner unternehmerischen Tätigkeit darstellen.44 Dazu zählen insbesondere Beschlüsse des Vorstands und des Aufsichtsrats jedweder Art, personelle Veränderungen in Schlüsselpositionen sowie die Entwicklung der Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage.45 Bei nicht dem Tätigkeitsbereich des Emittenten entstammenden, sondern von außen kommenden Insiderinformationen ist zu differenzieren. Eine unmittelbare Betroffenheit ist bei unternehmensexternen Vorgängen nur zu bejahen, wenn diese den Emittenten ausschließlich oder maßgeblich betreffen,46 wie dies etwa bei Gerichtsund Behördenentscheidungen oder der Absicht des Hauptaktionärs, einen Squeeze-­ out durchzuführen, der Fall ist.47 Regelmäßig hingegen betreffen außerhalb des Tätigkeitsbereichs des Emittenten eintretende Ereignisse diesen nur mittelbar und sind somit nicht ad-hoc-publizitätspflichtig. Dies gilt für allgemeine Markt- und Wirtschaftsdaten, wie die Veränderung des Geschäftsklimas, Naturereignisse oder Zinssatzentscheidungen der Zentralbanken, die für alle Marktteilnehmer die maßgeblichen Wirtschafts- und Wettbewerbsverhältnisse gleichermaßen bestimmen.48 Nur in Ausnahmefällen können solche Ereig-

43 Zum Normzweck Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E. Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5. Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 1.2; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 5 ff. 44 BGH v. 10.7.2018 – II ZB 24/14, NZG 2019, 105, 108. 45 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz.  3.11; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 35 ff.; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art.  7 MAR Rz.  6; Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3.  Aufl. 2018, §  22 Rz. 14; vgl. auch Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 87. 46 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 45. 47 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz.  3.11; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 45 f.; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, abrufbar unter https://​ www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 51, 59. 48 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 51 f.; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl.

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nisse das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit erfüllen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Erhöhung des Leitzinses erhebliche Vermögenseinbußen des Emittenten zur Folge hat, da dieser mit Finanzderivaten auf die gegenteilige Entwicklung gesetzt hat.49

IV. Aufschub der Veröffentlichung von Insiderinformationen Art. 17 Abs. 4 MAR erlaubt dem Emittenten, die Offenlegung einer Insiderinformation, die seine berechtigten Interessen beeinträchtigen würde, aufzuschieben, sofern die Aufschiebung nicht geeignet ist, die Öffentlichkeit irrezuführen, und der Emittent die Geheimhaltung der Information sicherstellen kann. 1. Erfordernis einer Aufschubentscheidung Während vor dem AnSVG50 die BaFin den Emittenten auf Antrag von der Veröffentlichungspflicht befreien konnte, wenn die Veröffentlichung der Tatsache geeignet war, den berechtigten Interessen des Emittenten zu schaden, sah § 15 Abs. 3 S. 1 WpHG a.F. vor, dass der Emittent bei Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen von der Pflicht zur Veröffentlichung befreit war, ohne dass es hierfür einer Mitwirkung der BaFin bedurfte. In Anbetracht des Wortlauts dieser Regelung („ist befreit“) war umstritten, ob die Befreiung von der Veröffentlichungspflicht eine Legalausnahme darstellte oder hierfür eine Befreiungsentscheidung des Emittenten erforderlich war.51 Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR formuliert nunmehr, dass der Emittent „auf eigene Verantwortung die Offenlegung von Insiderinformationen für die Öffentlichkeit aufschieben“ kann. Mit diesem Wortlaut ist ein Aufschub der Ad-hoc-Mitteilungspflicht ex lege bei Vorliegen der Voraussetzungen nicht mehr vereinbar, da er offensichtlich eine bewusste Entscheidung des Emittenten erfordert.52 Hierfür spricht auch, dass im Falle des Aufschubs nach Art. 17 Abs. 5 MAR zur Wahrung der Stabilität des Finanzsystems gemäß Art. 17 Abs. 6 MAR sogar eine Vorabinformation der BaFin über den beabsichtigten Aufschub erforderlich ist. Ferner sieht Art. 4 Abs. 1 lit. a) der Durchführungsverordnung (EU) 2016/105553 vor, dass Datum und Uhrzeit „der Ent­ 2019, Art. 17 MAR Rz. 41 f.; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 7 Rz. 6, Art. 17 MAR Rz. 3; Teigelack, BB 2016, 1604, 1606. 49 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 89. 50 Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes (AnSVG) v. 29.10.2004, BGBl. I 2004, 2530. 51 Zum Meinungsstand vor Inkrafttreten der MAR Mülbert in FS Stilz, 2014, 411, 412 ff. 52 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.31 Rz. 1.5; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.29; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz.  151; Teigelack, BB 2016, 1604, 1607; vgl. auch BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 5 (III.1.). 53 Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055 der Kommission v. 29.6.2016 zur Festlegung technischer Durchführungsstandards hinsichtlich der technischen Mittel für die angemessene Bekanntgabe von Insiderinformationen und für den Aufschub der Bekanntgabe von

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scheidung über den Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen“ auf einem dauerhaften Datenträger festzuhalten sind. Auch dies macht deutlich, dass die Adhoc-­Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR bei Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen nicht automatisch entfällt. Dem Emittenten steht ein angemessener Zeitraum zur Prüfung der Möglichkeit des Aufschubs und gegebenenfalls der Heranziehung externen Sachverstands zu.54 Für den Fall des Bestehens von Zweifeln in Bezug auf das Vorliegen einer zu veröffentlichenden Insiderinformation sieht die h.M. eine vorsorgliche Selbstbefreiung als zulässig an.55 2. Voraussetzungen der Aufschubentscheidung Nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR kann ein Emittent die Veröffentlichung von Insiderinformationen für die Öffentlichkeit aufschieben, sofern (a) die unverzügliche Veröffentlichung geeignet wäre, die berechtigten Interessen des Emittenten zu be­ einträchtigten, (b) die Aufschiebung der Offenlegung nicht geeignet wäre, die Öffentlichkeit irrezuführen und (c) der Emittent die Geheimhaltung dieser Information sicherstellen kann. Im Hinblick auf die früh greifende Veröffentlichungspflicht bei gestreckten Vorgängen ist in Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR ausdrücklich anerkannt, dass eine Selbstbefreiung insbesondere in diesen Fällen relevant sein kann. a) Berechtigtes Interesse des Emittenten Erste Voraussetzung für die Befreiung von der Ad-hoc-Publizität ist, dass der Emittent ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung der Insiderinformation hat. Anders als nach früherer Rechtslage bedarf es für die Feststellung des berechtigten Interesses nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a) MAR keiner Interessenabwägung zwischen den Geheimhaltungsinteressen des Emittenten und dem Informationsinteresse des Kapitalmarktes.56 Art. 17 Abs. 4 MAR lässt indes offen, in welchen Fällen von einem berechtigten Interesse an der Geheimhaltung der Information auszugehen ist. Eine – Insiderinformationen gemäß Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates. 54 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7.  Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 92. 55 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.31 Rz. 1.6; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.32; Kumpan, DB 2016, 2039, 2043. 56 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.31 Rz. 3.2; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.33; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz.  170; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 17 MAR Rz. 9; Hopt/Kumpan in Schimansky/ Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 153; Klöhn, AG 2016, 423, 430; Kumpan, DB 2016, 2039, 2043; Retsch, NZG 2016, 1201, 1202; a.A. Assmann in Assmann/ Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 105, 120.

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nicht abschließende – Aufzählung findet sich in Erwägungsgrund 50 MAR. Auch die Leitlinien der European Securities and Markets Authority (ESMA) über den Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen57 enthalten eine nicht erschöpfende indikative Liste von berechtigten Interessen i.S.v. Art. 17 Abs.  4 Unterabs. 1 lit. a) MAR. Nach Erwägungsgrund 50 lit. a) MAR kann ein Aufschub insbesondere zulässig sein im Falle „laufender Verhandlungen oder damit verbundener Umstände, wenn das Ergebnis oder der normale Ablauf dieser Verhandlungen von der Veröffentlichung wahrscheinlich beeinträchtigt werden würden; insbesondere wenn die finanzielle Überlebensfähigkeit des Emittenten stark und unmittelbar gefährdet ist“. Als entsprechende Beispiele führt die ESMA Verhandlungen über Fusionen, Übernahmen, Aufspaltungen und Spin-offs, Erwerb oder Veräußerung wesentlicher Vermögenswerte oder Unternehmenszweige, Umstrukturierungen und Reorganisationen an.58 Ferner soll nach Erwägungsgrund 50 lit. b) MAR ein berechtigtes Interesse am Aufschub gegeben sein, wenn zusammen mit den durch das Geschäftsführungsorgan abgeschlossenen Verträgen oder Entscheidungen bekannt gemacht werden müsste, dass für deren Wirksamkeit noch die Zustimmung eines anderen Organs erforderlich ist, und dies die sachgerechte Bewertung der Information durch das Publikum gefährden würde.59 Hintergrund ist, dass die Einschätzungen von Vorstand und Aufsichtsrat über die Vor- und Nachteile einer Transaktion einschließlich der wesentlichen wirtschaftlichen Parameter potentiell divergieren können und eine spätere Versagung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat das Ansehen der Gesellschaft erheblich be­ einträchtigen könnte, wenn zuvor bereits im Wege der Ad-hoc-Meldung über die ­bevorstehende Transaktion berichtet würde. Es soll gewährleistet werden, dass der Aufsichtsrat über die Erteilung der Zustimmung frei von Gesichtspunkten des Kapitalmarkts und der Öffentlichkeit allein unter Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft entscheiden kann. Über die in Erwägungsgrund 50 MAR genannten Fälle hinaus erkennt die ESMA ein berechtigtes Interesse an, wenn im Falle einer Produktentwicklung oder Erfindung des Emittenten die unverzügliche Offenlegung dieser Information aller Wahrschein57 ESMA, MAR-Leitlinien „Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen“ – ESMA/​ 2016/1478/DE v. 20.10.2016, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019); die BaFin zieht diese Leitlinien im Rahmen ihrer Verwaltungspraxis zur Konkretisierung der Voraussetzungen des Art. 17 Abs.  4 MAR heran, vgl. BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 2 (I.2.). 58 ESMA, MAR-Leitlinien „Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen“ – ESMA/​ 2016/1478/DE v. 20.10.2016, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019), Rz. 8 lit. a). 59 In dieser Konstellation verlangt die ESMA für das Vorliegen eines berechtigten Aufschub­ interesses zudem, dass der Emittent dafür gesorgt hat, dass die endgültige Entscheidung so schnell wie möglich getroffen wird, vgl. ESMA, MAR-Leitlinien „Aufschub der Offen­ legung von Insiderinformationen“  – ESMA/2016/1478/DE v. 20.10.2016, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019), Rz. 8 lit. c).

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lichkeit nach die Rechte des geistigen Eigentums des Emittenten gefährden würde, der Emittent den Erwerb oder Verkauf einer wesentlichen Beteiligung an einem anderen Unternehmen plant, und die Offenlegung dieses Umstands aller Wahrscheinlichkeit nach die Transaktion gefährden würde oder ein Geschäft der Genehmigung durch eine Behörde bedarf, deren Erlangung durch die Ad-hoc-Meldung aller Wahrscheinlichkeit nach verhindert würde.60 Alle in Erwägungsgrund 50 MAR und in den Leitlinien der ESMA genannten Fallbeispiele betreffen zeitlich gestreckte Sachverhalte. Dass in solchen Konstellationen eine Aufschubentscheidung in Betracht kommt, sofern der jeweilige Zwischenschritt eine Insiderinformation darstellt, stellt freilich schon Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR klar. b) Fehlende Eignung zur Irreführung der Öffentlichkeit Nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. b) MAR ist für den Aufschub der Ad-hoc-Publizität weiterhin erforderlich, dass die Aufschiebung der Offenlegung nicht geeignet wäre, die Öffentlichkeit irrezuführen. In diesem Zusammenhang hat außer Betracht zu bleiben, dass zwischen dem Emittenten, der die Insiderinformation kennt, und der Öffentlichkeit, bei der dies nicht der Fall ist, ein Informationsungleichgewicht besteht, denn anderenfalls käme ein Aufschub nie in Betracht.61 Der Emittent darf jedoch während des Befreiungszeitraums keine Signale setzen, die im Widerspruch zu der noch nicht veröffentlichten Insiderinformation stehen.62 Dementsprechend darf er keine unzutreffenden Dementis vornehmen, sondern sich allenfalls mit „kein Kommentar“ erklären.63 Die Verfolgung einer solchen „no comment policy“ gilt grundsätzlich auch dann nicht als Irreführung, wenn Gerüchte über die geheim gehaltene Information kursieren.64 Allerdings bestimmt Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 1 MAR, dass im Falle einer vorgenommenen Selbstbefreiung der Emittent die Öffentlichkeit so schnell wie möglich zu informieren hat, sofern die Vertraulichkeit der Insiderinformation nicht mehr gewährleistet ist. Diese Pflicht schließt nach Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 MAR Sachverhalte ein, bei denen ein Gerücht auf eine Insiderinformation Bezug nimmt, sofern dieses Gerücht ausreichend präzise ist und vermuten lässt, dass die Vertraulichkeit 60 ESMA, MAR-Leitlinien „Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen“ – ESMA/​ 2016/1478/DE v. 20.10.2016, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019), Rz. 8 lit. d) - f). 61 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 122; Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E. Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5. Aufl. 2019, Muster 7.31 Rz.  3.7; Kumpan, DB 2016, 2039, 2044; vgl. auch OLG Stuttgart v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08, NZG 2009, 624, 631.  62 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 61; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.35; Kumpan in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, Art. 17 MAR Rz. 10. 63 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.31 Rz. 3.7; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.35; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 257. 64 Hierzu Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 257.

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nicht mehr gewährleistet ist. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob das Gerücht aus der Sphäre des Emittenten stammt.65 Die Untersuchung der Frage, ob ein „Leck“ in der Sphäre des Emittenten existiert, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, um dem Zweck der Ad-hoc-Publizitätspflicht gerecht werden zu können.66 Allerdings hat die BaFin klargestellt, dass ein willkürliches Streuen diffuser Informationen, in der Absicht, dem Emittenten richtigstellende Informationen zu entlocken, die Anforderungen an ein ausreichend präzises Gerücht nicht erfüllt.67 Die ESMA hat zu Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. b) MAR eine nicht abschließende indikative Liste erstellt, in der Fälle genannt werden, in denen der Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen geeignet ist, die Öffentlichkeit irrezuführen. Danach ist eine Gefahr der Irreführung gegeben, sofern sich die Insiderinformationen, deren Offenlegung der Emittent aufzuschieben beabsichtigt, wesentlich von einer früheren öffentlichen Ankündigung des Emittenten hinsichtlich dieses Gegenstands unterscheiden, die Insiderinformation die Tatsache betrifft, dass zuvor öffentlich bekanntgegebene Ziele aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreicht werden, oder sie in Widerspruch zu Markterwartungen steht, die der Emittent selbst geweckt hat.68 c) Sicherstellung der Geheimhaltung der Insiderinformation Dritte Voraussetzung für den Aufschub der Ad-hoc-Publizität ist gemäß Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c) MAR, dass der Emittent die Geheimhaltung der Insiderinformation sicherstellen kann. Nähere Vorgaben dazu, welche konkreten Pflichten der Emittent in diesem Zusammenhang zu erfüllen hat, finden sich in der MAR nicht. Allerdings lassen sich Anforderungen an den Emittenten aus den in Art. 4 Abs.  1 lit.  c) der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055 geregelten Dokumentationspflichten während des Zeitraums der Selbstbefreiung ableiten. Hiernach hat der Emittent Informationshindernisse zu schaffen, um den Zugang zur Insiderinformation durch andere Personen als diejenigen, die sie für ihre Arbeit, ihren Beruf oder ihre Aufgaben beim Emittenten benötigen, zu verhindern („need-to-know-Prinzip“).69 In diesem Zusammenhang ist auch die aus Art. 18 Abs. 2 MAR resultierende Pflicht des Emittenten von Relevanz, dafür zu sorgen, dass die in der Insiderliste erfassten Personen die sich aus den Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergebenden Pflichten im Umgang mit Insiderinformationen schriftlich anerkennen und sich der Sanktionen bewusst sind, die bei unrechtmäßiger Offenlegung von Insiderinformationen Anwen65 Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.35; Hopt/ Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, §  107 Rz.  157; Klöhn, AG 2016, 423, 431; vgl. auch BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 5 (III.2.). 66 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905; Klöhn, AG 2016, 423, 431. 67 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 6 (III.3.). 68 ESMA, MAR-Leitlinien „Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen“ – ESMA/​ 2016/1478/DE v. 20.10.2016, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019), Rz. 9. 69 Art. 4 Abs. 1 lit. c) i) Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055. 

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dung finden. Ferner sind durch den Emittenten Vorkehrungen zur schnellstmöglichen Bekanntgabe der Insiderinformation für den Fall zu treffen, dass die Vertraulichkeit der Insiderinformation nicht mehr gewährleistet ist.70 Nach Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 MAR ist die Insiderinformation auch dann so schnell wie möglich bekannt zu machen, wenn ein Gerücht auf diese Information Bezug nimmt und dieses Gerücht ausreichend präzise und zu vermuten ist, dass die Vertraulichkeit der Information nicht mehr gewährleistet ist.71 3. Rechtsfolge der Aufschubentscheidung Hat der Emittent bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 17 Abs.  4 MAR eine Aufschubentscheidung getroffen, ist er von der Ad-hoc-Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR befreit. Einen maximalen Zeitraum für diese Befreiung gibt es nicht.72 Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass je länger der Aufschub dauert, desto größer das Risiko ist, durch nicht selbst verursachte Gerüchte zu einer vorzeitigen Ad-hocMeldung gezwungen zu sein. In jedem Fall ist der Emittent verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 MAR fortlaufend zu überprüfen.73 Sobald die Befreiungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, muss der Emittent die Veröffent­ lichung unverzüglich nachholen. Fehlt es allerdings zu diesem Zeitpunkt an einer Insiderinformation, etwa weil der Vorgang sich erledigt hat, so entfällt auch die Ad-­hocPublizitätspflicht.74 Dies ergibt sich daraus, dass eine Ad-hoc-Mitteilung, die sich nicht auf eine Insiderinformation bezieht, für den Kapitalmarkt irreführend bzw. überflüssig wäre und dessen Funktionsfähigkeit nicht verbessern würde. 4. Behandlung von Insiderinformationen im Rahmen der Hauptversammlung Sofern der Emittent die Veröffentlichung einer Insiderinformation nach Art. 17 Abs. 4 MAR aufgeschoben hat, ist eine während der Dauer des Aufschubs durchzuführende Hauptversammlung mit besonderen Herausforderungen verbunden, da die Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität mit dem Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG kollidieren kann. Aus Sicht des Vorstands ist insoweit von erheblicher Bedeutung, dass die Offenlegung von Insiderinformationen zu einer Strafbarkeit nach § 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG führen könnte. Teilweise wird davon ausgegangen, dass eine Offenlegung von Insiderinformationen aufgrund des Auskunftsrechts des Aktionärs nach § 131 AktG nicht unrechtmäßig erfolgt und damit eine Strafbarkeit nach § 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG i.V.m. Art. 14 lit. c), Art. 10 MAR ausscheidet. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass gemäß Art. 10 70 Art. 4 Abs. 1 lit. c) ii) Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055. 71 Siehe hierzu bereits oben IV.2.b). 72 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 291. 73 Horcher in Drinhausen/Eckstein, BeckHdb. AG, 3. Aufl. 2018, § 22 Rz. 45; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 300. 74 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz.  301; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 15.37.

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Abs. 1 MAR eine unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen nicht vorliegt, sofern die Offenlegung „im Zuge der normalen Ausübung einer Beschäftigung oder eines Berufs oder der normalen Erfüllung von Aufgaben“ erfolgt. In Betracht kommt allerdings auch nach dieser Ansicht die Begehung einer Ordnungswidrigkeit wegen fehlerhafter Ad-hoc-Meldung.75 Nach der Gegenansicht ist hingegen im Falle der Offenlegung von Insiderinformationen in der Hauptversammlung eine Strafbarkeit des Vorstands gegeben, da das Auskunftsrecht der Aktionäre gemäß § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AktG hinter dem insiderrechtlichen Offenlegungsverbot zurückstehe.76 Vor diesem Hintergrund wird teilweise empfohlen, vor der Hauptversammlung den Weg der Ad-hoc-Publizität zu wählen, damit der Vorstand in der Hauptversammlung dieselbe Auskunft frei von allen Risiken der Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit wiederholen kann. 77 Weil diese Vorgehensweise jedoch die der Selbstbefreiung zugrundeliegenden berechtigten Interessen des Emittenten beeinträchtigen würde, gilt es zu beleuchten, ob andere Lösungswege bestehen. a) Umfang des Auskunftsrechts Da sich eine Insiderinformation in der Regel nur auf das laufende und nicht das der Hauptversammlung zugrunde liegende abgeschlossene Geschäftsjahr bezieht, stellt sich zunächst die Frage, ob die entsprechenden Umstände überhaupt vom Auskunftsrecht der Aktionäre erfasst sind. Nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG ist den Aktionären in der Hauptversammlung nur Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, soweit dies zur sachgemäßen Beurteilung eines Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist. Im Rahmen der ordentlichen Hauptversammlung wird u.a. über die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats beschlossen (§ 120 Abs. 1-3 AktG). Da sich die Entlastung regelmäßig allein auf das zurückliegende Geschäftsjahr bezieht, ist das Auskunftsrecht der Aktionäre nach einer Auffassung nur gegeben, soweit sich deren Fragen auf dieses abgelaufene Geschäftsjahr beziehen.78 Für Fragen zu Vorgängen aus dem laufenden Geschäftsjahr sei der Aktionär auf die nächste ordentliche Hauptversammlung zu verweisen.79 Vor dem Hintergrund, dass durch die Entlastung nicht nur die bisherige Geschäftsführung gebilligt, sondern dem Vorstand und Aufsichtsrat auch das Vertrauen für die Zukunft ausgesprochen wird,80 erstreckt eine an75 Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 50; vgl. zum früheren Recht auch: Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 84.  76 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 10 MAR Rz. 110; vgl. auch Hopt/ Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 107 Rz. 143. 77 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134. 78 LG Frankfurt v. 16.2.2016 – 3-05 O 132/15, NJW-RR 2016, 739, 741, Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 33; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 55. 79 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 55. 80 BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12, NZG 2014, 423, 427; BGH v. 18.10.2004 – II ZR 250/02, NZG 2005, 77, 78; OLG Düsseldorf v. 22.2.1996 – 6 U 20/95, AG 1996, 273, 274; Koch in

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dere Ansicht demgegenüber das Auskunftsrecht auch auf Vorgänge des laufenden Geschäftsjahres.81 Der BGH hat sich zu dieser Frage des Auskunftsrechts nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG noch nicht geäußert.82 In Anbetracht dessen wäre es mit erheblichen Unsicherheiten behaftet, die Beantwortung einer Frage, die sich auf das laufende Geschäftsjahr bezieht, mit dem Argument abzulehnen, dass diese nicht vom Auskunftsrecht nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG erfasst ist. b) Auskunftsverweigerungsrecht Von besonderer Bedeutung ist daher, ob der Vorstand ein Auskunftsverweigerungsrecht geltend machen kann. Nach § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AktG darf der Vorstand die Auskunft verweigern, soweit er sich durch die Erteilung der Auskunft strafbar machen würde. Teilweise wird im Falle des Vorliegens einer Insiderinformation vor dem Hintergrund von § 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG ein Auskunftsverweigerungsrecht des Vorstands nach § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AktG bejaht.83 Dem wird entgegengehalten, dass der Vorstand sich nur auf ein Auskunftsverweigerungsrecht berufen könne, wenn ihm keine anderweitigen Möglichkeiten zur Verfügung stünden den Konflikt aufzulösen. Da der Vorstand die ­Qualifizierung der Information als Insiderinformation durch eine Ad-hoc-Meldung aufheben könne, sodass er sich danach bei der Informationsweitergabe in der Hauptversammlung nicht mehr strafbar mache, könne eine Auskunftsverweigerung nach § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AktG allenfalls die kurze Überbrückung der für die Veröffentlichung erforderlichen Zeit abdecken, nicht jedoch eine endgültige Verweigerung legitimieren.84 Für die Hauptversammlungspraxis ergeben sich aus der von der letztgenannten Ansicht vertretenen allenfalls temporären Anwendbarkeit des §  131 Abs.  3 S.  1 Nr.  5 AktG keine Einschränkungen. Sofern ein Emittent nach Art. 17 Abs. 4 MAR die Veröffentlichung einer Insiderinformation aufschieben kann, ist jedenfalls das AusHüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 120 AktG Rz. 2; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 120 AktG Rz. 12, 31; Pöschke/Vogel in Semler/Volhard/Reichert, Hdb. HV, 3. Aufl. 2011, § 16 Rz. 2. 81 OLG München v. 24.9.2008  – 7 U 4230/07, WM 2009, 265, 267; OLG Düsseldorf v. 28.11.1967 – 19 W 2/67, NJW 1968, 752, 753; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 32; vgl. auch Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz. 153. 82 Das Urteil des BGH v. 7.4.1960 (II ZR 143/58, NJW 1960, 1150, 1152) bezog sich auf § 112 AktG 1937, dessen Wortlaut weiter war als der von § 131 Abs. 1 S. 1 AktG. Vgl. zur historischen Entwicklung des Auskunftsrecht Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz. 2 ff. 83 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 10 MAR Rz. 35; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 134; vgl. auch Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 14.71. 84 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1907; vgl. auch Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 10 MAR Rz. 110; Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz.  49; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5.  Aufl. 2017, § 107 Rz. 143.

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kunftsverweigerungsrecht nach § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AktG einschlägig.85 Hiernach darf der Vorstand die Auskunft verweigern, soweit die Erteilung der Auskunft nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet ist, der Gesellschaft oder einem verbundenen Unternehmen einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen. Es ist kein Anhaltspunkt ersichtlich, weshalb an das Bestehen eines nicht unerheblichen Nachteils i.S.v. § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AktG ein strengerer Maßstab anzulegen sein sollte als für die Beeinträchtigung berechtigter Interessen i.S.v. Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. a) MAR, sodass bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizität auch ein Auskunftsverweigerungsrecht hinsichtlich dieser Insiderinformation in der Hauptversammlung besteht.86 Hieran schließt sich unmittelbar die Frage an, ob ein bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht in der Hauptversammlung zu begründen ist, denn allein die Angabe dieser Gründe könnte unter Umständen Rückschlüsse auf die Insiderinformation zu­ lassen. Insbesondere im Falle des § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AktG wäre der erhebliche Nachteil im Sinne dieser Vorschrift bereits mit der Begründung der Auskunftsverweigerung eingetreten.87 Die Frage des Begründungszwangs ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Während teilweise eine Begründungspflicht bejaht wird88 und zur Begründung insbesondere auf § 131 Abs. 5 AktG verwiesen wird, nach dem der Aktionär verlangen kann, dass seine Frage und der Grund, aus dem die Auskunft verweigert worden ist, in die Hauptversammlungsniederschrift aufgenommen wird, lehnt die wohl h.M. eine Begründungspflicht ab89 und führt u.a. aus, dass der Wortlaut des § 131 AktG keine Anknüpfungspunkte für einen Begründungszwang enthalte und der Protokollierungsanspruch aus § 131 Abs. 5 AktG in Bezug auf den Grund der Auskunftsverweigerung nur bestehe, wenn durch den Vorstand ein Grund angegeben worden sei. Allerdings besteht weitgehend Einigkeit, dass eine fehlende Begründung bei objektivem Vorliegen eines Auskunftsverweigerungsrechts nicht zur Unzulässigkeit der Auskunftsverweigerung führt, sondern das Bestehen eines Auskunftsverweigerungsrechts vielmehr von einer Begründung unabhängig ist.90

85 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 10 MAR Rz. 111; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1908; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 27. 86 Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1908. 87 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 118. 88 LG Frankfurt v. 15.2.1989 – 3/8 O 134/88, ZIP 1989, 1062, 1063; vgl. auch Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz. 505. 89 OLG Stuttgart v. 29.2.2012 – 20 W 5/11, AG 2012, 377, 381; Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 36; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 113; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1909; Hoffmann-Becking in Münch. Hdb. GesR, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 38 Rz. 42; Lieder, NZG 2014, 601, 603. 90 BGH v. 14.1.2014 – II ZB 5/12, NZG 2014, 423 Rz. 43; Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 36; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 113; Kocher/Sambulski, DB 2018, 1905, 1909; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 73; Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz. 505; Volhard in: Semler/Volhard/Reichert, Hdb. HV, 3. Aufl. 2011, § 11 Rz. 41.

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Zwar kann eine fehlende Begründung eine Kostentragungspflicht in einem nachfolgenden Auskunftserzwingungs- bzw. Anfechtungsverfahren zur Folge haben.91 Dies dürfte jedoch im Vergleich zu den Nachteilen, die durch mögliche Rückschlüsse auf das Vorliegen der Insiderinformation entstehen könnten, das geringere Übel darstellen. Nach alledem ist es nicht erforderlich, einen Aufschub nach Art. 17 Abs. 4 MAR vor der Hauptversammlung zu beenden und die Insiderinformation zu veröffentlichen, sofern die Befreiungsvoraussetzungen weiterhin gegeben sind. Allerdings ist die Hauptversammlung in solchen Fällen sorgfältig vorzubereiten. Zum einen sollten mögliche Fragen der Aktionäre antizipiert und diesbezügliche Antworten des Vorstands vorbereitet werden, um eine unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen zu vermeiden. Zum anderen sind die nötigen Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass die Vertraulichkeit der Insiderinformation nicht mehr gewährleistet werden kann. Diesbezüglich ist im Vorfeld der Hauptversammlung insbesondere der Text der Ad-hoc-Meldung zu entwerfen, um diese im Bedarfsfall unverzüglich in der richtigen Form veröffentlichen zu können.

V. Zuständigkeit für Entscheidungen im Rahmen der Ad-hoc-Publizität Die Ad-hoc-Publizitätspflichten aus Art. 17 MAR treffen den Emittenten. 1. Grundsatz: Zuständigkeit des Vorstands Auch wenn sich weder die Veröffentlichungspflicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 MAR noch die in Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR vorgesehene Regelung zur Möglichkeit einer Selbstbefreiungsentscheidung ausdrücklich an den Vorstand richtet, handelt es sich bei den Maßnahmen zur Einhaltung der Ad-hoc-Publizitätspflicht um Geschäftsführungsmaßnahmen, für deren Erfüllung grundsätzlich der Vorstand zuständig ist.92 a) Möglichkeit der Delegation Es ist inzwischen überwiegende Marktpraxis, die Beurteilung, ob eine ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation vorliegt und ob eine Selbstbefreiung erfolgen kann und soll, an ein Ad-hoc-Gremium zu übertragen, das zumeist als Ad-hoc-Komitee, 91 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 113; Spindler in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 132 AktG Rz. 19; Kersting in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2010, § 131 Rz. 507. 92 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 25, 92; Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E. Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5. Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 2.5; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz.  54; Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz.  60, 190; ­Ihrig, ZHR 181 (2017), 381, 388; vgl. auch Pfüller in Fuchs, 2.  Aufl. 2016, §  15 WpHG Rz. 425; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72; Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607.

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Ad-hoc-Ausschuss oder Disclosure Committee bezeichnet wird.93 Eine im Jahr 2018 durchgeführte Befragung deutscher börsennotierter Unternehmen hat ergeben, dass 90 % der Unternehmen ein spezielles Gremium für die Bewertung von Ad-hoc-Sachverhalten eingerichtet haben und der Anteil bei den DAX- und MDAX-Unternehmen sogar bei 100  % liegt.94 Die Reichweite der Entscheidungskompetenz des Ad-hoc-­ Gremiums ist unterschiedlich geregelt. Während 45 % der Gremien über vollumfängliche Entscheidungskompetenzen verfügen, bereiten 55  % die Entscheidungen zur Ad-hoc-Publizität lediglich vor.95 In aller Regel setzen sich die Ad-hoc-Gremien aus Vorstandsmitgliedern sowie Vertretern verschiedener Abteilungen im Unternehmen zusammen.96 Häufig gehören Mitarbeiter aus der Rechtsabteilung sowie den Bereichen Finanzen, Investor Relations und Unternehmenskommunikation dem Ad-hoc-Gremium an.97 Dies ist im Hinblick darauf, dass sowohl zahlreiche rechtliche Fragen zu beantworten sind als auch unter Berücksichtigung der Perspektive eines verständigen Anlegers das erhebliche Kursbeeinflussungspotential der betreffenden Information zu prognostizieren ist, sinnvoll. Im Rahmen dieser Prognoseentscheidung sind die Finanz- und Ertragslage sowie die vorherige Kommunikation des Emittenten gegenüber dem Kapitalmarkt von besonderer Bedeutung. Sofern dem Ad-hoc-Gremium beim Emittenten nicht nur eine vorbereitende Funktion zukommt, stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine Delegation der im Rahmen der Ad-hoc-Publizität erforderlichen Entscheidungen rechtlich zulässig ist. Nach ganz überwiegender Meinung kann die Erfüllung der Ad-hoc-Publizitätspflichten nach den allgemeinen aktienrechtlichen Grundsätzen über die horizontale Delegation von Geschäftsführungsaufgaben98 jedenfalls an mehrere oder einzelne Vorstandsmitglieder delegiert werden.99 Überaus umstritten ist hingegen, ob der Vorstand die Ad-hoc-Publizitätspflichten vollständig auf nachgeordnete Gremien delegieren darf oder ob es jedenfalls der Mitwirkung zumindest eines Vorstandsmitglieds bedarf. Die BaFin vertritt in ihren FAQs zur Veröffentlichung von Insiderinformation und im Emittentenleitfaden die An93 Walla/Knierbein, WM 2018, 2349, 2351. 94 DAI/Hengeler Mueller, Studie „Zwei Jahre EU-Marktmissbrauchsverordnung“ v. 12.12.2018, abrufbar unter https://www.dai.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9. 95 DAI/Hengeler Mueller, Studie „Zwei Jahre EU-Marktmissbrauchsverordnung“ v. 12.12.2018, abrufbar unter https://www.dai.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 9. 96 Walla/Knierbein, WM 2018, 2349, 2351. 97 DAI/Hengeler Mueller, Studie „Zwei Jahre EU-Marktmissbrauchsverordnung“ v. 12.12.2018, abrufbar unter https://www.dai.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 10. 98 Hierzu E.  Vetter in Krieger/Uwe H. Schneider, Hdb. Managerhaftung, 3.  Aufl. 2017, Rz. 22.19 ff. 99 Bohlken in Happ/Groß/Möhrle/E.  Vetter, Aktienrecht Bd. I, 5.  Aufl. 2019, Muster 7.30 Rz. 2.5; Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607, 1608; Pfüller in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG Rz. 425; a.A. wohl Krämer/Heinrich, ZIP 2009, 1737, 1741; vgl. auch Burg/Marx, AG 2009, 487, 491, wonach jedenfalls vorsorglich ein Beschluss des Gesamtorgans gefasst werden sollte.

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sicht, dass an der Entscheidung über die Selbstbefreiung mindestens ein Vorstandsmitglied mitwirken muss.100 Zwar macht die BaFin diese Vorgabe nicht explizit auch im Hinblick auf die Entscheidung über das Vorliegen einer veröffentlichungspflichtigen Insiderinformation, allerdings deutet sie eine gleichgelagerte Zuständigkeit zumindest an.101 Auch in der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass einem Ad-hoc-Gremium in Bezug auf beide vorgenannten Verantwortlichkeiten mindestens ein Vorstandsmitglied anzugehören habe.102 Anders als die BaFin hält die ESMA die Mitwirkung eines Vorstandsmitglieds an der Selbstbefreiungsentscheidung nicht zwingend für erforderlich, sondern führt die Beteiligung eines Vorstandsmitglieds lediglich als Beispiel an („e.g. a managing board member or a senior executive director“).103 Wohl vor dem Hintergrund, dass sich BaFin und ESMA ausdrücklich nur zur Zuständigkeit im Rahmen von Art. 17 Abs. 4 MAR äußern, wird auch in der Literatur überwiegend zur Zuständigkeit für die Selbstbefreiungsentscheidung Stellung genommen. Nach h.L. kann die Aufschubentscheidung an ein Ad-hoc-Komitee delegiert werden, das sich ausschließlich aus Mitar­ beitern zusammensetzt, die unterhalb des Vorstands angesiedelt sind.104 Auch eine Delegation der Entscheidung über die Veröffentlichung der Insiderinformation an eine nachgelagerte Ebene wird von einigen Literaturstimmen als zulässig angesehen.105 Dem ist im Grundsatz zuzustimmen. Da den Fragestellungen, ob eine ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation vorliegt und ob ein Aufschub der Veröffentlichung erfolgen kann bzw. sollte, in aller Regel keine grundlegende Bedeutung für die Unternehmensführung zukommt und es sich daher nicht um Leitungsaufgaben handelt, ist eine Einschränkung der Delegationsmöglichkeit grundsätzlich abzulehnen. Gleichwohl sind Ausnahmefälle denkbar, in denen die Entscheidungen im Rahmen der Ad-hoc-Publizität mit außergewöhnlichen Risiken für das Unternehmen verbunden sind und daher mit einem Delegationsverbot einhergehen. Im Ergebnis kann daher das Erfordernis eines Vorstandsbeschlusses nur unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts beurteilt werden. 100 BaFin, FAQs zu Art. 17 MAR (Stand 31.1.2019), abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 5 (III.1.); BaFin, Emittentenleitfaden 2013, abrufbar unter https:// www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 59. 101 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, abrufbar unter https://www.bafin.de/ (Abruf v. 29.3.2019), S. 88 f. 102 Pfüller in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG Rz. 425; Bedkowski, BB 2009, 1482, 1485; vgl. auch Krämer/Heinrich, ZIP 2009, 1737, 1741.  103 ESMA, Final Report  – Draft technical standards on the Marktet Abuse Regulation, ESMA/2015/1455 v. 28.9.2015, abrufbar unter https://www.esma.europa.eu/ (Abruf v. 29.3.2019), Rz. 239. 104 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz.  159, 186, 191; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz.  15.30; Retsch, NZG 2016, 1201, 1205; Mülbert in FS Stilz, 2014, 411, 417; Frowein in Habersack/ Mülbert/Schlitt, Hdb. Kapitalmarktkommunikation, 2.  Aufl. 2013, §  10 Rz.  75; Kocher/ Schneider, ZIP 2013, 1607, 1608 ff.; Ihrig/Kranz, BB 2013, 451, 456; Pattberg/Bredohl, NZG 2013, 87, 88; Groß in FS Uwe H. Schneider, 2011, 385, 392. 105 Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607, 1608 ff.; Pattberg/Bredohl, NZG 2013, 87, 88; Groß in FS Uwe H. Schneider, 2011, 385, 392.

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Für die Praxis gilt überdies Folgendes: Zwar stellt der Emittentenleitfaden der BaFin, wie der BGH ausgeführt hat, lediglich eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift dar106 und auch die von der BaFin veröffentlichten FAQs zu Art. 17 MAR binden die Gerichte nicht. Ungeachtet dessen sollte, aufgrund der von der BaFin vertretenen Beschränkung der Delegationsmöglichkeit, vorsorglich stets zumindest ein Vorstandsmitglied dem Ad-hoc-Gremium angehören. Berücksichtigt man zudem, dass der Vorstand die Arbeitsweise des Ad-hoc-Gremiums unmittelbar zu überwachen hat107 und die Mitgliedschaft mindestens eines Vorstandsmitglieds im Ad-hoc-­ Komitee als Zeichen einer guten Corporate Governance interpretiert wird,108 spricht auch dies für eine solche Beteiligung. Eine Delegation von Entscheidungen der Ad-hoc-Publizität an den Aufsichtsrat darf nicht erfolgen, da § 111 Abs. 4 S. 1 AktG eine Übertragung von Geschäftsführungsaufgaben an den Aufsichtsrat ausschließt.109 Da den Vorstand im Falle der Delegation eine Auswahl- und Überwachungspflicht hinsichtlich der delegierten Aufgabe trifft, würde eine Delegation durch den Vorstand an den Aufsichtsrat dazu führen, dass der Vorstand den Aufsichtsrat zu kontrollieren hätte, was dem Organisationsgefälle in der AG zuwider liefe.110 b) Organisatorische Vorkehrungen Sofern, wie üblich, ein Ad-hoc-Komitee mit Entscheidungen im Rahmen der Adhoc-­Publizität betraut wird, sollten Zusammensetzung und Arbeitsweise des Gremiums in einer Geschäftsordnung festgehalten werden.111 Vor dem Hintergrund der Vorgabe zur unverzüglichen Veröffentlichung von Insiderinformationen sollten insbesondere die gegenseitigen Informationspflichten sowie das Verfahren der Beschlussfassung geregelt werden. Insoweit gilt es auch zu berücksichtigen, dass zur Wahrung des Unverzüglichkeitserfordernisses sowohl für den Fall der Entscheidung über die Veröffentlichung als auch für den Fall der Befreiungsentscheidung die Mitglieder des Gremiums stets erreichbar sein bzw. zusammentreten können müssen.112 Zum Schutz der nicht in die Ad-hoc-Entscheidungen eingebundenen Vorstandsmitglieder sollte dokumentiert werden, wie diese ihrer bestehenden Überwachungspflicht nachgekommen sind.

106 BGH v. 10.7.2018 – II ZB 24/14, NZG 2019, 105, 108; BGH v. 25.2.2008 – II ZB 9/07, NZG 2008, 300, 303. 107 Vgl. Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 191; Pfüller in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG Rz. 425. 108 Retsch, NZG 2016, 1201, 1206. 109 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 191; Mülbert in FS Stilz, 2014, 411, 419; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 75. 110 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 111; Mülbert in FS Stilz, 2014, 411, 419. 111 Walla/Knierbein, WM 2018, 2349, 2351. 112 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 93.

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2. Zuständigkeit des Aufsichtsrats Auch wenn der Vorstand grundsätzlich für die Ad-hoc-Publizität zuständig ist, hat er in bestimmten Fällen keine Kenntnis von der betreffenden Insiderinformation. Dies ist dann der Fall, wenn die Information aus dem aktienrechtlichen Zuständigkeits­ bereich des Aufsichtsrats stammt. Als Beispiele sind Personalentscheidungen des Aufsichtsrats hinsichtlich der Vorstandsmitglieder sowie die Einleitung von Untersuchungsmaßnahmen bzw. die Anspruchsverfolgung gegenüber Vorstandsmitgliedern zu nennen. In solchen Fällen ist der Aufsichtsrat im Rahmen einer Annexkompetenz für die Entscheidung über die Selbstbefreiung zuständig.113 § 111 Abs. 4 S. 1 AktG steht nicht entgegen, da dieser lediglich die gewillkürte Delegation von Maßnahmen der Geschäftsführung verbietet, aber nicht die kraft Gesetzes bestehenden originären Kompetenzen des Aufsichtsrats betrifft und das Bestehen derartiger Zuständigkeiten nicht ausschließt.114 Sobald die Voraussetzungen der Selbstbefreiung wegfallen, sodass der Emittent die Insiderinformation ad hoc veröffentlichen muss, ist hierfür der Vorstand gemäß § 77 AktG zuständig.115 Folglich muss der Aufsichtsrat den Vorstand unverzüglich von der Insiderinformation in Kenntnis setzen, damit dieser die Veröffentlichung vornehmen kann.116 Der Aufsichtsrat selbst ist zur Veröffentlichung von Insiderinformationen nicht befugt.117 Für eine solche Kompetenz besteht kein Bedürfnis, da eine Zuständigkeitsverschiebung nur angemessen ist, sofern der Aufsichtsrat einen Informationsvorsprung gegenüber dem Vorstand hat. Dieser wäre allerdings im Falle einer Veröffentlichung durch den Aufsichtsrat nicht mehr gegeben.

VI. Fazit Der Vorstand eines Emittenten hat wirksame Vorkehrungen zu treffen, damit potentiell ad-hoc-publizitätspflichtige Sachverhalte frühzeitig erkannt, analysiert und, so113 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 193; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 54; Schäfer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz.  15.31; Pfüller in Fuchs, 2.  Aufl. 2016, §  15 WpHG Rz.  427; Retsch, NZG 2016, 1201, 1206; a.A. Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607, 1611; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz. 95, der den Bedarf für eine Befreiungsentscheidung verneint, da ein entsprechendes Wissen des Aufsichtsrates der Vertraulichkeit unterliege, von daher dem Emittenten nicht zugerechnet werde und folglich auch keine Pflicht desselben zur Veröffentlichung von Insiderinformationen auslösen könne. 114 Mülbert in FS Stilz, 2014, 411, 420. 115 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz. 196; Retsch, NZG 2016, 1201, 1206; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 74. 116 Klöhn in Klöhn, Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 17 MAR Rz.  196; Pfüller in Fuchs, 2. Aufl. 2016, § 15 WpHG Rz. 428 Fn. 745; Retsch, NZG 2016, 1201, 1206. 117 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MAR Rz.  25, 57; Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, §  116 AktG Rz. 54, 65; Leyendecker-Langner/Kleinhenz, AG 2015, 72, 75.

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weit erforderlich, veröffentlicht werden können. Allerdings wirft bereits die Definition der Insiderinformation zahlreiche Auslegungsfragen auf, insbesondere die Beurteilung des erheblichen Kursbeeinflussungspotentials aus der Perspektive eines verständigen Anlegers ist mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Liegen die Voraussetzungen der Veröffentlichungspflicht vor bzw. ist zweifelhaft, ob eine Information als ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation zu qualifizieren ist, ist die Möglichkeit einer (vorsorglichen) Selbstbefreiung für die Emittenten von besonderer Bedeutung. Dies gilt vor allem in Bezug auf zeitlich gestreckte Sachverhalte. Sofern die Befreiungsvoraussetzungen gegeben sind, ist es nicht erforderlich, den Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation vor der Hauptversammlung zu beenden, da dem Vorstand in Bezug auf die Insiderinformation betreffende Fragen der Aktionäre ein Auskunftsverweigerungsrecht zusteht. Allerdings bedarf die Hauptversammlung in solchen Konstellationen einer besonders sorgfältigen Vorbereitung, insbesondere sind die notwendigen Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass die Vertraulichkeit der Insiderinformation nicht mehr gewährleistet werden kann. Die im Rahmen der Ad-hoc-Publizität zu treffenden Entscheidungen können vom Vorstand grundsätzlich an ein Ad-hoc-Gremium delegiert werden, dem aufgrund der restriktiven Haltung der BaFin zumindest ein Vorstandsmitglied angehören sollte. Unabhängig davon, ob die Entscheidungen durch den Vorstand getroffen oder an ein Ad-hoc-Komitee delegiert werden, ist u.a. vor dem Hintergrund des verschärften Sanktionsregimes bei Verstößen gegen die Ad-hoc-Publizität eine sorgfältige Dokumentation der Vorgänge angezeigt.

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Grenzen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses* Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt II. Das neue Urteil des BGH 1. Der Fall 2. Aussagen des Gerichts I II. Die Vorschrift des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG 1. Regelung 2. Entstehungsgeschichte der Norm 3. Anschließende Debatte IV. Ungleichbehandlung 1. Extremfall des BGH 2. Platzierung der neuen Aktien

a) Altaktionäre b) Streuung 3. Rechtfertigung einer Ungleich­ behandlung a) Grundsatz b) Dringender Finanzbedarf c) Ungeeignete Rechtfertigungsgründe V. Teleologische Reduktion 1. Debatte 2. Wahrung relevanter Quoten VI. Zusammenfassung

I. Ausgangspunkt Nach Einführung des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses in §  186 Abs.  3 S.  4 AktG im Jahre 1994 durch das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts1 hat die seinerzeitige Neuregelung eine lebhafte Debatte ausgelöst, wurde von ihr doch die vorangehende deutlich strengere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Ausschluss des Bezugsrechts erkennbar eingeschränkt. Ein neues Urteil des Bundesgerichtshofes2 gibt nunmehr Anlass, die längere Zeit in Judikatur und Literatur etwas in den Hintergrund getretene Frage nach den Grenzen des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG wieder aufzurollen.

II. Das neue Urteil des BGH 1. Der Fall Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 4 Mio. Euro. Ihre Aktien werden an verschiedenen inländischen Börsen im Freiverkehr gehandelt. Die Klägerin war mit 42,5 % am Kapital beteiligt. Ende 2011 beschloss der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats, das Grundkapital um 400.000 Euro unter Ausnutzung * Herrn Rechtsanwalt Dr. Jörgen Tielmann, Luther Rechtsanwälte, danke ich für die Anregungen aus seiner aktienrechtlichen Praxis in Bezug auf die Wahrung relevanter Quoten. 1 BGBl. I 1994, S. 1961. 2 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 120/16, AG 2018, 706 = DB 2018, 1976 = NJW 2018, 2796 = NZG 2018, 1019 = ZIP 2018, 1586.

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eines genehmigten Kapitals gegen Bareinlagen unter Ausschluss des Bezugsrechts gem. § 186 Abs. 3 S. 4 AktG zu erhöhen. Zur Zeichnung und Übernahme der Aktien wurde eine Bank bestimmt, die „in Abstimmung mit der Gesellschaft“ die Ak­ tien  platzieren sollte. Nachdem die Bank die Aktien gezeichnet hatte, wurde die Durchführung der Barkapitalerhöhung in das Handelsregister eingetragen. Drei Tage später erwarb ein Vorstandsmitglied  – gleichzeitig ein Großaktionär (32,5  % des Grundkapitals) – der Beklagten sämtliche neuen Aktien von der Bank. Kurz danach erhöhte der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats das Grundkapital um weitere 450.000 Euro gegen Sacheinlage, wobei das Bezugsrecht erneut ausgeschlossen wurde, wiederum zugunsten desselben Großaktionärs. Das LG Erfurt hat antragsgemäß die Nichtigkeit der Beschlüsse festgestellt. Die Berufung der Beklagten beim OLG Jena war erfolglos. Die Revision der Beklagten hatte ebenfalls keinen Erfolg. 2. Aussagen des Gerichts Zur Zulässigkeit bestätigt der BGH zunächst seine bisherige Rechtsprechung, die ­allgemeine Feststellungsklage des § 256 ZPO sei die statthafte Klageart, mit der ein einzelner Aktionär die Rechtswidrigkeit und daraus folgende Nichtigkeit von Kapital­ erhöhungsbeschlüssen mit Bezugsrechtsausschluss geltend machen kann. Der Nichtigkeit stehe die Wirksamkeit der im Handelsregister eingetragenen Kapitalerhöhung nicht entgegen, sie führe aber nicht zur Heilung der zugrunde liegenden Verwaltungsbeschlüsse.3 Der Senat behandelt sodann die von ihm bisher nicht entschiedene Frage, ob der Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit binnen einer bestimmten Frist klageweise geltend zu machen ist und wann eine solche Frist beginnt. Dabei kommt er zum Ergebnis, dass die Erhebung der Feststellungsklage vor der nachfolgenden Hauptversammlung, in der der Vorstand über die Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss Bericht erstattet, nicht an eine starre Frist gebunden ist.4 Diese verfahrensrechtlichen Feststellungen des BGH sind aber nicht Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen. Hinsichtlich der hier zu behandelnden materiellen Grenzen des Bezugsrechtsausschlusses bildet die Stellungnahme des BGH zur Gleichbehandlung angesichts des ihm vorgelegten Falles den Schwerpunkt des Urteils. Dazu stellt das Gericht fest, Verwaltungsbeschlüsse über eine Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss, die eine Zuteilung neu geschaffener Aktien an einen Altaktionär bestimmen oder in die Wege leiten, seien an der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht und dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu messen. Der Erwerb der neuen Aktien durch einen Altaktionär habe eine Verschiebung der Beteiligungsquoten zur Folge. Eine Ungleichbehandlung sei nur zulässig, wenn sie sachlich berechtigt bzw. nicht sachwidrig ist. Das 3 BGH (Fn. 2), Rz. 17-19 unter Hinweis auf BGH v. 10.10.2005 – II ZR 90/03, BGHZ 164, 249, 254, 257 – Mangusta/Commerzbank II. 4 BGH (Fn. 2), Rz. 21-31.

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Gleichbehandlungsgebot erfasse insbesondere auch das Handeln der Gesellschaftsorgane.5 Eine sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung habe nicht festgestellt werden können, weder die Gewinnung eines außenstehenden Investors als Großaktionär noch die Behebung eines dringenden Liquiditätsbedarfs. Auch ein Zeitgewinn durch den Bezugsrechtsausschluss habe die erfolgte Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen können, ebenso wenig die Annahme, andere Aktionäre hätten den angestrebten Ausgabepreis nicht bezahlen wollen.6 Die Streitfrage, ob der Anwendungsbereich des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG im Hinblick auf die Möglichkeit eines Zukaufs der vom Bezugsrecht ausgeschlossenen Aktionäre einzuschränken ist, schneidet der BGH zwar mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand expressis verbis an, lässt sie dann aber offen. Sie habe in casu nicht entschieden werden müssen, da die angegriffenen Beschlüsse jedenfalls gegen § 53 a AktG verstoßen hätten.7

III. Die Vorschrift des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG 1. Regelung Ein erleichterter Bezugsrechtsausschluss gemäß § 186 Abs. 3 S. 4 AktG ist zum ersten nur bei einer Barkapitalerhöhung zulässig. Zum zweiten muss die Kapitalgrenze von 10 % des im Moment der Beschlussfassung über den Bezugsrechtsausschluss vorhandenen Grundkapitals eingehalten werden. Dieser Prozentsatz stellt eine absolute Obergrenze dar.8 Drittens verlangt das Gesetz, dass die bisherigen Aktien an der Börse zugelassen sind, denn der Ausgabepreis der jungen Aktien darf den Börsenpreis nicht wesentlich unterschreiten.9 Eine wesentliche Unterschreitung des Börsenpreises wird angenommen, wenn der Ausgabebetrag um mehr als 3 % (Regelabschlag) bis 5 % (Höchstabschlag) niedriger liegt.10 Beim genehmigten Kapital – auf das § 186 Abs. 3 S. 4 AktG gleichfalls anwendbar ist11  – gibt es für den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss zwei Wege: Der Ausschluss kann zum einen bereits im genehmigten Kapital angeordnet werden (§ 203 5 BGH (Fn. 2), Rz. 44; zustimmend Kocher/v. Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1951; Scholz, DB 2018, 2352, 2357; zuvor schon etwa Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 53a Rz. 33 ff. 6 BGH (Fn. 2), Rz. 55-57. 7 BGH (Fn. 2), Rz. 38-41. 8 Rieder/Holzmann in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 186 AktG Rz. 71. Dabei ist auf den Nennbetrag abzustellen und nicht auf ein etwaiges Aufgeld, Wamser in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 203 AktG Rz. 92. 9 Zu dessen Ermittlung Groß, DB 994, 2431, 2433 ff.; Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109, 121. 10 Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 AktG Rz. 135., 11 Allg. Ans., etwa: BGH v. 19.4.1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319 = ZIP 1982, 689 – Holzmann.

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Abs. 1 S. 1 AktG – Direktausschluss). Zum anderen kann das genehmigte Kapital den Vorstand zum Bezugsrechtsausschluss ermächtigen (§ 203 Abs. 2 S. 2 AktG12 – Ausschlussermächtigung), wobei dieser an die 10  %-Grenze gebunden ist.13 Letzterer Weg, der auch im Falle des neuen BGH-Urteils begangen wurde, stellt die in der Praxis übliche Ausschlussermächtigung dar.14 2. Entstehungsgeschichte der Norm Ausgangs- und Anknüpfungspunkt des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG ist der Grundsatz des § 186 Abs. 1 S. 1 AktG, wonach bei einer Kapitalerhöhung jedem Aktionär auf sein Verlangen ein seinem Anteil an dem bisherigen Grundkapital entsprechender Teil der neuen Aktien zugeteilt werden muss  – gesetzliches Bezugsrecht der Aktionäre. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass mit jeder Kapitalerhöhung in die wirtschaftliche Stellung des Aktionärs eingegriffen wird. Sein Anteil am Grundkapital sinkt prozentual. Das hat Auswirkungen auf seine Stimmkraft und führt möglicherweise zu einem Verlust von gesetzlichen Minderheitsrechten. Gleichzeitig droht auch ein Wertverlust durch Ausgabe der Aktien zu einem unter dem wirklichen Wert liegenden Preis. Das Bezugsrecht wird auch als „mitgliedschaftliches Grundrecht“ bezeichnet.15 Allerdings ist die technische Abwicklung des Bezugsrechts kostspielig und zeitraubend.16 Vor diesem Hintergrund lag das Movens für den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss in der Absicht, die Unternehmensfinanzierung der Aktiengesellschaft durch Eigenkapitalaufnahme zu erleichtern und damit einen Wettbewerbs- und Standortnachteil deutscher Gesellschaften zu vermeiden.17 Die Neuregelung wurde deshalb nicht zuletzt von der Wirtschaft gefordert und begrüßt.18 3. Anschließende Debatte Die Aufnahme des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG in das Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts ist – unabhängig von der inhaltlichen Kritik – einmal wegen ihres Standortes bemängelt worden. Sie habe weder mit der kleinen AG noch mit der Deregulierung des Aktienrechts etwas zu tun.19 Zum ande-

12 Die Geltung des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG ist dort zwar nicht ausdrücklich angeordnet, doch ist insoweit von einer planwidrigen Lücke auszugehen, Hüffer/Koch, AktG, § 203 Rz. 27 m. w. Nachw. 13 OLG München v. 24.7.1996 – 7 U 6319/95, DStR 1997, 254 m. abl. Anm. Harrer. 14 Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109, 110; Scholz, DB 2018, 2352, 2355. 15 Goette, ZGR 2012, 505, 507 m. Nachw. in Fn. 9. 16 So schon Fraktionsbegründung BT-Drucks. 12/6721, S. 10; ferner etwa Ekkenga, AG 1994, 59, 61 f.; Heinsius in FS Kellermann, 1991, S. 115, 124 ff. 17 BT- Drucks. 12/6721, S. 10., 18 Seibert, ZIP 1994, 914, 915 f. 19 Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109.

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ren wurde angemerkt, dass ihr praktisch keine Diskussion im wissenschaftlichen Schrifttum vorausgegangen sei.20 Inhaltlich ist die Neuregelung einerseits zunächst auf heftige Kritik der Anhänger eines möglichst weitgehenden Bezugsrechts gestoßen. Sie konnten sich auf die seinerzeitige Rechtsprechung des BGH berufen, zu nennen sind insoweit insbesondere die Entscheidungen „Kali und Salz“21 sowie „Holzmann“.22 Der Gesetzgeber habe – wie Zöllner es bildmächtig ausgedrückt hat – mit § 186 Abs. 3 S. 4 AktG „nach Art eines Elefanten im Porzellanladen“ eingegriffen.23 Lutter hat sogar von einem „Unglück“ gesprochen.24 Demgegenüber haben vor allem Autoren dem Gesetzgeber zugestimmt, die die Aktionäre eher in der Rolle als Kapitalgeber sehen wollten.25

IV. Ungleichbehandlung 1. Extremfall des BGH Angesichts des von ihm zu entscheidenden Falles konnte sich der Bundesgerichtshof darauf beschränken, die Grenzen des Bezugsrechtsausschlusses anhand des Grundsatzes der Gleichberechtigung (§ 53a AktG) zu erörtern. Dieser Prüfungsmaßstab ist allgemein anerkannt.26 Die Konstellation war allerdings auch so extrem, dass man sie geradezu als „hanebüchen“ bezeichnen kann. Es handelte sich um die planmäßige Beteiligungsverschiebung ausschließlich zugunsten eines einzelnen Altaktionärs.27 Das gibt Anlass, darüber nachzudenken, ob die Anwendbarkeit des § 53a AktG nicht auch in weniger drastischen Fällen eingreift.28 2. Platzierung der neuen Aktien a) Altaktionäre Bei der Bevorzugung einzelner Altaktionäre zur Übernahme der neuen Anteile aus der Kapitalerhöhung kommt es in ihrem Kreis zu einer Ungleichbehandlung. So lag es im Fall des BGH und dürfte auch in praxi keineswegs selten sein. Anders liegt es allerdings, wenn die Aktien aus der Kapitalerhöhung ausschließlich neuen Aktionä20 Hoffmann-Becking, ZIP 2005, 1, 8, er nennt dort die „kurzfristigen“ Stellungnahmen von Hirte, ZIP 1904, 356 und Martens, ZIP 1994, 669; Hennerkes/Binge, AG 1996, 119, 121 haben von einem „Schnellschuss“ gesprochen. 21 BGH v. 13.3.1978 – II ZR 142, BGHZ 71, 40 = AG 1978, 196. 22 BGH (Fn. 11), BGHZ 83, 319; krit. Martens, ZIP 1992, 1677, 1681 ff. 23 Zöllner, AG 2002, 585, 591. 24 Lutter, JZ 1997, 50; zitiert bei Goette, ZGR 2012, 505, 510 Fn. 29. 25 So etwa Bungert, NJW 1988, 488 ff.; Volhard, AG 1998, 397 ff. – jeweils in Stellungnahmen zu BGH v. 23.6.1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 = ZIP 1997, 1499 – Siemens/Nold. 26 Statt vieler Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl. 2015, § 186 Rz. 61. 27 So etwas hat mit Recht schon Goette, ZGR 2012, 505, 517 aufs Korn genommen; Rechtsmissbrauch wegen Investorenauswahl ferner Seibt, CFL 2011, 74, 82. 28 In dieser Richtung Rahlmeyer/Klose, GWR 2018, 394.

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ren zugeteilt werden. Hier sitzen alle Altaktionäre „in demselben Boot“.29 Deshalb ist es zutreffend, wenn vorgetragen wird, eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes komme nur in Betracht, wenn der Bezugsrechtsausschluss einen Altaktionär bevorzugt.30 Auch Altaktionäre werden allerdings durch einen Quotenverlust oder eine Verwässerung ihres Anteilsbesitzes betroffen. Darauf ist unten zurückzukommen.31 b) Streuung Streitig ist das Erfordernis einer breiten Streuung der neu ausgeteilten Aktien. Einerseits wird jedenfalls ein Paketverkauf für unzulässig gehalten.32 Andererseits heißt es, eine breite Streuung sei nicht geboten.33 Für letzteres meint Scholz, ein Einverständnis des BGH in seinem neuen Urteil daraus ableiten zu können, dass das Gericht diese Frage nicht thematisiert habe, obwohl sie wegen der Zuteilung an einen einzelnen Aktionär vorrangig gewesen sei.34 Gegen eine breite Streuung spricht auch, dass dann sowohl die Abgrenzung des Bezugsrechtsausschlusses von der Bezugsrechtsgewährung als auch die Rechtfertigung des verbleibenden Bezugsrechtsausschlusses Schwierigkeiten bereiten. Bei mehr als 150 Zeichnern zöge die Kapitalerhöhung zudem eine Prospektpflicht wegen öffentlichen Angebots nach sich (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 WpPG e contrario), die den Zweck von § 186 Abs. 3 S. 4 AktG einer schnellen und kostengünstigen Durchführung konterkariert. Handelt es sich um die Gewinnung eines strategischen Investors, der noch nicht Aktionär ist, entfällt eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. In solchen Fällen kann es nur darum gehen, ob die Gesellschaft aufgrund ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung ein gewichtiges Interesse an seinem Hinzutritt hat. Zumindest dann ist eine Streuung der neuen Aktien nicht veranlasst. 3. Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung a) Grundsatz In der Gesetzesbegründung heißt es „Werden die Voraussetzungen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses … eingehalten, bedarf es weder einer Interessenabwägung, wie sie für den Bezugsrechtsausschluss im übrigen verlangt wird (vgl. BGHZ 71, 41, 46) noch weiterer sachlicher Rechtfertigungsgründe.“35 Das Schrifttum hat sich dieser 29 Goette, ZGR 2012, 505, 515. 30 Kocher/v. Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1951. 31 Unter V.2. 32 Bayer in Münchkomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 203 Rz. 79. 33 Groß, DB 1994, 2431, 2439; Habersack, AG 2015, 613, 617 f.; Schlitt/Becker in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1121, 1132; Scholz in Münch. Hdb. GesR IV, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 129. 34 Scholz, DB 2018, 2352, 2356. 35 BT-Drucks. 12/6721, S. 10.

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Position teilweise angeschlossen,36 während andere jedenfalls unter bestimmten Umständen an einer sachlichen Rechtfertigung festhalten wollen.37 Für den Bezugsrechtsausschluss ist im Grundsatz anerkannt, dass er im Interesse der Gesellschaft liegen, außerdem geeignet und erforderlich sein muss.38 Diese Maßstäbe sind auch an den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss anzulegen. Das gilt insbesondere beim genehmigten Kapital. Dort ist deren Ausübung eine unternehmerische Entscheidung der Organe – Vorstand und Aufsichtsrat – gelegt, die sie allein Unternehmensinteresse auszuüben haben.39 b) Dringender Finanzbedarf Ein dringender Liquiditätsbedarf, noch stärker ein Sanierungserfordernis kann eine Ungleichbehandlung für den Fall rechtfertigen, dass einzelne Altaktionäre oder gar nur einer zur Übernahme der neuen Aktien bereit und in der Lage sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Leistung eines Agios vereinbart wird. c) Ungeeignete Rechtfertigungsgründe Der BGH hat in seinem neuen Urteil die Ausnutzung günstiger Kapitalmarktverhältnisse und die Vermeidung einer Prospektpflicht nicht als geeignete Rechtfertigungsgründe für einen Bezugsrechtsausschluss gesehen.40 Das hat Zustimmung im nachfolgenden Schrifttum gefunden.41 Dem sollte man sich anschließen.

V. Teleologische Reduktion 1. Debatte In der Gesetzesbegründung wird das gesetzliche Bezugsrecht der Aktionäre durchaus in den Blick genommen. Bei Kleinstbeteiligungen an einer Publikumsgesellschaft spiele die Frage des Einflussverlustes wirtschaftlich keine Rolle. Sie werde erst ab einer Beteiligungsquote relevant, an die Minderheitsrechte gekoppelt sind. Dann kommt ein entscheidender Satz: „Das Gesetz unterstellt damit, dass in diesen Fällen stets ein Nachkauf zur Erhaltung der relativen Beteiligung über die Börse möglich ist.“42 36 So etwa Hoffmann-Becking, ZIP 1995, 1, 9; Busch, AG 1999, 58 f. 37 Lutter, AG 1994, 429, 443; Wiedemann, Großkomm. AktG, 4. Aufl. 1995, § 186 Rz. 150. 38 Hüffer/Koch, AktG, (Fn. 12), § 186 Rz. 25; Marsch-Barner in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl., § 186 Rz. 28 ff. 39 Seibt, EWiR 2018, 549, 550. 40 BGH (Fn. 2), Tz 57. 41 Kocher/v. Falkenhausen, ZIP 2018, 1949, 1952; für den Regelfall auch Scholz, DB 2018, 2352, 2358. 42 BT- Drucks. 12/6721, S. 10. Darin ist teilweise ein „faktisches Bezugsrecht“ gesehen worden, etwa Hoffmann-Becking in FS Lieberknecht, 1997, S. 25, 29. Von Zöllner, AG 2002, 585, 592 musste sich diese Formulierung allerdings die Bezeichnung „contradictio in adjecto“

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Diese Vorstellung des Gesetzgebers von einem möglichen freien Zukauf ist freilich in den Gesetzestext nicht aufgenommen worden. Das hat in der Literatur eine Diskus­ sion darüber ausgelöst, inwieweit darin eine ungeschriebene Voraussetzung für den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss zu sehen ist.43 Als Lösung wird über eine teleologische Reduktion des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG debattiert. Sie soll in Fällen eingreifen, in denen es an den tatsächlichen Annahmen fehlt, von denen der Gesetzgeber bei der Formulierung der Regelung ausgegangen ist.44 Erörtert wird auch, ob in der gesetzlichen Regelung lediglich eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit eines vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses gesehen werden muss.45 2. Wahrung relevanter Quoten Einerseits muss der vereinfachte Bezugsrechtsausschluss im Interesse der Gesellschaft praktikabel bleiben, andererseits erscheint es erforderlich, Quotenverluste der bisherigen Aktionäre im Blick zu behalten. Als Ausweg bietet es sich an, Kleinaktionäre anders zu behandeln als Aktionäre mit relevanten Quoten.46 Das gilt einmal für personalistische Aktiengesellschaften, soweit hier nicht schon bei der Einräumung des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses Vorkehrungen getroffen werden. Wegen des Tatbestandsmerkmals „Börsenpreis“ ist § 186 Abs. 3 S. 4 Akt ohnehin nur auf börsennotierte oder Freiverkehrsgesellschaften anwendbar. Daher sind in erster Linie Publikumsaktiengesellschaften betroffen. Wenn der Vorstand zeichnungsinteressierte Altaktionäre berücksichtigen muss, kann er dies naturgemäß nur bezogen auf solche Aktionäre tun, die ihm auch bekannt sind. Während ihm bei Namensaktien das Aktienregister jedenfalls teilweise Aufschluss geben mag, kann er bei Inhaberaktien nur diejenigen Aktionäre berücksichtigen, die ihren Bestand an Stimmrechten nach § § 33, 34 WpHG der Gesellschaft melden mussten. Schon deshalb kommt als Definition für relevante Quoten der Kreis der meldepflichtigen Aktionäre gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 WpHG an, also 3 %, 5 %, 10 %, 15 %, 20 %, 30 %, 50 % und 75 % in Betracht. Immerhin hält der Gesetzgeber diese Prozentgrenzen für so wichtig, dass er eine Mitteilung an die Gesellschaft verlangt. gefallen lassen. Davon hat sich das OLG München jedoch nicht beeindrucken lassen und diese Bezeichnung gleichfalls verwendet (Fn. 43), ZIP 2006, 1440, 1443. 43 Dafür Lutter, AG 1994, 429, 441; OLG München v. 1. 6. 2006 – 23 U 5917/05, ZIP 2006, 1440, 1443. 44 So vor allem Hüffer/Koch (Fn. 12), § 186 Rz. 39g; Schürnbrand (Fn. 10), § 186 Rz. 136 - jeweils m. zahlr. Nachw. 45 Für eine widerlegliche Vermutung haben sich ausgesprochen: Marsch-Barner (Fn.  38), § 186 Rz. 36; Henze, ZHR 167 (2003), 1, 6. Dagegen halten sie für unwiderleglich: Hoffmann-Becking, AG 1995, 1, 10; Schlitt/Schäfer, AG 2005, 67; Ihrig/Wagner, NZG 2002, 657, 659; Seibt, EWiR 2018, 549, 550; Veil in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 186 AktG Rz. 44. 46 So schon Seibert/Köster, Die kleine AG, 3. Aufl. 1996 Rz. 209; Lutter, AG 1994, 429, 442 f.; Trapp, AG 1997, 115, 116; Claussen, AG 1995, 163, 169. Ablehnend dagegen Schilha/Guntermann, AG 2018, 883, 886; Ihrig in FS Happ, 2006, S. 109, 116.

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Ob man den Eingangssatz von 3 % ausklammern sollte, ließe sich diskutieren, zumal das Aktienrecht an diese spezifische Quote keine besonderen Minderheitenrechte knüpft. Relevant ist eine Quote jedenfalls dann, wenn der betroffene Aktionär bei deren Verlust eine Minderung seiner Position hinnehmen muss. Das ist schon bei der 5 %-Schwelle der Fall, weil der Aktionär nach deren Unterschreiten nicht mehr einen Sqeeze out (§ 327a AktG) verhindern könnte. Auch wäre er nicht allein in der Lage Einberufungs- und Ergänzungsanträge nach § 122 Abs. 1 und 2 AktG stellen. In bestimmten Szenarien einer niedrigen Hauptversammlungspräsenz kann die Verwässerung auch bei anderen Quoten bzw. Paketgrößen zu einem Bedeutungsverlust der Stimmmacht eines Aktienpaketes führen. Hierbei dürfte es sich aber nicht um eine berücksichtigungswerte und -fähige Position handeln. Zum einen sind zukünftige Hauptversammlungspräsenzen  – gerade nach einer Kapitalmaßnahme  – schwer vorhersehbar, zum anderen beruht in diesen Fällen die betroffene Stimmmacht vor allem auf der dem Aktionär nicht zurechenbaren Passivität der übrigen Aktionäre. Auch aus diesem Grund ist der hier gemachte Vorschlag sachgerecht und praktikabel, für die relevanten Quoten allein auf die Stimmrechtsschwellen von 5 % und mehr des § 33 WpHG abzustellen. Allerdings werden die Inhaber der Aktienpakete von 50 % oder gar 75 % in der Regel für sich selbst sorgen können. Den Zeit- und Verwaltungsaufwand, den der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG vermeiden wollte,47 verursachen gerade Klein- oder Kleinstaktionäre. Bei Zugrundelegung der vorgenannten Quoten dürfte es sich bei den Betroffenen zahlenmäßig um einen überschaubaren Kreis handeln, der damit auch gewährleistet, dass die Emission nicht als öffentliches Angebot prospektpflichtig wird (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 WpPG e contrario). Soweit eine solche Beteiligung von Paketaktionären nicht schlichtweg auf Ablehnung stößt,48 wird diskutiert, ob ein Ermächtigungsbeschluss anfechtbar ist, wenn er zeichnungsberechtigte Paketaktionäre nicht berücksichtigt.49 Nach hier vertretener Ansicht haben Paketaktionäre aufgrund der Intention des Gesetzgebers in einschränkender Auslegung des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG ein Recht auf den Bezug von Aktien zur Paketerhaltung.50 Es stellt sich noch die Frage, inwieweit die Gesellschaft die quotenrelevanten Aktionäre von sich aus anzusprechen hat, oder diese sich selbst melden müssen. Das hängt im Wesentlichen von der Strukturierung der Kapitalmaßnahme ab. In der Regel ist über die Ausgabe neuer Aktien auch im Falle des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG eine Ad-hoc-Mitteilung zu machen.51 Wenn nun der Vorstand seine Absicht zur Durchführung einer 47 BT-Drucks. 12/ 6721, S. 10. 48 Ihrig in FS Happ, 2006, S. 367, 373 f.; Groß, DB 1994, 2431, 2439. 49 Schwark in FS Claussen, 1997, S. 367, 373 f. 50 In dieser Richtung auch Marsch-Barner, AG 1994, 532, 538, der eine Ungleichbehandlung in solchem Vorgehen nicht sieht. Vorsichtig Oppenhoff, NJW 2018, 2801, 2802 in Anm. zu BGH (Fn. 1) abhängig von den Umständen für eine Sperrminorität oder eine Mehrheitsbeteiligung; a.A. Schürnbrand (Fn. 10), 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 139. 51 Wamser (Fn. 8), § 203 Rz. 95.

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derartigen Ausnutzung des genehmigten Kapitals bekannt gemacht hat, wird man von den relevanten Aktionären erwarten dürfen, dass sie ihr Zeichnungsinteresse ini­ tiativ gegenüber der Gesellschaft bekunden. Nutzt der Vorstand dagegen die Möglichkeit einer Selbstbefreiung von der Ad hoc-­ Publizitätspflicht52 aus und schiebt die Mitteilung bis zum Zeitpunkt der – die Platzierung beinhaltenden – Ausnutzungsentscheidung (§ 204 Abs. 1 AktG) auf, trifft ihn in Vorbereitung dieser Beschlussfassung auch die Pflicht, die bei ihm aufgrund Stimmrechtsmitteilung bekannten Aktionäre mit relevanter Quote vorher anzusprechen. Die hier vorgeschlagenen Zukaufsrechte greifen allerdings dann nicht ein, wenn deren Berücksichtigung ein dringender Finanzbedarf der Gesellschaft entgegensteht oder sie sich gar in Insolvenznähe befindet. Sie sind auch dann ausgeschlossen, wenn die Gesellschaft ein vorrangiges Interesse an einem strategischen Investor hat.

VI. Zusammenfassung 1. Ein neues Urteil des Bundesgerichtshofs hat die Debatte zum vereinfachten Bezugsrechtsausschluss im Schrifttum nach einer Weile zurückgegangenen Interesses wieder in Gang gesetzt. 2. Das Gericht hat in seinem extrem gelagerten Entscheidungsfall den vereinfachten Bezugsrechtsausschluss am aktienrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung (§ 53a AktG) gemessen. Dem ist auch für weniger schlimm gelagerte Konstellationen zuzustimmen. 3. Rechtfertigungsgründe für eine Ungleichbehandlung können sich vor allem aus einem sonst nicht abwendbaren dringenden Finanzbedarf der Gesellschaft oder einer drohenden Insolvenzsituation ergeben. 4. Die vom BGH angeschnittene, aber in casu ausdrücklich offen gelassene Frage einer teleologischen Reduktion des § 186 Abs. 3 S. 4 AktG angesichts der Vorstellungen des historischen Gesetzgebers wird hier dahin beantwortet, dass Altaktionäre mit relevanten Quoten zu deren Wahrung einen Anspruch auf Zuteilung neuer Aktien geltend machen können.

52 Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MMVO.

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Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern und die Anwendung der Business Judgement Rule bei Interessenkonflikten Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Beteiligungs- und Stimmverbote im organschaftlichen Beschlussrecht III. Die Freiheit von Interessenkonflikten als ungeschriebenes negatives Tat­ bestandsmerkmal in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG IV. Verantwortlichkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder bei Kollegialentscheidungen

V. Die Anwendung der Business Judgement Rule auf das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied 1. Harmonisierung durch korrespondierende Pflichtenreduktion im organschaftlichen Beschlussrecht 2. Reaktionsstufen

VI. Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die übrigen Aufsichtsratsmitglieder 1. Meinungsstand zur Fernwirkung von Interessenkonflikten („Infektions­ lehre“) 2. Unzulänglichkeiten einer Fernwirkung von Interessenkonflikten a) Verborgener Konflikt b) Offengelegter Konflikt 3. Ergebnis: Praktische Konkordanz ­zwischen Gesamtverantwortung und Konfliktvermeidung VII. Handlungsoptionen de lege lata und de lege ferenda VIII. Zusammenfassung

I. Einleitung Der Umgang mit Interessenkonflikten und Pflichtenkollisionen1 gehört zum Alltag der juristischen Beratung von Aufsichtsräten, und gerade deshalb ist es erstaunlich, dass nach wie vor zahlreiche Grundsatzfragen in diesem Bereich ungelöst und umstritten sind. Wer wüsste das besser als der Jubilar als profilierter anwaltlicher Berater von Aufsichtsräten, der durch zahlreiche wichtige Publikationen zum Recht des Aufsichtsrats2 und zu Interessenkonflikten im Konzern3 ausgewiesen ist. Nicht nur die Expertise des Jubilars mahnt zur Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, auch das Thema selbst erfordert einen gewissen Mut zur Lücke, denn es berührt 1 Zu dieser Unterscheidung (im Folgenden ist unterschiedslos von „Interessenkonflikten“ die Rede) Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 896. 2 Vgl. u.a. E. Vetter, Kap. 6 (Aufsichtsrat) in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, S. 967 ff.; E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103 ff.; E. Vetter in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 263 ff. 3 E. Vetter, ZHR 171 (2007), 342 ff.

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unterschiedliche Rechtsfragen, die in dem gegebenen Rahmen nicht erschöpfend angesprochen werden können. Meine Ausführungen konzentrieren sich auf Interessenkonflikte, wie sie sich häufig in Doppelmandaten ergeben; dabei steht vor allem die Frage der Auswirkungen eines etwaigen Interessenkonflikts auf die Business Judgement Rule im Vordergrund. Doppelmandate sind auch im faktischen Konzern zulässig. Nach Ansicht des Gesetzgebers gehört die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten im Konzern sogar zur typischen Vorstandstätigkeit: „Es ist lediglich Reflex der Unternehmensstruktur, ob Unternehmensbereiche als unselbständige Abteilungen oder als Tochtergesellschaften vom Vorstand zu überwachen sind. Der im Holdingvorstand für bestimmte Konzerngesellschaften und ihre Geschäftsbereiche Zuständige wird sinnvollerweise zugleich dem Aufsichtsrat dieser Konzernunternehmen vorsitzen.“4 Im Grundsatz nimmt das Aktienrecht die aus einer bisweilen unterschiedlichen Interessenlage zwischen Konzernober- und -untergesellschaft resultierenden Interessenkonflikte hin; es gilt das Prinzip der Konflikttoleranz. Dem Schutz der betroffenen Unternehmen dient die sog. „Zwei-Hüte-Theorie“;5 danach ist das Mitglied verpflichtet, im jeweiligen Organ sein Verhalten und seine Stimmabgabe so einzurichten, wie es im Interesse der jeweiligen Gesellschaft liegt. Dies kann im Ergebnis dazu führen, dass sich das Organmitglied in der einen Gesellschaft anders verhalten muss als in der anderen, in dem einen Fall also dem Beschluss zustimmt, im anderen ihn ablehnt. Derart zugespitzt ist bereits dieses Ergebnis in gewisser Weise merkwürdig und führt zu der Frage, ob Gebote, die zu widersprüchlichen Aussagen in den unterschiedlichen Gesellschaften führen, tatsächlich Aussicht auf Beachtung haben oder ob in solchen Fällen weitergehende (vorbeugende) Schutzmechanismen angebracht sind. Endgültig an ihre Grenzen stößt die „Zwei-Hüte-Theorie“ immer dann, wenn aus Vertraulichkeitsgründen die Mitglieder im Organ der Tochter nichts über die Beratungen/Beschlussfassungen im Organ der Mutter erfahren dürfen oder umgekehrt. Man denke nur an Interessenkonflikte in Übernahmesituationen oder bei der Veräußerung von Beteiligungen durch die Tochter, an deren Erwerb auch die Mutter interessiert ist und allein die Kenntnis gewisser Informationen aus der einen Gesellschaft der anderen Gesellschaft unzulässige Vorteile verschaffen würde. Selbst wenn man darauf vertrauen will, dass die Organmitglieder, die in Organen beider betroffenen Gesellschaften mitwirken, jeweils einem strikten Vertraulichkeitsgebot unterliegen, wird man nicht umhinkönnen, das betroffene Organmitglied jedenfalls in einer der Gesellschaften vom Informationsfluss auszuschließen. Denn den Umstand, dass es über diese Information verfügt, kann es bei der jeweiligen Beschlussfassung nicht ausblenden. Wird aber das in solchen Situationen gebotene „Ringfencing“ installiert, ist eine Teilnahme an der Beschlussfassung ausgeschlossen. In solchen Fällen hilft die „Zwei-Hüte-Theorie“ mithin ersichtlich nicht mehr weiter.

4 RegBegr. BT-Drs. 13/9712, S. 16. 5 BGH v. 21.12.1979 – II ZR 244/78, NJW 1980, 1629, 1630.

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Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern – Business Judgement Rule

Gleiches gilt für Fälle, in denen die divergierenden Interessen des Organmitglieds zu den Interessen, die es als Organ einer anderen Gesellschaft zu wahren hat, aufgrund ihrer Intensität und Dauer eine gedeihliche Wahrnehmung seines Amtes nicht erwarten lassen; in diesem Fall bleibt letztlich nur die Niederlegung eines der Mandate. Aber auch im Vorfeld derart gravierender Fälle werfen punktuelle Interessenkonflikte, insbesondere, wenn sie zwar nicht dauerhaft, aber doch im Einzelfall erheblich sind, die Frage auf, ob es nicht weitergehende bereits im Vorfeld der Beschlussfassung einsetzender Schutzmechanismen bedarf als das bloße Vertrauen auf die „Zwei-Hüte-­ Theorie“ und eine ggf. im Nachhinein für nichtig zu erklärende Stimmabgabe, wenn diese infolge des Interessenkonflikts gegen die Interessen der betroffenen Gesellschaft abgegeben wurde. Diese Fragen stellen sich nicht nur im Hinblick auf den Schutz der Gesellschaft vor möglicherweise interessenwidrigen Entscheidungen, denen durch die Annahme der Unwirksamkeit treuwidriger Stimmabgaben begegnet werden kann, sondern auch unter dem Aspekt der Haftung betroffener und weiterer Aufsichtsratsmitglieder. Bekanntlich hat der Gesetzgeber die Business Judgement Rule gesetzlich verankert, um den Unsicherheiten, die mit unternehmerischen Entscheidungen verbunden sind, Rechnung zu tragen und diejenigen Organmitglieder, die aufgrund eines hinreichend aufgeklärten Sachverhalts und nach angemessener Abwägung eine vermeintlich im Interesse des Unternehmens liegenden Entscheidung treffen, vor einer Haftung zu schützen, sofern sich ihre Prognosen und Erwartungen nicht erfüllen. Dieses Prinzip gilt auch für Mitglieder des Aufsichtsrats, soweit sie – etwa im Rahmen von Zustimmungserfordernissen  – unternehmerische Entscheidungen treffen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sie keinem Interessenkonflikt ausgesetzt sind. Von daher sollten, gerade im Falle von Doppelmandaten, die Betroffenen ein eigenes Interesse daran haben, Interessenkonflikte sorgfältig zu vermeiden. Was können sie aber tun, wenn sie andererseits verpflichtet sein sollen, ihr Amt wahrzunehmen, ihr Fernbleiben als unzulässig eingestuft wird und daher ebenfalls nicht zur Verringerung der Haftungsrisiken führt? Die Konsequenzen können indessen noch weitreichender sein: Es fragt sich nämlich, ob es bereits ausreichen kann, dass ein konfliktbehaftetes Mitglied an der Diskussion und Abstimmung teilnimmt, um den übrigen Mitgliedern die Voraussetzungen zu versagen, die die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule in §  93 Abs.  1 S.  2 AktG stipuliert. Wollte man so weit gehen, wären die übrigen Mitglieder einer für sie kaum zumutbaren Haftungssituation ausgesetzt, wenn ihnen gar keine Möglichkeit bliebe, auf einen Teilnahme- und Stimmrechtsausschluss der konfligierten Mitglieder hinzuwirken. Es liegt auf der Hand, dass es einer Lösung der Friktionen bedarf, die die unterschiedlichen Bewertungen von Interessenkonflikten im Beschlussrecht und im Haftungsrecht auslösen. Es ist das Verdienst von Jens Koch, aus Anlass des 9. Wolfgang-Schilling-Symposiums diese Frage erstmals in dieser Schärfe aufgeworfen und einen Vorschlag erarbeitet zu haben, wie mit den sich überlagernden gesetzgeberischen Konfliktbegriffen, nämlich dem Interessenkonflikt i.S.d. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG und 599

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dem Interessenkonflikt als beschlussrechtliche Kategorie, umzugehen ist.6 Sein berechtigtes Anliegen, das Spannungsverhältnis zugunsten eines in sich stimmigen Gesamtkonzepts aufzulösen, ist zu begrüßen. Sein Konzept erscheint indessen nicht alternativlos; im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, seinem Konzept einen Alternativentwurf gegenüberzustellen. Im Rahmen der nachstehenden Überlegungen werden die Vorgaben im Corporate Governance-Kodex – insbesondere die Passagen in Ziff. 4.3 für den Vorstand und in Ziff. 5.5 für den Aufsichtsrat – nur am Rande erwähnt,7 obwohl sie für die Praxis natürlich von großer Bedeutung sind. Für die gesetzgeberischen Wertungen, um die es nachstehend gehen soll, erscheinen sie jedoch nicht von allzu großem Gewicht. Nach einer Skizze der beiden konkurrierenden gesetzlichen Konfliktbegriffe – dem „Interessenkonflikt“ des organschaftlichen Beschlussrechts (II.) und der Business Judgement Rule (III.) – ist zu klären, nach welchen Grundsätzen einzelne Aufsichtsratsmitglieder bei Kollegialentscheidungen haften, weil sich danach bestimmt, welche Handlungsoptionen den konfliktbehafteten wie den übrigen Aufsichtsräten überhaupt offenstehen (IV.). Den Schwerpunkt meiner Überlegungen bilden die beiden sich daran anschließenden Abschnitte, die Fragen der Haftung und der Anwendung der Business Judgement Rule sowohl in Bezug auf das einzelne konfliktbehaftete (V.) als auch auf die übrigen Aufsichtsratsmitglieder (VI.) thematisieren. Abschließend werden kurz pragmatische Alternativen zu der gefundenen Lösung de lege lata und de lege ferenda erörtert (VII.).

II. Beteiligungs- und Stimmverbote im organschaftlichen Beschlussrecht Die Mitglieder des Aufsichtsrats sind im Grundsatz zur Teilnahme an den Aufsichtsratssitzungen berechtigt und verpflichtet, d.h. es steht nicht in ihrem Belieben, sich der Diskussion und Stimmabgabe durch Fernbleiben zu entziehen.8 Wenn sie sich dem unberechtigt entziehen, verletzten sie ihre Sorgfaltspflicht nach §  116 AktG.9 Aufsichtsratsmitglieder werden bestellt, um Entscheidungen zu treffen, nicht um ihnen auszuweichen, wie es Mathias Habersack formuliert hat.10

6 In der veröffentlichten erweiterten Fassung Koch, ZGR 2014, 697 ff. 7 Dazu Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801 ff.; Hasselbach/Jakobs, BB 2013, 643 ff.; Scholderer, NZG 2012, 168 ff.; Paschos/Goslar, NZG 2012, 1361 ff.; von der Linden, GWR 2011, 407 ff.; Priester, ZIP 2011, 2081 ff. 8 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 700; Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 6; Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 3; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 109 AktG Rz. 10. 9 Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 6. 10 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 82; § 116 AktG Rz. 31, 38.

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Dennoch herrscht im Grundsatz Einigkeit, dass in Ausnahmesituation einem Aufsichtsratsmitglied sowohl die Stimmabgabe als auch die Teilnahme an der Sitzung verwehrt werden kann.11 Eine solche Ausnahme ist etwa anerkannt, wenn die Preisgabe geheimhaltungsbedürftiger Informationen durch ein bestimmtes Aufsichtsratsmitglied zu befürchten ist.12 Gleiches muss gelten, wenn allein die Kenntnis gewisser Umstände sein Stimmverhalten in einem anderen Organ in einer Weise beeinflussen könnte, die nicht im Interesse der Gesellschaft liegt. Insoweit geht man – zu Recht – über die im Gesetz verankerte Regelung des § 34 BGB hinaus. Unstreitig findet § 34 BGB, der für das Vereinsrecht statuiert, dass ein Mitglied nicht stimmberechtigt ist, wenn die Beschlussfassung die Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit ihm oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits zwischen ihm und dem Verein betrifft, im Aktienrecht entsprechende Anwendung.13 Sein Anwendungsbereich ist damit indessen sehr beschränkt; zudem handelt er nur von der Stimm-, nicht auch von der Teilnahmeberechtigung. Man geht daher auch im Aktienrecht nicht von einem Gleichlauf beider Kategorien aus.14 Daher kann nicht von einem Stimmverbot auf ein Teilnahmeverbot geschlossen werden; es bedarf vielmehr einer gesonderten Prüfung des Einzelfalls. Wenn die Notwendigkeit auch eines Teilnahmeverbots bejaht werden soll, muss sichergestellt sein, dass das Stimmverbot als das mildere Mittel nicht bereits ausgereicht hätte, um einen Interessenkonflikt zu neutralisieren. Andererseits kann der Ausschluss vom Stimmrecht Folge eines Teilnahmeverbots sein, wenn es nämlich in erster Linie darum geht, einen Informationsfluss zu verhindern. Soweit derartige Vertraulichkeitsaspekte nicht entgegenstehen, sollte dem Aufsichtsratsmitglied Gelegenheit zur vorherigen Stellungnahme gegeben werden.15 Was die beiden in § 34 BGB typisierten Fälle – Vornahme eines Rechtsgeschäfts und Erledigung eines Rechtsstreits – betrifft, werden meist gute Gründe für ein Teilnahmeverbot sprechen, gerade auch, um den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern eine unbefangenere Diskussion zu ermöglichen. Unbeschadet der vorstehenden Leitlinien sind die Entscheidungen über einen Stimmrechtsausschluss häufig mit Risiken behaftet. Erfolgt nämlich der Ausschluss von der Teilnahme zu Unrecht, führt die Verletzung des Teilnahmerechts in aller Regel zur Nichtigkeit des Beschlusses. War das Teilnahmerecht gewährleistet, aber erfolgte ein Ausschluss von der Stimmabgabe, so kann sich daraus ebenfalls die Nichtigkeit des

11 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 29; § 109 AktG Rz. 9 f.; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 9 f.; Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, §  109 AktG Rz.  7; Koch, ZGR 2014, 697, 713  ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 899 ff. 12 Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 11. 13 OLG Stuttgart v. 30.5.2007  – 20 U 14/06, AG 2007, 873, 876; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 108 AktG Rz. 65; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 29; Koch, ZGR 2014, 697, 710; Ulmer, NJW 1980, 1603, 1605. 14 Spindler in Spindler/Stilz, 3.  Aufl. 2015, §  109 AktG Rz.  7; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 109 AktG Rz. 10. 15 Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 10; Behr, AG 1984, 281, 283.

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Beschlusses ergeben, wenn es gerade auf die ausgeschlossene Stimme angekommen wäre.16 Die beschriebenen Unsicherheiten sind die Folgen dessen, dass der Gesetzgeber es nicht für nötig befunden hat, über die seit langer Zeit anerkannte Analogie zu § 34 BGB hinaus Stimm- oder Teilnahmeverbot von Aufsichtsratsmitgliedern zu kodifizieren. Es gibt lediglich einige Normen im Recht des Aufsichtsrats, die man im weitesten Sinne als Regelungen von Interessenkonflikten ansprechen kann, etwa die Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zum Vorstand und zum Aufsichtsrat (§ 105 AktG) oder die in § 102 Abs. 2 AktG aufgeführten Bestellungshindernisse.17 Daher entspricht es heute ganz h.M., dass § 34 BGB, verstanden als ein der Abwägung entzogener, von Gesetzes wegen bestehender Stimmrechtsausschluss, eine abschließende Regelung enthält, die nicht analogiefähig ist.18 Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob ein Aufsichtsratsmitglied in Situationen, die in der Gesamtschau das Risiko einer Entscheidung gegen das Unternehmensinteresse bergen, Diskussionen und Abstimmungen fernbleiben darf und die übrigen Organmitglieder den in der Weise konfliktbefangenen Kollegen gegebenenfalls von der ­Teilnahme ausschließen können. Darauf gibt es in der Literatur unterschiedliche Antworten. Nach einer weit verbreiteten Auffassung sollen entsprechende Nicht-Teil­ nahme- bzw. (auf Seiten der übrigen Aufsichtsratsmitglieder) Ausschlussrechte bestehen.19 Die Gegenposition wird namentlich von Mathias Habersack vertreten. Er sieht keine Möglichkeit – oder nur sehr selten, „allenfalls in Einzelfällen“20 und nicht in Fällen, „in denen das Aufsichtsratsmitglied zugleich Organmitglied einer anderen Körperschaft oder Personenvereinigung ist und ein Rechtsgeschäft mit dieser zur Beschlussfassung ansteht“21  – dem konfliktbefangenen Aufsichtsratsmitglied eine Stimmenthaltung oder ein Fernbleiben von der Aufsichtsratssitzung (schon gar nicht mit enthaftender Wirkung) zu gestatten oder ihn dazu zu verpflichten. Will er der Haftung entgehen, bleibe ihm nichts anderes übrig, als sein Amt niederzulegen.22 Vor einer Stellungnahme zu diesen unterschiedlichen Ansätzen sollen die Folgen von Interessenkonflikten im Rahmen der Business Judgement Rule (III.) und ihre Auswirkungen auf die Haftung in Kollegialorganen näher in den Blick genommen werden (IV.).

16 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 33. 17 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 10. 18 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 10; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 108 AktG Rz. 29. 19 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 900; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 147; Koch, ZGR 2014, 697, 710 ff.; Hopt/Roth in GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 94. 20 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 81. 21 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 101. 22 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 102.

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III. Die Freiheit von Interessenkonflikten als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG Eine aus Sicht von Vorständen und Aufsichtsräten bedeutende Vorschrift zu Interessenkonflikten ist mit § 93 Abs. 1 S. 2 AktG eine Norm, die diesen Begriff gar nicht enthält. Dennoch entspricht es einhelliger Meinung, dass das in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG als Voraussetzung für das Eingreifen der Business Judgement Rule stipulierte Erfordernis des „Handelns zum Wohle der Gesellschaft“ nur erfüllt ist, wenn dieses Handeln nicht von nennenswerten Interessenkonflikten beeinflusst ist.23 Wenngleich diese Auslegung dem Wortlaut nach nicht zwingend erscheint, steht sie unter Berücksich­ tigung der Regierungsbegründung zweifellos im Einklang mit der Intention des ­UMAG-­Gesetzgebers. Die Kodifizierung erfolgte in Anlehnung an angelsächsische Vorbilder, woraus sich u.a. die Freiheit von Fremdeinflüssen und Interessenkonflikten als Tatbestandsmerkmal der Business Judgement Rule ergab: „Das Handeln muss dabei ferner unbeeinflusst von Interessenkonflikten, Fremdeinflüssen und ohne unmittelbaren Eigennutz sein. Der Geschäftsleiter muss also unbefangen und unabhängig sein. Sondereinflüsse außerhalb des Unternehmensinteresses dürfen die Entscheidung nicht beeinflusst haben, was offensichtlich bei Handeln zum eigenen Nutzen oder zum Nutzen von dem Geschäftsleiter nahestehenden Personen oder Gesellschaften unterstellt werden muss.“24 Der letzte Halbsatz, die „Unterstellung“ einer Beeinflussung des Handelns durch Sonderinteressen außerhalb des Unternehmensinteresses, muss wohl so verstanden werden, dass es nach Vorstellung des Gesetzgebers nicht darauf ankommt, ob das betreffende Organmitglied sich tatsächlich von dem Interessenkonflikt hat beeinflussen lassen, sondern nur darauf, dass keine unternehmensfernen Interessen vorlagen. Das ist auch sachgerecht, weil es sich bei § 93 Abs. 2 S. 1 AktG um eine typisierte Privilegierung handelt, die dem unternehmerisch Tätigen, der allein vom Unternehmensinteresse geleitet ist, eine haftungsprivilegierte Entscheidung ermöglichen soll, wenn er die Pros und Cons der Entscheidung auf einer hinreichend geklärten Tatsachengrundlage angemessen abgewogen hat. Im Übrigen bedeutet dies für die betroffenen Organmitglieder keine unzumutbare Beschwer, weil die Nichtanwendung der Business Judgement Rule nicht etwa dazu führt, dass automatisch eine Haftung zu bejahen wäre; vielmehr unterliegt die Entscheidung unter diesen Voraussetzungen nur einer größeren Kontrolldichte als dies bei der Zumessung eines weitgehenden unternehmerischen Entscheidungsermessens der Fall wäre.25

23 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 69; Lutter in FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 245, 246 ff.; Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer AG, 2008, S. 293; Koch, ZGR 2006, 769, 790 f.; Koch in FS Säcker, 2011, S. 405 f.; Kock/Dinkel, NZG 2004, 441, 443 f.; Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 841 f. 24 RegBegr UMAG, BT-Drs. 15/5092, S. 11. 25 Harbarth in FS Hommelhoff, 2012, S. 323, 336; Scholderer, NZG 2012, 168, 175; Fleischer, ZIP 2004, 685, 689; Schäfer, ZIP 2005, 1235, 1255; Ihrig, WM 2004, 2098, 2103; Koch, ZGR 2014, 697, 703.

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Eine nähere inhaltliche Konkretisierung des impliziten Tatbestandsmerkmals „Freiheit von Interessenkonflikten“ lässt sich der Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG indessen nicht entnehmen. Daher könnte man in Erwägung ziehen, das in § 93 Abs.  1 S.  2 AktG vorausgesetzte Handeln  – frei von Interessenkonflikten  – bereits dann als erfüllt anzusehen, wenn das Organmitglied nicht den Voraussetzungen von § 34 BGB unterliegt, die Beschlussfassung also nicht die Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit dem Organmitglied oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits zwischen dem Organmitglied und der Gesellschaft betrifft. Diese Lösung hätte nicht nur eine klare Konturierung des Anwendungsbereichs der Business Judgement Rule zur Folge, sondern überdies den Vorzug, dass sich damit fast alle Schwierigkeiten, die sich aus der Diskrepanz zwischen dem Konfliktbegriff des Beschlussrechts und des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG ergeben, erledigen würden. Schon Jens Koch hat allerdings eine solche Lösung verworfen – und dies zu Recht.26 Die erörterte Benennung des die Business Judgement Rule einschränkenden Interessenkonflikts stünde nicht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der gesetzgeberischen Konzeption der Business Judgement Rule. Eine pauschale Enthaftung eines Organmitgliedes lässt sich nur rechtfertigen, wenn das betroffene Organmitglied nicht einer erhöhten Versuchung ausgesetzt ist, Eigeninteressen zu Lasten des Unternehmensinteresses zu verfolgen – ein Risiko, das noch nicht dadurch ausgeräumt ist, dass die Gesellschaft keine Rechtsgeschäfte mit dem betreffenden Organmitglied abzuschließen beabsichtigt oder einen Rechtsstreit erledigen möchte. Hätte der Gesetzgeber ein so schlichtes Modell wie die Orientierung an § 34 BGB bevorzugt, wäre das mit Gewissheit in der Regierungsbegründung und vermutlich sogar im Gesetz zum Ausdruck gekommen. In der Begründung findet sich indes nur, wie gesehen, die sehr weite und offene Formulierung „Interessenkonflikte, Fremdeinflüsse und ohne unmittelbarer Eigennutz“.27 Das Vorbild für dieses weite Verständnis ist erklärtermaßen die US-amerikanischen Business Judgement Rule.28 Die mehrgliedrige Definition in § 1.23 der Principles of Corporate Governance stellt unter anderem darauf ab, ob das Organmitglied selbst oder eine Person, mit der es in geschäftlicher, finanzieller oder familiärer Beziehung steht, ein „material pecuniary interest in the transaction or ­conduct“ hat.29 Somit kommt man an der Diagnose nicht vorbei, dass der „Interessenkonflikt“ i.S. des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG weit mehr – von der Rechtsprechung und Wissenschaft zu konkretisierende  – Sachverhalte erfasst als die in §  34 BGB ausgewiesenen. Jens Koch spricht daher vom „entgrenzten Konfliktbegriff “.30 Der Interessenkonflikt muss ungeachtet dessen freilich eine gewisse Relevanzschwelle überschreiten, damit er eine so gravierende Folge wie die Nichtanwendung der Business Judgement Rule auslösen kann. Das Verfolgen von nur unbedeutenden Eigeninteressen, die ernsthaft keine Vernachlässigung des Gesellschaftsinteresses erwarten lassen, schadet nicht und führt 26 Koch, ZGR 2014, 697, 716. 27 RegBegr UMAG, BT-Drs. 15/5092, S. 11. 28 Vgl. dazu Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 406. 29 Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 72. Vgl. auch Paefgen, AG 2014, 554, 563. 30 Koch, ZGR 2014, 697, 716.

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nicht zum Verlust der Privilegierung. Das Eigeninteresse kann sowohl finanzieller als auch ideeller Natur sein, allerdings ist im letzteren Fall besonders gründlich darauf zu achten, ob dem Interesse eine solche Intensität zukommt, dass es geeignet erscheint, eine unternehmerische Entscheidung zu beeinflussen.31

IV. Verantwortlichkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder bei Kollegialentscheidungen Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat, vor allem solche mit Haftungsrelevanz, sind überwiegend Kollegialentscheidungen. Das ändert aber nichts daran, dass Grundlage einer zivilrechtlichen Haftung die individuelle, persönliche Verantwortung ist. Nach dem insoweit unmissverständlichen Wortlaut des §  93 AktG haften (nur) die „Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen“ (Abs. 2 S. 1) und in den Genuss der Business Judgement Rule kommt (nur) „das Vorstandsmitglied“, das die in Abs. 1 S. 2 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt.32 Demnach wird ein Vorstandsmitglied, das sich im Rahmen einer Kollegialentscheidung persönlich pflichtgemäß verhält, nicht für Verstöße der übrigen Vorstandsmitglieder in „Sippenhaft“ genommen. Allerdings bedarf dieser Grundsatz in zweierlei Hinsicht wenn nicht einer Einschränkung, so doch einer Erläuterung. Der erste Punkt betrifft die Kausalität zwischen Stimmabgabe und Schaden. Wenn nämlich das Organ einstimmig oder mit großer Mehrheit eine Entscheidung fällt, so will es gemäß der Äquivalenztheorie scheinen, als ob der Beitrag des einzelnen Organmitglieds nicht kausal für die Entscheidung war, weil seine Zustimmung hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Dass eine derart schlichte Betrachtungsweise nicht richtig sein kann, ist anerkannt,33 nur die Begründung variiert. Aus strafrechtlicher Sicht34 handelt es sich bei den Organmitgliedern um „Mittäter“, d.h. ihre Tatbeiträge werden wechselseitig zugerechnet, die Kausalität oder Nicht-Kausalität der einzelnen Stimme spielt daher ­keine Rolle. Aus genuin aktien- und zivilrechtlichen Wertungen ergibt sich nichts ­anderes: „So wenig wie ein Vorstandsmitglied seiner Gesellschaft im Innenverhältnis ein Mitverschulden anderer Vorstandsmitglieder entgegenhalten kann, so wenig kann es sich darauf berufen, dass sein pflichtgemäßes Stimmverhalten zur Vermeidung des schädlichen Beschlusses nicht zwingend erforderlich gewesen wäre.“35

31 Harbarth in FS Hommelhoff, 2012, S. 323, 334 f.; vgl. auch Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 70; Paefgen, Unternehmerische Entscheidung und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, S. 215; Schlimm, Das Geschäftsleiterermessen des Vorstands einer Aktiengesellschaft, 2009, S. 296. 32 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 717  f.; Fleischer, BB 2004, 2645, 2645; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 93 AktG Rz. 48. 33 Fleischer, BB 2004, 2645, 2646; vgl. auch Hilgendorf, NStZ 1994, 561, 562. 34 Vgl. BGH v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 107, 129; Hilgendorf, NStZ 1994, 561, 562; Kuhlen, NStZ 1990, 566, 570. 35 Fleischer, BB 2004, 2645, 2647.

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Ein Organmitglied kann – zweitens – nicht dadurch einer Haftung entgehen, dass er der Beratung und Abstimmung ohne hinreichenden Grund fernbleibt oder sich der Abstimmung enthält. Die Sorge vor der persönlichen Haftung angesichts schwieriger, haftungsträchtiger Entscheidungen ist in jedem Fall kein hinreichender Grund; denn das Aufsichtsratsmitglied wird – wie gesehen (II.) – dazu bestellt, Entscheidungen zu treffen, nicht ihnen auszuweichen. Die Pflichtverletzung kann im Fall der Abwesenheit zwar nicht in dem pflichtwidrigen Gebrauch des Stimmrechts bestehen. Pflichtwidrig verhält sich nach h.M. aber auch derjenige, der es unzulässigerweise unterlässt, alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, um einen fehlerhaften Beschluss zu verhindern, insbesondere es erst gar nicht versucht, den übrigen Organmitglieder seine Bedenken mitzuteilen.36 „Bei einem bewussten Fernbleiben von der Vorstandssitzung liegt die Pflichtverletzung bereits in der nicht wahrgenommenen Widerspruchsmöglichkeit während der Beschlussfassung.“37 Wer den Kopf in den Sand steckt und seine Pflichten vernachlässigt, darf dafür nicht auch noch durch eine Enthaftung belohnt werden. Die Gretchenfrage lautet nun allerdings, ob ein Fehlen bei der Beschlussfassung als „entschuldigt“, als ausnahmsweise zulässig gelten darf, wenn die Abwesenheit für das konfliktbefangene Organmitglied die einzige Möglichkeit sein sollte, der Gefahr eines unternehmerischen Handelns ohne den Schutz der Business Judgement Rule zu entgehen. Das ist im Folgenden zu prüfen.

V. Die Anwendung der Business Judgement Rule auf das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied Nach dem Gesagten steht das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied, sofern nicht eine der beiden Fallgruppen des § 34 BGB vorliegt, vor einem Dilemma: Einerseits enthält seine gesetzliche Aufgabenbeschreibung und das organschaftliche Beschlussrecht die unbedingte Anweisung, an den Aufsichtsratssitzungen teilzunehmen und sein Stimmrecht auszuüben, wenn nicht ein Ausschluss – auch über die Fallgruppen des § 34 BGB (etwa aus Vertraulichkeitsgründen, vgl. oben) hinaus – angezeigt ist. Andererseits lässt sich die Business Judgement Rule so verstehen, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, konfliktbefangene Mitglieder von der Entscheidung fernzuhalten. 1. Harmonisierung durch korrespondierende Pflichtenreduktion im organschaftlichen Beschlussrecht Der Grund für diese widersprüchlichen Botschaften dürfte in den unterschiedlichen Zeitpunkten der Entstehung des allgemeinen aktienrechtlichen Pflichtenkanons und 36 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 995 f.; Spindler in Spindler/Stilz, 3.  Aufl. 2015, §  116 AktG Rz.  41; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 116 AktG Rz. 64; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 38; Fleischer, BB 2004, 2645, 2651. 37 Fleischer, BB 2004, 2645, 2651.

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der Business Judgement Rule liegen. Wenngleich § 93 Abs. 1 S. 2 AktG keine dem traditionellen deutschen Aktienrecht völlig fremde Regelung enthält, so lässt sich kaum bestreiten, dass aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung, aber vor allem wegen der Internationalisierung und des Einflusses des anglo-amerikanischen Rechts die Sensibilität für den Umgang mit Interessenkonflikten stark zugenommen hat.38 Interessenkonflikte werden heute als eine ernste Bedrohung für die Akzeptanz geschäftlicher Entscheidungen innerhalb und außerhalb des Unternehmens angesehen. Man denke nur an Standortschließungen, den Export von Gütern in Krisengebieten oder die „Defense“ eines Unternehmens in der Übernahmesituation oder – gerade umgekehrt – die Aufgabe einer Abwehr gegen eine mit dem Untergang der Gesellschaft endenden Übernahme. Wenn in solchen Fällen Vorstand und Aufsichtsrat auch nur ansatzweise in dem Verdacht stehen, aus Eigeninteresse und im Interesse eines anderen Unternehmens zu handeln, geht davon eine destabilisierende Wirkung aus, die für die betroffene Aktiengesellschaft unter Umständen sehr nachteilige Wirkungen haben kann. Diese Entwicklung hin zu einer Stigmatisierung und konsequenten Vermeidung von Interessenkonflikten, die auch – wie erwähnt – im DCGK ihren Niederschlag gefunden hat, spricht dafür, dass die (neuere) Wertung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG das organschaftliche Beschlussrecht und die Pflichten der Organmitglieder teilweise modifiziert hat und ältere Regelungen im Licht der vom Gesetzgeber nunmehr gewünschten Eliminierung von Interessenkonflikten auszulegen sind. Allzu leichtfertig sollte man allerdings einer „Umwertung“ der Aufsichtsratspflichten und des organschaftlichen Beschlussrechts nicht das Worten reden. Auch das vom Gesetzgeber nie ausdrücklich in Frage gestellte Anliegen, die Aufsichtsratsmitglieder zu einer gewissenhaften Erfüllung ihrer Aufgaben anzuhalten, ist ernst zu nehmen. Die namentlich von Mathias Habersack vertretene Auffassung, die eine Anwesenheitspflicht unterschiedslos für nicht-konfliktbefangene und konfliktbefangene Organmitglieder annimmt, stellt letztere im Übrigen nicht schutzlos und läuft nicht automatisch auf eine Organhaftung hinaus. Dem befangenen Aufsichtsratsmitglied bleiben immerhin zwei Handlungsoptionen: Er kann sein Mandat niederlegen, so wie es Ziff. 5.5.3 S. 2 für „wesentliche und nicht nur vorübergehende Interessenkonflikte“ empfiehlt,39 und er kann unter Hintanstellung seiner Sonderinteresse alles dafür tun, pflichtgemäß eine Entscheidung zu treffen und zu befördern, die dem Unternehmens­ interesse entspricht,40 denn dann scheidet eine Organhaftung auch ohne Anwendung der Business Judgement Rule aus. Gleichwohl verbleiben Zweifel, ob die Annahme einer so weitgehenden Mitwirkungspflicht konfligierter Aufsichtsratsmitglieder dem Bedürfnis der Organmitglieder nach einem „sicheren Hafen“ unternehmerischer, gerichtlicher Kontrolle weitgehend entzogener Entscheidungen hinreichend Rechnung trägt. Wäre ein Aufsichtsratsmitglied schon bei punktuellen oder kurzfristigen Interessenkonflikten dazu gezwungen, sein 38 Zur Entstehung der BJR und dem anglo-amerikanischen Einfluss Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 44. 39 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 81, 102 f. 40 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 102 f.

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Amt niederzulegen, um eine Nichtanwendung der Business Judgement Rule zu vermeiden, hätte dies angesichts der Konfliktgeneigtheit des „Nebenamts Aufsichtsrat“ eine nicht unerhebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit des Organs zur Folge und vertrüge sich nur schwer mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.41 Ein infolge der Nichtanwendung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG erhöhtes Risiko der Annahme einer Pflichtverletzung wäre indessen ebenfalls unbefriedigend; der vom Gesetzgeber mit der Einführung der Business Judgement Rule verfolgte Zweck, allzu ­risikoaverses Verhalten zu unterbinden,42 würde zumindest eingeschränkt. Insoweit läge es nahe, den betroffenen Aufsichtsratsmitgliedern  – je nach Art, Schwere und Dauer des Konfliktes – verschiedene Reaktionsmöglichkeiten zuzubilligen. 2. Reaktionsstufen Die Nicht-Teilnahme an einer Aufsichtsratssitzung wird – nach Offenlegen des Inte­ ressenkonflikts – in vielen Fällen eine adäquate Reaktion des befangenen Aufsichtsratsmitglieds sein, um den Einfluss von Interessenkonflikten auf die Entscheidungsfindung auszuschließen. Allerdings sind Art und Qualität von Interessenkonflikten so unterschiedlich, dass auch andere Reaktionsmöglichkeiten in Betracht kommen. Als milderes Mittel zu einer Nichtteilnahme an den Beratungen werden in der Literatur die Abwesenheit (nur) bei der Stimmabgabe i.e.S. oder die Stimmenthaltung genannt.43 Ob das bereits ausreicht, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden.44 In der Regel ist Skepsis angebracht, denn gewöhnlich sind die Beratungen und Diskussionen im Aufsichtsrat das entscheidende Moment der Meinungsbildung, so dass auch in diesem Umfang ein Fernbleiben notwendig erscheint, um eine unbefangene Diskussion zu gewährleisten.45 Dies gilt erst recht, wenn bereits die Informationserteilung an die Betroffenen infolge ihrer anderweitigen Interessenbindung – etwa als Entscheider im Organ eines divergierende Interessen verfolgenden Organs – problematisch ist. Etwas anderes mag ausnahmsweise dann gelten, wenn die Anwesenheit des Aufsichtsratsmitglieds aus fachlichen Gründen unentbehrlich erscheint, wie das bei Vorstandsmitgliedern häufiger vorkommt.46 Als weiteres, oft adäquates Mittel kommt die Zuweisung der Angelegenheit an einen Ausschuss in Betracht  – vorausgesetzt, das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied

41 Koch, ZGR 2014, 697, 712. 42 RegBegr. UMAG BT-Drs. 15/5092, S. 12. 43 Kindl, Teilnahme an der Aufsichtsratssitzung, 1993, S. 156; Kremer in Kremer/Bachmann/ Lutter/v. Werder, 7. Aufl. 2018, DCGK Rz. 1470. 44 Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 8. 45 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 13. Vgl. ferner Spindler in Spindler/ Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 8. Ablehnend auch (allerdings vor dem Hintergrund der oben angeführten grundsätzlichen Vorbehalte) Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 81, 102. 46 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 108 AktG Rz. 13.

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macht von seinem Teilnahmerecht gemäß §  109 Abs.  2 AktG keinen Gebrauch.47 Auch die Einrichtung eines speziellen Ausschusses, dessen Zuständigkeit sich auf diejenigen Maßnahmen bezieht, in denen sich typischerweise Interessenkonflikte aus der Doppelorganisation ergeben, ist denkbar (wiederum ohne Beteiligung des befangenen Mitglieds), wobei derartige Delegationen naturgemäß dort auf ihre Grenzen stoßen, wo eine zwingende Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats besteht. Ein Universalschlüssel zur Lösung aller Probleme ist dieses Vorgehen nicht, vor allem, weil wegen der Gesamtverantwortung des Aufsichtsrats viele Aufgaben, insbesondere die allgemeinen Überwachungsaufgaben, nicht delegierbar sind.48 Möglich ist auch eine einvernehmliche völlige „Trennung der Informationskreise“49 – auch als „Ringfencing“ bezeichnet – zwischen Aufsichtsrat und befangenem Aufsichtsratsmitglied. Sie bezieht sich auf isolierte oder isolierbare Sachverhalte, bei denen es gerade auch auf die Unterbindung des Informationsflusses ankommt. Sie reicht mithin über eine bloße Nicht-Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen hinaus und setzt vo­ raus, dass es sich um eingrenzbare und zeitlich begrenzte Sachverhalte handelt. Als ultima ratio kommt die Mandatsbeendigung durch Amtsniederlegung in Betracht.50 Wie gesehen, spricht sich dafür Ziffer 5.5.3 DCGK aus, freilich nur bei „wesentlichen und nicht nur vorübergehenden“ Interessenkonflikten. In der Tat wird man bei widerstreitenden Interessen, die absehbar über einen langen Zeitraum die Arbeit eines Aufsichtsratsmitgliedes begleiten werden und dazu geeignet sind, ihn in seinem Urteilsvermögen einzuschränken, an diesem Schritt nicht vorbeikommen. Als einziges Mittel zur Bewältigung aller Arten von Interessenkonflikten, einschließlich solcher, die nur von kurzer Dauer oder von geringem Gewicht und Radius sind, würde es jedoch die Funktionsfähigkeit von Aufsichtsräten zu sehr beeinträchtigen.51 In der Praxis ist dem Betroffenen zu empfehlen, eine sorgfältige Abwägung zwischen der grundsätzlichen Verantwortung, an gewichtigen Entscheidungen mitzuwirken und einer Vermeidung von Interessenkonflikten zu treffen und damit zugleich für sich selbst das Risiko zu vermeiden, bei unternehmerischen Entscheidungen einer erhöhten gerichtlichen Kontrolldichte zu unterliegen.

VI. Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die übrigen Aufsichtsratsmitglieder Die bisherigen Ausführungen betrafen nur die Auswirkungen, die ein Interessenkonflikt für das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied zeitigt. Da das Fundament der 47 Marsch-Barner in Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 12 Rz. 146; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 105. 48 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 105. 49 Spindler in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 109 AktG Rz. 8. 50 Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 149; Habersack in MünchKomm. AktG, 5.  Aufl. 2019, § 100 AktG Rz. 103. 51 S.o. Koch, ZGR 2014, 697, 712.

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Organhaftung auch im Rahmen von Kollegialentscheidungen die individuelle Verantwortung bildet und die Anwendung der Business Judgement Rule für jedes Organmitglied gesondert zu ermitteln ist (IV.), müsste man prima facie annehmen, dass die Befangenheit eines Mitglieds für die übrigen Angehörigen des Gremiums folgenlos bleibt und sie sich ohne weiteres auf §§ 116 i.V.m. 93 Abs. 1 S. 2 AktG berufen können, sofern in ihrer Person alle Voraussetzungen der Norm erfüllt sind. Doch diesen Schluss lehnt eine gewichtige Auffassung in der Literatur ab, die eine unabhängige, allein auf das Unternehmensinteresse fokussierte Meinungsbildung bereits dann als bedroht ansieht, wenn nur ein einziges Mitglied des Aufsichtsrats sich in einem Interessenkonflikt befindet. Diese sogenannte „Infektionslehre“ wird indessen verbreitet in Frage gestellt. Die praktische Relevanz der Streitfrage ist wegen der Häufigkeit von Doppel- und Mehrfachmandaten erheblich. 1. Meinungsstand zur Fernwirkung von Interessenkonflikten („Infektionslehre“) Der Meinungsstand ist deshalb unübersichtlich, weil im Schrifttum zusätzlich zwischen verborgenen und offen gelegten Interessenkonflikten unterschieden wird. Im Fall eines verborgenen Konflikts hat es das befangene Organmitglied – pflichtwidrig – unterlassen, die übrigen Mitglieder über die widerstreitenden Interessen aufzuklären und ihnen auf diese Weise die Gelegenheit zu geben, die Argumente des Kollegen anders zu gewichten. Das soll nach einer Ansicht genügen, um die Anwendung der Business Judgement Rule generell, also auch mit Blick auf die Mitglieder, die sich nicht in einem Interessenkonflikt befinden, auszuschließen.52 Das weitreichende Privileg des §  93 Abs.  1 S.  2 AktG könne nur gewährt werden, wenn sichergestellt sei, dass niemand „falsch spiele“ und ein offener Austausch der Argumente stattfinde: „Da sich der Einfluss des befangenen Mitglieds im Nachhinein kaum feststellen lässt, kann davon [also einer Orientierung ausschließlich am Gesellschaftswohl] jedenfalls pauschal nicht ausgegangen werden. Es besteht vielmehr die ­Gefahr, dass die übrigen Vorstandsmitglieder den Argumenten des befangenen Vorstandsmitglieds aufgeschlossen gegenübertreten und nicht erkennen, dass dessen Argumentation von Sonderinteressen beeinflusst ist, die sich nicht mit dem Gesellschaftsinteresse decken. Damit besteht in einer solchen Konstellation eine Gefährdungslage, wie sie nach dem gesetzgeberischen Leitbild im Anwendungsbereich der BJR gerade nicht vorliegt.“53 Andere Stimmen in der Literatur lehnen die Nichtanwendung der Business Judgement Rule bei verborgenen Konflikten ab.54 52 Blasche, AG 2010, 692, 694 ff.; J. Bauer, VGR 20, 2014, S. 195, 212 f.; Lutter in FS Canaris, 2007, Bd. II, S. 245, 248 ff.; Scholderer, NZG 2012, 168, 175; wohl auch Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 93 AktG Rz. 29. 53 J. Bauer, VGR 20, 2014, S. 195, 212; vgl. auch Blasche, AG 2010, 692, 695. 54 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 725; Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 405 ff.; Bunz, NZG 2011, 1294 ff.; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 150; Haarmann in FS Wegen, 2015, S. 423, 437; C. Schäfer, ZGR 2014, 731, 746 f.; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 26; Fleischer in Spindler/Stilz, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 72b; Hopt/Roth in Groß-

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Verständigen konnte man sich bislang auch nicht über die Anwendung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, sofern das konfliktbefangene Organmitglied seinen Pflichten entsprochen und den übrigen Mitgliedern den ihn belastenden Interessenkonflikt mitgeteilt hat. Nimmt man das soeben referierte Argument bei nicht offen gelegten Interessenkonflikten ernst, so folgt daraus nach einem Teil der Literatur, dass – umgekehrt – eine Offenlegung das Gremium dazu in die Lage versetzt, die Diskussionsbeiträge des befangenen Mitglieds in einem anderen Licht zu sehen und besonders kritisch zu prüfen. Ist die Gefahr einer unwissentlichen Beeinflussung also gebannt, entfällt die Notwendigkeit, den nicht-befangenen Mitgliedern die Vorzüge der Business Judgement Rule zu verwehren.55 Doch es gibt auch andere (u.a. am US-amerikanischen Recht orientierte56) Stimmen, wonach auch oder gerade bei einer Offenlegung die übrigen Organmitglieder in ihrem Urteil nicht mehr unabhängig seien und daher die Anwendung des § 93 Abs. 2 S. 1 AktG nicht in Betracht komme.57 Die Vermutung liege nicht fern, „dass den Äußerungen des vertrauten Kollegen wenig Argwohn entgegengebracht und letztlich aus kollegialer Verbundenheit seinem Standpunkt gefolgt wird. Die hier geäußerte Sorge wird noch verstärkt, wenn es sich bei dem Betroffenen nicht um irgendein Vorstandsmitglied, sondern um ein weithin geschätztes und einflussreiches Mitglied handelt. Dann mag seine Durchsetzungsfähigkeit die der übrigen Mitglieder unter Umständen übertreffen.“58 Das Verlassen eines Raumes desjenigen, über dessen Interessen entschieden werde, gehöre zu der „national und international gängigen Gremienpraxis […], weil man annimmt, in seiner Gegenwart könnten die anderen nicht unbeeinflusst über die aufgeworfenen Fragen entscheiden.“59 Warum diese Erkenntnis ausgerechnet für die Organe einer Aktiengesellschaft nicht gelten solle, sei nicht einsichtig. Bei Anwesenheit des befangenen Mitglieds werde demnach die Richtigkeit der Entscheidung nicht mehr durch das Entscheidungsprocedere gewährleistet. Genau das solle aber die ­Business Judgement Rule leisten.60 Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, was zu geschehen hat, wenn das befangene Mitglied sich weigert, der Diskussion und Abstimmung fernzubleiben. Kann in einem solchem Fall das Fernbleiben durch die übrigen Mitglieder erzwungen werden? Nach einer Ansicht in der Literatur ist das nicht möglich.61 Andere Autoren, nicht zuletzt Anhänger der „Infektionslehre“ wie Jens Koch befürworten eine AusschlussKomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 96; Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl., § 93 AktG Rz. 19; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 64. 55 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 72a; Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 93 AktG Rz. 29; J. Bauer, VGR 20, 2014, S. 195, 213 f. 56 Koch, ZGR 2014, 697, 709. 57 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 55; Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 414 ff.; Koch, ZGR 2014, 697, 708 ff., 713 ff.; Bunz, NZG 2011, 1294, 1296; Lutter in FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 245, 249 f.; Scholderer, NZG 2012, 168, 175. 58 Bunz, NZG 2011, 1294, 1295. 59 Koch, ZGR 2014, 697, 710, 714; vgl. auch Lutter in FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 245, 250. 60 Koch, ZGR 2014, 697, 710, 714. 61 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727 f.; C. Schäfer, ZGR 2014, 731, 746 f.

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möglichkeit,62 um den nicht-befangenen Mitgliedern die Chance zu eröffnen, sich das Privileg des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG zu erhalten. 2. Unzulänglichkeiten einer Fernwirkung von Interessenkonflikten Auch vorliegend soll die Unterscheidung zwischen offengelegten und nicht-offengelegten Interessenkonflikten aufgegriffen werden, nicht nur aus Gründen der Übersichtlichkeit, sondern auch, weil die beiden Fallgruppe rechtlich ganz unterschiedliche Aspekte berühren. a) Verborgener Konflikt Die Argumentation derer, die bei verborgenen Interessenkonflikten eine „Infizierung“ der übrigen Mitglieder bejahen, ist isoliert betrachtet durchaus plausibel. Dass jemand, der von denkbaren, durch anderweitige Interessen geprägten Interessen seines Gegenübers keine Kenntnis hat und gleichgerichtete Motive unterstellt, sich leichter vereinnahmen und manipulieren lässt, dürfte der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechen. Wer glaubt, auch der andere habe ebenfalls ausschließlich das Unternehmensinteresse im Blick, ist vermutlich leichter geneigt, sich dessen Meinung anzuschließen, als der, der um denkbare andere Motive weiß. Allerdings kommt es darauf gar nicht an, da § 93 Abs. 2 S. 1 AktG nicht auf ein objektiv „richtiges“, d.h. objektiv im Unternehmensinteresse liegendes Handeln abstellt, sondern darauf, ob das Organmitglied „vernünftigerweise annehmen durfte“, zum Wohle der Gesellschaft tätig zu werden. Sofern ein Mitglied des Aufsichtsrats den Interessenkonflikt nicht positiv kannte oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können, greift die Business Judgement Rule ein. „Objektiv“ ist der Maßstab nur insofern, als sich die übrigen Organmitglieder nicht offenkundig zu Tage liegenden Hinweisen auf Interessenkonflikten in den eigenen Reihen verschließen dürfen.63 In der Regierungsbegründung heißt es dazu klarstellend: „Diese Sichtweise wird durch das ‚annehmen Dürfen‘ begrenzt und objektiviert. Als Maßstab für die Überprüfung, ob die Annahme des Vorstands nicht zu beanstanden ist, dient das Merkmal ‚vernünftigerweise‘. Auch insofern wird auf Ausführungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung im ARAG/Garmenbeck-Urteil Bezug genommen. Das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals wäre etwa dann zu verneinen, wenn das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt worden ist.“64 Bloße Schutzbehauptungen reichen demnach nicht aus, denn dann durften die übrigen Organmitglieder nicht „vernünftigerweise annehmen“ im Unternehmensinteresse zu handeln. Wenn sich jedoch keine Hinweise auf widerstreitende Interessen aufdrängen 62 Koch, ZGR 2014, 697, 710 ff., 719 ff., 725 f.; ebenfalls für Ausschluss Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 900; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141, 147, 149. 63 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727; Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 408 f. 64 RegBegr. UMAG BT-Drs. 15/5092, S. 11.

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und die übrigen Mitglieder sich nicht „in völlig unverantwortlicher Weise“ verhalten, ist die Business Judgement Rule ausweislich des insoweit eindeutigen Wortlauts des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG und der sich darauf beziehenden Regierungsbegründung anwendbar.65 Der subjektive Maßstab mit objektivem Einschlag ist kein Versehen des Gesetzgebers, sondern lässt sich in der Sache gut begründen. Sinn und Zweck der Business Judgement Rule bestehen darin, Unternehmen und Wirtschaft vor einer Unternehmensleitung zu schützen, die aus Sorge um die Organhaftung ihre eigentlichen unternehmerischen, notwendigerweise risikobehafteten Aufgaben aus den Augen verliert – oder – wie es die Regierungsbegründung formuliert: „Das Gesetz möchte den Mut zum unternehmerischen Risiko nicht nehmen.“66 Müsste ein Organmitglied davon ausgehen, dass schon ein ihm unbekannter Interessenkonflikt in Person nur eines einzigen anderen Mitglieds für die Nichtanwendung der Business Judgement Rule ausreicht, bestünde die Gefahr, dass es angesichts der Häufigkeit von Interessenkonflikten zu seiner eigenen Sicherheit besonders risikoavers agieren würde; das gesetzgeberische Ziel, zum unternehmerischen Risiko zu ermutigen, wäre mithin verfehlt.67 b) Offengelegter Konflikt Hat das konfliktbefangene Organmitglied den Interessenkonflikt pflichtgemäß offengelegt, spricht zumindest der Wortlaut des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG nicht dagegen, den übrigen Mitgliedern das Privileg der Business Judgement Rule zu entziehen, denn dann kennen sie ja die Hintergründe und dürfen nicht annehmen, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Die entscheidende Frage ist in diesem Fall eine ganz andere: Reicht die Offenlegung bereits aus, um die übrigen Vorstandsmitglieder davon abzuhalten, gegen das Unternehmensinteresse zu handeln? Diese Frage hat Jens Koch verneint. Er wendet sich gegen die Annahme, die anderen Organmitglieder könnten sich im Falle der Offenlegung dem Einfluss des befangenen Organmitglieds entziehen. Dies sei „nicht empirisch verifizierbar, sondern letztlich eine Spekulation über die menschliche Natur und über das Konfliktverhalten des Einzelnen jenseits aller juristischen Kategorien.“68 Doch auch die von Jens Koch vertretene Auffassung, dass das Mitglied eines Gesellschaftsorgans nicht in der Lage sein soll, die Argumente eines Kollegen, dessen Befangenheit er kennt, kritisch zu prüfen und abzuwägen, ist zunächst einmal ebenso eine anthropologische und psychologische Mutmaßung, zudem – aus meiner Sicht – eine, die sich nicht aufdrängt. In der Tat kommt es indessen in erster Linie auf die „juristische Kategorie“, d.h. auf die rechtliche Einordnung der beschriebenen Konfliktsituation durch den Gesetzgeber an. Der Hinweis auf die „national und international gängige Gremienpraxis“, dass das konfliktbefangene Mitglied die Sitzung verlässt, ist ein gewisses Indiz, aber kein zwin65 Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 727. 66 RegBegr. UMAG BT-Drs. 15/5092, S. 12. 67 Koch in FS Säcker, 2011, S. 403, 410; Koch, ZGR 2014, 697, 709. 68 Koch, ZGR 2014, 697, 714.

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gender Ausgangspunkt für eine entsprechende juristische Wertung. Vor allem stünde eine solche Ableitung im Widerspruch zu der gegenläufigen, viel handfesteren und dominanteren gesetzlichen Wertung, dass Transparenz durch Offenlegung von entscheidungsrelevanten Umständen eine wirksame Maßnahme gegen die unbewusste Manipulation von Entscheidungen darstellt. Die das gesamte private wie öffentliche Recht durchziehenden Transparenz- und Offenlegungsgebote wären unverständlich, wenn der Gesetzgeber nicht die Auffassung vertreten würde, dass bereits allein durch Wissen um Interessenkonflikte oder sonstige einem unbefangenen Urteil entgegenstehende Tatsachen Fehlentscheidungen vorgebeugt werden könne. Offenkundig unterstellt der Gesetzgeber, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, sich manipulativen Einflüssen zu entziehen, sofern und solange sie über hinreichende Informationen verfügen. Vor diesem Hintergrund erscheint es problematisch, bei Verschweigen eines Interessenkonflikts den übrigen Organmitgliedern das Berufen auf die Business Judgement Rule zu gestatten, bei der ausdrücklich erwünschten Offenlegung eines solchen Konflikts hingegen nicht. Die angreifbare Unterstellung, die Aufklärung über Interessenkonflikte fördere nicht die Unabhängigkeit des Urteils, passt nicht zu der gravierenden Folge eines von den übrigen Mitgliedern hilflos hinzunehmenden Ausschlusses der Business Judgement Rule. Ein wesentlicher Grund, weswegen es Jens Koch unproblematisch erscheint, keine Einwände gegen die „Infektionslehre“ zu erheben, ist in seiner weiteren These begründet, die in seiner Begründung konsequenterweise weit mehr Raum einnimmt: Da er dem befangenen Organmitglied nicht nur das Recht zubilligt, an Sitzungen mit Konfliktrelevanz nicht teilzunehmen, sondern ihn auch dazu verpflichtet, auf Verlangen der übrigen Mitglieder einer Sitzung fernzubleiben, fällt es ihm leicht, der „Infektionslehre“ zuzustimmen, denn auf diese Weise sind die Organmitglieder nicht mehr schutzlos den Interessenkonflikten ihrer Kollegen ausgeliefert und müssen nicht auf den guten Willen des Befangenen hoffen, von einer Teilnahme abzusehen.69 Doch besteht überhaupt diese Pflicht des befangenen Organmitglieds (bzw. das korrespondiere Ausschlussrecht der übrigen Mitglieder)? Wie gesehen (II./III.), gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen einem (älteren) restriktiven Konfliktbegriff im organschaftlichen Beschlussrecht und einem (jüngeren) weiten, „entgrenzten“ Verständnis, wie es § 93 Abs. 1 S. 2 AktG voraussetzt. Jens Koch löst den Gegensatz in der Weise auf, dass er den Stimmrechtsausschluss über die Grenzen des § 34 BGB auf alle von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG erfassten Fallgruppen ausdehnt und den nicht-befangenen Mitgliedern ein Recht an die Hand gibt, die Mitwirkung befangener Mitglieder zu verhindern. Er begründet den Schritt damit, dass es sich bei § 93 Abs. 1 S. 2 AktG um geschriebenes Recht handle (zumindest sei das Fehlen eines Interessenkonflikts in der Gesetzesbegründung verankert), während die Analogie zu § 34 BGB im Aufsichtsrats- und Vorstandsrecht lediglich auf einer Rechtsfortbildung beruhe, die Rechtsfort-

69 Koch, ZGR 2014, 697, 714 ff.

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bildung aber nun einmal dem Gesetz folgen müsse und nicht umgekehrt („andernfalls wedelt der Schwanz mit dem Hund“).70 Diese Ansicht lässt sich hören, ist aber letztlich nicht zwingend.71 Es trifft zu, dass der Gesetzgeber die ursprüngliche, rigorose Stimm- und Anwesenheitspflicht mit Einführung der Business Judgement Rule punktuell modifiziert hat. Dem ist – wie unter V. dargelegt – dadurch Rechnung getragen worden, dass einem konfliktbefangenen Organmitglied das Recht zugestanden wurde, einer Abstimmung und Stimmabgabe fernzubleiben, wenn ihm andernfalls der Genuss der Business Judgement Rule nicht zuteilwürde. Weiter kann die Modifikation aber nicht reichen. Die überkommenen Stimm- und Teilnahmerechte der Leitungsorgane wurden durch die Neufassung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG nicht vollständig „überschrieben“. Die Business Judgement Rule sollte dem unternehmerisch agierenden Organmitglied eine zusätzliche Erleichterung verschaffen, ohne ihm damit weitere Pflichten aufzubürden. Wenn das betroffene Mitglied diese Erleichterung für sich nicht in Anspruch nehmen und der Sitzung unbedingt beiwohnen möchte, ist das seine Sache und von den übrigen Teilnehmern hinzunehmen, sofern es ihnen nicht schadet und nicht einer der Ausnahmefälle vorliegt, bei denen der Ausschluss bereits wegen der gebotenen Vertraulichkeit und des damit notwendigen Ausschlusses von Informationen erforderlich ist. Demgegenüber wird eingewandt, dass es nicht zugelassen werden dürfe, dass ein befangenes Organmitglied die übrigen Mitglieder bedenkenlos „infiziere“; diese müssten sich vielmehr wehren können, indem sie dessen Fernbleiben erzwingen. Sie müssten dessen Fernbleiben durchsetzen können, weil sie andernfalls einer „Infektion“ schutzlos ausgeliefert wären. Das überzeugt indessen nicht. Die „Infektionslehre“, nicht das organschaftliche Beschlussrecht ist das schwächste Glied in der Argumentationskette, um eine Harmonisierung zwischen Beschlussrecht und Business Judgement Rule zu erreichen. Lehnt man die „Infektionslehre“ ab, lässt sich ein vernünftiger Ausgleich zwischen der grundsätzlichen Teilnahmepflicht von Aufsichtsräten und dem Bemühen, befangene Mitglieder nach Möglichkeit von den Entscheidungsprozessen fernzuhalten, herstellen. 3. Ergebnis: Praktische Konkordanz zwischen Gesamtverantwortung und Konfliktvermeidung Das nicht zu leugnende Spannungsverhältnis zwischen dem gesetzlich kaum eingeschränkten Prinzip der Gesamtverantwortung und den daraus erwachsenden Stimmund Teilnahmerechten sowie daraus erwachsende Pflichten der Organmitglieder auf der einen und der Business Judgement Rule auf der anderen Seite lässt sich in der Weise entschärfen, dass einerseits dem in einem Interessenkonflikt gefangenen Aufsichtsratsmitglied das Recht zugestanden wird, sofern sein Interessenkonflikt der ­Anwendbarkeit der Business Judgement Rule entgegensteht, der Abstimmung und Beratung des Gremiums fernzubleiben. Andererseits bleibt das Prinzip der Gesamt70 Koch, ZGR 2014, 697, 717 f. 71 Vgl. Koch, ZGR 2014, 697, 713.

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verantwortung insoweit intakt, als zwar die Pflicht des befangenen Mitglieds zur Teilnahme entfällt, nicht aber dessen Recht zur Teilnahme.72 Allerdings bleibt es beim Recht zum Ausschluss nicht nur im Rahmen des § 34 BGB, sondern auch in den Fällen, in denen die Informationserteilung bereits zu einer erheblichen Interessensbeeinträchtigung des betroffenen Unternehmens führen würde. Damit ergibt sich zugleich, dass die Schwellen für einen Ausschluss höher liegen als die Schwelle zur Annahme eines die Anwendung der Business Judgement Rule ausschließenden Interessenkonflikts.

VII. Handlungsoptionen de lege lata und de lege ferenda Der hier entwickelte Lösungsvorschlag zur Auflösung des beschriebenen Spannungsverhältnisses kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt. Die nicht existente oder bestenfalls rudimentäre Regelung von ­Interessenkonflikten im Aktienrecht steht in keinem Verhältnis zu der praktischen Bedeutung solcher Konflikte. Man sollte also erwägen, bei der nächsten Reform der Business Judgement Rule klarzustellen, dass die sogenannte Infektionslehre nicht mit § 93 Abs. 1 S. 2 AktG zu vereinbaren ist und es auch insoweit bei dem Prinzip der individuellen, persönlichen Verantwortung bleibt. Diese Position steht in Einklang mit der gesetzlich vielfach zum Ausdruck gebrachten Überzeugung, dass Transparenz im Allgemeinen und Offenlegung von Interessenkonflikten im Besonderen das entscheidende Mittel und Verfahren sind, um zu verhindern, dass solche Konflikte das Urteilvermögen Dritter negativ beeinflussen. Die Offenlegung darf für die, denen gegenüber die Offenlegung erfolgt, keine Nachteile mit sich bringen, sei es nur, dass sie gezwungen wären, einen Ausschluss des (unmittelbar) befangenen Organmitglieds zu bewirken, um sich die Anwendung der Business Judgement Rule zu erhalten. Mindestens ebenso notwendig erscheint eine Reform des organschaftlichen Beschlussrechts. Die Analogie zu einer für sich genommen bereits unzulänglichen Vorschrift im Vereinsrecht reicht nicht aus, um eine in der Beratungspraxis so wichtige Regelungsmaterie wie Interessenkonflikte in den Griff zu bekommen. Es empfiehlt sich u.a. eine Synchronisierung mit der Business Judgement Rule. So muss gewährleistet sein, dass ein konfliktbefangenes Organmitglied, das eine Haftung vermeiden möchte, seine organschaftlichen Pflichten nicht verletzt, wenn es einer Sitzung des Gremiums mit einer konfliktrelevanten Agenda fernbleibt. Es stimmt zwar, dass wegen der Vielfalt der Interessenkonflikte eine abschließende, lückenlose Regelung nicht möglich ist. Aber das Problem stellt sich in der Gesetzgebungspraxis häufiger und bedeutet kein unüberwindliches Hindernis, da brauchbare Instrumente wie z.B. die Normierung von Regelungsbeispielen zur Verfügung stehen. Solange der Gesetzgeber nicht korrigierend eingreift und keine belastbare höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, ist die Gefahr nicht zu leugnen, dass Gerichte der „Infektionslehre“, die in der Literatur keinen geringen Zuspruch genießt, folgen. Al72 Vgl. auch Schäfer, ZGR 2014, 731, 747.

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lein wegen dieses Risikos (allerdings nur solange es besteht) muss es zulässig sein, konfliktbefangene Organmitglieder von der Sitzung und Abstimmung auszuschließen. Zwar ist ein solcher Ausschluss – außerhalb der Probleme des Erhaltens notwendigerweise vertraulicher Informationen – an sich – wie gesehen – nicht überzeugend, noch weniger überzeugend wäre es aber, wenn die übrigen Mitglieder die Nichtanwendung der Business Judgement Rule hilflos hinnehmen müssten und dem goodwill des Befangenen ausgeliefert wären. Dieses Modell würde in Anbetracht der Häufigkeit von Interessenkonflikten auf die weitgehende Entwertung der Business Judgement Rule hinauslaufen und – entgegen der erklärten Intention des Gesetzgebers – risiko­ scheues Verhalten stark befördern. In der Abwägung zwischen den zwei unbefriedigenden Alternativen ist die Ausschlussmöglichkeit das geringere Übel.

VIII. Zusammenfassung 1. Grundlage einer zivilrechtlichen Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern ist auch bei Kollegialentscheidungen die individuelle, persönliche Verantwortung. 2. Dem in einem Interessenkonflikt gefangenen Aufsichtsratsmitglied, auf das die ­Business Judgement Rule keine Anwendung fände, kommt das Recht zu, – soweit erforderlich – der Abstimmung und Beratung des Gremiums fernzubleiben. 3. Die sogenannte Infektionslehre ist abzulehnen. Sie findet keine Anwendung auf nicht offengelegte Interessenkonflikte, da dann in der Regel die übrigen, nicht persönlich konfliktbefangenen Mitglieder des Aufsichtsrats „vernünftigerweise annehmen durften“, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG). 4. Die „Infektionslehre“ findet darüber hinaus auch bei offengelegten Interessenkonflikten keine Anwendung. Es überzeugt nicht, bei Verschweigen eines Interessenkonflikts den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern das Berufen auf die Business Judgement Rule zu gestatten, hingegen nicht bei der ausdrücklich erwünschten Offenlegung eines solchen Konflikts, die nach dem Willen des Gesetzgebers die Mitglieder gerade in die Lage versetzen soll, sich ein unabhängiges Urteil zu bilden. 5. Folgt man dem, wäre es – wenn es nicht bereits im Unternehmensinteresse einer Unterbindung des Informationsflusses bedarf – nicht erforderlich, den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern zu gestatten, das konfliktbefangene Mitglied gegen dessen Willen von der Beratung und Stimmabgabe auszuschließen, weil es die Voraussetzungen zur Herabsetzung der richterlichen Kontrolldichte nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG nicht erfüllt. Ein solcher Eingriff in die Kontrollrechte der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, der mit dem Prinzip der Gesamtverantwortung kollidiert, erscheint nur insoweit akzeptabel, als die Gefahr einer Anerkennung der „Infektionslehre“ durch die Rechtsprechung bislang noch nicht gebannt ist.

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Jörg Rodewald und Susanne Abraham*

Nutzung sozialer Medien – namentlich eines Blogs – zur Vermarktung fachlicher Inhalte im Gesellschaftsrecht Inhaltsübersicht

I. Vorbemerkung

II. Corporate-Blog Angebote im deutschsprachigen Raum III. Inhalte – Autoren – Leser IV. Format/Darstellung



V. Interaktive Leserschaft: Die Kommentarfunktion

VI. Soziale Medienplattformen als Alternativen und Verbreitungskanäle VII. Fazit

I. Vorbemerkung Traditionell veröffentlichen wir Fachbeiträge seit Jahrzehnten (ausschließlich) in Monographien oder – wenn es um „Kurzformate“ geht, als Aufsätze in juristischen Fachzeitschriften und als Beiträge in Sammelwerken wie dieser Festschrift. Gerichte und andere Institutionen füllen Regalwände mit (gedruckten) Entscheidungssammlungen. Die Summe dieser Printmedien ist der Inbegriff überkommener „Fachliteratur“ – und wird folgerichtig ganz überwiegend von Fachlesern konsultiert. Das Lektorat wissenschaftlicher Verlage und die kritische Leserschaft gewährleisten eine hohe Qualität der Beiträge. Als Vermarktungsinstrument eignen sie sich nur bedingt. Oder suchen Sie Ihren Handwerker und Ihre Steuerberaterin in deren einschlägigen Fachpublikationen? Für den juristisch nicht vorgebildeten Leser werden Rechtsthemen zwar vereinzelt in großen Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern „aufbereitet“. Was bislang fehlte, sind komprimierte fachliche Äußerungen zu Rechtsfragen, die nicht den Anspruch dogmatischer Durchdringung oder richterlicher Würdigung komplexer Streitstände haben; Beiträge, die einem weiten Leserkreis eine Orientierung bieten sollen. Im Idealfall entsteht daraus eine wiederkehrende Begegnung mit einem Autor seiner/ihrer Wahl oder ein latent präsenter Ansprechpartner, dem er/sie seine/ihre komplexere Fragen anvertrauen würden. Der Jubilar konnte bislang im Kontext mit fachlichen Äußerungen eine gewisse Skepsis gegenüber sozialen Medien nicht verhehlen – nicht zu Unrecht, da das juristische Argument doch gewissen intellektuellen und häufig auch textlichen Raum benötigt, um zur vollen Entfaltung zu kommen. Gleichwohl gewinnen die sozialen Medien, namentlich auch fachliche Äußerungen über sogenannte Blogs,1 im Bereich außer* Die Autoren danken Herrn Vincent Zacharias, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Luther in Berlin, für seine Unterstützung bei der Anfertigung dieses Beitrages. 1 Der Begriff Blog ist die Kurzform von „Weblog“, als Zusammensetzung der englischen Wörter „World, Wide, Web“, kurz „Web“ und „logbook“ und stand erstmals 2006 im Rechtschreib-

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halb der akademischen Auseinandersetzung an Bedeutung. Die großen juristischen Fachverlage nutzen das Format ebenso für die Verbreitung und Vermarktung fach­ licher Inhalte, wie viele größere und kleinere Rechtsanwaltskanzleien. Die nachfolgenden Betrachtungen beziehen sich auf die Verbreitung von juristischen Blogs in Deutschland. Das Untersuchungsobjekt bilden sogenannte Corporate Blogs oder Blogs zum Gesellschaftsrecht, da dieses Rechtsgebiet dem Jubilar besonders nahe steht. Die Betrachtungen und Schlussfolgerungen lassen sich aber im Wesentlichen auch auf Blogs zu anderen Rechtsgebieten übertragen.

II. Corporate-Blog Angebote im deutschsprachigen Raum Blogs sind auf deutschsprachigen Internetseiten inzwischen häufiger anzutreffen als noch vor fünf Jahren. Circa ein Drittel der Top 202 Kanzleien in Deutschland führen Blogs,3 in denen kaum ein Beitrag älter als vier Jahre ist. Die Beiträge in Corporate Blogs „großer“ Kanzleien decken  – mit einer durchschnittlichen Länge von 5001200 Wörtern – eine große Breite des Gesellschaftsrechts ab. Sie reichen von klassischen Entscheidungsbesprechungen mit rechtsanwaltlicher Handlungsempfehlung über rechtliche Bewertungen aktueller rechtspolitischer Themen bis zu Erklärungen von Fachbegriffen aus dem Transaktionswesen. Häufig erscheinen Beiträge in Blog-Serien unter einer gemeinsamen Überschrift. Die Veröffentlichungsdichte variiert, doch entsteht der Eindruck, dass erfolgreiche Blogs in hoher Taktung (möglichst wöchentlich) neue Beiträge veröffentlichen und alle Teilgebiete des Rechtsgebietes abdecken, sporadisch ergänzt um „Gastbeiträge“ aus benachbarten Bereichen. Regelmäßigkeit und Diversität von Blog-Beiträgen scheinen aber Gegenstand individueller Schwerpunktsetzung zu sein. Während einige Kanzleien sehr regelmäßig neue Beiträge publizieren, treten andere bislang eher sporadisch auf. Vereinzelt werden spezialisierte Dienstleister engagiert und mit fremdsprachigen Beiträgen ein grenzüberschreitender Leserkreis angesprochen, um sich vom Wettbewerb um die Leserschaft abzuheben oder eine Nische zu bedienen. Als Gegentrend zum „kreativen“ oder „internationalen“ Blog setzen andere Kanzleien auf Bewährtes und binden zur Vermittlung ihrer Fachinhalte Aufsatzformate direkt in duden. Der Blog ist eine Sammlung von Texten, die auf einer Website zumeist in chronologischer Reihenfolge veröffentlicht werden und ein bestimmtes Thema zum Inhalt haben. In den Texten werden eigene Überlegungen und Ansichten im Stile eines Tagebucheintrages oder Berichts dargestellt. Sie gehören aber auch zum Standard des sog. Social Media Package, also des professionell gestalteten Auftritts von Unternehmen der Werbe-, Presse-, Lifestyle und vielen weiteren Branchen im Internet und gegen in diesem Kontext im Wesentlichen Informationen über die Unternehmensentwicklung oder dem unmittelbaren Marktsegment. 2 Diese Bezeichnung stellt ab auf die Rang- und Reihenfolge von Anwaltskanzleien gemessen an Umsatz, Mitarbeiterzahl und Marktbedeutung, die von Branchenmedien wie etwa JUVE ermittelt werden; vgl. JUVE-Handbuch 2018/2019 - https://www.juve.de/handbuch/2019/de. 3 Studie der Agentur Gerhard, Wie nutzen deutsche Großkanzleien Social Media? Einblick in die Top 20, Oktober 2018, Erhebungszeitraum: 2017, S. 17 – https://www.agentur-gerhard. de/digitale-strategie/digitale-transformation-und-wirtschaftskanzleien/.

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ihre Unternehmens-Website ein. Dieses Format unterscheidet sich vom „echten“ Blog vor allem in Umfang und Adressatenkreis, damit verbunden in Sprache und Komplexität. Wieder andere nutzen Blogs nicht für ihre (beruflichen) Kernthemen, sondern nehmen Schnittstellenthemen ins Visier, wie Finanzierungsthemen und IT/IP. Nach aktuellem Befund sind Blogs internationaler Großkanzleien mit einem Büro in Deutschland trotz alledem – noch – ein Novum: Die Ära der Newsletter – „nunmehr auch online verfügbar“ – scheint noch nicht abgelöst. Auf manchen Kanzlei-Websites werden klassische Beiträge der kanzleiangehörigen Kollegen auf „News“-Seiten aus Beck verlinkt. Beiträge aus Übersee sind zwar auf der Website sichtbar, aber für die deutschsprachige Leserschaft thematisch nicht zielführend oder nicht einschlägig und damit ohne Mehrwert. Blogs werden aber nicht nur von Kanzleien vorgehalten. Auch juristische Fachverlage haben den Blog für sich entdeckt und veröffentlichen mit großer Regelmäßigkeit Beiträge. Der Beck Verlag hat ein sehr breit gefächertes Blog-Angebot. Auch der Otto Schmidt Verlag unterhält einen Corporate Blog. Im Gegensatz zu den Corporate Blogs der großen Kanzleien sind die Beiträge dieser Verlags-Blogs wesentlich kürzer (400500 Wörter) und damit näher an der Zielgröße, die sich in medienaffineren Branchen (mit klassischer Produktwerbung) bewährt hat. Neben den Corporate-Blogs der Verlage und Kanzleien finden sich unter Hochschullehrern im Fachbereich Rechtswissenschaften Blogger.4 Hier wird Grundsätzliches zum Gesellschaftsrecht (Vertretung, Haftung) thematisiert, daneben finden sich kurze Besprechungen von Gerichtsentscheidungen oder es wird auf Veröffentlichungen, Tagungen, Vorträge und ähnliches hingewiesen.

III. Inhalte – Autoren – Leser Im Vergleich zum gängigen Aufsatzformat werden der Verbreitungsform „Blog“ Texte gerecht, die kürzer und weniger dogmatisch gefasst sind. Inhaltlich ist wegen der unmittelbaren Sichtbarkeit vorausgegangener Beiträge eine abwechslungsreiche Themenauswahl gefragt. Aufmerksamkeit erzielt ein Blog-Beitrag durch Verwendung zugkräftiger Schlagworte – nicht nur im Titel oder Untertitel.5 Denn zugkräftig ist, was im Rahmen medialer Verstärkung bereits Erwähnung findet („viral“ ist), weil ein Begriff in den sozialen Medien an Sichtbarkeit gewinnt und damit der zugehörige Bei4 Z.B.: Prof. Dr. Ulrich Noack, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Unternehmensrechtliche Notizen [Blog], Online abrufbar: https://notizen.duslaw.de/, Abrufdatum: 29.1.2019; Prof. Dr. Ulrich Wackerbarth, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Rechtsvergleichung an der Fernuniversität Hagen, Corporate BLawG [Blog]; Online abrufbar: http://blog.fernuni-hagen.de/blawg/, Abrufdatum: 29.1.2019. 5 Gerade mit Blick auf die Einbindung der Blog-Beiträge in Kommunikationsplattformen und Netzwerke von Twitter, LinkedIn, Facebook ist die Verschlagwortung von entscheidender Bedeutung, um von den Nutzern gefunden zu werden („tags“).

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trag erhöhte Aufmerksamkeit gewinnt, je häufiger er gesehen und weiterverbreitet wird. Das will erläutert werden: Aufmerksamkeit für traditionelle Print-Beiträge spiegelt sich in Zitaten und Referenzen nachfolgender Autoren; für überkommene Gesamtausgaben bemisst sich Aufmerksamkeit an der Zahl der Abonnenten oder Druckauflagen. Für Blogs gelten vereinfacht gesagt die Regeln des online-marketing; anders ausgedrückt bemisst sich mediale Aufmerksamkeit in der Anzahl der Zugriffe auf einen Beitrag, der „Clicks“ und „Likes“ und im besten Fall der Auslösung einer lebhaften Diskussion mit Bezug zu dem Beitrag. Der Beck Verlag legt die “Click-Zahlen bei seinen Beiträgen jeweils offen. Jene zum Thema Gesellschaftsrecht werden etwa zwischen 1000 und 2000 Mal im Monat aufgerufen. Die Nutzerzahlen des Otto Schmidt Verlags lagen bei Bearbeitung noch nicht vor. Mediale Aufmerksamkeit ist damit gleichzusetzen mit Sichtbarkeit, entbunden von Visitenkarten und unmittelbar verknüpft mit fachlichen Äußerungen. Diese Sichtbarkeit ist die Währung, mit der Blogger für Beiträge entlohnt werden und nach der der Erfolg einzelner Beiträge und eines Blogs beurteilt wird. Dass es sich dabei um ein (technisch adaptiertes) selbstreferenzielles System handelt, nähert Blogs den traditionellen Publikationen wieder an. Inhaltlicher Schwerpunkt der Corporate Blogs von Rechtsanwaltskanzleien ist neben der aktuellen Rechtsprechung die rechtliche Einordnung aktueller rechtspolitischer Themen und geplanter Gesetzesvorhaben. In anderen Fällen werden juristische Konzepte und Begriffe für den rechtlich zumindest teilweise vorgebildeten Leser erörtert; hier übernehmen die Blogs die Funktion von Nachschlagewerken, oder „Wikis“. Besonders geeignet erscheinen Schnittstellenthemen zwischen Politik, Wirtschaft und Recht, die gerade wegen der Nähe zur Tagespresse für juristische Laien interessant sein können. So findet sich in nahezu jedem Kanzlei- und Verlags-Blog mindestens ein Beitrag aus den vergangenen Monaten zu den gesellschaftsrechtlichen Implikationen des Brexit. Blog-Beiträge eignen sich wegen der eben angesprochenen verknüpften Sichtbarkeit aber auch, um eigene rechtliche Überlegungen anzustellen oder Prognosen abzugeben, die abgesehen von der Länge und Komplexität auch als Aufsatz in Fachzeitschriften erscheinen könnten. Die Vielfalt an Angebotsinhalten zeigt die Bandbreite der Funktionen von Blogs  – auch als Werbeplattform. Indem auf betreute Mandate referenziert oder in eigener Sache ein Beratungsprofil geschärft wird, lassen sich Werbebotschaften einer breiten Leserschaft kommunizieren. Dabei sind Unternehmensblogs anders als private Blogs zur Verwirklichung ihrer unternehmerischen Ziele häufig mit professioneller Unterstützung gewerblicher Anbieter über die Vielfalt der sozialen Medien hinweg vernetzt und nutzen interne Verlinkungen zu Beraterprofilen oder Mandaten.6 Die Autorenschaft ist so vielfältig wie die Leserschaft. Einrichtung und Bestückung eines Blogs stehen jedermann mit Internetzugang frei; es besteht grundsätzlich – und das mag ein Malus des Mediums sein – keine Zugangsbeschränkung (Qualifikation) oder Ausgangskontrolle (Qualität). Publizieren auf Kanzleiseiten naturgemäß (standortübergreifend) Berufsträger/innen, finden sich auch private Seiten, die von Studie6 Cornelius Puschmann, The corporate blog as an emerging genre of computer-mediated communication: features, constraints, discourse situation, S. 80.

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renden oder fachnahen Bloggern beschrieben werden. Blogs von juristischen Fachverlagen unterscheiden sich hinsichtlich der Autorenschaft nur geringfügig von den Print-Medien und werden neben Praktikern vor allem von Hochschulprofessoren und Privatdozenten befüllt. Zwischen Konsistenz der Autorenschaft (desselben Blogs) und Regelmäßigkeit der Veröffentlichungen besteht ein evidenter Zusammenhang: Der mit der Beitragserstellung verbundene Aufwand lässt sich leichter auf mehreren Schultern tragen, die regelmäßige Veröffentlichung zuverlässiger gewährleisten. Blogs leben in Teilen von der kreativen Eigenleistung und dem individuellen Einsatz der Autorenschaft. Die üblichen Schwierigkeiten, Motivation, Qualität und Termintreue nachzuhalten, dürften sich bei Blogs wenig anders als im Print-Bereich stellen, mit dem Unterschied, dass der Redaktionsschluss nicht durch die Druckwalze mitbestimmt wird, sondern flexibler sein mag. Der (monetäre) Wert eines Blog-Beitrags wird nicht bei der Erstellung, sondern abhängig von den erreichten Nutzern bestimmt.

IV. Format/Darstellung Form follows function: Im Vordergrund juristischer Blog-Beiträge steht der fachliche Inhalt. Im Vergleich zu werbeintensiven Branchen (v.a. im Lifestyle-Bereich für Mode, Interieur, Automotive, Accessoires, etc.) sind Bildinhalte vernachlässigbar. Anders als in anderen (wissenschaftlichen) Fach-Blogs werden auch Grafiken, Schaubilder oder Animationen kaum bis gar nicht eingesetzt. Zwischenüberschriften und Hervorhebungen ermöglichen ein schnelles „Überfliegen“ – was sich auf die Sichtbarkeit nicht negativ auswirkt. Autoren sind bei der Wahl ihres Schreibstils freier als in klassischen Print-Medien. Weil dennoch häufiger als nötig Fachbegriffe und Normzitate gebraucht werden, setzt dies bei der Leserschaft ein Mindestmaß an Kenntnis juristischer Definitionen und Konzepte voraus. Juristische Blogger können diesen Stil wählen, wenn sie eine Leserschaft ansprechen wollen, die im Wesentlichen aus Fachpublikum bestehen soll und wenn sie besonders komplexe juristische Themen darstellen. Sichtbarkeit spielt dann jedoch eine untergeordnete Rolle. Ein unterhaltsamer, journalistischer Stil erreicht auch juristisch nicht geschulte aber interessierte Leser, die gerade mangels eigener fachlicher Expertise Mandantenpotenzial haben. Beide Zielgruppen mit demselben Beitrag hinreichend zufrieden zu stellen, erscheint vor diesem Hintergrund ambi­ tioniert, auch wenn in den untersuchten Corporate Blogs Autoren häufig einen lockereren aber juristische Vorbildung voraussetzenden Mittelweg einschlugen. Damit zeichnet sich ab, dass (gut gemachte) Blogs und Fachzeitschriften mit Blick auf die umworbene Leserschaft kaum konkurrieren dürften: der Fachkollege konsultiert mit seiner Frage die Fachzeitschrift, der Fachfremde wird hingegen – googlen. Und im Idealfall auf eine Blog-Seite geführt werden, auf der er eine Antwort, jedenfalls aber einen Ansprechpartner für seine Frage findet. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der suchmaschinenoptimierten Gestaltung von Blog-Beiträgen. Für Blogs ist Übersichtlichkeit und Passgenauigkeit zur Suchanfrage des Lesers essentiell. Die Breite Leserschaft „abonniert“ Blogs nur selten, sondern muss über eine allgemeine Stich623

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worteingabe bei einem Suchportal auf den Corporate-Blog geführt werden („land­ ing“) und sich sodann ohne Aufwand mit seiner Frage wiederfinden; Leser müssen ohne weitere Suchschritte auf die Beiträge stoßen, die sie wirklich interessieren. Blogs enthalten daher häufig zielgerichtet verlinkte Schlagwörter, die erfahrungsgemäß häufig in Stichwortsuchen der Zielgruppe verwendet werden (sind also suchmaschinenoptimiert – search engine optimized – SEO). Nur wenn die Verlinkungen richtig gewählt sind, können Suchmaschinen den Leser auf passende Blog-Beiträge weiterleiten. Eine intelligente interne Verknüpfung auf Folge- oder inhaltlich verbundene Beiträge erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Leser auf der Blog-Seite verweilt. Diese Verweildauer der Nutzer auf einzelnen Seiten ist ebenso wie Click-Zahlen in sozialen Medien eine relevante Messgröße für den Erfolg von online-marketing Maßnahmen. Die Verknüpfung zu persönlichen Seiten des Autors erhöht dessen Sichtbarkeit. Professionelle Anbieter wie Verlage nutzen in ihren Corporate Blogs sog. „Deep Links“, um auf eigene Datenbanken (Aufsätze und Zeitschriften) und eigene Publikationen weiterzuführen. Damit haben Blogs den klassischen Printmedien vor allem technische Optimierung voraus, die Zielgenauigkeit erhöhen, vertiefende Lektüre erleichtern und vor allem den gesamten Rechercheprozess – kostenfrei – erheblich beschleunigen. Doch noch einmal zurück zu den Fachbegriffen. Guter Schreibstil kommt, so meinen wir, ohne eine Fülle von Begriffen aus, die erst im Kontext der Verwendung und nach einschlägiger Definition Gestalt annehmen. Definitionen helfen selten weiter, wenn Sie ihrerseits Fachtermini enthalten. Ob eine ausführliche Herleitung eines Rechtsinstituts etwa dem Wesen des Blogs als Medium der kurzen und prägnanten Darstellung widerspricht, lässt sich nicht verifizieren. Der Erfolg von Tutorial-Formaten in den sozialen Medien legt Gegensätzliches nahe: Blogs könnten als Wiki für Fachbegriffe in Dienst genommen werden, wenn sie Definitionen und Rechtsinstitute für Laien verständlich aufbereiten. Ingrid Simonnaes beschreibt in diesem Zusammenhang das Paraphrasieren als Technik der Begriffsklärung passenderweise als „Heruntersteigen von der Ebene der abstrakten Gesetzesbegriffe auf die Ebene der Wirklichkeit, den konkreten Einzelfall“,7 wobei sie die Rolle der Paraphrase zur „Überbrückung des sprachlichen Gefälles“ zwischen Fachmann und Laien als heruntergelassene Zugbrücke veranschaulicht.8 Paraphrasen als Begriffsumschreibung mit anderen Wörtern und konkreten Beispielen funktionieren deshalb, weil sie die Funktion des Begriffs im Kontext eines Lebenssachverhaltes veranschaulichen. Weil das Beispiel jedoch nur einen von vielen Anwendungsfällen wiederspiegelt, kann aus der Paraphrase nicht der volle Bedeutungsgehalt des Begriffs erschlossen werden.9 Die möglichst vollständige Abbildung aller Deutungsmöglichkeiten eines Begriffs ist aber regelmäßig nicht der Anspruch eines Blogbeitrags. Im Blogbeitrag können vertiefende Quellen aber 7 Ingrid Simonnaes, Fachkommunikation im Recht unter Berücksichtigung der Mehrfachadressierung in Die Sprache des Rechts, S. 377 (382). 8 Ingrid Simonnaes, Fachkommunikation im Recht unter Berücksichtigung der Mehrfachadressierung in Die Sprache des Rechts, S. 377 (386 ff.). 9 Ingrid Simonnaes, Fachkommunikation im Recht unter Berücksichtigung der Mehrfachadressierung in Die Sprache des Rechts, S. 377 (388).

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jederzeit durch entsprechende Verlinkungen eingebettet werden, vorausgesetzt die Quelle ist im Internet vertreten. Trotz aller Verschlankung, Vereinfachung und Beschleunigung stecken juristische Blogs unseres Erachtens dennoch viel zu oft in den Schuhen der Eltern und sind dem Leitbild des Aufsatzlesers verhaftet geblieben, jedenfalls im Vergleich zu Blogs anderer Branchen. Möglicherweise liegt darin eine zweite Schwäche, denn wer neue Leser erreichen will, aber für seine alte Leserschaft schreibt, darf sich über mangelnde Resonanz nicht wundern.

V. Interaktive Leserschaft: Die Kommentarfunktion Die Kommentarfunktion zu Blogs erscheint als Texteingabefeld meist unterhalb des Beitrags, in der (registrierte) Leser Kurzkommentare (oft mit Zeichenbegrenzung) hinterlassen können, auf die der Verfasser oder andere Nutzer wiederum reagieren können. Nach derzeitigen Erfahrungen bleibt die Kommentarfunktion bei Corporate Blogs jedoch nahezu ungenutzt. Im Gegensatz dazu ist der Meinungsaustausch zu Beiträgen (Posts) auf Sozialen Plattformen (Twitter, Facebook oder LinkedIn) häufig unüberschaubar und mit Folgefragen des Umfangs der freien Meinungsäußerung verbunden. Unterschiedliche Nutzergruppen (Alter, Affinität und Hemmschwellen im Umgang mit sozialen Medien) mögen mögliche Ursachen für diese Diskrepanzen sein. Juristische Fach-Blogs haben die beschriebenen Informations-, Unterhaltungs- und Werbefunktionen; eine Diskussionsfunktion wird ihnen aber bislang nicht zu teil, ­jedenfalls im Vergleich zu den Kommentaren auf Websites großer Zeitungen und Zeitschriften, auch unabhängig davon, ob es sich um reine Fachfragen handelt.10 Ausnahmen dafür, dass juristische Blogs unkommentiert bleiben, ist der Verfassungs­ blog,11 der regelmäßig Kommentare auslöst , sowie der Blog des Beck Verlages, der einen unmittelbaren Vergleich erlaubt: Während Beiträge im Bereich Corporate auch hier grundsätzlich nicht kommentiert werden, treffen Beiträge aus dem öffentlichen Recht, in denen es um medial viel diskutierte politische Themen geht, auf relativ hohe Diskussionsbereitschaft. Ist das Gesellschaftsrecht als Diskussionsthema ungeeignet? Richtig ist wohl, dass politische Meinungsäußerungen, die oft auch in den Kommentaren aufgegriffen werden, im Gesellschaftsrecht seltener vorkommen dürften als im öffentlichen Recht. Viel kommentiert werden aber auch Beiträge in IT-Rechts-Blogs, die auch die ältesten ihrer Gattung sind; die ersten juristischen Blogs befassten sich mit der Schnittstelle zwischen Recht und Informationstechnologie, Themen des Internet- und des Datenschutzrechts. Es bleibt zu hoffen, dass die richtige Themenwahl im Gesellschaftsrecht und eine heranwachsende Generation von Nutzern, die ihre 10 Vgl. etwa die Kommentare zu Kolumnen des ehemaligen Vorsitzenden Richters des 2.  Strafsenates am Bundesgerichtshof Thomas Fischer, der ausschließlich rechtliche oder rechtspolitische Themen behandelt. 11 https://verfassungsblog.de/.

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eigene Fachmeinung sichtbar machen wollen, dazu beitragen werden auch Corporate Blogs zum Diskussionsforum zu machen.

VI. Soziale Medienplattformen als Alternativen und Verbreitungskanäle Der Zuwachs an sozialen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten im Internet in den letzten zehn Jahren geht einher mit der Erwartungshaltung ihrer sozialadäquaten Nutzung dieser Kanäle, das heißt wie sozialkompetent12 jemand ist, hängt entscheidend von seiner Internetpräsenz ab. Unternehmen wie Rechtsanwaltskanzleien jeder Größe haben irgendeine Form der Online-Präsenz. Die Professionalität dieses Teils der Außendarstellung korrespondiert häufig mit dem Verbreitungsgrad des Kundenstamms und der Unternehmensgröße. Die meisten Corporate-Blogs sind unmittelbar auf der Website des Betreiberunternehmens oder Verfassers als Unterseite eingebunden. In manchen Fällen wird eine eigene Blog-Website über die Startseite des Unternehmens verlinkt. Wie eingangs erläutert, sind diese Querverweise essentiell, um Sichtbarkeit und Klicks zu erhöhen (traffic zu generieren). Vor diesem Hintergrund haben Multiplikatoren eine herausgehobene Bedeutung für Blogs: Üblich sind Verlinkungen über die weiteren Kanäle der Unternehmenspräsenz im Internet: Soziale Medien, namentlich Facebook, Twitter, Instagram, LinkedIn und Xing, bieten regelmäßig kommerzielle SEO-Lösungen an, um bei neuen Blog-Beiträgen Traffic zu generieren und die Sichtbarkeit zu erhalten. Bei entsprechender Produktwahl können so Lesergruppen dauerhaft automatisiert mit dem Unternehmens-Blog bespielt werden und umgekehrt Nutzer über automatisierte Abonnements zu Followern oder Fans werden. Und die Follower- und Fanzahlen der Rechtsanwaltskanzleien wachsen. Im Jahre 2017 nutzten 70% der Top 20 Kanzleien die Distributionsplattform Facebook, während es 2016 erst 50% waren.13 Die selbsternannten Karrierenetzwerke Xing und LinkedIn werden inzwischen von fast allen der Top 20 Kanzleien zur eigenen Vermarktung genutzt, nicht nur bei Bewerbern, sondern auch zur Mandantenakquise (85% der Top 20 Kanzleien waren 2017 bei Xing registriert).14 Auch der Kurznachrichtendienst Twitter erfreut sich als Verbreitungsmedium in Zeiten eines „twitternden“ US-Präsidenten großer Beliebtheit und tweeten wird zutreffend auch als „Micro-Blogging“ beschrieben.15 Über alle genannten Plattformen können einmal veröffentlichte Blog-Beiträge verlinkt und zusätzlich mit kurzen „Teasern“ versehen werden. So landen Blog-Beiträge über hochkomplexe Algorithmen als laufende Nachrichten-Posts 12 Cornelius Puschmann, The corporate blog as an emerging genre of computer-mediated communication: features, constraints, discourse situation, S. 81. 13 Studie der Agentur Gerhard, Wie nutzen deutsche Großkanzleien Social Media? Einblick in die Top 20, Oktober 2018, Erhebungszeitraum: 2017, S. 22 – https://www.agentur-gerhard. de/digitale-strategie/digitale-transformation-und-wirtschaftskanzleien/. 14 Studie der Agentur Gerhard, Wie nutzen deutsche Großkanzleien Social Media? Einblick in die Top 20, Oktober 2018, Erhebungszeitraum: 2017, S. 21 – https://www.agentur-gerhard. de/digitale-strategie/digitale-transformation-und-wirtschaftskanzleien/. 15 Studie der Agentur Gerhard, Wie nutzen deutsche Großkanzleien Social Media? Einblick in die Top 20, Oktober 2018, Erhebungszeitraum: 2017, S. 24 – https://www.agentur-gerhard. de/digitale-strategie/digitale-transformation-und-wirtschaftskanzleien/.

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auf den persönlichen Nutzerseiten und sind für die Sichtbarkeit von unschätzbarem Wert, da der Weg über die Suchmaschine hier praktisch überflüssig wird. Nachzügler unter den Kanälen bei Rechtsanwaltskanzleien ist Instagram, eine Plattform ausschließlich für Bild- und Videoformate und damit denkbar ungeeignet als Verbreitungsmedium für juristische Fachinhalte in traditioneller Textform. Nur 15% der Top 20 Kanzleien nutzten 2017 Instagram.16 Interessant für Instagram, aber noch weitgehend unbekannt für juristische Fachinhalte ist die Vermittlung von Blog-Inhalten im Videoformat, sog. Vlogs (Video-Blogs). Einer der wenigen juristischen Vlogs wird von der Kanzlei Graf von Westphalen betrieben, mit Vlog-Beiträgen von etwa 3 Minuten Länge zu Themen aus dem Wirtschaftsrecht. Der Kanzlei-Vlog ist auf der Website der Kanzlei eingebunden und z­ ugleich über deren Youtube-Kanal verfügbar. Youtube ist aufgrund der großen Popularität des Video-­ Portals das zentrale Verbreitungsmedium für Vlogs. Schon seit ein paar Jahren haben auch Kanzleien wie CMS, Linklaters, Noerr, Freshfields und Hogan Lovells Kanäle auf dieser Plattform mit Videos von 2-8 Minuten Länge zu Themen aus dem Bereich M&A, Urheberrecht und IP/IT, die bis zu 40.000 Mal aufgerufen werden.17 Andere Kanäle derselben Kanzleien werden ausschließlich mit Werbe- und Karriereannoncen bespielt und vermitteln keine Fachinhalte und insgesamt werden auf den Youtube-Kanälen der Großkanzleien nur sehr unregelmäßig und wenige Videos hochgeladen. Ausnahme ist die Kanzlei Wilde Beuger Somelcke. Mit rund 314.000 Abonnenten und über 55 Millionen Aufrufen ist deren Kanal der erfolgreichste Kanzlei-Youtube-Kanal aus Deutschland.18 Darin werden Rechtsfragen aus dem Urheber-, Datenschutz- und Internetrecht besprochen, aber auch allgemein-juristische Themen mit hoher Praxisnähe für Privatpersonen abgedeckt. Dazu kommen kuriose Meldungen aus der juristischen Presse. Die Bandbreite des Kanals und die klare Ausrichtung auf alltägliche Rechtsfragen scheinen der Grund für die Popularität zu sein. Ansonsten unterscheiden sich die Vlog-Beiträge weder qualitativ noch in der Länge (von 3-8 Minuten) von anderen Kanzlei-Vlogs. Selten tritt mehr als ein Sprecher je Sequenz auf und kaum eine Szene reicht über den Vortragenden hinaus. Vlogs sind mit einem deutlich höheren Zeitaufwand verbunden als Blogs und für die Produktion sind Kenntnisse von Schnitt- und Tontechnik erforderlich. Vorteil des Blogs ist ein persönlicherer Bezug zum Sprecher, als zum Blog-Autor; durch direkte Ansprache und das freie Reden lassen sich Mandantengespräche simulieren. Das Format ist leichter zu „konsumieren“, gerade auch, weil es durch die kurze Zeitspanne nur begrenzt fachliche Inhalte vermitteln lässt.

16 Studie der Agentur Gerhard, Wie nutzen deutsche Großkanzleien Social Media? Einblick in die Top 20, Oktober 2018; Erhebungszeitraum: 2017, S. 28 – https://www.agentur-gerhard. de/digitale-strategie/digitale-transformation-und-wirtschaftskanzleien/. 17 Stand: Januar 2019. 18 Stand: Januar 2019.

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Jörg Rodewald und Susanne Abraham

VII. Fazit Rechtsdienstleister nehmen mit Blick auf die Selbstvermarktung seit jeher eine Exotenstellung ein. Anders als im produzierenden Gewerbe werden Publikationen hier weniger als Marketingmittel, denn als Produkt selbst verstanden. Eine Bewerbung der Publikation(sprodukte) kann naturgemäß keinen Vergleich zur Konkurrenz beinhalten, gleichsam verbunden mit dem Versprechen, die „richtigere Stellungnahme“ oder das „haltbarere Gutachten“ anzubieten. Juristische Fachbeiträge haben neben dem Produktcharakter die Funktion der stetigen Fortentwicklung und des Austauschs nicht nur von Ansichten, sondern von Maßstäben für die praktische Arbeit. Sie sind darin vergleichbar mit dem Werkzeugkasten des Handwerkers, den Formeln des Ingenieurs. Insoweit müssen Beiträge den einschlägigen Fachpublikationen vorbehalten bleiben. Was sollte der Mandant auch mit dem Sechskant-Hohlschlüssel in Spezialgröße anfangen? Soziale Medien haben anhaltenden Erfolg als branchenübergreifende Werbemedien, weil sie durch den direkten Zugriff unmittelbar auf persönliche Nutzerprofile eine sehr positive Resonanz gerade bei jungen Menschen erzielen. Gegenüber potentiellen Mandanten, Studenten bzw. Absolventen, Bewerbern, sowie dem Fachpublikum lässt sich durch (professionellen) Einsatz dieser Kanäle ein attraktives innovatives Bild der eigenen Kanzlei zeichnen und die zusätzlichen technischen Möglichkeiten legen nahe, Formate wie Vlogs und Blogs in die Marketing-Strategie einzubeziehen. Das Plädoyer für den Einsatz von neuen Formaten, insbesondere der sozialen Medien auch für die juristische Vermarktung steht dazu nicht in Widerspruch, sondern bedient eine bislang unbesetzte Lücke in der Ansprache einer juristisch interessierten Leserschaft aus Entscheidungsträgern oder Personen, die qua ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit regelmäßig Berührungsmomente mit Rechtsfragen haben (werden). Uns erscheint es sinnvoll, in diesen Momenten präsent zu sein als jemand, der juristische Inhalte regelmäßig und leicht zugänglich auf eine verdauliche Komplexität herunterbricht – wenn nötig auch als Blogger.

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Markus Roth

Vergütung und Kosten des Aufsichtsrats Inhaltsübersicht  Einleitung I. Die Vergütung des Aufsichtsrats 1. Regelung der Aufsichtsratsvergütung in § 113 AktG 2. Kompetenz der Hauptversammlung a) Eindeutige gesetzliche Regelung in § 113 AktG b) Regelung eines Interessenkonfliktes 3. Aufsichtsratsvergütung und Dritte a) Abführen der Aufsichtsratsvergütung an Dritte b) Vergütung von Aufsichtsrats­ mitgliedern durch Dritte II. Kosten der Sitzungen und für Hilfskräfte 1. Aufwendungsersatzanspruch der ­Aufsichtsratsmitglieder 2. Aufsichtsratsbüro und sonstige Hilfs­ kräfte 3. Budgetrecht und Kompetenz der Hauptversammlung 4. Kompetenz des Aufsichtsrats a) Entscheidungskompetenz für den Auslagenersatz b) Annexkompetenz bei Hilfsgeschäften III. Kosten für die Beratung des Aufsichtsrats und Sachverständige

1. Regelung der Inanspruchnahme von Sachverständigen in § 111 Abs. 2 AktG a) Allgemeine Regelung in § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG b) Beauftragung des Abschlussprüfers nach § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG 2. Vergütungsberater nach Ziffer 4.2.2 Deutscher Corporate Governance Kodex 3. Inanspruchnahme weiterer Berater und Sachverständiger 4. Annexkompetenz des Aufsichtsrats und Kontrollmaßstab a) Annexkompetenz des Aufsichtsrats b) Vertretbarkeit sonstiger überwachungsbezogener Ausgaben IV. Entscheidung durch das Aufsichtsorgan und Kontrolle 1. Vertretungsbefugnis und Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats 2. Entscheidung und Kontrolle durch den Aufsichtsratsvorsitzenden 3. Kostenkontrolle durch Vorstand und Hauptversammlung a) Überwachung des Kontrollorgans durch den Vorstand b) Kontrolle durch die Aktionäre V. Ergebnis

Einleitung Im deutschen dualistischen System obliegt dem Aufsichtsrat1 die Überwachung der Geschäftsführung einer Aktiengesellschaft. Die Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats normiert § 111 AktG, weitere Aufgaben und Konkretisierungen ergeben sich aus speziellen Regelungen des Aktiengesetzes sowie allgemeinen Rechtsgrundsätzen.2 Neben 1 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, § 23; Eberhard Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S 103 ff. 2 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, § 26.

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herausgehobene Überwachungsaufgaben wie der Prüfung des Jahresabschlusses nach § 171 AktG treten dabei auch Geschäftsführungsbefugnisse wie die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern nach §  84 AktG sowie die Feststellung des Jahresabschlusses nach §§ 171, 172 AktG.3 Eingeschränkt oder doch zumindest konkretisiert wird so der Ausschluss von der Geschäftsführung nach § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG.4 Auch bei der Konkretisierung von aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Aufgaben sind diese Grenzen zu beachten.5 In Betracht kommt eine Geschäftsführung nur im durch die Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats gezogenen Rahmen. Kontrolle hat ihren Preis6 und verursacht Kosten. Dies gilt auch für die Kontrolltätigkeit des Überwachungsorgans7 der Aktiengesellschaft. Größere Kosten können der Gesellschaft im Einzelfall durch entgangene Gewinne entstehen. Dabei ist nicht nur an die Verweigerung der Zustimmung zu einem für die Gesellschaft vorteilhaften Geschäft zu denken.8 Der Gesellschaft können Geschäftschancen auch entgehen, weil sich die interne Entscheidungsfindung hinzieht und so ein Wettbewerber zum Zuge kommt. Kosten entstehen weiter durch die Inanspruchnahme von Beratern und Sachverständigen. Hierzu zählt die Beauftragung von Abschlussprüfern. Eine interne Untersuchung kann in großen Gesellschaften Kosten in mehrstelliger Millionenhöhe verursachen.9 Die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit10 sind im Aktiengesetz nur rudimentär geregelt. Dies gilt auch für die hier allein zu betrachtenden Kosten im engeren Sinne, also die von durch die Gesellschaft zu tragenden Aufwendungen der Aufsichtsratsmitglieder sowie deren Vergütung und die Kosten der Tätigkeit des Gesamtorgans sowie seiner Ausschüsse. In der Praxis übt der Aufsichtsrat seine Tätigkeit regelmäßig nicht unentgeltlich aus. Nach § 113 AktG ist für die Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder eine Vergütung nur zu zahlen, wenn ein Hauptversammlungsbeschluss oder die Satzung dies vorsehen. Eine Erweiterung dieser Regeln auch auf andere Kosten der Aufsichtsratstätigkeit war Kernfrage der Diskussion um ein Budgetrecht, an der sich auch der Jubilar beteiligt hat.11 Ein eigentlicher Aufwendungsersatz kommt für Auslagen der Aufsichtsratsmitglieder in Betracht. 3 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 26.47 ff. und 26.67 ff. 4 Dazu GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 582 ff. 5 Zum Investorendialog Eberhard Vetter, AG 2016, 873, 876. 6 Allgemein zu versteckten Kosten der Kontrolle Falk/Kosfeld in American Economic Review 96 (2006), 1611, zu expliziten Kosten der Aufsichtsratstätigkeit Berger in Kosten der Aufsichtsratstätigkeit, 2000; Scherb-Da Col in Ausstattung des Aufsichtsrats, 2018. 7 Explizit von einem Überwachungsorgan spricht der Public Corporate Governance Kodex, Ziffer 5.  8 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 26.24 ff. 9 In den Fällen Siemens und Volkswagen werden dreistellige Millionensummen genannt. 10 Dazu schon Eberhard Vetter, VGR 2014, S. 115. 11 Eberhard Vetter, VGR 2014, S. 115, 135 ff.

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I. Die Vergütung des Aufsichtsrats 1. Regelung der Aufsichtsratsvergütung in § 113 AktG Das Aktienrecht sieht eine Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern nicht zwingend oder auch nur regelmäßig vor.12 Nach § 113 AktG ist die Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern nur geschuldet, wenn Satzung oder Hauptversammlungsbeschluss eine Vergütung explizit vorsehen. Abgewichen wird damit von der allgemeinen Regelung des § 612 BGB, nach der bei Fehlen einer Entgeltregelung13 eine Vergütung verlangt werden kann, wenn die Dienstleistung nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. An sich wäre bei einem Tätigwerden Dritter im Aufsichtsrat einer gewinnorientierten Gesellschaft stets davon auszugehen, dass diese Dienstleitung nicht unentgeltlich erfolgen soll.14 Die Kontrolle der Geschäftsführung insbesondere des Vorstands15 erfolgt im Interesse der Gesellschaft. Die Entscheidung durch die Aktionäre entspricht dem korporationsrechtlichen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Aufsichtsratsmitglied.16 Durch das Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses müssen die Aktionäre eine aktive Entscheidung treffen, dies erscheint aus Corporate Governance-Gesichtspunkten vorzugswürdig. Sie können so auch besser abschätzen, ob die vorgesehene Vergütung die Wahl geeigneter Kandidaten ermöglicht.17 Die Vergütung deutscher Aufsichtsratsmitglieder war auch im internationalen Vergleich lange zu niedrig.18 Mittlerweile hat die Vergütung deutscher Aufsichtsratsmitglieder bei größeren Gesellschaften das international in vielen Ländern für nicht geschäftsführende Direktoren übliche Niveau erreicht. Allerdings ist die Vergütung von Aufsichtsräten weiterhin geringer als die von Vorstandsmitgliedern, dies auch, wenn der geringere Arbeitsaufwand berücksichtigt wird.19 Eine erhöhte Vergütung erhalten regelmäßig die Aufsichtsratsvorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden sowie Ausschussmitglieder und Vorsitzende von Aufsichtsratsausschüssen.20 Bezogen auf die wirtschaftliche Situation der Gesellschaften sind die Kosten für die Aufsichtsrats12 Dazu schon Eberhard Vetter, BB 1989, 442, 443: Aktiengesetz sieht eine Vergütung nicht vor, keine Vermutung für einen Grundsatzbeschluss. 13 Auf eine rechtsgeschäftliche Regelung abstellend Staudinger/Richardi/Fischinger (2016), § 612 BGB Rz. 15 ff. 14 Dies gilt insbesondere bei Berufsaufsichtsräten, zum Beruf MünchKommBGB/Müller-­ Glöge, 7. Aufl. 2016, § 612 Rz. 6. 15 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 234 ff., eine Kontrolle leitender Angestellter nur zur Kontrolle der Angestellten zulassend MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 23 ff. 16 MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 101 Rz. 67, auch eine Doppelnatur diskutierend KK/Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 101 Rz. 5. 17 Zur Bemessung anhand des Honorars eines qualifizierten Beraters Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 29.46. 18 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 80. 19 Bericht über die Vergütung von Böcking/Bundle/Raspels/Schmid/Hönsch/Schütte/Reich, Der Konzern 2019, 15. 20 Rechtstatsächlich Böcking/Bundle/Althoff/Hanke/Wirth/Schmid/Hönsch/Fischer/Kaspar/ Meier/Reich/Stüwe, Der Konzern 2018, 1, 2.

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vergütung in aller Regel weiterhin überschaubar, dies im Vergleich mit der Vorstandsvergütung aber auch in Bezug auf die Gesamtausgaben der Gesellschaften.21 Bei der Bemessung der Vergütung ist der Zunahme der Sitzungshäufigkeit22 und der Gefahr einer rechtlichen Inanspruchnahme für Überwachungsfehler23 Rechnung zu tragen. Die Zahlung einer Vergütung ist zwar rechtlich freiwillig,24 sie sollte aber auch angemessen sein. Die Angemessenheit der Vergütung umfasst auch deren Höhe im Vergleich zum Vorstand,25 dabei sind die Unterschiede der Tätigkeiten zu beachten. Es muss nicht für die gleiche Zeit dieselbe Vergütung bezahlt werden. Es erscheint durchaus als sachgerecht (wenn auch nicht immer zwingend geboten), der Entwicklung der Strategie und der Geschäftsführung einen höheren Wert beizumessen.26 Praktisch problematisch wäre ein Modell der Bezahlung für geleistete Stunden auch wegen eines Anreizes, zusätzliche Überwachungsfragen zu generieren. Insgesamt sollte die Vergütung auch das Haftungs- und Reputationsrisiko berücksichtigen.27 National und international zu beobachten ist ein Trend zu professionellen Aufsichtsräten. Dies betrifft nicht nur den Aufsichtsratsvorsitzenden.28 So sind etwa in Skandinavien häufig aktive Vertreter von Blockaktionären anzutreffen, die deren Interessen in einer Mehrzahl von Gesellschaften vertreten ohne ein anderweitiges Hauptamt auszuüben.29 Zutreffend sollte die Vergütung so bemessen sein, dass auch einfache Aufsichtsräte allein von der Tätigkeit als Aufsichtsrat ein angemessenes Einkommen erzielen können, dies nicht zwingend in einer Gesellschaft, aber durch Wahrnehmung mehrerer Aufsichtsratsmandate. Anders als vormals werden die Nebentätigkeiten von Vorstandsmitgliedern ohnehin häufig auf ein Aufsichtsratsmandat in einer nicht konzernzugehörigen Gesellschaft beschränkt.30

21 § 113 Abs. 3 sieht bislang eine Regelung für die gewinnabhängige Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern vor, nach den Referententwurf zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie soll hier künftig die Abstimmung über den Vergütungsbericht und die Vergütungspolitik geregelt werden. 22 Dazu Böcking in pwc Vergütungsstudie 2017, S.  52: Bei DAX-Gesellschaften nunmehr durchschnittlich sechs ordentliche Sitzungen, zwei außerordentliche Sitzungen und zwei Telefonkonferenzen. 23 BGHZ 135, 244 (ARAG/Garmenbeck), dazu Markus Roth in Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, S. 48 ff., zuletzt BGH, ZIP 2018, 2117, dazu Fleischer, ZIP 2018, 2341; Löbbe/Lüneborg, Der Konzern 2019, 53. 24 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 19. 25 Vergleich für Deutschland und die Schweiz von Böcking/Bundle/Schmid/Wagner, Der Konzern 2019, 61, mit steigendem Abstand für deutsche Gesellschaften. 26 Siehe allerdings den Vorschlag eines Board 3.0 von Gilson/Gordon Board 3.0 – An Introduction, working paper abrufbar bei SSRN. 27 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019 § 113 Rz. 83. 28 BegrRegE KonTraG BTDrucks 16/9712: hauptberufliche Tätigkeit kann geboten sein. 29 Lekvall in Lekvall (ed), Nordic Company Law, 2015, p 72. 30 Der Vorschlag zur Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex v. 25.10.2018 sieht in der Empfehlung B.6 eine Beschränkung auf zwei externe Mandate vor.

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Vergütung und Kosten des Aufsichtsrats

Steigende Bedeutung werden dem Vergütungsbericht sowie der Vergütungspolitik zukommen.31 Bislang war es häufig üblich, dass die Gesellschaft einen Grundsatzbeschluss fasst,32 weiter anzutreffen sind Regelungen in der Satzung.33 Häufig erfolgt keine regelmäßige Kontrolle, ob die Vergütung angepasst werden sollte. Die von der geänderten Aktionärsrechterichtlinie vorgesehene regelmäßige Überprüfung entspricht dabei durchaus den Wertungen des deutschen Aktienrechtes.34 Nach Umsetzung der geänderten Aktionärsrechterichtlinie ist nicht zwingend eine Absenkung der Vergütung zu erwarten. Die Vergewisserung der Aktionäre über Höhe und Struktur der Vergütung dürfte im Gegenteil häufig zu einer weiteren Anhebung der Aufsichtsratsvergütung führen. Erfahrungen mit VorStOG35 sprechen eher für steigende Vergütungen, hierin könnte auch eine Aufwertung der Aufsichtsratstätigkeit zu sehen sein. Die Offenlegung der Aufsichtsratsvergütung erfolgt bereits jetzt im Rahmen der allgemeinen Publizität des Jahresabschlusses nach dem Handelsgesetzbuch.36 Das Gesetz verlangt keine individualisierte Offenlegung, so allerdings der Deutsche Corporate Governance Kodex.37 Eine Angleichung der Aufsichtsratsvergütung an die Vergütung von Vorständen kann jedenfalls im Einzelfall auch effizienzmindernde Effekte haben, dies wenn Aufsichtsräte eine die Unternehmenstätigkeit insgesamt hindernde Kon­ trolltätigkeit entfalten.38 Es bestehen so jedenfalls gut nachvollziehbare Gründe für die derzeitige Vergütungsstruktur und einen gewissen Abstand zwischen Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung.39 2. Kompetenz der Hauptversammlung a) Eindeutige gesetzliche Regelung in § 113 AktG Die Regelung des § 113 AktG enthält die eindeutige gesetzliche Entscheidung, dass die Aktionäre über den auf die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder entfallenden Kostenanteil der Aufsichtsratstätigkeit entscheiden. Hintergrund waren nicht zuletzt die besonderen Missbrauchsgefahren.40 Weiter soll durch das Erfordernis eines einfachen oder satzungsändernden Hauptversammlungsbeschlusses die Überwachung gesichert werden. Wenn der Vorstand die Vergütung festsetzen könnte, würde der

31 Artt. 9a und 9b der geänderten Aktionärsrechterichtlinie, Richtlinie 2017/828/EU. 32 Dazu Eberhard Vetter, BB 1989, 442. 33 Muster bei Happ/Pühler in 1.01, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, Satzung einer Publikumsgesellschaft, dazu die Anmerkung 68. 34 Oben Fußnote 17. 35 Kritisch schon Baums, ZHR 169 (2005), 299, 305 ff. 36 Dazu Eckmann/Egler in Merkt/Probst/Fink Rechnungslegung nach HGB und IFRS Kapitel 12 Rz. 43 f. 37 Ziffer 5.4.6 Abs 3 DCGK. 38 Falk/Kosfeld in American Economic Review 96 (2006), 1611. 39 Zur Schweiz Böcking/Bundle/Schmid/Wagner, Der Konzern 2019, 61. 40 Zur Vergütung des ersten Aufsichtsrats Hahn in Commentar zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, 1863, Art 191, 192 ADGHB.

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Kontrollierte über die Bezahlung des Kontrolleurs entscheiden. Dies stünde einer effizienten Überwachung jedenfalls im Einzelfall entgegen.41 Die Zuständigkeit der Hauptversammlung kann nicht dadurch umgangen werden, dass statt der Vergütung eine direkte oder indirekte Zahlung unter einer anderen Bezeichnung erfolgt.42 So liegt etwa auch bei einer pauschalen Aufwandsentschädigung eine Vergütung mit der Folge vor, dass eine Zuständigkeit der Hauptversammlung besteht und es für anderweitige Zahlungen mangels Kompetenz des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats(vorsitzenden) an einem Rechtsgrund fehlt.43 b) Regelung eines Interessenkonfliktes Mit der Kompetenzzuweisung an die Hauptversammlung regelt das Aktiengesetz zugleich einen Interessenkonflikt.44 Dies gilt nicht nur für die Regeln zur Gründung, sondern auch für die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder einer entstandenen Gesellschaft. Bei der Gründung will die Sonderregelung des § 113 Abs. 2 AktG sicherstellen, dass die Gründer den Aufsichtsratsmitgliedern keine Sondervorteile zukommen lassen.45 Dies käme insbesondere deshalb in Betracht, weil Gründer häufig zugleich als Mitglieder des ersten Aufsichtsrats fungieren.46 Interessenkonflikte sind im Aktiengesetz nur unvollständig geregelt. Neben der Vergütungsregelung in § 113 AktG und sowie deren Ergänzung für mit der Gesellschaft geschlossene Dienst- und Werkverträge in § 114 AktG zu nennen ist die Vertretungsregelung des § 112 AktG.47 Nach § 112 AktG vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern, dies gilt auch gegenüber ehemaligen Vorstandsmitgliedern.48 Es können so bei mehreren Vorstandsmitgliedern nicht die übrigen Vorstandsmitglieder die Gesellschaft vertreten bzw. sogar das mit der Gesellschaft kontrahierende Vorstandsmitglied wie der Geschäftsführer einer GmbH vom Verbot des Selbstkontrahierens nach § 181 BGB ausgenommen werden.49 Aufgrund des doppelten Prinzipal-Agenten-Verhältnisses in der zwingenden zwei­ stufigen Unternehmensverfassung50 nach deutschem Aktienrecht ist es systemgerecht, dass die Hauptversammlung über die Vergütung entscheidet. Entsprechend allgemeinen Grundsätzen des deutschen Vertragsrechts sollte niemand sein Einkommen selbst festlegen können. Die Zulassung von Insichgeschäften hätte zwar das Eingrei41 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 4. 42 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 133. 43 MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 24. 44 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 141. 45 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 56. 46 Hahn, Commentar zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch, 1863, verweist in der Kommentierung der Art. 191, 192 ADGHB auf die entsprechende Begründung des preussischen Entwurfs. 47 Dazu auch Jochen Vetter, ZHR 179 (2015), 273, 291 f. 48 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 112 Rz. 2. 49 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 2. 50 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 45.

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fen einer Treupflicht zur Folge und bei einer Entscheidung durch die anderen Aufsichtsratsmitglieder das Eingreifen einer strikten Sorgfaltspflicht. Es ist ein vorgreiflicher Sicherungsmechanismus aber effizienter als eine nachträgliche Kontrolle. Eine Entscheidung durch den Vorstand scheidet hingegen aus, eine Kompetenzzuweisung an den Vorstand würde dem Kontrollierten die Entscheidung überantworten. Zutreffend sieht § 114 AktG auch für Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern eine Letztentscheidungskompetenz des Aufsichtsrats vor.51 3. Aufsichtsratsvergütung und Dritte a) Abführen der Aufsichtsratsvergütung an Dritte Die gleiche Entlohnung von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat wird durch die Praxis in Frage gestellt, dass Gewerkschaftsmitglieder oberhalb eines Sockelbetrags den Großteil der Vergütung an die Hans-Böckler-Stiftung abführen.52 Die Pflicht zur Abführung besteht seit längerem und nicht erst und nur, wenn Arbeitnehmervertreter so ein insgesamt deutlich überdurchschnittliches Einkommen erzielen.53 Die Abführung der Aufsichtsratsvergütung dient so zumindest nicht in erster Linie der Vermeidung von Sondervorteilen der Arbeitnehmervertreter und damit mittelbar der Akzeptanz der unternehmerischen Mitbestimmung. Die Rechtsprechung hat die Abführung gebilligt und sieht die Gewerkschaftsmitglieder dazu auch als verpflichtet an.54 Rechtlich gebietet der Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten die Gleichbehandlung Aufsichtsratsmitgliedern, insbesondere von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern.55 Ohne explizite gesetzgeberische Entscheidung erscheint ein Ausnehmen der Vergütung der Arbeitnehmervertreter vom Gleichbehandlungsgrundsatz nur schwer zu begründen. Trotz der faktisch reduzierten persönlichen Vergütung verbleibt es im Verhältnis zur Gesellschaft beim Gleichbehandlungsanspruch. Die Vergütung ist so anders geregelt als beim Betriebsrat, dessen Amt als Ehrenamt konzipiert ist.56 Betriebsratsmitglieder erhalten für ihre Tätigkeit keine gesonderte Vergütung, freigestellte Betriebsratsmitglieder werden nur so entlohnt, wie es ihrem Arbeitsvertrag entspricht bzw. sie bei Fortführung der Arbeit und der Karriere entlohnt werden würden. Problematisch ist das Abführen der Aufsichtsratsvergütung durch die Arbeitnehmervertreter weiter mit Blick auf die von den Aufsichtsratsmitgliedern zu vertretenden Interessen. Auch die Arbeitnehmervertreter sind dem Unternehmensinteresse verpflichtet,57 wobei im Rahmen des Unternehmensinteresses auch andere Interessen als 51 Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 113 Rz. 2. 52 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 13. 53 Zur Entwicklung GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 25 f. 54 BAG, AG 2016, 39. 55 Zur Gleichbehandlung Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 34. 56 § 37 BetrVG. 57 MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 116 Rz. 11, Vor § 95 Rz. 13.

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die der Aktionäre berücksichtigt werden können, also auch Interessen der Arbeitnehmer des Unternehmens. Eine Abführung an die gewerkschaftsnahe Stiftung legt aber das Vorverständnis eines Prinzipal-Agenten-Verhältnisses zu den Gewerkschaften nahe, jedenfalls im Sinne einer ethisch-moralischen Rechtfertigung der Abführung. De lege ferenda denkbar wäre wie in der betrieblichen Mitbestimmung auch im Aufsichtsorgan der Aktiengesellschaft eine ehrenamtliche Tätigkeit der Arbeitnehmervertreter. Rechtsvergleichend ist auf die entsprechende Regelung in Österreich hinzuweisen,58 dort stellt sich zudem die Frage der Vergütung von Gewerkschaftsvertretern nicht.59 Als Regelungsalternativen de lege ferenda in Betracht gezogen werden könnten auch Pauschalen für Arbeitnehmervertreter oder wie in den Niederlanden60 eine Besetzung mit Unternehmensexternen.61 Letztlich wird eine Neuregelung aber allenfalls im Rahmen einer grundlegenden Neuregelung der unternehmerischen Mitbestimmung in Betracht kommen. b) Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern durch Dritte Vom Regelfall der Vergütung des Aufsichtsrats durch die Gesellschaft wird auch bei Übernahme der Aufsichtsratsvergütung durch Dritte abgewichen.62 Dabei ist zu beachten, dass die Kompetenz der Hauptversammlung nicht umgangen werden darf.63 Dies bedeutet im Konzern, dass die Vergütung nicht von einer Tochtergesellschaft getragen werden kann, da dem Aufsichtsrat auch die Kontrolle der konzernabhängigen Gesellschaften obliegt.64 Eine Vergütung durch einen Entsender65 oder den Hauptaktionär bleibt hingegen möglich.66

II. Kosten der Sitzungen und für Hilfskräfte 1. Aufwendungsersatzanspruch der Aufsichtsratsmitglieder Anders als für die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder fehlt es hinsichtlich des Aufwendungsersatzes an einer gesetzlichen Regelung. Betroffen sind davon Aufwendungen der Aufsichtsratsmitglieder für Reisen und Unterkunft im Zusammenhang mit der Aufsichtsratssitzung, wenn diese nicht ausnahmsweise von der Vergütung mit abgegolten sein soll. Freilich bedarf es auch keiner speziellen gesetzlichen Regelung, 58 § 110 Abs. 3 Satz 1 ArbVG. 59 Dazu Kalss in Doralt/Nowotny/Kalss, öAktG, 2. Aufl. 2012, § 98 Rz. 5. 60 Zum Ausschluss von Arbeitnehmern Art. 2:160 a) Dutch Civil Code. 61 Zum Ausschluss von Gewerkschaftsvertretern Art. 2:160 c) Dutch Civil Code 62 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 78. 63 Dazu aus Sicht institutioneller Investoren Kiem in FS Stiltz, S. 329, 331 ff. 64 Allgemein § 113 AktG auf Drittvergütungen analog anwendend Drygala in Lutter/Schmidt, 3. Aufl. 2015, § 113 Rz. 11. 65 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 101 Rz. 177, allgemein Klausmann, Entsendungsrechte in der Aktiengesellschaft, 2016. 66 Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 113 Rz. 3 (allgemein für Drittvergütungen).

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es kann auf die allgemeinen Regeln des Auftragsrechts zurückgegriffen werden.67 Sowohl im Dienstvertrags- und Arbeitsrecht als auch im Recht der Geschäftsführung wird auf das Auftragsrecht verwiesen. Angenommen werden kann eine planwidrige Lücke, jedenfalls besteht eine vergleichbare Interessenlage und ist eine lediglich wiederholende Regelung als entbehrlich anzusehen.68 Angemessene Aufwendungen sind ersatzfähig. 2. Aufsichtsratsbüro und sonstige Hilfskräfte Die Einrichtung eines Aufsichtsratsbüros ist mittlerweile gelebte Praxis.69 Teilweise finden sich entsprechende Regelungen in Satzungen oder in den Geschäftsordnungen für die Aufsichtsräte großer Gesellschaften. So sieht etwa die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats der Deutschen Bank vor, dass die Protokolle der Aufsichtsratssitzungen im Büro des Aufsichtsrats verwahrt werden.70 Für das Rhön-Klinikum bestimmt die Satzung, dass die Gesellschaft dem Aufsichtsrat ein Aufsichtsratsbüro zur Verfügung stellt.71 3. Budgetrecht und Kompetenz der Hauptversammlung Ein Budgetrecht des Aufsichtsrats wurde insbesondere von Theisen vorgeschlagen,72 der sich hierzu zuletzt freilich zurückhaltender geäußert hat.73 Als rechtliche Grundlage für das auch von anderen angenommene bzw. geforderte Budgetrecht des Aufsichtsrats74 kommen eine erweiternde Auslegung oder aber eine Ergänzung von § 113 AktG in Betracht. Praktisch könnte ein Budget für regelmäßig anfallende Aufwendungen einzelner Aufsichtsratsmitglieder durchaus in Betracht gezogen werden. Der Unterhalt eines Aufsichtsratsbüros sowie Reise- und sonstige Kosten der Aufsichtsratsmitglieder erscheinen kalkulierbar, ein entsprechender Finanzrahmen könnte dem Aufsichtsrat zugewiesen werden. Freilich ist ein eigentliches Budgetrecht entbehrlich, wenn der Aufsichtsrat aus eigener Kompetenz handeln kann.75 De lege lata ist ein Budgetrecht für den Aufsichtsrat abzulehnen.76 Es fehlt an einer entsprechenden Kompetenz der Hauptversammlung. Die Rechtsprechung übt bei der Erweiterung von Hauptversammlungskompetenzen zutreffend Zurückhaltung. Auch eine erweiternde Auslegung des § 113 AktG scheidet aus, jedenfalls für die oben erör67 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 29 f. 68 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 29.51. 69 Dazu Walther/Kirstan, Zeitschrift Corporate Governance 2018, 175. 70 Deutsche Bank Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat v. 23.5.2018, § 3 Abs. 1 Satz 2. 71 Satzung der Rhön-Klinikum AG v. 4.11.2015, § 14 Abs. 1: Büro mit Sekretariat. 72 Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 312 f.; Theisen, Aufsichtsrat 2011, 1 und 2017, 11; Theisen in FS Säcker, 2011, S. 487, 510 ff.; Säcker, BFuP 2012, 349. 73 Theisen, AG 2018, 589. 74 Knoll/Zachert, AG 2011, 309, 312 f.; Gaul, AG 2017, 877, 880 f. 75 Eberhard Vetter, VGR 2014, S. 115, 137. 76 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 530 ff.

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terten Aufwendungsersatzansprüche des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage. Bei Zuweisung eines Budgetrechts an die Hauptversammlung de lege ferenda müsste diese konsequenterweise auch die Einhaltung des Beschlusses kontrollieren. Eine Kontrolltätigkeit durch die Aktionäre erscheint aber kaum praktisch, allenfalls durch einen Aktionärsausschuss, ein solcher ist im deutschen Aktienrecht aber nicht verankert und auch international eher ungewöhnlich.77 Nicht praktikabel wäre ein Budget, sollte dieses nicht nur für vorhersehbares, sondern auch für anlassbezogenes Tätigwerden des Aufsichtsrats gelten.78 Zwar mögen die Kosten für ein Aufsichtsratsbüro und die Beauftragung des Abschlussprüfers wie der Aufwendungsersatz einzelner Aufsichtsratsmitglieder kalkuliert werden können. Dies gilt aber nicht bei anlassbezogener Tätigkeit größeren Ausmaßes wie bei der Durchführung von internen Untersuchungen wird ein Budget nicht ausreichen, allenfalls bei einer vorhersehbaren Überwachungstätigkeit gangbarer Weg. 4. Kompetenz des Aufsichtsrats a) Entscheidungskompetenz für den Auslagenersatz Hinsichtlich der Kompetenzen des Aufsichtsrats für den Ersatz von Aufwendungen ist zwischen Aufwendungen einzelner Aufsichtsratsmitglieder und Aufwendungen des Aufsichtsrats insgesamt zu unterscheiden. Zwar kommt mangels Kompetenz der Hauptversammlung bei fehlendem Festsetzungsrecht des Aufsichtsrats jeweils nur eine Vorstandskompetenz in Betracht. Bei Aufwendungen einzelner Aufsichtsratsmitglieder erfolgen aber Zahlungen an das Aufsichtsratsmitglied direkt, so dass Interessenkonflikte bestehen.79 Beim Aufwendungsersatz der Aufsichtsratsmitglieder für persönliche Aufwendungen stellt sich die Frage, ob ein Beauftragter eine Aufwendung für erforderlich halten durfte.80 Nach allgemeinen Grundsätzen hat der Beauftragte nach seinem verständigen Ermessen über die Notwendigkeit der der Aufwendung zu entscheiden.81 Ein Kontrollermessen des Aufsichtsrats kommt hinsichtlich eigener Aufwendungen der Aufsichtsratsmitglieder nicht in Betracht. Umgekehrt würde es die aktienrechtliche Organisationsverfassung auf den Kopf stellen, wenn der Vorstand über die angemessenen Aufwendungen von Aufsichtsratsmitgliedern verbindlich entscheidet.82 Es ver77 Zu Schweden Skog/Sjöman in Lekvall (ed), The Nordic Corporate Governance Model, 2014, p 247, 261. 78 Eberhard Vetter, VGR 2014, S. 115, 140. 79 Zu den Eigeninteressen als Aufsichtsratsmitglied GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5.  Aufl. 2019, § 100 Rz. 272 f. 80 Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 29.51. 81 BGH, NJW 2012, 2337 Rz. 21; Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 670 Rz. 4. 82 MünchKommAktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 113 Rz. 24. Für eine Gewährung durch den Vorstand nach Einholen der Entscheidung des Aufsichtsratsvorsitzenden Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 113 Rz. 9.

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Vergütung und Kosten des Aufsichtsrats

bleibt bei einer Entscheidung des Gesamtaufsichtsrats bzw. des Aufsichtsratsvorsitzenden. b) Annexkompetenz bei Hilfsgeschäften Für die Kompetenz des Aufsichtsrats zur Einrichtung eines Aufsichtsratsbüros sowie die Inanspruchnahme von Hilfskräften wird häufig auf die Annexkompetenz verwiesen.83 Der Aufsichtsrat hat ein Selbstorganisationsrecht jedenfalls im Rahmen des Üblichen und Angemessenen. Im Rahmen des Prinzipal-Agenten-Verhältnisses handelt es sich dabei letztlich auch um Aufwendungen, die der Beauftragte für erforderlich halten darf. Die Frage des Üblichen und Angemessenen nicht nur national zu beantworten, sondern jedenfalls bei größeren Gesellschaften auch unter Berücksichtigung internationaler Gepflogenheiten. International setzt sich ein company secretary mehr und mehr durch,84 in Deutschland wurde von einem Aufsichtsratsassistenten gesprochen, nunmehr vom Leiter des Aufsichtsratsbüros.85 Ein company secretary wird im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden von den Corporate Governance Kodizes vorgesehen.86

III. Kosten für die Beratung des Aufsichtsrats und Sachverständige 1. Regelung der Inanspruchnahme von Sachverständigen in § 111 Abs. 2 AktG a) Allgemeine Regelung in § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG Seit der ersten Regelung des Aufsichtsrats im ADHGB 1861 kann der Aufsichtsrat in die Bücher und Schriften der Gesellschaft Einsicht nehmen,87 für die Einsichtnahme kann er sich seit dem AktG 1937 auch Sachverständiger bedienen.88 Dies kann zutreffend ohne weitere Voraussetzung wie etwa dem Verdacht eines Fehlverhaltens des Vorstands erfolgen,89 teilweise wird ein besonderer Anlass gefordert.90 Durch die ­Inanspruchnahme von Sachverständigen entstehen Kosten. Wie einzelne Aufsichtsratsmitglieder Ersatz für durch die Einsichtnahme entstehende Kosten verlangen können, kann der Aufsichtsrat die Gesellschaft zur Übernahme der Kosten der Inanspruchnahme von Sachverständigen verpflichten. 83 Allgemein zur Annexkompetenz Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 455. 84 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 518 ff. 85 Insbesondere mit Blick auf die Deutsche Bank Henning, BOARD 2012, 243 f. 86 UK Corporate Governance Code 2018, Principle 16 sowie die Guidance of Board Effectiveness, July 2018, 79-85; Dutch Corporate Governance Code 2.3.10. 87 Lieder in Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 168 f. 88 Die Amtliche Begründung, abgedruckt bei Klausing, AktG 1937, S. 81, erwähnt diese Änderung bei § 95 AktG 1937 nicht. 89 Markus Roth, AG 2004, 1, 8 f. 90 Anders Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136, 147 f. mwN.

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b) Beauftragung des Abschlussprüfers nach § 111 Abs. 2 Satz 3 AktG Seit dem KonTraG, dem ersten der internationalen Corporate Governance-Diskussion zuzuordnenden deutschen Gesetz, beauftragt der Aufsichtsrat den Abschluss­ prüfer.91 Kernanliegen war es, der deutschen Rechtstradition entsprechend den Abschlussprüfer wieder näher an den Aufsichtsrat heranzurücken.92 Der Abschlussprüfer wird seither als Hilfsorgan des Aufsichtsrats bezeichnet.93 Dies verdeutlicht, dass das Überwachungsorgan der Aktiengesellschaft die Kontrolle keineswegs autark zu gestalten hat, der Aufsichtsrat kann und muss sich im Falle des Abschlussprüfers auch Dritter bedienen. Zutreffend hat das Kontrollorgan die zur Beauftragung des Abschlussprüfers erforderliche Vertretungsmacht, hierzu bedarf es zutreffend keiner expliziten gesetzlichen Regelung.94 2. Vergütungsberater nach Ziffer 4.2.2 Deutscher Corporate Governance Kodex Wie die Abschlussprüfung der Gesellschaft ist auch die Vergütung des Vorstands ein komplexes Thema. Die Inanspruchnahme eines Vergütungsberaters bei größeren börsennotierten Gesellschaften stets angemessen und auch sonst oft gute Praxis. Ein international ausdifferenzierter und branchenübergreifender Marktüberblick sowie Sachverstand zur Vertragsgestaltung auch der Detailfragen ist im Aufsichtsrat regelmäßig nicht vorhanden, etwa für komplizierte Rechtsfragen steuerlicher Art.95 Der Deutsche Corporate Governance Kodex empfiehlt dennoch nicht die Inanspruchnahme eines Vergütungsberaters, sondern stellt nur Grundsätze für den Fall auf, dass sich der Aufsichtsrat zur Vorbereitung seiner Entscheidungen eines Vergütungsberaters bedient.96 Der Kodex stellt in Ziffer 4.2.2 Abs. 3 explizit auf die Unabhängigkeit vom Vorstand bzw. vom Unternehmen ab, dies gilt generell für Personen, die vom Aufsichtsrat zur Erfüllung seiner Aufgaben eingesetzt werden. 3. Inanspruchnahme weiterer Berater und Sachverständiger Die Regelung der Inanspruchnahme Sachverständiger für die Einsichtnahme in § 111 Abs. 2 AktG ist nicht abschließend. Eine entsprechende Annexkompetenz gilt über die im Kodex vorausgesetzten Vergütungsberater auch für andere Berater des Aufsichtsrats. Besonders geregelte Pflichten sieht das Wertpapierübernahmegesetz für

91 Zur Entwicklung näher Großkomm/Hopt/Roth, 4. Aufl. 2005, § 111 Rz. 439 ff. 92 Begr RegE KonTraG, BTDrucks 13/9712, S. 16; Eberhard Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/ Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103, 126: Rückbesinnung. 93 Seibert, AG 2002, 417, 419, von Gehilfen sprechend Lutter/Krieger/Verse in Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  172, von Unterstützungsfunktion Hölters/ Hambloch-Gesinn/Gesinn, 3. Aufl. 2017, § 111 Rz. 61. 94 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 448 ff. 95 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 585. 96 Zu Ziffer 4.2.2 DCGK Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 7. Aufl., Rz. 980 ff.

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den Fall eines Übernahmeangebots vor.97 Zur Bewertung des Unternehmens im Rahmen eines Übernahmeangebotes wird regelmäßig die Beauftragung von Sachverständigen empfehlenswert und angemessen sein.98 Zu nennen sind weiter Rechtsberater des Aufsichtsrats, derer sich die Aufsichtsräte insbesondere aufgrund der ISION-Entscheidung des Bundesgerichtshofs bedienen.99 Besonders hohe Kosten können interne Untersuchungen verursachen. Internal In­ vestigations mit sehr hohen Kosten für die betroffenen Gesellschaften fanden etwa in den Fällen Siemens (Bestechung ausländischer Amtsträger) und Volkswagen (Softwaremanipulation) statt, berichtet werden Kosten im dreistelligen Millionenbereich.100 Bei Betroffenheit von Vorstandsmitgliedern muss der Aufsichtsrat die internen Untersuchungen leiten und auch beauftragen.101 4. Annexkompetenz des Aufsichtsrats und Kontrollmaßstab a) Annexkompetenz des Aufsichtsrats Die bereits angesprochene Annexkompetenz des Aufsichtsrats greift generell bei Hilfsgeschäften zur Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe ein.102 Der Aufsichtsrat muss die Mittel haben, um seine Aufgaben erfüllen zu können.103 Dies gilt auch und gerade für die hier angesprochene Inanspruchnahme von Sachverständigen zur vorstandsunabhängigen Kontrolle.104 Überwachungsmaßstab ist dabei in Anlehnung an §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG, ob der Aufsichtsrat bei seinem Handeln davon ausgehen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Es ist keine angemessene Kontrolle in dem Sinne geschuldet, dass die Kontrollmaßnahme in vollem Umfang richterlicher Kontrolle unterliegt, in den USA gelten für die Kontrolle und unternehmerische ­Entscheidungen derselbe Überprüfungsmaßstab.105 Dies ist im haftungsrechtlichen Sinne auch in Deutschland anzunehmen106 und gilt auch im hier interessierenden Zusammenhang der Kompetenz zur Vornahme von Überwachungshandlungen. Allerdings ist von einem beschränkten Ermessen auszugehen.

97 Dazu noch ausführlich GroßkommAktG/Hopt/Roth, 4. Aufl. 2005, § 111 Rz. 724 ff. 98 Dazu Leyens in Information des Aufsichtsrats, 2006, S. 406 ff. 99 BGH, ZIP 2011, 2097 (ISION), kritisch Krieger, ZGR 2012, 496. 100 Zu Siemens Momsen, Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), 2011, 508, 510. 101 Lockemann in Compliance in kommunalen Unternehmen, 2018. 102 Zur Vertretungsbefugnis bei Hilfsgeschäften GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 112 Rz. 54 ff. 103 RGZ 83, 248, 252: wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann (zum Einsichtsrecht eines besonderen Vertreters). 104 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 412. 105 Markus Roth in Journal of Corporate Law Studies, 2008, 337, 364 ff. 106 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 4. Aufl. 2005, § 111 Rz. 107.

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b) Vertretbarkeit sonstiger überwachungsbezogener Ausgaben Auch nachdem bei der Inanspruchnahme von Sachverständigen und anderen überwachungsbezogenen Ausgaben des Gesamtaufsichtsrats keine Zahlung an Aufsichtsratsmitglieder erfolgt, muss nicht auf den allgemeinen zivilrechtlichen Kontrollmaßstab für Aufwendungen rekurriert werden.107 Der allgemeine Grundsatz des verständigen Ermessens für Aufwendungen108 passt nicht für die Hauptaufgabe der Kontrolle. Anders als beim Aufwendungsersatz für einzelne Aufsichtsratsmitglieder besteht bei Zahlungen an Dritte ein Kontrollermessen des Aufsichtsrats.109 Insoweit besteht ein ähnlicher Maßstab wie bei Vorstandshandeln, eine Kontrollmaßnahme muss nicht geboten sein, es reicht aus, dass sie vertretbar erscheint.110 Es müssen der Aufsichtsrat und seine Mitglieder in Anlehnung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vernünftigerweise davon ausgehen dürfen, dass vom Aufsichtsrat gemachte Aufwendungen im besten Interesse der Gesellschaft liegen.111

IV. Entscheidung durch das Aufsichtsorgan und Kontrolle 1. Vertretungsbefugnis und Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats Mittlerweile anerkannt ist die Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats auch für Hilfsgeschäfte.112 Der Aufsichtsrat vertritt die Gesellschaft nicht nur nach § 112 AktG gegenüber dem Vorstand, sondern auch gegenüber den Vertragspartnern, deren er sich zur Erfüllung seiner Aufgaben bedient.113 Zuständig für die Vertretung der Gesellschaft bei Hilfsgeschäften zur Erfüllung seiner Aufgaben ist jedenfalls der Gesamtaufsichtsrat.114 Der Aufsichtsrat ist als Kollegialgremium konzipiert und als solches auch stets handlungsfähig.115 2. Entscheidung und Kontrolle durch den Aufsichtsratsvorsitzenden Neben der Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats kommt eine Zuständigkeit des Aufsichtsratsvorsitzenden in Betracht.116 Aufgabe des Aufsichtsratsvorsitzenden ist die Leitung und Vorbereitung der Sitzungen des Aufsichtsrats. Dazu gehört auch die Einladung von Sachverständigen und Auskunftspersonen. Um trotz der gesetzlich vorge107 Zum aktienrechtlichen Maßstab schon oben Fußnote 80 mit Verweis auf Eberhard Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 29.51. 108 Oben Fußnote 81. 109 Dazu GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 106 f. 110 Zum Kontrollmaßstab der Vertretbarkeit beim Vorstandshandeln GroßkommAktG/Hopt/ Roth, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 126. 111 Zur Vertretbarkeit schon Markus Roth in Unternehmerisches Ermessen, 2001, S 105 f. 112 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 112 Rz. 3. 113 KK/Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 112 Rz. 24. 114 Etwa Drygala in Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 112 Rz. 14 ff. 115 KK/Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 112 Rz. 24. 116 Dazu etwa KK/Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 112 Rz. 44 ff.

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sehenen geringen Sitzungsfrequenz des Aufsichtsrats eine effiziente Überwachung zu gewährleisten, sollte der Aufsichtsratsvorsitzende nicht stets bis zu einer Aufsichtsratssitzung warten müssen, um etwa Rechtsrat einholen zu können. Im Rahmen der Sitzungsvorbereitung kommt dem Aufsichtsratsvorsitzenden auch Kompetenz zu, die hierfür notwendigen Geschäfte abzuschließen.117 Der Aufsichtsratsvorsitzende hat die einem Vorsitzenden typischerweise zukommenden Kompetenzen.118 Hierzu gehört auch eine Voruntersuchung relevanter Sachverhalte durch den Vorsitzenden. Zu beachten sind die Grenzen der Kompetenz des Aufsichtsratsvorsitzenden. Interne Untersuchungen sind jedenfalls grundsätzlich vom Gesamtaufsichtsrat zu beschließen.119 Stets erfolgt eine Kontrolle des Aufsichtsratsvorsitzenden durch das Gesamtgremium, weiter stehen sitzungsleitende Maßnahmen unter dem Vorbehalt einer anderweitigen Entscheidung des Aufsichtsrats.120 Der Aufsichtsrat kann auch anders entscheiden und die Befugnisse des Aufsichtsratsvorsitzenden abweichend regeln. Nach der Geschäftsordnung der Deutschen Bank überwacht der Aufsichtsratsvorsitzende regelmäßig die Kosten der Aufsichtsratstätigkeit,121 diese Aufgabe kommt ihm auch sonst und ohne besondere Regelung der betroffenen Gesellschaft zu. 3. Kostenkontrolle durch Vorstand und Hauptversammlung a) Überwachung des Kontrollorgans durch den Vorstand In Randbereichen erfolgt eine Überwachung des Kontrollorgans durch den Vorstand.122 Dies gilt insbesondere im hier interessierenden Zusammenhang. Notwendig ist die Erfassung der vom Aufsichtsrat verursachten Kosten, diese müssen in dem vom Vorstand aufzustellenden und erst sodann vom Aufsichtsrat zu prüfenden Jahresabschluss enthalten sein. Rechnung zu tragen ist § 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG, wonach Vorstandsmitglieder für entgegen dem Aktiengesetz den Aufsichtsratsmitglieder gewährte Vergütungen schadensersatzpflichtig sind.123 Allerdings ist dem keine Kompetenzzuweisung zu entnehmen. Die Kontrolle spiegelt die dualistische Organisationsverfassung wieder, in der die Gesellschaft gegenüber dem Vorstand durch den Aufsichtsrat (§ 112 AktG) und gegenüber dem Aufsichtsrat durch den Vorstand (§ 78 AktG) vertreten wird. b) Kontrolle durch die Aktionäre Der Aufsichtsrat steht zu den Aktionären in einem Prinzipal-Agenten-Verhältnis, so dass sich die Frage der Kontrollrechte der Aktionäre stellt. Praktisch werden kann 117 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 150. 118 AmtlBegr zu § 92 AktG 1937, abgedruckt bei Klausing, S. 78.  119 Lockemann, Compliance in kommunalen Unternehmen, 2018. 120 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 120 ff. 121 Geschäftsordnung v. 23.5.2018, § 5 Abs. 7. 122 Zur Überwachung des Aufsichtsrats durch den Vorstand Koch, ZHR 180 (2016), 578. 123 Zu § 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG Großkomm/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 336.

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insbesondere das Auskunftsrecht der Aktionäre in der Hauptversammlung.124 Fragen der Aktionäre zur Tätigkeit des Kontrollorgans sind zutreffend durch den Aufsichtsrat zu beantworten.125 Ungewöhnliche Maßnahmen und Ausgaben können auch im Bericht des Aufsichtsrats zu erwähnen sein.126 Zu denken ist hierbei insbesondere an interne Untersuchungen.127 Als weitere Kontrollmittel der Aktionäre in Betracht kommen eine Sonderprüfung sowie Schadensersatzansprüche nach § 147 und die Bestellung eines besonderen Vertreters.

V. Ergebnis Das Vorsehen eines Überwachungsorgans und dessen Tätigkeit verursachen Kosten. Dabei ist zwischen der Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder und den Kosten zu unterscheiden, die durch das Tätigwerden des Aufsichtsrats entstehen. Nur hinsichtlich der Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder besteht eine Kompetenz der Hauptversammlung. Diese ist zwingend, allerdings können auch Dritte die Vergütung übernehmen bzw. können Aufsichtsratsmitglieder auch Dritten ihre Vergütung überlassen. Der Aufsichtsrat kann auch aus eigener Kompetenz die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Geschäfte erledigen, eines Aufsichtsratsbudgets bedarf es auch de lege ferenda nicht. Im Rahmen seines Kontrollermessens kann der Aufsichtsrat ein Aufsichtsratsbüro einrichten und Hilfskräfte hinzuziehen, weiter auf Sachverständige und Auskunftspersonen zurückgreifen. Eine Pflicht zur Hinzuziehung eines Sachverständigen besteht im Rahmen der Prüfung des Jahresabschlusses. Der Aufsichtsrat vergibt den Prüfungsauftrag. Bislang nicht empfohlen wird die Hinzuziehung eines Vergütungsberaters, ein solcher empfiehlt sich aber jedenfalls für größere börsennotierte Gesellschaften, ebenfalls die Hinzuziehung eines eigenen Beraters in Übernahmesituationen. Im Einzelfall kann der Aufsichtsrat verpflichtet sein, Rechtsrat einzuholen oder auch interne Untersuchungen durchzuführen. Kontrollmaßstab ist bei der Vergütung die Angemessenheit, Auslagen müssen die Aufsichtsratsmitglieder für erforderlich halten dürfen, nach allgemeinem Zivilrecht wird dabei auf das verständige Ermessen abgestellt. Im Rahmen der eigentlichen Kontrolltätigkeit greift ein Kontrollermessen, es muss die Maßnahme und Inanspruchnahme Dritter vertretbar sein, vergleichbar einem beschränkten unternehmerischen Ermessen.

124 Hoffmann-Becking, NZG 2017, 285 f. 125 GroßkommAktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 560. 126 Zum Bericht des Aufsichtsrats Lutter/Krieger/Verse in Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 562 ff. 127 Der Bericht des Aufsichtsrats der Volkswagen AG für das Geschäftsjahr 2017 verweist auf den Sonderausschuss Dieselmotoren, lässt aber eine Veranlassung der internen Untersuchung durch den Aufsichtsrat offen.

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Zustimmungspflichtige Geschäfte nach BGH II ZR 24/17 Inhaltsübersicht I. Einführung II. Position des BGH im Urteil vom 10.7.2018 (II ZR 24/17) I II. Bewertung und Folgerungen 1. Zustimmung als Einwilligung a) Ausschluss der Genehmigung als Grundsatz b) Abdingbarkeit c) Ausnahme für Eilfälle

2. Zustimmung durch das Gesamtorgan 3. Zur Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär 4. Reichweite einer erteilten Zustimmung a) Allgemeines und Meinungsstand b) Begriff der wesentlichen Abweichung und Ansätze zur Konkretisierung c) Fazit IV. Zusammenfassung in Thesen

I. Einführung Nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG müssen Satzung oder Geschäftsordnung des Aufsichtsrats (bzw. Vorstands) einen Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte festlegen, welche der Art nach zu umschreiben sind. Ohne Zustimmung des Aufsichtsrats muss eine konkrete Maßnahme unterbleiben, sofern der Vorstand sie nicht der Hauptversammlung vorlegt und diese ihre Zustimmung mit Dreiviertelmehrheit erteilt (§ 111 Abs. 4 S. 3 AktG). Eine fehlende Zustimmung berührt zwar nicht die Wirksamkeit eines im Namen der AG geschlossenen Rechtsgeschäfts; der Vorstand handelt in diesem Falle aber pflichtwidrig und macht sich somit (potentiell) schadensersatzpflichtig (§  93 Abs. 2 AktG). Während diese Ausgangslage eindeutig und unstrittig ist, waren wichtige Details um die Erteilung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat höchstrichterlich bislang ungeklärt: Bedeutet Zustimmung bei § 111 Abs. 4 AktG das gleiche wie nach Bürgerlichem Recht, wo Zustimmung den Oberbegriff zu Einwilligung und Genehmigung bildet (§§ 182-184 BGB), eine Zustimmung also sowohl vor Abschluss des Rechtsgeschäfts als auch danach erteilt werden kann? Und wie wirkt sich das Einverständnis des Alleinaktionärs aus? Kann der auf Haftung in Anspruch genommene Vorstand sich mit dem Einwand verteidigen, der Aufsichtsrat hätte, wäre er gefragt worden, dem Geschäft zugestimmt? Diese Fragen hat der II. Senat am 10. Juli 2018 entschieden und dabei gewissermaßen nebenbei den Fokus auch auf die  – im Fall nicht problematische – Frage gelenkt, wie weit eine bereits erteilte Zustimmung reicht bzw. wann der Vorstand dem Aufsichtsrat ein geplantes Geschäft trotz bereits erteilter Zustimmung erneut vorlegen muss.

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Anders als in bislang publizierten Anmerkungen1 soll im Folgenden das Augenmerk auf diesen Aspekt, aber auch allgemein auf Fragen rund um die Erteilung einer Zustimmung gerichtet werden (unter III.), naturgemäß vor dem Hintergrund der erwähnten Entscheidung des Senats, deren Inhalt zunächst darzustellen ist (unter II.). Der Verfasser hofft, beim Jubilar, einem ausgewiesenen Kenner des Rechts des Aufsichtsrats, mit der ihm gewidmeten kleinen Studie auf Interesse zu stoßen.

II. Position des BGH im Urteil vom 10.7.2018 (II ZR 24/17) Der II. Zivilsenat des BGH entschied, dass eine erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats vom Vorstand grundsätzlich vor der Durchführung des Geschäfts einzuholen ist (Leitsatz 1) und nur durch ausdrücklichen Beschluss des Aufsichtsrats erteilt werden kann. Gewissermaßen zum Ausgleich ließ der Senat zugunsten eines auf Schadensersatz in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens und somit den Nachweis zu, dass der Aufsichtsrat die Zustimmung erteilt hätte, wäre er gefragt worden. Beklagt war der ehemalige Alleinvorstand einer zu 100% der Stadt Düsseldorf gehörenden AG, die u.a. Parkhäuser betrieb, aber auch allgemein mit der Entwicklung und Verwertung von Immobilien befasst war. Der Oberbürgermeister war zugleich Aufsichtsratsvorsitzender. Die Stadt wollte ihr das baufällige Schloss Eller nebst Wirtschaftshof überlassen. Nach der AG-Satzung bedurfte der Vorstand für Neuanschaffungen und Bauten, deren Volumen 200.000 Euro überschritten, der Zustimmung des Aufsichtsrats. Eine solche Zustimmung erteilte der Aufsichtsrat am 25.11.2008. Die Beschlussvorlage bezog sich auf die Sanierung des Gesamtensembles, deren Kosten mit knapp 4 Mio. Euro angegeben wurden; davon sollten ca. 1,4 Mio. auf das Schloss, der Rest auf die Nebengebäude entfallen. Anschließend sollte das Schloss für Veranstaltungen genutzt und neu entstehende Wohnungen im Wirtschaftshof vermietet werden. Nachdem im Jahr 2009 das Denkmalamt eingeschaltet worden war, stiegen die geschätzten Kosten auf insgesamt 6,4 Mio. Euro. Der Bekl. schloss gleichwohl und ohne den Aufsichtsrat erneut zu befragen am 23.7.2009 mit der Stadt einen Erbbaurechtsvertrag über das Gesamtensemble für 50 Jahre, verbunden mit einer entsprechenden Unterhaltungspflicht. Anschließend ließ er nur das Schloss zu Kosten von rd. 3 Mio. Euro durch eine Tochtergesellschaft der AG sanieren; der Wirtschaftshof blieb in unsaniertem Zustand und konnte infolgedessen nicht „vermarktet“ werden. Wegen des ungünstigen Vertragsschlusses und der auf das Schloss beschränkten Sanierung nahm die AG ihren Ex-Vorstand in erster und zweiter Instanz erfolgreich auf Zahlung von rd. 3 Mio. Euro Schadensersatz in Anspruch. Seine Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung, weil das Berufungsgericht den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens kategorisch ausgeschlossen hatte.

1 Die bislang veröffentlichten Urteilsrezensionen haben die Frage gar nicht oder nur am Rande behandelt, vgl. Fleischer, DB 2018, 2619; Haarmann, BB 2018, 2515; Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555; Priester, EWiR 2018, 645, 646; Geißler, DZWiR 2018, 586, 595.

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Daran, dass das Handeln des Vorstands nicht durch den Aufsichtsratsbeschluss von November 2008 gedeckt war, hatte offenbar keines der mit dem Fall befassten Gerichte Zweifel. Der II. Senat hielt es insbesondere für unerheblich, dass der ursprünglich zugrunde gelegte Kostenrahmen durch Verzicht auf eine Sanierung des Wirtschaftshofes nicht überschritten wurde, zumal das Gesamtprojekt ohne Sanierung nicht wirtschaftlich zu betreiben war. Außerdem habe die somit erforderliche erneute Zustimmung nicht (konkludent) im Nachhinein erteilt werden können (allerdings war für einen Genehmigungsbeschluss nichts ersichtlich, weshalb es dieser Festlegung nicht bedurft hätte). Ob für Eilfälle eine Ausnahme gelte, sei ebenso wenig entscheidungserheblich wie die Möglichkeit, durch die Satzung explizit auch eine Genehmigung zuzulassen. Im Zweifel sei die Zustimmung vor Durchführung der Maßnahme einzuholen, da sie als Instrument vorbeugender Kontrolle des Aufsichtsrats auch dazu diene, Vorstandsmaßnahmen zu unterbinden, die möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machen seien. Eine Zustimmung des Aufsichtsratsvorsitzenden, hier des Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf, vermöge die Zustimmung des Gesamtorgans nicht zu ersetzen. Auch das Einverständnis des Alleinaktionärs – wiederum in Gestalt des Oberbürgermeisters  – lasse die Haftung grundsätzlich nicht entfallen. Zwar sei ausnahmsweise von Rechtsmissbrauch auszugehen, wenn der Alleinaktionär das Geschäft gebilligt habe. Hierfür bedürfe es aber eines besonderen Vertrauenstatbestands in Form eines über die Einwilligung in das Geschäft hinausgehenden Verhaltens.

III. Bewertung und Folgerungen 1. Zustimmung als Einwilligung a) Ausschluss der Genehmigung als Grundsatz Begreift man die Zustimmung gem. § 111 Abs. 4 AktG als ein Instrument der präventiven Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat, wie es der BGH schon in anderem Zusammenhang entschieden hatte2 und es auch der ganz hL entspricht,3 so führt dies konsequentermaßen zum Ausschluss der Genehmigung und dem Erfordernis einer vor dem Geschäft erteilten Zustimmung. Dass der Vergleich mit der abweichenden Nomenklatur des BGB nicht weiterführt, hat der Senat im Anschluss an das Schrifttum zu Recht betont. Denn die Genehmigung steht nach § 184 BGB deshalb der Einwilligung gleich, weil das Geschäft bis zu ihrer Erteilung unwirksam bleibt, der Zweck des Zustimmungserfordernisses daher nicht gefährdet wird, wenn die Zu­ stimmung erst nachträglich erteilt wird. Dies ist bei Zustimmungsvorbehalten iSv. § 111 Abs. 4 AktG kategorial anders, weil die Zustimmung des AR keinerlei Einfluss 2 BGH v. 11.12.2006 – II ZR 243/05, ZIP 2007, 224, Rz. 9 (GmbH). 3 S. nur E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, § 26 Rz.  26.37; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, §  3 Rz. 124; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 46; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 11 Rz. 114, 140.

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auf die Wirksamkeit des Geschäfts, sondern nur Einfluss auf die Vorstandspflichten hat. Der Aufsichtsrat drohte daher vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, wollte man generell auch die nachträgliche Zustimmung ausreichen lassen. Dies betrifft insbesondere Geschäfte, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Man muss allerdings sehen, dass der vom Senat zugelassene Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens4 diesen klaren Ausgangspunkt deutlich relativiert. Es soll hier nicht im Einzelnen erörtert werden, ob dieser Einwand, wie es die bislang wohl hL angenommen hat, bei kompetenzwidrigem Verhalten generell ausgeschlossen bleiben oder ob für eine hierauf gründende Pflichtwidrigkeit nichts anderes gelten sollte wie im allgemeinen Schadensrecht. Das Argument des Senats, dass der präventive Kon­ trollzweck des Zustimmungsvorbehalts es nicht rechtfertige, abweichend von allgemeinen Regeln einen Strafschadensersatz bei kompetenzwidrigem Verhalten einzuführen, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Denn der Einwand des Vorstands, der Schaden wäre auch dann eingetreten, wenn der Aufsichtsrat vorab um Zustimmung gebeten worden wäre, weil er sie dann nämlich erteilt hätte, zielt auf die Kausalität der Pflichtverletzung. Wollte man indessen der Gesellschaft auch für Schäden Ersatz zusprechen, die nicht auf einer Pflichtverletzung des Vorstands beruhen, handelte es sich um nichts anderes als eine Sanktion für ebendiese Pflichtverletzung – und damit nicht mehr um Schadensersatz, sondern um eine Strafe. Und für eine ­Bestrafung des Vorstands bedürfte es zumindest eines deutlichen Hinweises des Gesetzgebers, dass gerade das Übergehen eines Zustimmungsvorbehalts sanktioniert werden soll. Hinzu kommt, dass den Vorstand die Beweislast trifft, ihm also der Nachweis obliegt, dass der Aufsichtsrat seine Zustimmung erteilt hätte.5 Lässt man den Einwand demgemäß zu, so hat die Genehmigung zumindest in der Regel die gleiche Wirkung wie eine vor dem Geschäft erteilte Einwilligung. Hat nämlich der Aufsichtsrat das Geschäft genehmigt, so spricht die dadurch ausgedrückte Billigung des Geschäfts in der Regel dafür, dass er ihm auch von vornherein zugestimmt hätte, wäre er bereits zum früheren Zeitpunkt eingeschaltet worden. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich an seiner Zusammensetzung nichts geändert hat  – und selbst in einem solchen Falle bleibt zumindest die indizielle Wirkung der Genehmigung erhalten. Dieser – prima vista überraschende – Befund gibt freilich keinen Anlass, das Einwilligungserfordernis wieder in Frage zu stellen; denn es bleibt dabei, dass der Vorstand grundsätzlich nur dann pflichtgemäß handelt, wenn er den Aufsichtsrat vor dem Geschäft um Zustimmung bittet. Unterlässt er dies, trägt er für die Erteilung einer Genehmigung ebenso das Risiko wie für die Darlegung einer hypothetischen Einwilligung. Dennoch bleibt es wegen des beschriebenen Zusammenhangs sinnvoll, die Zustimmung zu einer Katalogmaßnahme noch nachträglich einzuholen, sofern dies aussichtsreich erscheint. Im Übrigen erhellt er, dass die apodiktische Aussage, bei Zulassung auch der Genehmigung werde der Zweck des Zustimmungsvorbehalts 4 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 38 ff.; zust. etwa Fleischer, DB 2018, 2619 (unter VI.); Haarmann, BB 2018, 2515; Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555, 3556 f.; Priester, EWiR 2018, 645, 646; Geißler, DZWiR 2018, 586, 595. 5 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 45.

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„schlechthin verfehlt“,6 in dieser Form nicht aufrechtzuerhalten ist. Letztlich geht es „nur“ um die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Aufsichtsrat mit dem Geschäft einverstanden ist. Dies gilt es im Blick zu behalten für die vom Senat offen gelassenen Fragen (dazu sogleich unter b und c). b) Abdingbarkeit Der BGH konnte offenlassen, ob Satzung oder Aufsichtsrat anstelle einer Einwilligung auch die nachträgliche Genehmigung ausreichen lassen können. In der Literatur wird dies wohl überwiegend bejaht,7 teilweise aber auch dezidiert abgelehnt.8 Richtigerweise kann das Einwilligungserfordernis grundsätzlich durch ein Genehmigungserfordernis ersetzt werden. Soweit der Aufsichtsrat den Zustimmungskatalog erlassen hat, kann er dies selbst beschließen, allerdings nur im Plenum.9 Sofern die Satzung die zustimmungsbedürftigen Geschäfte festlegt, muss sie entweder selbst die Genehmigung für ausreichend erklären oder diese Entscheidung an den Aufsichtsrat delegieren; denn der Aufsichtsrat kann von der Satzung aufgestellte Genehmigungsvorbehalte nicht eigenmächtig verändern.10 Zwar wird der Kontrollzweck des Genehmigungsvorbehalts hierdurch relativiert; eine solche Relativierung ist aber systemimmanent. Das ergibt sich nicht nur aus der Zulassung des Einwands rechtmäßigen Alternativverhaltens durch den BGH (oben a), sondern auch aus der fast einhellig und zu Recht für möglich gehaltenen Generaleinwilligung in Form einer Vorabzustimmung für bestimmte Arten von Geschäften.11 Denn soweit Satzung bzw. Aufsichtsrat den Kreis der zustimmungsbedürftigen Geschäfte bestimmen, haben sie hierbei ein weites Ermessen, zumal der Gesetzgeber auf inhaltliche Vorgaben bewusst verzichtet hat.12 Im einen wie im anderen Falle handelt es sich um eine inhaltliche Änderung des Zustimmungsvorbehalts.13 Weil und soweit es im Ermessen des Aufsichtsrats steht, bestimmte Arten von Geschäften von seiner Zustimmung wieder auszunehmen (oder eben gar nicht erst in den Katalog aufzunehmen), kann er stattdessen erst recht eine Generaleinwilligung erteilen. Soweit er nicht zuständig ist, der Zustimmungsvorbehalt also unmittelbar auf der Satzung beruht, bedarf er hierfür allerdings einer Er 6 So Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 124. 7 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2013, § 111 Rz. 106; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 47; Seebach, AG 2012, 70, 75. 8 Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 141 a.E. 9 Demgegenüber kann die Zustimmungsentscheidung selbst einem Ausschuss überlassen werden, wie § 107 Abs. 3 S. 3 AktG explizit bestimmt. 10 Dazu nur Hüffer/Koch, § 111 Rz. 38 (allgM). 11 BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, ZIP 2016, 966, Rz. 117 f. – Nürburgring; Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 143; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 111 Rz. 109. Ob sie sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt, s. Fonk, ZGR 2006, 841, 868. 12 Näher etwa Hüffer/Koch, § 111 Rz. 36; Habersack in FS Hüffer (2010), S. 259, 265 f.; s.a. E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, § 26 Rz. 26.34. 13 So für die Generaleinwilligung explizit auch Habersack in MünchKomm. AktG, §  111 Rz. 143.

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mächtigung durch diese. Und Entsprechendes gilt wiederum erst recht, wenn er statt einer Generaleinwilligung die Genehmigung ausreichen lässt bzw. es dem Vorstand freistellt, ob der die Zustimmung vor Durchführung der Maßnahme oder erst danach einholt. Ob es allerdings zulässig ist, für sämtliche Beschlussgegenstände eine Ge­ nehmigung ausreichen zu lassen, steht auf einem anderen Blatt. Von dem Instrument präventiver Kontrolle bliebe dann kaum etwas übrig. Insofern sind die gleichen Schranken zu diskutieren, wie sie auch für das Aufstellen eines unzureichenden Zustimmungskatalogs gelten (deren Justitiabilität allerdings dahinsteht).14 Es wäre also in der Regel als (pflichtwidrige) Ermessensüberschreitung anzusehen, wenn der Aufsichtsrat eine Genehmigung für sämtliche Kataloggegenstände ausreichen lässt, zumal auch eine allgemeine Generaleinwilligung als unzulässig beurteilt wird. c) Ausnahme für Eilfälle Erkennt man, dass die Ersetzung des Einwilligungserfordernisses durch ein Genehmigungserfordernis grundsätzlich im Ermessen des Aufsichtsrats (bzw. der Satzung) steht (oben b), so ist es wiederum erst recht möglich, das Ausreichen einer Genehmigung auf Eilfälle zu beschränken, wie es von der Praxis empfohlen wird.15 Die vom BGH offengelassene und von einer beachtlichen Zahl von Autoren verneinte16 Frage, ob in Eilfällen die nachträgliche Zustimmung ausreicht,17 ist also nur relevant, falls Satzung oder Aufsichtsrat insofern keine Regelungsvorsorge getroffen haben. Selbst in diesem Falle stellt sich das Problem aber letztlich dann nicht, wenn der Aufsichtsrat das Geschäft nach dessen Durchführung noch genehmigt; denn bei erteilter Genehmigung kann nicht nur der Nachweis einer hypothetischen Einwilligung in der Regel als geführt angesehen werden (oben a), man kann sie zusätzlich auch als „entlastendes Indiz“ für das Vorliegen eines Eilfalls betrachten.18 Vor diesem Hintergrund erscheint es bei erklärter Genehmigung von vornherein unerheblich, ob der Vorstand vor Durchführung des Geschäfts anstelle des nicht rechtzeitig erreichbaren Plenums oder Ausschusses immerhin den Aufsichtsratsvorsitzenden eingeschaltet hat, wie es bisweilen empfohlen wird.19 Bei Lichte besehen, geht es also gar nicht um die Frage, ob eine Genehmigung des Aufsichtsrats seine Einwilligung ersetzen kann – das ist, wie gesehen, im Ergebnis regelmäßig der Fall. Vielmehr ist nur darüber zu entscheiden, ob der Vorstand in Eilfällen pflichtwidrig handelt, ohne den Aufsichtsrat zuvor um Zustimmung gebeten zu 14 Dazu etwa Habersack in MünchKomm. AktG, §  111 Rz.  108  f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 111 Rz. 80, 84. 15 Fonk, ZGR 2006, 841, 869 f. 16 Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 141; K. Schmidt/Lutter/Drygala, AktG, § 111 Rz. 61; tendenziell auch Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 124; aA (i.E. wie hier) aber E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, § 26 Rz. 26.37; Mertens/ Cahn in KölnKomm. AktG, § 111 Rz. 106. 17 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 18. 18 Fonk, ZGR 2006, 841, 871 unter Berufung auf Kropff und Semler. 19 Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, §  111 Rz.  106; Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 141; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 47; Fonk, ZGR 2006, 841, 870 f. m.w.N.

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haben, wenn dieser eine ihm angesonnene Genehmigung verweigert oder mit dem Thema gar nicht mehr befasst wird. Richtigerweise handelt der Vorstand gleichwohl nicht pflichtwidrig, wenn er wegen der (tatsächlich bestehenden) Eilbedürftigkeit darauf verzichtet hat, je nach Zuständigkeit, Ausschuss oder Plenum um vorherige Zustimmung zu bitten.20 Richtig ist andererseits zwar auch, dass Eilfälle in Zeiten moderner Kommunikationsmittel nicht leichtfertig angenommen werden dürfen;21 dies kann aber bei der Annahme eines Eilfalls berücksichtigt werden, zumal die nicht rechtzeitige Erreichbarkeit aller seiner Mitglieder bei Zuständigkeit des Plenums nicht als bloß theoretisches Szenario erscheint. Die im Schrifttum für Eilfälle empfohlene Einschaltung des Aufsichtsratsvorsitzenden,22 kann vor diesem Hintergrund nicht als Rechtspflicht gelten, bei deren Verletzung die Durchführung der eilbedürftigen Maßnahme kompetenz- und damit pflichtwidrig wäre, zumal die Zustimmung des Aufsichtsratsvorsitzenden eine erforderliche Zustimmung des Plenums (oder Ausschusses) nicht zu ersetzen vermöchte (s. unter 2). Demgemäß ist es nicht zu rechtfertigen, das Handeln des Vorstands im Eilfall von einer vorherigen Befassung des Vorsitzenden abhängig zu machen. Diese zeitigt vielmehr lediglich eine faktische Entlastungswirkung, indem sie als Indiz für die Stimmung im Aufsichtsrat und für das Vorliegen eines Eilfalls gelten23 und den handelnden Vorstand auf diese Weise beruhigen kann. Fällt die Entscheidung des Plenums aber später anders aus, bleibt eine Zustimmung des Vorsitzenden in Bezug auf den Zustimmungsvorbehalt ebenso wirkungslos wie bei anschließender Verneinung eines Eilfalls durch die Gerichte. Falls der Aufsichtsrat die Genehmigung nicht verweigert hat, bleibt dem Vorstand dann nur der – stets mögliche – Nachweis der hypothetischen Einwilligung (oben a). Allerdings wird man aus der Zustimmung des Aufsichtsratsvorsitzenden ein Mitverschulden der Gesellschaft herleiten können, sofern der Vorstand (anders als im BGH‑Fall) darauf vertrauen durfte, dass der Vorsitzende das Erfordernis eines Plenarbeschlusses selbständig beurteilt und dann verneint hat. 2. Zustimmung durch das Gesamtorgan Nur kurz ist auf die Zuständigkeit für die Erteilung der Zustimmung einzugehen. Bekanntlich obliegen die dem Aufsichtsrat zugewiesenen Aufgaben, hier die Zustimmung gem. § 111 Abs. 4 S. 2 AktG, dem Gesamtorgan, das durch Beschlüsse, also stets ausdrücklich, über einen konkreten Antrag zu entscheiden hat (§ 108 Abs. 1 AktG).24 Die Zustimmung kann (durch die Satzung bzw. das Plenum) zwar auf einen Ausschuss delegiert werden (§ 107 Abs. 3 AktG), nicht jedoch auf den Aufsichtsratsvorsitzenden, wie der II. Senat schon durch BGHZ 41, 282 klargestellt hat. Insofern kann die Zustimmung des Vorsitzenden eine erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats 20 Zutr. Hüffer/Koch, § 111 Rz. 47. 21 So etwa Hüffer/Koch, § 111 Rz. 47. 22 Nachw. in Fn. 18. 23 So deutlich Fonk, ZGR 2006, 841, 870 f. 24 Zum Verbot nur konkludenter Willensäußerungen etwa Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 108 Rz. 14.

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nicht ersetzen, wie der Senat 2018 zu Recht betont hat.25 Dies ist auch die allgemeine Auffassung im Schrifttum.26 Auf einem anderen Blatt steht die (nur) faktisch entlastende Zustimmung des Vorsitzenden in Eilfällen (oben 1 c). 3. Zur Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär Ebenfalls nur knapp zu erörtern ist, ob eine Billigung der Maßnahme durch den Alleinaktionär den Vorstand entlasten kann. Der Düsseldorfer Fall wies ja die Besonderheit auf, dass die Stadt in Gestalt ihres Oberbürgermeisters in die Entscheidung des Vorstands involviert war. Der II. Senat verneint die Frage im Ergebnis zu Recht und verweist auf den Einwand des Rechtsmissbrauchs, der aber nur bei widersprüchlichem Verhalten und dieses wiederum nur bei Schaffung eines besonderen Vertrauenstatbestands durch den Alleinaktionär in Betracht komme.27 Ließe man die Pflichtwidrigkeit generell bei Zustimmung des Alleinaktionärs entfallen, so der Senat, würde § 93 Abs. 4 S. 1 AktG umgangen, der einen ausdrücklichen Beschluss der Hauptversammlung verlange. Die Norm ziehe die Konsequenz aus der in § 83 Abs. 2 AktG verankerten Pflicht des Vorstands, gesetzmäßige Beschlüsse der Hauptversammlung umzusetzen: Nur wer zur Ausführung verpflichtet sei, müsse von einer Schadensersatzpflicht freigestellt werden. Ohne eine solche Pflicht, entfalle der die Freistellung rechtfertigende Grund. Dem ist nichts hinzuzufügen. 4. Reichweite einer erteilten Zustimmung a) Allgemeines und Meinungsstand Wie schon im Bericht über das Urteil erwähnt (oben II.), bot der Fall keinen Anlass, sich näher mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die bereits erteilte Zustimmung zur Legitimation der zustimmungsbedürftigen Maßnahme ausreichte: Der für die Renovierungskosten im Beschlussantrag insgesamt veranschlagte Rahmen wurde zwar nicht überschritten, dies aber nur deshalb, weil der Vorstand entgegen dem ursprünglichen Konzept die Sanierung auf das Schloss beschränkte, dadurch aber eine Verwertung der Nebengebäude faktisch ausschloss. Außerdem wurde der (nur) für die Schloss­ renovierung veranschlagte anteilige Kostenansatz um mehr als 100% überschritten. Vorstand und OB war offenbar auch bewusst, dass eine erneute Zustimmung erforderlich gewesen wäre. Sie gingen davon aus, dass weder der Verzicht auf die Schlosssanierung noch der für eine wirtschaftliche Verwertung erforderliche Abriss der Nebengebäude in Düsseldorf politisch durchsetzbar waren und vereinbarten deshalb auch Geheimhaltung gegenüber dem Aufsichtsrat. Das ist zwar nachvollziehbar, zumal die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder bei Beteiligung (kommunaler) Politiker häufig keinen ausreichenden Schutz bietet; so waren anlässlich der [ersten] Beschlussfassung denn auch Details des Vorhabens an die Öffentlichkeit 25 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 22 mit Hinweis auf weitere frühere Entscheidungen. 26 S. nur Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 141 f.; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 46. 27 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 25 ff.

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durchgestochen worden.28 Der Umstand bestätigte aber letztlich nur, dass das ge­ änderte Vorhaben auch nach Ansicht der Beteiligten wesentlich von der ursprünglichen Planung abwich, welche die Sanierung des Gesamtensembles zu Kosten von ca. 4 Mio. Euro vorgesehen hatte. Wegen dieses eindeutigen Ergebnisses stützte sich der Senat ohne weitere Begründung auf den im Schrifttum geprägten Satz, dass der Vorstand bei „wesentlichen inhaltlichen Änderungen des Geschäfts“ den Aufsichtsrat erneut um Zustimmung bitten müsse.29 Allerdings sollte diese Aussage nicht dahin missverstanden werden, dass jede „wesentliche“ Abweichung von der ursprünglichen Planung stets zur erneuten Befassung des Aufsichtsrats nötigte. Entscheidend kann vielmehr nur die Auslegung30 des Zustimmungsbeschlusses sein, die wiederum unter Rückgriff auf den Beschlussantrag zu erfolgen hat. Aus dem Gebot ausdrücklicher Beschlussfassung (§ 108 Abs. 1 AktG) folgt insofern keine Beschränkung. Vielmehr kann bei der Auslegung des (ausdrücklichen) Beschlusses auch ein immanenter (konkludenter) Erklärungsgehalt berücksichtigt werden,31 wie er sich bspw. aus Vorstandsberichten an den Aufsichtsrat ergibt, und folglich ist der Beschluss auch ergänzender Auslegung zugänglich. In demselben Rahmen, in dem der Aufsichtsrat seine Einwilligung generalisieren kann (oben 1 b), kann er den Vorstand mit der Zustimmung im Übrigen auch zu Abweichungen von der ursprünglichen Planung ermächtigen bzw. sich auf die Billigung bestimmter Grundzüge beschränken, weil beispielsweise Details noch offen sind, und dem Vorstand hierdurch einen Gestaltungsspielraum bei der konkreten Ausführung einräumen.32 Nur bei Fehlen einer solchen, ihrerseits auslegungsfähigen expliziten Regelung kommt es also auf die „Wesentlichkeit“ der Abweichung zur Ermittlung des hypothetischen Willens im Rahmen einer ergänzenden Auslegung des Beschlusses an. Allgemein lässt dieser sich in der Tat dahin bestimmen, dass eine erklärte Zustimmung stets die Befugnis zu unwesentlichen Abweichungen von der beschlossenen Fassung der Maßnahme umfasst, solche Abweichungen also mit abdeckt. Da für den hypothetischen Willen die Details der geplanten Maßnahme ebenso erheblich sind wie die Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft, darunter auch der Zustimmungskatalog selbst, fällt es schwer, hierüber allgemeingültige Aussagen zu tref28 BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 37 a.E. 29 Hopt/Roth in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 766; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 111 Rz. 114; Fleischer, DB 2018, 2619 (unter IV. 1). 30 Zur (parallelen) objektiven Auslegung von HV-Beschlüssen s. nur Arnold in MünchKomm. AktG, § 133 Rz. 6; ferner BGH v. 19.5.2015 – II ZR 176/14, NZG 2015, 867, Rz. 32; BGH v. 30.1.1995 – II ZR 132/93, NJW 1995, 2656 (betr. Zulässigkeit der Berücksichtigung von Vorstandsberichten für die Auslegung). 31 BGH v. 19.12.1988 – II ZR 74/88, NJW 1989, 1928, 1929; BGH v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, AG 2009, 327, 328; BGH v. 21.6.2010 – II ZR 24/09, ZIP 2010, 1437, Rz. 14; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 108 Rz. 15; Habersack in MünchKomm. AktG, § 107 Rz. 13. 32 Deutlich etwa BGH v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, ZIP 2016, 966, Rz. 121: Die Zustimmung zu einem Projekt („Nürburgring 2009“) umfasse auch die Zustimmung in dafür als „in vertretbarer Weise als erforderlich angesehene“ Finanzierungsvereinbarungen bei nur in Grundzügen beschriebener Finanzierung (konkret: Übernahme der Gründungskosten einer Projektgesellschaft).

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fen. So überrascht es auch nicht, dass sich die (Kommentar-)Literatur insofern strenge Zurückhaltung auferlegt. Nur Habersack wird etwas konkreter,33 indem er aus Gründen der Rechtssicherheit das Erfordernis einer „strikt formalen“ Herangehensweise betont, sofern die Zustimmungspflicht an „Wertgrenzen oder vergleichbare Parameter“ anknüpfe. Die Notwendigkeit erneuter Zustimmung bestehe insofern selbst dann, wenn der Vorstand das zunächst gebilligte Volumen nur geringfügig überschreiten wolle. Bei sonstigen Abweichungen sei hingegen zu fragen, ob mit der beabsichtigten Änderung eine Risikoerhöhung verbunden sei, an der es beispielsweise fehle, wenn Zustimmungsgegenstand die Begebung einer Anleihe sei und es lediglich um eine Änderung der Anleihebedingungen gehe. b) Begriff der wesentlichen Abweichung und Ansätze zur Konkretisierung Versucht man also, den Begriff der wesentlichen Abweichung etwas konkreter zu fassen, so muss man sich zunächst die Frage vorlegen, ob er bei den sehr häufigen Wertgrenzen überhaupt relevant ist oder ob die erwähnte These zutrifft, dass insofern jede noch so minimale Überschreitung des bereits gebilligten Kostenrahmens eine erneute Zustimmungsbedürftigkeit auslöst. Ich halte diese Position für zu rigide: Die Festlegung einer Wertgrenze bedeutet ja, dass nur Geschäfte zustimmungsbedürftig sein sollen, welche diese Grenze mindestens erreichen. Wenn der Vorstand Geschäfte zustimmungsfrei durchführen kann, die unterhalb der Grenze bleiben, warum soll er dann nicht auch bereits gebilligte Geschäfte durchführen dürfen, bei denen die Kostensteigerung innerhalb der Grenze bleibt und vielleicht nur wenige hundert Euro beträgt? Wenn, um das Beispiel von BGH II ZR 24/17 aufzugreifen, der Vorstand Erwerbe bis 200.000  Euro zustimmungsfrei durchführen darf und der Aufsichtsrat einen mit 4 Mio. Euro veranschlagten Erwerb bereits zugestimmt hat, erscheint die Annahme naheliegend, dass auch ein Erwerb zu Kosten von 4,15 Mio. noch von der Zustimmung gedeckt ist. Freilich war in dem zugrundeliegenden Fall die erneute Zustimmung schon wegen Überschreitung der Wertgrenze erforderlich; denn die Mehrkosten allein für die Schlossrenovierung lagen deutlich über dem Grenzwert.34 Die Rechtssicherheit wird jedenfalls nicht beeinträchtigt, wenn man die erneute Zustimmungsbedürftigkeit nur in Fällen annimmt, bei denen die Wertgrenze durch die Änderung erneut berührt wird. Die Gegenthese lautet daher: Solange die (nicht vorhergesehene) Kostensteigerung nicht ihrerseits die Wertgrenze erreicht, ist eine erneute Zustimmung (nur unter dem Aspekt der Wertgrenze) nicht erforderlich.35 Wenn die Wertgrenze zugleich die ­Wesentlichkeit einer Abweichung der Maßnahme von der genehmigten Fassung ­kon­kretisiert, tragen These und Gegenthese den Anforderungen der Rechtssicherheit 33 Habersack in MünchKomm. AktG, § 111 Rz. 146. 34 Dem Zustimmungsbeschluss lagen insofern Kosten von rd. 1,4 Mio. Euro zugrunde; ausgegeben hat der Vorstand dann annähernd 3 Mio. Euro (s. BGH v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923, Rz. 9). 35 Insbesondere bei sehr hohen Wertgrenzen wird durch eine Kostensteigerung, welche die Wertgrenze nur knapp unterschreitet, häufig der Aspekt der Risikoerhöhung zu einer erneuten Zustimmungsbedürftigkeit führen.

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in gleicher Weise Rechnung. Dem hypothetischen Zustimmungswillen beim Fehlen konkreter Anhaltspunkte entspricht es sodann aber eher, dass unwesentliche Ab­ weichungen auch in Bezug auf Wertgrenzen möglich sein sollen, als dass umgekehrt jeder Euro an Mehrkosten die erneute Zustimmungsbedürftigkeit auslösen soll. Über­zeugender erscheint es mit anderen Worten, Kostensteigerungen unter dem Aspekt der Zustimmungsbedürftigkeit nicht anders zu behandeln als sonstige Änderungen, zumal die Wertgrenze eben auch zur Konkretisierung der Wesentlichkeit einer ­Änderung herangezogen werden kann. Dies gilt umso mehr, als es dem Aufsichtsrat selbstverständlich unbenommen bleibt, den Rahmen für Mehrkosten in seiner Zustimmungsentscheidung einzuschränken und die erneute Befassung schon dann anzuordnen, wenn die Steigerung innerhalb der Wertgrenze bleibt  – denn hierdurch erübrigt sich die Suche nach dem hypothetischen Willen. Und selbstverständlich sind für die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens konkrete Anhaltspunkte dafür zu berücksichtigen, dass es sich bei dem einmal gebilligten Volumen um eine „absolute Obergrenze“ handeln soll. Fehlen aber solche Hinweise, wird man auch hinsichtlich von Kostensteigerungen unwesentliche Änderungen als vom Zustimmungswillen erfasst ansehen müssen. Unabhängig hiervon kann eine Änderung des gebilligten Projekts aber auch aus anderen Gründen eine wesentliche Risikosteigerung für die Gesellschaft bewirken und deshalb der erneuten Zustimmung bedürfen; die Maßgeblichkeit des Aspekts der Risikoerhöhung ergibt sich hierbei unmittelbar aus der Funktion des Zustimmungs­ vorbehalts, den Vorstand bei risikoreichen Geschäften bzw. Entscheidungen zu kon­ trollieren.36 Sind also aufgrund einer Auslegung des Zustimmungsbeschlusses keine konkreteren Vorgaben erkennbar, so wird allgemein man davon ausgehen können, dass die bisherige Zustimmung eine Änderung abdeckt, die nicht zu einer wesentlichen Risikosteigerung führt. In dem vom BGH entschiedenen Fall lag die Risikosteigerung freilich deshalb auf der Hand, weil das Gesamtvorhaben nicht nur durch die erhebliche Steigerung der geschätzten Gesamtkosten, sondern auch durch den Verzicht auf die Renovierung der Nebengebäude, die hierdurch unverwertbar wurden, nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben war. Auch erhebliche negative Auswirkungen einer Planänderung auf die Wirtschaftlichkeit sind in diesem Sinne also als risikosteigernd zu bewerten. c) Fazit Zunächst ist im Wege der (einfachen) Auslegung der (auch immanente) Inhalt des Zustimmungsbeschlusses zu ermitteln. So wie der Aufsichtsrat seine Einwilligung generalisieren kann, kann er den Vorstand mit der Zustimmung auch zu Abweichungen von der ursprünglichen Planung ermächtigen bzw. kann er sich auf die Billigung bestimmter Grundzüge beschränken, weil beispielsweise Details noch offen sind, und dem Vorstand hierdurch einen Gestaltungsspielraum bei der konkreten Ausführung einräumen. Umgekehrt kann er den Handlungsspielraum auch einschränken und 36 Etwa Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 118; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 42 f.

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eine erneute Vorlage der geänderten Maßnahme unter bestimmten Voraussetzungen explizit anordnen. Manchen Zustimmungsgegenständen kann die Unzulässigkeit von Änderungen ausnahmsweise immanent sein, so dass von vornherein jede Änderung der gebilligten Planung der erneuten Zustimmung bedarf, so insbesondere bei Personalentscheidungen:37 Soll etwa statt des A nunmehr B zum Vorstandsmitglied bei einer Tochtergesellschaft bestellt werden, unterliegt diese Änderung der erneuten Bestellung, ohne dass es auf den sonst maßgeblichen Aspekt der Risikoerhöhung ankommt. Soweit die einfache Auslegung nicht weiterhilft, ist der Inhalt der Zustimmungsentscheidung im Wege der ergänzenden Auslegung zu bestimmen. Insbesondere bei den praktisch sehr häufigen Wertgrenzen ist der hypothetische Wille im Zweifel dahin zu bestimmen, dass der Vorstand bei Kostensteigerungen, die ihrerseits die Wertgrenze nicht überschreiten, keiner erneuten Zustimmung für die Maßnahme bedarf. Hiervon unabhängig, ist von einem erneuten Zustimmungsbedarf in der Regel dann auszugehen, wenn die geänderte Planung zu einer wesentlichen Risikoerhöhung führt. Dieser Aspekt wird bei sehr hohen Wertgrenzen häufig auch dann relevant bleiben, wenn die nicht vorhergesehene Kostensteigerung (knapp) unterhalb der Wertgrenze bleibt. Wie der vom BGH entschiedene Fall zeigt, sind auch wesentliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit des bereits gebilligten Projekts als relevante Risikosteigerung zu bewerten.

IV. Zusammenfassung in Thesen   1. Begreift man die Zustimmung gem. §  111 Abs.  4 AktG als ein Instrument der präventiven Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat, so führt dies konsequentermaßen zum Ausschluss der Genehmigung und dem Erfordernis einer vor dem Geschäft erteilten Zustimmung.  2. Eine deutliche Relativierung dieses Grundsatzes hat allerdings der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens zur Folge, den der II. Senat mit guten Gründen auch bei fehlender Zustimmung zugelassen hat. Danach steht dem Vorstand nämlich der Nachweis einer hypothetischen Einwilligung offen, und hierfür hat eine erteilte Genehmigung regelmäßig indizielle Wirkung. Im Ergebnis wirkt die Genehmigung daher in der Regel wie eine Einwilligung, allerdings handelt der Vorstand auf eigenes Risiko, da der Aufsichtsrat die Genehmigung nicht erteilen muss.   3. Die vom II. Senat offengelassene und in der Literatur umstrittene Frage, ob Satzung oder Aufsichtsrat anstelle einer Einwilligung auch die nachträgliche Genehmigung ausreichen lassen können, ist richtigerweise im Grundsatz zu bejahen. Es handelt sich um eine inhaltliche Änderung des Zustimmungsvorbehalts, die dem Aufsichtsrat im gleichen Rahmen möglich ist wie die Erteilung einer Generalein-

37 Entspricht Nr. 9 des bei Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, § 3 Rz. 118, beispielhaft aufgeführten Katalogs.

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willigung. Allerdings darf der Aufsichtsrat das Einwilligungserfordernis nicht generell in diesem Sinne ersetzen.   4. Die vom BGH offengelassene und von einer beachtlichen Zahl von Autoren verneinte Frage, ob in Eilfällen die nachträgliche Zustimmung ausreicht, stellt sich in dieser Form nicht. Genehmigt der Aufsichtsrat ein eilbedürftiges Geschäft noch, so ist damit in der Regel zugleich der Nachweis einer hypothetischen Einwilligung geführt. Relevant sind Sonderregeln für die Eilbedürftigkeit also nur dann, wenn der Aufsichtsrat eine Genehmigung ablehnt oder gar nicht befasst wird.   5. Sofern tatsächlich ein Eilfall vorliegt, ist der Vorstand ausnahmsweise auch ohne Zustimmung entlastet, und zwar selbst dann, wenn er nicht zuvor den Aufsichtsratsvorsitzenden eingeschaltet hat; er trägt aber das Risiko, den Eilfall zu Unrecht angenommen zu haben. In diesem Fall dürfte der Nachweis der hypothetischen Einwilligung in der Regel nur noch in Betracht kommen, wenn der Aufsichtsrat die Genehmigung nicht verweigert hat.   6. Die Zustimmung gem. §  111 Abs.  4 S.  2 AktG obliegt dem Gesamtorgan, das durch Beschluss und somit ausdrücklich über einen konkreten Antrag zu entscheiden hat (§ 108 Abs. 1 AktG). Die Zustimmung kann (durch die Satzung bzw. das Plenum) zwar auf einen Ausschuss delegiert werden (§  107 Abs.  3 AktG), nicht jedoch auf den Aufsichtsratsvorsitzenden.   7. Die formlose Billigung durch einen Alleinaktionär bleibt wegen § 93 Abs. 4 S. 1 AktG in der Regel wirkungslos; möglich bleibt der Einwand des Rechtsmissbrauchs, der aber nicht allein auf die Billigung gestützt werden kann.   8. Die Reichweite einer bereits erteilten Zustimmung ist vorrangig im Wege der (einfachen) Auslegung zu ermitteln, für die auch der (auch immanente) Inhalt des Zustimmungsbeschlusses zu berücksichtigen ist. So wie der Aufsichtsrat seine Einwilligung generalisieren kann, kann er den Vorstand durch den Zustimmungsbeschluss auch zu Abweichungen von der ursprünglichen Planung ermächtigen bzw. kann sich auf die Billigung bestimmter Grundzüge beschränken und dem Vorstand hierdurch einen Gestaltungsspielraum bei der konkreten Ausführung einräumen. Umgekehrt kann er den Handlungsspielraum aber auch einschränken und eine erneute Vorlage der geänderten Maßnahme unter bestimmten Voraussetzungen explizit anordnen.   9. Soweit die einfache Auslegung kein konkretes Ergebnis erbringt, ist der Inhalt der Zustimmungsentscheidung im Wege der ergänzenden Auslegung zu bestimmen, also der hypothetische Wille des Aufsichtsrats zu ermitteln. Insbesondere bei den praktisch sehr häufigen Wertgrenzen ist er im Zweifel dahin zu bestimmen, dass der Vorstand die Maßnahme bei unwesentlichen Kostensteigerungen nicht erneut um Zustimmung nachzusuchen braucht. Die Wesentlichkeit einer Erhöhung ist ihrerseits unter Rückgriff auf die jeweils einschlägige Wertgrenze zu konkretisieren. Solange daher die Kostensteigerung nicht ihrerseits die Wertgrenze erreicht, ist eine erneute Zustimmung nicht erforderlich.

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10. Hiervon unabhängig, ist von einem erneuten Zustimmungsbedarf regelmäßig dann auszugehen, wenn die geänderte Planung zu einer wesentlichen Risikoerhöhung führt; das ist insbesondere auch dann der Fall, wenn die Wirtschaftlichkeit einer beschlossenen Maßnahme durch die Änderung in erheblichem Maße nachteilig beeinflusst wird.

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Compliance-Pflicht als Loyalitätspflicht – weist Delaware einen Weg zur Haftungsbegrenzung ohne Übernahme des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur Übertragung des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs 1. Streitstand 2. Nachlese: Begründbarkeit eines Haftungsprivilegs für Vorstandsmitglieder durch Rechtfortbildung in Anlehnung an das Haftungsprivileg für Arbeitnehmer? 3. Zwischenergebnis III. Compliance-Pflicht als Treuepflicht? – Rechtsvergleich zu Delaware 1. Die gegenwärtige rechtliche Behandlung in Deutschland: Compliance-Pflicht als Sorgfaltspflicht nach § 93 I AktG

2. Die rechtliche Behandlung der Compliance-Pflicht (director oversight duty) in Delaware: duty of loyalty a) Begriffliches b) Caremark: Compliance-Pflicht als (scheinbare) duty of care c) Stone v Ritter: Compliance-Pflicht als duty of loyalty d) Zur praktischen Anwendung der ­Caremark-Haftung 3. Schlussfolgerungen aus dem Rechts­ vergleich IV. Schluss

I. Einleitung Die Compliance-Pflicht des Vorstandes erregt nach wie vor die Gemüter. Bekanntlich hatte sich die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 70. Deutschen Juristentages, wie üblich unter tatkräftiger Mitwirkung des Jubilars, ausführlich mit der Problematik befasst. Die intensive Diskussion drehte sich um zwei diametral entgegengesetzte, aber doch durch eine gemeinsame Achse verbundene Pole. Die extreme Schärfe der potentiell „existenzvernichtenden“1 Compliance-Haftung einerseits, ihr mangelhaftes Enforcement in der spezifisch deutschen Corporate Governance Arithmetik andererseits. Auf den Punkt gebracht heißt das: In der Praxis greift die Compliance-Haftung viel zu selten, dann aber viel zu scharf. Was nun die übermäßige Schärfe anging, optierten die Delegierten im Anschluss an das Gutachten Gregor Bachmanns nahezu einhellig für eine de-lege-ferenda-Lösung: die Zulassung satzungsmäßiger Haftungserleichterungen in der Aktiengesellschaft unter Durchbrechung der Satzungsstrenge.2 Auch der Jubilar schloss sich diesem Peti1 Zu dieser aus dem gewohnten Durchgriffskontext gelösten, einprägsamen Diktion siehe z.B. G. M. Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1396 f.; Ph. Scholz, Die existenzvernichtende Haftung von Vorstandmitgliedern in der Aktiengesellschaft, 2014. 2 Beschluss Nr. 2 der Abteilung Wirtschaftsrecht des 70. DJT Hannover 2014.

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tum an.3 Ungeachtet der grundsätzlichen Bedenken hiergegen4 war jedoch von vornherein klar, dass gesetzgeberische Aktivität zur Rettung von Managern in der (immer noch aktuellen) politischen Großwetterlage nicht zu erwarten war. Schon während der Verhandlungen in Hannover hatte Heribert Hirte dies aus seiner Warte als MdB in einem Redebeitrag zuverlässig prognostiziert. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich die Suche nach Lösungsmöglichkeiten de lege lata noch nicht erledigt hat. Im Gegenteil: Mit der juristischen Aufarbeitung von „Dieselgate“ am Horizont dürfte sich die Suche erneut intensivieren. Einen vereinzelten Vorschlag, wonach eine übermäßige, mit seinem (hohen) Einkommen keinesfalls mehr korrelierte Haftung aus § 93 AktG ein tätigkeitsspezifisches Schadensrisiko darstellt, für welches das Vorstandsmitglied nach § 670 BGB (direkt oder analog) Ersatz verlangen kann, hatte der Verfasser dieser Zeilen bereits in der Diskussion des Juristentags unterbreitet und in der Folge publiziert.5 Er liegt teleologisch auf einer Linie mit den zunehmenden Initiativen, welche die richterrechtlichen Grundsätze zum Haftungsprivileg der Arbeitnehmer auch für die Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften in Ansatz bringen wollen, unterscheidet sich aber in der dogmatischen Begründung. Die rechtsfortbildende Übernahme der Haftungsprivilegierung von Arbeitnehmern auf die Haftung des Vorstandes gegenüber der Aktiengesellschaft nach §  93 AktG hat gewichtige Befürworter, begegnet indes auch erheblichen methodischen Bedenken. Darauf hat nicht zuletzt der Jubilar hingewiesen.6 Setzte sich die Haftungsbeschränkung durch, wäre die Problematik praktisch erledigt. Da dies jedoch, wie zu zeigen wird, keineswegs sicher zu erwarten steht (sub II.), bleibt die Suche nach alternativen Lösungswegen, um die Haftungserleichterung de lege lata zu erreichen, für alle diejenigen, welche dieses Ziel mit dem Verfasser grundsätzlich ­befürworten, eine drängende Aufgabe. In diesem Sinne will der hiesige Beitrag eine neue Perspektive eröffnen (sub III.). Sie ergibt sich aus einer unterschiedlichen tat­ bestandlichen Konturierung der Compliance-Pflicht. Sie wird derzeit allgemein der Sorgfaltspflicht zugeordnet, könnte aber mit Blick auf das Beispiel Delawares in Wahrheit eine Treuepflicht mit dem ganz abweichendem Haftungsmaßstab der Bösgläubigkeit (bad faith) sein.

II. Zur Übertragung des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs 1. Streitstand Für Arbeitnehmer gilt bei betrieblich veranlasster Tätigkeit ein Haftungsprivileg.7 Für Schäden infolge leichter Fahrlässigkeit haften sie überhaupt nicht. Bei normaler Fahr3 E. Vetter, NZG 2014, 921, 926. 4 Bayer, NJW 2014, 2546, 2548. 5 Schall, JZ 2015, 455.  6 E. Vetter, NZG 2014, 921. 7 BAG (GS) v. 27.9.1994 − AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers, BAGE 78, 56 = NJW 1995, 210 = NZA 1994, 1083; BeckOK ArbR/Hesse, 50. Edn. Stand 1.12.2018, § 619a BGB Rz. 6. Zur früheren Begrenzung auf gefahrgeneigte Tätigkeit siehe noch BAGE 57, 55 = NZA 1988, 579 = NJW 1988, 2816.

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lässigkeit kommt es grundsätzlich zur Schadensteilung und bei grober Fahrlässigkeit zur vollen Haftung, wobei aber auch hier ein flexibler Standard herrscht, der insbesondere den Umfang des Schadens berücksichtigt. Diese Rechtsfolgenlösung erscheint auch für die Problematik der existenzvernichtenden Managerhaftung angemessen. Daher spricht sich mittlerweile eine beachtliche Anzahl von Autoren im Ergebnis dafür aus, diese Grundsätze auf die Haftung der Organmitglieder zu übertragen.8 Dabei werden überwiegend originär gesellschaftsrechtliche Begründungen auf Grundlage der Treuepflicht bemüht,9 teils wird aber auch die analoge Übertragung der richterrechtlichen Grundsätze des Arbeitsrechts gefordert.10 Beide Ansätze begegnen allerdings durchgreifenden methodischen Bedenken. Die Heranziehung der Treuepflicht widerspricht deren eigentlicher Stoßrichtung im Verhältnis von Organ und Gesellschaft. Grundlage der Treupflichtbindung von Organen ist der vielbeschworene principal-agent-conflict, der sich daraus ergibt, dass die Organe das Geld der Gesellschafter verwalten. Diese Pflichtbegründung ist aber eine Einbahnstraße. Die fiduciary duty schuldet der trustee dem beneficiary, nicht der beneficiary dem trustee. Das unterscheidet sie von der Treupflicht der Gesellschafter, die sich aus dem partnerschaftlichen Aspekt ihrer gemeinsamen Zweckverfolgung herleitet und daher allseitig und in jeder Richtung zwischen der Gesellschaft und jedem einzelnen ihrer Gesellschafter wirkt. Diesem Befund lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass Organmitglieder nur aus wichtigem Grund abberufen werden können (§ 84 III AktG), da dies keine Ausprägung der Fürsorgepflicht ist,11 sondern eine notwendige Corporate Governance Regelung zur Absicherung der Unabhängigkeit des Vorstandes nach §  76 AktG darstellt und ein etwaiges Fürsorgeverhältnis aus dem Anstellungsvertrag nicht berührt (vgl. § 84 III 5 AktG). Aber auch eine analoge Erstreckung des Richterrechts des BAG auf Organe erscheint unpassend. Zwar ist die rechtswissenschaftliche Methodenlehre längst über das Verdikt der fehlenden Analogiefähigkeit von Spezialregelungen hinweg gegangen. So wird etwa die analoge Erstreckung des auf die GmbH bezogenen Richterrechts zur Existenzvernichtungshaftung auf andere Körperschaften weithin bejaht.12 Allerdings fehlt es meiner Meinung nach bereits an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte als Grundvoraussetzung für eine Analogie.13 Arbeitnehmer gelten im Recht als weisungsgebunden, fremdbestimmt und persönlich abhängig („sozial unterlegen“). Diese Eigenschaften scheiden sie prinzipiell vom Organ.14 Im Deliktsrecht qualifizieren sie zum Verrichtungsgehilfen (§ 831 BGB) und grenzen sie vom organschaftlichen Vertreter 8 Bachmann, ZIP 2017, 841; Wilhelmi, NZG 2017, 681; jeweils m.w.N.; früh schon G. M. Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1396 f. 9 Hopt/Roth in GroßkommAktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 398 ff.; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1804; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 51; Koch, AG 2014, 513, 515 ff.; Casper, ZHR 176 (2012), 617, 636 ff.; Spindler, AG 2013, 889, 894 f. 10 Namentlich G. M. Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1396 f.; Wilhelmi, NZG 2017, 681. 11 A.A. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 51. 12 Für Anwendung im Aktienrecht die ganz h.M., Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  1 Rz. 29 ff., 31 gegen Schall in FS Stilz, 2014, S. 537, 546 ff. 13 A.A. Wilhelmi, NZG 2017, 681, 686, Text mit Fn. 70. 14 BeckOK ArbR/Hesse, 50. Edn. Stand 1.12.2018, § 619a BGB Rz. 6. 

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ab (§ 31 BGB). Zwar ist die Trennlinie wohl nicht mehr ganz so scharf formal zu ziehen. So tendiert die h.M. im Arbeitsrecht mittlerweile dahin, auch leitende Ange­ stellte, welche auf Basis des funktionalen Verständnisses der Rechtsprechung als Repräsentanten der Gesellschaft nach §  31 BGB gelten könnten, in den Genuss des Haftungsprivilegs kommen zu lassen.15 An eine (methodisch höchst interessante) Analogie zum Richterrecht des Arbeitsrechts mag man daher beim weisungsunterworfenen GmbH-Fremdgeschäftsführer oder auch beim Vorstand einer Untergesellschaft im Vertragskonzern denken.16 Das sei hier aber nicht weiter von Interesse. Für den Regelfall eines weisungsfreien und unabhängigen Vorstandsmitglieds ist die Vergleichbarkeit jedenfalls nicht begründbar.17 Im methodischen Ansatz überzeugt hingegen Gregor Bachmann. Zutreffend weist er darauf hin, dass es nicht um eine analoge Heranziehung des arbeitnehmerbezogenen Richterrechts geht, sondern um die Begründung einer im Ergebnis (Haftungsmilderung) übereinstimmenden Rechtsfortbildung für Organmitglieder.18 Diese Vorgehensweise vermeidet elegant den naheliegenden Einwand fehlender Vergleichbarkeit. Sie unterscheidet sich im weiteren Verlauf praktisch dann aber gar nicht mehr so sehr. Denn natürlich muss auch hier im Ausgangspunkt der Blick auf die genaue Begründung des Arbeitnehmerhaftungsprivilegs gerichtet werden. Da es um Richterrecht geht, ist bei der grundlegenden Entscheidung des BAG anzusetzen, mit welcher der heutige Stand (Erstreckung auf alle betrieblich veranlassten Tätigkeiten) erreicht und ausführlich begründet wurde. Anhand dessen ist in der Folge zu untersuchen, ob es ein in der Wirkungsweise entsprechendes Haftungsprivileg für Vorstandsmitglieder geben kann. 2. Nachlese: Begründbarkeit eines Haftungsprivilegs für Vorstandsmitglieder durch Rechtfortbildung in Anlehnung an das Haftungsprivileg für Arbeitnehmer? Ursprünglich galt das Haftungsprivileg der Arbeitnehmer für gefahrgeneigte Tätigkeit.19 Es war bereits zu Zeiten des Reichsgerichts begründet worden.20 Es wurde „aus 15 BAG, NJW 1977, 598 gegen BGH, VersR 1969, 474 und BGH, NJW 1970, 34; dann auch BGH, NJW 2001, 3123, 3124; BeckOK ArbR/Hesse, 50. Edn. Stand 1.12.2018, § 619a BGB Rz. 6; Bachmann, ZIP 2017, 841, 843 m.w.N. in Fn 25. 16 In der Sache ähnlich Fritz, NZA 2017, 673, 679: „Diese Aspekte einer Haftungsbegrenzung (Arbeitnehmerhaftungsprivileg und Haftungshöchstgrenze) sind auf Führungskräfte in Organfunktionen übertragbar, wenn sich herausstellt, dass sie bei der schädigenden Pflichtverletzung einer Abhängigkeit unterworfen waren, die der eines weisungsgebundenen Arbeitnehmers entspricht“; bez. GmbH-Geschäftsführer auch BeckOK ArbR/Hesse, 50. Edn. Stand 1.12.2018, § 619a BGB Rz. 6. 17 Zutreffend E. Vetter, NZG 2014, 921, 922. 18 Bachmann, ZIP 2017, 841, 846 mit Fn. 72 im Anschluss an Ph. Scholz, Die existenzvernich­ tende Haftung von Vorstandmitgliedern in der Aktiengesellschaft, 2014, S. 269. In der Vorgehensweise ähnlich aber auch Wilhelmi, NZG 2017, 681, 686. 19 BAGE 57, 55 = NZA 1988, 579 = NJW 1988, 2816. 20 RAG, RAS 30, 1 sowie 41, 259.

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der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Arbeitsgemeinschaft und der vom Arbeitgeber zu tragenden Betriebsgefahr hergeleitet.“21 In der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1994 wurde das Privileg auf sämtliche betrieblich veranlasste Tätigkeiten erstreckt und dabei erneut und ausführlicher begründet. Zunächst äußerte das BAG zur Aufgabe der Beschränkung auf Gefahrgeneigtheit: BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89, NZA 1994, 1083, 1084: „Der Große Senat hält es für geboten, diese Beschränkung der Haftungserleichterung aufzugeben, weil sonst Arbeitnehmer, die keine gefahrgeneigte Tätigkeit ausüben, bei Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten grundsätzlich den gesamten Schaden des Arbeitgebers tragen müßten. Dies ist im Hinblick auf das dem Arbeitgeber auch bei nicht gefahrgeneigter Arbeit zuzurechnende Betriebsrisiko und seine Befugnis zur Organisation des Betriebs und zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht gerechtfertigt.“

Als entscheidender Grund für die Haftungserleichterung wurde das Betriebsrisiko des Arbeitgebers angesehen, das nach § 254 I BGB schadensmindernd zu berücksichtigen sei. Wäre damit die Zusammengehörigkeit von Gewinnchance und Verlustrisiko gemeint, müsste eine Kapitalgesellschaft im Verhältnis zu Organmitgliedern ebenfalls den Schaden mittragen.22 Denn Arbeitgeber ist die AG, nicht ihr Vorstand. Von den Geschäften profitiert die AG mit ihren Aktionären. Diesen Aspekt hat das BAG allerdings so niemals formuliert.23 Das BAG hängte das „Betriebsrisiko“ erklärtermaßen nicht an den Gewinnchancen des Arbeitnehmers auf, sondern an der Organisationshoheit und der Befugnis zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen.24 Die Organisationshoheit als Ratio des Haftungsprivilegs der Arbeitnehmer ist auf den Vorstand der Aktiengesellschaft nicht übertragbar. Zwar ist zuzugeben, dass eine rein formale Anknüpfung an die Organeigenschaft die Problematik nicht erschöpft.25 Das zeigt der Blick auf die Abgrenzung von § 31 BGB und § 831 BGB ebenso wie der Vergleich von leitenden Angestellten mit Fremdgeschäftsführern der GmbH und Geschäftsleitern, deren Gesellschaft im Vertragskonzern einem Beherrschungsvertrag unterworfen ist. Doch keine denkbare Relativierung in Spezialfällen kommt am Ende daran vorbei, dass in der Aktiengesellschaft die Organisationshoheit über den Betrieb ausschließlich in der Hand des Vorstandes liegt und nicht bei Gesellschaft oder gar Hauptversammlung. Schon das dürfte einer rechtsfortbildenden Haftungsprivilegierung des Vorstandes unter dem Aspekt des Betriebsrisikos den Boden entziehen.26 Im nächsten Schritt kommt das BAG auf die Frage der Regelungslücke zurück, welche ihm erst die Befugnis zur Rechtsfortbildung verschafft. 21 BAGE 5, 1 = NJW 1958, 235, 236 mit Verweis auf RAG, RAS 30, 1 und 41, 259. 22 Vgl. Wilhelmi, NZG 2017, 681, 686. 23 Auch nicht mit dem „Äquivalenzgedanken“, siehe dazu unten im Text. 24 Siehe nachfolgend insbesondere BAG, NZA 1994, 1083, 1085. 25 So aber BGH, WM 1975, 467; siehe auch BGHZ 89, 153 = NJW 1984, 789, 790.  Gegen pauschales Abstellen auf Organeigenschaft überzeugend Bachmann, ZIP 2017, 841, 842 ff.; Wilhelmi, NZG 2017, 681, 686.  26 Insoweit zu Recht auch BGHZ 89, 153 = NJW 1984, 789, 790 mit Verweis auf Canaris, RdA 1966, 48.

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Alexander Schall BAG NZA 1994, 1083, 1084: „Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches enthalten keine geschlossene Regelung des Arbeitsvertragsrechts …. Schon bei Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuches ging man hinsichtlich der Arbeitnehmerhaftung von einer Gesetzeslücke aus. … Das Bedürfnis dafür wurde im Laufe der Zeit immer drängender. … Hielten sich früher die vom Arbeitnehmer verursachten Schäden noch in Grenzen, so können inzwischen schon geringe Fehler wegen des erheblich höheren Wertes der vom Arbeitgeber eingesetzten Betriebsmittel zu außerordentlich hohen Haftungssummen führen. Die vom Bürgerlichen Gesetzbuch von Anfang an vorhandene Regelungslücke wurde von der Rechtsprechung mit Hilfe der Haftungsgrundsätze bei gefahrgeneigter Arbeit … ausgefüllt. Die entsprechenden Haftungsbeschränkungen erweisen sich jedoch als unzureichend, um den geänderten betrieblichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Der Arbeitnehmer kann auch bei nicht gefahrgeneigten Tätigkeiten in der heutigen Arbeitswelt einem unzumutbar hohen Schadensrisiko ausgesetzt sein.“

Das BAG rekurriert zunächst auf das bereits in den Materialien angesprochene Fehlen eines Arbeitsvertragsrechts als Rechtfertigung der Rechtsfortbildung. Das ursprüngliche Dienstvertragsrecht des BGB enthielt ja noch nicht einmal eine Haftungsanordnung, geschweige denn eine Regelung zu deren Privilegierung. Demgegenüber enthält das AktG seit jeher eine ausdrückliche Haftungsregelung für den Vorstand.27 Schon deshalb ist eine unbewusste Regelungslücke im einfachen Gesetzesrecht kaum begründbar.28 Diesem Befund kann man auch nicht entgegen halten, dass das BAG in seinem Urteil auf die geänderten Verhältnisse in der modernen Arbeitswelt abgehoben hat.29 Zwar stimmt schon, dass die heutigen Haftungsrisiken des Vorstandes (und des Aufsichtsrates!) durch die zunehmende Regulierung samt Sanktionierung z.B. im Wettbewerbs-, Umwelt-, Aufsichts- oder Kapitalmarktrecht extrem angewachsen sind. Doch das Argument des Zeitenwandels rechtfertigte, wie sich aus der eben zitierten Textstelle ergibt, nicht die Rechtsfortbildung „Haftungsprivileg“ an sich, sondern ausschließlich ihre spätere Ausdehnung auf alle betrieblich veranlassten Tätigkeiten.30 Es ging um die Befugnis zur Rechtsänderung, die nur haben kann, wer schon die Recht­ setzungskompetenz hat. Vor allem aber unterschätzen die Befürworter der Übertragung, dass die Organhaftung des Aktienrechts mit ihrem Fahrlässigkeitsmaßstab von Gesetzes wegen zwingend ausgestaltet (§§ 93 I 1, 23 V AktG) und umfassend gegen privatautonome Abmilderung abgesichert ist (§  93 III 2 und 3 AktG). Das betrifft nicht bloß die „Detailliertheit“ der Ausgestaltung.31 So hatte das BVerfG kürzlich judiziert:

27 Diesem Argument aus der Gesetzesbindung lässt sich ersichtlich nicht entgegen halten, dass die Regelungslücke im Dienstvertragsrecht durch das Richterrecht der pVV geschlossen worden ist, so aber Wilhelmi, NZG 2017, 681, 685; Bachmann, ZIP 2017, 841, 846. 28 Richtig MüKoGmbHG/Fleischer, 3.  Aufl. 2019, §  43 Rz.  256; MüKoBGB/Henssler, BGB § 619a Rz. 19. 29 So aber Wilhelmi, NZG 2017, 681, 685. 30 BAG v. 27.9.1994  – GS 1/89, NZA 1994, 1083, 1084: „Die entsprechenden Haftungsbeschränkungen erweisen sich jedoch als unzureichend, um den geänderten betrieblichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Der Arbeitnehmer kann auch bei nicht gefahrgeneigten Tätigkeiten in der heutigen Arbeitswelt einem unzumutbar hohen Schadensrisiko ausgesetzt sein.“ 31 So aber Wilhelmi, NZG 2017, 681, 685. Siehe auch Paefgen, AG 2014, 554, 568.

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Compliance-Pflicht als Loyalitätspflicht BVerfG v. 23.5.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, NJW-RR 2016, 1366, LS 2: „Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. …“

Mit diesen Überlegungen zur fehlenden Lückenhaftigkeit des § 93 AktG auf der Ebene des einfachen Rechts ist freilich noch nicht gesagt, ob ein Verstoß gegen höher­ rangiges Recht vorliegt und die Korrektur des Gesetzes im Wege der verfassungskonformen Rechtsfortbildung legitimiert. Tatsächlich liefert die Begründung des BAG hierfür Munition: BAG v. 27.9.1994 – GS 1/89, NZA 1994, 1083, 1085: „Keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen … . Das gilt auch für die gesetzlichen Haftungsgrundsätze des Bürgerlichen Gesetzbuches. Mit ihren wirtschaftlichen Folgen wirken sie sich unter Umständen sehr einschneidend auf die allgemeine Lebensgestaltung und Berufsausübung der Schadenersatzpflichtigen aus. Damit berühren sie die Schutzbereiche des Art. 2 I GG und des Art. 12 I GG. … das Vertragshaftungsrecht … beruht … auf privatautonomen Entscheidungen. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Haftungsfolgen völlig frei wäre. Er muß vielmehr die objektivrechtlichen Vorgaben beachten und bei strukturellen Ungleichgewichtslagen schützend eingreifen, um einen angemessenen Ausgleich der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner zu ermöglichen …“

Das ist nun der Gedanke der privatautonomen Äquivalenzstörung.32 Das BAG greift ihn im Anschluss an die Bürgschaftsrechtsprechung des BVerfG33 auf. Es bezieht ihn aber nicht auf die Fremdnützigkeit des Handelns,34 mag diese auch hier wie dort im Hintergrund wirken, sondern darauf, dass das eingegangene Haftungsrisiko in keinem vernünftigen Verhältnis zu den vertraglichen Einkommensperspektiven steht und dadurch die Berufsfreiheit des Haftenden stranguliert. Unter diesem Aspekt kann natürlich auch die existenzvernichtende Managerhaftung an Art. 12 GG gemessen werden. Mit Blick auf Arbeitnehmer hielt das BAG „eine einseitige Belastung des Arbeitnehmers mit dem vollen Haftungsrisiko ohne Rücksicht auf das Betriebsrisiko des Arbeitgebers“ für verfassungswidrig. Mit Blick auf den Vorstand erscheint die einseitige, überdies zwingende Belastung mit dem gesamten Haftungsrisiko deshalb unangemessen, weil es um die Abwälzung eines Schadens geht, den primär die Aktiengesellschaft zu tragen hat, wenn und weil ihr die haftungsauslösenden Rechts­ verstöße ihrer Mitarbeiter zuzurechnen sind. Zur Erinnerung: Arbeitgeber ist die Gesellschaft! Für den Vorstand geht es in aller Regel nur um ein geringes eigenes Überwachungsverschulden mit culpa levissima, kraft dessen er dann in vollem Umfang für gravierendes Verschulden anderer der Gesellschaft zuzurechnender Personen haften soll. Die Unangemessenheit wird in diesen Fällen noch dadurch verschärft, dass der exorbitante Schadensumfang von Größe und Umsatzstärke der Gesellschaft abhängt. Die vorbeschriebene Ungleichgewichtslage zwischen Haftungsrisiko und Einkommen scheint mir genauso korrekturbedürftig wie diejenige zwischen Arbeit32 So bezeichnet in BAGE 101, 107 = NJW 2003, 377, 380. 33 BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36; später untermauert in BVerfGE 115, 51. 34 Missverständlich Wilhelmi, NZG 2017, 681, 688.

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nehmern und Arbeitgebern.35 Die mittlerweile bestehende Möglichkeit der Restschuldbefreiung, schließt diese Argumentation ebenso wenig aus, wie sie das richterrechtliche Haftungsprivileg des Arbeitsrechts überflüssig gemacht hat. 3. Zwischenergebnis Abhilfe gegen existenzvernichtende Managerhaftung lässt sich zwar im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG als verfassungsrechtliches Gebot zur Beseitigung einer massiven privatautonomen Äquivalenzstörung begreifen.36 Aber schon das muss als ungesichert gelten,37 ist doch das Verfassungsrecht ein weites Feld, welches Gesellschaftsrechtler traditionell weniger zu bestellen geneigt sind als Arbeitsrechtler. Erst recht unklar ist der Weg zur Umsetzung einer verfassungskonformen Lösung. Gegen jeden der divergierenden Ansätze zur richterrechtlichen Begründung eines Haf­ tungsprivilegs, das in Art und Umfang dem des Arbeitsrechts entspricht, lassen sich gravierende Bedenken ins Feld führen. Wichtige Motive wie die Fürsorgepflicht für Arbeitnehmer in ihrer sozial schwächeren Position, die Lückenhaftigkeit des Arbeitsvertragsrechts oder die Organisationshoheit des Arbeitgebers können für den Vorstand der AG von vornherein keine Geltung beanspruchen. Aber selbst wenn die ­Verfassung Abhilfe geböte, dürfte die Übernahme der arbeitsrechtlichen Rechtsfolgenlösung zu weit gehen. Denn sie würde das Organ ja immer von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit freizeichnen, selbst bei geringen Schäden, und so den gesetzlichen Haftungsmaßstab des § 93 AktG pauschal abändern.38 Eine pauschale Haftungserleichterung bei fremdnützigem Handeln kennt das BGB aber gerade nicht, wie das Auftragsrecht in den §§ 662 ff. BGB belegt. Diesen Einwand könnte die vom Verfasser vorgeschlagene Lösung über § 670 BGB (analog) vermeiden.39 Sie ginge nicht über das zur Abhilfe erforderliche Maß hinaus.40 Denn sie beschränkt sich auf übermäßige Haftungsrisiken. Nur insoweit erscheint das Haftungsrisiko als Aufwendung, für welche der Gedanke der Fremdnützigkeit, den auch die Befürworter der Haftungsprivilegierung als zentral erachten,41 Abhilfe fordert. Allerdings ist die Vorstellung, dass 35 I.E. übereinstimmend Bayer, NJW 2014, 2546, 2548 sowie Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 928, ebenfalls mit Verweis auf die Bürgschaftsrechtsprechung des BVerfG; a.A. Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1306 ff. 36 Vgl. Bayer, NJW 2014, 2546, 2548; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 928. 37 Zur Gegenposition siehe nur Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1306 ff. 38 Richtig E. Vetter, NZG 2014, 921, 922.  39 Schall, JZ 2015, 455. Im Rahmen seines Plädoyers zur Übernahme der Haftungsprivilegierung erscheint Bachmann, ZIP 2017, 841, 843 f. auch durchaus offen für die Anwendung des § 670; ebenso wohl Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 51, diese Lösung freilich als „umweghaft“ bezeichnend; ablehnend dagegen Wilhelmi, NZG 2017, 681, 690. 40 Vgl. auch BAG, NJW 1988, 2816, 2817 (gegen eine pauschale Haftungsfreistellung des Arbeitnehmers bei einfacher Fahrlässigkeit): „Außerdem würde diese richterliche Rechtsgestaltung sich vom geschriebenen Gesetz um mehr als das zur Rechtsverwirklichung im konkreten Fall unerläßliche Maß entfernen“. 41 In der Wertung mit dem Verfasser übereinstimmend Bachmann, ZIP 2017, 841, 843 f.; auch für Wilhelmi, NZG 2017, 681, 688 ist die Fremdnützigkeit ein entscheidender Faktor. Nicht freilich für das BAG, wie oben gezeigt.

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das Risiko aus der gesetzlichen Haftungsnorm des § 93 AktG gleichzeitig als eine Aufwendung angesehen werden könnte, für welche die durch diese Haftung begünstigte Gesellschaft Ersatz leisten solle, auch nicht leicht fassbar.42 Daher lohnt der nachfolgende Blick auf eine ganz andere Lösung, die am Tatbestand der Compliance-Pflicht ansetzt.

III. Compliance-Pflicht als Treuepflicht? – Rechtsvergleich zu Delaware 1. Die gegenwärtige rechtliche Behandlung in Deutschland: Compliance-Pflicht als Sorgfaltspflicht nach § 93 I AktG Die Compliance-Pflicht des Vorstandes einer AG, auch treffend bezeichnet als Legalitätskontrollpflicht,43 ist mittlerweile allgemein anerkannt.44 Ihre Grundlage wird in § 93 AktG gesehen, nicht etwa wie früher noch in § 91 II AktG.45 Im Rahmen des § 93 wird sie der unternehmerischen Sorgfaltspflicht (im Common law: duty of care) zugeschlagen.46 Das hat die Geltung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs zur Folge, der leichteste Fahrlässigkeit miteinschließt. Allerdings handelt es sich bei der Legalitätskontrollpflicht nach überwiegender Ansicht um eine Ableitung aus der Legalitätspflicht. Ihre Befolgung sei keine unternehmerische Ermessensentscheidung. Daher greife auch die Privilegierung durch die Business Judgement Rule nicht ein (keine „Legal Judgement Rule“).47 Zweifel an dieser zunehmend konsentierten Einordnung ergeben sich allerdings aus der Rechtsvergleichung. So hat die Rechtsprechung in der US-Leitjurisdiktion Dela42 Sehr kritisch etwa BeckOGK/Riesenhuber, Stand 1.1.2019, § 670 Rz. 62 mit Fn. 79, der einen solchen Gegenanspruch als „widersinnig“ empfindet – wofür ich durchaus Verständnis aufbringe, obwohl es natürlich nur um den Teil geht, der das Übermaßrisiko ausmacht, nicht um das Bestehen der Haftung schlechthin. 43 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  91 Rz.  47; MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 115; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 6c; Holle, Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014. 44 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 91 Rz. 47; Fleischer, NZG 2014, 321 ff.; Fleischer, CCZ 2008, 1, 2 ff.; MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 91 Rz. 52; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 6c; Verse ZHR 175 (2011), 401, 403 ff.; Holle, Legalitätskon­ trolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, S. 59 ff. 45 Fleischer, NZG 2014, 321, 322; MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 115; eingehend Holle, Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, S. 18 ff, 36 ff.; offenlassend LG München I, NZG 2014, 345 – Siemens/Neubürger. 46 MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 115; Holle, Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, S. 36 ff. 47 Hüffer/Koch, § 93 Rz. 19 (s. aber auch Rz. 6c: „breiter Beurteilungsspielraum“); Koch, NZG 2014, 934, 938  f.; Koch, FS Bergmann, 2018, S.  413: „Fall für die Wolfsschlucht“; Bayer, NJW 2014, 2546, 2548; Verse, ZGR 2017, 174, 192; Holle, Legalitätskontrolle im Kapitalgesellschafts- und Konzernrecht, 2014, S. 62 ff.; hochstr., a.A. etwa Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 29 ff.; MüKoAktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 75 ff.; Paefgen, WM 2016, 433, 436.

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ware einen Paradigmenwechsel vollzogen und die Compliance-Pflicht tatbestandlich als duty of good faith eingestuft, welche sie anschließend der duty of loyalty zugeschlagen hat. Wie die nachfolgende Analyse zeigt, hatte dies auf Ebene des Vertretenmüssens eine massive Privilegierungswirkung zur Folge. 2. Die rechtliche Behandlung der Compliance-Pflicht (director oversight duty) in Delaware: duty of loyalty a) Begriffliches Zunächst gilt es, die Begrifflichkeiten zu ordnen. Die duty of loyalty oder Loyalitätspflicht entspricht in etwa unserer Treuepflicht des Geschäftsleiters, die nach heute h.M. ein von seiner Sorgfaltspflicht zu unterscheidendes Pflichtenprogramm eta­ bliert.48 Allerdings muss man bei der Terminologie der „Treuepflicht“ vorsichtig sein. Denn alle directors‘ duties des Common Law lassen sich im weiteren Sinn als „Treuepflichten“ auffassen und werden dementsprechend so bezeichnet (fiduciary duties), da sie dem Pflichtenprogramm des Treuhänders (trustee bzw. fiduciary) nachgebildet sind. Die Sorgfaltspflicht bzw. duty of care ist in der Dogmatik des Common Law ein – spät entwickelter – Unterfall dieser fiduciary duties, also der Treupflichten im weiteren Sinn, während bei uns gerade umgekehrt die Treupflicht einen – spät entwickelten49 – Unterfall der Sorgfaltspflicht als der Generalpflicht nach § 93 I AktG markiert. Dahinter stehen tief verwurzelte Rechtstraditionen. Für die Engländer war immer der Trust das Leitbild für das Verhältnis der Geschäftsleiter zur Gesellschaft, während die Deutschen der Treuhand die Anerkennung breitflächig versagten und stattdessen auf das vertragliche Dienst- bzw. Auftragsverhältnis blickten, innerhalb dessen natürlich die vertragliche Sorgfaltshaftung im Vordergrund steht. Die unterschiedliche Auffassung darüber, welches nun die „Mutterpflicht“ ist, führt nicht nur zu rein terminologischen Interferenzen, sondern kann letztlich die Abgrenzbarkeit der jeweiligen Pflichtenprogramme beeinflussen. Das wird der Blick auf die Entwicklung in den USA zeigen. Und der schillernde Begriff der „Treuepflicht“ offenbart sogar noch eine weitere Facette. Denn neben den Treuhänderpflichten (fiduciary duties) als Grundprogramm und der Loyalitätspflicht (duty of loyalty) als besonderer Ausprägung in Fällen von Interessenkonflikten, kennt das amerikanische Recht auch noch eine explizite Treu(und-Glaubens-)Pflicht: die duty of good faith. 50 Im Nachgang der Disney-Entscheidung,51 wo es spitz gesagt um Corporate Governance im römischen Kaiserstil ging („Konsul Pferd“), wurde das Lied der fiduciary duties in einem Dreiklang von duty of

48 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 113 ff. 49 Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 113 m.w.N. 50 Mel Eisenberg, “The Duty of Good Faith in American Corporate Law”, ECFR 2006, 1 ff. 51 In re Walt Disney Co. Derivative Litig., 906 A.2d 27, 62 (Del. 2006); dazu eingehend Mel Eisenberg, “The duty of Good Faith in American Corporate Law”, ECFR 2006, 1 ff.

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care, duty of loyalty und duty of faith intoniert.52 Doch auch das hat sich in Delaware mittlerweile geändert (siehe unter c). b) Caremark: Compliance-Pflicht als (scheinbare) duty of care Ausgangspunkt der Debatte ist der Caremark-Fall.53 Es ging um die Zeit der Überwindung der früher nicht nur in den USA verbreiteten Praxis von Pharmakonzernen, durch allerlei Gefälligkeiten gegenüber den maßgeblichen Institutionen (Krankenhäuser, Ärzte) den Absatz der eigenen Produkte zu befördern. Obwohl stets um Compliance bemüht, geriet Caremark International Inc. am Ende in eine Gesamthaftung von über $ 250 Mio. für Gesetzesbrüche von Angestellten. Diverse Anteilseigner brachten eine derivate claim, um die Direktoren wegen einer Verletzung ihrer duty of care für diese Summe gerade stehen zu lassen. Das blieb letztlich erfolglos.54 Obwohl der Fall als duty of care verhandelt wurde, bei welcher eigentlich ein negligence-­ standard gelten sollte, war bereits hier am Ende ausschlaggebend, dass den Direktoren keine Bösgläubigkeit (bad faith) hinsichtlich der Gesetzesverstöße in ihrer Gesellschaft nachgewiesen werden konnte. Das zeigen die Ausführungen von Chancellor Allen, der sich intensiv mit dem Umfang der von den Klägern postulierten Überwachungspflicht auseinandersetzt. Dem stand zunächst ein Leitfall aus dem Jahr 1963 im Wege, der einen allgemeinen Vertrauensgrundsatz aufgestellt und die Direktoren von jeder verdachtsunabhängigen, proaktiven Überwachung der Mitarbeiter freigezeichnet hatte:55 “absent cause for suspicion there is no duty upon the directors to install and operate a corporate system of espionage to ferret out wrongdoing which they have no reason to suspect exists.”

Dies wurde von Chancellor Allen allerdings nicht mehr als zeitgemäß empfunden. In aller Vorsicht, da es um bindendes Case Law des übergeordneten Delaware Supreme Court ging, zog er den Rahmen der Compliance-Pflicht daher neu: (sub II B 2): “How does one generalize this holding today? Can it be said today that, absent some ground giving rise to suspicion of violation of law, that corporate directors have no duty to assure that a corporate information gathering and reporting systems exists which represents a good faith attempt to provide senior management and the Board with information respecting material acts, events or conditions within the corporation, including compliance with applicable statutes and regulations? I certainly do not believe so…. Thus, I am of the view that a director’s obligation includes a duty to attempt in good faith to assure that a corporate information and reporting system, which the board concludes is adequate, exists, and that failure to do so under some circumstances may, in theory at least, render a director liable for losses caused by non-compliance with applicable legal standards.” 52 Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769 (2007) 1773 m.w.N. 53 In re Caremark International Inc Derivative Litigation 698 A.2d 959 (1996). 54 Die Gerichtsentscheidung wies die Klagen nicht unmittelbar ab, sondern mittelbar, indem sie ein proposed settlement als „fair and reasonable“ bestätigte, welches keine finanzielle Kompensation durch die Direktoren vorsah. 55 Graham v. Allis-Chalmers Mfg. Co., Del. Supr., 41 Del.Ch. 78, 188 A.2d 125 (1963), 130.

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Damit wurde die bis heute gültige Grundlage der US-amerikanischen Compliance-­ Pflicht geschaffen. Die Geschäftsleitung muss ein adäquates Überwachungssystem einrichten. Ohne Existenz eines solchen, ist der Haftung für bad faith wegen eines andauernden oder systematischen Aufsichtsverschulden nicht mehr zu entrinnen. Dementsprechend urteilte Chancellor Allen: (sub III A 2): “Failure to monitor: … Generally where a claim of directorial liability for corporate loss is predicated upon ignorance of liability creating activities within the corporation, as in Graham or in this case, in my opinion only a sustained or systematic failure of the board to exercise oversight such as an utter failure to attempt to assure a reasonable information and reporting system exits will establish the lack of good faith that is a necessary condition to ­liability.”

Wie er im nächsten Satz ausführt, wird die hohe Schwelle der Bösgläubigkeit bewusst eingezogen, um das Haftungsrisiko redlicher Direktoren nicht zu überspannen und ein Äquivalent zur Haftungsmilderung durch die Business Judgement Rule zu geben, deren Geltung sich, wie an früherer Stelle im Urteil ausgeführt,56 auf aktives Handeln durch board decisions beschränkt und keine Unterlassungen erfasst. “Such a test of liability lack of good faith as evidenced by sustained or systematic failure of a director to exercise reasonable oversight is quite high. But, a demanding test of liability in the oversight context is probably beneficial to corporate shareholders as a class, as it is in the board decision context, since it makes board service by qualified persons more likely, while continuing to act as a stimulus to good faith performance of duty by such directors.”

Der Zweck dieser Einstufung ist eine Begrenzung des Haftungsrisikos. Zwar sind die 1960er Jahre mit ihrer völligen Haftungsfreistellung passé. Die Folgen von Compli­ ance-Verstößen können einfach zu fatale Folgen für die Gesellschaft haben. Dennoch soll die erweiterte Verantwortung nicht zu einer Überforderung der Direktoren führen, die sich in der Regel nur mit den Grundsatzfragen und nicht mit den Details eines US-weit oder gar weltweit verzweigten Alltagsgeschäfts befassen können. Zu diesem Balanceakt erneut Chancellor Allen: “Most of the decisions that a corporation, acting through its human agents, makes are, of course, not the subject of director attention. Legally, the board itself will be required only to authorize the most significant corporate acts or transactions: mergers, changes in capital structure, fundamental changes in business, appointment and compensa­tion of the CEO, etc. As the facts of this case graphically demonstrate, ordinary business decisions that are made by officers and employees deeper in the interior of the organization can, however, vitally affect the welfare of the corporation and its ability to achieve its various strategic and financial goals.”

56 Das wird zuvor ausgeführt, siehe sub II B 1: “First, such liability may be said to follow from a board decision that results in a loss because that decision was ill advised or “negligent”. Second, liability to the corporation for a loss may be said to arise from an unconsidered failure of the board to act in circumstances in which due attention would, arguably, have prevented the loss. … The first class of cases will typically be subject to review under the director-protective business judgment rule…”

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Zur vollständigen Geschichte von Caremark gehört freilich auch der Hinweis auf section 102(b)(7) Delaware Corporations Act. Diese Norm führte im Jahr 1986 die Möglichkeit satzungsmäßiger Haftungsbeschränkung ein, wie sie nun für Deutschland gefordert wird.57 Sie nahm aber Treupflichtverstöße aus. Die Haftungsbefreiung wirkte somit vor allem bei fahrlässiger Verletzung der duty of care. Dies zeitigte natürlich eine Ausweichbewegung der Corporate Litigator auf Treupflichtverstöße.58 Mit gewissem Recht könnte man Caremark daher nicht als Haftungsprivilegierung, sondern gerade umgekehrt als Versuch einer Haftungsverschärfung ansehen, mit der die satzungsmäßigen Freizeichnungen überwunden werden sollten. Wie aus dem obigen Zitat erhellt, war das aber nicht die Stoßrichtung des Urteils von Chancellor Allen. Er wollte erklärtermaßen eine zu scharfe Haftung in gedanklichem Gleichlauf mit der Business Judgement Rule vermeiden,59 nicht etwa die (zu) weitreichende Abdingbarkeit der Haftung einschränken. Die Gestaltungsmöglichkeiten nach section 102(b)(7) spielen für seine Erwägungen keine Rolle. Zusammengefasst lässt sich sagen: Zwar wurde Caremark als Fall der duty of care verhandelt. Bei genauer Draufsicht stellte aber bereits diese Entscheidung aus dem Jahr 1996 die Weichen zu der Einstufung der Compliance-Pflicht als „Treuepflicht“, genauer einer duty of good faith, die nur durch bösgläubige Direktoren verletzt werden konnte.60 Der konsequente Vollzug dieser Umqualifikation folgte dann 10 Jahre später in Stone v Ritter. c) Stone v Ritter: Compliance-Pflicht als duty of loyalty In Stone v Ritter61 ging es um eine derivative action von Anteilseignern von AmSouth Bancorporation gegen 15 gegenwärtige und ehemalige Direktoren zum Ersatz von Schäden in Höhe von $ 50 Mio. Diese resultierten aus Strafzahlungen und Schadensersatzleitungen für Verstöße gegen Bankaufsichtsrecht und Anti-money-laundering-­ Vorschriften. Hintergrund war die Verwicklung von Mitarbeitern in ein großangelegtes Schneeballsystem, oder wie es die angelsächsische Welt nach einem berüchtigten „Urheber“ nennt, „Ponzi scheme“.

57 Als Reaktion auf die Krise der D&O Versicherungen nach Smith v Van Gorkum 488 A.2d 858 (Del. 1985), siehe Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769 (2007) 1772.  58 Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769 (2007), 1772 ff. 59 So auch Leo E. Strine, Jr., et al, Loyalty’s Core Demand: The Defining Role of Good Faith in Corporation Law, 98 GEO. L.J. 629 (2010). 60 Richtig Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769, 1777 (2007). 61 Stone ex rel. AmSouth Bancorporation v. Ritter, 911 A.2d 362, 364 (Del. 2006).

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Der Delaware Supreme Court bestätigte hier die Caremark-Entscheidung als richtige Grundlage für die Compliance-Pflicht, die er als director oversight duty bezeichnet. Darüber hinaus erklärte er die duty of loyalty zur dogmatischen Grundlage: “The failure to act in good faith may result in liability because the requirement to act in good faith “is a subsidiary element [,]” i.e., a condition, “of the fundamental duty of loyalty.” It follows that because a showing of bad faith conduct, in the sense described in Disney and Caremark, is essential to establish director oversight liability, the fiduciary duty violated by that conduct is the duty of loyalty.”

Konsequenz der Einordung der duty of oversight als duty of loyalty ist die Beschränkung des Haftungsmaßstabs auf Bösgläubigkeit. Dies wurde als übermäßige Einschränkung der Managerhaftung gebrandmarkt.62 Allerdings zeigen Gadinis/Miazad in ihrer eingehenden Untersuchung der konkreten Anwendung, die nachfolgend kurz darzustellen ist, auf, dass diese Befürchtung jedenfalls nicht in dieser Breite berechtigt ist. In einem weiteren Schritt rückte der Delaware Supreme Court die – auch auf seine eigene Rechtsprechung63 – gestützte Ansicht von der duty of good faith als eigenständigem Bestandteil der fiduciary duties zu Recht. Von dem vormaligen Pflichten-Trias duty of care, duty of loyalty und duty of good faith bleiben nur die beiden erstgenannten übrig. “This view of a failure to act in good faith results in two additional doctrinal consequences. First, although good faith may be described colloquially as part of a “triad” of fiduciary duties that includes the duties of care and loyalty, the obligation to act in good faith does not establish an independent fiduciary duty that stands on the same footing as the duties of care and loyalty. Only the latter two duties, where violated, may directly result in liability, whereas a failure to act in good faith may do so, but indirectly. “

Schließlich nimmt der Supreme Court noch eine bedeutsame Erweiterung der duty of loyalty vor. War diese bis dato eng begrenzt auf die klassischen Fälle von Interessenkonflikten, so wird loyales Handeln nun zur Generalpflicht des fiduciary bei der Geschäftsführung erhoben. “The second doctrinal consequence is that the fiduciary duty of loyalty is not limited to cases involving a financial or other cognizable fiduciary conflict of interest. It also encompasses cases 62 Etwa Jennifer Arlen, The Story of Allis-Chalmers, Caremark, and Stone: Directors’ Evolving Duty to Monitor, NYU L&E Working Papers, 11-19-2008, verfügbar unter https://lsr.nellco. org/cgi/viewcontent.cgi?referer=https://www.google.com/&httpsredir=1&article=1164&​ context=nyu_lewp; Eric J. Pan, Rethinking The Board’s Duty to Monitor: A Critical Assessment of the Delaware Doctrine, 38 FLA. ST. U. L. REV. 209 (2011); Megan W. Shaner, The (Un)Enforcement of Directors’ Duties, 48 U.C. DAVIS.  L. REV. 271, 304 (2014); Sean J. Griffith, Corporate Governance in an Era of Compliance, 57 WM. & MARY L. REV. 2075, 2111 (2016); Kimberly D. Krawiec, Cosmetic Compliance and the Failure of Negotiated Governance, 81 WASH. U. L. Q. 487, 491 (2003). 63 Siehe Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769, 1773 (2007) m.w.N., z.B. Emerald Partners v. Berlin, 726 A.2d 1215, 1221 (Del. 1999).

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Compliance-Pflicht als Loyalitätspflicht where the fiduciary fails to act in good faith. As the Court of Chancery aptly put it in Guttman,64 ‘[a] director cannot act loyally towards the corporation unless she acts in the good faith belief that her actions are in the corporation’s best interest.’”

Diese Neuausrichtung ist von weitreichender Bedeutung für die Dogmatik der Direktorenpflichten, die vermittels des Rechtsvergleichs bis nach Deutschland wirken kann. Die duty of loyalty wird zur generellen Pflicht, das Unternehmensinteresse nach bestem Wissen und Gewissen zu fördern.65 Genau das besagt der eben zitierte Satz aus Guttmann. In der Welt des Common Law markiert das den Brückenschlag zur englischen „duty to act bona fide in the best interest of the company“, die seit dem Companies Act 2006 als „duty to promote the success of the company“ kodifiziert ist und als die Kardinalpflicht der Direktoren angesehen werden kann. Section 172(1) CA 2006: “A director of a company must act in the way he considers, in good faith, would be most likely to promote the success of the company for the benefit of its members as a whole, …“

Nach dieser Grundlegung schreibt der Delaware Supreme Court schließlich noch die duty of oversight fort. Mit der Einrichtung eines Compliance-Systems allein sei es noch nicht getan. Es bedürfe auch der fortlaufenden Kontrolle, wobei freilich – in der Logik des bad faith standards konsequent  – nur bewusste Nichtüberwachung haftungsschädlich ist. “We hold that Caremark articulates the necessary conditions predicate for director oversight liability: (a) the directors utterly failed to implement any reporting or information system or controls; or (b) having implemented such a system or controls, consciously failed to monitor or oversee its operations thus disabling themselves from being informed of risks or problems ­requiring their attention. In either case, imposition of liability requires a showing that the ­directors knew that they were not discharging their fiduciary obligations. Where directors fail to act in the face of a known duty to act, thereby demonstrating a conscious disregard for their responsibilities, they breach their duty of loyalty by failing to discharge that fiduciary obliga­ tion in good faith.”

Damit ist der entscheidende, haftungsmildernde Unterschied des Tatbestands der Compliance-Pflicht Delawares zu ihrem deutschen Gegenstück herausgearbeitet. In beiden Ländern muss ein geeignetes Compliance-System eingerichtet und fortlaufend überwacht werden. Geschieht das aber, sind Direktoren in Delaware solange vor jeder Compliance-Haftung frei, bis sie in bad faith hinsichtlich von Compliance-Verstößen geraten. Zwar existiert im Common Law an sich ein Konzept der constructive notice. Doch dabei geht es um ein bewusstes „Die-Augen-verschließen“, was eben durch die sog. red flags bestimmt wird. Normales Kennen müssen genügt nicht.66 Besonders deutlich wird das in folgendem Zitat aus einem anderen Fall aus dem Jahre 2016:67 64 Guttman v. Huang, 823 A.2d 492, 506 n.34 (Del. Ch. 2003). 65 Eingehend Hill/McDonnell, “Stone v Ritter and the Expanding Duty of Loyalty”, 76 Fordham Law Review 1769, 1779 ff. (2007). 66 Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 24 ff. 67 Cottrell on behalf of Wal-Mart Stores, Inc. v. Duke, 829 F.3d 983, 995 (8th Cir. 2016).

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Alexander Schall “Delaware courts have consistently rejected.. the inference that directors must have known about a problem because someone was supposed to tell them about it.”

In Deutschland genügt insoweit hingegen Kennenmüssen der Compliance-Verstöße bei auch nur leichtester Fahrlässigkeit (culpa levissima). Die praktischen Schritte zur Etablierung von bad faith im Rahmen der oversight liability nach Caremark haben jüngst Gadinis/Miazad eingehend aufbereitet.68 Hiervon ist anschließend zu berichten. d) Zur praktischen Anwendung der Caremark-Haftung In ihrem Beitrag haben Gadinis/Miazad die Testfragen, welche zur Begründung von haftungsauslösender Bösgläubigkeit (bad faith) zu beantworten und mittlerweile im Case Law etabliert sind, ausführlich untersucht und in der folgenden Darstellung anschaulich visualisiert.69

Not liable No Reports Reach Board? Yes

Not liable No

Yes Red Flags?

Adequate System? No

Yes

Liable

No

Yes

Liable

Proper Reaction?

Is Board Aware?

Yes No

Not liable Not liable

Quelle: Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 20, verfügbar unter https:// ssrn.com/abstract=3123987. 

Ausgangspunkt ist die oben aufgezeigte Caremark-Vorgabe, dass ein „adäquates Überwachungssystem“ eingerichtet sein muss. Wenn ein solches fehlt und das board dies weiß, ist die Haftung für bad faith begründet. Derartige Extremfälle sind heutzutage freilich selten. Immerhin wird von einem Fall berichtet, wo es an jeder Überwachung 68 Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, verfügbar unter https://ssrn. com/abstract=3123987. 69 Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 20 ff. mit zahlreichen Referenzen zum Case Law der Bundesstaaten.

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zur Einhaltung der Sarbanes-Oxley-Vorgaben fehlte.70 Gleichzeitig wurde dort übrigens ausgesprochen, dass die Grundsätze der Caremark-Haftung auch auf officers unterhalb der Ebene des – in jenem Fall arglosen – board of directors Anwendung finden, konkret auf den Chef-Syndikus (in-house general counsel). Praktisch relevanter sind mangelhafte Compliance-Systeme. Hier liegt auch der eigentliche Unterschied zum deutschen Ansatz über die Sorgfaltspflicht. Es ist nämlich wie eben schon gezeigt nicht ausreichend, ex post einen objektiven Mangel aufzu­ zeigen, der hätte erkannt werden können. Zur Haftung kommt es erst, wenn das board diesbezüglich in bad faith gewesen ist. Der Test ist awareness, also Kenntnis. Bloßes Kennen müssen, also Fahrlässigkeit, reicht dazu nicht aus. Anschauungsmaterial liefert der GM-Fall.71 Dort ging es um mangelhafte Zündschalter, welche das Auto zur Unzeit abstellten, wodurch unter anderem der Airbag ausfallen konnte. Obwohl sich die Klagen häuften, blieb dies dem board lange Zeit verborgen. Grund war unter anderem eine Praxis der zuständigen Abteilung, solche Klagen nahe an der $5 Mio. Grenze zu vergleichen, so dass sie nicht zum Chef-Syndikus gemeldet werden mussten, der natürlich bei einer solchen Häufung umgehend das Direktorium verständigt hätte. Dahinter stand auf der unteren Mitarbeiterebene wohl keine Bösartigkeit, sondern lediglich Bräsigkeit frei nach dem Motto „Keine Meldung nach oben, kein Bericht, schneller erledigt, Schreibtisch wieder frei“. Natürlich hatte das Compliance-System hier objektiv versagt. Aber awareness des board war nicht zu finden. Und Fahrlässigkeit reicht eben nicht. Die Stufe zur awareness lässt sich auch nicht mit dem pauschalen Argument erhöhter Fehlerwahrscheinlichkeit infolge hohen Drucks zu Normverstößen infolge der leistungsbezogenen Vergütungsstruktur überschreiten.72 Bösgläubigkeit bezüglich der fehlenden Adäquanz der Compliance-­ Struktur wurde allerdings in einem Fall erkannt, wo ein Medizintechnikunternehmen die Mittel für seine Compliance-Bemühungen, die es infolge von Warnungen der zuständigen Behörde intensiviert hatte, einfach wieder halbierte, um Mittel für die Markteinführung eines neuen Produktes freizumachen.73 Mit dem Vorhandensein eines adäquaten Systems ist aber nur die Eingangsstufe der Tests umschrieben. Wichtig ist ferner, dass innerhalb des adäquaten Systems auch tatsächlich Berichte von Compliance-Problemen bis zum board gelangen. Fehlt es daran, scheitert jede Haftung. Gelangen freilich Berichte ganz nach oben, geht es im nächsten Schritt darum, ob ihr Inhalt als red flag zu verstehen ist. (Nur) Wenn das zu bejahen ist, stellt sich abschließend die Frage, ob auf das erkannte Problem angemessen reagiert wurde. 70 In re World Health Alternatives, Inc., 385 B.R. 576, 592-95 (Bankr. D. Del. 2008). 71 In re Gen. Motors Company Derivative Litig., No. CV 9627-VCG, 2015 WL 3958724, at *11, aff ’d sub nom. In re Gen. Motors Co. Derivative Litig., 133 A.3d 971 (Del. 2016); Gadinis/ Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 21 f. 72 In re Goldman Sachs Grp., Inc. S’holder Litig., No. CIV.A. 5215-VCG, 2011 WL 4826104, at *2 (Del. Ch. Oct. 12, 2011); Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 23. 73 Westmoreland Cty. Employee Ret. Sys. v. Parkinson, 727 F.3d 719, 722 (7th Cir. 2013); ­Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 23.

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Abschließend sei noch auf die in Stone v Ritter lediglich angesprochene, nicht aber näher definierte Figur der red flag eingegangen.74 Sie spielt eine zentrale Rolle als Prüfstandard für die Bösgläubigkeit. Das verdeutlicht ein Bestechungsfall aus New York, der 2013 entschieden wurde.75 Dort war eine erhebliche Kostenüberschreitung von $ 63 Mio. auf $ 600 Mio. bei einem Workforce Management Programm („CityTime“) eingetreten, das Saic Inc. für New York City entwickeln sollte. Um die Fortführung des Projekts zu sichern, bestachen Mitarbeiter die zuständigen Entscheidungsträger. Das board hatte zwar Kenntnis sowohl von der Kostenexplosion als auch von der kritischen Begleitpresse. Das Gericht fand aber, dass selbst das keine red flag für Korruption darstelle. Angesichts der vielschichtigen Gründe, die bei Großprojekten sowohl zu Kostenüberschreitungen als auch zur Entscheidung des Auftraggebers für den Weiterbau führen können, ist das wohl noch so eben nachvollziehbar. Unter dem deutschen Fahrlässigkeitsmaßstab hätte man allerdings dafürhalten müssen, dass der Vorstand nähere Untersuchungen zu beidem – Gründe für die Mehrkosten sowie die stoische Weiterverfolgung des Projekts – hätte anstellen müssen, wobei er dann die Korruption hätte aufdecken können (= kennen müssen). 3. Schlussfolgerungen aus dem Rechtsvergleich Der Blick auf die Dogmatik der Compliance-Pflicht in Delaware zeigt, dass sich auch im Wege der tatbestandlichen Einordnung zur Treuepflicht/duty of loyalty eine Haftungsbegrenzung erreichen lässt. Doch welche Bedeutung kann das für Deutschland haben? Ich glaube, die Antwort hierauf muss in zwei Ebenen getrennt werden. Die erste Ebene betrifft die eben in Delaware beobachtete Herausarbeitung der erweiterten duty of loyalty. Für Deutschland wirft sie die Frage nach einem weiteren legal transplant auf. Ich denke, das ist ganz grundsätzlich zu befürworten. Was bei Business Judgement Rule und Geschäftschancenlehre Recht war, kann bei der Ausgestaltung der duty of loyalty nicht unbillig sein. Das deutsche Organhaftungsrecht gilt hinsichtlich der Treuepflichten, wie schon gesagt, als unterentwickelt. Es hat seinen jetzigen Stand im Wesentlichen durch den Rechtsvergleich erreicht.76 Das hierauf basierende enge Verständnis der duty of loyalty erscheint mittlerweile aber veraltet. Es ist noch ganz und gar auf die Vermeidung von Interessengegensätzen begrenzt.77 Sowohl das Recht von Delaware als auch das englische Gesellschaftsrecht haben jedoch längst eine umfassendere Generalpflicht des fiduciary „to act bona fide in the best interest of the company“ ausbuchstabiert. Diese sollte in gleichem Umfang als Grundlage der einzelnen Treupflichten im deutschen Recht anerkannt werden. Zusätzlich abgestützt 74 Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 26 ff. 75 In re Saic Inc. Derivative Litig. 948 F. Supp. 2d 366 (S.D.N.Y. 2013); dazu Gadinis/Miazad, The Hidden Power of Compliance, 2018, S. 27. 76 So z.B. bei der Geschäftschancenlehre bzw. corporate opportunity doctrine, vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 136. 77 Vgl. Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 114: „Die Vorstandsmitglieder dürfen in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Aktiengesellschaft berühren, allein deren Wohl und Wehe und nicht ihren eigenen Nutzen oder den Vorteil anderer im Auge haben.“

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wird dieses Petitum durch die enge funktionale Verknüpfung des good-faith-Maß­ stabs bei Unterlassungen mit der Business Judgement Rule bei aktiven Beschlüssen des Direktoriums, welche wie oben dargelegt Chancellor Allens Caremark-Entscheidung trug. Im Endeffekt hat die Business Judgement Rule die vormalige duty of care zur duty of loyalty verwandelt.78 Bereits durch ihre Übernahme in Deutschland wurde eine ähnliche Verschmelzung eingeleitet. Das zeigt das Treupflichtelement des § 93 I 2 AktG „zum Wohle der Gesellschaft handeln“. Es lässt sich direkt an das Gewissens­ element des § 93 I 1 AktG anknüpfen, das neben den herkömmlichen Sorgfaltsmaßstab tritt. Nicht nur ordentlich, sondern auch „gewissenhaft“ muss der sorgfältige Geschäftsleiter handeln. Eine ganz andere Frage ist, ob die Compliance-Pflicht im Schoße einer anzuerkennenden, weiten Loyalitätspflicht mit dem Inhalt, nach bestem Wissen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, dann auch richtig aufgehoben wäre. Das mag einem auf den ersten Blick nicht so recht einleuchten. Die Einhaltung der Gesetze ist bindende Pflicht, keine Gewissensfrage. Daher rührt ja auch der verbreitete Widerstand gegen freie, nicht richterlich überprüfbare Ermessenspielräume unter einer „Legal Judgement Rule“. Bei näherem Hinsehen ist es freilich nicht so einfach. Die Compliance-Pflicht beschreibt ja eben nicht bloß die selbstverständliche Pflicht des Vorstandes, selbst die Gesetze einzuhalten (Legalitätspflicht). Vielmehr geht es um die Pflicht, durch Überwachung sicherzustellen, dass die Mitarbeiter keine Gesetzesverstöße begehen, um die Gesellschaft vor daraus resultierendem Schaden zu bewahren. Verstünde man diese Legalitätskontrollpflicht gleich der Legalitätspflicht als absolute Pflicht, wäre sie schlicht unwirksam. Impossibilium nulla obligatio est (früher § 306 BGB a.F., heute § 275 I BGB). Wer könnte schon sicherstellen, dass keiner seiner 40.000 Mitarbeiter weltweit die Gesetze bricht? Wenn es aber so weit doch nicht gehen soll, wo liegt dann die Grenze? Ist der good faith Standard da nicht wesentlich angemessener? Gutgläubigkeit und Bemühtheit nach bestem Gewissen hätte Heinz-Joachim Neubürger wohl niemand abgesprochen. Die Gründe für die Etablierung des good faith Standards bei der Compliance-Pflicht tragen auch hierzulande. Die Herangehensweise der Corporate Law Spezialisten in Delaware ist ausgereifter und überzeugender als es diejenige eines niederen bayrischen Instanzgerichts war. Die Compliance-Pflicht ex-post als Verhinderungspflicht be­ züglich des kausalen Erfolgs zu konstruieren ist auch hierzulande ein gravierender methodischer Fehler, der im vergleichbaren Bereich der Verkehrssicherungspflichten längst nicht mehr dem Stand der Dogmatik entspricht. Vgl. BGH v. 6. 2. 2007 – VI ZR 274/05, NJW 2007, 1683 (1684), Tz. 15: „Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. … Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden … Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erfor78 Scharfe Abgrenzung demgegenüber bei Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 115 mit Fn. 737.

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Alexander Schall derlich hält … Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise – hier: der Verkehrsteilnehmer – für ausreichend halten darf, um andere Personen – hier: der Eigentümer angrenzender Bauwerke – vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind.“

Zu guter Letzt: Die Berechtigung einer Haftungsbeschränkung bei der Compliance-­ Pflicht entspricht praktisch allgemeiner Überzeugung. Sie wird auch vom Jubilar geteilt.79 Lediglich die Frage, ob und auf welchem Weg man bereits unter der lex lata dorthin gelangen kann, oder ob nicht doch Berlin helfen muss, bleibt umstritten. Die scharfe Compliance-Haftung für fremde Schuld passt nicht wirklich gut in das Ge­ füge des liberalen, durchweg auf die individuelle Eigenverantwortung abstellenden Haftungsrechts des BGB. Für Dritte hat man nach dessen Logik nur dann unbedingt ­einzustehen, wenn man sich ihrer zur Erfüllung seiner eigenen bestehenden Verbindlichkeiten bedient (§ 278 BGB). Das tut in Compliance-Szenarien aber allenfalls die Gesellschaft, niemals der Vorstand. Im Außenverhältnis erlaubt § 831 BGB den dezentralisierten Entlastungsbeweis für untergebene Dritte. Im Rahmen des §  823 I BGB begrenzt vorsätzliches Dazwischentreten Dritter grundsätzlich die Haftungszurechnung. Die Compliance-Haftung bei culpa levissima steht quer zu all diesen liberalen Grundsatzentscheidungen. Ihre Neubegründung innerhalb einer allgemeinen Loyalitätspflicht, reinen Herze zum besten Wohle der Gesellschaft zu handeln, kann die dringend erforderliche Abhilfe schaffen, ohne sich den durchweg beachtlichen Einwendungen gegen die bisher vorgeschlagenen Lösungen ausgesetzt zu sehen.

IV. Schluss Die Haftungsmilderung bei der Compliance-Haftung bleibt ein akutes Thema. Nicht wenig spricht dafür, dass sie sogar ein verfassungsrechtliches Gebot darstellt. Das ändert nichts daran, dass die Wege dorthin umstritten sind. Das gilt insbesondere – und letztlich wohl zu Recht – für den Vorschlag zur Übertragung des arbeitsrechtlichen Haftungsprivilegs. Einen neuen Ansatz erlaubt jedoch der Rechtsvergleich. Der Blick auf Delaware offenbart zweierlei. (1) Die Treue- bzw. Loyalitätspflicht des Vorstandes (duty of loyalty) ist nicht mehr auf Interessenkonflikte beschränkt, sondern stellt ein umfassendes Gebot an den fiduciary dar, guten Glaubens im besten Interesse der Gesellschaft zu handeln (to act bona fide in the best interest of the company). Der Haftungsmaßstab, nach dem Verstöße gegen diese Pflicht zu messen sind, ist nicht Fahrlässigkeit (negligence), sondern Bösgläubigkeit (bad faith), was in aller Regel Kenntnis voraussetzt. (2) Die Compliance-Pflicht bzw. duty of oversight ist integraler Bestandteil der duty of loyalty. Sie ist nur verletzt, wenn sich bad faith des jeweiligen Direktors bezüglich der Compliance-Verstöße innerhalb seiner Gesellschaft begründen lässt. Entgegen ursprünglichen Befürchtungen in der amerikanischen Gesellschaftsrechtswissenschaft 79 E. Vetter, NZG 2014, 921, 926.

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Compliance-Pflicht als Loyalitätspflicht

führt dies keineswegs zu unangemessenen und übermäßigen Abmilderungen der Compliance-Haftung, sondern zu einem ausgewogenen Haftungsstandard für die Untaten Dritter. Die Integration der Erkenntnis zu (1) in die deutsche Treuepflichtdogmatik unter § 93 AktG (und § 43 GmbHG) erscheint bereits als ein Gebot der Konsistenz. Die Übernahme der Erkenntnis zu (2) sollte offenen Geistes diskutiert und abgewogen werden. Sie mag helfen, wo andere Mittel versagen. Erst in künftigen Untersuchungen wird hingegen zu klären sein, ob nicht die Loyalitätspflicht, guten Glaubens im besten ­Interesse der Gesellschaft zu handeln, in Wahrheit sogar der eigentliche Inhalt des § 93 I 1 AktG bzw. des § 43 I GmbHG ist.

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Ausgewählte Rechtsfragen der Venture-Capital-Finanzierung in der Aktiengesellschaft – zugleich eine Betrachtung zum Verhältnis von Gesetz und ­schuldrechtlicher Nebenabrede im Aktienrecht – Inhaltsübersicht I. Bedeutung und Kernelemente der gängigen Venture-Capital-Dokumentation 1. Typischer Regelungsbedarf und übliche Regelungen 2. Schuldrechtliche Gesellschafterverein­ barung als Herzstück der VC-Doku­ mentation II. Rechtsformwahl wagniskapitalfinan­ zierter Unternehmen 1. Die GmbH als gängige Rechtsform wagniskapitalfinanzierter Unternehmen 2. Gründe für die Wahl einer Aktiengesellschaft oder Societas Europaea als Rechtsform eines wagniskapitalfinanzierten Unternehmens III. Herausforderungen beim Wechsel eines wagniskapitalfinanzierten Unternehmens aus der Rechtsform der GmbH in die Rechtsform der Aktiengesellschaft 1. Zwingendes Gesetzesrecht und Grundsatz der Satzungsstrenge 2. Investorenerwartungen beim Formwechsel einer wagniskapitalfinanzierten GmbH in eine Aktiengesellschaft 3. Besondere Bedeutung der Gesellschaftervereinbarung für die Abbildung bestehender Investorenrechte beim Formwechsel in die Aktiengesellschaft

IV. Zum Verhältnis von Gesetz und schuld­ rechtlicher Nebenabrede in der Aktiengesellschaft 1. Trennung von Satzung und schuldrechtlicher Nebenabrede 2. Grenzen privatautonomer Regelungen in Gesellschaftervereinbarungen in der Aktiengesellschaft a) Kollision mit teleologischem Geltungsanspruch zwingender aktienrechtlicher Vorschriften b) Satzungsvorbehalt? V. Die wagniskapitalfinanzierte Aktien­ gesellschaft: Ausgewählte Einzel­ probleme 1. Investoreninformation a) Gängige Regelungen b) Zulässigkeit in der GmbH c) Zulässigkeit in der Aktien­ gesellschaft 2. Entsendungsrechte zum Beirat bzw. ­Aufsichtsrat a) Gängige Regelung zur Beiratsbesetzung in der VC-Dokumentation und Zulässigkeit in der GmbH b) Zulässigkeit in der Aktien­ gesellschaft VI. Gesamtfazit

Die Beteiligten einer Wagniskapitalfinanzierung regeln ihre Rechtsbeziehungen üblicherweise in einer umfangreichen Dokumentation, die bestimmte typische Klauseln enthält. Zumeist werden wagniskapitalfinanzierte Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH inkorporiert. Das GmbH-Recht ist in weiten Teilen dispositiv und bietet den Gesellschaftern breiten Raum für eine privatautonome Gestaltung ihrer Rechts681

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verhältnisse. Das Aktienrecht ist demgegenüber durch einen wesentlich größeren Bestand an zwingenden Normen geprägt. Wechselt ein in der Rechtsform der GmbH gegründetes wagniskapitalfinanziertes Unternehmen in die Rechtsform einer Aktiengesellschaft, so stellt sich die Frage, inwieweit die auf die GmbH zugeschnittenen typischen Regelungen einer Venture-Capital-Dokumentation auch gemessen an aktienrechtlichen Vorgaben zulässig sind und welcher Modi­fikationen es möglicherweise bedarf. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Frage nach der Reichweite zwingender Normen des Aktiengesetzes im Hinblick auf begleitende schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarungen zu. Dieser grundlegenden Frage in einer Festschrift für Eberhard Vetter an Anwendungsbeispielen aus der anwaltlichen Praxis nachzugehen liegt nahe, vereint doch der Jubilar in beeindruckender Weise langjährige praktische Erfahrung auf dem Gebiet des Aktienrechts mit einer tiefen wissenschaftlichen Durchdringung dieser Materie in seiner Person.

I. Bedeutung und Kernelemente der gängigen Venture-CapitalDokumentation 1. Typischer Regelungsbedarf und übliche Regelungen Die Beteiligten einer Wagniskapitalfinanzierung – also die Gründer und die Investoren – regeln ihre Rechtsbeziehungen üblicherweise in einer umfangreichen Dokumentation (im Folgenden auch „VC-Dokumentation“).1 Neben dem Gesellschaftsvertrag und den Geschäftsordnungen für das Management und den Beirat bzw. Aufsichtsrat umfasst diese Dokumentation im Regelfall auch zwei begleitende schuldrechtliche Vereinbarungen, nämlich den Beteiligungsvertrag (Investment Agreement) und eine Gesellschaftervereinbarung (Shareholders‘ Agreement).2 Die VC-Dokumentation enthält Regelungen, mit denen die Beteiligten die zahlreichen und teils sehr speziellen Regelungsprobleme aufgreifen, die sich im Zusammenhang mit der Wagniskapitalfinanzierung eines jungen Unternehmens typischerweise stellen.3 So sind Wagniskapitalinvestitionen aus Sicht der Investoren mit einem besonders hohen Risiko verbunden, weil der Erfolg des jungen Unternehmens gerade in frühen Finanzierungsphasen sehr unsicher und schwer vorherzusehen ist.4 Daraus resultiert ein besonderes Interesse der Investoren an einer laufenden, umfassenden und zeitnahen Information über die finanzielle und geschäftliche Entwicklung des Unternehmens und an einer engmaschigen Kontrolle der typischerweise in dessen Manage1 Muster der gängigen Dokumentation samt begleitender Erläuterungen bei Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017. 2 Beide Vereinbarungen werden insbesondere in der Frühphase des Unternehmens teils auch in einem Dokument („Investment and Shareholders‘ Agreement“) zusammengefasst. 3 Hierzu eingehend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 43-61; ferner etwa Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 1622. 4 Hierzu etwa Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 44 ff.

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Ausgewählte Rechtsfragen der Venture-Capital-Finanzierung in der Aktiengesellschaft

ment tätigen Gründer. Dementsprechend sieht die VC-Dokumentation üblicherweise umfangreiche Informations- und Bucheinsichtsrechte der Investoren vor.5 Zudem werden Geschäftsführungsmaßnahmen des Managements üblicherweise weitreichenden Zustimmungsvorbehalten zugunsten eines Beirates bzw. Aufsichtsrates oder sogar zugunsten einzelner Investoren oder Investorengruppen unterworfen.6 Hin und wieder finden sich für bestimmte Maßnahmen auch Vetorechte einzelner Investoren. Üblich sind zudem Regelungen zur Besetzung der Gesellschaftsorgane, insbesondere Entsendungsrechte zum Beirat bzw. Aufsichtsrat.7 Hierdurch wird einzelnen Investoren oder bestimmten Investorengruppen eine Repräsentanz in diesem Gremium gesichert. Daneben finden sich im Shareholders‘ Agreement typischerweise weitere Regelungen wie etwa –– Lock-up-Regelungen, durch die die Gründer daran gehindert werden, ihre Anteile an der Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu veräußern,8 –– sonstige Regelungen betreffend Verfügungen über die Anteile (Vinkulierung, Vorerwerbsrechte),9 –– Regelungen zum Schutz der Bestandsgesellschafter vor Verwässerung ihrer Beteiligung in späteren Finanzierungsrunden (subscription rights, downround protec­ tion),10 –– Regelungen betreffend den Exit (Tag-along, Drag-along),11 –– Regelungen zu Liquidationspräferenzen,12 seltener auch zu Dividendenpräferenzen.

5 Beispiel für eine entsprechende Klausel in der Gesellschaftervereinbarung bei Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 207 ff.; zur Thematik zudem Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 565 ff.; näher sogleich unter Gliederungspunkt V. 1. 6 Beispiel bei Frank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S.  355  ff. sowie 389  ff.; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 107 ff. 7 Hierzu sogleich eingehend unter Gliederungspunkt V. 2. 8 Beispiel bei Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 257 ff. 9 Beispiele bei Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 252 ff., 265 ff. 10 Beispiel bei Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 214 ff. 11 Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 273 ff., 281 ff. 12 Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 295 ff.

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Auf diese Weise schaffen sich die Beteiligten privatautonom einen auf die speziellen Regelungsprobleme der Wagniskapitalfinanzierung zugeschnittenen Rechtsrahmen. Die meisten der erwähnten Klauseln sind an Vorbildern aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis orientiert und übernehmen deren Regelungsmuster und Terminologie.13 Bezüglich der gängigen Klauseln hat sich auch in Deutschland ein gewisser Marktstandard etabliert. 2. Schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarung als Herzstück der VC-Dokumentation Die soeben dargestellten VC-spezifischen Regelungen finden sich üblicherweise sämtlich im Shareholders’ Agreement, das gewissermaßen das Herzstück der VC-Dokumentation bildet. Teilweise werden die im Shareholders‘ Agreement getroffenen Absprachen zusätzlich in der Dokumentation auf korporativer Ebene umgesetzt, indem beispielsweise im Shareholders‘ Agreement vereinbarte Zustimmungsvorbehalte für bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen in der Geschäftsordnung für das Management abgebildet oder indem bestimmten Investoren eingeräumte Entsendungsrechte zum Beirat im Gesellschaftsvertrag verankert werden. Parteien des Shareholders‘ Agreement sind stets sämtliche Gesellschafter und die Gesellschaft. Üblicherweise enthält das Shareholders‘ Agreement auch eine Regelung, wonach jeder neue Investor und jeder Rechtsnachfolger einer Vertragspartei verpflichtet ist, bei einem Erwerb von Anteilen an der Gesellschaft dieser Vereinbarung beizutreten.14

II. Rechtsformwahl wagniskapitalfinanzierter Unternehmen 1. Die GmbH als gängige Rechtsform wagniskapitalfinanzierter Unternehmen Üblicherweise werden wagniskapitalfinanzierte Unternehmen in Deutschland in der Rechtsform einer GmbH gegründet. Dementsprechend ist auch die gängige VC-Dokumentation auf diese Rechtsform zugeschnitten. In der GmbH ist es vergleichsweise einfach, die VC-typischen Regelungen rechtlich umzusetzen. Denn das GmbH-Recht enthält bekanntlich nur sehr wenige zwingende gesetzliche Vorgaben, und diese betreffen vor allem das Außenverhältnis der Gesellschaft, insbesondere Fragen des Gläubigerschutzes.15 In der Ausgestaltung ihres Verhältnisses zueinander und auch in der Ausgestaltung der Organstruktur der Ge­ sellschaft und der Kompetenzen der Organe sind die Gesellschafter in der GmbH

13 Hierzu eingehend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 61 ff. sowie Ziegert, Der Venture Capital-Beteiligungsvertrag, 2005, S. 207 ff. 14 Vgl. Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 182. 15 Vgl. Fastrich in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 3 GmbHG Rz. 4.

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hingegen weitestgehend frei.16 Sie können also die Rechtsverhältnisse betreffend „ihre“ GmbH durch privatautonome Regelungen – sei es im Gesellschaftsvertrag, sei es mittels begleitender schuldrechtlicher Vereinbarungen – sehr weitgehend ihren konkreten Bedürfnissen anpassen. 2. Gründe für die Wahl einer Aktiengesellschaft oder Societas Europaea als Rechtsform eines wagniskapitalfinanzierten Unternehmens Immer wieder finden sich aber auch wagniskapitalfinanzierte Unternehmen, die sich in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft oder – was im vorliegenden Kontext vergleichbare rechtliche Fragestellungen aufwirft – einer Societas Europaea (SE) organisieren möchten. Dabei kommt es vergleichsweise selten vor, dass die Unternehmen diese Rechtsform von Anfang an wählen. Häufiger sind Fälle, in denen wagniskapitalfinanzierte Unternehmen, die als GmbH inkorporiert worden sind, sich gut entwickelt und eine gewisse Reife und Größe erreicht haben, irgendwann in die Rechtsform der Aktiengesellschaft wechseln möchten, sei es als Zielrechtsform, sei es als notwendiges Durchgangsstadium zur Zielrechtsform der SE. Die Motivation für einen solchen Rechtsformwechsel kann darin bestehen, im Hinblick auf einen angestrebten Börsengang eine kapitalmarktfähige Rechtsform zu erlangen. Speziell der Wechsel in die SE verfolgt häufig zusätzlich das Ziel, die künftige Mitbestimmungssituation in rasch wachsenden Unternehmen mit einem mitarbeiter­ intensiven Geschäftsmodell flexibel gestalten zu können, bevor die zwingenden Vorschriften des deutschen Mitbestimmungsrechts eingreifen. Insbesondere bei der SE spielen vor dem Hintergrund ihres übernationalen, europäischen Charakters häufig wohl auch Branding-Gesichtspunkte eine Rolle.17

III. Herausforderungen beim Wechsel eines wagniskapitalfinanzierten Unternehmens aus der Rechtsform der GmbH in die Rechtsform der Aktiengesellschaft 1. Zwingendes Gesetzesrecht und Grundsatz der Satzungsstrenge In der Aktiengesellschaft ist der gesetzliche Rahmen für privatautonome Gestaltungen durch die Gesellschafter ein völlig anderer als in der GmbH. Das Aktiengesetz reguliert die Aktiengesellschaft wesentlich engmaschiger als das GmbH-Gesetz die GmbH. 16 Siehe J. Schmidt in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3.  Aufl. 2017, §  3 GmbHG Rz. 103. 17 Zu möglichen Motiven VC-finanzierter Unternehmen für die Wahl der Rechtsform der AG siehe Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 405 ff. Zu möglichen Motiven solcher Unternehmen für die Wahl der Rechtsform der SE siehe Schaper, Gründerszene vom 16.  Februar 2017, abrufbar unter https://www.gruen​ derszene.de/allgemein/se-rechtsform-europaeische-aktiengesellschaft-erklaerung.

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Hinzu kommt, dass die meisten aktienrechtlichen Normen zwingend sind. Nach § 23 Abs. 5 S. 1 AktG kann die Satzung von Vorschriften des Aktiengesetzes nur abweichen, wenn und soweit das Gesetz dies audrücklich zulässt. Auch ergänzende Bestimmungen kann die Satzung nur vorsehen, soweit das Aktiengesetz keine abschließende Regelung enthält, § 23 Abs. 5 S. 2 AktG.18 Und anders als im GmbHG betreffen die zwingenden Vorschriften des Aktiengesetzes nicht ganz überwiegend das Außen­ verhältnis der Gesellschaft, sondern es finden sich zahlreiche Normen, die das Innenverhältnis der Gesellschaft mit zwingender Wirkung regeln. Insbesondere sind die dreigliedrige Organstruktur und die Kompetenzen der Organe in der Aktiengesellschaft vom Gesetz zwingend vorgegeben.19 Aufgrund dieses grundlegend anderen gesetzlichen Rahmens, der  – jedenfalls im Hinblick auf Satzungsregelungen – privatautonomen Gestaltungen der Gesellschafter enge Grenzen zieht, kann im Falle eines Formwechsels aus einer GmbH in eine Aktiengesellschaft die auf die Rechtsform der GmbH zugeschnitte VC-Dokumentation nicht einfach unverändert in die Aktiengesellschaft übernommen werden. Vielmehr muss die gesamte Dokumentation an die neue Rechtsform und die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Letztlich muss jede Regelung daraufhin überprüft werden, ob sie auch mit aktienrechtlichen Vorgaben vereinbar ist; das gilt sowohl für die Regelungen in Gesellschaftsvertrag und Geschäftsordnungen als auch für diejenigen in den begleitenden schuldrechtlichen Vereinbarungen. 2. Investorenerwartungen beim Formwechsel einer wagniskapitalfinanzierten GmbH in eine Aktiengesellschaft Die Gesellschafter erwarten, dass die wesentlichen Regelungen der bisherigen Dokumentation und die damit einhergehende Risikoverteilung und Machtbalance durch den Formwechsel möglichst wenig berührt werden und in der Aktiengesellschaft im Kern unverändert fortbestehen. Erfahrungsgemäß ist kaum ein Gesellschafter bereit, Rechtspositionen oder Einflussmöglichkeiten (wie Informations- und Kontrollrechte, Vetorechte, Entsendungsrechte zum Beirat bzw. Aufsichtsrat etc.), die er in vorangegangenen Finanzierungsrunden mühsam für sich durchgesetzt hat, anlässlich eines intendierten Formwechsels ohne Weiteres aufzugeben, „nur“ weil diese Rechtspositionen sich mit Vorgaben des deutschen Aktienrechts nicht ohne Weiteres vereinbaren lassen. Aus Beratersicht besteht in dieser Situation die Herausforderung darin, Regelungen zu entwerfen, die einerseits mit aktienrechtlichen Vorgaben vereinbar sind, andererseits die bisherigen Rechtspositionen der Beteiligten möglichst gleichwertig abbilden. Soweit sich in der auf die GmbH zugeschnittenen VC-Dokumentation Regelungen zu 18 In der SE ist der Rahmen für Satzungsregelungen durch Art. 9 Abs. 1 b) und c) iii) der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft noch enger gezogen, vgl.  hierzu J. Schmidt in Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 6 SE-VO Rz. 15; Diekmann in Habersack/Drinhausen, SE-Recht, 2. Aufl. 2016, Art. 6 SE-VO Rz. 21. 19 Statt aller Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 23 AktG Rz. 36.

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Rechtspositionen Beteiligter finden, die in ihrer bisherigen Form nicht mit dem Aktienrecht vereinbar sind, ist es – wenn man nicht die Zustimmung der betroffenen Gesellschafter zu dem intendierten Formwechsel riskieren möchte – in der Regel kein praktisch gangbarer Weg, die betreffenden Klauseln einfach aus der Dokumentation zu streichen. Vielmehr ist nach aktienrechtskonformen Gestaltungen zu suchen, mit denen sich vergleichbare Ergebnisse erzielen lassen und die für die Beteiligten akzeptabel sind. Erfahrungsgemäß ist diese Anpassung der VC-Dokumentation, insbesondere des Shareholders‘ Agreement, an aktienrechtliche Vorgaben der schwierigste und im Hinblick auf die Gesellschafterkommunikation delikateste Teil des Wechsels eines wagniskapitalfinanzierten Unternehmens aus der Rechtsform der GmbH in diejenige einer Aktiengesellschaft. 3. Besondere Bedeutung der Gesellschaftervereinbarung für die Abbildung bestehender Investorenrechte beim Formwechsel in die Aktiengesellschaft Da der Spielraum für privatautonome Satzungsregelungen in der Aktiengesellschaft durch § 23 Abs. 5 AktG eng begrenzt ist, gewinnt beim Wechsel eines wagniskapi­ talfinanzierten Unternehmens aus der Rechtsform der GmbH in diejenige einer Aktiengesellschaft regelmäßig die Frage besondere Bedeutung, inwieweit bestimmte auf Ebene der Satzung aktienrechtlich nicht zulässige Regelungen der für die Gesellschaft vereinbarten VC-Dokumentation auf schuldrechtlicher Ebene, d.h. im Shareholders‘ Agreement, abgebildet werden können. Dies wirft interessante Fragen zum Verhältnis von Gesetz, Satzung und schuldrechtlicher Nebenabrede in der Aktiengesellschaft auf. Aus praktischer Perspektive geht es dabei letztlich sogar darum, ob die Aktiengesellschaft überhaupt als Rechtsform für VC-finanzierte Unternehmen taugt. Denn wenn wesentliche Regelungen der marktüblichen VC-Dokumentation bei einer Aktiengesellschaft weder auf korporativer Ebene noch in einer schuldrechtlichen Nebenabrede befriedigend abgebildet werden können, kann die Aktiengesellschaft bei den Beteiligten keine Akzeptanz als Rechtsform für wagniskapitalfinanzierte Unternehmen erwarten.

IV. Zum Verhältnis von Gesetz und schuldrechtlicher Nebenabrede in der Aktiengesellschaft Welche gesetzlichen Grenzen gelten also für privatautonome Regelungen in der Gesellschaftervereinbarung zu einer Aktiengesellschaft?

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1. Trennung von Satzung und schuldrechtlicher Nebenabrede Im gedanklichen Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass es sich bei der Gesellschaftervereinbarung einerseits und der Satzung andererseits um voneinander zu unterscheidende, selbständige rechtsgeschäftliche Regelungen handelt,20 die –– unterschiedliche Regelungsebenen betreffen:21 die Satzung betrifft die korporative Ebene, die Gesellschaftervereinbarung die schuldrechtliche,22 –– unterschiedlicher Rechtsnatur sind 23 und –– unterschiedliche rechtliche Wirkungen zeitigen.24 Diese Unterscheidung zwischen Gesellschaftervereinbarung und Satzung ist auch dann vorzunehmen, wenn an der Gesellschaftervereinbarung alle Aktionäre (und die Gesellschaft) beteiligt sind,25 wie es im VC-Kontext regelmäßig der Fall ist. Infolge der Trennung der beiden Ebenen unterliegt die schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarung im Ausgangspunkt auch nicht aktienrechtlichen Vorschriften, sondern es gelten die Vertragsfreiheit und die einschlägigen Vorschriften des allgemeinen Zivilrechts26 (sog. Trennungsprinzip). 27 Insbesondere gelten die in § 23 Abs. 5 AktG für (echte) korporative Satzungsregelungen normierten engen Grenzen privatautonomer Gestaltungsmacht nicht für schuldrechtliche Gesellschafterabreden.28 Daher kann Gegenstand einer solchen Abrede grundsätzlich auch – und gerade – dasjenige sein, was als korporative Satzungsregelung unzulässig wäre.29

20 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 23 AktG Rz. 46; Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 314; Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 200. 21 Eingehend hierzu Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 59 ff.; Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 310. 22 Vgl. Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S.  59  ff.; Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 296 ff. 23 Vgl. Ulmer in FS Röhricht, 2005, S. 636. 24 Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 296; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 125; Ulmer in FS Röhricht, 2005, S. 636. 25 Koch in Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  23 AktG Rz.  47; Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 200; Sailer-Coceani in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 14; eingehend Ulmer in FS Röhricht, 2005, S. 650 ff. 26 Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 323 ff.; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S.  85; Solveen in Hölters, 3.  Aufl. 2017, §  23 AktG Rz. 40; vgl. auch BGH v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, NZG 2009, 183, 185. 27 Vgl. nur Sailer-Coceani in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 14. 28 Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 196. 29 BGH v. 22.1.2013 – II ZR 80/10, NZG 2013, 220, 221; BGH v. 13.6.1994 – II ZR 38/93, BGHZ 126, 226, 234 f.; Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 316; Seibt in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 23 AktG Rz. 65; Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, §  23 AktG Rz.  196; Limmer in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  23 AktG Rz.  41; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 125.

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2. Grenzen privatautonomer Regelungen in Gesellschaftervereinbarungen in der Aktiengesellschaft Diese strikte Trennung zwischen korporativer Ebene einerseits und schuldrechtlicher Ebene andererseits ist allerdings nur die halbe Wahrheit. a) Kollision mit teleologischem Geltungsanspruch zwingender aktienrechtlicher Vorschriften Auch wenn es sich bei Gesellschaftervereinbarungen um schuldrechtliche Absprachen handelt, so ist doch nicht zu verkennen, dass die darin enthaltenen Regelungen vielfach Auswirkungen in der Sphäre der Gesellschaft und damit auf korporativer Ebene haben und natürlich auch haben sollen. Aufgrund dieser (intendierten) rechtlichen Wirkungen der schuldrechtlichen Vereinbarung auf korporativer Ebene können in Gesellschaftervereinbarungen enthaltene Regelungen auch durchaus mit dem Geltungsanspruch zwingender Vorschriften des Aktiengesetzes in Konflikt geraten.30 Deshalb ist anerkannt, dass trotz der grundsätzlichen Trennung zwischen schuld­ rechtlicher und korporativer Ebene auch Absprachen in Gesellschaftervereinbarungen an zwingenden Normen des Aktiengesetzes zu messen sein können.31 Teils wird dies dahingehend formuliert, dass Absprachen in Gesellschaftervereinbarungen nicht zu einer Umgehung zwingender aktienrechtlicher Regelungen führen dürften und dass diesen zwingenden Regelungen daher eine gewisse „Ausstrahlungswirkung“ auf schuld­ rechtliche Nebenabreden zukommen müsse.32 Tatsächlich geht es aber weniger um eine diffuse rechtliche „Ausstrahlungswirkung“ zwingenden Aktienrechts als vielmehr um eine Frage teleologischer Gesetzesauslegung. Entscheidend ist, ob eine Absprache in einer Gesellschaftervereinbarung rechtliche Auswirkungen auf korpora­ tiver Ebene bzw. im körperschaftlichen Raum zeitigt bzw. zeitigen soll, die mit dem Sinn und Zweck einer zwingenden aktienrechtlichen Ge- oder Verbotsnorm unvereinbar sind,33 so dass diese Norm die Unzulässigkeit und ggf. Unwirksamkeit der entsprechenden schuldrechtlichen Regelung gebietet.34 Darüber hinaus kann es auch eine Rolle spielen, ob die entsprechende Regelung in der Gesellschaftervereinbarung bzw. ihre Umsetzung auf innerverbandlicher Ebene die vom Aktiengesetz gewollte institutionelle Ordnung beeinträchtigt.35 30 Vgl. hierzu Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 85 ff.; wirkungsbezogene Betrachtungsweise auch bei Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 123 ff., insbes. S. 125 ff. 31 Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 314 ff.; Seibt in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 23 AktG Rz. 65 a.E.; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 85 ff.; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 123 ff. 32 Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 85. 33 Vgl. eingehend Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 123 ff., insbes. S. 128; ferner Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 88; Röhricht/Schall in GK AktG, 5. Aufl. 2016, § 23 AktG Rz. 314. 34 Vgl. Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 123 ff.; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 88. 35 Hierzu Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 125 f.

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b) Satzungsvorbehalt? Im Bereich dispositiver aktienrechtlicher Vorschriften kann sich die Frage stellen, ob hiervon wirksam nur in Form einer Satzungsregelung, nicht jedoch mittels einer rein schuldrechtlichen Vereinbarung der Gesellschafter abgewichen werden kann, ob also für eine privatautonome Gestaltung gewissermaßen ein Satzungsvorbehalt gilt.36 Die Frage taucht inbesondere dann auf, wenn das AktG formuliert, dass von einer bestimmten Vorschrift „durch Satzung“ abgewichen werden könne. Schließt dies eine wirksame Abweichung vom dispositiven Gesetzesrecht in anderer Form als durch (echte)37 Satzungsregelung aus?38 Speziell in der eingangs angesprochenen Konstellation eines Formwechsels aus der Rechtsform der GmbH in diejenige einer Aktiengesellschaft kann sich ein „Satzungsvorbehalt“ insbesondere aus § 197 S. 1 UmwG i.V.m. § 26 Abs. 1 AktG ergeben. Nach § 26 Abs. 1 AktG muss jeder einem einzelnen Aktionär oder einem Dritten eingeräumte „besondere Vorteil“ in der Satzung unter Bezeichnung des Berechtigten festgesetzt werden. § 26 Abs. 3 S. 1 AktG sieht vor, dass ansonsten die Verträge, die die entsprechenden Sondervorteile vorsehen, sowie die zu ihrer Ausführung vorgenommenen Rechtshandlungen der Gesellschaft gegenüber unwirksam sind. Als „besonderer Vorteil“ in diesem Sinne kommen jegliche einzelnen Aktionären eingeräumte Gläubigerrechte – also nicht bereits aus der Mitgliedschaft als solcher folgende Rechte – in Betracht, die zumindest auch durch die AG zu erfüllen sind.39 Das können nach herrschender Meinung beispielsweise über §  131 AktG hinausgehende Infor­ mationsrechte40 und möglicherweise auch Entsendungsrechte sein, die einzelnen Aktionären gewährt werden.41 Allerdings werden von § 197 S. 1 UmwG i.V.m. § 26 Abs. 1 AktG nur solche besonderen Vorteile erfasst, die anlässlich des Formwechsels neu, d.h. erstmals, gewährt werden.42 Daran fehlt es, wenn das Shareholders‘ Agreement bestimmten Gesellschaftern schon in der ursprünglichen Rechtsform der GmbH bestimmte Rechte gegen die Gesellschaft gewährt und diese nach dem Formwechsel lediglich in dem an die Rechtsform der Aktiengesellschaft angepassten Shareholders‘ 36 Vgl. Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 83 ff.; Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 243 ff.; Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S. 128 ff.; Limmer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 23 AktG Rz. 41; Leitzen, RNotZ 2010, 566, 569. 37 Zur Unterscheidung zwischen „echten“ und „unechten“ Satzungsbestimmungen etwa Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 23 AktG Rz. 2. 38 Nicht beleuchtet werden kann an dieser Stelle die weitere Frage, inwieweit in einer schuldrechtlichen Gesellschaftervereinbarung von Satzungsregelungen abgewichen werden kann; vgl. hierzu LG Frankfurt v. 23.12.2014 – 3-05 O 47/14, AG 2015, 590 ff.; Koch, AG 2015, 213 ff.; Harbarth/Zeyher/Brechtel, AG 2016, 801 ff. 39 Vgl. Seibt in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 26 AktG Rz. 4; Limmer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 26 AktG Rz. 2. 40 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 26 AktG Rz. 3 m.w.N. 41 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 26 AktG Rz. 3 m.w.N. 42 Vgl. Bärwald in Semler/Stengel, 4. Aufl. 2017, § 197 UmwG Rz. 42; Decher/Hoger in Lutter, UmwG, 5. Aufl. 2014, § 197 UmwG Rz. 21; Meister/Klöcker in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 197 UmwG Rz. 35.

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Agreement fortgeführt werden. Für die Gründung der GmbH wiederum galt zwar § 26 AktG analog.43 Allerdings konnten auch in diesem Stadium besondere Vorteile ohne Aufnahme in den Gesellschaftsvertrag wirksam im Shareholders‘ Agreement vereinbart werden, wenn dieses erst nach der Eintragung der Gesellschaft geschlossen wurde und die Gewährung der besonderen Vorteile nicht in einem sachlichen Zusammenhang mit der Gründung stand.44

V. Die wagniskapitalfinanzierte Aktiengesellschaft: Ausgewählte Einzelprobleme Im Folgenden soll vor dem Hintergrund des soeben dargestellten rechtlichen Rahmens für zwei aus Investorensicht besonders bedeutsame Bereiche, nämlich (i) die Investoreninformation sowie (ii) die Entsendungsrechte der Gesellschafter zum Beirat bzw. Aufsichtsrat der Gesellschaft, der Frage nachgegangen werden, ob und wie die insoweit gängigen Regelgungen einer VC-Dokumentation auch in der Aktiengesellschaft adäquat abgebildet werden können. 1. Investoreninformation a) Gängige Regelungen Aus Investorensicht ist eine durchgägige Versorgung mit aktuellen Informationen zur wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Gesellschaft von essentieller Bedeutung.45 Aus diesem Grund enthält das Shareholders‘ Agreement üblicherweise Klauseln, die sehr weitgehende Informationsrechte aller oder bestimmter Investoren gegenüber der Gesellschaft vorsehen. Gängig sind insbesondere Regelungen, wonach die Gesellschaft allen oder jedenfalls bestimmten maßgeblich beteiligten Investoren turnusmäßig, teilweise monatlich, ­bestimmte betriebswirtschaftliche und finanzielle Kennzahlen sowie Berichte und Prognosen des Managements zur Verfügung zu stellen hat (sog. Investor Reporting). Oftmals ist überdies vorgesehen, dass alle oder wenigstens maßgeblich beteiligte Investoren unverzüglich über sämtliche Ereignisse zu informieren sind, die wesentliche nachteilige Auswirkungen auf die finanzielle und wirtschaftliche Situation der Gesellschaft, ihre Geschäftsentwicklung oder ihren Wert haben können. 46

43 Vgl. BGH v. 20.2.1989 – II ZB 10/88, BGHZ 107, 1, 3 ff.; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 26 AktG Rz. 1 und Rz. 6. 44 Vgl. hierzu nur Limmer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 26 AktG Rz. 2; Pentz in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 26 AktG Rz. 19. 45 Näher hierzu Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 44 und 565 ff. 46 Beispiel für eine entsprechende Klausel bei Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 207 ff.

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Schließlich enthält das Shareholders‘ Agreement oftmals Regelungen, die allen oder jedenfalls maßgeblich beteiligten Investoren das Recht einräumen, vom Management jederzeit sämtliche Auskünfte über Angelegenheiten der Gesellschaft zu verlangen, die bei vernünftiger Betrachtung aus Investorensicht bedeutsam sein können. Ergänzt wird dieses Auskunftsrecht zumeist noch um das Recht, jederzeit Einsicht in alle Bücher und Unterlagen der Gesellschaft nehmen und zu diesem Zwecke Zugang zu den Räumlichkeiten des Unternehmens verlangen zu können.47 b) Zulässigkeit in der GmbH Bezogen auf eine GmbH sind derartige Regelungen unproblematisch. Den Gesellschaftern einer GmbH steht nach § 51a GmbHG schon kraft Gesetzes ein umfassendes Auskunfts- und Einsichtsrecht hinsichtlich aller „Angelegenheiten der Gesellschaft“ zu. Dieser Begriff wird denkbar weit verstanden und umfasst neben sämtlichen Angaben zur wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Gesellschaft auch Informationen über die Rechtsverhältnisse und Tätigkeit der Geschäftsführung und eines Beirates bzw. Aufsichtsrates. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann ein GmbH-Gesellschafter gestützt auf § 51a GmbH sogar Einsichtsnahme in die Sitzungsprotokolle des Aufsichtsrates verlangen.48 Mit Blick auf die GmbH gewähren daher die üblicherweise im Shareholders‘ Agreement enthaltenen Regelungen zu Informations- und Einsichtsrechten den Gesellschaftern regelmäßig keine über die gesetzliche Ausgangslage hinausgehenden Rechte. Auch hinsichtlich der Implementierung eines ergänzenden Berichts- und Informationssystems bestehen bezogen auf eine GmbH keine Bedenken.49 Die in § 51a Abs. 2 GmbH enthaltene Bestimmung über die ausnahmsweise Verweigerung der Auskunft oder Einsicht und insbesondere auch die Verpflichtung des Geschäftsführers, im Einzelfall eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung hie­ rüber einzuholen, bleiben von den Regelungen zur Investoreninformation in einer Gesellschaftervereinbarung allerdings unberührt, auch wenn die Gesellschaft und der Gesellschafter-Geschäftsführer Partei dieser Vereinbarung sind. Liegt ein Verweigerungsgrund vor, so muss der Geschäftsführer eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung nach § 51a Abs. 2 S. 2 GmbHG einholen und die Versammlung muss die Verweigerung der betreffenden Auskunft beschließen, ein Ermessen besteht nicht.50 Um einen Gleichlauf mit dieser gesetzlichen Pflichteinlage herzustellen, sollte die gängige Regelung zur Investoreninformation im Shareholders‘ Agreement auch in der GmbH explizit klarstellen, dass die dort vorgesehene Verpflichtung der Gesellschaft nur besteht, „soweit gesetzlich zulässig“.

47 Beispiel Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 207. 48 Siehe BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, BGHZ 135, 48 ff. für Protokolle eines obligatorischen Aufsichtsrates; ferner Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 51a GmbHG Rz. 13 f. 49 Vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 51a GmbHG Rz. 42. 50 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl. 2017, § 51a GmbHG Rz. 39.

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c) Zulässigkeit in der Aktiengesellschaft aa) Gesetzliche Ausgangslage In der Aktiengesellschaft ist die gesetzliche Ausgangslage eine völlig andere.51 Den Aktionären steht lediglich das hauptversammlungsgebundene Auskunftsrecht des § 131 Abs. 1 AktG zu, das nur diejenigen Informationen umfasst, die zur sachgemäßen Beurteilung der Gegenstände der jeweiligen Tagesordnung erforderlich sind, und zudem durch das Auskunftsverweigerungsrecht des § 131 Abs. 3 AktG beschränkt ist. Ein Recht auf Einsicht in Unterlagen der Gesellschaft haben Aktionäre nicht.52 Regelmäßige und anlassbezogene Berichte hat der Vorstand allein dem Aufsichtsrat in dem in § 90 AktG festgelegten Umfang zu erstatten. Dem Aufsichtsrat stehen zur Erfüllung der ihm gesetzlich zugewiesenen Kontroll- und Überwachungsaufgabe nicht hauptversammlungsgebundene Auskunftsansprüche gegen den Vorstand sowie die Einsichts- und Prüfrechte aus § 111 Abs. 2 AktG zu. Dieses ausdifferenzierte System der Informationsversorgung spiegelt letztlich die gesetzliche Kompetenzverteilung in der Aktiengesellschaft wider.53 bb) Zulässigkeit der gängigen Regelungen in VC-Gesellschafterverein­ barungen zur Investoreninformation in der Aktiengesellschaft Die soeben dargestellten Regelungen zur Investoreninformation, die sich üblicherweise in der Gesellschaftervereinbarung einer wagniskapitalfinanzierten Gesellschaft finden, weichen von diesem gesetzlichen Konzept der Informationsversorgung in der Aktiengesellschaft sehr weitgehend ab. Insbesondere unter Berücksichtigung der kurzen Reportingintervalle geht die in der VC-Dokumentation vorgesehene Informationsversorgung der Gesellschafter häufig sogar über das hinaus, was das Aktiengesetz hinsichtlich der Information des Aufsichtsrates durch die Regelberichte des Vorstandes gemäß §  90 AktG verlangt.54 Damit werden die Investoren letzlich in die Lage versetzt, das Management wie ein Aufsichtsrat laufend zu überwachen. Gerade wegen der Spärlichkeit der gesetzlich vorgesehenen Informationsrechte kommt aus Investorensicht der Frage besondere Bedeutung zu, ob es auch in der Aktiengesellschaft zulässig ist, den Investoren auf Basis einer privatautonomen Regelung über § 131 AktG hinausgehende Informationen und Informationsrechte zu gewähren. Die herrschende Meinung bejaht das und hält entsprechende Regelungen sowohl in einer schuldrechtlichen Vereinbarung unter Beteiligung der Gesellschaft als auch durch Satzungsregelung (als „Rechte“ i.S.d. § 11 AktG) für zulässig.55 Zwingende Vor51 Instruktive Gegenüberstellung der Informations- und Einsichtsrechte der Gesellschafter in GmbH und AG bei BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, BGHZ 135, 48, 53 ff. 52 Vgl. BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, BGHZ 135, 48, 54; BGH v. 5.4.1993 – II ZR 238/91, BGHZ 122, 211, 236 f.; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 41. 53 Vgl. BGH v. 6.3.1997 – II ZB 4/96, BGHZ 135, 48, 54. 54 Zutreffend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 567. 55 Vgl. Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 601; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 121; Brehm, Das

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schriften des Aktiengesetzes oder institutionelle Erwägungen stehen dem nicht entgegen.56 (1) Kein Entgegenstehen zwingenden Gesetzesrechts Das gilt zunächst für die Vorschrift des § 131 AktG. Ihr Wortlaut sowie ihre systematische Stellung im Abschnitt über die Hauptversammlung und nicht im Dritten Teil des Aktiengesetzes über die „Rechtsverhältnisse der Gesellschaft und der Gesellschafter“ (§§ 53a ff. AktG) lassen erkennen, dass diese Norm sich ausschließlich mit dem hauptversammlungsgebundenen Anspruch der Aktionäre auf Informationserteilung zu den Punkten der jeweiligen Tagesordnung beschäftigt und keine allgemeine und erst recht keine als abschließend zu verstehende Regelung zur Informationsversorgung der Aktionäre enthält,57 deren Zweck darin bestünde, jegliche anderweitige Informationserteilung an Aktionäre auszuschließen.58 Der Informationserteilung an Aktionäre außerhalb der Hauptversammlung und der Einräumung nicht hauptversammlunsggebundener Informationsansprüche an Aktionäre steht die Vorschrift daher nach zutreffender herrschender Meinung nicht entgegen.59 Jedenfalls Ersteres bestätigt auch § 131 Abs. 4 AktG.60 Auch § 118 Abs. 1 AktG schließt nach zutreffender Ansicht die Aktionärsinformation außerhalb der Hauptversammlung und die Gewährung eines Anspruchs hierauf nicht aus.61 Schließlich stehen auch die §§ 90, 111 Abs. 2 AktG der Gewährung von Informationsund Einsichtsrechten an bestimmte Aktionäre sowie der Etablierung eines Reporting­

Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S.  76; Weitnauer in Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 6.  Aufl. 2019, S.  368 Rz.  171; für Zulässigkeit entsprechender Regelungen ausschließlich in der Satzung Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 469 ff. 56 Eingehend hierzu Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S.  565  ff.; ferner Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 117 ff.; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 73 ff.; Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 418 f.; Weitnauer in Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 6.  Aufl. 2019, S.  368 Rz.  171; Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 469 ff. 57 Vgl. Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 470. 58 Eingehend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 571 ff. 59 Vgl. Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 9; Siems in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 4; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 186; Kersting in KK AktG, 3. Aufl. 2009, § 131 AktG Rz. 60; Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 470  f.; Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 571, Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 119, abweichend Fleischer, ZGR 2009, 505, 525 im Hinblick auf eine entsprechende Satzungsregelung. 60 Vgl. Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S.  119; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 77. 61 Eingehend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 574 ff.; abweichend Fleischer, ZGR 2009, 505, 525 im Hinblick auf eine entsprechende Satzungsregelung.

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systems für diese nach zutreffender herrschender Meinung nicht entgegen.62 Zwingend sind diese Vorschriften nur insoweit, als aus ihnen folgt, dass dem Aufsichtsrat die genannten Rechte zustehen müssen und ihm nicht durch die Satzung und erst recht nicht durch eine schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarung entzogen werden können.63 Demgegenüber schließen die genannten Vorschriften es nach ganz überwiegender Ansicht nicht aus, zusätzlich vergleichbare Rechte für Aktionäre zu begründen.64 (2) Verschwiegenheitspflicht gemäß §§ 93 Abs. 1 S. 3, 116 S. 2 AktG Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrates nach § 93 Abs. 1 S. 3 AktG und § 116 S. 1 und S. 2 AktG über „vertrauliche Angaben“ und „Geheimnisse“ der Gesellschaft, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand oder Aufsichtsrat bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren haben. Diese Verschwiegenheitspflicht gilt grundsätzlich auch gegenüber Aktionären und zwar auch gegenüber Großaktionären sowie im Verhältnis zwischen einem entsendungsberechtigten Aktionär und dem von ihm entsandten Aufsichtsratmitglied, auch wenn solche Aktionäre von „ihren Vertretern“ im Aufsichtsrat regelmäßig bereitwillige Auskunft über Unternehmensinterna erwarten mögen.65 Die Verschwiegenheitspflicht ist zwingend und kann weder durch die Satzung noch durch Geschäftsordnung oder vertragliche Absprachen eingeschränkt werden.66 Sie ist daher von den Organmitgliedern auch dann zu berücksichtigen, wenn das Shareholders‘ Agreement einer wagniskapitalfinanzierten Aktiengesellschaft – wie üblich – die soeben dargestellten Regelungen zur Investoreninformation erhält. Eine solche vertragliche Verpflichtung der Gesellschaft entbindet die Organmitglieder nicht von der Beachtung der gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht67 und modifiziert nicht deren Inhalt. Indessen ist die Verschwiegenheitspflicht der Organmitglieder nicht absolut. Sie tritt dann zurück, wenn ein das Geheimhaltungsinteresse überwiegendes Interesse der Gesellschaft (nicht: einzelner Gesellschafter) an der Offenlegung der betreffenden Informationen besteht.68 Bezogen auf die den Gesellschaftern in der VC-Dokumentation 62 Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 76 f.; Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 573 f.; Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S.  418; Weitnauer in Weitnauer, Handbuch Venture Capital, 6. Aufl. 2019, S. 368; Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 471. 63 Vgl. hierzu Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 6; Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 5; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 1; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 8; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 90 AktG Rz. 12. 64 Siehe die Nachweise in Fn. 59. 65 Vgl. nur Schaper, AG 2018, 356, 359. 66 BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 327; BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2571; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 161. 67 Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 582. 68 Vgl. BGH v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325, 327 ff.; BGH v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, NJW 2016, 2569, 2571; Fleischer, ZGR 2009, 505, 525; Fleischer in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 169; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 150. 

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üblicherweise eingeräumten Informationsrechte kann sich – soweit die betreffenden Informationen überhaupt unter die Verschwiegenheitspflicht der Organmitglieder fallen – ein solches überwiegendes Offenlegungsinteresse aus dem Finanzierungsinteresse der Gesellschaft ergeben.69 Ohne das marktübliche Informationspaket werden die allermeisten VC-Investoren nämlich nicht bereit sein, der Gesellschaft (weitere) Mittel zur Verfügung zu stellen,70 so dass die Gesellschaft möglicherweise keine Finanzierung finden würde und nicht überlebensfähig wäre. Allerdings stellt das Finanzierungsinteresse der Gesellschaft keinen Freibrief für eine unkontrollierte Informationserteilung an Investoren dar. Soweit die Information in den Anwendungsbereich der §§ 93 Abs. 1 S. 3 AktG fällt, bleibt das aktienrechtliche Pflichtenprogramm des Vorstandes vielmehr unberührt.71 Der Vorstand bleibt berechtigt und verpflichtet zu überprüfen, ob die Erteilung der konkreten Informa­ tionen tatsächlich im Gesellschaftsinteresse liegt. Er darf und muss die Informationserteilung im Einzelfall verweigern, wenn und soweit das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft überwiegt.72 Um das auch im Shareholders‘ Agreement klar abzubilden, sollte man in die Regelung zur Informationserteilung explizit aufnehmen, dass eine entsprechende Verpflichtung der Gesellschaft nur besteht, „soweit gesetzlich zulässig“. Im Übrigen ist darauf zu achten, dass das Shareholders‘ Agreement eine umfassende Verschwiegenheitsverpflichtung der informationsberechtigten Gesellschafter vorsieht.73 Schließlich ist bei der Informationserteilung an Investoren und insbesondere bei der Entscheidung über die Offenlegung von potentiell der Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Informationen die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung zu beachten. Die Erteilung von Informationen an Dritte fällt in der Regel in die Zuständigkeit des Vorstands. Ein eigenes Dispositionsrecht des Aufsichtsrates hinsichtlich die Gesellschaft betreffender Informationen besteht, jedenfalls, soweit diese der Verschwiegenheit unterliegen, allenfalls in engen Grenzen im Rahmen seiner funktionellen Zuständigkeit.74

69 Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 77 f.; Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 119; Loges/Distler, ZIP 2002, 467, 471 m.w.N.; Mellert, NZG 2003, 1096, 1099; Bank/Möllmann in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 419; i.E. auch Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 586 ff. 70 Vgl. Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 419, Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S. 119. 71 Zutreffend Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 589. 72 Richtig Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 589. 73 Zur Notwendigkeit einer Verschwiegenheitsvereinbarung siehe Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 32; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 154 jeweils im Kontext einer Due-Diligence-Prüfung. 74 Vgl. BGH v. 19.2.2013 – II ZR 56/12, BGHZ 196, 195, 206, Rz. 30; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 65.

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Soweit die Information der Verschwiegenheit unterliegt, ist zudem zu berücksichtigen, dass die Erteilung eines Dispenses von der Verschwiegenheitspflicht einen Beschluss des jeweils zuständigen Gesamtorgans75 erfordert und nicht im Gutdünken des einzelnen Organmitglieds steht. Im VC-Kontext ist das insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn einzelne Aufsichtsratsmitglieder sich der Erwartung ausgesetzt sehen, den Investoren, die sie in den Aufsichtsrat der Gesellschaft „entsandt“ haben, über Aufsichtsratsinterna umfassend Bericht zu erstatten. (3) Pflicht zur informationellen Gleichbehandlung? Soweit die im Shareholders’ Agreement enthaltene Klausel zur Investoreninformation einen Anspruch auf die Erteilung bestimmter Informationen nur bestimmten wesentlich beteiligten Aktionären („Major Shareholders“/„Major Investors“) einräumt, stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit einer solchen differenzierenden Regelung mit dem im § 53a AktG statuierten Gleichbehandlungsgrundsatz. Ausweislich des Gesetzeswortlautes gilt die Pflicht zur Gleichbehandlung der Aktionäre allerdings nur „unter gleichen Voraussetzungen“. Es handelt sich bei § 53a AktG also um ein relatives Gleichbehandlungsgebot, das lediglich sachwidrige Differenzierungen verbietet.76 Zulässig ist eine Ungleichbehandlung von Aktionären oder Aktionärsgruppen demgegenüber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes dann, wenn sie sachlich gerechtfertigt ist und nicht den Charakter von Willkür trägt,77 sondern das Ergebnis sachgerechter Abwägung darstellt.78 Eine unterschiedliche Behandlung von wesentlich beteiligten Aktionären und Kleinaktionären kann daher angesichts der unterschiedlichen Interessen und Bedeutung dieser Aktionärsgruppen für das Unternehmen durchaus gerechtfertigt sein.79 Im Hinblick auf die Investorenkommunikation außerhalb einer Hauptversammlung ist vor diesem Hintergrund anerkannt, dass jedenfalls die punktuelle Vorabinformation nur wesentlich beteiligter Aktionäre zu bestimmten Themen sachlich gerechtfertigt sein kann.80 Ein generelles Informationsprivileg für Großaktionäre dergestalt, dass diese breitflächig und dauerhaft von der Gesellschaft bevorzugt mit Informationen versorgt werden, wird demgegenüber von namhaften Stimmen als mit § 53a AktG unvereinbar angesehen.81 Allein die Rolle als Großaktionär soll insoweit nicht zur sachlichen Rechtfertigung einer informationellen Ungleichbehandlung ausreichen.82 Ob diese restriktive Sichtweise auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten und der Interessenlage der Beteiligten in einer 75 Schaper, AG 2018, 356, 360 m.w.N. 76 Vgl. Fleischer, ZGR 2009, 505, 520; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 737. 77 Vgl. BGH v. 9.11.1992  – II ZR 230/91, BGHZ 120, 141 (Leitsatz und 150  f.); BGH v. 6.10.1960 – II ZR 150/58, BGHZ 33, 175, 186; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 737. 78 Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 737; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 53a AktG Rz. 8. 79 Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 737.  80 Vgl. Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 737; Fleischer, ZGR 2009, 505, 521; Koch, AG 2017, 129, 136. 81 Vgl. Fleischer, ZGR 2009, 505, 524; Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 532 f. 82 Fleischer, ZGR 2009, 505, 524.

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wagniskapitalfinanzierten Aktiengesellschaft überzeugt, kann und muss an dieser Stelle nicht vertieft erörtert werden. Jedenfalls für den Fall, dass die Regelungen zur Investoreninformation sich – wie üblich – im Shareholders’ Agreement befinden, dürfte sich eine informationelle Ungleichbehandlung von wesentlich beteiligten und sonstigen Aktionären ohnehin mit anderen Erwägungen rechtfertigen lassen. In diesem Falle liegt es nahe, einen Verzicht der nicht zum Erhalt bestimmter Informationen berechtigten Aktionäre auf ihre informationelle Gleichbehandlung anzunehmen, denn schließlich haben diese das Shareholders’ Agreement und damit auch die entsprechende differenzierende Regelung zur Investoreninformation gebilligt und unterschrieben. Es ist anerkannt, dass ein Aktionär zwar nicht generell, wohl aber konkret im Einzelfall auf seine Gleichbehandlung verzichten kann.83 Die im Shareholders’ Agreement enthaltene Regelung zu Investoreninformation dürfte diesen Anforderungen genügen, denn sie lässt konkret erkennen, welche Informationen nur die wesentlich beteiligten Aktionäre erhalten und welche alle Aktionäre. (4) Pflicht zur Nachinformation gemäß § 131 Abs. 4 AktG Hinsichtlich der Informationen, die einzelnen Investoren aufgrund der entsprechenden Regelungen in der Gesellschaftervereinbarung gewährt werden, steht den übrigen Aktionären unter den Voraussetzungen des § 131 Abs. 4 AktG ein Anspruch auf Nachinformation in der nächsten Hauptversammlung auch dann zu, wenn die entsprechenden Informationen zur sachgemäßen Beurteilung der Gegenstände der jeweiligen Tagesordnung nicht erforderlich sind.84 Tatbestandlich setzt §  131 Abs.  4 AktG voraus, dass die Information dem Empfänger gerade in seiner Eigenschaft als Aktionär erteilt worden ist.85 Daran fehlt es, wenn der Informationsempfänger neben seiner Aktionärseigenschaft in einer weiteren rechtlichen oder tatsächlichen Beziehung – etwa als Lieferant oder Kreditgeber – zu der Gesellschaft steht und ihm die Information ausschließlich wegen dieser Eigenschaft gewährt wird.86 Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, die in Beteiligungs- und Gesellschaftervereinbarung begründete besondere Stellung der informationsberechtigten wesentlichen VC-Investoren als Argument dafür heranzuziehen, dass die Erteilung von Informationen an sie allein auf dieser Grundlage und nicht aufgrund der allgemeinen Aktionärseigenschaft erfolgt sei und daher auch keinen Nachauskunftsanspruch gemäß § 131 Abs. 4 AktG auslöse.87 Überdies fragt sich, ob in der Zustimmung zu der Regelung im Share­holders’ Agreement, die die Erteilung bestimmter Informationen nur an Major Shareholders vorsieht, nicht zugleich ein konkludenter Verzicht der übrigen Aktionäre auf ­einen diesbezüglichen Nachauskunftsanspruch liegt. Unabhängig davon ist der Nachaus83 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 53a Rz. 5; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 53a AktG Rz. 8. 84 Vgl. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 70.  85 Vgl. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 71; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 151. 86 Vgl. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 71; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 152. 87 In diese Richtung Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 419.

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kunftsanspruch jedenfalls in der Praxis, zumal im VC-Kontext, von äußerst geringer praktischer Relevanz. 2. Entsendungsrechte zum Beirat bzw. Aufsichtsrat Die typische wagniskapitalfinanzierte GmbH hat neben der Geschäftsführung und der Gesellschafterversammlung einen Beirat bzw. einen fakultativen Aufsichtsrat. ­Dieser hat einerseits beratende Funktion und soll andererseits die – zumeist aus den Gründern bestehende  – Geschäftsführung überwachen. Regelmäßig sehen das Shareholders‘ Agreement und eine Geschäftsordnung für die Geschäftsführung daher einen umfangreichen Katalog mit Zustimmungsvorbehalten zugunsten des Beirates bzw. fakultativen Aufsichtsrates vor. Oft sind diesem Gremium auch die Bestellung und Abberufung der Geschäftsführer sowie der Abschluss und die Beendigung der Geschäftsführeranstellungsverträge übertragen. a) Gängige Regelung zur Beiratsbesetzung in der VC-Dokumentation und Zulässigkeit in der GmbH Üblicherweise finden sich in der VC-Dokumentation Regelungen zur Besetzung des Beirates bzw. fakultativen Aufsichtsrates, die vorsehen, dass der oder die Gründer sowie einige wesentliche Investoren jeweils eine bestimmte Zahl von Mitgliedern in dieses Gremium entsenden dürfen. In der Regel werden diese Entsendungsrechte bei der GmbH sowohl in der Gesellschaftervereinbarung als auch im Gesellschaftsvertrag abgebildet. Meistens werden auf diese Weise sämtliche Beiratssitze besetzt. In der GmbH ist das möglich.88 Was gilt hinsichtlich des Aufsichtsrates in der Aktiengesellschaft? b) Zulässigkeit in der Aktiengesellschaft aa) Satzungsebene: Drittelgrenze für statutarische Entsendungsrechte, § 101 Abs. 2 S. 4 AktG § 101 Abs. 2 S. 1 AktG sieht vor, dass ein Recht, Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, „nur durch die Satzung“ und nur für bestimmte Aktionäre oder für die jeweiligen Inhaber bestimmter Aktien begründet werden kann. Ergänzend sieht § 101 Abs. 2 S. 4 AktG vor, dass Entsendungsrechte für insgesamt höchstens ein Drittel der sich aus Gesetz oder Satzung ergebenden Zahl der Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre eingeräumt werden können. Es ist also in der Aktiengesellschaft nicht möglich, statutarische Entsendungsrechte zugunsten bestimmter Aktionäre hinsichtlich sämtlicher Aufsichtsratssitze zu begründen. Eine entsprechende Satzungsbestimmung

88 Vgl. für den Beirat Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 52 GmbHG Rz. 113; für den fakultativen Aufsichtsrat vgl. Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, 19. Aufl. 2016, § 52 GmbHG Rz. 6. 

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wäre nichtig.89 Auf Ebene der Satzung kann daher im Zuge des Formwechsels einer wagniskapitalfinanzierten GmbH in eine AG die Erwartung sämtlicher bisheriger Entsendunsgberechtigter, ihre bezüglich des Beirates in der GmbH bestehenden Entsendungsrechte auch für den Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft beibehalten zu können, nicht erfüllt werden. Deshalb fragt sich, ob und ggf. wie diese Rechtspositionen in der Gesellschaftervereinbarung auch nach Aktienrecht wirksam abgebildet werden können. bb) Gesellschaftervereinbarung: Kombination aus Vorschlagsrecht und Stimmbindungsabrede In Betracht kommt insoweit vor allem eine Absprache, wonach dem jeweiligen „Entsendungsberechtigten“ anlässlich der Aufsichtsratswahlen das Recht zusteht, einen Kandidaten vorzuschlagen und die übrigen Aktionäre, die ja üblicherweise sämtlich Partei des Shareholders‘ Agreements sind,90 sich verpflichten, für diesen Vorschlag zu stimmen, also eine Kombination aus Vorschlagsrecht und Stimmbindungsverein­ barung. Diese Vereinbarung zur Wahl der Aufsichtsratmitglieder kann durch eine entsprechende Regelung zur Abwahl ergänzt werden dergestalt, dass die übrigen Aktionäre sich verpflichten, jederzeit für einen Antrag eines Mitaktionärs auf Abwahl „seines“ Aufsichtsratsmitgliedes zu stimmen. Auf diese Weise kann auf rein schuld­ rechtlicher Basis ein einem statutarischen Entsendungsrecht grosso modo vergleichbares Ergebnis erzielt werden. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Stimmbindungsvereinbarungen zwischen Aktionären ist seit Langem anerkannt.91 Sie folgt aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und aus einem Umkehrschluss zu § 136 Abs. 2 AktG.92 (1) Kein Satzungsvorbehalt aus § 101 Abs. 2 S. 1 AktG Es fragt sich allerdings, ob sich im Fall von Stimmbindungsvereinbarungen betreffend Aufsichtsratswahlen die Unzulässigkeit derartiger Absprachen nicht aus der bereits erwähnten Vorschrift des § 101 Abs. 2 S. 1 AktG ergibt, die explizit anordnet, dass Entsendungsrechte „nur durch die Satzung“ begründet werden können. Jedoch meint § 101 Abs. 2 S. 1 AktG nach ganz herrschender Auffassung ausschließlich Entsendungsrechte in Form echter Sonderrechte, die es dem Berechtigten gestatten, durch einseitige Erklärung „an der Hauptversammlung vorbei“ ein Mitglied des Aufsichtsrates zu benennen. Demgegenüber schließt die Norm eine Konstruktion auf rein schuldrechtlicher Ebene, die wie die eben dargestellte Kombination aus Vorschlagsrecht und Stimmbindung ein vergleichbares Ergebnis wie ein statutarisches

89 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 101 AktG Rz. 11; Breuer/Fraune in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2014, § 101 AktG Rz. 13. 90 Siehe hierzu oben unter Gliederungspunkt I. 2. 91 Vgl. nur BGH v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, BGHZ 179, 13 m.w.N. 92 BGH v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, BGHZ 179, 13 m.w.N.

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Entsendungsrecht herbeizuführen versucht, nach überwiegender Ansicht nicht aus.93 Dies wird vor allem damit begründet, dass im Falle einer derartigen schuldrechtlichen Abrede im Gegensatz zu einem statutarischen Entsendungsrecht weiterhin eine Wahl durch die Hauptversammlung erfolge und daher deren Zuständigkeit unberührt bleibe.94 (2) Keine zahlenmäßige Beschränkung schuldrechtlicher Vorschlagsrechte gemäß oder analog § 101 Abs. 2 S. 4 AktG Überdies geht die herrschende Meinung davon aus, dass auch die zahlenmäßige Obergrenze des § 101 Abs. 2 S. 4 AktG für eine schuldrechtliche Stimmbindungsvereinbarung zur Aufsichtsratswahl nicht gelte.95 Somit lässt sich festhalten, dass es in der Aktiengesellschaft zwar nicht möglich ist, statutarische Entsendungsrechte hinsichtlich sämtlicher Aufsichtsratssitze zu begründen, sich aber ein vergleichbares Ergebnis durch die eben dargestellte Gestaltung in einer Gesellschaftervereinbarung erzielen lässt, wobei durchaus auch echte statuta­ rische Entsendungsrechte (unter Berücksichtigung der zahlenmäßigen Grenze des § 101 Abs. 2 S. 4 AktG) und schuldrechtlichen „Entsendungsrechte“ kombiniert werden können. (3) Schranken aus § 136 Abs. 2 AktG Allerdings ist bei derartigen Gestaltungen in Stimmbindungsvereinbarungen die Vorschrift des § 136 Abs. 2 AktG im Blick zu behalten, wonach Stimmbindungsvereinbarungen nichtig sind, mit denen sich Aktionäre verpflichten, den jeweiligen Weisungen oder Vorschlägen der Gesellschaft, des Vorstandes oder des Aufsichtsrates entsprechend abzustimmen. Die Vorschrift ist im hiesigen Kontext praktisch bedeutsam, weil die Gründer der Gesellschaft sehr häufig eine Doppelrolle als Aktionär und Mitglied des Managements innehaben.96 Wenn die übrigen Aktionäre sich im Shareholders‘ Agreement gegenüber einem im Vorstand oder Aufsichtsrat der Gesellschaft vertretenen Gründer verpflichten, bei Aufsichtsratswahlen für seinen Wahlvorschlag zu stimmen, stellt sich die Frage nach einem Eingreifen des § 136 Abs. 2 AktG. 93 Siehe etwa Noack, Gesellschaftervereinbarungen bei Kapitalgesellschaften, 1994, S.  278; Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang, 2016, S. 610 ff.; Harbarth/Zeyher/Brechtel, AG 2016, 801, 804; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 88 f.; a.A. Ziegert, Der Venture Capital-Beteiligungsvertrag, 2005, S. 144. 94 Vgl. Harbarth/Zeyher/Brechtel, AG 2016, 801, 804; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 90 f. 95 Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, 2004, S.  116; Brehm, Das Venture-Capital-Vertragswerk, 2012, S. 88; Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 416 f. 96 Vgl. Wennekers/Bank in Bank/Möllmann, Venture Capital Agreements in Germany, 2017, S. 417 f.

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Der Wortlaut dieser Norm spricht von einer Verpflichtung der Aktionäre, nach Weisung bzw. Vorschlag „des Vorstands“ oder „des Aufsichtsrats“ abzustimmen. Es besteht Einigkeit, dass mit diesen beiden Tatbestandsvarianten nicht diejenigen Fälle gemeint sein können, in denen Vorstand und Aufsichtsrat im Namen der Gesellschaft Weisungen erteilen oder Abstimmungsvorschläge unterbreiten, denn diese Konstellation wird bereits von der ersten Tatbestandsvariante des § 136 Abs. 2 S. 1 AktG – Weisung „der Gesellschaft“  – erfasst.97 Da Vorstand und Aufsichtsrat als solche nicht rechtsfähig sind, werden § 136 Abs. 2 S. 1, 2. Var. und 3. Var AktG (sowie S. 2) so verstanden, dass sie diejenigen Fälle erfassen sollen, in denen einzelne oder mehrere ­Organmitglieder bei der Weisungserteilung im Namen der Gesamtheit der Organmitglieder handeln.98 Vom Gesetzeswortlaut nicht erfasst sind demgegenüber Stimmbindungsverträge mit einzelnen Vorstands- oder Aufsichtsratsmitgliedern, so dass diese ganz überwiegend als grundsätzlich zulässig erachtet werden.99 Eine Ausnahme hiervon soll allerdings gelten, wenn die betreffenden Organmitglieder die Willensbildung innerhalb des Organs dominieren können.100 Dies wird man beispielsweise dann annehmen müssen, wenn ein Gründer, dem gegenüber sich andere Aktionäre im Shareholders‘ Agreement zur Wahl seines bzw. seiner Kandidaten in den Aufsichtsrat verpflichtet haben, alleiniges Vorstandsmitglied ist. Auch in einer solchen Konstellation steht das Eingreifen des § 136 Abs. 2 AktG allerdings noch nicht abschließend fest. Vielmehr stellt sich hier die Frage, ob eine Anwendung der Norm aufgrund der Doppelrolle des Gründers als Vorstandsmitglied und Aktionär ausscheidet. Anders gewendet: Schließt der Umstand, dass das aufgrund der Stimmbindungsabrede weisungs- bzw. vorschlagsbefugte Vorstandmitglied zugleich Aktionär ist, die Anwendung des § 136 Abs. 2 AktG aus? Das Meinungsbild zu dieser Frage ist gespalten,101 höchstrichterliche Rechtsprechung fehlt, soweit ersichtlich. Teilweise wird davon ausgegangen, dass es nichts am Eingreifen des § 136 Abs. 2 AktG ändere, wenn das betreffende Vorstandsmitglied als Aktionär an der Gesellschaft beteiligt sei.102 Andere gehen davon aus, dass § 136 Abs. 2 AktG in dieser Konstellation – offenbar aufgrund einer teleologischen Reduktion – nicht

97 Rieckers in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 136 AktG Rz. 53; Tröger in KK AktG, 3. Aufl. 2016, § 136 AktG Rz. 134; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 79. 98 Siehe die Nachweise in der vorherigen Fn. 99 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 26; Rieckers in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 136 AktG Rz. 53; Tröger in KK AktG, 3. Aufl. 2016, § 136 AktG Rz. 134; Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  136 AktG Rz.  79; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 136 AktG Rz. 26; kritisch Krenek/Pluta in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2014, § 136 AktG Rz. 26. 100 Tröger in KK AktG, 3. Aufl. 2017, § 136 AktG Rz. 138; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 79 sowie die weiteren in der vorherigen Fußnote Genannten. 101 Siehe hierzu Garbe, Stimmbindungsvereinbarungen gegenüber dem Verband und seinen Organen, 2011, S. 63  ff. 102 Vgl. OLG Oldenburg v. 16.3.2006 – 1 U 12/05, AG 2006, 724, 726; zudem Tröger in KK AktG, 3. Aufl. 2016, § 136 AktG Rz. 132; vgl. auch Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 79 (betreffend Stimmrechtspool).

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eingreife.103 Wieder andere Stimmen stellen darauf ab, ob die Stimmbindungsvereinbarung an die Eigenschaft des Betroffenen als Organmitglied (dann Eingreifen des § 136 Abs. 2 AktG) oder an seine Gesellschafterstellung anknüpft (dann kein Eingreifen des § 136 Abs. 2 AktG).104 Jedenfalls nach den beiden letztgenannten Auffassungen steht § 136 Abs. 2 AktG einer Stimmbindungsvereinbarung mit einem Gründer, der zugleich (alleiniges) Vorstandsmitglied ist, nicht entgegen: Sowohl die Stellung des Betroffenen als Partei des Shareholders‘ Agreement insgesamt als auch die ihm gegenüber seitens der übrigen Aktionäre eingegangene konkrete Verpflichtung, bei Aufsichtsratswahlen für einen von ihm unterbreiteten Wahlvorschlag zu stimmen, knüpfen an die Gesellschafterstellung des Betroffenen an, nicht an seine Eigenschaft als Vorstandsmitglied. (4) Institutionelle Bedenken, insbesondere Wertung aus § 124 Abs. 3 S. 1, 2. Hs. AktG? Die Frage nach dem Eingreifen des §  136 Abs.  2 AktG stellt sich unabhängig vom konkreten Beschlussgegenstand, auf den sich die Stimmbindung bezieht. Im Hinblick auf den Tagesordnungspunkt „Aufsichtsratswahlen“ bestehen allerdings spezifische Bedenken, wenn einem (ggf. dem einzigen) Vorstandsmitglied, das zugleich Aktionär ist, mittels der oben beschriebenen Kombination aus Vorschlagsrecht und Stimmbindung über das Shareholders‘ Agreement die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrates und damit desjenigen Organs eingeräumt wird, das nach der Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft zur Überwachung der Vorstandstätigkeit und damit auch des in seiner Aktionärseigenschaft „entsendungsberechtigten“ Vorstandsmitgliedes berufen ist. Das gilt insbesondere, wenn ein Vorstandsmitglied aufgrund der entsprechenden Regelung im Shareholders‘ Agreement sogar die Mehrheit der Aufsichtsratssitze besetzen und ggf. zusätzlich nach Gutdünken auch über die Abberufung dieser Aufsichtsratsmitglieder disponieren kann. Wie § 124 Abs. 3 S. 1, 2. Hs. AktG zeigt, möchte das Aktiengesetz eine Einflussnahme des Vorstandes auf die Zusammensetzung seines Kontrollorgans, des Aufsichtsrates, vermeiden.105 Die Norm bezieht sich nach ihrem Wortlaut auf Vorschläge des Vorstandes als Organ, nach ihrem Telos erfasst sie nach verbreiteter Ansicht auch Vor-

103 Vgl. OLG Stuttgart v. 28.10.1985 – 5 U 202/84, JZ 1987, 570; OLG Karlsruhe v. 12.1.2005 – 7 U 181/03, NZG 2005, 636, 638; Garbe, Stimmbindungsvereinbarungen gegenüber dem Verband und seinen Organen, 2011, S. 63 ff. 104 So in einer Hilfserwägung jeweils bezogen auf die konkrete Konstellation und mit unterschiedlichem Ergebnis auch OLG Oldenburg v. 16.3.2006 – 1 U 12/05, AG 2006, 724, 726; OLG Stuttgart v. 28.10.1985 – 5 U 202/84, JZ 1987, 570; OLG Karlsruhe v. 12.1.2005 – 7 U 181/03, NZG 2005, 636, 638; aus der Literatur etwa Otto, AG 1991, 369, 379. 105 Vgl. Müller in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 4.  Aufl. 2014, §  124 AktG Rz. 32; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 124 AktG Rz. 18.

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schläge, die einzelne Vorstandsmitglieder in dieser Eigenschaft machen.106 Demgegenüber schließt § 124 Abs. 3 S. 1, 2. Hs. AktG es nicht aus, dass Aktionäre, die zugleich Vorstandsmitglieder sind, in ihrer Eigenschaft als Aktionäre gemäß § 127 AktG Vorschläge zur Aufsichtsratswahl unterbreiten.107 Überdies geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, dass auch statutarische Entsendungsrechte zum Aufsichtsrat i.S.d. § 101 Abs. 2 S. 1 AktG nicht ruhen oder gar erlöschen, wenn der entsendungsberechtigte Aktionär in den Vorstand der Gesellschaft einrückt.108 Das Aktiengesetz schließt es somit nicht aus, dass Aktionäre, die zugleich Vorstandsmitglieder sind, in ihrer Aktionärseigenschaft Einfluss auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrates nehmen. Hält ein Aktionär, der zugleich dem Vorstand angehört, die Mehrheit der in der Hauptversammlung vertretenen Anteile, so kann er – soweit nötig mittels in der Hauptversammlung gemäß § 127 AktG gestellter Gegenanträge zu Vorschlägen des Aufsichtsrates – sämtliche Sitze der Anteilseigner und somit einen nicht mitbestimmten Aufsichtsrat sogar vollständig nach seinem Gusto besetzen.109 Auch ohne über eine Mehrheit in der Hauptversammlung zu verfügen, kann ein Aktionär, der zugleich Mitglied des Vorstandes ist, aufgrund von statutarischen Entsendungsrechten gemäß § 101 Abs. 2 S. 4 AktG bis zu einem Drittel der von der Anteilseignerseite zu besetzenden Aufsichtsratssitze besetzen. Zwischen diesen beiden Fällen und einer Stimmbindungsvereinbarung zur Aufsichtsratswahl besteht allerdings folgender Unterschied: Geht man davon aus, dass § 136 Abs.  2 AktG einer Stimmbindungsvereinbarung zur Aufsichtsratswahl mit einem Vorstandsmitglied (auch einem alleinigen Vorstandsmitglied) nicht entgegensteht, wenn diese an dessen gleichzeitige Aktionärseigenschaft anknüpft,110 und geht man weiter davon aus, dass die in § 101 Abs. 2 S. 4 AktG für statutarische Entsendungsrechte vorgesehene Drittelgrenze auf schuldrechtliche Stimmbindungsvereinbarungen zu Aufsichtsratswahlen nicht analog anwendbar ist,111 so gelangte man zu dem Ergebnis, dass ein Aktionär, der zugleich Mitglied im Vorstand der Gesellschaft ist, aufgrund einer derartigen Stimmbindungsvereinbarung auch dann deutlich mehr als ein Drittel, gegebenenfalls sogar die Mehrheit, der Aufsichtsratssitze besetzen kann, wenn er nur über eine vergleichsweise geringe Beteiligung an der Gesellschaft weit unterhalb der Hauptversammlungsmehrheit verfügt. Ob dieses Ergebnis tatsächlich 106 Siehe Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 101 AktG Rz. 42; Simons in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 101 AktG Rz. 10. 107 Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 101 Rz. 42; Simons in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 101 AktG Rz. 10. 108 Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 101 AktG Rz. 32; Israel in Bürgers/ Körber, 4. Aufl. 2017, § 101 AktG Rz. 15; Simons in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 101 AktG Rz. 25; Seeling/Zwickel, BB 2008, 622, 624; a.A. Hopt/Roth in GK AktG, 5. Aufl. 2019, § 101 AktG Rz. 129. 109 Vgl. OLG Stuttgart v. 24.2.2017 – 20 W 8/16, AG 2017, 489; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 101 AktG Rz. 4; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 4, 4. Aufl. 2015, § 20 Rz. 41; anders bei drohender qualifiziert-faktischer Konzernierung nur OLG Hamm v. 3.11.1986 – 8 U 59/86, NJW 1987, 1030, 1031 f. 110 Hierzu soeben unter Gliederungspunkt V. 2. b) bb) (3). 111 Hierzu oben unter Gliederungspunkt V. 2. b) bb) (2).

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überzeugt oder ob ihm nicht institutionelle Bedenken entgegenstehen, ist eine erörterungsbedürftige Frage, die indessen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden kann. cc) Praktische Handlungsempfehlung Angesichts der dargestellten Zweifelsfragen hinsichtlich der Wirksamkeit einer die Aufsichratswahl betreffenden Stimmbindungsvereinbarung mit einem Aktionär, der zugleich Mitglied des Vorstandes oder Aufsichtsrates der Gesellschaft ist, ist jedenfalls aus Sicht dieses Aktionärs darauf zu drängen, dass sein Recht zur Besetzung eines oder mehrerer Aufsichtsratssitze wenigstens bis zur zahlenmäßigen Grenze des § 101 Abs. 2 S. 4 AktG als echtes statutarisches Entsendungsrecht i.S.d. § 101 Abs. 2 S. 1 AktG ausgestaltet wird. Ob dies in der Praxis gegenüber anderen Aktionären, die sich ggf. mit einem schuld­rechtlichen „Entsendungsrecht“ aus der Gesellschaftervereinbarung zufrieden geben müssen, auch tatsächlich durchsetzbar ist, ist eine andere Frage.

VI. Gesamtfazit Der Großteil der wagniskapitalfinanzierten Unternehmen ist in der Rechtsform der GmbH organisiert. Diese Rechtsform eignet sich auch deshalb besonders gut für solche Unternehmen, weil das GmbHG nur wenige zwingende Vorgaben enthält und die Gesellschafter daher bei der privatautonomen Ausgestaltung ihrer Gesellschaft sowohl auf Ebene des Gesellschaftsvertrages als auch auf der Ebene begleitender schuld­ rechtlicher Vereinbarungen weitgehende Freiheit genießen. Die marktüblichen, oftmals an Vorbildern aus dem angelsächsischen Rechtskreis orientierten Standardklauseln in der Dokumentation zu wagniskapitalfinanzierten Unternehmen lassen sich daher in der GmbH sowohl auf gesellschaftsvertraglicher Ebene als auch auf Ebene begleitender schuldrechtlicher Vereinbarungen weitgehend problemlos abbilden. Gelegentlich wählen wagniskapitalfinanzierte Unternehmen aber auch die Rechtsform der Aktiengesellschaft. In der Praxis sind insbesondere Formwechsel reiferer wagniska­ pitalfinanzierter Unternehmen aus ihrer ursprünglichen Rechtsform einer GmbH in die Rechtsform einer Aktiengesellschaft zu beobachten. Das AktG enthält allerdings einen deutlich größeren Bestand an zwingenden Vorgaben als das GmbHG. Vom Gesetz abweichende oder das Gesetz ergänzende Satzungsregelungen sind nur in den engen Grenzen des § 23 Abs. 5 AktG zulässig. Die Satzung einer wagniskapitalfinanzierten Aktiengesellschaft eignet sich schon aus diesem Grunde nur deutlich eingeschränkter als der Gesellschaftsvertrag einer GmbH für die Umsetzung der gängigen Regelungen einer VC-Dokumentation. Allerdings gelten die engen Grenzen der § 23 Abs.  5 AktG nicht für privatautonome Gestaltungen in einer begleitenden Gesellschaftervereinbarung. Auf dieser rein schuldrechtlichen Ebene besteht vielmehr auch in der Aktiengesellschaft erhebliche Gestaltungsfreiheit. Im Shareholders‘ Agreement können die Beteiligten einer Wagniskapitalfinanzierung daher auch in der Aktiengesellschaft viele der gängigen Regelungen abbilden oder immerhin mittels schuldrechtlicher Konstruktionen vergleichbare und aus Sicht der Beteiligten akzeptable Ergebnisse erzielen. 705

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Unionsrechtliche Determinanten für den Aufsichtsrat Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Organisation des Aufsichtsrats 1. Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder 2. Ausschüsse a) Nominierungsausschuss (nomination committee) b) Vergütungsausschuss (remuneration committee) c) Prüfungsausschuss (audit committee) d) Risikoausschuss 3. Profil der Aufsichtsratsmitglieder a) Fachliche Kompetenz b) Zeitliches Engagement c) Unabhängigkeit d) Diversität e) Wechsel vom Vorstand in den ­Aufsichtsrat

I II. Aufgaben des Aufsichtsrats 1. Art. 39 APRL: Überwachung des ­Abschlussprüfers 2. Art. 33 EU-Bilanz-RL: „Bilanzverant­ wortlichkeit“ 3. Art. 9c ARRL: related party transactions 4. Unionsrechtliche Vorgaben betreffend die Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats a) Art. 9a, 9b ARRL: Vergütungspolitik und Vergütungsbericht b) Vom Aufsichtsrat zu beachtende ­unionsrechtliche materielle Vorgaben betreffend die Vorstandsvergütung IV. Vergütung des Aufsichtsrats V. Fazit und Ausblick

I. Einleitung Der Aufsichtsrat spielte für den Jubilar Eberhard Vetter schon immer eine große Rolle  – nicht nur im Rahmen seiner Beratungstätigkeit, sondern auch als Gegenstand seiner vielfältigen Publikationen und nicht zuletzt in seiner eigenen Funktion als Aufsichtsratsmitglied. Im Europäischen Unternehmensrecht führte der Aufsichtsrat indes lange Zeit ein Schattendasein. Der erste Entwurf für eine 5. (Struktur-)RL von 19721 hatte zwar vorgesehen, das dualistische Modell – und damit insbesondere den Aufsichtsrat − europaweit verbindlich vorzuschreiben. Dieser Versuch ist jedoch bekanntlich kläglich gescheitert.2 Nachdem sich der Europäische Gesetzgeber am Aufsichtsrat solchermaßen quasi „die Finger verbrannt“ hatte, schien es lange, als ob man bewusst davor zurückscheute, die Thematik auch nur im weitesten Sinne zu tangieren. Das Recht des Aufsichtsrats schien bis auf Weiteres „harmonisierungsimmun“. 1 Vorschlag einer fünften RL zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter hinsichtlich der Struktur der Aktiengesellschaft sowie der Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe vorgeschrieben sind, KOM(72) 887 = BR-Drs. 562/72. 2 Siehe zum Ganzen Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 9.47 f. m.w.N.

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Unter dem Eindruck von spektakulären Unternehmensskandalen Anfang der 2000er und der globale Finanzkrise 2007/08 hat sich das Bild in den letzten Jahren jedoch geändert – zunächst noch eher unmerklich und schleichend, mittlerweile jedoch sehr deutlich und mit rasant zunehmendem Tempo. Tatsächlich wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe unionsrechtlicher Vorgaben für den Aufsichtsrat geschaffen − teils zwar nur als Empfehlungen oder nur für den Finanzsektor, in letzter Zeit aber auch zunehmend in Form zwingender Vorgaben und insbesondere auch für „normale“ (börsennotierte) Aktiengesellschaften. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass für eine kurze tour d’horizon durch den inzwischen gewachsenen acquis unionaire für den Aufsichtsrat und seine Umsetzung im deutschen Recht.

II. Organisation des Aufsichtsrats 1. Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder Im Hinblick auf die Amtszeit der Aufsichtsratsmitglieder hat sich der europäische Gesetzgeber bislang auf eine bloße Empfehlung betreffend die Aufsichtsratsmitglieder börsennotierter AG beschränkt. Ziff. 10 Empfehlung 2005/162/EG3 empfiehlt hier eine fixe Bestelldauer (ohne jedoch deren konkrete Länge vorzugeben) mit der Option einer Wiederbestellung; außerdem soll die Entlassung nicht einfacher sein als bei einem geschäftsführenden Direktor bzw. Vorstandsmitglied. Beides ist im deutschen Recht ohnehin seit jeher gewährleistet (vgl. §§ 102, 103 AktG). 2. Ausschüsse Für die effiziente Gestaltung der Aufsichtsratsarbeit spielen Ausschüsse eine wichtige Rolle. Das Unionsrecht statuiert in diesem Kontext inzwischen bereits eine ganze Reihe von Vorgaben betreffend die Einrichtung bestimmter Ausschüsse sowie deren Zusammensetzung. a) Nominierungsausschuss (nomination committee) Ziff. 5 S. 2 Empfehlung 2005/162/EG empfiehlt für den Aufsichtsrat börsennotierter AG die Einrichtung eines Nominierungsausschusses, der grundsätzlich nur beratende Funktion haben (vgl. Ziff. 6.1) und aus mindestens drei Mitgliedern bestehen soll, von denen die Mehrheit unabhängig ist (Anhang I Ziff. 1.1, 2.1 Nr. 2 S. 1). Anhang I Ziff. 2.2 enthält einen Mindestkatalog von Aufgaben des Nominierungsausschusses, Ziff. 2.3 Vorgaben zur Arbeitsweise. 3 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABlEU v. 25.2.2005, L 52/51. Dazu Lutter/ Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.7, 13.35 f., 13.40, 13.49, 13.52, 13.63 ff. m.w.N.

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Für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen von erheblicher Bedeutung normiert Art. 88 Abs.  2 CRD IV4 sogar zwingende Vorgaben bezüglich Einrichtung, Zusammensetzung und Aufgaben eines Nominierungsausschusses. Das deutsche Recht schreibt die Bildung eines Nominierungsausschusses für „normale“ AG zwar nicht zwingend vor, dies ist aber natürlich gem. § 107 Abs. 3 S. 1 AktG im Rahmen der Organisationsautonomie des Aufsichtsrats zulässig.5 Seit 2007 wird die Bildung eines Nominierungsausschusses auch vom DCGK empfohlen (heute: Ziff. 5.3.3).6 Die Vorgaben des Art. 88 Abs. 2 CRD IV wurden in § 25d Abs. 7, 11 KWG umgesetzt.7 b) Vergütungsausschuss (remuneration committee) Ziff. 5 S. 2 Empfehlung 2005/162/EG empfiehlt für den Aufsichtsrat börsennotierter AG auch die Einrichtung eines Vergütungsausschusses, der grundsätzlich aus mindestens drei Mitgliedern bestehen soll, von denen die Mehrheit unabhängig ist (Anhang I Ziff. 1.1, 3.1 Nr. 2). Der Vergütungsausschuss soll ebenfalls grundsätzlich nur beratende Funktion haben (vgl. Ziff. 6.1). Anhang I Ziff. 3.2 enthält einen Mindestkatalog von Aufgaben des Vergütungsausschusses, Anhang I Ziff. 3.3 Vorgaben zur Arbeitsweise; diese werden durch Ziff. 8.1, 9 Empfehlung 2009/385/EG8 ergänzt. Im deutschen Recht ist ein Vergütungsausschuss zwar ebenso wenig wie ein Nominierungsausschuss gesetzlich vorgeschrieben, er kann aber ebenso im Rahmen der Organisationsautonomie des Aufsichtsrats gem. § 107 Abs. 3 S. 1 AktG gebildet werden. Im Hinblick auf die Vergütungsfestsetzung kann er allerdings seit dem VorStAG9 nur beratende Funktion haben (vgl. § 107 Abs. 3 S. 4 i.V.m. § 87 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 und 2 AktG).10 Für den Finanzdienstleistungssektor wurden die Vorgaben zum Vergütungsausschuss durch Ziff. 6.4, 8 lit. a Empfehlung 2009/384/EG11 ergänzt. Für Kreditinstitute und 4 RL 2013/36/EU des EP und des Rates v. 26.6.2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der RL 2002/87/EG und zur Aufhebung der RL 2006/48/EG und 2006/49/EG, ­ABlEU v. 27.6.2013, L 176/338 [CRD IV]. 5 Vgl. nur Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 109 m.w.N. 6 Dazu näher Kremer in K/B/L/W, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1309 ff.; Lutter, EuZW 2009, 799, 803. 7 Dazu näher Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  1516  ff.; Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, 5.  Aufl. 2016, § 25d KWG Rz. 111 ff. 8 Empfehlung 2009/385/EG der Kommission v. 30.4.2009 zur Ergänzung der Empfehlungen 2004/913/EG und 2005/162/EG zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABlEU v. 15.5.2009, L 120/28. 9 Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) v. 31.7.2009, BGBl. I, 2509. 10 Dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.67 m.w.N. 11 Empfehlung 2009/384/EG der Kommission v. 30.4.2009 zur Vergütungspolitik im Finanzdienstleistungssektor, ABlEU v. 15.5.2009, L 120/22.

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Wertpapierfirmen von erheblicher Bedeutung ist die Einrichtung eines Vergütungsausschusses durch Art.  95 CRD IV sogar zwingend vorgeschrieben; dies wurde in Deutschland in § 25d Abs. 7, 12 KWG umgesetzt.12 Bei Versicherungsunternehmen verlangt Art. 275 Abs. 1 lit. f der Delegierten VO (EU) 2015/3513 die Einsetzung eines unabhängigen Vergütungsausschusses, soweit dies aufgrund der Bedeutung des Unternehmens angezeigt erscheint. Für Versicherungsunternehmen, die nicht in den Anwendungsbereich dieser delegierten VO fallen, bestimmt § 4 Abs. 7 S. 1 VersVergV,14 dass generell ein Vergütungsausschuss einzurichten ist. c) Prüfungsausschuss (audit committee) Ziff. 5 S.2 Empfehlung 2005/162/EG empfiehlt für den Aufsichtsrat börsennotierter AG zudem die Einrichtung eines Prüfungsausschusses, der grundsätzlich aus mindestens drei Mitgliedern bestehen soll, von denen die Mehrheit unabhängig ist (Anhang I Ziff. 1.1, 4.1). Anhang I Ziff. 4.2 enthält einen Mindestkatalog von Aufgaben des Prüfungsausschusses, Ziff. 4.3 Vorgaben zur Arbeitsweise. Zur Verbesserung der Corporate Governance15 von Unternehmen von öffentlichem Interesse (public-interest entities – PIE16) wurden allerdings für diese durch die APRL17 2006 zwingende Vorgaben im Hinblick auf die Einrichtung eines Prüfungsausschusses eingeführt (Art. 41 APRL a.F.), die durch die Änderungs-RL 2014/56/EU18 nochmals verschärft wurden und sich nun in Art. 39 APRL finden. Art. 39 Abs. 1 S. 1 APRL bestimmt zwar, dass grundsätzlich zwingend ein Prüfungsausschuss (audit committee) eingerichtet werden muss; von dieser Grundregel machen die Art. 39 Abs. 2-4 APRL allerdings zahlreiche Ausnahmen. Die APRL macht zudem Vorgaben für die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses: Erstens muss ein Mitglied über Sachverstand im Bereich Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung verfügen (sog. Finanzexperte, Art. 39 Abs. 1 UAbs. 2 APRL); zweitens müssen die Ausschussmitglie12 Dazu näher Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  1520  ff.; Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, 5.  Aufl. 2016, § 25d KWG Rz. 119 ff. 13 Delegierte VO (EU) 2015/35 der Kommission v. 10.10.2014 zur Ergänzung der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABlEU v. 17.1.2015, L 12/1. 14 VO über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme im Versicherungsbereich (Versicherungs-Vergütungsverordnung – VersVergV) v. 18.4.2016, BGBl. I, 763. 15 Vgl. ErwG 24 S. 1 APRL. 16 Legaldefinition in Art.  3 Nr.  13 APRL, dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6.  Aufl. 2018, 25.12. 17 RL 2006/43/EG des EP und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der RL 78/660/EWG und 83/349/ EWG des Rates und zur Aufhebung der RL 84/253/EWG des Rates, ABlEU v. 9.6.2006, L 157/87. 18 RL 2014/56/EU des EP und des Rates v. 16.4.2014 zur Änderung der RL 2006/43/EG über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, ABlEU v. 27.5.2014, L158/196.

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der in ihrer Gesamtheit mit dem Sektor, in dem das geprüft Unternehmen tätig ist, vertraut sein (sog. Sektorkunde, Art. 39 Abs. 1 UAbs. 3 APRL); drittens müssen die Mehrheit der Ausschussmitglieder und der Vorsitzende unabhängig sein (Art.  39 Abs. 1 UAbs. 4 S. 1, 2 APRL). Ferner normiert Art. 39 Abs. 6 APRL einen nicht abschließenden Katalog von Aufgaben des Prüfungsausschusses.19 In Deutschland wurden zur Umsetzung von Art. 41 APRL a.F. durch das BilMOG20 neue §§ 100 Abs. 5, 107 Abs. 4 AktG sowie (als Auffangnorm) § 324 HGB und eine Reihe weiterer Sonderregelungen eingeführt, die dann durch das AReG21 an die neuen Vorgaben aufgrund der RL 2014/56/EU angepasst wurden.22 Der deutsche Gesetzgeber hat dabei allerdings von der Mitgliedstaatenoption des Art. 39 Abs. 2 UAbs. 2 APRL Gebrauch gemacht, die es gestattet, dass die Aufgaben des Prüfungsausschusses vom Aufsichtsorgan als Ganzem wahrgenommen werden. Dementsprechend bestimmt § 100 Abs. 5 AktG, dass bei PIE mindestens ein Aufsichtsratsmitglied ein „Finanzexperte“ sein und der Aufsichtsrat insgesamt über Sektorkunde verfügen muss. Zudem wurde in § 107 Abs. 3 S. 2 AktG ausdrücklich klargestellt, dass der Aufsichtsrat insbesondere einen Prüfungsausschuss bilden kann und in § 107 Abs. 4 bestimmt, dass der Prüfungsausschuss von PIE die Voraussetzungen des § 100 Abs. 5 AktG erfüllen muss. Ziff. 5.3.2 Abs. 1 DCGK empfiehlt im Übrigen für alle börsennotierten AG die Bildung eines Prüfungsausschusses. d) Risikoausschuss Für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen von erheblicher Bedeutung statuieren Art. 76 Abs. 3, 4 CRD IV ferner zwingende Vorgaben betreffend Einrichtung, Zusammensetzung und Aufgaben eines Risikoausschusses, die in Deutschland durch § 25d Abs. 7, 8, 10 KWG umgesetzt wurden.23 3. Profil der Aufsichtsratsmitglieder Das Europäische Unternehmensrecht stellt inzwischen aber auch verschiedenste Anforderungen in Bezug auf das Profil der Aufsichtsratsmitglieder.

19 Dazu näher Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 25.59 m.w.N. 20 Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz  – BilMoG) v. 25.5.2009, BGBl. I, 1102. 21 Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der RL 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der VO (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) v. 10.5.2016, BGBl. I, 1142. 22 Dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 25.59 m.w.N. 23 Dazu näher Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz.  1511  f.; Wolfgarten in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, CRR-VO, 5.  Aufl. 2016, § 25d KWG Rz. 96 ff.

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a) Fachliche Kompetenz aa) Allgemeine Anforderungen Im Hinblick auf die fachliche Kompetenz der Aufsichtsratsmitglieder hat der europäische Gesetzgeber vor dem Hintergrund der je nach Unternehmensbranche, -größe etc. höchst unterschiedlichen Anforderungen bislang bewusst auf spezielle Vorgaben hinsichtlich der generellen Qualifikation der Aufsichtsratsmitglieder verzichtet.24 Ziff. 11.1 Empfehlung 2005/162/EG bestimmt jedoch, dass die Aufsichtsratsmitglieder börsennotierter AG jedenfalls in ihrer Gesamtheit über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Urteilsfähigkeiten und Erfahrungen verfügen sollen; mit Blick darauf soll der Aufsichtsrat selbst im Hinblick auf Struktur und Tätigkeitsfeld der Gesellschaft seine Idealbesetzung festlegen und diese regelmäßig überprüfen. Bei Kreditinstituten und Wertpapierfirmen verlangt Art. 91 Abs. 1 S. 1 CRD IV25 allerdings zwingend, dass die Aufsichtsratsmitglieder allzeit ausreichend gut beleumundet sein und ausreichende Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben besitzen müssen; zudem bestimmt Art. 91 Abs. 1 S. 2 CRD IV, dass die Zusammensetzung des Aufsichtsrats insgesamt ein angemessen breites ­Spektrum an Erfahrung widerspiegeln muss. Bei Versicherungsunternehmen verlangt Art.  42 Abs.  1 Solvency II,26 dass die Aufsichtsratsmitglieder27 über ausreichende Qualifikation und persönliche Zuverlässigkeit verfügen müssen. Im deutschen Recht ist spätestens seit der „Hertie“-Entscheidung des BGH28 allgemein anerkannt, dass ein Aufsichtsratsmitglied diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen muss, die es braucht, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können.29 Entsprechend verlangt auch Ziff. 5.4.1 Abs. 1 DCGK, dass der Aufsichtsrat so zusammenzusetzen ist, dass seine Mitglieder insgesamt über die zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und fachlichen Erfahrungen verfügen. Für Kreditinstitute, Wertpapierfirmen und Versicherungsunternehmen wurde zur Umsetzung der unionsrechtlichen Vorga-

24 Vgl. ErwG 16 S. 1 Empfehlung 2005/162/EG. 25 Fn. 4. 26 RL 20009/138/EG des EP und des Rates v. 25.11.2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (Neufassung), ABlEU v. 17.12.2009, L 335/1. 27 Nach zutreffender Ansicht erfasst der Begriff „Personen, die … Schlüsselaufgaben innehaben“ auch Aufsichtsratsmitglieder, vgl. BT-Drs. 18/2956, S. 240; Beckmann in Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 45. EL 2018, E. VI. Rz. 128 m.w.N. 28 BGHZ 85, 293 („Hertie“). 29 Vgl. nur Drygala in K. Schmidt/Lutter/Drygala, 3. Aufl. 2015, § 100 Rz. 30 m.w.N.; näher zu den sich daraus ergebenden Anforderungen Lutter, DB 2009, 775, 778  f.; Lutter, EuZW 2009, 799, 801 f.; Lutter in FS Wymeersch, 2009, S. 132, 139 f.

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ben ein besonderes Sachkundeerfordernis eingeführt, das sich heute in § 25d Abs. 1 S. 1 KWG bzw. § 24 Abs. 1 VAG findet.30 bb) Spezielle Anforderungen für Mitglieder bestimmter Ausschüsse Für die Mitglieder bestimmter Ausschüsse sieht das europäische Recht allerdings noch weitergehende Anforderungen vor. (1) Prüfungsausschuss Vor dem Hintergrund der großen Bilanzskandale erschien es insbesondere unabdingbar, für die Mitglieder des Prüfungsausschusses von börsennotierten AG eine spe­ zielle fachliche Qualifikation zu verlangen.31 Ziff. 11.2 Empfehlung 2005/162/EG empfiehlt daher, dass seine Mitglieder in ihrer Gesamtheit über für die Tätigkeit der Gesellschaft relevante, zeitnahe und einschlägige Kenntnisse im Bereich Finanzen und Rechnungslegung börsennotierter Gesellschaften verfügen. Dies wurde für PIE zwischenzeitlich durch die bereits erwähnten Vorgaben der APRL (Art.  41 Abs.  1 UAbs. 1 S. 3 APRL a.F., nun Art. 39 Abs. 1 UAbs. 2, 3 APRL)32 überlagert, die zwingend einen Finanzexperten sowie Sektorkunde aller Ausschussmitglieder verlangen. Auf die Umsetzung dieser Vorgaben in Deutschland wurde ebenfalls bereits eingegangen.33 Der DCGK empfiehlt im Übrigen allgemein die Bildung „fachlich qualifizierte[r] Ausschüsse“ (Ziff. 5.3.1 S.  1 DCGK). Zudem empfiehlt Ziff. 5.3.2 Abs.  3 DCGK, dass der Vorsitzende des Prüfungsausschusses über besondere Kenntnisse und Erfahrungen in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontrollverfahren verfügen soll. (2) Vergütungsausschuss Besonderheiten gelten ferner für den Vergütungsausschuss. Ziff. 7.1 der Empfehlung 2009/385/EG34 empfiehlt hier für börsennotierte AG mindestens einen „Vergütungsexperten“. Diese Empfehlung wurde in Deutschland bislang nicht speziell umgesetzt, vielmehr gilt auch für den Vergütungsausschuss die allgemeine Empfehlung des DCGK zur Bildung „fachlich qualifizierte[r] Ausschüsse“ (Ziff. 5.3.1 S. 1 DCGK). Bei Kreditinstituten und Wertpapierfirmen verlangt Art. 95 Abs. 1 S. 2 CRD IV,35 dass der Vergütungsausschuss so zu konstituieren ist, dass er die Vergütungspolitik und -praxis und die für das Risiko-, Kapital- und Liquiditätsmanagement geschaffenen Anreize sachkundig und unabhängig bewerten kann. Dies ist in Deutschland durch § 25d Abs. 12 S. 3 KWG umgesetzt. 30 Vgl. dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.48 m.w.N. 31 Vgl. ErwG 16 S. 2 Empfehlung 2005/162/EG. 32 Dazu oben II.2.c). 33 Dazu oben II.2.c). 34 Fn. 8. 35 Fn. 4.

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b) Zeitliches Engagement aa) Börsennotierte AG Ein hinreichendes zeitliches Engagement wurde auf EU-Ebene bereits durch die Empfehlung 2005/162/EG als essentiell für eine gute Corporate Governance qualifiziert.36 Ziff. 12.1 empfiehlt explizit, dass die Aufsichtsratsmitglieder ihren Aufgaben die nötige Zeit und Aufmerksamkeit widmen und die Zahl ihrer anderweitigen beruflichen Verpflichtungen (insbesondere andere Organmandate) so weit begrenzen sollen, dass die ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer Aufgaben gewährleistet ist. Im deutschen Recht gelten bereits seit Langem37 gesetzliche Mandatsobergrenzen (Heute: max. 10, vgl. § 100 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AktG); Ziff. 5.4.5 Abs. 1 S. 2 DCGK ist sogar noch strenger (max. 3 in bestimmten Gesellschaften). Ferner empfiehlt der DCGK den Aufsichtsratsmitgliedern auch allgemein darauf zu achten, dass für die Wahrnehmung des Mandats genügend Zeit zur Verfügung steht (Ziff. 5.4.5 DCGK). bb) Finanzsektor Für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen schreibt Art. 91 Abs. 2 CRD IV ausdrücklich vor, dass die Aufsichtsratsmitglieder ausreichend Zeit für die Erfüllung ihrer ­Aufgaben aufwenden müssen. Dies ist in Deutschland in § 25d Abs. 1 S. 1 a.E. KWG umgesetzt. Für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen von erheblicher Bedeutung statuieren Art.  91 Abs.  3-6 CRD IV zudem zwingende Mandatsobergrenzen, die im deutschen Recht in § 25d Abs. 3 S. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 3a KWG umgesetzt sind. cc) Versicherungssektor Für Versicherungsunternehmen existieren keine speziellen unionsrechtlichen Mandatsobergrenzen; das deutsche Recht statuiert solche jedoch in § 24 Abs. 4 S. 2 VAG. c) Unabhängigkeit Die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder bildete bereits einen Kernpunkt der Empfehlung 2005/162/EG.38 Nach Auffassung der Kommission ist die Präsenz unabhängiger Vertreter im Aufsichtsrat von grundlegender Bedeutung für den Schutz der Aktionäre sowie der anderen Stakeholder.39

36 Vgl. ErwG 17 Empfehlung 2005/162/EG. 37 Erstmals eingeführt durch Notverordnung v. 19.9.1931 (RGBl. I 1931, 493); vgl. mit Überblick zur historischen Entwicklung J. Schmidt, Der Aufsichtsrat in der Diskussion − 28. DJT (1906) −, in: Bayer (Hrsg.), Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in den Beratungen des Deutschen Juristentages, 2010, S. 159, 185 ff.; ausf. Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 679 ff. (jeweils m.w.N.). 38 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.52. 39 Vgl. ErwG 7 Empfehlung 2005/162/EG.

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Ziff. 4 Empfehlung 2005/162/EG empfiehlt deshalb, dass dem Aufsichtsrat eine ausreichende Zahl unabhängiger Mitglieder angehören, um sicherzustellen, dass mit Interessenkonflikten ordnungsgemäß verfahren wird. Zudem wird in der Empfehlung 2005/162/EG insbesondere auch für die speziell genannten Ausschüsse jeweils eine bestimmte Zahl unabhängiger Mitglieder empfohlen.40 Für den Prüfungsausschuss von PIE verlangen Art. 39 Abs. 1 UAbs. 4 S. 1, 2 APRL sogar zwingend, dass die Mehrheit der Ausschussmitglieder und der Vorsitzende unabhängig sein müssen.41 Im Hinblick auf den mangelnden Konsens über die genaue Bedeutung des Begriffs „Unabhängigkeit“ wurde allerdings insofern bewusst von starren Vorgaben abgesehen.42 Ziff. 13.1 Empfehlung 2005/162/EG normiert zwar eine Legaldefinition, wonach als „unabhängig“ gilt, „wer in keiner geschäftlichen, familiären oder sonstigen Beziehung zu der Gesellschaft, ihrem Mehrheitsaktionär oder deren Geschäftsführung steht, die einen Interessenkonflikt begründet, der sein Urteilsvermögen beeinflussen könnte“. Diese Legaldefinition ist jedoch ausdrücklich nur als „Zielvorgabe“ zu verstehen.43 Zudem sind auch die in Anhang II zur Konkretisierung enthaltenen ergänzenden (relativ umfangreichen) Leitlinien mit Regelbeispielen44 mit Blick auf die Komplexität der gesamten Problematik ausdrücklich nicht abschließend und ­sollen von den Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Kriterien für die Beurteilung der Unabhängigkeit nur „Berücksichtigung“ finden (vgl. Ziff. 13.2 S. 1), wobei insbesondere auch den „einzelstaatlichen Gegebenheiten“ Rechnung getragen werden kann (vgl. Anhang II Ziff. 1 S. 5).45 Vor allem aber soll es grundsätzlich dem Aufsichtsrats selbst überlassen bleiben, festzulegen, was er unter „Unabhängigkeit“ versteht (Ziff. 13.2 S. 2), wobei er sich zwar prinzipiell innerhalb der vom Mitgliedstaat festgelegten Kriterien halten, bei Vorliegen besonderer Umstände aber durchaus auch von diesen abweichen können soll. Flankierend verlangt Ziff. 13.3 eine umfassende Offenlegung (sowohl ad hoc bei der Bestellung als auch generell jährlich).46 Letztlich setzt die Kommission damit auf einen „Comply or Explain“-Ansatz.47 Aus deutscher Perspektive war all dies weitgehend neu. Vor dem Hintergrund der traditionellen deutschen Unternehmensstrukturen wohnt dem europäisch konturierten Unabhängigkeitsbegriff zweifellos eine nicht unerhebliche Brisanz inne – speziell 40 Dazu bereits oben II.2. 41 Dazu bereits oben II.2.c). 42 Vgl. ErwG 18 S. 3 Empfehlung 2005/162/EG; Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.52. 43 Vgl. ErwG 18 S. 3 Empfehlung 2005/162/EG; Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.52. 44 Dazu näher Habersack, AG 2008, 98, 105 f.; Hopt, ZIP 2005, 461, 468; Hopt in FS Westermann, 2008, S. 1039, 1042 ff.; Lieder, Der Aufsichtsrat im Wandel der Zeit, 2006, S. 699 ff.; Maul, Beil. zu BB 34/2005, 2, 4 f.; S. Maul/Lanfermann, DB 2004, 2407 f.; Staake, ZIP 2010, 1013, 1015 f.; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 782 ff.; E. Vetter in FS Maier-Reimer, 2010, S. 795, 801 ff. 45 Vgl. ErwG 18 S. 3 Empfehlung 2005/162/EG; Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.52. 46 Näher dazu Maul, Beil. zu BB 34/2005, 2, 5. 47 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.52; Spindler, ZIP 2005, 2033, 2038.

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im Hinblick auf die Einstufung von Anteilseignern mit Kontrollbeteiligung (Anhang II Ziff. 1.d) und bedeutenden Geschäftspartnern (Anhang II Ziff. 1.e) als nicht unabhängig.48 Immerhin sind jedoch durch die „deutsche Klausel“ in Anhang II Ziff.  1.b) am Ende die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ausdrücklich ausgespart.49 Gleichwohl wurde 2005 im Zuge der Umsetzung der Empfehlung im DCGK bewusst darauf verzichtet, die Liste vollständig zu übernehmen; stattdessen wurde in Ziff. 5.4.2 S. 2 DCGK lediglich eine – zudem partiell von Ziff. 13.1 abweichende – allgemeine Unabhängigkeitsdefinition eingefügt, die 2012 erweitert und 2017 dahingehend ergänzt wurde, dass die Eigentümerstruktur berücksichtigt werden soll.50 Der am 6.11.2018 veröffentlichte Entwurf für einen grundlegend überarbeiteten DCGK51 sieht nun jedoch eine fundamentale Neustrukturierung der Anforderungen betreffend die Unabhängigkeit vor. Die allgemeine Unabhängigkeitsdefinition soll zwar unverändert beibehalten werden (B.7 Abs. 2 DCGK-E entspricht Ziff. 5.4.2 S. 2 DCGK). Künftig soll das Erfordernis einer nach Einschätzung des Aufsichtsrats angemessenen Anzahl unabhängiger Mitglieder  – im Einklang mit der schon bislang h.M.52 − aber ausdrücklich nur für die Anteilseignerseite gelten (B.7 Abs. 1 DCGK). Zudem soll in B.8 in Anlehnung an internationale Vorbilder eine Liste mit Indikatoren für fehlende Unabhängigkeit ergänzt werden. d) Diversität Um die Entscheidungsfindung durch Gewährleistung eines breiten Spektrums an Sachverstand noch weiter zu verbessern, wurde auf EU-Ebene bereits in den Grünbüchern der Kommission aus 201053 und 201154 erwogen, auch Vorgaben zur beruflichen, internationalen und geschlechterspezifischen Diversität zu ergänzen.55 Für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen schreiben Art. 88 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a, 91 Abs. 10 CRD IV jedoch vor, dass die Diversität als Kriterium bei der Auswahl der Organmitglieder heranzuziehen ist; dies wird durch gemeinsame Leitlinien der ESMA und EBA56 näher konkretisiert und im deutschen Recht durch § 25d Abs. 11 S. 2 Nr. 1 48 Dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.53 m.w.N. 49 Dazu Kremer in K/B/L/W, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1384; Spindler, ZIP 2005, 2033, 2040. 50 Dazu m.w.N. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.53. 51 Abrufbar unter: https://www.dcgk.de/de/konsultationen/aktuellekonsultationen.html?file=​ files/dcgk/usercontent/de/Konsultationen/2019/181106%20Entwurf%20ueberarbeiteter%​ 20​DCGK.pdf. 52 Vgl. etwa Baums, ZHR 180 (2016) 697, 704 f.; Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 100 Rz. 86; Hüffer, ZIP 2006, 637, 639; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 100 Rz. 7; E. Vetter, BB 1995, 1689, 1691. Für eine Einbeziehung auch der Arbeitnehmervertreter jedoch etwa Kremer in K/B/L/W, DCGK, 7. Aufl. 2018, Rz. 1390; Paschos/Goslar, NZG 2012, 1361, 1364. 53 Vgl. KOM(2010) 284, 5.1 (S. 13 ff.). 54 Vgl. KOM(2011) 164, 1.1 (S. 6 ff.). 55 Vgl. dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.11, 13.55 m.w.N. 56 ESMA/EBA, Leitlinien zur Bewertung der Eignung von Mitgliedern des Leitungsorgans und Inhabern von Schlüsselfunktionen, EBA/GL/2017/12, Rz. 104 ff.

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und 2 KWG umgesetzt. CRR-Institute müssen zudem gem. Art. 435 Abs. 2 lit. c CRR57 jährlich ihre Diversitätsstrategie offenlegen. Ferner wurden kapitalmarktorientierte PIE durch die CSR-Richtlinie58 dazu verpflichtet, in ihr Corporate Governance-Statement eine Beschreibung des Diversitätskonzepts aufzunehmen (vgl. Art. 20 Abs. 1 S. 2 lit. g EU-Bilanz-RL59). Im deutschen Recht wurde dies durch § 289f Abs. 2 Nr. 6 HGB umgesetzt. In Bezug speziell auf die geschlechterspezifische Diversität (oder salopp gesprochen „Frauenquote“) ist man in Deutschland heute allerdings aufgrund der durch das FührposGleichberG v. 24.4.201560 geschaffenen zwingenden Vorgaben weiter als auf europäischer Ebene. Denn der von der Kommission 2012 präsentierte Vorschlag für eine Richtlinie zur Geschlechterbalance61 erwies sich bis heute als nicht konsensfähig und wird seit 2017 im Rat nicht mehr weiter beraten.62 e) Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat Der unmittelbare Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsratsvorsitz wird wegen der damit verbundenen Gefahren von Interessenkonflikten auch auf europäischer Ebene für problematisch erachtet. Mit Blick darauf, dass ein solcher unmittelbarer Wechsel aufgrund des Knowhows des Betreffenden durchaus auch vorteilhaft sein kann und die kontroverse Debatte um die gesamte Problematik wurde allerdings davon abgesehen, ein generelles Verbot zu empfehlen.63 Ziff. 3.2 Empfehlung 2005/162/EG sieht als „best practice“ aber zumindest Informationen über die getroffenen Schutzvorkehrungen vor. Das deutsche Recht ist insofern deutlich strenger: Der durch das VorStAG eingeführte § 100 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AktG sieht eine gesetzliche „cooling off “-Periode von zwei 57 VO (EU) Nr. 575/2013 des EP und des Rates v. 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der VO (EU) Nr.  646/2012, ­ABlEU v. 27.6.2013, L 176/1 [CRR]. 58 RL 2014/95/EU des EP und des Rates v. 22.10.2014 zur Änderung der RL 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen  durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABlEU v. 15.11.2014, L 330/1 ­[CSR-RL]. 59 RL 2013/34/EU des EP und des Rates v. 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der RL 2006/43/EG des EP und des Rates und zur Aufhebung der RL 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABlEU v. 29.6.2013, L 182/19. 60 Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 24.4.2015, BGBl. I, 642. 1331 ff. 61 Vorschlag für eine RL des EP und des Rates zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen, KOM(2012) 614. 62 Dazu näher Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6.  Aufl. 2018, 13.60  f. m.w.N.; s. ferner ­Bayer/J. Schmidt, BB 2018, 2562, 2577. 63 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.36.

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Jahren vor (vgl. auch Ziff. 5.4.4 DCGK). Noch strenger sind die Vorgaben im Finanzund Versicherungssektor: Hier dürfen dem Aufsichtsrat maximal zwei ehemalige Geschäftsleiter angehören (§ 25d Abs. 3 S. 1 Nr. 2, Abs. 3a Nr. 2 KWG; § 24 Abs. 4 S. 1 VAG).

III. Aufgaben des Aufsichtsrats Das Unionsrecht begründet darüber hinaus zumindest punktuell auch bestimmte Aufgaben für Aufsichtsratsmitglieder bzw. Aufgaben, welche Deutschland in Ausübung von Mitgliedstaatenoptionen dem Aufsichtsrat übertragen hat. 1. Art. 39 APRL: Überwachung des Abschlussprüfers Hinzuweisen ist hier zunächst auf die bereits erwähnten Vorgaben zu den Aufgaben des Prüfungsausschusses in Art. 39 APRL, die in Deutschland in Ausübung der Mitgliedstaatenoption des Art.  39 Abs.  2 UAbs.  2 APRL auch vom Gesamtaufsichtsrat wahrgenommen werden können.64 Art. 39 Abs. 6 APRL enthält einen nicht abschließenden65 Katalog von Aufgaben des Prüfungsausschusses (bzw. des als „Prüfungs­ ausschuss“ agierenden Gesamtaufsichtsrats); dazu gehören u.a. die Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems, der Abschlussprüfung und der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers sowie die Durchführung des Verfahrens zur Auswahl des/der Abschlussprüfer(s) bzw. Prüfungsgesellschaft(en).66 In Deutschland sind diese Vorgaben in § 107 Abs. 3 S. 2 und 3 AktG umgesetzt,67 die klarstellen, dass der Aufsichtsrat diese Aufgaben einem Prüfungsausschuss zuweisen kann (wodurch zugleich auch nochmals hervorgehoben wird, dass diese Aufgaben zum Aufgabenkreis des Aufsichtsrats gehören). 2. Art. 33 EU-Bilanz-RL: „Bilanzverantwortlichkeit“ Art. 33 EU-Bilanz-RL schreibt vor, dass die Mitglieder von Leitungs- und Aufsichtsorgan gemeinsam für die Aufstellung und Offenlegung der Rechnungslegungsdokumente verantwortlich sind und bei Verletzung ihrer diesbezüglichen Pflichten zumindest gegenüber der Gesellschaft haften.

64 Dazu bereits oben II.2.c). 65 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 25.58. 66 Vgl. dazu Merkt, ZHR 179 (2015) 601, 613 ff.; Nonnenmacher in FS Haarmann, 2015, S. 143, 149 ff.; Van der Elst, (2015) 12 ECL 26, 29 ff.; Velte, DStR 2014, 1688, 1692; Velte, WPg 2015, 482, 487 f. 67 § 107 Abs. 3 S. 2 wurde durch das BilMoG eingeführt; durch das AReG wurde die Vorschrift punktuell ergänzt und es wurde zusätzlich § 107 Abs. 3 S. 3 AktG eingeführt. Vgl. dazu RegE z. BilMoG, BT-Drs. 16/10067, S. 102 f.; RegE z. AReG, BR-Drs. 635/15, S. 65.

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Das deutsche Rechts sieht in § 171 AktG vor, dass der Aufsichtsrat den Jahresabschluss und ggf. den Konzernabschluss zu prüfen und über die Billigung der Abschlüsse zu entscheiden hat; verletzt er dabei seine Pflichten, so haften die Aufsichtsratsmitglieder gem. §§ 116 S. 1, 93 AktG. 3. Art. 9c ARRL: related party transactions Durch den durch die ARRL 201768 eingeführten Art. 9c ARRL69 wurde kürzlich eine komplett neue Aufgabe für den Aufsichtsrat börsennotierter AG geschaffen: Die Entscheidung über die Zustimmung zu related party transactions (Geschäfte mit nahestehenden Unternehmen und Personen). Die Einführung des neuen Art. 9c ARRL70 zur Verbesserung der Kontrolle von Geschäften mit nahestehenden Unternehmen und Personen (related party transactions – RPT) war einer der Kernpunkte der ARRL 2017. Solche RPT bergen die Gefahr in sich, dass die related party ihre Position ausnutzt, um sich Werte der Gesellschaft ohne marktgerechte Gegenleistung anzueignen (sog. tunneling).71 Art. 9c ARRL etabliert deshalb zum Schutz der Gesellschaft und der übrigen Aktionäre Transparenzanforderungen (Abs. 2 und Abs. 3) sowie Zustimmungspflichten (Abs. 4) für „wesentliche Geschäfte“ (vgl. Abs. 1) mit related parties. Art. 9c Abs. 4 UAbs. 1 ARRL räumt den Mitgliedstaaten zwar ein Wahlrecht ein, ob die Zustimmung durch die Hauptversammlung, das Verwaltungsorgan oder das Aufsichtsorgan der Gesellschaft erfolgt. Der RegE für das ARUG II72 sieht jedoch vor, dass die Zuständigkeit für die Zustimmung zu related party transactions systemkonform dem Aufsichtsrat überantwortet werden soll; dieser ist im deutschen dualisti68 RL (EU) 2017/828 des EP und des Rates v. 17.5.2017 zur Änderung der RL 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkungen der Aktionäre, ABlEU v. 20.5.2017, L 132/1. 69 RL 2007/36/EG des EP und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABlEU v. 14.7.2007, L 184/17. 70 Näher dazu Jung/Stiegler in: Krebs/Jung/Stiegler (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in Europa, 1. Aufl. 2019, § 30 Rz. 256 ff.; Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 29.163 ff. (jeweils m.w.N.). 71 Vgl. ErwG 41 S.  1 RL (EU) 2017/828; Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6.  Aufl. 2018, 29.163 m.w.N. 72 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), BR-Drs 156/19. Dazu J. Schmidt, EuZW 2019, 261 ff. Zum Referentenentwurf (https://www. bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_Aktionaersrechterichtli​ nie_II.pdf?__blob=publicationFile&v=1): Bachmann/Paschinger, ZIP 2019, 1 ff.; Bayer, DB 2018, 3034 ff.; Bayer/J. Schmidt, BB 2018, 2562, 2572 ff.; Bungert/Berger, DB 2018, 2801 ff., 2860 ff.; Diekmann, BB 2018, 3010 ff.; Engert/Florstedt, ZIP 2019, 493 ff.; Heldt, AG 2018, 905 ff.; Kleinert/Mayer, EuZW 2018, 964 f.; Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441 ff.; Müller, ZGR 2019, 97 ff.; Paschos/Goslar, AG 2018, 857 ff.; J. Schmidt, NZG 2018, 1201 ff.; Scheffler, AG 2018, R317 ff.; Seibert, DB 42/2018, M4 f.; Seulen, DB 2018, 2915 ff.; Strenger/Tröger, Börsenzeitung 198/2018, S. 10 f.; Tröger/Roth/Strenger, BB 2018, 2946 ff.; Velte, StuB 20/2018, 1; Velte, DStR 2018, 2445 ff.; Velte, DB 2018/84, M28 f.

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schen Corporate Governance-System das funktional berufene Organ für diese Aufgabe.73 Definitionen, Zustimmungserfordernis und -verfahren sollen daher systematisch stimmig in neuen §§ 111a-111c AktG-E verortet werden.74 § 111a Abs. 1 S. 2 AktG-E bestimmt im Einklang mit Art. 2 lit. h ARRL, dass der Begriff „nahestehende Personen“ dieselbe Bedeutung hat wie in den nach der IFRS-­VO75 übernommenen IFRS (maßgeblich sind somit primär IAS 24.9, daneben aber auch die dort referenzierten IFRS 10, IFRS 11 und IAS 28).76 Die Definition des Begriffs des „Geschäfts“ in § 111a Abs. 1 S. 1 AktG-E orientiert sich sinnvollerweise an dem Begriff des „Geschäftsvorfalls“ in IAS 24.9.77 § 111a Abs. 2 und Abs. 3 AktG-E normieren in Umsetzung von Art.  9c Abs.  5 und Abs.  6 ARRL zahlreiche Ausnahmen vom RPT-Regime, insbesondere für marktübliche Geschäfte (§ 111a Abs. 2 AktG-E), Geschäfte mit bestimmten Tochtergesellschaften (§ 111a Abs. 3 Nr. 1 AktG-E), Geschäfte, die der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen sowie für alle in Umsetzung der Hauptversammlungszustimmung oder -ermächtigung vorgenommene Geschäfte und Maßnahmen (§ 111a Abs. 3 Nr. 2 und 3 AktG-E).78 Art. 9c Abs. 1 ARRL verpflichtet jeden Mitgliedstaat selbst innerhalb der dort statuierten Rahmenvorgaben festzulegen, wann Geschäfte mit related parties so wesentlich sind, dass sie eine Zustimmungspflicht auslösen.79 Der RegE zum ARUG II sieht in Umsetzung dieses Regelungsauftrags vor, dass die Zustimmungspflicht ab einem wirtschaftlichen Wert des Geschäfts von mindestens 2,5 % der Summe aus Anlageund Umlaufvermögen eingreifen sollen (wobei nicht isoliert auf das jeweilige Geschäft abzustellen ist, sondern es werden alle Transaktionen mit derselben related party innerhalb des jeweiligen Geschäftsjahres aggregiert) (vgl. § 111b Abs. 1, Abs. 3 AktG-E).80 RPT, bei denen der Schwellenwert überschritten wird und für die keine der Ausnahmen eingreift, bedürfen gem. § 111b Abs. 1 AktG-E der Zustimmung des Aufsichtsrats. Sofern der Aufsichtsrat seine Zustimmung verweigert, kann der Vorstand jedoch verlangen, dass die Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit81 über die Zustimmung beschließt (§ 111b Abs. 4 S. 1 AktG-E). Sowohl bei der Beschlussfassung im Aufsichtsrat als auch einer etwaigen Beschlussfassung in der Hauptversammlung unterliegen die an dem konkreten Geschäft beteiligten nahestehenden Personen gem. § 111b Abs. 2 und Abs. 4 S. 2 AktG-E in Umsetzung von Art. 9c Abs. 4 UAbs. 3 ARRL 73 Vgl. RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 34, 86; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1208. 74 Vgl. J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1208. 75 VO (EG) Nr. 1606/2002 des EP und des Rares v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABIEG v. 11.9.2002, L 243/1. 76 Vgl. RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 87 f.; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1208. 77 Dazu näher RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 87; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1209. 78 Dazu näher RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 89 ff.; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1210 f. 79 Dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 29.173 m.w.N. 80 Dazu näher RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 92 f.; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1209 f.; J. Schmidt, EuZW 2019, 261 f. 81 § 111 b Abs. 4 S. 1 AktG-E entspricht zwar § 111 Abs. 4 S. 3 AktG, es wird aber bewusst nicht § 111 Abs. 3 S. 4 AktG übernommen, vgl. RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 94.

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einem Stimmverbot; bei der Beschlussfassung im Aufsichtsrat dürfen ferner auch Aufsichtsratsmitglieder, bei denen die Besorgnis eines Interessenkonfliktes aufgrund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht, nicht mitstimmen (§ 111b Abs. 2 AktG-E). Im Hinblick auf das Zustimmungsverfahren innerhalb des Aufsichtsrats stellt § 107 Abs. 3 S. 4 AktG-E klar, dass ein RPT-Ausschuss gebildet werden kann (aber nicht muss!82) und zwar – anders als noch im RefE vorgesehen83 – nicht nur als vorbereitender,84 sondern auch als beschließender Ausschuss. Ein solcher RPT-Ausschuss muss mehrheitlich aus Mitgliedern zusammengesetzt sein, die erstens selbst keine nahestehenden Personen sind (§ 107 Abs. 3 S. 5 AktG-E) und bei denen zweitens keine Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zu einer nahestehenden Person besteht (§ 107 Abs. 3 S. 6 AktG-E).85 Maßgeblich dafür, ob die Besorgnis eines Interessenkonflikts besteht, ist eine objektive Betrachtung;86 dem Aufsichtsrat steht insoweit kein Beurteilungsspielraum zu, die Entscheidung ist gerichtlich voll überprüfbar.87 4. Unionsrechtliche Vorgaben betreffend die Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats a) Art. 9a, 9b ARRL: Vergütungspolitik und Vergütungsbericht Neue Aufgaben für den Aufsichtsrat börsennotierter AG hat die ARRL 2017 darüber hinaus aber auch im Bereich Vergütung geschaffen. Zur Gewährleistung der Transparenz und Verbesserung der Rechenschaftspflicht88 wurden nach dem Vorbild des 82 Vgl. RegE ARUG II, BR-Drs 156/19, S. 85. 83 Nach dem RefE sollte der RPT-Ausschuss nur als vorbereitender Ausschuss fungieren können; zudem war vorgesehen, dass der Gesamtaufsichtsrat dem Geschäft im Falle einer negativen Empfehlung des RPT-Ausschusses nur nach Einholung einer Angemessenheitsbestätigung eines Wirtschaftsprüfers zustimmen können sollte (vgl. dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1212). Dieses Gesamtkonzept wurde jedoch als zu komplex und nicht praxisgerecht kritisiert (vgl. etwa DAV, Stellungnahme 56/2018, Rz. 46, 48; Heldt, AG 2018, 905, 916 ff.; Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441, 2449 f.; Müller Paschos/Goslar, AG 2018, 857, 870; VGR, AG 2018, 920, 924); teilweise wurde es sogar − wenngleich wohl zu Unrecht − als richtlinienwidrig angeprangert (so Tröger/Roth/Strenger, BB 2018, 2946, 2949 f., 2952 f.). Man entschied sich deshalb im RegE, doch einen beschließenden Ausschuss zuzulassen, vgl. J. Schmidt, EuZW 2019, 261, 263. 84 Im Gesetz und in der Gesetzesbegründung ist zwar nur von einem beschließenden RPT-Ausschuss die Rede, a maiore ad minus ist es aber auch zulässig, einen nur vorbereitenden RPT-Ausschuss einzurichten (was freilich das Zustimmungsverfahren deutlich länger und komplexer macht). 85 Dazu näher J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1212. 86 Anders noch im RefE, demzufolge die Einschätzung des Aufsichtsrats maßgeblich sein sollte. Dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1212. 87 Vgl. BegrRegE z. ARUG II, BR-Drs. 156/19, S. 86. 88 Vgl. ErwG 31 S. 2 RL (EU) 2017/828; MEMO/17/592.

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­englischen Rechts89 (und in Anknüpfung an die Empfehlungen 2004/913/EG und 2009/385/EG90) zwei neue Corporate Governance-Instrumente vorgesehen: Die Vergütungspolitik (Art. 9a ARRL) und der Vergütungsbericht (Art. 9b ARRL). Grundkonzept ist, dass die Vergütungspolitik ex ante den abstrakten Rahmen vorgibt, während der Vergütungsbericht ex post darstellt, wie dieser konkret umgesetzt wurde, d.h. welche Vergütung jedem einzelnen Mitglied der Unternehmensleitung in einem Geschäftsjahr genau gewährt wurde.91 Zudem sollen die Aktionäre über beides regelmäßig in der Hauptversammlung abstimmen („say on pay“); dadurch soll eine bessere Überwachung der Vergütung der Unternehmensleitung durch die Aktionäre und eine bessere Verknüpfung von Vergütung und Leistung erreicht werden.92 Für den Aufsichtsrat bedeutet dies erstens, dass er künftig auch eine Vergütungspolitik – in der deutschen Terminologie „Vergütungssystem“93 – für die Vorstandsvergütung aufstellen und beschließen muss (§ 87a Abs. 1 S. 1 AktG-E). Seine Vergütungskompetenz als Annex zur Personalkompetenz wird zukünftig nicht nur die Festlegung der konkreten Vergütung, sondern auch des abstrakten Vergütungssystems umfassen.94 Hinsichtlich des Inhalts des Vergütungssystems statuiert § 87a Abs. 1 AktG-E einen sehr umfangreichen und detaillierten Katalog von Mindestangaben.95 Das Vergütungssystem ist der Hauptversammlung vorzulegen; diese muss bei jeder wesentlichen Änderung, mindestens jedoch alle vier Jahre über das Vergütungssystem beschließen (§ 120a Abs. 1 AktG-E; das Votum hat allerdings nur beratenden Charakter, insoweit gilt ein „Comply or Explain“-Prinzip).96 Die konkrete Vergütung für die Vorstandsmitglieder muss der Aufsichtsrat dann gem. § 87a Abs. 2 S. 1 AktG-E in Übereinstimmung mit einem der Hauptversammlung gem. § 120a Abs. 1 AktG-E zur Bil-

89 Im UK ist bereits seit 2002 vorgesehen, dass die Aktionäre regelmäßig über einen directors‘ remuneration report abstimmen müssen. Vgl. heute ss. 420-422 a, 439-440 CA 2006 und The Large and Medium-sized Companies and Groups (Accounts and Reports) Regulations 2008, SI 2008/401 (zwischenzeitlich mehrfach geändert). Näher dazu Davies/Worthington, Gower’s principles of modern company law, 10th ed. 2016, 14-44; Palmer’s Company Law, 8.1012 ff. 90 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung für die Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABlEU v. 29.12.2004, L 385/55. 91 Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 29.139; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1202; s. auch BegrRegE z. ARUG II, BR-Drs. 156/19, S. 32, 79, 126. 92 Vgl. COM(2014) 213, S. 9; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1202; s. ferner auch ErwG 33 S. 3 RL (EU) 2017/828. 93 Der RefE hatte den Begriff „Vergütungspolitik“ aus der ARRL übernommen. Im RegE entschied man sich jedoch, im Einklang mit der bisherigen Terminologie in § 120 AktG den Begriff „Vergütungssystem“ zu verwenden (ohne dass damit eine inhaltliche Änderung verbunden wäre), vgl. BegrRegE z. ARUG II, BR-Drs. 156/19, S. 79. 94 Vgl. J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1202 f. Dies wird auch durch die systematische Verortung in einem neuen §  87a AktG-E im Anschluss an §  87 AktG reflektiert, vgl. BegrRegE z. ARUG II, BR-Drs. 156/19, S. 33, 80. 95 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1203. 96 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1203 f.

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ligung vorgelegten Vergütungssystem festsetzen.97 § 87a Abs. 2 S. 2 AktG-E gestattet dem Aufsichtsrat in Umsetzung von Art. 9a Abs. 4 ARRL jedoch vorübergehend von dem Vergütungssystem abzuweichen, wenn dies im Interesse des langfristigen Wohlergehens der Gesellschaft notwendig ist.98 Hauptversammlungsbeschluss und Vergütungspolitik sind zwecks Schaffung von Transparenz zu veröffentlichen (§§  120a Abs. 2 AktG-E, § 289f Abs. 2 Nr. 1a HGB-E).99 Zweitens muss der Aufsichtsrat künftig gem. § 162 Abs. 1 AktG-E jährlich gemeinsam mit dem Vorstand einen Vergütungsbericht betreffend die konkrete Vergütung jedes einzelnen gegenwärtigen oder früheren Mitglieds des Vorstands und Aufsichtsrats der Gesellschaft im letzten Geschäftsjahr erstellen. § 162 Abs. 1 S. 2 AktG-E enthält einen umfangreichen und sehr detaillierten Katalog von unionsrechtlich determinierten Mindestangaben, von denen insbesondere der geforderte „Vertikalvergleich“ aus deutscher Sicht eine wesentliche Neuerung darstellt.100 Gem. § 120a Abs. 4 S. 1 AktG-E muss die Hauptversammlung grundsätzlich (vgl. die Ausnahme in Abs. 5) auch über den Vergütungsbericht des letzten Geschäftsjahres beschließen; dieses Votum hat jedoch ebenfalls nur beratenden Charakter.101 Der Vergütungsbericht ist vom Abschlussprüfer zu prüfen und zu veröffentlichen (vgl. § 162 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 AktG-E; § 289f Abs. 2 Nr. 1a HGB-E).102 b) Vom Aufsichtsrat zu beachtende unionsrechtliche materielle Vorgaben betreffend die Vorstandsvergütung Die Art.  9a und 9b ARRL etablieren allerdings keine materiellen Vorgaben, die der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der konkreten Vorstandsvergütung zu beachten h ­ ätte. Solche materiellen Vorgaben existieren auf EU-Ebene bislang nur in Form der Empfehlung 2009/385/EG. Die in ihr statuierten Empfehlungen insbesondere betreffend variable Vergütungskomponenten, Abfindungszahlungen und aktienbezogene Vergü­ tung zielen darauf ab, Verhaltensanreize zu schaffen, die einer langfristigen Unternehmensentwicklung dienen und eine „Entlohnung von Fehlleistungen“ verhindern.103 Im Finanz- und Versicherungssektor sieht das Unionsrecht hingegen in Art.  92-94 CRD IV sowie Art. 275 VO (EU) 2015/35104 auch zwingende materielle Vorgaben vor, die durch Leitlinien der EBA105 und EIPOA106 konkretisiert und in Deutschland in

97 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1204. 98 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1204. 99 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1204. 100 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1206 f. 101 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1207. 102 Näher dazu J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1207. 103 Näher dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.73 ff. 104 Dazu de Raet/Dörfler, CCZ 2017, 253, 261 ff.; Dreher/Gerigk, WM 2018, 1433 ff. 105 EBA Leitlinien für eine solide Vergütungspolitik, EBA/GL/2015/22, Rz. 75 ff. Dazu Löw/ Glück, BKR 2016, 265 ff. 106 EPOIA Leitlinien zum Governance-System, EIOPA-BoS-14/253, Rz. 1.38 ff.

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Jessica Schmidt

§ 25a Abs. 1 S. 3 Nr. 6, Abs. 5, Abs. 6 KWG i.V.m. der InstitutsVergV107 bzw. § 25 VAG i.V.m. der VersVergV108 umgesetzt wurden.109

IV. Vergütung des Aufsichtsrats Die bereits genannten vergütungsrechtlichen Vorgaben auf europäischer Ebene haben für den Aufsichtsrat jedoch nicht nur Bedeutung im Rahmen seiner Kompetenz zur Festlegung der Vorstandsvergütung, sondern auch im Hinblick auf die Vergütung des Aufsichtsrats selbst. Zum einen gelten die genannten materiell-rechtlichen Empfehlungen der Empfehlung 2009/385/EG für die Vergütung bei börsennotierten Gesellschaften110 sowie die zwingenden materiellen Vorgaben im Finanz- und Versicherungssektor111 grundsätzlich auch für den Aufsichtsrat. Zum anderen bringen die Art. 9a, 9b ARRL auch Neuerungen im Hinblick auf die Vergütung der Aufsichtsräte selbst mit sich. Der RegE zum ARUG II hält allerdings zu Recht am bewährten Konzept fest, dass eine etwaige Aufsichtsratsvergütung in der Satzung festgesetzt oder von der Hauptversammlung bewilligt werden kann (§ 113 Abs.  1 S.  1 und 2 AktG). Zur Umsetzung der ARRL-Vorgaben soll aber ein neuer § 113 Abs. 3 AktG-E eingeführt werden. Danach muss die Hauptversammlung mindestens alle vier Jahre über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder Beschluss fassen (S. 1), wobei sich dieser Beschluss auch in einer bloßen Bestätigung der bislang gewährten Vergütung erschöpfen kann (S. 2). Zudem muss der Beschluss jeweils mindestens die nach § 87a Abs. 1 S. 2 AktG-E erforderlichen Angaben machen oder in Bezug nehmen (S. 3) – in jedem Beschluss über die konkrete Vergütung müssen also auch die durch die ARRL geforderten Angaben zur abstrakten Vergütungspolitik enthalten sein.112 Der von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam zu erstellende Vergütungsbericht umfasst zudem auch Angaben betreffend die konkrete Vergütung jedes einzelnen gegenwärtigen oder früheren Mitglieds des Aufsichtsrats der Gesellschaft im letzten Geschäftsjahr.113

107 VO über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme von Instituten (Institutsvergütungsverordnung − InstitutsVergV) v. 16.12.2013, BGBl. I, 4270. 108 VO über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme im Versicherungsbereich (Versicherungs-Vergütungsverordnung – VersVergV) v. 18.4.2016, BGBl. I, 763. 109 Vgl. zum Ganzen Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 6. Aufl. 2018, 13.80 ff. 110 Vgl. Ziff. 1.1 Empfehlung 2009/385/EG i.V.m. Ziff. 2.1 Empfehlung 2004/913/EG. 111 Vgl. Art. 3 Abs. 1 Nr. 7 CRD IV, Art. 1 Nr. 43 Delegierte VO (EU) 2015/35. 112 Vgl. BegrRegE z. ARUG II, BR-Drs. 156/19, S. 98 f.; J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1205. 113 Vgl. dazu bereits oben III. 4. a).

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Unionsrechtliche Determinanten für den Aufsichtsrat

V. Fazit und Ausblick Als Fazit dieser kleinen tour d’horizon bleibt festzuhalten: Das lange Zeit scheinbar „harmonisierungsimmune“ Recht des Aufsichtsrats ist inzwischen in wesentlichen Punkten unionsrechtlich determiniert. Europäische Vorgaben existieren inzwischen nicht nur hinsichtlich des Profils und der Vergütung der Mitglieder des Aufsichtsrats, sondern auch hinsichtlich seiner Ausschüsse und bestimmter wichtiger Aufgaben. Deutlich engmaschiger und besonders streng ist das Unionsrecht dabei im Finanz- und Versicherungssektor. Aber auch für „normale“ börsennotierte AG ist das Netz unionsrechtlicher Determinanten in den letzten Jahren erheblich gewachsen, wobei der Trend deutlich weg von bloßen Empfehlungen und hin zu zwingenden Vorgaben geht. Der Aufsichtsrat der nicht börsennotierten AG bleibt hingegen vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen ­Fokus auf börsennotierte AG einstweilen auch weiterhin größtenteils „harmonisierungsfrei“ – wenngleich es den Mitgliedstaaten natürlich freisteht, die unionsrechtlichen Vorgaben „überschießend“ auch für den Aufsichtsrat der nicht börsennotierten AG umzusetzen (zumindest im Rahmen des RefE und des RegE zum ARUG II haben sich das BMJV und die Bundesregierung indes bewusst gegen eine überschießende Umsetzung der Vorgaben betreffend die Vergütung und die RPT entschieden114). Die Grundtendenz geht jedenfalls ganz klar hin zu einer immer intensiveren Harmonisierung im Bereich der Corporate Governance und damit insbesondere auch in Bezug auf den Aufsichtsrat.

114 Vgl. J. Schmidt, NZG 2018, 1201, 1202, 1208.

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Der Verdacht: Ein wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäftsführers? Inhaltsübersicht

I. Die Ausgangslage

II. Der Verdacht III. Der Widerruf der Bestellung des Geschäftsführers ohne wichtigen Grund IV. Der Widerruf der Bestellung des ­GmbH-Geschäftsführers bei Vorliegen eines wichtigen Grundes

V. Der Verdacht als wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäfts­ führers – eine eigenständige Fall­ gruppe



1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Lehre 2. Die Anforderungen an den Verdacht

VI. Die Frist zur Abberufung bei ­Verdacht? VII. Darlegungs- und Beweislast VIII. Die Folgen für den Anstellungsvertrag IX. Anspruch auf Schadensersatz X. Anspruch auf Wiederbestellung? XI. Zusammenfassung

I. Die Ausgangslage Der Verdacht ist eine widerliche Bestie – vor allem, wenn er unbegründet ist. Die historischen Erfahrungen dieser Bewertung reichen vom Gesetz über die Verdächtigten („loi des suspects“) vom 17. September 1793,1 dem Tag des Beginns der Schreckensherrschaft während der französischen Revolution aufgrund der damaligen „paranoia revolutionnaire“2 bis hin zu dem Gesetzentwurf, den „Die Linke“ zur arbeitsrechtlichen Verdachtskündigung vom 9. Februar 20103 vorgelegt hat. Die Beispiele aus jüngster Zeit für einen schlimmen Verdacht sind überbordend, etwa der Verdacht, an der LIBOR-Manipulation beteiligt gewesen zu sein, der Verdacht, die Ausschreibungen für ein Opernhaus seien nicht angemessen vorbereitet gewesen, der Verdacht, die Bestechung ausländischer Amtsträger sei bekannt gewesen und der Verdacht, von den Manipulationen an den Abgasreinigungen von Kraftfahrzeugen gewusst zu haben. Wendet sich in diesen Fällen der Verdacht gegen eine Führungskraft in der Wirtschaft, so ist dies nicht nur eine Herausforderung, etwa für die Be1 Nach Art. 3 des Gesetzes über die Verdächtigten beauftragt der Sicherheitsausschuss die Revolutionskomitees mit der Erstellung von Listen von verdächtigten Personen, zu denen alle gezählt werden sollten, „die sich durch ihr Verhalten oder ihre Beziehungen oder durch mündlich oder schriftlich geäußerte Ansichten als Parteigänger der Tyrannen, des Föderalismus oder als Feinde der Freiheit zu erkennen gegeben haben.“ 2 Zitiert nach: Tulard/Fayard/Fierro, Histoire et Dictionnaire de la Révolution francaise, 1998. 3 BT-Drucks. 17/649.

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wertung der strafrechtlichen, strafprozessrechtlichen, gesellschaftsrechtlichen, kapitalmarktrechtlichen, dienstvertraglichen und steuerrechtlichen Folgen, sondern auch für die Unternehmenskommunikation.4 Anwaltskanzleien haben dies längst erkannt und betreuen in eigener Verantwortung oder in Verbindung mit einem auf die Unternehmenskommunikation spezialisierten Unternehmen entsprechende Mandanten auch im Blick auf die medialen Wirkungen eines Verdachts. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an den Anfangsverdacht zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, der dringende Tatverdacht zur Begründung einer Untersuchungshaft nach § 112 StPO, der dringende Tatverdacht für eine arbeitsrechtliche Verdachtskündigung5 und die Anforderungen an einen Verdacht für die Abberufung eines Geschäftsführers höchst unterschiedlich sind. Die folgenden Überlegungen betrachten den Verdacht und seine Folgen für einen Ausschnitt, nämlich den Verdacht gegen einen Geschäftsführer einer GmbH, er habe seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzt. Der verdächtigte Geschäftsführer kann sich gegen einen solchen Verdacht nur schwer wehren. Er läuft Gefahr, seine Organstellung zu verlieren, er riskiert aufgrund umlaufender Gerüchte sein Ansehen, er verliert das Vertrauen der Gesellschaft, der Zulieferer, der Kunden und der Banken. Er läuft Gefahr, seine Zukunft zu verlieren. Das ist die eine Seite. Die Gesellschaft, die Gesellschafter und die Mitgeschäftsführer sind gleichfalls in schwieriger Lage, weil sie nicht wissen, ob sich der Verdacht bestätigt oder man einem bloßen Gerücht aufsitzt. Kann, soll und vor allem darf man sich von dem verdächtigten Geschäftsführer trennen? Hat der Verdächtigte einen Anspruch auf neuerliche Bestellung, wenn sich der Verdacht als falsch herausstellt? Hat er einen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Gesellschaft? Oder muss er mit den schlimmen Folgen eines Verdachts seiner Abberufung als Geschäftsführer leben? Hiervon handeln die folgenden Überlegungen. Schmolke6 hat die damit zusammenhängenden Fragen ausführlich für die Abberufung des Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft auf Verdacht im Blick auf § 84 Abs. 3 AktG untersucht. Für den verdächtigten Geschäftsführer einer GmbH ergeben sich im Vergleich hierzu eine ganze Reihe von Unterschieden und Besonderheiten. Im Blick hierauf wird im Folgenden nach den unterschiedlichen Formen eines Verdachts gefragt, nach den Voraussetzungen für eine Abberufung des Geschäftsführers und der Darlegungs- und Beweislast für den Verdacht. Und untersucht wird, ob der Geschäftsführer einen Anspruch auf Wiederbestellung und /oder Schadensersatz hat, wenn sich der Verdacht nicht bewahrheitet. Gewidmet sind diese Überlegungen Eberhard Vetter, dem langjährigen akademischen Freund und Begleiter durch die Probleme des Gesellschafts-, Konzernund Kapitalmarktrechts. Gewidmet sind sie ihm in Dankbarkeit für viele gute Gespräche und Diskussionen. 4 Siehe dazu etwa Jahn in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl., S. 1363. 5 Linck in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 17. Aufl., § 127 Rz. 138 a: „…doch kann die Verdachtskündigung nicht allein auf eine den dringenden Tatverdacht bejahende Entscheidung der Strafverfolgungsbehörden gestützt werden.“. 6 Schmolke, AG, 2014, 377.

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Der Verdacht: Ein wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäftsführers?

II. Der Verdacht Der Verdacht zeichnet sich dadurch aus, dass die Beteiligten oder zumindest die Dritten die Wahrheit nicht kennen oder verschweigen. Der Verdacht mag sich in der Folgezeit bestätigen („bestätigter Verdacht“) oder im Gegenteil als falsch herausstellen („nicht bestätigter Verdacht“). Im zuletzt genannten Fall müssen sich die Beteiligten mit den Folgen auseinandersetzen, obwohl sich der Verdacht nicht bewahrheitet hat. Der Verdacht kann sich auf einen bestimmten Zustand bei der Person des Geschäftsführers beziehen, etwa eine mögliche schwere Krankheit, z.B. eine beginnende Demenz des Geschäftsführers. Sie kann sich auf ein pflichtwidriges Verhalten des Geschäftsführers beziehen, wie etwa den Verdacht auf Korruption oder Geldwäsche oder die Verletzung von Buchführungspflichten. Und der Verdacht kann einen Umstand zum Gegenstand haben, der weder in der Peron des Geschäftsführers, noch in seinem Verhalten liegt, wie etwa das Verhalten eines Zulieferers oder eines Kunden, von dem die Gesellschaft maßgebend abhängt und nun zu befürchten ist, dass die Gesellschaft nicht mehr beliefert wird.

III. Der Widerruf der Bestellung des Geschäftsführers ohne wichtigen Grund Ist nichts anderes im Gesellschaftsvertrag vereinbart, so ist die Bestellung des Geschäftsführers einer GmbH zu jeder Zeit möglich. Ein besonderer Grund muss hierfür nicht vorliegen. Eine Frist ist nicht einzuhalten. Das gilt in gleicher Weise für den Gesellschafter- Geschäftsführer und den Fremdgeschäftsführer. Also können die Gesellschafter, die für die Abberufung zuständig sind, auch etwa bei Vorliegen eines Verdachts einer pflichtwidrigen Handlung, den Geschäftsführer fristlos abberufen. Nur ausnahmsweise verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung etwa bei einem langjährig beteiligten Gesellschafter-Geschäftsführers Rücksicht auf dessen besonderen Interessen, jedenfalls wenn der Geschäftsführer als Gesellschafter eine wesentliche Beteiligung hält.7

IV. Der Widerruf der Bestellung des GmbH-Geschäftsführers bei Vorliegen eines wichtigen Grundes Im Gesellschaftsvertrag können die Gesellschafter aber auch vereinbaren, dass der Widerruf der Bestellung des Geschäftsführers nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich sein soll. Dies gilt in gleicher Weise für einen Gesellschafter-Geschäftsführer wie für einen Fremdgeschäftsführer. Allerdings kann der Gesellschafts7 BGH v. 29.11.1993 – II ZR 61/93, DStR 1994, 214 mit Anm. Goette; OLG Saarbrücken v. 10.10.2006 – 4 U 382/05 – 169; GmbHR 2007, 143, 150; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl, §  38 Rz.  7; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 38 Rz. 44.

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vertrag auch vorsehen, dass die Beschränkung der Abberufung nur für einen Gesellschafter-Geschäftsführer gelten soll. Ist im Gesellschaftsvertrag eine solche Beschränkung vorgesehen, so können die Gesellschafter die Abberufung durch Beschluss mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen vornehmen. Der Gesellschafter-Geschäftsführer, der abberufen werden soll, ist seinerseits vom Stimmrecht ausgeschlossen. So kann der Mehrheitsgesellschafter, der zugleich Gesellschafter-Geschäftsführer ist, durch sein Stimmrecht seine Abberufung aus wichtigem Grund nicht verhindern; denn der betroffene Gesellschafter-Geschäftsführer soll nicht als „Richter in eigener Sache“ über seine Abberufung mitentscheiden können. Streitig ist, ob der Gesellschaftsvertrag auch vorsehen kann, dass mindestens eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen, der Abberufung zustimmen muss.8 Dagegen spricht, dass ein Geschäftsführer, der das Vertrauen der Mehrheit der Gesellschafter verloren hat, nicht länger als Geschäftsführer für die Gesellschaft tätig sein soll.

V. Der Verdacht als wichtiger Grund zur Abberufung des GmbHGeschäftsführers – eine eigenständige Fallgruppe Nach diesen Vorüberlegungen stellt sich die Frage, ob auch ein Verdacht einen wichtigen Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäftsführers darstellen kann, vorausgesetzt, dass der Gesellschaftsvertrag eine entsprechende Beschränkung vorsieht. 1. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Lehre Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verdachtsabberufung des GmbH-Geschäftsführers fehlt. Die Entscheidung des II. Senats des BGH vom 2. Juli 19849 handelt nicht von der Abberufung, sondern von der Ausschlussfrist bei einer Verdachtskündigung des Anstellungsvertrags durch den Konkursverwalter über das Vermögen der GmbH. Sie handelt nicht von der Abberufung aus der Organstellung. Auch die Entscheidung des II. Senats des BGH vom 17.2.1997,10 die von Schmolke11 genannt wird, bezieht sich gleichfalls nicht auf die Abberufung des GmbH-Geschäftsführers aus der Organstellung. Und endlich handelt auch die Entscheidung des OLG Celle vom 5. März 200312 nur von der Verdachtskündigung des Anstellungsvertrags.

8 So Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 38 Rz. 30; Kuhs in Liber Amicorum Martin Winter, 2011, S. 387, 397; a.A. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl., § 38 Rz. 16, sowie BGH 86, 177, 179. 9 BGH v. 2.7.1984 – II ZR 16/84, WM 1984, 1187. 10 BGH v. 17.2.1997 – II ZR 278/95, ZIP 1997, 1063 = WM 1997, 1015. 11 Schmolke, AG, 2014, 377, 379. 12 OLG Celle v. 5.3.2003 – 9 U 111/02, GmbHR 2003, 773.

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Der Verdacht: Ein wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäftsführers?

Bei der Aktiengesellschaft hat das OLG Jena in der Entscheidung vom 20. Dezember 200013 ausgeführt, dass ein Verdacht schwerwiegender Verfehlungen für eine Abberufung eines Vorstandsmitglieds aus wichtigem Grund ausreichen könne. In der Lehre besteht, soweit die Frage aufgegriffen wird, sowohl für die GmbH14 als auch für die AG15 weitgehend Einigkeit, dass bei einem bestimmten Verdacht die Abberufung aus wichtigem Grund für ein Geschäftsmitglied bzw. ein Vorstandsmitglied ausreiche. 2. Die Anforderungen an den Verdacht §  38 Abs.  2 Satz 2 GmbHG nennt als wichtige Grund für die Abberufung des Geschäftsführers „insbesondere grobe Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung“. Das sind beispielhafte, aber keineswegs abschließende Aufzählungen. Entscheidend ist für die Bestimmung des wichtigen Grundes, dass die vorliegenden Umstände das Verbleiben des Geschäftsführers für die Gesellschaft unzumutbar machen. Dabei sind die Gesamtumstände zu würdigen. Auf der Seite der Gesellschaft braucht kein Schaden entstanden zu sein. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Verbleiben des Geschäftsführers unzumutbar ist. Auf der Seite des Geschäfts­ führers verlangt dies weder ein pflichtwidriges Verhalten noch gar eine schuldhafte Pflichtverletzung. In Betracht kommen daher auch Umstände, die nicht in der Person des Geschäftsführers liegen müssen. Zu denken ist an Kunden oder Zulieferer, die das Vertrauen in den Geschäftsführer verloren haben. So hat die höchstrichterliche Rechtsprechung für die Abberufung eines Vorstandsmitglieds auch die Forderung und den Druck eines Dritten, ein bestimmtes Vorstandsmitglied solle abberufen werden, als wichtigen Grund angesehen.16 Geht man hiervon aus, so folgt daraus, dass ein allgemeiner Verdacht etwa eine Pflichtverletzung durch einen Geschäftsführer, ein unzulänglicher Ertrag der Gesellschaft oder eine unheilbare Krankheit z.B. eine Allergie als wichtiger Grund nicht ausreichen. Vielmehr ist die Verdachtsabberufung eine eigenständige Fallgruppe. Entscheidend sind drei Voraussetzungen. Voraussetzung ist erstens ein Verdachtsgrund, nämlich ein Umstand, der – wenn er vorliegen würde – eine Abberufung aus wichtigem Grund rechtfertigen würde. Insoweit kommt es nicht darauf an, dass die Verdachtsgründe auch tatsächlich vorliegen. Zu denken ist an die mehrfache Ver­ letzung der Informationspflicht des Geschäftsführers gegenüber den Gesellschaftern und an eine verbotene Auszahlung aus dem Gesellschaftsvermögen an einen Gesell13 OLG Jena v. 20.12.2000 – 4 U 574/00. 14 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 38 Rz. 13; Altmeppen in Roth/ Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl., § 38 Rz. 72. 15 Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl., § 84 Rz. 36; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 3. Aufl., § 84 Rz. 158a; Seibt in Karsten-Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 84 Rz. 49a: bei starkem Tatverdacht; sowie ausführlich Schmolke, AG, 2014, 377. 16 BGH v. 4.12.2006  – II ZR 298/05; AG 2007, 125; Terlau in Michalski/Heidinger/­Leible/​ J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl., § 38 Rz. 47.

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schafter. Strafbares Verhalten, dass sich nicht gegen die Gesellschaft richtet, stellt nur dann einen wichtigen Grund dar, wenn es im hohen Maße geeignet ist, das Vertrauen in den Charakter des Geschäftsführers zu erschüttern. Dazu gehört der Verdacht, dass der Geschäftsführer einen Betrug, eine Hehlerei begangen hat oder auch eine Trunkenheitstat am Steuer.17 Voraussetzung ist zweitens, dass für das Bestehen des Verdachts ein Verdachtsanlass besteht also der Sachverhalt nicht erwiesen ist, aber handfeste Gründe in Form von objektiv nachprüfbaren Tatsachen18 etwa im Blick auf die Zeit, den Ort und den Gegenstand der Pflichtverletzung bestehen. Die Indizien müssen für eine hohe Wahrscheinlichkeit des pflichtwidrigen Verhaltens oder der maßgeblichen Umstände sprechen. Und Voraussetzung ist drittens, dass der Gesellschaft ein Fortbestehen des Organverhältnisses nicht mehr zumutbar ist.19 Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verdachtsgrund und der Verdachtsanlass rechtfertigen, dass die Gesellschaft jedes Vertrauen in den Geschäftsführer dauerhaft verloren hat. Dabei geht es nicht um eine schlichte gleichgewichtige Abwägung der jeweiligen Interessen.20 Im Vordergrund stehen vielmehr die Interessen der Gesellschaft, deren Vertrauen oder richtiger deren Vertrauensverlust hier infrage stehen.21 Das hindert nicht, dass auch die Interessen des Geschäftsführers zu berücksichtigen sind. Das verlangt, dass die Gesellschafter vor der Beschlussfassung über die Abberufung den verdächtigten Geschäftsführer anhören, um beurteilen zu können, ob seine weitere Tätigkeit der Gesellschaft zumutbar ist. Und das verlangt, dass die Abberufung zeitnah erfolgt, nachdem die Gesellschaft von dem Verdachtsgrund und dem Verdachtsanlass erfahren hat. Streitig ist in diesem Zusammenhang, welches der maßgebliche Zeitpunkt für die Bewertung des Verdachts ist. Das kann im Blick auf die Beschlussfassung durch die Gesellschafter nur der Zeitpunkt sein, zu dem die Gesellschafter als zuständiges Organ über die Abberufung entscheiden. Das bedeutet vor allem, dass es nicht darauf ankommt, ob sich der Verdacht nachträglich als unbegründet erweist; denn für die Abwägung der Gesamtumstände ist allein der Zeitpunkt der Abberufung und der zu diesem Zeitpunkt bestehende Verdacht maßgeblich. Entscheidend ist damit – und das entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur arbeitsrechtlichen Verdachtskündigung, dass der auf objektive Tatsachen gründende dringende Verdacht nur dann einen wichtigen Grund darstellt, wenn er geeignet ist, das für die Fortsetzung der Bestellung erforderliche Vertrauen bei dem zustän17 Zweifelnd: Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., § 38 Rz. 27, Fn. 103. 18 Ebenso Schmolke, AG 2014, 384. 19 Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl., §  38 Rz.  24; Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl., § 84 Rz. 34; Seibt in Karsten-Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 84 Rz. 66 f.; Bürgers in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl., § 84 Rz. 28. 20 So wohl BGH v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, AG 2007, 125. 21 Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, §  19 Rz.  15; Uwe H. Schneider/Sven Schneider in Scholz, GmbHG, 11. Aufl., § 38 Rz. 42; Grumann/Gillmann, DB 2003, 770, 771; Tschöppe/Wottmann, NZG 2009, 161, 162; Link in Wachter, AktG, 3. Aufl., § 84 Rz. 53.

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digen Abberufungsorgan zu zerstören und ihm aus diesem Grund die Fortsetzung der Bestellung unzumutbar ist. Die gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung zur arbeitsrechtlichen Verdachtskündigung vorgebrachten Gründe,22 durch eine Verdachts­ kündigung wolle der Arbeitgeber nur „unliebsame Mitarbeiter loswerden“, überzeugen nicht.

VI. Die Frist zur Abberufung bei Verdacht? Besteht ein schwerwiegender Verdacht und ist dieser der Gesellschaft bekannt, so ist die Gesellschaft im eigenen Interesse gehalten, die Organstellung zeitnah zu widerrufen. Sie ist nicht verpflichtet, den Sachverhalt näher aufzuklären, wenn sie ihre Rechte wahren will. Anders ist dies für die Kündigung des Anstellungsvertrags. Die Kündigung des Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund kann nur innerhalb von zwei Wochen ausgesprochen werden, nachdem der wesentliche Sachverhalt, der den wichtigen Grund darstellt, der Gesellschaft bekannt geworden ist, § 626 Abs. 2 BGB. Insoweit unterscheidet sich deutlich die Bestellung von der Anstellung. Diese Zwei-Wochen-Frist beginnt erst zu laufen, wenn eine sichere und umfassende Kenntnis von den den maßgeblichen Sachverhalt begründenden Umständen besteht. Das bedeutet, die Gesellschaft muss nicht auf Verdacht kündigen und zwar auch dann nicht, wenn ein starker Verdachtsanlass besteht. Will sie aber die Zwei-Wochen-Frist wahren, muss sie sich unverzüglich um eine Aufklärung der Verdachtsmomente bemühen, soweit diese nicht schon in entsprechendem Umfang bestehen.23 Sie kann zu diesem Zweck Strafanzeige erstatten. Ob sie allerdings die Ergebnisse der amtlichen Untersuchungen abwarten kann, ist angesichts der möglichen Dauer der Ermittlungen sehr zweifelhaft. Richtig dürfte sein, dass die Gesellschaft unabhängig hiervon sich auch selbst ernsthaft um die Aufklärung bemühen muss.

VII. Darlegungs- und Beweislast Die Gesellschaft ist bei einer Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund für den Verdachtsgrund, den Verdachtsanlass und die Unzumutbarkeit darlegungsund beweispflichtig. Dabei beziehen sich die Darlegungs- und Beweislast nicht auf das Vorliegen eines pflichtwidrigen Verhaltens oder etwa Umstände in der Person des Geschäftsführers, also Umstände, die in der Regel einen wichtigen Grund zur Abberufung darstellen. Die Gesellschaft muss vielmehr für den Verdachtsgrund nur vor22 Siehe etwa der Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE v. 9.2.2010, BT-Drucks. 17/649; Lunk, NJW 2010, 2753. Der Entwurf sah u.a. eine Änderung vom § 1 Abs. 3 KSchG vor. Vorgeschlagen wurde u.a. die folgende Regelung: „Eine Kündigung ist rechtsunwirksam, wenn die Gründe in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers auf einem Verdacht beruhen.“ 23 OLG Celle v. 5.3.2003 – 9 U 111/02, GmbHR 2003, 773, 774; Goette, DStR 1998, 1137, 1141.

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bringen, dass die Umstände, würden sie sich als wahr herausstellen, einen wichtigen Grund zur Abberufung darstellen. Für den Verdachtsanlass muss die Gesellschaft tatsächliche Anhaltspunkte vortragen und beweisen. Hiernach muss möglich erscheinen, dass ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für das Vorliegen eines Verdachtsgrundes besteht.

VIII. Die Folgen für den Anstellungsvertrag Die Abberufung des GmbH-Geschäftsführers aus wichtigem Grund führt nicht automatisch zur Beendigung des Anstellungsvertrags. Soweit ist vielmehr zu unterscheiden. Zum einen kann im Gesellschaftsvertrag vertraglich vorgesehen werden, dass mit der Beendigung der Organstellung auch die Anstellung, also der Anstellungsvertrag endigen soll. Das bedeutet für den unglücklichen Geschäftsführer, wenn sich der Verdacht als unbegründet herausstellen sollte, er gleichwohl mit der Abberufung sein Gehalt, sein Sekretariat, seinen Dienstwagen usw. verliert. Fehlt eine solche vertragliche Verknüpfung, kann die Gesellschaft den Anstellungsvertrag unter Wahrung der Fristen oder gegebenenfalls fristlos kündigen. Eine fristlose Kündigung kommt aber nur in Betracht, wenn ein wichtiger Grund hierfür besteht. Dabei ist der wichtige Grund für Abberufung nicht identisch mit dem wichtigen Grund zur Kündigung des Anstellungsvertrags. Insoweit entstehen vielmehr erhebliche Unterschiede.

IX. Anspruch auf Schadensersatz War die Abberufung berechtigt, lag ein wichtiger Grund vor, so hat sich die Gesellschaft rechtmäßig verhalten. Einen Anspruch auf Schadensersatz besteht nicht.24 Anders ist dies nur, wenn der Geschäftsführer abberufen wurde und kein Kündigungsgrund vorlag25 oder wenn die Abberufung missbräuchlich war.

X. Anspruch auf Wiederbestellung? Teilweise wird die Ansicht vertreten, der abberufene Geschäftsführer habe einen Anspruch auf erneute Bestellung, wenn sich in der Folgezeit der Verdacht nicht bewahrheite.26 Dem ist nicht zu folgen.27 Zum Zeitpunkt der Abberufung bestand ein begründeter Verdacht. Aufgrund der Interessenabwägung war es der Gesellschaft nicht zumutbar, an der Bestellung festzuhalten. Die Abberufung war daher wirksam und 24 OLG Karlsruhe v. 22.3.2003 – 14 U 46/01, GmbHR 2003, 771. 25 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl., § 38 Rz. 25. 26 So Altmeppen in Roth/Altmeppen, GmbHG, 8. Aufl., § 38 Rz. 74. 27 Wie hier: Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., §  38 Rz.  131; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl., § 38 Rz. 13.

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Der Verdacht: Ein wichtiger Grund zur Abberufung des GmbH-Geschäftsführers?

keineswegs fehlerhaft. Ein Anspruch auf Wiederbestellung wird eine Rechtsgrundlage hierfür verlangen. Daran fehlt es aber. Weder für die Erstbestellung, noch für eine Wiederbestellung bietet etwa der Anstellungsvertrag einen Anspruch auf Berufung zum Geschäftsführer.28 Das gilt in gleicher Weise für den Gesellschafter-Geschäftsführer, wie für den Fremdgeschäftsführer. Anders ist die Lage nur dann zu beurteilen, wenn dem Gesellschafter-Geschäftsführer im Gesellschaftsvertrag ein Sonderrecht auf Bestellung zum Geschäftsführer eingeräumt worden ist.

XI. Zusammenfassung 1. In der Regel kann der Geschäftsführer einer GmbH jederzeit abberufen werden, auch wenn kein wichtiger Grund vorliegt. 2. Nach § 38 Satz 2 Abs. 1 GmbHG kann im Gesellschaftsvertrag die Zulässigkeit des Widerrufs der Bestellung auf den Fall beschränkt werden, dass wichtige Gründe denselben notwendig machen. 3. Wichtiger Grund kann auch ein Verdacht, also die fehlende Kenntnis oder die Vermutung von einem Sachverhalt sein. Das ist eine eigenständige Fallgruppe. Voraussetzung für die Anerkennung als wichtiger Grund ist ein Verdachtsgrund, ein Verdachtsanlass und dass der Gesellschaft ein fortbestehendes Organverhältnisses nicht mehr zumutbar ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob sich der Verdacht in der Folgezeit bestätigt („bestätigter Verdacht“) oder im Gegenteil als falsch herausstellt („nicht bestätigter Verdacht“). 4. Ein Verdachtsgrund, um damit die Abberufung zu begründen, ist nur gegeben, wenn der Umstand, wenn er vorliegen würde, eine Abberufung aus wichtigem Grund rechtfertigen würde. Zu denken ist an eine grobe Pflichtwidrigkeit oder einen schwerwiegenden Umstand z.B. eine Krankheit, die den Geschäftsführer langfristig daran hindert, seinen Pflichten nachzukommen. 5. Ein Verdachtsanlass liegt nur vor, wenn handfeste Indizien darauf hinweisen, dass der Verdacht begründet ist. Das gilt auch dann, wenn sich in der Folgezeit herausstellt, dass der betreffende Sachverhalt nicht vorlag. 6. Das Fortbestehen des Organverhältnisses ist der Gesellschaft nicht mehr zumutbar, wenn der Verdachtsgrund und der Verdachtsanlass rechtfertigen, dass die Gesellschaft jedes Vertrauen darin verloren hat, dass der Geschäftsführer in Zukunft seine Pflichten ordnungsgemäß wahrnehmen wird.

28 BGH v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, NZG 2003, 84; Stephan/Tieves in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl., § 38 Rz. 21.

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Uwe H. Schneider

7. Die Gesellschaft ist bei einer Abberufung des Geschäftsführers aus wichtigem Grund für den Verdachtsgrund, den Verdachtsanlass und die Unzumutbarkeit darlegungs- und beweispflichtig. 8. Bei der begründeten Verdachtsabberufung hat der Geschäftsführer keinen Anspruch auf Schadensersatz, wenn sich in der Folgezeit herausstellt, dass der Verdacht nicht begründet war. 9. Auch wenn sich in der Folgezeit herausstellt, dass der Verdacht nicht begründet war, hat der abberufene Geschäftsführer keinen Anspruch auf Wiederbestellung.

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Matthias Schüppen

Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre Inhaltsübersicht I. Neue Herausforderungen in der Aufsichtsratsberatung 1. Die Commerzbank auf Abwegen? 2. Abschlussprüfungsreform und Aufsichtsratsagenda 3. Problemstellung und Gang der ­Darstellung II. Mehrjährige Bestellung des Abschlussprüfers nach Europäischem Recht? 1. Vorgaben des Europäischen Rechts und Gesetzgebungsverfahren 2. Mehrjährige Bestellung aufgrund ­Vorrangs der EU-APrVO?

1. Historische Entwicklung und allgemeine Meinung 2. Ein schärferer Blick 3. Zeitpunkt der Wahl und Wortlaut­ auslegung 4. Historische versus teleologische ­Auslegung 5. Bestellung für mehrere Geschäftsjahre bei Vorliegen sachlicher Gründe IV. Neu denken 1. Zusammenfassung 2. Ad multos annos

III. Mehrjährige Bestellung des Abschlussprüfers nach deutschem Recht?

I. Neue Herausforderungen in der Aufsichtsratsberatung 1. Die Commerzbank auf Abwegen? Die Einladung der Commerzbank Aktiengesellschaft zur ordentlichen Hauptversammlung am 3. Mai 2017 hielt eine Überraschung bereit: Unter Punkt 5 stand die Wahl des Abschlussprüfers für das Geschäftsjahr 2017 auf der Tagesordnung  – so weit, so konventionell. Aber unter Punkt 7 derselben Tagesordnung war die Wahl des Abschlussprüfers für das Geschäftsjahr 2018 vorgesehen.1 Der Laie staunte und der Fachmann wunderte sich, entspricht es doch aktienrechtlichem Allgemeinwissen und ständiger Übung, dass die Bestellung des Abschlussprüfers jeweils in der ordentlichen Hauptversammlung für das laufende, einzelne Geschäftsjahr erfolgt und eine „Vorratsbestellung“ für mehrere Geschäftsjahre unzulässig ist.2 Nachdem der Aufsichtsrat der Commerzbank Aktiengesellschaft erst kurz vorher auffällig geworden war, als er in einer klar § 84 AktG widersprechenden Weise allein wegen der geplanten Verkleinerung des Vorstands ein untadeliges Vorstandsmitglied abberief,3 schien er mit sei1 https://www.commerzbank.de/de/hauptnavigation/aktionaere/service/archive/hauptver​ sammlung_2/2017_6/hauptversammlung_2.html [Stand: 15. Januar 2019]. 2 Ebke in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 318 HGB Rz. 12; Simons, WPg 2018, 713, 714. 3 OLG Frankfurt v. 17.2.2015 – 5 U 111/14, NZG 2015, 514 (ebenso bereits die Vorinstanz LG Frankfurt, NZG 2014, 706); zustimmend Seibt in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3.  Aufl. 2015, § 84 AktG Rz. 49; Heidel, AG 2013, R 341; kritisch Habersack, DB 2015, 787.

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nen Beschlussvorschlägen prima facie erneut auf Kollisionskurs mit dem deutschen Aktienrecht. Zur Begründung des ungewöhnlichen Vorschlags einer Abschlussprüferbestellung nicht nur für das laufende, sondern zusätzlich für das anschließende Geschäftsjahr wird in der Hauptversammlungseinladung ausgeführt, dass die Bank nach der Verordnung (EU) 537/2014 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. April 2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse4 (nachfolgend: EU-APrVO) künftig verpflichtet sei, den Abschlussprüfer regelmäßig, spätestens alle 10 Jahre, zu wechseln. Aufgrund dessen strebe die Commerzbank einen Prüferwechsel für 2018 an. Um sicherzustellen, dass der neue Abschlussprüfer die bereits ab Mitte 2017 erforderlichen vorbereitenden Tätigkeiten zur Überleitung des Prüfungsmandats als von der Hauptversammlung gewählter neuer Abschlussprüfer aufnehmen kann, solle er bereits in der Hauptversammlung 2017 gewählt werden. 2. Abschlussprüfungsreform und Aufsichtsratsagenda In der Tat hat die Europäische Abschlussprüfungsreform5 neue, im Ergebnis erhöhte Anforderungen an Aufsichtsräte und Prüfungsausschüsse mit sich gebracht6 und erfordert es, wesentlich erhöhte Ressourcen und Aufmerksamkeit auf die (Vor-)Auswahl des Abschlussprüfers und den entsprechenden Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung zu verwenden. Hervorzuheben ist als Konsequenz dieser Reform und ihrer Durchführung und Umsetzung durch AReG7 und APAReG8 in Deutschland zunächst eine Zweiteilung des anwendbaren Rechts: für die so genannten Unternehmen öffentlichen Interesses9 – vereinfacht: börsennotierte Unternehmen, Banken und Versicherungen  – gelten unmittelbar und vorrangig die EU-APrVO und nur ­subsidiär die Vorschriften des HGB. Für alle anderen Unternehmen sind (nur) die §§ 316 ff. HGB in ihrer nach Umsetzung der geänderten Abschlussprüfer-Richtlinie durch das AReG geltenden Fassung anwendbar. Für die Abschlussprüfung bei Unternehmen öffentlichen Interesses sind neu vom Aufsichtsrat zu beachten eine verpflichtende externe Rotation des Abschlussprüfers nach in der Regel 10 Jahren, ein anspruchsvolles und relativ detailliert vorgeschriebenes Verfahren zu Auswahl des neuen Abschlussprüfers im Falle der Rotation10 sowie zur Sicherung der Unabhängig 4 ABlEU Nr. L 158/77 v. 27.5.2014, nachfolgend abgekürzt EU-APrVO. 5 Schüppen, Abschlussprüfung, 2017, vor §§ 316-324a HGB Rz. 6 ff.; Schüppen, NZG 2016, 247. 6 Ausführlicher Hennrichs in FS Hommelhoff, 2012, S.  383; Merkt, ZHR 2015 (179), 601; Nonnenmacher in FS Haarmann, 2015, S. 143; Nonnenmacher in FS Ballwieser, 2014, S. 547. 7 Abschlussprüfungsreformgesetz v. 10.5.2016, BGBl. I, S. 1142. 8 Abschlussprüferaufsichtsreformgesetz v. 31.3.2016, BGBl. I, S. 518. 9 Im englischen Text „Public Interest Entities“, die Abkürzung PIE ist auch in deutschen Texten häufig anzutreffen; die offiziellen deutschen (Gesetzes-)Texte übersetzen „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ (eine Abkürzung ist nicht gebräuchlich, anbieten würde sich UVO), hier verwendet wird der prägnantere Genitiv „Unternehmen öffentlichen Interesses“. 10 Schüppen, Abschlussprüfung, 2017, Anhang § 319a HGB Rz. 44 ff.; Beul, DB 2015, 1173; Wolz/Henrich/Widmann, KoR 2015, 622.

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Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre

keit des Abschlussprüfers umfangreiche Vorgaben und Pflichten, wenn – ohnehin nur beschränkt zulässige – Beratungsleistungen durch den Abschlussprüfer erbracht werden.11 3. Problemstellung und Gang der Darstellung Zu den in diesem Zusammenhang neuen oder sich neu stellenden Fragen bei der Bestellung des Abschlussprüfers12 gehört auch, ob und inwieweit eine „Vorratsbestellung“ eines neuen Abschlussprüfers (wie im eingangs geschilderten Fall der Commerzbank) oder gar generell eine – in der EU-APrVO ausdrücklich angesprochene – mehrjährige Bestellung des Abschlussprüfers zulässig ist. Ob sich aus dem Europäischen Recht für Unternehmen öffentlichen Interesses in dieser Frage eine besondere Antwort ergibt, wie Manche meinen, ist zunächst zu untersuchen (unten II.). Für alle Fälle, auf die kein vorrangiges Europarecht anwendbar ist, ist anschließend die Rechtslage in den Blick zu nehmen, die sich nach deutschem Recht für prüfungspflichtige Unternehmen ergibt (unten III.). Zu den Tätigkeitsschwerpunkten von Eberhard Vetter gehört die Beratung von Vorständen und Aufsichtsräten bei der Vorbereitung und Durchführung von Hauptversammlungen. Wir dürfen daher vermuten, dass er über das angesprochene Problem schon selbst nachgedacht hat und sind hoffnungsvoll, dass die Untersuchung mit Blick auf seine Beratungspraxis und seine häufig die Tätigkeit des Aufsichtsrats fokussierenden wissenschaftlichen Arbeiten13 jedenfalls sein Interesse finden wird.

II. Mehrjährige Bestellung des Abschlussprüfers nach Europäischem Recht? 1. Vorgaben des Europäischen Rechts und Gesetzgebungsverfahren Gemäss Art. 17 Abs. 1 Satz 1 EU-APrVO bestellen Unternehmen öffentlichen Inte­ resses einen Abschlussprüfer für ein – erstes, verlängerbares – Mandat, dessen Laufzeit mindestens ein Jahr beträgt.14 Abweichend hiervon können die Mitgliedstaaten verlangen, dass das erste Mandat eine Laufzeit von mehr als einem Jahr hat (Art. 17 Abs. 2 Buchstabe a) EU-APrVO). Bereits in den 1970er-Jahren war in der Bundesre11 Schüppen, Abschlussprüfung, 2017, Anhang § 319a HGB Rz. 9 ff. und 17 ff.; Lanfermann, DB 2016, 1834. 12 Ausführlicher, aber die neuen Probleme noch keineswegs erschöpfend Simons, WPg 2018, 713, 771 und 962. 13 Z.B. Kapitel „Aufsichtsrat“ in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, S. 967; „Der Aufsichtsrat im Rechtsvergleich“ in Kalss/Kunz, Handbuch für den AR, 2. Aufl. 2016, S. 1671; „Der Aufsichtsrat – Spagat zwischen gesetzlichen Vorgaben und wachsenden Herausforderungen“ in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103 usw. 14 Gemeint ist offensichtlich „Geschäftsjahr“, das Phänomen von Rumpfgeschäftsjahren hat der europäische Gesetzgeber nicht im Blick gehabt.

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publik eine Diskussion über die Zulassung mehrjähriger Bestellungsperioden geführt worden.15 Die Mitgliedstaatenoption der EU-APrVO hat bei der Beratung der nationalen Umsetzungs- und Ausführungsbestimmungen durch das AReG im deutschen Gesetzgebungsverfahren erneut die Frage virulent werden lassen, ob der deutsche Gesetzgeber eine mehrjährige Bestellperiode zulassen solle. Unter eingehender Darlegung der Vorteile einer mehrjährigen Bestellung ist vorgeschlagen worden, die Wahl des Abschlussprüfers auf maximal fünf Jahre durch Gesetzesänderung zu ermöglichen.16 Zunehmend seien längerfristige Konzeptionen der Abschlussprüfung erforderlich, eine qualitätsorientierte Prüferauswahl und -beurteilung könne nicht im Jahresrhythmus erfolgen; eine mehrjährige Bestellperiode fördere die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und die Effektivität risikoorientierter Prüfungen. Auch die Planungssicherheit für den Ressourceneinsatz auf Seiten des Abschlussprüfers erfordere mehrjährige Bestellperioden.17 Der Gesetzgeber ist diesem Vorschlag nicht gefolgt, sondern hat es – im Interesse eines möglichst großen Freiraums zum Prüferwechsel für die geprüften Unternehmen – bei der insoweit unveränderten Regelung der Abschlussprüferbestellung in § 318 Abs. 1 HGB belassen.18 2. Mehrjährige Bestellung aufgrund Vorrangs der EU-APrVO? Gleichwohl wird in der Literatur die Ansicht vertreten, dass Art. 17 EU-APrVO für Unternehmen öffentlichen Interesses de lege lata die Gestaltungsfreiheit eröffne, eine mehrjährige Bestellung bis zur Höchstlaufzeit des Prüfungsmandats vorzunehmen.19 Zwar habe Deutschland von der Mitgliedstaatenoption des Art. 17 Abs. 2 EU-APrVO keinen Gebrauch gemacht. Dass bedeute jedoch nicht, dass §  318 Abs.  1 HGB zur Anwendung komme. Vielmehr verbleibe es bei der Geltung von Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 EU-APrVO. Da es kein Mitgliedstaatenwahlrecht gebe, die Höchstlaufzeit auf ein Jahr zu beschränken, bedeute dies in der Systematik der EU-APrVO, dass innerhalb des Mindest- und Höchstrahmens Gestaltungsfreiheit für das Bestellungsorgan bestehe.20 Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Zwar geht europäisches Verordnungsrecht etwa widerstreitendem nationalen Recht vor. Für das Verhältnis zur Verordnung normieren aber §§ 317 Abs. 3a, 340k Abs. 1 Satz 4 und § 341k Abs. 1 Satz 4 HGB (idF durch das AReG), dass die §§ 316 ff. HGB auf die Abschlussprüfung von Unternehmen öffentlichen Interesses „nur insoweit anzuwenden (sind), als nicht die Verordnung 15 Siehe Forster in FS Werner, S.  131, 133  f.; Kropff in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Komm. AktG, § 163 AktG Rz. 5; Schulze-Osterloh in von Colbe/Lutter, Wirtschaftsprüfung heute, Bochumer Beiträge Bd. 20, 1977, S. 95, 113 m.w.N. 16 Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73; ebenso Hommelhoff, Stellungnahme zum Regierungsentwurf des AReG für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages (http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?id=1273&jahr=2016 [Stand: 15.1.2019]). 17 Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73, 81 ff. 18 Blöink/Kumm, BB 2015, 1067, 1069; Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., § 318 HGB Rz. 59. 19 Welf Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 318 HGB Rz. 38; Welf Müller in FS Marsch-Barner, 2018, S. 375, 382 f. 20 Welf Müller in FS Marsch-Barner, 2018, S. 375, 382.

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Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre

… anzuwenden ist“. Diese Technik der Beschränkung des Geltungsbereiches der §§ 316 ff. HGB enthält trotz ihrer negativen Abgrenzung positiv gewendet die Aus­ sage, dass der dritte Unterabschnitt des zweiten Abschnitts des dritten Buches des HGB im Grundsatz auf Unternehmen öffentlichen Interesses anwendbar bleibt. Dem Norm­anwender ist die Aufgabe zugewiesen, im Einzelfall festzustellen, inwieweit die Verordnung eine Regelung enthält und ob diese ggf. als abschließend zu verstehen ist oder für ergänzende Regelungen des nationalen Rechts offen ist.21 Zur Frage der Bestellperiode enthält die Verordnung keine, jedenfalls aber keine abschließende Re­ gelung. Denn die Aussage in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 EU-APrVO, dass die Laufzeit des ersten Prüfungsmandats mindestens ein Jahr beträgt, drückt eine Selbstverständlichkeit aus und entbehrt eines sachlichen Regelungsgehalts. In Verbindung mit der Mitgliedstaatenoption des Abs. 2 Buchstabe a) erhellt, dass der europäische Gesetzgeber die Regelung der Bestellperiode innerhalb der europarechtlich vorgegebenen Grenzen gerade dem nationalen Gesetzgeber überlassen hat. Durch § 317 Abs. 3a i.V.m. § 318 Abs. 1 HGB hat der deutsche Gesetzgeber in europarechtlich zulässiger und verbindlicher Weise geregelt, dass es insoweit nach Inkrafttreten der Verordnung auch für Unternehmen öffentlichen Interesses bei der Regelung des § 318 Abs. 1 Satz 3 HGB verbleibt. Allerdings sind die in der Diskussion für mehrjährige Bestellperioden vorgebrachten Argumente und das durch die Europäische Abschlussprüfungsreform veränderte normative Umfeld durchaus Anlass, über die Auslegung von § 318 Abs. 1 Satz 3 HGB neu nachzudenken:

III. Mehrjährige Bestellung des Abschlussprüfers nach deutschem Recht? 1. Historische Entwicklung und allgemeine Meinung Zum Zeitpunkt der Wahl des Abschlussprüfers schreibt § 318 Abs. 1 Satz 3 HGB vor: „Der Abschlußprüfer soll jeweils vor Ablauf des Geschäftsjahres gewählt werden, auf das sich seine Prüfungstätigkeit erstreckt.“ Das entspricht fast wörtlich der bei Einführung der Pflichtprüfung durch die Notverordnung über Aktienrecht vom 19.  September 1931 getroffenen Regelung in § 262b Abs. 1 Satz 1 HGB: „Die Bilanzprüfer werden von der Generalversammlung gewählt; die Wahl soll vor dem Ablauf jedes Geschäftsjahres erfolgen.“ Nach zeitgenössischen Kommentierungen – aussagekräftige Gesetzesmaterialien existieren soweit ersichtlich nicht22 – kam es vor allem darauf an, die „Unabhängigkeit und Objektivität des Prüfers auf alle Fälle zu gewährleisten“ und die Wahl des „unabhängigsten und besten Prüfers“ zu ermöglichen.23 Zum Zeitpunkt der Wahl besage § 262b nur, dass sie vor dem Ablauf des Geschäftsjahres erfolgen solle.24 Die 21 Schüppen, Abschlussprüfung, 2017, § 317 HGB Rz. 25. 22 Ebenso Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73, 78. 23 Pinner in Staub’s Kommentar zum HGB, 14. Aufl. 1933, § 262b HGB Rz. 1 und 1a; Schlegelberger/Quassowski/Schmölder, Verordnung über Aktienrecht (1932), § 262b HGB Rz. 2. 24 Pinner in Staub’s Kommentar zum HGB, 14. Aufl. 1933, § 262b HGB Rz. 1; Schlegelberger/ Quassowski/Schmölder, Verordnung über Aktienrecht (1932), § 262b HGB Rz. 3.

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Norm schreibe die jährliche Wahl vor, die stets nur für die Prüfung eines einzelnen Jahresabschlusses erfolge, wie sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck ergebe.25 Vorschriften in der Satzung, wonach eine bestimmte Prüfungsgesellschaft alljährlich mit der Prüfung des Jahresabschlusses zu betrauen sei, seien ungültig, „weil sie die jährliche Wahl des Bilanzprüfers durch die Generalversammlung“ ausschlössen.26 Die Entscheidung des historischen Gesetzgebers aus dem Jahre 1931 und die dargestellte Gesetzesauslegung sind in der Folgezeit bei den Neukodifikationen 1937 (§ 136 AktG 193727), 1965 (§ 163 AktG 196528) und 1985 mit dem Bilanzrichtliniengesetz und der (insoweit) noch heute geltenden Fassung des § 318 HGB ohne größere Diskussion übernommen worden. Allgemein wird heute unverändert kommentiert, dass die Wahl des Abschlussprüfers sich nur auf die Abschlussprüfung eines genau bezeichneten Geschäftsjahres erstrecken darf und für jedes Geschäftsjahr neu und gesondert vorzunehmen ist.29 2. Ein schärferer Blick Die Eindeutigkeit und Einhelligkeit dieser Position ist jedoch nur vordergründig und zerbröckelt bei einem zweiten, schärferen Blick. Literatur und Rechtsprechung lassen eine Vielzahl von Ausnahmen vom „Einperiodenmodell“ der Bestellung zu. Wenn ein Rumpfgeschäftsjahr gebildet wird, kann die Wahl für das Rumpfgeschäftsjahr und das folgende Geschäftsjahr erfolgen.30 Ebenso kann die Wahl sich auf mehrere bereits abgelaufene Geschäftsjahre beziehen.31 In jüngerer Zeit hat §  37w WpHG a.F. (heute § 115 WpHG), der die Wahl des Prüfers für Quartals- und Halbjahresfinanzberichte in die Kompetenz der Hauptversammlung stellt und die entsprechende Anwendung des § 318 Abs. 1 HGB anordnet, zur Anerkennung einer weiteren Ausnahme geführt. Da die ordentliche Hauptversammlung, in der der Abschlussprüfer für das laufende Geschäftsjahr üblicher Weise gewählt wird, regelmäßig erst nach Ende des ersten 25 Pinner in Staub’s Kommentar zum HGB, 14. Aufl. 1933, § 262b HGB Rz. 3a. 26 Pinner in Staub’s Kommentar zum HGB, 14. Aufl. 1933, § 262a HGB Rz. 18. 27 § 136 Abs. 1 Satz 2: „Die Prüfer sollen jeweils vor Ablauf des Geschäftsjahrs gewählt werden, auf das sich die Prüfungstätigkeit erstreckt.“; dazu Godin/Wilhelmi, AktG, 2.  Aufl. 1950, § 136 AktG Anm. 2: „Die Wahl ist nach zwingender Vorschrift jeweils nur für die Prüfung eines einzelnen Jahresabschlusses wirksam“. 28 § 163 Abs. 1 Satz 2: „Sie sollen jeweils vor Ablauf des Geschäftsjahrs gewählt werden, auf das sich ihre Prüfungstätigkeit erstreckt“; dazu Baumbach/Hueck, AktG, 13.  Aufl. 1968, §  163 AktG Rz. 2: „…und zwar für jedes Geschäftsjahr neu“,… „regelmäßig von der ordentlichen Hauptversammlung“. 29 Welf Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 318 HGB Rz. 35; ADS, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 54; Ebke in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 318 HGB Rz. 12; Habersack/Schürnbrand in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 15; Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 21. 30 Welf Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 318 HGB Rz. 35; ADS, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 55; Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 21; a.A. Habersack/Schürnbrand in Großkomm. HGB, 5. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 15. 31 Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 21.

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Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre

Quartals stattfindet, muss auch der Prüfer für das erste Quartal des Folgejahres sinnvoller Weise in dieser Hauptversammlung gewählt werden. Der „formale Einwand“, die Prüferbestellung könne sich nur auf ein einzelnes in sich geschlossenes Geschäftsjahr beziehen und eine „Vorratsbestellung“ von Prüfern über die zeitlichen Grenzen eines Geschäftsjahres hinweg käme nicht in Betracht, soll „unter den gegebenen Umständen“ nicht durchschlagen.32 Ebenso soll die „Vorratsbestellung“ eines Abschlussprüfers für das folgende Geschäftsjahr im eingangs geschilderten Fall der Commerzbank (oben I. 1.) keinen Bedenken unterliegen, weil sich ein angebliches Verbot angeblich nur auf die Bestellung desselben Prüfers beziehe.33 3. Zeitpunkt der Wahl und Wortlautauslegung Diese weithin anerkannten Ausnahmen lassen das Verbot der periodenübergreifenden Wahl letztlich als einen eher unverbindlichen Grundsatz erscheinen, der durchbrochen wird, wenn dies aus Gründen der Praktikabilität erforderlich ist. Es kommt hinzu, dass hinsichtlich des Zeitpunkts der Wahl das Gesetz ausdrücklich nur eine unverbindliche Vorgabe („soll“) formuliert. Die bereits bei Inkrafttreten des § 262b HGB im Jahre 1931 bestehende Gewissheit, dass es sich entsprechend dem Wortlaut der Norm um eine bloße Soll-Bestimmung (zum spätesten Wahlzeitpunkt) handelt und eine Wahl auch nach dem Ablauf des Geschäftsjahres, auf das sich die Prüfung bezieht, möglich bleibt, solange nicht eine gerichtliche Bestellung erfolgt ist,34 besteht bis heute.35 Das Gesetz enthält auch keine Regelung dazu, wann eine Wahl frühestens erfolgen kann und es besteht Einigkeit darüber, dass eine Wahl des Abschlussprüfers „möglichst frühzeitig“ stattfinden sollte, damit ihm ausreichend Zeit für Planung und Vorbereitung der Prüfung zur Verfügung steht.36 Deshalb bestehen auch keine Bedenken, die Wahl  – wie im eingangs (oben I. 1.) geschilderten Fall der Commerzbank – bereits vor Beginn des Geschäftsjahres vorzunehmen.37 Die in den 1970er-Jahren von Kropff mit der Erwägung, das Wahlorgan könne dann nicht die Erfahrungen aus der vorangegangenen Prüfung berücksichtigen, begründete Gegenauffassung38 32 Simons, WPg 2018, 771, 775; Mock in KölnKomm. WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37w WPpHG Rz. 119; Bedkowski/Kocher, AG 2007, 341, 343; Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 21 a.E. 33 Rieckers, DB 2017, 2720, 2721. 34 Pinner in Staub’s Kommentar zum HGB, 14. Aufl. 1933, § 262b HGB Rz. 1. 35 OLG Naumburg, Urt. v. 15.7.2003 – 1 U 9/03 = OLGR Naumburg 2005, 275; Welf Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 318 HGB Rz. 33; ADS, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 136 und 137; Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 22; Schüppen, Abschlussprüfung, 2017, § 318 HGB Rz. 6. 36 Schmidt/Heinz in BeckBilKomm., 11. Aufl. 2018, § 318 HGB Rz. 23; bereits Schlegelberger/ Quassowski/Schmölder, Verordnung über Aktienrecht (1932), § 262a HGB Rz. 3 (S. 275 f.) erörtern und bejahen die Zulässigkeit einer Verteilung der Prüfung „auf die ganze Dauer des Jahres“. 37 Welf Müller in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 318 HGB Rz. 33. 38 Kropff in Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Komm. AktG, § 163 AktG Rz. 15 a.E.; Schmidt/ Heinz in BeckBilKomm., 11.  Aufl. 2018, §  318 HGB Rz.  23; Habersack/Schürnbrand in Staub, 5. Aufl. 2010, § 318 HGB Rz. 15; vorsichtiger ADS, 6. Aufl. 2000, § 318 HGB Rz. 139: „dürfte“ nicht zulässig sein.

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vermag nicht zu überzeugen. Es liegt fern als Gesetzeszweck zu unterstellen, dass das Wahlorgan bei seiner Vorauswahl und Wahl speziell auf die in der Vorperiode gemachten Erfahrungen als entscheidendes Kriterium festgelegt werden sollte, nachdem eine Vielzahl anderer, gewichtigerer Kriterien existieren, auch schlechte Erfahrungen aus einer einzelnen Prüfung nicht ausschlaggebend sein müssen. Im zweifellos zulässigen Fall des Prüferwechsels können solche Erfahrungen naturgemäß gar nicht vorliegen. Der Gesetzgeber hat den Zeitpunkt der Wahl gerade nicht auf die ordentliche Hauptversammlung festgelegt, was sonst nahgelegen hätte. Allein richtig ist daher, dass das Gesetz zum frühesten Zeitpunkt der Wahl keine Vorgabe enthält und der die Wahl durch seinen Vorschlag vorbereitende Aufsichtsrat und das Wahlorgan insoweit frei sind. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass es keinen „ehernen“ Grundsatz gibt, der die periodenübergreifende Wahl eines Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre ausschlösse. Nach dem klaren Wortlaut des § 318 Abs. 1 Satz 3 HGB ist zwar für jedes Geschäftsjahr ein gesonderter Wahlbeschluss erforderlich. Diese gesonderten Wahlbeschlüsse können aber angesichts der durch das Gesetz eingeräumten Freiheit bei der Festlegung des Wahlzeitpunkts in einer Hauptversammlung für mehrere Geschäftsjahre, beispielsweise das laufende und die zwei oder drei folgenden Geschäftsjahre, gefasst werden. 4. Historische versus teleologische Auslegung Fraglich ist, ob „der Wille des Gesetzgebers“ oder der Gesetzeszweck einer solchen am Wortlaut orientierten Auslegung entgegenstehen. Die historische Auslegung steht vor der Schwierigkeit, dass Gesetzesmaterialien fehlen. Wenn man aufgrund der zeitgenössischen Kommentierungen unterstellt, dass der historische Gesetzgeber des Jahres 1931 eine Bestellung für mehrere Geschäftsjahre ausschließen wollte, könnte eine ­solche historische Auslegung angesichts des Zeitablaufs und der veränderten Umstände39 kein eigenständiges Gewicht beanspruchen. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn man dem Gesetzgeber des AReG durch die Nichtausübung der Mitgliedstaatenoption des Art. 17 Abs. 2 Buchstabe a) EU-APrVO eine Stellungnahme zur Auslegung des § 318 Abs. 1 HGB unterstellen wollte. Das liegt jedoch fern. Durch das Festhalten an der für jedes Geschäftsjahr gesonderten erforderlichen Beschlussfassung sollte die maximale Entscheidungsfreiheit des Wahlorgans erhalten bleiben,40 die nicht beschränkt, sondern erweitert wird, wenn gesonderte Beschlüsse für mehrere Geschäftsjahre kumuliert gefasst werden können. Hinweise darauf, dass die Entscheidungsfreiheit zur simultanen Bestellung für mehrere Wahlperioden nicht be­ stehen sollte, sind den Materialien und den das Gesetzgebungsverfahren begleitenden Stellungnahmen des federführenden Ministeriums nicht zu entnehmen. Auch die eine periodenübergreifende Bestellung praktisch erfordernde Regelung in §  115 39 Zutreffender Hinweis auf erhebliche zusätzliche Sicherungen der Prüferunabhängigkeit „im Verlauf der Jahrzehnte seit 1931“ bei Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73, 80. 40 Blöink/Kumm, BB 2015, 1067, 1069.

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Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre

Abs. 5 und Abs. 7 WpHG ist ein Indiz, dass der heutige Gesetzgeber keine grundsätzlichen Bedenken hiergegen hat. Der danach entscheidende Gesetzeszweck muss aus zeitgenössischen Kommentierungen abgeleitet werden. Es liegt auf der Hand, dass er – angesichts des historischen Gegenmodells einer bereits in der Satzung festgelegten ständigen Revisionsgesellschaft und offensichtlich bestehender Unzufriedenheit mit der Qualität der Abschlussprüfung im status quo  – in der Sicherung von Unabhängigkeit und Qualität der Abschlussprüfung lag.41 Dieser Gesetzeszweck gilt, auch vor dem Hintergrund des Europäischen Rechts, dessen Umsetzung die §§ 316 ff. HGB teilweise sind, nach wie vor und erst Recht.42 Zu fragen ist daher, ob eine simultane Wahl des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre dessen Unabhängigkeit oder die Qualität seiner Prüfung gefährden. Diese Frage wird sich nicht ganz pauschal beantworten lassen. Denn würde beispiels­ weise die Wahl für zehn aufeinanderfolgende Geschäftsjahre erfolgen, so könnte die in den ersten neun Jahren erhöhte Unabhängigkeit – für die Wiederwahl muss erst im Jahr zehn gesorgt werden  – durch übermäßige Vertrautheit, den Verlust kritischer Distanz und drohenden Schlendrian überkompensiert werden. Bei einer Bestellung für drei aufeinanderfolgende Geschäftsjahre ist die Unabhängigkeit in den Jahren eins und zwei allerdings erhöht, dafür werden im Jahr drei die Bemühungen verstärkt sein, erneut für drei aufeinanderfolgende Jahre Planungssicherheit zu erhalten. Entscheidend für die Beantwortung der gestellten Frage muss daher sein, ob für die simultane Wahl für mehrere Geschäftsjahre im Einzelfall an den Zielsetzungen von Unabhängigkeit und Prüfungsqualität gemessen sachliche Gründe sprechen. Soweit für die Wahl für mehrere Geschäftsjahre sachliche Gründe sprechen und Unabhängigkeit und Prüfungsqualität nicht gefährdet oder sogar gefördert werden, ist eine solche nicht nur nach dem Wortlaut des Gesetzes, sondern auch bei der gebotenen teleologischen Auslegung zulässig. 5. Bestellung für mehrere Geschäftsjahre bei Vorliegen sachlicher Gründe Dies – der sachliche Grund und die fehlende Gefährdung von Unabhängigkeit und Prüfungsqualität – ist bei näherem Hinsehen auch der gemeinsame Nenner der oben erwähnten, anerkannten Fälle (Bestellung für das erste Quartal des Folgejahres, frühzeitige Bestellung bei Prüferwechsel, Bestellung für mehrere zurückliegende Geschäftsjahre) periodenübergreifender Bestellung. Für die Vorratsbestellung ist jeweils ein sachlicher Grund ersichtlich, im einen Fall der zu späte Termin der Hauptversammlung, im anderen Fall die frühzeitige Einarbeitung des neuen Abschlussprüfers, im dritten Fall das sich aus der unterbliebenen Bestellung ergebende praktische Bedürfnis. Eine Gefährdung von Unabhängigkeit und Prüfungsqualität gerade durch die periodenübergreifende Bestellung ist in diesen Fällen nicht ersichtlich. Richtiger Weise ist eine „Vorratsbestellung“ über diese bereits anerkannten Fälle hinaus bei Er41 Siehe oben in/bei Fn. 23. 42 Siehe insbesondere Erwägungsgründe (1), (5), (8), (21) und (24) der EU-APrVO.

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füllung dieser Voraussetzungen nicht nur nach dem Wortlaut, sondern auch nach dem Zweck des Gesetzes stets zulässig. Unvermeidlich führt dies zur Folgefrage, welche sachlichen Gründe neben den dargestellten Fällen in Betracht kommen. Dies wird sich – jedenfalls im vorliegenden Rahmen – nicht abschließend umschreiben lassen. Grundsätzlich können aber hierfür die Überlegungen und Argumente fruchtbar gemacht werden, die für die Einführung mehrjähriger Wahlperioden streiten. Beispielsweise eine auf einen mehrjährigen Prüfungszyklus angelegte Festlegung von Prüfungsschwerpunkten43 oder ein auf einen mehrjährigen Prüfungszyklus angelegtes Honorarangebot44 liegen sowohl im Interesse des Unternehmens als auch des Abschlussprüfers und stellen ohne weiteres sachliche Gründe für eine Vorratsbestellung über einen mehrjährigen Zeitraum dar. Zwar bleibt es dabei, dass für jedes Geschäftsjahr jeweils ein gesonderter Beschluss zu fassen ist.45 Diese Beschlüsse können aber in derselben Hauptversammlung für das laufende und ein oder mehrere Folgejahre gefasst werden, wenn ein solcher sachlicher Grund vorliegt. Insoweit ist, juristisch unscharf gesprochen, eine „mehrjährige“ Bestellung desselben Abschlussprüfers bereits de lege lata möglich. Ob eine solche „mehrjährige“ Bestellung sinnvoll ist und die Voraussetzungen – sachlicher Grund, keine Gefährdung von Unabhängigkeit und Prüfungsqualität – vorliegen, hat zunächst der Aufsichtsrat zu prüfen und – in Abstimmung mit dem prospektiven Abschlussprüfer – nach pflichtgemäßem Ermessen zu beurteilen, da zur Wahl von Prüfern nur der Aufsichtsrat zu Vorschlägen an die Hauptversammlung be­ rechtigt und verpflichtet ist (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Auch wenn die Entscheidung selbst dann bei der Hauptversammlung liegt, handelt es sich bereits bei der Vorauswahl des bzw. der vorzuschlagenden Abschlussprüfer und dem Beschlussvorschlag um eine „unternehmerische Entscheidung“ im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, so dass die Frage der pflichtgemäßen Ermessensausübung nur eingeschränkter gerichtlicher Überprüfung unterliegt.

IV. Neu denken 1. Zusammenfassung (i) Durch die Europäische Abschlussprüfungsreform ist die Frage einer mehrjährigen Bestellung des Abschlussprüfers virulent geworden. Die in der EU-APrVO enthaltene Mitgliedstaatenoption zur Einführung solcher mehrjährigen Bestellungsperioden ist in Deutschland nicht ausgeübt worden. 43 Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73, 83 f. 44 Welf Müller in FS Marsch-Barner, 2018, S. 375, 379; Hommelhoff/Lanfermann in FS Haarmann, 2015, S. 73, 84. 45 Simons, WPg 2018, 962, 963 f. mit zutreffendem Hinweis darauf, dass auch bei einer „Sammelabstimmung“ unter einem einheitlichen Tagesordnungspunkt um eine Mehrzahl von Beschlussgegenständen handelt. Aus Gründen der Klarheit und größerer Rechtssicherheit sind aber gesonderte Tagesordnungspunkte zu empfehlen.

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Die Bestellung des Abschlussprüfers für mehrere Geschäftsjahre

(ii) Die EU-APrVO stellt unmittelbar anwendbares Verordnungsrecht dar, regelt aber die Frage der Bestellung des Abschlussprüfers nicht. Insoweit bleibt es bei der Maßgeblichkeit nationalen Rechts, in Deutschland des § 318 Abs. 1 HGB; § 317 Abs. 3a HGB idF durch das AReG stellt das ausdrücklich klar. (iii) § 318 Abs. 1 Satz 3 HGB sieht zwar keine mehrjährigen Bestellperioden vor, er ermöglicht es aber grundsätzlich, simultan in einer Hauptversammlung durch mehrere Beschlüsse für eine Mehrzahl auch künftiger Geschäftsjahre den Abschlussprüfer zu wählen. (iv) Dieses mit dem Wortlaut des Gesetzes ohne Weiteres in Einklang stehende Ergebnis ergibt sich trotz eines möglicherweise entgegenstehenden Willens des historischen Gesetzgebers aufgrund einer teleologischen Auslegung. Entscheidend ist, ob im Einzelfall sachliche Gründe für eine solche simultane Bestellung für mehrere Geschäftsjahre sprechen und Unabhängigkeit des Prüfers und Prüfungsqualität nicht gefährdet sind. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der den Wahlvorschlag unterbreitende Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen zu beurteilen. (v) Diesem Ergebnis widerspricht letztlich auch nicht eine so genannte „herrschende Meinung“. Denn bei genauerem Hinsehen und mit der Bereitschaft neu zu denken zeigt sich, dass es eine Reihe anerkannter Ausnahmen von einem angeblichen Verbot periodenübergreifender Bestellung des Abschlussprüfers gibt, die ihre – verallgemeinerungsfähige – Rechtfertigung sämtlich im Vorliegen eines sachlichen Grundes bei gleichzeitiger Unbedenklichkeit in Hinblick auf Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und Prüfungsqualität finden. 2. Ad multos annos Eberhard Vetter ist Berater, Wissenschaftler und – als langjähriges Mitglied im Handelsrechtsausschuss des DAV – Rechtspolitiker. Zu einem hervorragenden Wirtschaftsanwalt konnte er dabei angesichts einer Aktienrechtsreform in Permanenz46 und ­einem sich schnell und massiv verändernden wirtschaftlichen Umfeld47 nur werden, weil er immer fähig und bereit war, Neues zu denken und Altes neu zu denken. Wir wünschen ihm und sind sicher, dass er diese Fähigkeiten durch das mit der vorliegenden Schrift begleitete Jubiläum nicht verlieren wird und freuen uns, ihm auch in den kommenden Jahren häufig zu begegnen, sei es auf derselben oder auf unterschiedlichen Seiten des Tisches.

46 Zöllner, AG 1994, 336; Seibert, AG 2002, 417. 47 Moderne Topmanager klagen gerne darüber, dass sie unter „VUCA-Bedingungen“ (Vola­ tility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) arbeiten müssen; als „Überlebensstrategie“ wird allerdings ebenfalls „VUCA“ empfohlen: Vision, Understanding, Clarity, Agility.

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ARUG II – Die Stellungnahmen Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Identifikation und Information von ­Aktionären durch börsennotierte Unternehmen („know your shareholder“) 1. Informationsdurchleitung 2. Elektronische Mitteilung an den ­Aktionär 3. Der Rücklauf vom Aktionär zur ­Gesellschaft 4. Know your Shareholder 5. Die Kosten III. Verbesserung der Transparenz bei institutionellen Anlegern, Vermögensver­ waltern und Stimmrechtsberatern

1. Vergütungspolitik und Vorstand 2. Vergütungspolitik und Aufsichtsrat 3. Der Vergütungsbericht V. Regelungen zur Zustimmung und ­Bekanntmachung bei Geschäften mit ­nahestehenden Unternehmen und ­Personen („related party transactions“) 1. Zurückhaltende Umsetzung 2. Die nahestehende Person 3. Wesentliche Geschäfte 4. Beschluss des Aufsichtsrats 5. Die Bekanntmachung VI. Ausblick

IV. Mitspracherechte der Aktionäre bei der Vergütung von Aufsichtsrat und ­Vorstand („say on pay“)

I. Vorbemerkung Wenn dieser Beitrag erscheint, wird das ARUG II (hoffentlich) längst im Bundesgesetzblatt stehen und man wird wissen, wie es aussieht. Jetzt (Anfang 2019) ist noch vieles offen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, der der Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.  Mai 2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre („2. Aktionärsrechterichtlinie“) dient, ist am 11. Oktober 2018 der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Er war erarbeitet worden unter Mitwirkung einer vom BMJV eingesetzten Expertenkommission, bestehend aus Prof. Dr. Tim Florstedt, EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden, Prof. Dr. Ulrich Noack, Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Frau Prof. Dr. Jessica Schmidt LL.M. (Nottingham), Universität Bayreuth, Herr Prof. Dr. Jochen Vetter, Universität zu Köln und Rechtsanwalt bei Hengeler Mueller, sowie Prof. Dr. Dirk Andreas Zetzsche LL.M. (Toronto), Université du Luxembourg. Es ist teilweise kritisiert worden, dass keine Experten aus bestimmten Interessenkreisen, wie z.B. den Kleinaktionären, einbezogen worden sind. Es sollte sich aber um eine möglichst nüchterne, rein an fachlichen Fragen und nicht an Partikularinteressen ausgerichtete Kommission handeln. Die Experten sind danach ausgesucht worden, dass sie jeweils in den einzelnen Schwerpunktgebieten der Richtlinie 749

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bereits beachtlich publiziert und geforscht hatten. Die Meinung der Interessenverbände wurde nach der Veröffentlichung des Entwurfs eingeholt. Das ist ein rationales und erprobtes Procedere. Die beteiligten Kreise (Verbände, Gewerkschaften, Bundesländer) hatten bis zum 26. November Zeit zur Stellungnahme. Das war eine auskömmliche Frist. Es war auffällig, dass kaum einer sich vorher äußerte, vielmehr gingen viele Bitten um Verlän­ gerung der Stellungnahmefrist ein. Das deutete schon darauf hin, dass einiges an Anmerkungen kommen würde und der doch sehr komplexe Entwurf umfangreicher Abstimmungen innerhalb der Verbände bedurfte. Es sind insgesamt ca. 30 Verband­ stellungnahmen eingegangen, auch einige von Einzelunternehmen (Siemens, Munich-Re, Allianz). Sie werden alle auf der Internetseite des BMJV veröffentlicht. Ferner sind zahlreiche Aufsätze zur Richtlinie und zum RefE veröffentlicht worden.1 Die Stellungnahmen zeichnen sich im Wesentlichen durch beachtliche Tiefe der Sachkenntnis aus und waren ausgesprochen hilfreich. Die reflexhafte Verdächtigung der „Lobby“ ist grundfalsch. Man muss für diese Mitwirkung sehr dankbar sein. Sie trägt erst zum Gelingen von praktikablen, sinnvollen und fairen gesetzlichen Regelungen bei, denn wir hören ja alle Stimmen an und sind gewissermaßen „ehrliche Makler“, möglichst neutrale Richter, die im vielleicht kakophon wirkenden Stimmengewirr die sachlichen Argumente herausfiltern und eine Mitte der Vernunft herausarbeiten. Auch Eberhard Vetter ist es sehr nachdrücklich zu danken, dass er sich in die rechtspolitische Diskussion immer und schon frühzeitig mit Aufsätzen, Vorträgen und Diskussionsbeiträgen eingebracht hat, seine praxiserfahrene, pragmatische, nachdenkliche, ruhige Stimme erhoben hat, wovon wir viel gelernt haben. Das Gesetz sollte am Ende „der starke Extrakt, das klare Destillat, die scharfe Essenz“ (Egon Friedell) all dieser Ingredienzien sein. Ganz ungut finde ich es daher, wenn der Kabinetttermin sehr kurz nach Ablauf der Stellungnahmefristen angesetzt wird, wie es bisweilen bei Gesetzgebungsverfahren anderer Ressorts zu beobachten ist. Da1 Erläuterungen der RL bei Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2018, 29.24 ff., 29.112; ferner zur RL: Bayer/J. Schmidt, BB 2017, 2114, 2115; Brehmer, NZG 2017, 577; Bungert/Wansleben, DB 2017, 1190; Diekmann, WM 2018, 796; Eggers/de Raet, AG 2017, 464; Habersack, NZG 2018, 127; Hallemeesch, ECFR 2018, 197; Heldt, AG 2018, R153; Heldt, GmbHR 2018, R170; Inci, NZG 2017, 579; Kleiner/Mayer, EuZW 2017, 314; Lanfermann/Maul, BB 2017, 1218; Leuering, NZG 2017, 646; Magnier D., 2017, 1112; Mörsdorf/Piroth, ZIP 2018, 1469; Noack, NZG 2017, 561; Pälicke, AG 2018, 514; Tarde, ZGR 2017, 360; Suchan/Gerdes, WPg 2017, 1034; Van der Elst (2017), 14 ECL 114; Veil, NZG 2017, 521; Velte, NZG 2017, 368; Velte, DB 15/2017, M5; Diekmann, FS für Marsch-Barner, 2018, S. 145; Einsele, JZ 2019, 121; Beiträge zum RefE (nur bis 15.1.2019): Schmidt J., NZG 2018, 1201; Bayer, DB 2018, 3034; Bungert/Berger, DB 2018, 2801; Lanfermann, BB 2018, 2859; Seulen, DB 2018, 2915; Koch, BB 15/16, 2017 S. 1; Velte, StuB 20/2018, S. 1; Tröger/Roth/Strenger, BB 2018, 2946; Diekmann, BB 2018, 3010; Grobecker/Wagner, Der Konzern 2018, 419; Paschos/Goslar, AG 2018, 857; Seibert, DB 42/2018, M5; Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441; Heldt, Die AG 2018, 905; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1; Förster, Die AG 2019, 17; Stellungnahme des DAV, NZG 2019, 9; Schockenhoff/Nußbaum, ZGR 2019, Bd. 48, 163 ff.; Müller, ZGR 2019, Bd. 48, 97 ff.; Zetzsche, ZGR 2019, Bd. 48, 1 ff.; Anzinger, ZGR 2019, Bd. 48, 39 ff.; Engert/Florstedt, ZIP 2019, 493 ff.

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durch entsteht der Verdacht, dass die Stellungnahmen kaum gewürdigt wurden; dass die Anhörung der Praxis eine Farce ist. Zudem verlagern sich dann Kritikpunkte zu eklatanten Defiziten des Entwurfs in die Ausschussberatungen und das Gesetzgebungsverfahren entwickelt sich mitunter chaotisch – was sehr fehleranfällig ist. Mittlerweile (Anfang 2019) kann man die Stellungnahmen grob bewerten. Die Hinweise, Änderungsvorschläge, Kritikpunkte sind zahllos und wurden von uns minutiös erfasst und bewertet. Vieles war ohne weiteres sinnvoll und einleuchtend und kann mit marginalen Korrekturen oder einem Sätzchen in der Begründung aufgegriffen werden. Vieles wiederholte sich, was zur Überzeugungskraft der Argumente durchaus beiträgt. Vorab können wir befriedigt feststellen: Die besonders wichtigen und öffentlich stärker wahrgenommenen Themen Organvergütung und related party transactions sind sehr gut angekommen (marginale Verbesserungsvorschläge unbenommen). Einige besonders grundlegende Kritikpunkte seien hier gestrafft dargestellt. Die Zukunft wird weisen, wie sie später berücksichtigt werden. Die folgenden Ausführungen bringen stets zunächst eine kurze Inhaltsangabe des RefE und sodann wesentliche Kritikpunkte aus den Stellungnahmen mit vorsichtigen – zumal zu diesem Zeitpunkt noch nicht innerhalb der Bundesregierung abgestimmten – Bewertungen. Es handelt sich also um einen „screenshot“ mitten aus der Arbeit am Entwurf, eine Momentaufnahme mitten aus einer höchst komplizierten Operation. Vielleicht helfen die hier aufbereiteten Gedanken und Überlegungen späteren Kommentatoren, die endgültige Fassung und ihr Entstehen aus dem Referentenentwurf besser nachzuvollziehen.

II. Identifikation und Information von Aktionären durch börsennotierte Unternehmen („know your shareholder“) Der RefE behandelt in einem ersten Themenkomplex hauptsächlich Regelungen zur Identifizierung der Aktionäre sowie ihrer Information. Wesentlich ist die Regelung des Informationsflusses zwischen der Aktiengesellschaft und ihren Aktionären durch die Verpflichtung der Intermediäre zur grenzüberschreitenden Weiterleitung von Informationen zwischen Aktionär und Gesellschaft (in beide Richtungen). Das ist ein jahrzehntealter Wunsch der Kommission, unterstützt von Deutschland: Die Kapitalmärkte sind international geworden, das Aktienrecht blieb national. 1. Informationsdurchleitung Der RefE verpflichtet mit § 67a AktG-E die Gesellschaften, bestimmte Informationen, die für die Ausübung von Rechten der Aktionäre von Bedeutung sind (z.B. Einberufung der Hauptversammlung, Mitteilung über Bezugsrechte), den Aktionären oder den Intermediären zu übermitteln. Gemäß § 67a Absatz 2 AktG-E genügt die Zulieferung an ein Medium mit europaweiter Verbreitung. Sodann werden Intermediäre verpflichtet, solche Informationen durch die Verwahrkette an den jeweils nächsten Intermediär weiterzuleiten. Dies gilt auch für Informationen einer börsennotierten Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union. 751

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–– Die Stellungnahmen widmen sich diesen Fragen sehr ausführlich (insbesondere DAI, Kreditwirtschaft, DAV, einzelne Namensaktiengesellschaften). Der gesamte Komplex ist ausgesprochen technisch, kein klassisches Gesellschaftsrecht, eher eine Geheimkunde der mit der Abwicklung bei Banken und Emittenten mit diesen Fragen Betrauten. Man mag das als Entschuldigung annehmen dafür, dass wir hier die meisten Verständnislücken hatten und die meiste Kritik erfahren haben. Man kann aber auch Verständnisprobleme der Kritiker bemerken: Vieles was der Gesetzentwurf enthält, ist als offene Option gedacht mit Blick auf mögliche künftige Entwicklungen der EDV-Systeme, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Intermediäre. Wir kennen die Zukunft nicht und wollen deshalb viele Handlungsoptionen eröffnen. Was davon derzeit nicht – oder vielleicht niemals – anwendbar wird, braucht auch nicht genutzt zu werden. Das sollten die Kritiker nicht vergessen. Bedauerlicherweise kommt noch erschwerend hinzu, dass die Interessengegensätze zwischen Kreditwirtschaft (dort wieder kleine und große Akteure) und Emittenten (dort differenziert nach Namens- und Inhaberaktien) ausgeprägt und schwer überbrückbar sind. –– Die Stellungnahmen weisen zu der Informationsdurchleitung gleich auf mehrere Probleme hin: Zum einen wurde die Zuleitung der Informationen für die Aktionäre an ein Medienbündel negativ aber auch positiv kommentiert. Entspricht es überhaupt der Richtlinie, auf diese Weise die Intermediäre zu informieren? Mit Sicherheit, wenn sie an das Medienbündel so angeschlossen sind, dass sie die Informationen im Wege einer Push-Benachrichtigung erhalten. Aber ist das bei allen Intermediären so? Wohl nein. Und was ist mit dem Ausland? Es gibt bisher kein europäisches System dieser Art. Der Entwurf scheint, ja muss die Zukunft im Auge haben. Es ist dies eine der erwähnten Handlungsoptionen; das erkennt z.B. das DAI richtig. Für die, die auf diese Weise nicht erreicht werden, hat der Entwurf – ebenfalls als Möglichkeit  – eine Weiterleitungspflicht vorgesehen, die dann aber nicht gilt, wenn der Intermediärer (der die Mitteilung z.B. über das Medienbündel erhalten hat) weiß, dass der nächste in der Kette die Information ebenfalls schon erhalten hat (z.B. weil dieser ebenfalls an das Medienbündel angeschlossen ist). Aber woher weiß er das mit Sicherheit? Sicherlich ließe sich das automatisieren. Aber derzeit hat man die Voraussetzungen dafür noch nicht. Man könnte also möglicherweise noch offener formulieren, dass die Zuleitung auch unter Einschaltung „beauftragter Dritter“ möglich ist. Das lässt die Richtlinie zu. Dann könnte die Zuleitung auch weitgehend an der Intermediärskette vorbei gehen. Auch hier: Die Zukunft wird weisen, was die Praxis an Prozessen entwickelt. Was natürlich (auch nach dem Entwurf) immer möglich ist, ist die Zuleitung der Informationen an den ersten Intermediär, bzw. den Zentralverwahrer. –– Dann taucht in den Stellungnahmen die Frage auf, welche Informationen auf diese Weise durchgeleitet werden sollen. Die Ausschüttung von Dividenden und die Abwicklung anderer Kapitalmaßnahmen laufen bisher anknüpfend an die Aktieninhaberschaft bei Inhaber- und Namensaktien gleichermaßen über den Effekten­ giroverkehr reibungslos. Diese Abläufe, so die Stellungnahmen, sollen unbedingt erhalten bleiben. Das funktioniert auch grenzüberschreitend einwandfrei. Und das 752

ARUG II – Die Stellungnahmen

gilt ja nicht nur für den Weg zum Aktionär hin, sondern auch für seine Rückmeldung, etwa bei Corporate Actions, beim Verkauf von Bezugsrechtspitzen etc. Ich meine auch: If it ain’t broke, don’t fix it. Das sollte man berücksichtigen. Freilich enthalten die Richtlinie und die dazugehörige EU-Durchführungsverordnung der Kommission (EU 2012/1212) detaillierte Vorgaben zu Format und Inhalt der zu übermittelnden Informationen. Aber man kann über eine Ausweichformulierung nachdenken, dass diese Pflichten auch durch Einschaltung beauftragter Dritter erfüllt werden können. –– Des Weiteren wird in den Stellungnahmen kritisch gefragt: In welchem Zusammenhang stehen die Einberufung zur Hauptversammlung nach §  121 AktG (30  Tage vorher im elektronischen Bundesanzeiger), die Informationszuleitung von Unterlagen zur Hauptversammlung nach § 125 Abs. 1 AktG (mindestens 21 Tage vor der Versammlung) und die neu geregelten Mitteilungspflichten nach § 67a ff. AktG-E. Diese Vorgänge sollte man vermutlich entkoppeln, wie es von den Stellungnahmen vielfach vorgeschlagen wird. Der Anwendungsbereich des § 67a AktG-E wäre dann aber nur noch auf die Corporate Actions bezogen, die in der Praxis ja gar nicht unmittelbar zwischen Gesellschaft und Aktionär, sondern über Dritte abgewickelt werden – und das würde der Entwurf dann zulassen. 2. Elektronische Mitteilung an den Aktionär Der RefE verpflichtet in § 67b AktG-E den sog. Letztintermediär, d. h. der Intermediär, der Aktien der Gesellschaft unmittelbar für einen Aktionär verwahrt (und nicht für einen anderen Intermediär), erhaltene Informationen unverzüglich elektronisch an den Aktionär zu übermitteln. –– Die Stellungnahmen äußern auch hier nachdenklich stimmende Kritik. Zweifellos gehört der elektronischen Übermittlung die Zukunft. Wir müssen weg vom Papier. Ein Medienbruch vom letzten Intermediär zum Aktionär ist absurd. Es kann nicht sein, dass im Jahr 2019 alle Informationen elektronisch durch die Kette der Intermediäre geleitet werden und dann plötzlich am Ende der Kette ausgedruckt und mit Snail-Mail versendet werden müssen. Das macht keinen Sinn. Andererseits scheinen viele Aktionäre, vor allem die Privataktionäre, noch nicht elektronisch erreichbar zu sein. Kreditinstitute kommunizieren mit ihren Aktionären im Electronic Banking über elektronische Postfächer. Ein solches haben aber bisher angeblich nur 20 % der Aktionäre. Unglaublich! E-Mail scheint den Banken für den internen Verkehr mit ihren Kunden nicht sicher genug zu sein. Für die Weiterleitung von HV-Mitteilungen wäre E-Mail hingegen völlig ausreichend. Außerdem gibt es das Problem der Transparenzrichtlinie und ihrer Umsetzung in § 49 WpHG, wonach eine elektronische Übermittlung nur zulässig ist, wenn es die Hauptversammlung beschließt und der Aktionär zustimmt, bzw. er einer entsprechenden Anfrage nicht widerspricht (diese RL-Regelung sollte man dringend bei nächster Gelegenheit ändern). Hier kann man sich auf den zutreffenden Standpunkt stellen, dass die Transparenzrichtlinie nur die unmittelbare Kommunikation zwischen Emittent und Aktionär regelt, nicht aber die eines Intermediärs mit dem Aktionär. Wenn man das so interpretiert, wäre allerdings die Namensaktie benachteiligt. Hier kom753

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muniziert die Gesellschaft unmittelbar mit dem „Aktionär“ – oder genauer, mit der Person, die im Register steht, und das ist zum Teil der wahre Aktionär (zum größeren Teil sind auch dies Intermediäre). Die Namensaktiengesellschaft kann, wird man beschwichtigend einwenden können, aber auch leichter mit ihren eingetragenen Aktionären kommunizieren und die Zustimmung zur elektronischen Mitteilung einholen. Das ist bei Aktionären am Ende einer langen Intermediärskette weit schwieriger. Eine Lösung könnte die Kostenverteilung für die schriftliche Zusendung sein. Der digital homeless Privataktionär hätte ein Anrecht auf schriftliche Übermittlung, wird dafür aber zur Kasse gebeten, bzw. die Gesellschaft kann die Kosten übernehmen, muss das aber nicht tun. Das wäre ein deutliches Incentive, die Voraussetzungen für elektronische Übermittlung zu schaffen oder auf die Papierzusendung zu verzichten (die landet ja eh bei den meisten im Papierkorb). 3. Der Rücklauf vom Aktionär zur Gesellschaft Der RefE verpflichtet mit § 67c AktG-E in umgekehrter Richtung den Letztintermediär, Informationen über die Ausübung der Rechte eines Aktionärs (z.B. Ausübung eines Bezugsrechts oder des Stimmrechts) entweder direkt an die Gesellschaft zu übermitteln oder sie an den nächsten Intermediär in der Kette weiterzuleiten. Letztere sind dann verpflichtet, diese Informationen jeweils an den nächsten Intermediär weiterzuleiten, bis sie die Gesellschaft erreichen. Die Aktionäre erhalten in § 67c Absatz 2 AktG-E einen Anspruch gegenüber den Letztintermediären auf Ausstellung eines Nachweises ihres Anteilsbesitzes zum Zwecke der Rechtsausübung der Aktionäre gegenüber ihrer Gesellschaft. Wahlweise kann dieser Nachweis dem Aktionär selbst oder direkt der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. –– Einige Stellungnahmen weisen darauf hin, dass bei der Namensaktiengesellschaft der wahre Aktionär, der nicht im Aktienregister eingetragen ist, gar keine Aktionärsrechte gegenüber der Gesellschaft hat; hier kann es streng genommen also nicht um Informationen zur Rechteausübung gegenüber der Gesellschaft, sondern muss es wohl um Weisungen gehen für die Rechteausübung durch den im Register eingetragenen Intermediär. Zudem passe die Regelung über den Anteilsbesitznachweis nur auf die Inhaberaktie, wie in Stellungnahmen der Namensaktiengesellschaften zu Recht betont wird. Bei der Namensaktie bedürfe es keines Nachweises über den Aktienbesitz, denn gegenüber der Gesellschaft gilt der eingetragene Aktionär als berechtigt; die Registereintragung ist der Nachweis. 4. Know your Shareholder2 Der RefE gewährt den Gesellschaften zudem mit § 67d AktG-E einen Informationsanspruch gegenüber sämtlichen Intermediären, die Aktien der Gesellschaft verwahren, auf Informationen über die Identität der Aktionäre. Der Entwurf sieht keine zwingende Mindestschwelle vor, die Gesellschaft kann aber einen bestimmten Aktienbesitz 2 Auch Zetzsche, ZGR 2019, Bd. 48, 1 ff.

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vorgeben. Ergänzt wird dieser Informationsanspruch durch korrespondierende Weiterleitungs- und Übermittlungspflichten der Intermediäre, damit sowohl das Verlangen als auch dessen Beantwortung den richtigen Empfänger erreicht. –– Die Stellungnahmen haken hier gleich mehrfach ein: Das alles klingt gut, aber wie kann das praktisch laufen? Wenn die Gesellschaft Schwellen einführt für die Ab­ frage, dann sollte sich diese wohl sinnvollerweise auf Aktienstückzahlen beziehen. Eine auf das Grundkapital bezogene Schwelle wäre für die Intermediäre sehr aufwändig zu berechnen. Möglicherweise wäre das etwas für eine Kostendifferenzierung? Das nächste Problem, das aufgezeigt wurde, ist die Rückleitung der Information vom letzten Intermediär an die Gesellschaft. Das ist gut gedacht, könnte aber mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) kollidieren. Müsste also möglicherweise jeder Intermediär in der Kette den Aktionär „schriftlich“ darüber informieren, dass er seine Daten verarbeitet? Völlig unpraktikabel. Eine Lösung könnte sein, dass die Daten end-zu-end verschlüsselt durchgeleitet werden. Die EU-Kommission hat dem BMJV auf Nachfrage diesen Weg ausdrücklich als gangbar bezeichnet. Möglich ist natürlich auch, dass die Daten vom letzten Intermediär unmittelbar an die Gesellschaft gegeben werden. Das Gesetz wird sich insofern offen äußern müssen. –– Ein drittes, massives Problem ist die Frage, was die Gesellschaft mit den identifizierten Aktionären und ihren Daten überhaupt machen kann? Vor allen Dingen: Kann die Namensaktiengesellschaft diese gemeldeten Aktionäre ins Aktienregister eintragen? Die Stellungnahmen weisen zu Recht darauf hin, dass eine solche Eintragung ohne eine gleichzeitige Austragung des eventuell bisher eingetragenen Alt-Aktionärs beziehungsweise der anstelle der Aktionäre eingetragenen Intermediäre keinen Sinn macht, und zu Mehrfacheintragungen führen würde. Die Ein­ tragungsmöglichkeit soll, so wird gefordert, eine reine Option sein. Das hatte der Entwurf schon bisher so gesehen und man kann es noch verdeutlichen. In Stellungnahmen wird ferner gefordert, dass mit dem Identifikationsanspruch zugleich ein Anspruch auf Austragung bisheriger Aktionäre oder Intermediäre verbunden sein soll. Das dürfte uns in diesem Vorhaben als ausdrückliche Regelung kaum gelingen und ginge über die reine RL-Umsetzung hinaus. Man könnte es den Gesellschaften aber zugestehen, einen Umschreibestopp für das Aktienregister anzuordnen, bis alle auf ein bestimmtes Abfragedatum bezogenen Aktionärsdaten aus der Abfrage bei der Gesellschaft angelangt sind. Das kann eine Woche oder länger dauern. Auch könnte es sehr hilfreich sein, wenn Aktien in Zukunft eine Aktiennummer erhielten, dann wären Doppelzählungen vermieden und die Auszutragenden leicht zu identifizieren. Eine einwandfreie Zuordnung von identifizierten Aktionären und an ihrer Stelle eingetragener Intermediäre wäre möglich. Unverständlich, dass die Praxis sich derzeit noch gegen die Aktiennummer sträubt. Es gab sie ja früher einmal, sie ließe sich sehr einfach wieder einführen. Mit elektronischer Datenverarbeitung wäre das gar kein Problem. Vermutlich würde das auch solche Betrügereien wie die cum-ex-Geschäfte deutlich erschweren. Man muss ja

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nicht gleich auf die Blockchain umstellen.3 Jedenfalls momentan nicht – sollte das einmal erfolgen, wäre das ganze Informations- und KYS-Konzept vermutlich ohnehin zu überarbeiten. –– Identifikationsabfragen sind Recht aber nicht Pflicht der Emittenten. Einige werden nie abfragen, andere öfter, das ist nicht vorherzusehen. Es ist daher zutreffend, dass sich bei Identifikationsabfragen in großen zeitlichen Abständen mit anschließender Eintragung in das Register eine erhebliche Fehlerquelle auftut. Das schiene mir hinnehmbar, denn neue Aktionäre haben es ja in der Hand, ihrerseits Löschung und Neueintragung zu veranlassen. Stellungnahmen regen zudem an, dem Aktionär einen ausdrücklichen Eintragungsanspruch zu geben. Eigentlich hat er den ja bereits, das wird man kaum noch einmal regeln können. 5. Die Kosten Der RefE sieht vor, dass die Kosten für die notwendigen Aufwendungen der Intermediäre die jeweiligen Gesellschaften nach der allgemeinen Kostenregelung in §  67f AktG-E zu tragen haben, allerdings begrenzt auf diejenigen (geringsten) Kosten, die für die Maßnahmen nach dem jeweiligen Stand der Technik entstehen. Die bestehende Verordnung zum Ersatz von Aufwendungen der Kreditinstitute wird aufgehoben. Eine Ermächtigung zum Erlass einer neuen Kostenverordnung wird aufgenommen, von der bei Bedarf Gebrauch gemacht werden soll. –– Viele Stellungnahmen sehen eine bloße Aufhebung der Verordnung ohne Neueinführung einer anderen kritisch. Nach den Erfahrungen mit der bisherigen VO nach § 128 Abs. 2 AktG muss man aber sagen: Eine neue Verordnung mit den beteiligten Interessenvertretern auszuhandeln, dauert sehr, sehr lange. Das ist bis zum Inkrafttreten des Gesetzes keineswegs zu schaffen. Man könnte freilich die bestehende KostenVO für eine Übergangszeit „bei sinngemäßer“ Anwendung weitergelten lassen. Dann stünden die Emittenten und die Intermediäre unter Druck, sich auf ein Konzept für eine neue Verordnung zu einigen und dieses dem BMJV zu präsentieren. –– Die Namensaktiengesellschaften weisen ferner darauf hin, dass sie für die Intermediärskette, die hinter dem im Aktienregister Eingetragenen liegt, nicht verantwortlich seien. Sie hätten ihre Schuldigkeit getan, wenn sie die Mitteilungen an den Eingetragenen auf eigene Kosten zuleiten. Das stimmt wohl. Sie machen auch keine Mitteilung an ein Medienbündel oder irgendwelche Intermediäre in der weiteren Kette. Das ist insbesondere bei § 125 AktG nachzusteuern. –– Die Information der eingetragenen Namensaktionäre könnte in Zukunft überwiegend elektronisch geschehen, wenn im Aktienregister auch die E-Mail-Adressen vermerkt werden. Die Kreditwirtschaft kritisiert allerdings, dass sie diese E-Mail-­ Adressen teilweise gar nicht hätten, teilweise nur nichtssagende „Info“-Adressen – und wenn sie keine haben, könnten sie doch keinesfalls gezwungen werden, diese 3 Dazu ausführlich George S. Geis, Traceable Shares and Corporate Law, Northwestern University Law Review, 2018, vol. 113, No. 2, S. 227 ff.

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ARUG II – Die Stellungnahmen

zu recherchieren. Das ist richtig: Impossibilium nulla obligatio est, das brauchen wir nicht unbedingt ins Gesetz zu schreiben. Wenn ein Aktionär keine gültige Postanschrift mehr bei der Bank haben sollte (mag das auch selten vorkommen), könnte die Bank auch diese nicht liefern. Auch für diesen Fall würden wir keine salvatorische Klausel in das Gesetz aufnehmen müssen.

III. Verbesserung der Transparenz bei institutionellen Anlegern, Vermögensverwaltern und Stimmrechtsberatern Der RefE etabliert für institutionelle Anleger, Vermögensverwalter und Stimmrechtsberater vor allem zusätzliche Offenlegungspflichten. Bei Vermögensverwaltern und institutionellen Anlegern soll dadurch verhindert werden, dass sie nach Zielen und mit Anreizen motiviert sind, die im Widerspruch zu den (in der Regel langfristigen) Interessen der Anleger und Endbegünstigten (z.B. Versicherungsnehmer einer Lebensversicherung) stehen. Hinsichtlich der Stimmrechtsberater sollen ebenfalls vor allem Interessenkonflikte verhindert oder offengelegt werden. Im Einzelnen: § 134b AktG-E enthält die zentrale Bestimmung zur Mitwirkungspolitik bei institutionellen Anlegern und Vermögensverwaltern: Zukünftig werden diese verpflichtet, eine Mitwirkungspolitik (Angaben dazu, wie sie sich als Aktionäre engagieren) zu veröffent­ lichen oder zu erklären, warum sie dies nicht tun bzw. diese nicht umsetzen („comply-­ or-explain“). Die in § 134c AktG-E geregelten Offenlegungspflichten institutioneller Anleger und Vermögensverwalter sollen gewährleisten, dass die (oft langfristigen) Interessen der Endbegünstigten bei der Umsetzung der Anlagestrategie berücksichtigt werden. Stimmrechtsberater werden in § 134d Abs. 1 AktG-E zu einer Erklärung über die Einhaltung von Vorgaben eines Verhaltenskodexes (z.B. die Best Practice Principles for Shareholder Voting Research) verpflichtet („comply-or-explain“). Absatz 2 enthält darüber hinaus eine Verpflichtung zur jährlichen Veröffentlichung bestimmter Informationen (z.B. Hauptinformationsquellen, Qualitätssicherung zur Vermeidung von Interessenkonflikten). Zusätzlich sieht Absatz 4 eine Informationspflicht der Stimmrechtsberater gegenüber ihren Kunden im Falle von Interessenkonflikten vor. –– Hier weisen die Stellungnahmen auf eine Unschärfe hin: Muss man nicht bei den Pflichten nach § 134b noch viel deutlicher danach differenzieren, ob ein institutioneller Anleger Aktien direkt hält, oder indirekt, das heißt ob er Vermögensverwalter, Fonds etc. für sich handeln lässt, welche die Aktionäre sind und die Stimmen ausüben (dies ist bereits aufgegriffen in § 134c Abs. 2 AktG-E)? Das lässt sich aber anhand des RefE mit wenigen erläuternden Handgriffen klären.

IV. Mitspracherechte der Aktionäre bei der Vergütung von Aufsichtsrat und Vorstand („say on pay“) Gemäß RefE ist zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften künftig eine Vergütungspolitik zu erstellen. Diese wird mindestens alle vier 757

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Jahre von der Hauptversammlung gebilligt; zudem ist ein klarer und verständlicher Vergütungsbericht vorzulegen. 1. Vergütungspolitik und Vorstand Zum RefE im Einzelnen: Die Vergütungspolitik schreibt nicht die konkrete Vorstandsvergütung vor, sondern enthält lediglich eine Rahmenvorgabe für den Aufsichtsrat; welche Themen die Politik zu behandeln hat, ist in § 87a AktG-E festgelegt. Die Vergütungspolitik ist gemäß § 120a AktG-E von der Hauptversammlung bei wesentlichen Änderungen, mindestens jedoch alle vier Jahre, zu billigen. Das Votum ist für den Aufsichtsrat rechtlich nicht bindend. Sofern die Hauptversammlung die Vergütungspolitik nicht billigt, ist in der darauffolgenden Hauptversammlung eine überprüfte Vergütungspolitik vorzulegen. Überprüft heißt nicht zwingend geändert. Der Aufsichtsrat setzt die Vergütung der Vorstandsmitglieder in Übereinstimmung mit der Vergütungspolitik fest (§ 87a Absatz 2 AktG-E). –– Die Stellungnahmen zu diesem vermutlich politisch bedeutsamsten Themenkreis des Entwurfs verhalten sich doch überwiegend sehr freundlich und zustimmend. Sicherlich gibt es einige institutionelle Investoren, die ein zwingendes Votum der Hauptversammlung fordern, aber ganz überwiegend wird das beratende Votum begrüßt. 2. Vergütungspolitik und Aufsichtsrat Nach dem RefE, hier §  113 Abs.  3 AktG, sind im Falle des Aufsichtsrats in jedem Hauptversammlungsbeschluss über dessen konkrete Vergütung die Angaben des § 87a AktG-E zur Vergütungspolitik zu machen. Konkrete Vergütungsfestsetzung und Vergütungspolitik werden also uno actu zusammengefasst. Dadurch werden ein Doppelbeschluss der Hauptversammlung und ein Auseinanderfallen beider vermieden. Die Festsetzung ist durch Beschluss oder durch Satzungsänderung möglich (Absatz 1). –– Die Stellungnahmen begrüßen diese Notlösung. Dass auch für den Aufsichtsrat eine Vergütungspolitik (bzw. nicht ganz so politisch konnotiert: ein Vergütungssystem) beschlossen werden soll, dass also die Hauptversammlung sich mit einer Vergütungspolitik binden soll, obwohl sie doch selbst die konkrete Vergütung festsetzt, ist sicherlich ein kleiner Unglücksfall der Richtlinie, die schlicht das deutsche Two-Tier-System nicht berücksichtigt. Das haben wir vielleicht nicht hartnäckig genug verhandelt. Ein wiederholter Versuch, der Kommission die Sinnlosigkeit der Vorschrift vor Augen zu führen wurde sogar im Dezember 2019 noch unternommen. Dort heißt es in unserem Schreiben unter anderem: „The legislative obligation to have the general meeting stipulate a "self-binding" remuneration policy that may be amended by any decision of the general meeting in any way it chooses, is, however, perceived as artificial red tape by the stakeholders. Many voices raised the question what the reason behind forcing the general meeting to adopt a resolution on a remuneration policy with no apparent effect could be: If the general meeting itself sets the remuneration of the supervisory board why should it further set himself a policy to do 758

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so? As nobody could see a good reason for that so far, we are led to think that the directive may not quite have taken this situation into consideration. Many voices argue that stipulating provisions that make no sense is certainly not the aim of the directive and urge us to go without a senseless policy for the general meeting. As a possible solution to the problem we were thinking about integrating the criteria of the policy in the decision on actual remuneration and applying the directive's transparency regime in order to transpose the material aspects of the directive without the formalisms that meet so much opposition.” Eine Antwort kam erst Mitte Februar. Die Kommission bleibt dabei, dass die policy auch für das Supervisory Board gilt und dort auch einen gewissen added value habe. Sie deutet aber auch an, dass die policy in diesem Fall gewissermaßen Diskussionshintergrund für die konkrete Vergütungsfestsetzung sei. Angesichts dieser Situation wird in den Stellungnahmen unser pragmatischer Ansatz, die Vergütungspolitik mit der konkreten Vergütungsfestsetzung in einem Beschluss zusammenzufassen überwiegend gelobt und fühlen wir uns auch durch die Kommission in diesem Ansatz bestätigt. Einer Kritik der Stellungnahmen sollte man aber wohl folgen: Dass der Beschluss zwar ein einheitlicher ist, sofern die Vergütung allerdings in der Satzung festgelegt werden soll, die dazugegebenen Gründe (also die „Vergütungspolitik“) nicht notwendig auch Satzungsbestandteil werden sollten, weil dies die Satzung unnötig aufbläht. 3. Der Vergütungsbericht Der RefE verpflichtet Vorstand und Aufsichtsrat einen Bericht über die Vergütung im vorausgegangenen Geschäftsjahr zu erstellen und diesen der Hauptversammlung zur Billigung durch Beschluss vorzulegen (§ 120a Absatz 3 AktG-E). Die Inhalte sind in § 162 AktG-E geregelt. Der Vergütungsbericht ist durch den Abschlussprüfer in formeller Hinsicht auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu prüfen. Politik und geprüfter Bericht sind auf der Website der Gesellschaft zu veröffentlichen. In der Erklärung zur Unternehmensführung ist auf den Vergütungsbericht, die gültige Vergütungspolitik für die Vorstandsvergütung und den Beschluss über die Vergütung des Aufsichtsrats Bezug zu nehmen (§ 289f HGB-E).

V. Regelungen zur Zustimmung und Bekanntmachung bei Geschäften mit nahestehenden Unternehmen und Personen („related party transactions“) 1. Zurückhaltende Umsetzung Der RefE führt für Geschäfte der börsennotierten Gesellschaft mit ihr nahestehenden Personen unter bestimmten Voraussetzungen eine Zustimmungspflicht durch den Aufsichtsrat sowie eine Bekanntmachungspflicht ein. Das einheitliche Schutzregime der Richtlinie wird durch die behutsame Einfügung weniger neuer Regelungen in das deutsche Recht integriert. Die bereits existierenden aktienrechtlichen Regelungen zur Behandlung von related party transactions bleiben bestehen. Die neuen Bestimmun759

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gen werden daher unter Ausnutzung aller Ausnahmen der Richtlinie formuliert. Im Einzelnen: § 111a AktG-E definiert die Geschäfte mit nahestehenden Personen und enthält zugleich eine Reihe von in der Richtlinie zugelassenen Ausnahmen. Diese erfassen marktübliche Geschäfte, ferner Geschäfte mit direkten  – oder indirekten  – 100  %igen Tochterunternehmen oder solche, die der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen sowie alle in Umsetzung der Hauptversammlungszustimmung oder -ermächtigung vorgenommen Geschäfte und Maßnahmen. –– Nach Lektüre der Stellungnahmen dürfen wir mit Befriedigung feststellen, dass das Entwurfskonzept weitestgehend Konsens findet. Insbesondere findet bis auf wenige Ausnahmen auch der Ansatz einer maximalen Nutzung der Ausnahmen und insbesondere die Ausnahme für den Vertragskonzern ganz überwiegend Zustimmung. Diese wird auch von den Stellungnahmen durchweg für europarechtlich zulässig gehalten. Die Argumentation des Entwurfs, dass wir in Deutschland schon einen recht dicht gewebten Flickenteppich an Regelungen zur Behandlung von Gefahren aus Geschäften mit nahestehenden Personen haben, weshalb eine Regelung on top nur sehr zurückhaltend eingeführt werden sollte, wird weitestgehend geteilt. 2. Die nahestehende Person Der RefE definiert die „nahestehende Person“ nicht selbst, sondern verweist in § 111a Absatz 1 Satz 2 AktG-E auf die Definition für „nahestehende Unternehmen oder Personen“ im Sinne der internationalen Rechnungslegungsstandards. –– In den Stellungnahmen sieht sich dieser dynamische Verweis aufgrund seiner Weite zwar einiger Kritik ausgesetzt. Er ermöglicht jedoch eine richtlinienkonforme Umsetzung unter Berücksichtigung bereits etablierter und in der Praxis bewährter Standards. Es wird jedenfalls um Klärung gebeten, welche Standards genau in Bezug genommen sind. 3. Wesentliche Geschäfte Der RefE begründet mit § 111b AktG-E sodann den Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats bei „wesentlichen“ Geschäften mit nahestehenden Personen, also Geschäften, deren Wert 2,5 Prozent der Summe aus Anlagevermögen und Umlaufvermögen übersteigt; dies gilt gemäß § 311 Abs. 3 AktG-E auch im faktischen Konzern. –– Die Stellungnahmen tragen die recht hohe Schwelle von 2,5 % weitgehend mit. Das ist insofern interessant, als diese Schwelle mit nichts begründbar ist, es ist eine rein gegriffene Größe. Man hätte auch 2 % oder 3 % sagen können. Aber wir müssen hier dezisionistisch einen Wert angeben und dieser sollte hoch sein. Es ist von einigen Stellungnahmen zu Recht darauf hingewiesen worden, dass dies insbesondere bei großen Konzernen sehr hohe Beträge ausmache. Das erscheint im Ergebnis

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aber hinnehmbar.4 Man hätte die Schwelle natürlich ausdifferenzieren können nach kleinen und großen Unternehmen, nach Gesellschaft und Konzern, nach verschiedenen Bilanzwerten, nach Zustimmung des Aufsichtsrats und Bekanntmachung, nach der Natur der nahestehenden Personen und so weiter. Das hätte uns aber nicht glücklicher gemacht. Gerechtigkeit besteht nicht nur aus Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch aus Rechtsklarheit und Rechtshandhabbarkeit. Die jetzt vorgeschlagene Regel ist simpel. In einigen wenigen Fällen führt sie möglicher­ weise zu wenig überzeugenden Ergebnissen, dies ist hinzunehmen. Es finden sich demgemäß auch nur ganz wenige Stellungnahmen, die einen höheren (5 %) oder niedrigeren Schwellenwert oder seine Differenzierung fordern. 4. Beschluss des Aufsichtsrats Gemäß RefE, dort § 107 Absatz 3 AktG, kann der Aufsichtsrat einen Ausschuss bestellen, der einen Vorschlag für die Beschlussfassung über die Zustimmung nach § 111b Absatz 1 AktG-E macht. Dieser muss mehrheitlich aus Mitgliedern bestehen, die keine am Geschäft beteiligten nahestehenden Personen sind und bei denen nach Einschätzung des Gesamtaufsichtsrats keine Besorgnis eines Interessenkonflikts besteht. Besteht hingegen kein Ausschuss für einen Beschlussvorschlag, so dürfen gemäß § 111c Absatz 2 AktG-E bei der Abstimmung im Gesamtaufsichtsrat über das Geschäft zusätzlich auch diejenigen Mitglieder ihr Stimmrecht nicht ausüben, bei denen objektiv die Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht. –– Die Stellungnahmen melden hier Kritik an. Die Regelungen zur unabhängigen Beschlussfassung über die Zustimmung zu wesentlichen Geschäften begeistern nicht. Zu komplex wird gesagt. Vielfach möchte man, dass der Ausschuss ein entscheidender und nicht nur vorbereitender Ausschuss ist, das sollte man überlegen. Zwingend ist keins von beidem. Es wird auch kritisiert, dass die Unabhängigkeit für den Ausschuss subjektiv und für den Aufsichtsrat selbst objektiv zu beurteilen ist. Es ist in der Tat bedenkenswert, ob dieses komplizierte System ideal gelungen ist. Allerdings macht die RL hier doch detaillierte Vorgaben und haben wir bereits versucht, ein abgestuftes System vorzuschlagen, welches im Normalfall ganz einfach ist: Der AR entscheidet (mit den objektiv unabhängigen Mitgliedern) im Ple­ num und alles läuft. Nur wenn es im Plenum nicht mehrheitsfähig ist, wird es komplizierter. Vielleicht deutet das dann aber schon daraufhin, dass an dem Geschäft etwas faul ist. 5. Die Bekanntmachung Der RefE regelt in § 48a WpHG-E die unverzügliche Bekanntmachung von „wesentlichen“ Geschäften mit nahestehenden Personen. Die Bekanntmachungspflicht ist der kapitalmarktrechtlichen ad-hoc-Publizität angepasst. 4 Engert/Florstedt, ZIP 2019, 493 ff. arbeiten sorgfältig empirisch heraus, dass eine Schwelle von 2,5% im Regelfall zu gut brauchbaren Ergebnissen kommt.

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–– Die Stellungnahmen begrüßen, dass „unverzüglich“ nicht „sofort“ bedeuten soll und dass ausnahmsweise ein Standort außerhalb des AktG gewählt wurde. Die Nähe zu den Bekanntmachungsvorschriften bei Insiderinformationen überzeugt.

VI. Ausblick Nach Bewertung und Einarbeitung der Stellungnahmen ist wiederum ein mühsamer Prozess zu durchlaufen: Abstimmung des Entwurfs innerhalb des Hauses mit anderen Referaten, soweit diese zuständig oder berührt sind. Danach folgen die Abstimmung mit dem Sprachendienst und mit dem Nationalen Normenkontrollrat, der u.U. wochenlange Auseinandersetzungen über den „Erfüllungsaufwand“ beschert. In der Begründung zum RefE nahm die Darstellung des Erfüllungsaufwands 20 Seiten ein. Eine gewisse Verwunderung über solche Blüten der Bürokratie mag erlaubt sein. Es ist auch zu vermuten, dass der Erfüllungsaufwand in den einzelnen Positionen weitgehend gegriffen ist (was kostet es, wenn der Aufsichtsrat sich mit der Zustimmung zu einem wesentlichen Geschäft befasst? Er bekommt ja nicht mehr bezahlt deswegen? Oder sollte man seine Durchschnittsvergütung auf einen vermuteten Zeitaufwand herunterbrechen? Und wie oft werden solche Zustimmungsfälle auftreten?). Aber Hauptsache jedes Formblatt ist sauber ausgefüllt. Danach kommt erneut eine Ressort­ abstimmung, die allerlei Überraschungen bringen kann. Erst dann wird das Bundeskabinett den Entwurf als Regierungsentwurf verabschieden (20. März 2019). Danach kommt der Erste Durchgang durch den Bundesrat, die Stellungnahme des Bundesrates, der Kabinettbeschluss mit der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates und die Zuleitung an den Deutschen Bundestag, der nach der ersten Lesung an die Ausschüsse überweist, die bei einem so gewichtigen Entwurf gewiss eine Anhörung wünschen werden. Es stehen uns also noch einige dicht gefüllte Monate bevor. Der Leser dieses Zwischenberichts wird im Zeitpunkt seiner Lektüre schon mehr wissen.

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Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. § 147 als faktisches Minderheitsrecht und das Verhältnis zu anderen ­Minderheitsrechten 1. Das Stimmrechtsverbot bei § 147 AktG als Grundlage des Minderheitsrechts 2. Stimmverbote bei der Sonderprüfung (§ 142 Abs. 1 S. 2 AktG) 3. Die Aktionärsklage nach § 148 AktG I II. Zwischenergebnis und erste Folgerungen 1. Übereinstimmungen und Diskrepanzen 2. Erste Folgerungen

1. Anforderungen an den Gegenstand 2. Bestimmtheit des Beschlusses und ­Missbrauch 3. Rechtsfolgen: Anfechtbarkeit oder ­Nichtigkeit? V. Kompetenzen des besonderen Vertreters 1. Rechtsstellung 2. Informations- und Einsichtsrechte 3. Verhältnis von Sonderprüfung zu Befugnissen des besonderen Vertreters VI. Ausblick

IV. Konsequenzen für den Beschluss nach § 147 Abs. 1, 2 AktG

I. Einleitung Nach einem langen Dornröschenschlaf sowohl in der Praxis als auch in der wissenschaftlichen Diskussion sowie der Judikatur, ist in den letzten Jahren der besondere Vertreter nach § 147 AktG de facto als Instrument der Minderheit zur Kontrolle der Organe in der AG quasi wieder entdeckt worden1 – auch wenn § 147 AktG dies anders als § 142 Abs. 2 S. 1 AktG nicht vorsieht, was noch näher auszuführen sein wird (II.). Auch §  147 AktG birgt Potential zum Missbrauch, so dass bereits gewichtige warnende Stimmen laut geworden sind, die die Rechte nach § 147 AktG begrenzen wollen, untermauert mit entsprechenden Fakten (III). Hierzu gehört aber nicht nur die Einleitung der Verfahren selbst, sondern auch die Reichweite der Kompetenzen des besonderen Vertreters – insbesondere in Abgrenzung zur Sonderprüfung nach § 142 AktG (IV). Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Verfahren nach § 147 AktG zunehmend in den Fokus gerichtlicher Auseinandersetzungen gerät, darunter

1 Mock, AG 2008, 839, passim; Kling, ZGR 2009, 190, passim; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, passim; Binder, ZHR 176 (2012), 380, passim; Humrich, NZG 2014, 441, passim; Mock, AG 2015, 652, passim; Löbbe in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 25, passim; Bayer, AG 2016, 637, passim; Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337, passim.

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auch als Teil der Aufarbeitung des gesamten Dieselgate-Komplexes aus aktien- und kapitalmarktrechtlicher Sicht. Der Jubilar selbst ist in der Praxis mit Verfahren dieser Art konfrontiert gewesen, so dass eine Aufarbeitung des derzeitigen Standes hoffentlich sein geschätztes Interesse finden möge.

II. § 147 als faktisches Minderheitsrecht und das Verhältnis zu anderen Minderheitsrechten Die Einsetzung eines besonderen Vertreters nach § 147 AktG steht in einer Linie mit anderen vom Gesetzgeber vorgesehenen Minderheitsrechten nach § 142 AktG – der Sonderprüfung – und der Aktionärsklage nach § 148 AktG. Alle drei Ansätze sollen ein check-and-balance System gegenüber den Organen und Mehrheitsaktionären in der Gesellschaft etablieren. Überraschenderweise sind alle drei Rechte aber keineswegs konsistent und friktionslos ausgestaltet – obwohl sie sich überlappen, was sich besonders an § 147 AktG und der Aktionärsklage nach § 148 AktG zeigt. 1. Das Stimmrechtsverbot bei § 147 AktG als Grundlage des Minderheitsrechts Nach § 147 Abs. 1 AktG ist zunächst lediglich vorgesehen, dass die Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit beschließen kann, dass die Organe der AG Schadensersatzansprüche verfolgen müssen. Nach § 147 Abs. 2 S. 2 AktG kann eine Minderheit von 10% des Grundkapitals oder des anteiligen Betrags von einer Million Euro bei Gericht einen sog. besonderen Vertreter beantragen, der nicht Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrats ist. Zum vollständigen Minderheitenrecht mutiert die Bestimmung aber erst durch das Stimmverbot nach § 136 Abs. 1 S. 1 3. Fall AktG für den Aktionär, gegen den die Gesellschaft einen Anspruch geltend machen soll, wobei es keine Rolle spielt, welcher Art oder Herkunft der Anspruch ist,2 außer es handelt sich um eine Einmann-AG.3 § 147 AktG kann daher auch den Interessen der Minderheit dienen, wenn sich die Rechtsverfolgung gegen einen Mehrheitsaktionär richtet, etwa das herrschende Unternehmen.4 Denn das Stimmverbot aus § 136 Abs. 1 S. 1 3. Fall AktG gegen einen Aktionär kann auch dann eingreifen, wenn der Aktionär von einer Anspruchsverfol2 BGH v. 20.1.1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33 = AG 1986, 256 (zur GmbH); Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 10; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 649; Nietsch, ZGR 2011, 589, 603; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 123 f. 3 OLG München v. 3.3.2010 – 7 U 4744/09, ZIP 2010, 725, 727 f. = AG 2010, 673. 4 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 23, 60, 204, 319; Humrich, NZG 2014, 441, 447; Nietsch, ZGR 2011, 589, 603; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1147; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 649; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 124.

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gung gegen den Vorstand oder Aufsichtsrat mittelbar negativ betroffen ist.5 Aufgrund des Stimmverbotes aus §  136 AktG kann es für eine Minderheit deshalb einfacher sein, einen Beschluss über die Geltendmachung zu fassen, als einen Sonderprüfer zu bestellen.6 Allerdings gilt dies nur für die Fälle, in denen der betroffene Aktionär mit dem Vorstand oder Aufsichtsrat zusammengewirkt hat; Pflichtverletzungen des ­abstimmenden Aktionärs (z.B. unberechtigte Dividendenzahlung aufgrund der Verletzung von Mitteilungspflichten nach § 20 AktG), denen eine andersartige Pflichtverletzung des Vorstands bzw. Aufsichtsrats, wie eine Aufsichtspflichtverletzung, gegenübersteht und die nicht auf ein irgendwie geartetes Zusammenwirken zurückgeführt werden können, unterfallen nicht dem Stimmverbot.7 Da das Verfahren nach § 147 AktG nicht nur die Klageerzwingung betrifft, sondern auch den Beschluss nach § 147 Abs. 2 S. 1 AktG zur Bestellung eines besonderen Vertreters, muss sich das Stimmverbot auch auf diesen Beschluss erstrecken – mit der Folge, dass auch hier die Minderheit „das Sagen“ hat und ein Rückgriff auf das formale Minderheitsrecht nach § 147 Abs. 2 S. 2 AktG oftmals nicht nötig sein wird. Nota bene: Das Stimmrechtsverbot ersetzt nicht das formale Minderheitsrecht, das über ein Quorum festgelegt wird, da (theoretisch) der Fall denkbar ist, dass auch nach einem Stimmrechtsverbot für den betroffenen (Mehrheits-) Aktionär die verbleibenden Aktionäre trotzdem kein Klageerzwingungsverfahren beschließen. Das Minderheitsrecht nach § 147 Abs. 2 S. 2 AktG ändert hieran nichts, da es nur dann eingreift, wenn der Beschluss nach § 147 Abs. 1 AktG gefasst wurde.8 2. Stimmverbote bei der Sonderprüfung (§ 142 Abs. 1 S. 2 AktG) Im Gegensatz zu § 147 AktG enthalten die Regeln über die Sonderprüfung eine eigenständige Regelung des Stimmverbots, § 142 Abs. 1 S. 2 AktG. Demnach dürfen Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrats bei der Beschlussfassung weder für sich noch für einen anderen mitstimmen, wenn sich die Sonderprüfung auf Vorgänge erstrecken soll, die mit der Entlastung eines Verwaltungsmitglieds oder mit der Einleitung eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft und einem Verwaltungsmitglied zusam5 BGH v. 20.1.1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33 f. = AG 1986, 256 (zur GmbH); OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 74 = AG 2008, 172; OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1917 = AG 2008, 864; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 203; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 4; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 45; Stallknecht, Der besondere Vertreter nach § 147 AktG, 2015, S. 63; Lochner/Beneke, ZIP 2015, 2010, 2013 f.; a.A. Nietsch, ZGR 2011, 589, 604. 6 Stallknecht, Der besondere Vertreter nach § 147 AktG, 2015, S. 63. 7 So OLG Karlsruhe v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627, 634 – Gelita AG unter Verweis auf BGH, v. 4.5.2009 – II ZR 166/07, ZIP 2009, 2193; s. auch OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211, 1220; Stallknecht, Der besondere Vertreter nach § 147 AktG, 2015, S. 64. 8 Hüffer, ZHR 174 (2010) 642, 652 f.; Kling, ZGR 2009, 190, 194 f.; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 284 f.; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 92; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 68 ff.

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menhängen, §  142 Abs.  1 S.  2 AktG. Die Regelung erweitert und verschärft das in § 136 AktG enthaltene Stimmverbot und verfolgt ebenfalls den Zweck, die Beschlussfassung der Hauptversammlung von Sonderinteressen freizuhalten.9 Erfasst werden unabhängig von ihrer persönlichen Betroffenheit sämtliche Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, sobald nur ein Mitglied eines der Organe an dem zu prüfenden Vorgang beteiligt war10 – was zum einen auf die zu vermutende Solidarität der Mitglieder beider Organe,11 zum anderen auf die bei Beginn der Sonderprüfung unklare Verteilung der Verantwortlichkeiten zurückzuführen ist.12 Anders als bei § 147 AktG sind dagegen andere Aktionäre, die selbst keine Mitglieder von Vorstand oder Aufsichtsrat sind, nicht von der Stimmrechtsausübung ausgeschlossen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie aufgrund einer Mehrheitsbeteiligung maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft bzw. deren Verwaltungsmitglieder ausüben können,13 auch nicht im Rahmen von Konzernbeziehungen.14 Zwar finden die allgemeinen Stimmverbote des § 136 AktG Anwendung,15 sie greifen jedoch gerade nicht ein, wenn es um die Anordnung einer vorbereitenden Sonderprüfung gegen einen 9 G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 AktG Rz. 31 ff.; Koch in Hüffer/ Koch, 13. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 13; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 55; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 142 AktG Rz. 98; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 AktG Rz. 153; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 647; Hirschmann in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 142 AktG Rz. 23; Herrler in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 142 AktG Rz. 12; Kirschner, Die Sonderprüfung der Geschäftsführung in der Praxis, 2008, S. 58 f.; Wilsing, Der Schutz vor gesellschaftsschädlichen Sonderprüfungen, 2014, S. 38 der davon spricht besonders die Verwaltung von der Verhinderung der Aufklärung abzuhalten. 10 Begr. RegE in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 207; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 55; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 AktG Rz. 31; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 14; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 647 f.; Schürnbrand, ZIP 2013, 1301, 1302 f. 11 Begr. RegE in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S.  207; G.  Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 AktG Rz. 31; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 142 AktG Rz. 99; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 AktG Rz. 156. 12 G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 AktG Rz. 31; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 54; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 142 AktG Rz. 156. 13 Hanseatisches OLG Hamburg v. 19.9.1980 – 11 U 42/80, AG 1981, 193, 197; Hanseatisches OLG Hamburg v. 17.8.2001 – 11 U 60/01, AG 2003, 46; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 58; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 142 AktG Rz. 34; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 15; Bungert in Münch­ Hdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 43 Rz. 9; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 142 AktG Rz. 102; Wilsing/von der Linden in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 142 AktG Rz. 20; a.A. OLG Karlsruhe v. 20.11.1987 – 15 U 102/85 (unveröffentlicht). 14 Hanseatisches OLG Hamburg v. 19.9.1980 – 11 U 42/80, AG 1981, 193, 197; OLG München v. 8.11.2000  – 7 U 5995/99, AG 2001, 193, 197; LG München  I v. 28.8.2008  – 5 HK O 12861/07, ZIP 2008, 2124, Rz. 621; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 143 AktG Rz. 34; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 58. 15 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 15; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 58; Bungert in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 43 Rz. 9; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 142 AktG Rz. 102.

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Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht?

(Mehrheits-) Aktionär geht.16 Eine Analogie zu § 136 Abs. 1 S. 1 AktG bezogen auf die Prüfung scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus, da der Gesetzgeber Stimmverbote in § 142 Abs. 1 S. 2 und S. 3 geschaffen hat.17 Diese im Gegensatz zu §§ 147, 136 Abs. 1 S. 1 3. Fall AktG stehende Regelung mutet auf den ersten Blick eigenartig an, da sie den betroffenen (Mehrheits-) Aktionär die Möglichkeit gibt, gegen entsprechende Sonderprüfungen zu stimmen; doch ist für diesen Unterschied das in § 142 Abs. 2 AktG vorgesehene Antragsrecht für eine Minderheit ausschlaggebend, so dass für eine entsprechende Ausdehnung des Stimmverbots keine Veranlassung besteht.18 Die Minderheit wird eben gerade durch ihr Antragsrecht nach § 142 Abs. 2 AktG geschützt. Dies gilt gleichermaßen für den Minderheitsaktionär in der faktisch konzernierten AG, da er mit den Regelungen der §§ 312 ff. AktG bereits ausreichend geschützt ist.19 Auch eine Gesamtanalogie zu § 136 Abs. 1 AktG kommt angesichts der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers des AktG 1937 und der späteren Fortführung im Rahmen weiterer aktienrechtlicher Reformen nicht in Betracht.20 Die für eine Analogie erforderliche planwidrige Regelungslücke fehlt.21 Eine andere Frage ist diejenige nach einer Einzelanalogie bei qualitativ und quantitativ vergleichbarer Interessenlage eines nicht von § 136 AktG erfassten Problems der Stimmrechtsausübung.22 Wie dar16 Hanseatisches OLG Hamburg v. 17.8.2001 – 11 U 60/01, AG 2003, 46, 48; Hanseatisches OLG Hamburg v. 19.9.1980 – 11 U 42/80, AG 1981, 193, 197; LG Düsseldorf v. 13.2.1997 – 31 O 133/96, AG 1999, 94, 95; Bungert in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 43 Rz. 9; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 58; Wilsing, EWiR 2005, 99, 100; a.A. Brandenburgisches OLG v. 6.6.2001  – 7 U 145/00, AG 2003, 328, 329; LG Frankfurt v. 12.10.2004 – 3-5 O 71/04, AG 2005, 545, 547. 17 OLG Düsseldorf v. 13.1.2006 – 16 U 137/04, AG 2006, 206, 206; Rieckers/J. Vetter, KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2015, §  142 Rz.  172; Koch in Hüffer/Koch, 13.  Aufl. 2018, §  142 Rz.  15; Wilsing, Der Schutz vor gesellschaftsschädlichen Sonderprüfungen, 2014, S.  40; Kamm, Die aktienrechtliche Sonderprüfung gem. §§ 142 ff. AktG, 2015, S. 63. 18 Hanseatisches OLG Hamburg v. 17.8.2001 – 11 U 60/01, AG 2003, 46, 48; Koch in Hüffer/ Koch, 13. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 15; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 142 AktG Rz. 58; Bungert in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 43 Rz. 9; a.A. LG Frankfurt v. 12.10.2004 – 3-5 O 71/04, AG 2005, 545, 547; ebenso Brandenburgisches OLG v. 6.6.2001 – 7 U 145/00, AG 2003, 328, 329. 19 OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211, 1219; siehe auch Tielmann/Gahr, AG 2016, 199, 204. 20 Allg.M., s. nur Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 136 Rz. 29 mwNachw. 21 BGH v. 20.1.1986  – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28, 33  = AG 1986, 256; OLG Karlsruhe v. 14.3.2018 – 11 U 35/17 ZIP 2018, 627, 633 f. – Gelita AG; OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211, 1218; LG Heilbronn v. 15.11.1966 – 11 O 93/66, AG 1971, 94, 95; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 18; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 21; Grundmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 136 AktG Rz. 40; Zimmermann in FS Rowedder, 1994, S. 593, 598 f.; Uwe H. Schneider, ZHR 150 (1986), 609, 613; nicht eindeutig im Ergebnis OLG München v. 17.3.1995  – 23 U 5930/94, WM 1995, 842, 843. 22 Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  136 AktG Rz.  22; Holzborn in Bürgers/ Körber, 4. Aufl. 2017, § 136 AktG Rz. 10; Happ/Bednarz in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 433, 434; im Ergebnis ebenso, allerdings ohne die Deutung der Notwendigkeit Koch in

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gelegt, scheidet aber auch diese angesichts der Regelungsstruktur in § 142 AktG bzw. der dort enthaltenen Minderheitsrechte und der expliziten Stimmverbote aus. 3. Die Aktionärsklage nach § 148 AktG Die Aktionärsklage nach § 148 AktG ist der bislang letzte Versuch des Gesetzgebers, ein effizientes Überwachungs- und Kontrollinstrument der Aktionäre gegenüber der Geschäftsleitung zu schaffen, vor allem wenn das Kontrollsystem von Vorstand und Aufsichtsrat versagt, weil das zuständige Verwaltungsorgan die Durchsetzung von Ansprüchen unterlässt.23 Die Aktionärsklage nach § 148 AktG steht in einer Reihe mit zahlreichen Reformprojekten im Aktienrecht schon seit dem ADHGB 1884 (Art. 223), mit denen die Aktionärsminderheit Klagen erzwingen können sollte. Bereits die Begründung zum ADHGB 1884 hatte sich indessen ausdrücklich gegen eine Aktionärsklage ausgesprochen.24 Die Diskussion um das Aktionärsklagerecht stand seit dieser Zeit immer in engem Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Sonderprüfung und der Bestellung eines besonderen Vertreters bzw. dem Klageerzwingungsverfahren. So lehnte die ganz hM ein ungeschriebenes Aktionärsklagerecht25 unter Berufung auf die abschließende Regelung des § 147 AktG a.F. ab.26 Die enge Verbindung zeigte sich zuletzt in dem mit Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG)27 eingeführten § 147a Abs. 3 AktG (a.F.). Dieser gewährte einer Minderheit, deren Anteile zusammen den zwanzigsten Teil des Grundkapitals oder den anteiligen Betrag von 500 000 Euro erreichten, das Recht gerichtlich einen besonderen Vertreter zu bestellen, sofern Tatsachen den dringenden Verdacht einer Unredlichkeit oder groben Gesetzes- oder Satzungsverletzung rechtfertigten; auch hier galt das Stimmrechtsverbot des § 135 Abs. 1 S. 1 Var. 3 AktG.28 Allerdings besaß § 147 Abs. 3 AktG a.F. wegen des hohen Quorums relativ geringe Bedeutung; kritisiert wurde zudem die Diskrepanz bei den erforderlichen Quoren zu § 142 Abs. 2 S. 1 AktG a.F.29 Zudem hafteten die Antragsteller im Falle der Erfolglosigkeit der Klage Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 136 AktG Rz. 18; generell gegen Analogie Zimmermann in FS Rowedder, 1994, S. 593, 598; sehr restriktiv Grundmann in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 136 AktG Rz. 39. 23 Dazu Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S.  20; Spindler, NZG 2005, 865, 866; G. ­Bezzenberger/T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 148 AktG Rz. 1. 24 Allg. Begr. § 13 III B 2 des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die KGaA und AG 1884, abgedruckt bei Hommelhoff/Schubert, Einhundert Jahre modernes Aktienrecht, ZGR Sonderheft 4, 1985, S. 469. 25 S.  Wiedemann, Organverantwortung und Gesellschafterklagen in der Aktiengesellschaft, 1989, S. 49. 26 Krieger, ZHR 163 (1999), 336, 344; Sünner, ZHR 163 (1999), 364, 371 f.; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 37 mwNachw. 27 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) v. 27.4.1998, BGBl. I 1998, 786. 28 G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 21; Schröer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 147 AktGRz. 28. 29 Ausführlich auch Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 20; Bayer, NJW 2000, 2609, 2615; Baums, Gutachten  F zum 63.  Deutschen Juristentag Leipzig 2000, 2000, S.  F  252; ­Banerjea, Die Gesellschafterklage im GmbH- und Aktienrecht, 2000, S. 167.

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Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht?

gegenüber der Gesellschaft für die Prozesskosten (§ 147 Abs. 4 AktG a.F.).30 Nach Diskussionen auf dem 63.  Deutschen Juristentag31 und Vorschlägen der Regierungs­ kommission Corporate Governance32 ersetzte das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG)33 den früheren § 147 Abs. 3 AktG a.F. durch das Klagezulassungsverfahren des § 148 AktG. Mit der gegenüber der Vorgängerregelung des § 147 Abs. 3 AktG a.F. deutlichen Absenkung des Schwellenwerts und der Ersetzung des besonderen Vertreters durch klagewillige Aktionäre erhoffte man sich, die Effizienz des Verfolgungsrechts zugunsten der Gesellschaft zu steigern.34 Die innere Verbindung zwischen § 148 AktG und § 147 AktG zeigt sich ferner darin, dass die Klagezulassung in Bezug auf Ersatzansprüche der Gesellschaft aufgrund der Verweisung in § 148 Abs. 1 S. 1 AktG identisch mit dem Ersatzanspruch der Gesellschaft nach § 147 Abs. 1 S. 1 AktG ist. Entgegen mancher Forderungen35 entschied sich der Gesetzgeber des UMAG36 gegen eine Klagemöglichkeit jedes Einzelaktionärs und für die Beibehaltung eines im Vergleich zu § 147 Abs. 3 AktG a.F. abgesenkten und an § 142 Abs. 2 AktG angeglichenen Quorums von Aktien, die zum Zeitpunkt der Antragstellung zusammen den einhundertsten Teil des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von 100 000 Euro am Grundkapital erreichen (§ 148 Abs. 1 S. 1 AktG).37 Der Gesetzgeber ermöglicht explizit auch einer Aktionärsminderheit, die nur zusammen38 das erforderliche Quorum erreicht, die Antragstellung.39 Neben dem Quorum müssen gem. § 148 Abs. 1 S. 2 AktG die in Nr. 1 bis 4 aufgeführten Voraussetzungen kumulativ vorliegen, aus formeller Sicht erstens der Vorbesitz der Aktien vor dem Zeitpunkt, in dem die Kläger von den behaupteten Pflichtverstößen oder dem behaupteten Schaden aufgrund einer Veröffentlichung Kenntnis erlangen

30 Bayer, NJW 2000, 2609, 2615; Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 293; Banerjea, Die Gesellschafterklage im GmbH- und Aktienrecht, 2000, S. 168; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 11. 31 Baums, Gutachten F zum 63. Deutschen Juristentag Leipzig 2000, 2000, S. F 239 ff.; Verhandlungen des 63. Deutschen Juristentages Leipzig 2000, 2001, Band II/1 Sitzungsberichte, S. O 80 ff. 32 Baums, Bericht Regierungskommission, 2001, Rz. 72 f. 33 BGBl.  I 2005, 2802; ausführlich G.  Bezzenberger/T.  Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 148 AktG Rz. 19 ff. 34 Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 334; Seibt, WM 2004, 2137, 2142. 35 Bayer, NJW 2000, 2609, 2618; Lutter, JZ 2000, 837, 841. 36 S. Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 21. Ebenso Baums, Bericht Regierungskommission, 2001, Rz. 73; Baums, Gutachten F zum 63. Deutschen Juristentag Leipzig 2000, 2000, S. F 258; Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 331. 37 Im Regierungsentwurf war statt des Nennbetrags noch der Börsenwert von 100 000 Euro vorgesehen. Zur Kritik Linnerz, NZG 2004, 307, 309; DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2004, 555, 560. 38 Zur rechtlichen Konstruktion als BGB-Innengesellschaft s. mwNachw Spindler in K. Schmidt/​ Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 Rz. 12, 41 f. 39 Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 21.

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mussten,40 zweitens der fruchtlosen Aufforderung gegenüber der AG, Klage zu erheben. Wichtiger sind dagegen die materiellen Kriterien, hier zunächst, dass Tatsachen vorliegen, die den Verdacht rechtfertigen, dass der Gesellschaft durch Unredlichkeit oder grobe Verletzung des Gesetzes oder der Satzung ein Schaden entstanden ist – was wiederum § 142 Abs. 2 S. 1 AktG entspricht – um klarzustellen, dass dem Antrag nur stattgegeben werden darf, wenn die Klage eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat,41 ohne dass indes eine abschließende Rechtsprüfung erfolgen würde.42 Schließlich dürfen in Fortführung der vom BGH in der Entscheidung ARAG/Garmenbeck43 entwickelten Grundsätze nach § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AktG nicht überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen, um missbräuchlich erhobene Klagen zu verhindern.44 Es bleibt aber nach dem Gesetzgeber bei dem Ausnahmecharakter dieser Schranke und dem Normalfall der Aktionärsklage bei Vorliegen der Voraussetzungen der § 148 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AktG.45 Um die Zulassung zu versagen, müssen die Interessen der Gesellschaft unter Abwägung der für und gegen eine Klage der Aktionäre sprechenden Umstände deutlich schwerer wiegen. Hierunter fallen im Wesentlichen Mehrfachanträge mit identischem Streitgegenstand46 bzw. ohne substantiell neues Tatsachenvorbringen, ebenso wenn trotz grober Gesetzes- oder Satzungsverletzung nur ein geringer Schaden entstanden ist47 oder die Durchsetzung gegenüber dem Organ von vornherein ausgeschlossen ist.48 Keine Gründe sind dagegen entge40 Zu Einzelheiten und strittigen Fragen s. Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 20015, § 148 Rz 16 ff. mwNachw. 41 Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 22. 42 Schröer, ZIP 2005, 2081, 2085; a.A. G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 148 AktG Rz. 163. 43 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 ff. = AG 1997, 377 ff. 44 Linnerz, NZG 2004, 307, 309; wegen „Funktionslosigkeit“ gänzlich ablehnend Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 148 AktG Rz. 17. 45 Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 22; G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4.  Aufl. 2008, §  148 AktG Rz.  152; Göz/Holzborn, WM 2005, 157, 159; ­Paschos/Neumann, DB 2005, 1779, 1780; Spindler, NZG 2005, 865, 867; Weiss/Buchner, WM 2005, 162, 169; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 9. 46 Dazu bereits Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 337; Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 47; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz. 350. 47 Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 18, 22; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz. 347, 356: Erkennen geringe Schadenssummen als Grund i.S.d. Nr. 4 an, verneinen Nr. 4 aber regelmäßig bei nur „leichten“ Unredlichkeiten; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 9; G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4.  Aufl. 2008, §  148 AktG Rz.  156; Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 47. Vgl. auch Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 18 zur vergleichbaren Problematik bei § 142 Abs. 2 AktG; ablehnend Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 148 AktG Rz. 17. 48 Begr. RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S.  22; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz. 348; G. Bezzenberger/T. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 148 AktG Rz. 157; Hirschmann in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 148 AktG Rz. 14: offensichtlich aussichtslos; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 47; Happ in FS Westermann, 2008, S. 971, 992; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 148 AktG

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Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht?

genstehende Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, wenn ihre Geheimhaltung prozessual gewährleistet ist,49 erst recht nicht der drohende Ansehensverlust der Gesellschaft in der Öffentlichkeit.50 Bei Lichte betrachtet handelt es sich bei § 148 AktG daher „nur“ um ein gegenüber § 147 AktG modifiziertes Klageerzwingungsverfahren: Denn nach den Grundsätzen des BGH im Fall ARAG/Garmenbeck wird das innergesellschaftlich zuständige Or­ gan nach Zulassung der Aktionärsklage regelmäßig zur Übernahme einer eigenen Klage verpflichtet sein.51 Wenn im Zulassungsverfahren festgestellt wurde, dass der Verdacht einer Unredlichkeit oder groben Gesetzes- oder Satzungsverletzung gegeben ist und der Geltendmachung der Ersatzansprüche keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen, wird das Organ keine andere Wahl haben, als das Verfahren selbst einzuleiten.52

III. Zwischenergebnis und erste Folgerungen 1. Übereinstimmungen und Diskrepanzen Damit ergibt sich zunächst ein komplexes, kaum einheitliches Bild der Minderheitsrechte nach §§ 142, 147, 148 AktG – obwohl alle Rechte auf die Aufklärung und Verfolgung von Ansprüchen der Gesellschaft gegenüber ihren Organen und/oder Aktionären gerichtet sind: So verlangen § 142 Abs. 2 S. 1 AktG und § 148 AktG in jedem Fall ein Quorum, bei § 142 Abs. 2 S. 1 AktG 1 %, bei § 148 AktG 1 %. Demgegenüber sieht § 147 AktG aufgrund des Stimmverbots keinerlei Quorum vor, so dass theoretisch selbst ein Aktionär bei Befangenheit bzw. Betroffenheit aller anderen Aktionäre die Klageerzwingung verlangen kann. Ein Quorum als Minderheitsrecht findet sich hier nur in § 147 Abs. 2 S. 2 AktG für die Bestellung eines besonderen Vertreters außerhalb der Organe. Rz. 99; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 9; Lönner, Die actio pro socio im Recht der Kapital- und Personengesellschaften, 2011, S. 82. 49 Spindler, NZG 2005, 865, 867; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz.  354; Lochner in Heidel, 4.  Aufl. 2014, §  148 AktG Rz.  17; kritisch Arnold in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 49, der zumindest zu bedenken gibt, dass das Bekanntwerden von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen großen Schaden anrichten könnte; unentschieden Happ in FS Westermann, 2008, S. 971, 992 f. 50 S. BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 255 = AG 1997, 377, 379; Rieckers/​ J. ­Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz. 352. 51 Ebenso Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 148 AktG Rz. 11a; Rieckers/J. ­Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 148 AktG Rz. 525; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 74: zwar keine Zwangswirkung, die Nichtgeltendmachung nach einem erfolgreichen Klagezulassungsverfahren ist aber nur selten zu rechtfertigen; a.A. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 148 AktG Rz. 14. 52 Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/5092, S. 43; Linnerz, NZG 2004, 307, 311; Krieger, ZHR 163 (1999), 343, 351; Schröer, ZIP 2005, 2081, 2086. Zum alten Recht Schröer in MünchKomm. AktG, 2. Aufl. 2004, § 147 AktG Rz. 7.

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Allerdings zeigt die Gesetzgebungsgeschichte, dass der Gesetzgeber ursprünglich gerade hier Minderheitsrechte mit einem Quorum verband (§ 147 Abs. 3 AktG a.F.). Nur § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AktG verlangt einen bestimmten Zeitraum eines Vorbesitzes der Aktien; weder § 142 AktG noch § 147 AktG limitieren die Geltendmachung der dort vorgesehenen Rechte für Aktionäre mit einem bestimmten Vorbesitz bzw. auf einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem noch keine Veröffentlichungen über mögliche Pflichtverletzungen bekannt waren. Schließlich führt nur § 148 AktG explizit Gründe des Gesellschaftswohls auf, die der Geltendmachung der Aktionärsklage nicht entgegenstehen dürfen; weder § 142 Abs. 2 S. 1 AktG noch § 147 AktG kennen jenseits der allgemeinen Treuepflichten bei der Stimmrechtsausübung ausdrücklich eine solche materielle Einschränkung. Greift ein Stimmverbot zu Lasten des herrschenden Aktionärs ein, mutiert das Recht nach § 147 Abs. 1, 2 AktG zu einem Minderheitsrecht, das selbst kleinste Minderheiten geltend machen können, erst recht, wenn man § 147 AktG auf konzernrechtliche Ansprüche erstreckt. Dieses erstreckt sich selbst auf die Bestellung des besonderen Vertreters, so dass das Quorum des § 147 Abs. 2 S. 2 AktG nicht eingehalten zu werden braucht. 2. Erste Folgerungen Diese Nähe des § 147 AktG in Verbindung mit einem Stimmverbot zu den Minderheitsrechten, ohne dass es aber den sonst vorgesehenen Quoren bedarf und ohne dass Beschränkungen etwa wie nach § 148 Abs. 1 Nr. 4 AktG eingreifen würden, legt es nahe, für diese Fälle über ungeschriebene Schranken der Beschlüsse nach § 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 AktG nachzudenken. Aufgrund des Stimmverbots kann selbst bei überwältigenden Mehrheiten von mehr als 95% eine kleine Minderheit das Verfahren nach § 147 Abs. 1 AktG durchführen, wenn die Mehrheit von einem Stimmverbot betroffen ist, wie dies der Fall der HypoVereinsbank bzw. Unicredit belegt.53 Nicht zu Unrecht und auch aufgrund rechtstatsächlicher Erhebungen hat vor allem W. Bayer auf das damit entstehende – und offenbar auch genutzte – Missbrauchs­potenzial hingewiesen.54 Schon die Gesetzgebungsgeschichte des § 147 AktG zeigt dabei die Nähe zur Aktionärsklage nach § 148 AktG deutlich auf. Die unterschiedlichen Voraussetzungen von § 148 AktG und einem quasi Minderheitenrecht nach § 147 AktG sind systematisch schwer zu rechtfertigen, da es letztlich in beiden Gestaltungen um die Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft geht; der frühere § 147 Abs. 3 AktG a.F. belegt wiederum den Zusammenhang zwischen Quorum als Minderheitsrecht und Erzwingung von Klagen. Anders aber – und wiederum systematisch schwer zu begründen – als bei § 142 AktG, für den gerade wegen des formalen Minderheitsrechts von einem Stimmverbot abgesehen wurde, ist dies für § 147 AktG nicht der Fall. 53 Rieckers/J. Vetter, KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 319. 54 Bayer, AG 2016, 637 ff., rechtstatsächlich Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337 ff.

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Auch soll bei § 147 Abs. 1 AktG der Beschluss die sachliche Rechtfertigung in sich tragen, da der Gesetzgeber in § 147 Abs. 1 AktG die Interessen der Gesellschaft und der Aktionäre abschließend abgewogen hat.55 Anders als nach den vom BGH in der Entscheidung ARAG/Garmenbeck entwickelten Grundsätzen besteht für die zuständigen Verwaltungsorgane kein Beurteilungsspielraum.56 Dies ist zwar für die Anspruchsverfolgung durch die Organe bestritten worden, wenn diese zur Einschätzung kommen, dass die Geltendmachung aussichtslos sei, da dies mit der Treuepflicht der Organe gegenüber der Gesellschaft nicht zu vereinbaren sei.57 Damit wird jedoch die vom Gesetzgeber vorgesehene Interessenabwägung negiert, zumal damit die Aktionäre bzw. die Hauptversammlung kein Mittel mehr besäßen, sich über die Einschätzung der Organe hinwegzusetzen.58 Dies muss jedoch nicht in jedem Fall gelten: Insbesondere wenn die Geltendmachung nach § 147 Abs. 1 AktG bzw. die Beantragung eines besonderen Vertreters durch (de facto) eine Minderheit beschlossen wird, sprechen gute Gründe dafür, im Rahmen der allgemeinen Treuepflichtbindung der Aktionäre hier gesteigerte Anforderungen an die sachliche Rechtfertigung des Beschlusses zu stellen. Denn anders, als wenn die Mehrheit (ohne Stimmrechtsverbot) den Beschluss fasst und damit das Gesellschaftsinteresse konkretisiert, können Beschlüsse, die durch Minderheiten gefasst werden, einer intensivieren inhaltlichen Kontrolle unterliegen. Es wäre schwer nachvollziehbar, warum einer Aktionärsklage größere Hürden entgegenstehen, als den faktisch (fast) gleichen Instrumenten einer Minderheit nach § 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 AktG. Dies gilt umso mehr, wenn – wie gezeigt – selbst kleinste Minderheiten unterhalb der sonst für Minderheitsrechte und auch in § 148 AktG vorgesehenen Quoren die Klageerzwingung betreiben können.59 Hierfür spricht ferner, dass anders als nach §  148 AktG die Minderheit noch nicht einmal ein Kostenrisiko scheuen muss. Zwar hat die Minderheit im Gegensatz zu § 148 AktG keine wirkliche Herrschaft über das Verfahren. Die Art und Weise der Geltendmachung liegt im Ermessen des besonderen Vertreters.60 Es besteht keine Weisungsgebundenheit gegenüber der Hauptversammlung

55 Krieger in Henze/Timm/Westermann, RWS-Forum 8, Gesellschaftsrecht 1995, 1996, S. 149, 171; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 20, 23; Mock in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  147 AktG Rz.  45; Humrich, Der besondere Vertreter im ­Aktienrecht, 2013, S. 72 ff.: Im Rahmen einer anzunehmenden Verpflichtung der Hauptversammlung auf das Gesellschaftsinteresse dürfe diese aber aufgrund des ihr hierbei zukommenden beschränkten unternehmerischen Ermessens keine evident aussichtslose Anspruchsverfolgung nach § 147 Abs. 1 AktG beschließen. 56 KG v. 18.11.2004 – 1 W 185/04, AG 2005, 246, 247; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 50; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 38; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 52: Grds. kein Beurteilungsspielraum. 57 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 231, 243 ff. 58 Vgl. hierzu auch G. Bezzenberger in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 38, 56; Semler, AG 2005, 321, 330; Verhoeven, ZIP 2008, 245, 250 f. 59 Überzeugend Bayer, AG 2016, 637, 648 f.; ebenso Löbbe, VGR 2017, 25, 47. 60 KG v. 16.12.2011 – 25 W 92/11, AG 2012, 328, 329; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 533; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 132.

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und der Aktionärsminderheit nach § 147 Abs. 2 S. 2 AktG.61 Wie die Verwaltungsorgane, an deren Stelle er tritt, ist auch der besondere Vertreter gegenüber der Hauptversammlung weisungsunabhängig;62 die Hauptversammlung kann ihn aber jederzeit durch Mehrheitsbeschluss abberufen (s. unten Rz.  39).63 Indessen sind die Unterschiede marginal, da nach § 148 Abs. 3 S. 2 AktG die Gesellschaft jederzeit das Verfahren übernehmen kann, mithin auch hier die Herrschaft der Aktionäre über das Verfahren entfallen kann. Als Richtschnur für die Intensität der Treuepflichten und der sachlichen Rechtfertigung können dabei mittelbar auch die vom AktG vorgesehenen Quoren als formale Minderheitsrechte herangezogen werden. Unterwirft der Gesetzgeber bei Erreichen eines bestimmten Quorums wie in § 147 Abs. 2 S. 2 AktG oder § 142 Abs. 2 S. 1 AktG das Verlangen der Minderheit keinen inhaltlichen Schranken, trägt quasi das Quorum die Berechtigung in sich; anders formuliert greift hier nur die Schranke des Rechtsmissbrauchs, die für jedes geltend gemachte Recht gilt. Unterhalb dieser Quoren von 10% jedoch sieht das Gesetz in § 148 Abs. 1 S. 2 AktG bestimmte materielle Prüfungsmaßstäbe vor, quasi für das Quorum bis zu 1%. Jenseits dieses Quorums gibt es keine eigenständigen Minderheitsrechte; nur im Konzernrecht erlauben §§ 309 Abs. 4 S. 1, 317 Abs. 4 AktG jedem einzelnen Aktionär die Klage auf Leistung an die Gesellschaft, weil der Gesetzgeber der Ansicht war, dass „… der Einfluß des herrschenden Unternehmens häufig so stark sein wird, daß die erforderliche Mehrheit nicht zusammenkommt.“64 Mit anderen Worten greifen für Minderheiten zwischen 1% bis 10% die von § 148 AktG formulierten Maßstäbe, indem keine überragenden Gründe des Gesellschaftswohls dem Verlangen entgegenstehen dürfen (mit der Darlegungs- und Beweislast bei der Gesellschaft), während jenseits der 1% noch strengere Maßstäbe anzulegen sind, insbesondere dass es im Interesse der Gesellschaft liegen muss, dass die Klage erzwungen wird (wiederum mit Darlegungs- und Beweislast des beantragenden Aktionärs). Dogmatischer Ansatzpunkt sind die Treuepflichtbindungen des Aktionärs, die zwar grosso modo im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformen schwach ausgeprägt sind, sich in besonderen Situationen aber intensivieren können.65 Zu weit ginge es jedoch angesichts des klaren gesetzgeberischen Konzepts, die Quoren der 61 Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 129; Verhoeven, ZIP 2008, 245, 248 f.; a.A. Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 83; Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 146 f.; Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 28: Weisungsgebundenheit gegenüber Hauptversammlung, falls Bestellung gem. § 147 Abs. 2 S. 1 AktG erfolge; differenzierend und Überblick bei Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 552 ff. 62 Für den Vorstand Raiser/Veil, Kapitalgesellschaften, 6. Aufl. 2015, § 14 Rz. 1; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 76 AktG Rz. 22. 63 OLG München v. 3.3.2010 – 7 U 4744/09, ZIP 2010, 725, 728 = AG 2010, 673. 64 Begr. RegE in Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 405. 65 Zur Diskussion um die Treupflicht des Aktionärs und ihrer Reichweite vgl. Drygala in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 53a Rz. 81 ff.; Henze/Notz in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2004, Anh. § 53a AktG Rz. 1 ff.; Cahn/v. Spannenberg in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 53a AktG Rz.  36  ff.; Bungeroth in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, Vorbem. §§  53a-75 Rz. 18 ff.; Lange in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 53a Rz. 7 ff.

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§§ 142 Abs. 2 S. 1, 147 Abs. 2 S. 2, 148 Abs. 1 S. 1 AktG analog auf die Fälle des Stimmverbots bzw. das faktische Minderheitsrecht anzuwenden.

IV. Konsequenzen für den Beschluss nach § 147 Abs. 1, 2 AktG 1. Anforderungen an den Gegenstand Generell gilt für den Beschluss nach § 147 Abs. 1 AktG, dass der Gegenstand des Anspruches erkennbar sein muss, im Sinne eines „Anfangsverdachts“; Anträge quasi ins Blaue hinein sind unzulässig.66 Umgekehrt bedarf es keines „dringenden Verdachts“, da bei Zugrundelegung eines derart intensiven Verdachtsgrades die Minderheitsrechte beschränkt wären.67 Eine Glaubhaftmachung ist nach der Rechtsprechung nicht erforderlich.68 Wendet man die oben entwickelten Maßstäbe an, gilt dies ohne weiteres für Anträge einer faktischen Minderheit (bei Stimmverbot die Mehrheit) ab 10%. Unterhalb dieses Quorums ist dies allerdings hinsichtlich möglicher missbräuchlicher Anträge und bei offenkundiger Sinnlosigkeit eines Anspruchs zweifelhaft. Zieht man die Parallelen zu § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG, muss eine Pflichtverletzung sub­ stantiiert behauptet werden.69 Zudem muss vorgetragen werden, inwiefern ein Schaden dadurch entstanden ist.70 Erst recht muss dies für Anträge von Minderheiten ­unter 1% gelten, bei denen (noch) höhere Anforderungen an die Substantiierung und Glaubhaftmachung gestellt werden können. Bei völliger Unklarheit über die tatsächlichen Grundlagen eines Anspruchs müssen die Aktionäre eine Sonderprüfung (§  142 AktG) beantragen.71 Denn mit dem Beschluss nach § 147 Abs. 1 AktG dürfen nicht die Voraussetzungen nach § 142 Abs. 2 AktG unterlaufen werden, eine Ausforschung oder komplette Sachverhaltsermittlung lässt sich nicht über § 147 Abs. 1 AktG beantragen.72 Dies gilt unabhängig davon, wie viele Aktionäre das Verfahren nach § 147 Abs. 1 AktG beantragen.

66 LG Köln v. 14.1.2016 – 17 HK O 6754/15, AG 2016, 513, 514. 67 LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09 KfH, ZIP 2010, 329, 330; in diese Richtung auch OLG Köln v. 9. 3. 2017 – 18 U 19/16, AG 2017, 351, 354; Löbbe, VGR 2017, 25, 46. 68 OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, AG 2017, 351, 354. 69 Bayer, AG 2016, 637, 649. 70 Bayer, AG 2016, 637, 651. 71 OLG Karlsruhe v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627, 630 – Gelita AG; OLG Köln v. 9. 3. 2017 – 18 U 19/16, AG 2017, 351, 354; OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1921 = AG 2008, 864; LG Duisburg v. 16.4.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379, 1381; LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09 KfH, ZIP 2010, 329; LG Stuttgart v. 6.8.2008 – 34 T 11/08 KfH, AG 2008, 757; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG, Rz. 36; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 666. 72 LG Köln v. 14.1.2016 – 17 HK O 6754/15, AG 2016, 513, 514; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 655 f.

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2. Bestimmtheit des Beschlusses und Missbrauch Eng damit verwandt sind die Anforderungen an die Bestimmtheit des Beschlusses: Dieser muss den geltend zu machenden Anspruch nach Anspruchsgegner und zugrunde liegendem Lebenssachverhalt zumindest bestimmbar bezeichnen,73 nicht aber der Höhe nach beziffern.74 Die in Rede stehenden Handlungen und Maßnahmen müssen so konkret bezeichnet sein, dass der erteilte Verfolgungsauftrag hinreichend klar umrissen ist.75 Nicht erforderlich ist, dass die Hauptversammlung genau jeden Anspruchsgegner bezeichnet; sie kann vielmehr dem besonderen Vertreter die Prüfung übertragen, gegen welchen Anspruchsgegner die Geltendmachung von Ansprüchen am erfolgversprechendsten ist.76 Zu hohe Anforderungen dürfen daher an die Bestimmtheit des Beschlusses nicht gestellt werden, da stets im Rahmen der konkreten Vorbereitung zur Geltendmachung Erkenntnisse entstehen und Modifizierungen notwendig machen können.77 Auch hier können Modifizierungen für Anträge von Minderheiten unterhalb von 10% in Analogie zu § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG in Betracht kommen. In der Regel ist Missbrauch erst anzunehmen, wenn die Ersatzansprüche der Gesellschaft evident nicht bestehen und mit der Abstimmung ausschließlich sachfremde Ziele verfolgt werden.78 So wäre auf jeden Fall schon wegen Rechtsmissbrauchs ein Beschluss gegen mehrere Anspruchsgegner unzulässig, wenn die Erweiterung des Beschlusses um weitere Anspruchsgegner allein zu dem Zweck erfolgt, zusätzliche Aktionäre vom Stimmrecht auszuschließen, obwohl die geltend zu machenden Ansprüche nicht auf einem einheitlichen Lebenssachverhalt beruhen.79 Unterhalb der Quoren von §§ 142 Abs. 2 73 OLG Frankfurt v. 9.10.2003 – 20 W 487/02, AG 2004, 104; LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809; LG München I v. 4.10.2007 – 5 HK O 12615/07, ZIP 2007, 2420; OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1921 = AG 2008, 864: hinreichend konkret benennen; ebenso KG v. 25.8.2011  – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029, 1031; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 5; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 666; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 36; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 19; Nietsch, ZGR 2011, 589, 596 f. 74 G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 19; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 36. 75 OLG Karlsruhe v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627, 628 – Gelita AG; OLG Köln v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, AG 2017, 351, 354; OLG Stuttgart v. 25.11.2008 – 8 W 370/08, AG 2009, 169, 170; KG v. 25.8.2011  – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029, 1031; LG Duisburg v. 16.4.2013  – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379, 1380; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 173, 183 verlangen das Vorliegen einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der für die schlüssige Darlegung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 655. 76 OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1919 = AG 2008, 864; Westermann, AG 2009, 237, 240; a.A. wohl Löbbe, VGR 2017, 25, 46. 77 Ähnlich OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1919 = AG 2008, 864. 78 LG Berlin v. 9.9.2011 – 100 O 35/11, ZIP 2012, 1034, 1035; für das Bestehen eines Stimmverbots nach § 136 Abs. 1 S. 1 AktG OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1917 = AG 2008, 864; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 196, 200. 79 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 195, 200.

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S. 1, 147 Abs. 2 S. 2 AktG aber sind in Analogie zur Aktionärsklage nach § 148 AktG höhere Anforderungen hinsichtlich des genau zu bezeichnenden Streitgegenstandes, der Anspruchsgegner und der Anspruchsgründe zu stellen.80 Noch intensiver fällt die Kontrolle auf treuwidriges Stimmverhalten bei Anträgen einer Minderheit unterhalb von 1% aus, da diese nicht einmal zur Aktionärsklage befugt wäre. 3. Rechtsfolgen: Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit? Umstritten bleibt, welche Rechtsfolgen bei einem Verstoß des Hauptversammlungsbeschlusses gegen das Bestimmtheitsgebot eintreten. Die wohl hM nimmt die Anfechtbarkeit des Beschlusses wegen Gesetzesverstoßes an.81 Andere sehen hierin eine Nichtigkeit des Beschlusses gem. § 241 Nr. 3 AktG:82 Einigkeit besteht darüber, dass ein Beschluss, der die Geltendmachung von Ansprüchen, die nicht unter § 147 AktG fallen, zum Gegenstand hat oder sich gegen Anspruchsgegner richtet, die nicht von § 147 AktG erfasst sind, die Kompetenz der Hauptversammlung überschreitet.83 Abseits des §  119 Abs.  2 AktG hat die Hauptversammlung keine Befugnis, die Ge­ schäftsführungsorgane zur Anspruchsverfolgung anzuweisen.84 Solche kompetenz­ überschreitenden Beschlüsse, mit denen die Hauptversammlung in die Kompetenzen anderer Organe eingreift, widersprechen nach überwiegender Meinung dem Wesen der Aktiengesellschaft und sind daher gem. § 241 Nr. 3 AktG nichtig.85 Fraglich ist allerdings, ob dies auch für Verstöße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz gilt. Für die Gleichbehandlung mit anderen Kompetenzverstößen und als gewichtigen Verstoß gegen das „Wesen der AG“ spricht, dass der besondere Vertreter Ermittlungen „ins Blaue hinein“ aufnehmen könnte. Gleichzeitig müssten ihm auch Informations- und Prüfungsrechte zugestanden werden, die er zur Ermittlung des (nicht hinreichend bestimmten) Sachverhalts und damit zur Umsetzung des Beschlusses nach § 147 AktG benötigte. Da jedoch der besondere Vertreter gerade aufgrund des Be80 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 163 ff.; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 148 AktG Rz. 48; vgl. auch Happ in FS Westermann, 2008, S. 971, 993 f. 81 OLG Köln v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2470, 2471; OLG München v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916, 1919 ff. = AG 2008, 864; LG Duisburg v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, AG 2016, 795, 796; Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, Teil M Rz.  40; Bungert in Krieger/Schneider, Hdb. Managerhaftung, 3.  Aufl. 2017, §  16, Rz. 16.84; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 667. 82 So Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 655; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 262. 83 Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 61 f.; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 261. 84 Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 61 f. 85 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 261 f.; im Allgemeinen zur Nichtigkeitsfolge kompetenzüberschreitender Hauptversammlungsbeschlüsse vgl. auch K. Schmidt in GroßKomm. AktG, 4.  Aufl. 2013, §  241 AktG Rz.  57; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 241 Rz. 25; Hüffer/Schäfer in MünchKomm AktG, 4.  Aufl. 2016, §  241 AktG Rz.  62; Drescher in Spindler/Stilz, 4.  Aufl. 2019, §  241 AktG Rz. 195 ff.

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stimmtheitsgrundsatzes kein allgemeines, sondern nur ein begrenztes Prüfungsrecht hat, liegt hierin ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung der AG.86 Insofern würden durch den besonderen Vertreter die Rechte des ansonsten zuständigen Vorstands oder Aufsichtsrats beschnitten und in der Folge ihre Kompetenzen verdrängt.87 Ferner hat die Hauptversammlung die Möglichkeit einen Sonderprüfer nach § 142 AktG zu bestellen, welchem ein allumfassendes Prüfungsrecht zukommt,88 so dass sie auch aus diesem Grund im Rahmen von § 147 AktG ihre Kompetenzen mit einem unbestimmten Beschluss überschreiten würde. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, dass diese Verstöße so schwerwiegend sind, dass sie die Folge der Nichtigkeit von Anfang an nach § 241 Nr. 3 AktG rechtfertigen, oder nicht vielmehr „nur“ die Anfechtbarkeit eines unbestimmten Beschlusses begründen, da das Bestimmtheitsgebot ein ungeschriebener Rechtssatz ist, der als „Gesetz“ iSd. § 243 Abs. 1 AktG zu qualifizieren ist.89 Indes handelt es sich nicht nur um geringfügige Verstöße, da die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen eine der schwerwiegendsten Sanktionen gegenüber Organen darstellt. Zudem würde die bloße Anfechtbarkeit den Kompetenzverstoß bis zur Nichtigkeitserklärung durch Urteil zumindest vorläufig – und bei verfristeter Anfechtung endgültig – perpetuieren.90 Illustriert wird diese Gefahr durch den Fall des OLG Köln vom 4.12.2015: Hier hat das Gericht trotz erhobener Anfechtungsklage einen umfänglichen Auskunftsanspruch des besonderen Vertreters mit der Begründung bejaht, es liege – jedenfalls vorläufig – ein wirksamer, allenfalls anfechtbarer Hauptversammlungsbeschluss vor.91 Die besseren Gründe sprechen daher für eine Nichtigkeit nach § 241 Nr. 3 AktG bei Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes.

V. Kompetenzen des besonderen Vertreters Aus der Praxis kommen immer wieder Klagen über ausufernde Ermittlungen des besonderen Vertreters, umgekehrt über Blockaden seitens der Gesellschaft. Auch hier kann durchaus ein gewisses Missbrauchspotenzial liegen, so dass die Reichweite der Rechte und Pflichten des besonderen Vertreters in Rede steht. 1. Rechtsstellung Der besondere Vertreter erhält die Rechtsstellung eines gesetzlichen Vertreters und ad-hoc Organs92 der Gesellschaft,93 gegenständlich beschränkt auf die Durchsetzung 86 Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 655; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 262. 87 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 262. 88 Vgl. hierzu noch ausführlich unten V.B., V.C. 89 Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 62 f.; vgl. zur Anfechtbarkeit unbestimmter Hauptversammlungsbeschlüsse auch allgemein Emde, ZIP 2000, 59, 64. 90 So Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 657. 91 OLG Köln, ZIP 2015, 2470, 2471. 92 Mock, ZHR 181 (2017), 688, 691. 93 BGH v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097, 1098; BGH v. 27.9.2011 – II ZR 225/08, AG 2011, 875, 876; BGH v. 18.6.2013 – II ZA 4/12, AG 2013, 634; BGH v. 28.4.2015 – II ZB

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der im Beschluss der Hauptversammlung bzw. im Gerichtsbeschluss bezeichneten Ersatzansprüche, innerhalb dieses Aufgabenbereiches aber unbeschränkt und unbeschränkbar.94 Der besondere Vertreter ist allein der Gesellschaft verpflichtet und wird in deren Interesse tätig, nicht für bestimmte Aktionärsgruppen oder Minderheiten.95 In seinem Aufgabenbereich verdrängt der besondere Vertreter die anderen Vertretungsorgane96 was zu einem Einmischungsverbot für diese führt. 2. Informations- und Einsichtsrechte Ob dem besonderen Vertreter Informationsrechte zustehen und auf welcher Rechtsgrundlage, bleibt umstritten,97 da das Gesetz die Rechtsstellung des besonderen Vertreters nur knapp umreißt.98 Da der besondere Vertreter ein besonderes Organ darstellt und er seine Aufgaben nur mit entsprechend ergänzenden Informationsrechten wahrnehmen kann, liegt es nahe, die Informationsrechte als Annexkompetenz zur 19/14, ZIP 2015, 1286, 1288; OLG Karlsruhe v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627, 628; LG Duisburg v. 9.6.2016  – 22 O 50/16, AG 2016, 795; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 67; Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 16, 24; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 504, 518 ff.; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 121; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 52; Herrler in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 147 AktG Rz. 13; Hirschmann in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 147 AktG Rz. 10; Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 112 ff.; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 673, 678; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 130 f.; Kling, ZGR 2009, 190, 211 ff.; Stallknecht, Der besondere Vertreter nach §  147 AktG, 2015, 237; a.A. OLG München v. 28.11.2007  – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 73 ff. = AG 2008, 172; zust. LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09 KfH, ZIP 2010, 329; Wirth/Pospiech, DB 2008, 2471, 2474; zweifelnd auch Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143 ff.; Fabritius in GS Gruson, 2009, S. 133, 141 f.: gesetzliche Prozessstandschaft; Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 147 AktG Rz. 13: Sondervertreter sei Sonderprüfer näher als dem Vorstand/Aufsichtsrat. 94 Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 121, 134; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 52. 95 OLG München v. 3.3.2010 – 7 U 4744/09, ZIP 2010, 725, 728 = AG 2010, 673; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 676; Westermann, AG 2009, 237, 241; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 63; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 280. 96 BGH v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097, 1098; LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1812, 1815; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 67; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 52; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 13; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 664; Binder, ZHR 176 (2012), 380, 386. 97 Mock, ZHR 181 (2017), 688, 698 ff.; Humrich, NZG 2014, 441 ff.; Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 164 ff.; Uwe H. Schneider, ZIP 2013, 1985 ff.; Binder, ZHR 176 (2012), 380 ff.; Nietsch, ZGR 2011, 589, 610 ff.; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 671 ff.; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 133 ff.; offenlassend OLG Karlsruhe v. 16.6.2014 – 11 Wx 49/14, ZIP 2015, 125. 98 Dies ist für das Zugestehen von Informationsrechten aber unschädlich, RG v. 4.11.1913 – Rep. II. 297/13, RGZ 83, 248, 252; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 64 sehen aber keinen Handlungsbedarf durch Gesetzgeber.

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Rechtsstellung des besonderen Vertreters anzusehen.99 Demgemäß kann der besondere Vertreter zur Erfüllung seiner Aufgabe – aber auch nur hierfür – von Vorstand, Aufsichtsrat, Abschlussprüfern und Arbeitnehmern der Gesellschaft Auskunft100 verlangen, Einsicht101 in Unterlagen der Gesellschaft nehmen und diese Rechte ggf. im Klagewege (Interorganstreit) 102 durchsetzen.103 Zudem kann er vom Vorstand und vom Aufsichtsrat Nachweise auch bezüglich abhängiger und herrschender Unternehmen verlangen.104 Ein Auskunftsverweigerungsrecht kann sich nur aus einer entsprechenden Anwendung von § 131 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AktG für die Organe ergeben, wenn sich das befragte Organmitglied durch Erteilung der Auskunft strafbar machen würde.105 Unbeschränkt sind die Informationsrechte aber nicht: Zwar soll nach einer verbreiteten Auffassung dem besonderen Vertreter ein umfassendes Informationsrecht zustehen.106 Doch hängen die Ansprüche auf Auskunft und Einsichtnahme davon ab, wel 99 RG v. 4.11.1913 – Rep. II. 297/13, RGZ 83, 248, 252; OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 76 = AG 2008, 172; LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1812, 1815; Arnold in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2018, §  147 AktG Rz. 69 f.; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 70, 620; Liebscher in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 10; Lochner in Heidel, 4. Aufl. 2014, § 147 AktG Rz. 24a; mit ausführlicher systematischer, teleologischer und rechtsvergleichender Herleitung Mock, ZHR 181 (2017), 688, 698 ff., 718; a.A. Humrich, NZG 2014, 441, 444; Binder, ZHR 176 (2012), 380, 389 ff. 100 J. Semler, AG 2005, 321, 330; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 71; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 621 ff., 642, 643  ff.: Auskunft nur gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat; G.  Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4.  Aufl. 2008, §  147 AktG Rz.  57; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 136 f. 101 RG v. 4.11.1913 – Rep. II. 297/13, RGZ 83, 248, 250; OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 76 = AG 2008, 172; LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1812; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 71; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2015, §  147 AktG Rz.  628  ff.; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 138 f.; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 15. 102 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 691 ff.; Kling, ZGR 2009, 195, 222 ff.; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 141; Nietsch, ZGR 2011, 589, 624; Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 397; a.A. im eigenen Namen gegen die Gesellschaft: OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 79 = AG 2008, 172; LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1816 = AG 2007, 756; Herrler in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 147 AktG Rz. 14; Ver­ hoeven, ZIP 2008, 245, 255. 103 LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809; RG v. 4.11.1913 – Rep. II. 297/13, RGZ 83, 248, 252; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2015, §  147 AktG Rz. 687; a.A. Humrich, NZG 2014, 441, 444 ff.: Keine Informationsrechte; Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 170 ff. 104 Mock, ZHR 181 (2017), 688, 722. 105 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 662. 106 Für umfassende, ohne Restriktionen verbundene Informationsrechte Mock in Spindler/ Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 135 f.; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 722 ff.: „nur Missbrauchsvorbehalt“; Mock, DB 2008, 393, 395; Hirschmann in Hölters, 3. Aufl. 2017, § 147

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chen Gegenstand der Hauptversammlungsbeschluss hat. Nur in diesem Rahmen stehen dem besonderen Vertreter Befugnisse zu. Ferner kann § 111 Abs. 2 AktG he­ rangezogen werden, der einen umfassenden Einblick in die unternehmensinternen Dokumentationen ermöglicht.107 Allein aus der Stellung des besonderen Vertreters als Organ können keine umfassenden Informationsrechte abgeleitet werden;108 denn der Begriff des Organs ist zum einen nicht gesetzlich per se in seinen Rechten und Befugnissen vorgegeben,109 zum anderen werden dem besonderen Vertreter die Rechte aus § 111 Abs. 2 AktG nur einschränkend zugesprochen, nämlich mit Blick auf den mandatsspezifischen Kontext. Schließlich können die Ermittlungsbefugnisse auch nicht im Hauptversammlungsbeschluss selbst festgelegt werden, da die Gefahr von Eingriffen in innerbetriebliche Abläufe besteht;110 darüber hinaus würde eine Erweiterung der Rechte des besonderen Vertreters zwangsläufig zu einer Einschränkung der Rechte der primär zuständigen Verwaltungsorgane führen.111 Der zum Teil vertretene Ansatz, das Informationsrecht des besonderen Vertreters auf ein Heranziehen der prozessualen (§§ 371 Abs. 2, 415 ff., insb. 422 ZPO) bzw. prozessbezogenen (§§  809, 810 BGB) Informationsmöglichkeiten zu stützen,112 sieht sich AktG Rz. 10a; G. Bezzenberger in Großkomm. AktG, 4. Aufl. 2008, § 147 AktG Rz. 57; Verhoeven, ZIP 2008, 245, 247; Semler, AG 2005, 321, 330; in diese Richtung wohl auch Mimberg in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2017, § 40 Rz. 40.26; weit, aber nicht ohne Restriktionen Nietsch, ZGR 2011, 589, 619 ff. (§ 145 AktG als Leitbild). 107 Verhoeven, ZIP 2008, 245, 247; Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, 4.  Aufl. 2017, §  147 AktG Rz. 14; Weiss/Buchner, WM 2005, 162, 166; a.A. Binder, ZHR 176 (2012), 380, 391 f.: Zweifelt an planwidriger Regelungslücke; Humrich, NZG 2014, 441, 445; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1141 f.: Funktionsverschiedenheit zwischen Aufsichtsrat und Sondervertreter; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 70; Nietsch, ZGR 2011, 589, 620 f. 108 OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 79 = AG 2008, 172; zust. LG Stuttgart v. 27.10.2009 – 32 O 5/09 KfH, ZIP 2010, 329, 330; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 522 ff.; Humrich, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, 2013, S. 116 f.; Nietsch, ZGR 2011, 589, 613 f.; Balthasar/Hamelmann, WM 2010, 589, 593; so aber noch LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809, 1812, 1815; Böbel, Die Rechtsstellung der besonderen Vertreter gem. § 147 AktG, 1999, S. 56 ff.; Verhoeven, ZIP 2008, 245, 247; wohl auch Mock, DB 2008, 393, 395; Konzen in FS Hommelhoff, 2012, S. 565, 572; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 720. 109 Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 673, 679 f.; Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 604; a.A. wohl Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 131: Aberkennung von Organstellung führe zu wesentlicher Beschneidung von Rechten. 110 Nietsch, ZGR 2011, 589, 620, 623 mit Vorschlägen de lege ferenda zur Realisierung solch interner Ermittlungen; mit anderer Begründung Humrich, NZG 2014, 441, 446: Zwingende Kompetenzverteilung verhindere Begründung zusätzlicher Kompetenzen des besonderen Vertreters; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1149 f.; a.A. Verhoeven, ZIP 2008, 245, 249; Arnold in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 147 AktG Rz. 89; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 722. 111 Rieckers/J. Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 313. 112 Binder, ZHR 176 (2012), 380, 397 ff. unter Rekurs auf RG v. 4.11.1913 – Rep. II. 297/13, RGZ 83, 248, 250 f.

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konzeptionellen Problemen gegenüber.113 Der Anspruch aus § 809 BGB etwa scheidet aus, wenn der Ersatzverpflichtete nicht Besitzer der Unterlagen ist, sondern die Gesellschaft und gegen diese ein Einsichtsrecht erwirkt werden soll. Doch auch § 810 BGB, der die Inanspruchnahme Dritter ermöglicht, hilft nicht weiter, da die Gesellschaft nicht als Dritte zu qualifizieren ist.114 Neben diesen Schranken greift selbstverständlich das Gesellschaftsinteresse als inhaltliche Schranke der Befugnisse des besonderen Vertreters ein: Wie jedes Organ wird auch er nur im Interesse der Gesellschaft tätig, muss sich also auch an deren Wohl orientieren und nicht nur bestimmte Minderheitsinteressen verfolgen. Hierzu gehören auch der verantwortliche Umgang mit Ressourcen und die Vermeidung unnötiger zusätzlicher Ermittlungen. Von Bedeutung ist dies insbesondere für das Verhältnis zur Sonderprüfung: 3. Verhältnis von Sonderprüfung zu Befugnissen des besonderen Vertreters Da der Beschluss der Hauptversammlung nach § 147 Abs. 1 AktG nur die Bestimmbarkeit des dem Ersatzanspruch zugrundeliegenden Sachverhalts voraussetzt, müssen dem besonderen Vertreter zumindest die sich hieraus ergebenden Befugnisse zustehen. Allerdings kommen hier wiederum die oben herausgearbeiteten abgestuften Anforderungen an den Beschluss zum Tragen. Zwar kann aus dem Verhältnis zu § 142 AktG nicht gefolgert werden, dass der Sondervertreter immer nur bei vollständig oder nahezu vollständig aufgeklärtem Sachverhalt tätig werden dürfe;115 ansonsten müsste auch der Hauptversammlungsbeschluss von vornherein vollständig bestimmt sein, was gerade nicht erforderlich ist. Demgemäß kann auch nicht daraus der Schluss gezogen werden, dass dem Sondervertreter die mit der Sonderprüfung verbundenen Befugnisse in keiner Weise zustünden.116 Allerdings schränken sich entsprechend den abgestuften Anforderungen an Hauptversammlungsbeschlüsse je nach Nähe zu § 148 AktG und sogar unter den entsprechenden Quoren auch die Befugnisse des besonderen Vertreters insbesondere im Verhältnis gegenüber der Sonderprüfung ein – wiederum mit Blick auf die Treuepflichten gegenüber der Gesellschaft. Auf gar keinen Fall kann der besondere Vertreter nochmals umfassende Ermittlungen anstellen, wenn ein Sonderbericht vorliegt, der den Sachverhalt ausermittelt hat.117 Dementsprechend 113 Humrich, NZG 2014, 441, 445. 114 Binder, ZHR 176 (2012), 380, 402 f. 115 Wie hier OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 76 = AG 2008, 172; KG v. 25.8.2011 – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029, 1031 = AG 2012, 256; Uwe H. Schneider, ZIP 2013, 1985, 1986; so aber Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 135, die damit abgesehen von Evidenzfällen faktisch einen Vorrang der Sonderprüfung schaffen und Raum für eigene Ermittlungsbefugnisse nur bei verbleibenden Unklarheiten gewähren; Humrich, NZG 2014, 441, 443 ff.; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1150. 116 Wie hier Nietsch, ZGR 2011, 589, 617 f.; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 698 ff.; a.A. Rieckers/​ J.  Vetter in KölnKomm. AktG, 3.  Aufl. 2015, §  147 AktG Rz.  614  ff.; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 649 f., 671 ff.; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1147, 1151. 117 Vgl. hierzu auch Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 Rz. 33; Liebscher in Henssler/Strohn, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 12.

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Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – ein faktisches Minderheitenrecht?

hat der besondere Vertreter einen Herausgabeanspruch bezogen auf die Ergebnisse einer vorherigen Sonderprüfung,118 ohne dass der besondere Vertreter von dem Sonderprüfer aber unmittelbar Auskunft verlangen könne; der Vorstand bleibt Schuldner des Auskunftsanspruchs.119 Hinsichtlich der Notwendigkeit der Einsichtnahme in bestimmte Unterlagen kommt dem besonderen Vertreter im Regelfall ein Ermessensspielraum zu, der vom Gericht nur auf Rechtsmissbrauch hin überprüft werden kann.120 Für den Normalfall der Bestellung über § 147 Abs. 2 S. 2 AktG wäre es zu eng, den besonderen Vertreter nur auf solche Einsichtsrechte zu verweisen, die für seine Aufgabenwahrnehmung unerlässlich sind und die sich auf Unterlagen beziehen, die nach vorläufigem Erkenntnisstand eindeutig einen unmittelbaren Bezug zu dem im Hauptversammlungsbeschluss genannten Sachverhalt aufweisen.121 Dann könnten nur solche Unterlagen herausgefordert werden, die bereits bekannte Informationen beinhalten.122 Andererseits muss für das Ausmaß der Informationsrechte des besonderen Vertreters berücksichtigt werden, dass er nicht als Sonderprüfer (§ 142 AktG) tätig wird; eine vollständige Aufklärung eines Sachverhaltes steht ihm daher nicht zu, sondern nur ergänzende und flankierende Untersuchungen, die den Anspruch konkretisieren.123 Informationsrechte, die dem Sonderprüfer nicht zustehen, können auch nicht dem Sondervertreter zukommen.124 Besteht Unklarheit, worin das pflichtwidrige Verhalten der Organe bestehen kann, muss eine Sonderprüfung nach § 142 beantragt werden. 118 Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 138. 119 Kling, ZGR 2009, 190, 217; a.A. wohl Verhoeven, ZIP 2008, 245, 254 f. 120 LG München I v. 6.9.2007 – 5 HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 138; klarstellend, dass diese Aussage im Zusammenhang mit der Aufgabenwahrnehmung gesehen werden muss Binder, ZHR 176 (2012), 380, 398; zurückhaltender Herrler in Grigoleit, 1. Aufl. 2013, § 147 AktG Rz. 14; für eine einstweilige Verfügung ablehnend OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 78 = AG 2008, 172; für § 111 AktG Spindler in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 111 AktG Rz. 40. 121 So aber OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 77 = AG 2008, 172 im einstweiligen Verfügungsverfahren; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143; dagegen auch Uwe H. Schneider, ZIP 2013, 1985, 1987. 122 Nietsch, ZGR 2011, 589, 613. 123 Zutr. OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 76 f. = AG 2008, 172; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653, 655; Binder, ZHR 176 (2012), 380, 393 ff.; Nietsch, ZGR 2011, 589, 618; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S. 119, 134 f.; Wirth in FS Hüffer, 2010, S. 1129, 1143; Kling, ZGR 2009, 190, 216 f.; Fabritius in GS Gruson, 2009, S. 133, 146 f.; Wirth/Pospiech, DB 2008, 2471, 2474 f.; Westermann, AG 2009, 237, 246 hält dies für „vertretbar“; a.A. Mock, DB 2008, 393, 396: Unabhängigkeit von Sonderprüfung; Mock, ZHR 181 (2017), 688, 722 ff.; Mock in Spindler/Stilz, 4. Aufl. 2019, § 147 AktG Rz. 16 f., 112, 137: Aufgabe des Sondervertreters dürfe nur nicht ausschließlich in Prüfung des Bestehens von Ersatzansprüchen liegen; ebenso dezidiert Verhoeven, ZIP 2008, 245, 246 f. 124 OLG München v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73, 77 = AG 2008, 172; Rieckers/​ J. ­Vetter in KölnKomm. AktG, 3. Aufl. 2015, § 147 AktG Rz. 613; Hüffer, ZHR 174 (2010), 642, 680; Dauner-Lieb/Winnen in FS Kanzleiter, 2010, S.  119, 139  f.; Holzborn/Jänig in Bürgers/Körber, 4. Aufl. 2017, § 147 AktG Rz. 14.

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Für den Fall, dass der besondere Vertreter von einer Minderheit aufgrund eines Stimmverbotes unterhalb der Schwelle des § 147 Abs. 2 S. 2 AktG bestellt wird, ergeben sich – wie dargelegt – verschärfte Anforderungen an den Hauptversammlungsbeschluss, die sich auch auf das Verhältnis zur Sonderprüfung auswirken. Da bereits substantiiert Tatsachen darzulegen sind, die den Verdacht auf Pflichtwidrigkeiten glaubhaft machen, muss sich auch das Mandat des besonderen Vertreters in diesem Rahmen halten. Nur hinsichtlich dieses konkret zu umreißenden Sachverhalts kann der besondere Vertreter Ermittlungen anstellen, um die Klage schlüssig zu machen. Flankierende Untersuchungen oder Weiterungen über den im Hauptversammlungsbeschluss enthaltenen Auftrag darf der besondere Vertreter nicht anstellen; auch der Umstand, dass einer Minderheit unterhalb des Quorums von § 147 Abs. 2 S. 2 AktG auch nach § 142 Abs. 2 S. 1 AktG die Beantragung einer Sonderprüfung verwehrt ist, da das Quorum auch hier nicht erreicht würde, belegt, dass der Gesetzgeber gerade nicht kleinen Minderheiten das Recht zugestehen wollte, umfassende Ermittlungen in einer AG beantragen zu können. Daher kann auch nicht über die „Hintertür“ des § 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 AktG per Stimmverbot de facto eine solche Sonderprüfung erreicht werden.

VI. Ausblick Trotz fast schon jahrhundertealten Diskussionen um die Ausgestaltung von Aktionärsund Minderheitsrechten bis hin zur Aktionärsklage hinsichtlich der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft zeigen sich noch immer Friktionen, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Stimmverboten zu formalen Minderheitsrechten sowie materiellen Einschränkungen etwa bei der Aktionärsklage. Ziel auch de lege ferenda muss es sein, die formalen Schranken bzw. Quoren in ein System kommunizierender Röhren mit den materiellen Schranken, hier insbesondere entgegenstehender Gründe des Gesellschaftswohls, zu bringen. Je kleiner die Minderheit ist, desto höher müssen die materiellen Anforderungen an entsprechende Rechte werden, nicht zuletzt um einen Missbrauch der Rechte zu vermeiden.

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Beschäftigung und Vergütung des abberufenen GmbH- Geschäftsführers Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Abberufung und Dienstvertrag 1. Trennungsprinzip 2. Koppelungsklausel III. Abberufung und (Weiter-)Beschäftigung des Geschäftsführers

IV. Abberufung und Vergütungsanspruch 1. Vergütungsfortzahlung a) Festgehalt (Grundvergütung) b) Variable Vergütung 2. Abberufung und Anrechnung (böswillig unterlassenen) anderweitigen V ­ erdienstes V. Zusammenfassung

I. Einleitung Die gesellschaftsrechtlich vorgesehene Trennung zwischen der Organstellung als Geschäftsführer einerseits und seiner dienstvertraglichen Anstellung andererseits funktioniert gut, solange diese beiden „Säulen“ parallel nebeneinander stehen. In der Praxis ergeben sich aber zahlreiche Probleme, wenn eine der beiden Säulen fällt, der Geschäftsführer also abberufen wird und seine Organstellung endet. Auf den Bestand des Dienstvertrags hat die Abberufung nämlich keine Auswirkung. Daraus resultieren zahlreiche Fragen. Unter anderem ist zunächst unklar, auf welche Weise die Rechte und Pflichten aus dem Dienstvertrag fortwirken, da sie zumeist ausschließlich auf die durch die Abberufung beendete Organstellung zugeschnitten sind. Weiter erscheint unklar, welche Auswirkungen die Abberufung auf den Vergütungsanspruch des Geschäftsführers a.D. hat, da dessen Gegenleistung in Form der Geschäftsführertätigkeit aufgrund der Abberufung nicht mehr erbracht werden kann. Unklarheiten ergeben sich hier vor allem bei der variablen Vergütung. Wie soll eine erfolgs- oder leistungsbezogene variable Vergütung bemessen werden, wenn der ­Geschäftsführer wegen der Abberufung keine Möglichkeit hat, tätig zu werden. Wie wirkt sich die Abberufung auf Zielvereinbarungen oder – vorgaben aus, insbesondere wenn – nach der Abberufung – keine Abreden dazu mehr getroffen wurden. Schließlich ergeben sich immer wieder Streitigkeiten darüber, welche Tätigkeiten der abberufene Geschäftsführer ausschlagen kann, ohne dass sein Lohn nach § 615 S. 2 BGB wegen „böswilligen Unterlassens“ eines anderweitigen Erwerbs gekürzt wird. Ganz praktisch stellt sich z.B. die (in Verhandlungssituationen) wichtige Frage, ob der abberufene Geschäftsführer zur Vermeidung einer Gehaltskürzung nach § 615 S. 2 BGB Tätigkeiten unterhalb der Organebene nachgehen muss, die ihm (vielleicht aus taktischen Gründen) von der Gesellschaft angeboten werden. 785

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Unser Beitrag will den soeben formulierten Fragen zum Dienstverhältnis des abbe­ rufenen Geschäftsführers nachgehen und versuchen, eine möglichst verständliche Grundlage zur Orientierung zu bieten; ebenso wie es der hochgeschätzte Kollege Eberhard Vetter so häufig erfolgreich in seinen Publikationen unternommen hat. Es ist eine juristische „Binse“, aber muss erwähnt werden, dass die abstrakte Erörterung dieser Fragen nicht daran vorbeikommt, dass es stets auf den Einzelfall ankommt, d.h. vor allem auf die konkrete Gestalt des Geschäftsführerdienstvertragsund auch des Gesellschaftsvertrags.

II. Abberufung und Dienstvertrag Die einleitend aufgezeigten Fragen folgen sämtlich aus der besonderen Stellung des GmbH-Geschäftsführers in der Gesellschaft. Einerseits ist er deren vertretungsberechtigtes Organ und andererseits mit ihr in den allermeisten Fällen durch ein Dienstverhältnis nach den §§ 611 ff. BGB verbunden.1 Er ist dabei grundsätzlich kein Arbeitnehmer, da er aufgrund seiner Organstellung der Seite des Arbeitgebers zuzurechnen ist und keinem arbeitsrechtlichen Weisungsrecht unterliegt.2 In letzter Zeit sind allerdings insbesondere auf europäischer Ebene Bestrebungen erkennbar, Geschäftsführer sukzessive den Normen des Arbeitsrechts zu unterwerfen und ihnen damit das hohe Schutz–Niveau zukommen zu lassen, das eigentlich Arbeitnehmern vorbehalten ist.3 Aus dem Verhältnis der beiden unterschiedlichen Beziehungen von Geschäftsführer und Gesellschaft (Dienstvertrag und Organstellung) ergeben sich die speziellen Probleme, die im Folgenden behandelt werden. 1. Trennungsprinzip Die beiden Verbindungen werden grundlegend vor allem durch das in § 38 I GmbHG angelegte Trennungsprinzip bestimmt. Sein Inhalt ist die Differenzierung zwischen dem Dienstverhältnis und der Organstellung. Durch §  38 GmbHG wird zunächst die freie Abberufbarkeit des Geschäftsführers durch die Gesellschaft als Ausgleich für dessen weitgehende Kompetenzen und Hand-

1 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 78. 2 BGH v. 11.7.1953 − II ZR 126/52; BGH v. 25.7.2002 − III ZR 207/01; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 35 GmbHG, 21. Aufl. 2017, Rz. 174. 3 EuGH v. 3.7.1986 – C-66/85 Lawrie-Blum, juris-Rz. 22; v. 11.11.2010 – C-232/09 Danosa; ausführlich: Boemke, RdA 2018, 1.

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lungsmöglichkeiten (§ 37 II GmbHG) garantiert.4 Eine Abberufung kann folglich jederzeit und ohne Vorliegen von Gründen erfolgen.5 Dieser Grundsatz kann nur durch Satzung oder Gesetz, also insbesondere nicht durch den Dienstvertrag, eingeschränkt werden (§ 38 II GmbHG).6 Die Abberufung des Geschäftsführers führt nicht ohne Weiteres auch zur Beendigung seines Dienstvertrags. Dem stehen die zwingenden Kündigungsregelungen für Dienstverträge nach den §§ 620 ff. BGB entgegen.7 Insbesondere ist gemäß § 620 II BGB für die vorzeitige Beendigung eines Dienstverhältnisses stets eine Kündigung erforderlich.8 Kündigungsschutz genießen GmbH-Geschäftsführer dabei nicht, da sie durch § 14 I Nr. 1 KSchG als Organ, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist, ausdrücklich von dessen Anwendungsbereich ausgenommen sind. Der Dienstvertrag kann somit grundsätzlich frei – je nach der vertraglichen Gestaltung  – gekündigt werden. Eine ordentliche Kündigung kann dabei aber nur unter Einhaltung der hierfür geltenden gesetzlichen Fristen ausgesprochen werden. Diese bestimmen sich grundsätzlich nach § 621 BGB. Zumindest für Fremdgeschäftsführer und minderheitlich beteiligte Geschäftsführer wird allerdings eine Anwendbarkeit des § 622 BGB analog angenommen.9 Die ordentliche Kündigung ist dann generell ausgeschlossen, wenn im Dienstvertrag eine feste Laufzeit geregelt ist, und sich die Gesellschaft dort nicht das Recht zur ordentlichen Kündigung vor Ende der Laufzeit ausdrücklich vorbehalten hat.10 Eine außerordentliche (fristlose) Kündigung nach § 626 BGB ist (im Gegensatz zur Abberufung) nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich und kann höchstens in Ausnahmefällen auch schon in der Abberufung gesehen werden.11 Im Ergebnis sind das Bestehen des Dienstvertrages und der Organstellung somit wegen der jeweiligen gegenläufigen Regelungen stets getrennt zu betrachten. Diese Eigenheit hat zur Folge, dass trotz der Abberufung des Geschäftsführers dessen Dienstvertrag noch solange wirksam ist, bis eine Kündigung ausgesprochen wurde und gegebenenfalls deren Frist abgelaufen ist, oder die Laufzeit des Vertrags endet. Während dieses Zeitraums wirken auch die Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis fort. Ihr Vollzug und die Durchführung des Vertrages insgesamt werden durch die Abberufung des Geschäftsführers gleichwohl erheblich behindert. Das beruht ins 4 Heilmeier in BeckOK GmbHG, 37. Edition Stand 1.11.2018, § 38 Rz. 1 f.; BGH v. 20.12.1982 − II ZR 110/82. 5 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, § 38 GmbHG, 21. Aufl. 2017, Rz. 3.  6 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 2. 7 Moll in Münchener Handbuch des Arbeitsrechts, 4. Aufl. 2017, Rz. 82. 8 Altmeppen in Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 38 GmbHG Rz. 5. 9 Werner, NZA 2015, 1234, 1235; BGH v. 29.5.1989 – II ZR 220/88. 10 Seel, JA 2009, 446, 447. 11 Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 85, 89.

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besondere darauf, dass im Dienstvertrag regelmäßig eine Organstellung des Dienstverpflichteten (regelmäßig sogar wörtlich) vorausgesetzt wird. 2. Koppelungsklausel Ob das Trennungsprinzip durch die Aufnahme einer Koppelungsklausel in den Dienstvertrag überwunden werden kann, ist nicht gesichert und hängt vom Einzelfall ab. Durch eine Koppelungsklausel wird der Bestand des Dienstvertrags an den Bestand der Organstellung „gekoppelt“ oder anders: Abberufung als Organ und Kündigung des Dienstverhältnisses werden vertraglich verknüpft.12 Dies geschieht oftmals dadurch, dass die Beendigung der Organstellung zur auflösenden Bedingung für den Dienstvertrag gemacht wird.13 Abreden solcher Art finden sich mittlerweile recht häufig in Geschäftsführerdienstverträgen. Auf den ersten Blick erscheinen sie als die optimale Lösung der Problematik. Allerdings wendet die Rechtsprechung für den Beendigungszeitpunkt auch hier den § 622 BGB entsprechend an und lässt eine Lösung vom Dienstvertrag nur unter Einhaltung der dort geregelten Fristen zu. Bei sofortiger Beendigung würde ansonsten die Vorschrift des § 626 BGB unterlaufen, nach der ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung erforderlich ist.14 Eine vorzeitige Beendigung des Dienstvertrags bleibt also nur unter dieser Voraussetzung möglich.15 Spricht die Gesellschaft eine ordentliche Kündigung aus, fallen für die Zeit bis zum Ende der Kündigungsfrist das Bestehen der Organstellung und die Wirksamkeit des Geschäftsführerdienstvertrags auseinander. Auch eine Koppelungsklausel verschafft hier keine Abhilfe. Der Dienstvertrag besteht ohne Organstellung fort, wenn nicht ein wichtiger Grund zur Abberufung eine fristlose Kündigung ermöglicht.16 Über die generelle Wirksamkeit von Koppelungsklauseln in Geschäftsführerdienstverträgen gibt es unterschiedliche Auffassungen.17 Unseres Erachtens können Koppelungsklauseln durchaus wirksam vereinbart werden. Gesellschaftsrechtlich ist die Lage recht eindeutig. So ordnet §  38 I GmbHG zwar die rechtliche Trennung von Bestellung und Anstellung an. Dies bedeutet aber nicht, dass Bestimmungen im Dienstvertrag, die stattdessen eine Akzessorietät hinsichtlich der Beendigung der beiden Verhältnisse anordnen, nach dem GmbHG unwirksam wären. Vielmehr ist in dessen § 38 I nur bestimmt, dass mit Ende der Organstellung keine automatische Beendigung des Dienstverhältnisses erfolgt; nicht aber, dass dies generell unmöglich ist.18 12 Thüsing in Graf v. Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Geschäftsführerverträge, 41. EL 2018, Rz. 4.  13 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Rz. 211. 14 BGH, NJW 1998, 1480; BGH v. 29.5.1989 − II ZR 220/88; OLG Karlsruhe, GmbHR 2017, 295. 15 Werner, NZA 2015, 1234, 1235. 16 Vgl. Tschöpe/Wortmann, NZA 2009, 85, 90. 17 Tschöpe/Wortmann, NZA 2009, 85, 87. 18 BGH, NJW 1995, 2850; Werner, NZA 2015, 1234, 1235.

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Dienstvertragsrechtlich ist die Beendigung des Dienstvertrags vorbehaltlich des Vorliegens eines wichtigen Grundes zunächst nur unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist möglich (siehe oben unter 1.). Strittig ist hinsichtlich der Koppelungsklausel weiter, ob eine Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB erfolgen muss. Hiervon ist regelmäßig entweder nach § 305 I S. 1 BGB (bei für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Bedingungen) oder nach § 310 III Nr. 1 BGB (wenn der Geschäftsführer Verbraucher iSv. § 13 BGB ist19) auszugehen.20 Regelmäßig wird die Koppelungsklausel der AGB-Kontrolle aber ohnehin standhalten. Um eine überraschende Klausel im Sinne von § 305c I BGB wird es sich bei ihr regelmäßig aufgrund hinreichender Kenntlichmachung und weiter Verbreitung in Geschäftsführerdienstverträgen nicht handeln.21 Wird die ordentliche Kündigungsfrist durch die Klausel berücksichtigt, wird sie außerdem in den allermeisten Fällen auch der allgemeinen richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 I, II BGB standhalten.22 Angesichts der bestehenden Bedenken bei einigen Gestaltungsformen von Koppelungsklauseln ist in jedem Fall eine genaue Prüfung geboten.23 In den meisten Fällen halten Koppelungsklauseln aber auch den dienstvertragsrechtlichen Vorgaben stand.24

III. Abberufung und (Weiter-)Beschäftigung des Geschäftsführers Der Dienstvertrag wirkt somit in vielen Fällen über das Ende der Organstellung hi­ naus. Damit stellt sich die Frage, welche Tätigkeiten ein abberufener GmbH-Geschäftsführer in der Konstellation überhaupt noch ausführen kann bzw. muss. Schließlich ist ihm die Wahrnehmung der Aufgaben eines Geschäftsführers (aufgrund der Abberufung) nicht mehr möglich. Geschäftsführerdienstverträge sind inhaltlich aber zumeist (je nach Vertragsgestaltung) auf eine Tätigkeit „als Geschäftsführer“ beschränkt. Der abberufene Geschäftsführer kann nicht per Direktionsrecht von der Gesellschaft zu Aufgaben unterhalb der Organebene verpflichtet werden, da sie nicht Inhalt des Dienstvertrags geworden sind.25 Dementsprechend hat der BGH das Bestehen eines Weiterbeschäftigungsanspruchs eines abberufenen Geschäftsführers mit dieser Begründung verneint.26

19 Dies wird zumindest für den Fremd- oder Minderheitsgeschäftsführer angenommen  – Hümmerich, NZA 2006, 709, 711. 20 Hümmerich, NZA 2006, 709, 711. 21 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Rz. 211; vgl. Graf v. Westphalen, BB 2015, 834, 838. 22 Werner, NZA 2015, 1234, 1238; Graf v. Westphalen, BB 2015, 834, 840. 23 Ausführliche Darstellung: Graf v. Westphalen, BB 2015, 834. 24 Vgl. Werner, NZA 2015, 1234, 1235. 25 Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 498.  26 BGH v. 11.10.2010 – II AZR 266/08.

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Im Umkehrschluss muss das bedeuten, dass ihn auch keine Pflicht trifft, unterhalb der Organebene tätig zu werden. Weigert er sich also, eine solche Tätigkeit auszuführen, kann dies keine Pflichtverletzung darstellen, die etwa zur außerordentlichen Kündigung des Dienstvertrags berechtigen würde.27 Auch eine Anpassung des Dienstvertrags wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 I BGB kann nicht verlangt werden. So wird man annehmen müssen, dass der Gesellschaft (bzw. ihren Vertretern) bewusst war, dass eine jederzeitige Abberufungsmöglichkeit besteht, die aber zumindest bei fehlender Koppelungsklausel nicht den geschlossenen Dienstvertrag berührt. Ohnehin werden nur in den wenigsten Fällen die Umstände, die zur Abberufung geführt haben, außerhalb der Risikosphäre der Gesellschaft liegen. Dieser ist ein Festhalten am unveränderten Vertrag damit iSv. § 313 I BGB zumutbar.28 Der Dienstvertrag besteht damit im Grundsatz fort, obwohl er einer der beiden Hauptleistungspflichten praktisch beraubt ist.

IV. Abberufung und Vergütungsanspruch Dementsprechend erscheint das Schicksal der im gestörten Synallagma verbleibenden Hauptleistungspflicht fraglich. So muss geklärt werden, ob bzw. in welcher Höhe dem Geschäftsführer nach seiner Abberufung noch der Anspruch auf seine Vergütung zukommt. 1. Vergütungsfortzahlung Der Gedanke liegt nahe, dass die Gegenleistung in Form der Vergütungszahlung nicht aufrechterhalten bleiben kann, wenn der ehemalige Geschäftsführer von allen Verpflichtungen hinsichtlich der Leistung seiner Dienste befreit wird. Um dem nachzugehen muss zwischen der fixen und der – bei GmbH-Geschäftsführern vielfach vereinbarten – variablen Vergütung differenziert werden. a) Festgehalt (Grundvergütung) Der Annahme eines Wegfalls des Anspruchs auf das Festgehalt wird in Literatur und Rechtsprechung beinahe einhellig – zu Recht – eine Absage erteilt. Die Begründungsansätze unterscheiden sich allerdings. Teilweise wird angenommen, dass der Vergütungsanspruch wegen Unmöglichkeit der Gegenleistung gemäß § 326 I BGB aufrechterhalten bleibt.29

27 Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 498. 28 OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15. 29 Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 499; Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774, 1774.

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Dafür müsste allerdings die Erbringung der vertraglich geschuldeten Dienste für den Geschäftsführer durch die Abberufung unmöglich im Sinne von § 275 I bis III BGB geworden sein. Tatsächlich wird er in den allermeisten Fällen außerstande sein, die ihm zugewiesenen Tätigkeiten auszuführen. Allerdings gilt für Dienstverträge der § 615 BGB. Der Anwendungsbereich der Norm umfasst auch die Fälle der sogenannten „Annahmeunmöglichkeit“.30 Somit tritt Annahmeverzug auch dann ein, wenn der Dienstberechtigte durch Unterlassen einer Mitwirkungshandlung selbst zu verantworten hat, dass der Dienstverpflichtete die Dienstleistung nicht erbringen kann.31 Auch die Berufung zum Geschäftsführer ist eine Mitwirkungshandlung in diesem Sinne. Sie ist zwingend erforderlich, damit der Geschäftsführer seine vertraglich geschuldete Tätigkeit ausführen kann. Es leuchtet nicht ein, warum hier eine andere Beurteilung erfolgen sollte,32 als bei der Bereitstellung der Betriebsstätte oder -mittel.33 Eine Unmöglichkeit iSv. § 275 I BGB hinsichtlich der Beschäftigung als GmbH-Geschäftsführer ist damit nicht gegeben. Um die freie Abberufbarkeit im Sinne des § 38 I BGB zu sichern, muss § 38 II GmbHG beachtet werden. Danach kann die Abberufbarkeit nur im Gesellschaftsvertrag beschränkt werden. Zudem darf das Prinzip der freien Abberufbarkeit grundsätzlich auch nicht mittels einer indirekten Pflicht zur Bestellung (als Mitwirkungshandlung) konterkariert werden.34 Allerdings kann durch das Trennungsprinzip nicht generell ausgeschlossen werden, dass eine Abberufung des Geschäftsführers negative Konsequenzen für die GmbH nach sich zieht. Nicht nur das Trennungsprinzip, auch das Bestehen des Annahmeverzugs, folgt unmittelbar aus dem Gesetz. Er steht der Trennung von Organ- und Dienstverhältnis auch nicht im Weg, sondern ist lediglich Folge dieses besonderen gesellschaftsrechtlichen Konstrukts. Der § 326 I BGB führt somit nicht zum Fortbestehen des Vergütungsanspruchs. Vielmehr folgt dieses Ergebnis aus dem Annahmeverzug (gemäß den §§ 293 ff. BGB) des Dienstberechtigten.35 Nach § 615 S. 1 BGB hat dieser zur Folge, dass der Verpflichtete des Dienstvertrags (hier der abberufene Geschäftsführer) die vereinbarte Vergütung für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste weiterhin verlangen kann. Es tritt somit die gleiche Rechtsfolge ein, die auch nach § 326 II BGB eintritt, wenn der Gläubiger für den Umstand, auf Grund dessen der Schuldner nach § 275 I bis III BGB nicht zu leisten braucht, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist oder 30 Preis in Erfurter Kommentar, 19. Aufl. 2019, § 615 BGB Rz. 7.  31 Richardi/Fischinger in Staudinger, §  615 BGB, Neubearbeitung 2016, Rz.  36; Henssler in MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 615 Rz. 8. 32 So aber: Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 499. 33 Henssler in MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 615 Rz. 22; Preis in Erfurter Kommentar, 19. Aufl. 2019, § 615 BGB Rz. 35. 34 Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 498. 35 BGH v. 11.10.2010 – II ZR 266/08; Preis in Erfurter Kommentar, 19. Aufl. 2019, § 615 BGB Rz. 5 ff.; Henssler in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2016, § 615 Rz. 4.

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der Umstand zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist. Im Einzelnen wird um das Verhältnis von Unmöglichkeit und Annahmeverzug (und damit von § 615 und § 326 BGB) viel gestritten. Dies braucht hier nicht vertieft werden, da der Streit jedenfalls im Ergebnis keine Auswirkungen hat. b) Variable Vergütung Deutlich unklarer ist die Rechtslage zu der Frage, wie sich die Abberufung auf die variable Vergütung des Geschäftsführers auswirkt. Dabei gilt zunächst, dass aufgrund des großen Gestaltungsfreiraums zahlreiche unterschiedliche Formen der variablen Vergütung existieren, die jeweils an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft sind. Grob lassen sich variable Vergütungen unterscheiden in solche, die unmittelbar vom Erreichen bestimmter Leistungskriterien des Organmitglieds abhängen („leistungsbezogen“) und solche, die sich am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens orientieren und nicht unmittelbar mit der Leistung des Organmitglieds im Zusammenhang stehen („erfolgsbezogen“).36 Dem Grunde nach verhält es sich für den Anspruch auf die variable Vergütung für den abberufenen Geschäftsführer zunächst genauso, wie bei der Fixvergütung. So besteht wegen des durch die Abberufung des Geschäftsführers verursachten Annahmeverzugs (hinsichtlich der vertraglich geschuldeten Leistung durch den Geschäftsführer – siehe oben unter a)) auch die Pflicht zur Zahlung der variablen Vergütung gemäß § 615 S. 2 BGB grundsätzlich fort, ohne dass die Dienste tatsächlich geleistet werden müssen. Die Vorschrift umfasst unstreitig auch variable Vergütungsbestandteile.37 Beide Varianten der variablen Vergütung (erfolgs- und leistungsbezogen) verfolgen das Ziel, den Beitrag des Organmitglieds zum Erfolg des Unternehmens zu vergüten und Anreiz für weitere Leistungen zu schaffen. Beide Ergebnisse können nach der Abberufung des Geschäftsführers regelmäßig nicht mehr erreicht werden, weil dieser nicht mehr beschäftigt wird.38Daher mag es zunächst widersprüchlich erscheinen, dass die Gesellschaft weiterhin zur Fortzahlung der variablen Vergütung verpflichtet sein soll. Es stellt sich die Frage, ob die Wertung des § 615 S. 1 BGB hier aufrechterhalten bleiben kann. Zu deren Beantwortung muss zwischen der erfolgs- und der leistungsbezogenen variablen Vergütung differenziert werden. aa) Erfolgsbezogene Vergütung Der Anspruch auf die erfolgsbezogene variable Vergütung könnte gemäß § 615 S. 1 BGB fortbestehen, wenn er gemäß § 158 I BGB aufschiebend bedingt ist. Dazu müss36 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796; Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774. 37 Joussen in BeckOK Arbeitsrecht, 50. Edition Stand 1.12.2018, § 615 BGB, Rz. 58 f. 38 Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774.

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ten Geschäftsführer und Gesellschaft vertraglich vereinbart haben, dass die Erbringung der Geschäftsführerleistung Bedingung ist, um den Anspruch auf variable Vergütung zu begründen. Das ist nicht aber der Fall. Damit der Anspruch entsteht, ist ausdrücklich schon das Erreichen der – nur am Erfolg des Unternehmens orientierten – festgelegten Größe ausreichend. Ein Beitrag des Geschäftsführers wird dagegen nicht gefordert.39 Der abberufene Geschäftsführer hat somit nach seiner Abberufung grundsätzlich auch dann noch einen Anspruch auf die Zahlung der erfolgsbezogenen variablen Vergütung, wenn er bis zur Beendigung (bis zum Ende) seines Dienstvertrags gar keine Leistung mehr erbringt/erbracht hat.40 Darüber hinaus ist allerdings die Vorschrift des § 628 I S. 1 BGB in den Blick zu nehmen. Danach ist im Falle fristloser Kündigung (des Dienstvertrags) der Vergütungsanspruch auf einen, den bisherigen Leistungen des Dienstverpflichteten entsprechenden, Teil beschränkt. Für die Frage, ob die aufgestellten Parameter erfüllt wurden, würde damit grundsätzlich nur der Zeitraum zwischen Beginn des Jahres bis zur Kündigung betrachtet. Die Regelung ist allerdings nicht auf die Situation der erfolgsbezogenen variablen Vergütung anwendbar. Diese Vergütungsform hängt von einem bestimmten Erfolg der Gesellschaft in einem (vollen) Jahr und nicht von der individuellen Leistung des Geschäftsführers ab.41 Vielmehr muss dem besonderen Charakter des erfolgsbezogenen Vergütungsbestandteils Rechnung getragen werden, indem auf den Gesamtjahreserfolg des Unternehmens abgestellt wird. Außerdem muss hier berücksichtigt werden, dass sich Entscheidungen und Maßnahmen der Geschäftsführer vielfach erst mit einer gewissen Verzögerung auf den Erfolg der Gesellschaft auswirken. Das gilt sowohl in positiver, wie auch in negativer Hinsicht. Zudem können unwägbare Ereignisse eintreten; etwa Gewinneinbrüche durch Insolvenz eines wichtigen Geschäftspartners. Eine gerechte Verteilung des Risikos der Zielerreichung ist nur zu erreichen, wenn § 628 I S. 1 BGB keine Anwendung findet, sondern dem Geschäftsführer ein auf das gesamte Geschäfts- bzw. Kalenderjahr berechneter anteiliger Anspruch zusteht.42 bb) Leistungsbezogene Vergütung Ist die Zahlung der variablen Vergütung dagegen von der Erbringung einer bestimmten Leistung durch den Geschäftsführer abhängig, so stehen die Erbringung der Dienste und die variable Vergütung in einer synallagmatischen Beziehung zueinander. In diesem Fall ist die Zahlung der vereinbarten Vergütung grundsätzlich aufschiebend bedingt (§ 158 I BGB) bis zur Erreichung der Ziele durch entsprechende 39 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796. 40 Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774, 1775; Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796. 41 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796. 42 Vgl. BAG v. 3.6.1958 – 2 AZR 406/55; Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796.

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Leistung des Geschäftsführers. Sie wäre bei deren Verfehlen mithin nicht geschuldet.43 Es wird jedoch zu Recht gefordert, dass dem abberufenen Geschäftsführer ein adäquater Ausgleich für die ihm durch die Abberufung genommene Möglichkeit der Leistungserbringung gewährt werden muss.44 Diese Korrektur ist über den Grundsatz der Leistung nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) bzw. die Verkehrssitte (§ 157 BGB) zu erreichen, wenn der Verfall im Einzelnen als nicht tragbar zu werten ist. So wäre es weder Recht noch billig, dem vorzeitig abberufenen Geschäftsführer keinen angemessen Ausgleich dafür zu gewähren, dass er die Leistung nicht erbringen und dadurch die variable Vergütung nicht verdienen kann.45 Im Gegensatz zur erfolgsbezogenen Vergütung findet § 628 I BGB (siehe oben unter aa)) bezüglich leistungsbezogener variabler Vergütungen grundsätzlich Anwendung, wenn eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen wird. Die Wirkung der Norm muss aber entsprechend korrigiert werden, wenn sich bestimmte Entscheidungen/ Maßnahmen langfristig und damit nach Abschluss des Betrachtungszeitraums auswirken.46 cc) Zielvereinbarung In dieser Konstellation wird die Auszahlung des Bonus durch entsprechende Regelung im Dienstvertrag von dem Erreichen bestimmter Ziele abhängig gemacht. Diese werden teilweise bereits in dem Vertrag festgehalten. Zumeist ist dort aber geregelt, dass die Ziele zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Beginn des entsprechenden Betrachtungszeitraums (typischerweise das Kalender- bzw. Geschäftsjahr) festzulegen sind. Für diesen Fall existieren in Dienstverträgen im Wesentlichen zwei Regelungsarten. Entweder wird eine Zielvorgabe vereinbart, so dass der Arbeitgeber die einseitige Festlegungsmöglichkeit und -pflicht hat; oder die Parteien einigen sich auf eine Zielvereinbarung, verpflichten sich also, gemeinsam die Ziele zu bestimmen. Trotz des grundsätzlichen Fortbestehens des Anspruchs auf die variable Vergütung müssen darüber hinaus im Wesentlichen zwei Kategorien mit Blick auf die Festlegung von Zielen unterschieden werden. (1) Bestehen einer Zielvorgabe/-vereinbarung Einerseits ist denkbar, dass Ziele, die laut Vertrag zur Auszahlung der Vergütung zu erfüllen sind, aufgestellt wurden, sie aber aufgrund des Annahmeverzugs nicht erfüllt werden können. In diesem Fall lässt sich bei Zielen, die nur an den Erfolg des Unternehmens anknüpfen, ohne weiteres feststellen, ob sie erfüllt wurden und damit der Bonus auszuzahlen ist. 43 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796. 44 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792, 2796. 45 Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774, 1775. 46 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2853.

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Schwieriger festzustellen ist, ob Ziele, die an die Leistung des Geschäftsführers anknüpfen, erreicht worden wären, bzw. in welcher Höhe die (nunmehr hypothetisch) leistungsbezogene Vergütung gezahlt werden muss. Dies muss anhand einer Einschätzung der im Falle des Fortbestehens der Organstellung zukünftigen Leistung des Geschäftsführers ermittelt werden. Die Einschätzung muss die Gesellschaft im Rahmen billigen Ermessens gem. § 315 I BGB treffen und dabei die vergangenen Leis­ tungen, aber auch andere Faktoren (z.B. den leistungsbezogenen Verdienst eines vergleichbaren Arbeitnehmers47), die ein anderes Ergebnis als in der Vergangenheit vermuten lassen, berücksichtigen.48 Ist nach einer solchen Schätzung davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer die Zielvereinbarung erfüllt hätte, so ist ihm nach Ende des Betrachtungszeitraums oder anteilig nach Beendigung des Dienstvertrags die variable Vergütung in der entsprechenden (evtl. durch die Schätzung bestimmten) Höhe auszuzahlen. (2) Nichtbestehen einer Zielvorgabe/-vereinbarung Andererseits ist denkbar, dass es gar nicht zur Bestimmung von Zielen für den strittigen Zeitraum gekommen ist, da vorher bereits die Abberufung erfolgte und der Arbeitgeber oder die Parteien mangels tatsächlicher Beschäftigung des ehemaligen Geschäftsführers keinen Sinn mehr hierin gesehen haben. Es wird in dieser Konstellation vielfach verkannt, dass das Dienstverhältnis mitsamt seinen Rechten und Pflichten noch fortbesteht und „lediglich“ ein Annahmeverzug der Gesellschaft bezüglich der Geschäftsführertätigkeit gegeben ist. Es bleibt gleichfalls außer Acht, dass die variable Vergütung deswegen (nach § 615 S. 2 BGB) weiter geschuldet bleibt und andererseits gemäß der üblichen vertraglichen Vereinbarung die Auszahlung grundsätzlich nur erfolgen soll, wenn eine Zielvorgabe oder Zielvereinbarung besteht und erfüllt wird. Es stellt sich erneut die Frage nach dem Schicksal der variablen Vergütung. Zu ihrer Beantwortung muss danach unterschieden werden, ob hinsichtlich der variablen Vergütung eine Zielvorgabe oder eine Zielvereinbarung im Dienstvertrag geregelt wurde. (a) Zielvorgabe Bei einem einseitigen Zielbestimmungsrecht (Zielvorgabe) durch den Arbeitgeber kann die Bestimmung bei einer Verzögerung dieser Handlung gemäß § 315 III S. 2 BGB durch das Gericht ersetzt werden.49 Nach dem Ablauf der Zielperiode wird die Festsetzung von Zielen durch Urteil dem Motivationsgedanken allerdings nicht mehr gerecht, da Zweck von Zielbonussystemen die Förderung der Mitarbeitermotivation ist und diese rückwirkend nicht mehr erreichbar ist. Es kann daher in diesem Fall keine gerichtliche Bestimmung im Sinne von § 315 III S. 2 BGB erfolgen.50 47 Preis in Erfurter Kommentar, 19. Aufl. 2019, § 615 BGB Rz. 77. 48 Bauer/Göpfert/Siegrist, DB 2006, 1774, 1775. 49 Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, NZA 2005, 785, 791.  50 Mit dieser Argumentation für Zielvereinbarungen: BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07.

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Stattdessen besteht zu diesem Zeitpunkt ein Schadensersatzanspruch nach § 280 I, III iVm. § 283 S. 1 BGB. Dieser ergibt sich aus der Verletzung der Pflicht zur Erstellung der Zielvorgabe durch die Gesellschaft, deren Erfüllung ihr nun durch Ablauf der Zielperiode aus den genannten Gründen (Fehlen von Anreiz und Motivationswirkung) im Sinne des § 275 I BGB unmöglich geworden ist.51 Die Höhe des Schadens richtet sich nach den §§ 249 ff. BGB. Gemäß § 252 S. 1 BGB gehört zum Schaden auch der entgangene Gewinn. Zu diesem sind auch Bonuszahlungen zu rechnen.52 Aus der Anwendung von § 252 S. 1 BGB ergibt sich eine den § 287 ZPO ergänzende Beweiserleichterung, sodass nur die Umstände dargelegt werden müssen, aus denen sich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder den besonderen Umständen des Einzelfalls die Wahrscheinlichkeit des Gewinneintritts ergibt.53 Das BAG hat für den Fall der unterlassenen Zielvereinbarung festgestellt, dass dann, wenn der Arbeitgeber schuldhaft kein Gespräch mit dem Arbeitnehmer über eine Zielvereinbarung führt, der für den Fall der Zielerreichung zugesagte Bonus bei der abstrakten Schadensberechnung zugrunde zu legen ist. Es müssen Zielvereinbarungen nicht so gestaltet werden, dass sie stets erreicht werden, aber doch so, dass zur Erfüllung des Motivationszwecks die Erreichung nicht ausgeschlossen ist. Daher ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Ziele erreicht worden wären, wenn nicht der Arbeitgeber besondere Umstände darlegt, die diese Annahme ausschließen.54 Dies muss erst recht gelten, wenn es um eine unterlassene Zielvorgabe geht. Dort wäre es ansonsten aufgrund der einseitigen Festlegung sogar noch einfacher für den Arbeitgeber, sich durch Untätigbleiben der vertraglichen Verpflichtung zur Bonuszahlung zu entziehen. Diese Rechtsprechung des BAGs ist auch auf den Fall des abberufenen Geschäftsführers (der in der Regel kein Arbeitnehmer ist  – siehe oben unter II.) ohne weiteres übertragbar. Das Gericht greift bei der Auslegung auf allgemein gültige Grundsätze des Zivilrechts zurück: Der Schuldner einer vertraglich übernommenen (Zahlungs-) Verpflichtung, die von der Festlegung von Bemessungsgrundlagen abhängig ist, soll sich nicht dadurch der Leistung entziehen, dass er den Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung einfach unterlässt. Für diesen Rechtsgedanken spielen die Be­ sonderheiten des Arbeitsrechts  – insbesondere ein eventuelles Subordinations­ verhältnis  – keine Rolle. Die Rechtsprechung des BAGs betrifft die Auslegung von Vertragsregelungen, die nicht zwingend nur in einem Arbeitsverhältnis getroffen werden können.55 Es geht einzig um die Verhaltenspflichten, die sich aus einer vertraglichen Regelung für die jeweiligen Parteien ergeben. Dies ist auf sämtliche Ver51 Wiederum bezogen auf Zielvereinbarungen: BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07. 52 Grüneberg in Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 252 Rz. 7; BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07. 53 Grüneberg in Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 252 Rz. 4; BGH v. 8.5.2012 − XI ZR 262/10.  54 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07; bestätigt durch OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15. 55 OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15.

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tragsverhältnisse übertragbar und anwendbar.56 Aus der Vereinbarung, dass gemeinsam Ziele festgelegt werden, folgt eine Verhandlungspflicht – und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Arbeits- oder Dienstvertrag handelt. Folglich ist auch bei Schadensersatzansprüchen abberufener Geschäftsführer die Höhe des durch die unterbliebene Festlegung von Zielen entstandenen Schadens mit 100% des Bonus zu beziffern. (b) Zielvereinbarung Ist vertraglich vereinbart worden, dass die Parteien gemeinsam die Parameter für die variable Vergütung bestimmen (Zielvereinbarung), so kann vor bzw. während Ablauf der Zielperiode der § 315 III S. 2 BGB nicht zur Anwendung kommen. Die Parteien haben bestimmt, dass die Ziele und deren Gewichtung gemeinsam festgelegt werden, sodass ein (einseitiges) Leistungsbestimmungsrecht nicht besteht und sie sich nicht autonom der richterlichen Schlichtung durch Ersatzleistungsbestimmung unterworfen haben.57 Auch über § 162 BGB oder durch ergänzende Vertragsauslegung kann keine Abhilfe geschaffen werden.58 Ein Ausgleich ist hier schon von Beginn an über einen Schadensersatzanspruch zu gewähren.59 Er beruht wie bei unterbliebener Zielvorgabe (siehe oben unter (a)) auf der Verletzung der Nebenpflicht zur, nunmehr gemeinsamen, Erstellung von Zielparametern. Der Schadensersatzanspruch tritt zunächst neben den Erfüllungsanspruch bzgl. der Mitwirkung an der Erstellung und ist nach Ablauf der Zielperiode Schadensersatz statt der Leistung gemäß § 280 I, III iVm. § 283 S. 1 BGB.60 Bezüglich der Anspruchsgrundlage besteht ab diesem Zeitpunkt also Übereinstimmung mit der unterlassenen Zielvorgabe. Bei der Berechnung ist als entgangener Gewinn im Sinne von § 252 BGB der Bonus in Höhe von 100% zugrunde zu legen (siehe oben unter (a)).61 Wesentlicher Unterschied zur Zielvorgabe ist aber, dass auch der Geschäftsführer grundsätzlich zur Mitwirkung an der Bestimmung der Ziele verpflichtet ist, was sich im Rahmen des Mitverschuldens nach §  254 I BGB maßgeblich auf den Anspruchsumfang auswirken kann.62 So ist die Rechtsprechung schon einmal davon ausgegangen, dass beide Vertragspartner eine gleichgelagerte Pflicht zum Hinwirken auf eine Zielvereinbarung über die 56 So auch: Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2853. 57 Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, NZA 2005, 785, 792; BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07. 58 Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2853; BAG v. 12.12.2007  – 10 AZR 97/07. 59 Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, NZA 2005, 785, 792.  60 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07. 61 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07; OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15. 62 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 97/07; Riesenhuber/v. Steinau-Steinrück, NZA 2005, 785, 792. 

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Bemessungsgrundlagen trifft und somit prinzipiell ein Mitverschulden des anderen Vertragsteils im Sinne des § 254 BGB (von dann regelmäßig 50%63) anzunehmen ist, soweit dieser nicht nachweist, seinerseits zum Abschluss der Vereinbarung aufgefordert zu haben.64 Ob beide Vertragsparteien tatsächlich eine gleichgelagerte Pflicht zum Hinwirken auf eine Zielvereinbarung haben, ist zweifelhaft. Dagegen spricht, dass die Gesellschaft, als Schuldner der Zahlung und Empfänger der (Dienst-)Leistung und aufgrund ihrer Fürsorgepflicht primär gehalten ist, Ziele vorzuschlagen. Daher wird es eher ihr obliegen, die Initiative zum Abschluss einer Zielvereinbarung zu ergreifen, indem sie ein konkretes Angebot vorlegt.65 Diese Wertung ist jedenfalls auf Fremdgeschäftsführer ohne Weiteres übertragbar. Denn auch sie werden gegen Entgelt tätig und sind aufgrund der jederzeit möglichen Abberufung (§§ 38 Abs. 1, 46 Nr.  5 GmbHG) sowie Bindung an die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung (§ 37 Abs. 1 GmbHG) weisungsgebunden.66 Einer gleichgelagerten Verteilung wird außerdem spätestens mit der Abberufung des Geschäftsführers jegliche Grundlage entzogen. Eine Aufforderung durch den Geschäftsführer, auch noch nach seiner Abberufung eine Zielvereinbarung zu schließen, kann schon deswegen nicht mehr erwartet werden, weil die Zielvereinbarung nicht mehr ihre dem Leistungsanreiz dienende Funktion erfüllen kann.67 Aus dem Umstand, dass sich die grundsätzlich beide Vertragspartner gleichermaßen treffende Verhandlungspflicht nach der einseitigen Abberufung und Freistellung auf die Gesellschaft verlagert, ergibt sich keine unzumutbare Belastung der Gesellschaft. Vielmehr entspricht diese Verlagerung der gesetzlichen Risikoverteilung infolge des Annahmeverzugs des Dienstgebers. Von diesem Zeitpunkt an muss daher allein die Gesellschaft auf den Abschluss einer Zielvereinbarung hinwirken. Es stellt einen offensichtlichen Widerspruch dar, einerseits den Geschäftsführer von allen Tätigkeiten freizustellen und andererseits gleichwohl von ihm ein Hinwirken auf das Zustandekommen einer Zielvereinbarung zu verlangen. Das rechtzeitige Zustandekommen einer Zielvereinbarung wird auf diese Weise geradezu vereitelt. Für die Frage, ob eine Mitwirkungshandlung des Geschäftsführers erfolgt ist, kann es ungeachtet dessen keine Rolle spielen, ob die Aufforderung zur Mitwirkung gegenüber der Gesellschaft die Qualität einer Mahnung hat.68

63 OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15. 64 BAG v. 10.12.2008 – 10 AZR 889/07; Melot de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2853, 2854. 65 BAG v. 12.5.2010 – 10 AZR 390/09; LAG Hamm v. 18.2.2014 – 14 Sa 806/13. 66 Vgl. EuGH v. 3.7.1986  – C-66/85 Lawrie-Blum, juris-Rz.  22; v. 11.11.2010  – C-232/09 ­Danosa, NJW 2011, 2343, juris-Rz. 56; v. 9.7.2015 – C-229/14 Balkaya, NJW 2015, 2481, juris-Rz. 48. 67 Vgl. LAG Hamburg v. 3.11.2011 – 1 Sa 45/10. 68 Wie dies in der Entscheidung des OLG Frankfurt v. 1.3.2016 – 14 U 73/15 gefordert wurde.

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Dies wäre nur dann denkbar, wenn die vertragliche Grundlage eine Pflicht der Klägerin zur Mahnung statuieren würde. Eine solche Lesart wird allerdings in den allermeisten Geschäftsführer-Dienstverträgen nicht möglich sein. Auf eine besondere Form der Aufforderung außer der Schriftform wird es dort regelmäßig nicht ankommen. So wird der vertraglichen Obliegenheit in aller Regel schon durch eine schriftliche Aufforderung genüge getan. 2. Abberufung und Anrechnung (böswillig unterlassenen) anderweitigen Verdienstes Trotz des grundsätzlichen Fortbestehens der Vergütungsansprüche können diese erheblich dadurch gemindert werden, dass sich der abberufene Geschäftsführer gemäß § 615 S. 2 BGB dasjenige anrechnen lassen muss, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Für Arbeitnehmer hat das BAG eine Anrechnung gemäß § 615 S. 2 Alt. 3 BGB auch dann angenommen, wenn die zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit bei dem Arbeitgeber besteht, der sich mit der Annahme der Dienste in Verzug befindet. Unzumutbarkeit in diesem Sinne ist nicht bereits dadurch gegeben, dass die zugewiesene Arbeit nicht vom Weisungsrecht des Arbeitgebers erfasst ist. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.69 Diese Rechtsprechung ist hinsichtlich der fixen Vergütung auch auf abberufene Geschäftsführer übertragbar. Aus dem Dienstvertrag ergibt sich zwar keine Pflicht zur Übernahme einer Beschäftigung unterhalb der Organebene (siehe oben unter II.). Dies ist allerdings zu unterscheiden von der Frage, ob der Geschäftsführer eine solche Tätigkeit annehmen „muss“, um eine Kürzung seiner Vergütung nach § 615 S. 2 BGB zu verhindern. So darf nicht verkannt werden, dass es im Rahmen von § 615 S. 2 BGB gerade nicht um die vertraglich geschuldete Tätigkeit geht, da sonst schon kein Annahmeverzug seitens der Gesellschaft gegeben wäre. Der GmbH wird auf diese Weise auch nicht die Möglichkeit der einseitigen Vertragsänderung eingeräumt. Aus § 615 S. 2 BGB folgt nur eine Obliegenheit, durch die verhindert werden soll, dass die Anwendung des § 615 S. 1 BGB zu unbilligen Ergebnissen führt.70 Das Trennungsprinzip oder die freie Abberufbarkeit des Geschäftsführers stehen der grundsätzlichen Übertragbarkeit der Rechtsprechung ebenfalls nicht entgegen. Es sind keine Gründe ersichtlich, die gegen eine grundsätzliche Anwendung von § 615 S. 2 BGB bei abberufenen Geschäftsführern sprechen.71 Allerdings kann gerade vom abberufenen Geschäftsführer nicht ohne Weiteres im Sinne des § 615 S. 2 BGB verlangt werden, dass dieser in anderer Funktion für das 69 BAG v. 7.2.2007 – 5 AZR 422/06. 70 Bork, NZA 2015, 199, 201.  71 OLG Frankfurt v. 27.3.2018 – 14 U 12/17.

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Unternehmen tätig wird.72 Nur in absoluten Ausnahmefällen wird es ihm nämlich zumutbar sein, eine Beschäftigung unterhalb der Organebene anzunehmen. Nach Ansicht der Rechtsprechung kann das nur möglich sein, wenn der Geschäftsführer die Abberufung „selbst verschuldet hat“73 oder die Beschäftigung aus anderen Gründen zumutbar ist.7475 Darin kann ihr in Bezug des angeblichen Selbstverschuldens des Geschäftsführers nicht gefolgt werden. Die Abberufung erfolgt frei durch die Gesellschafter. Ob eine Abberufung dann vom Geschäftsführer „verschuldet“ ist, mag eine Frage der Motivlage bei den Gesellschaftern sein; sie wird sich aber objektiv mangels eines hierfür bestehenden Maßstabs  – von Ausnahmefällen abgesehen  – kaum je klären lassen. Schließlich dürfen auch die praktischen Aspekte der Abberufung nicht aus dem Blick verloren werden. So wird die Gesellschaft in den Fällen, in denen der Geschäftsführer seine Abberufung tatsächlich „selbst verschuldet“ hat (was immer das dann konkret heißt), eher wenig Interesse an dessen Weiterbeschäftigung auch auf anderer Position haben.76 Das Angebot einer alternativen Tätigkeit im Unternehmen kann im Einzelfall dazu dienen, den fortzuzahlenden Lohn zu schmälern, um Kosten zu sparen. Auf Seiten der Gesellschaft mag dann ein Interesse daran bestehen, dass der abberufene Geschäftsführer die angebotene Tätigkeit ablehnt und damit eine Anrechnung im Sinne von § 615 S. 2 BGB gerade auslöst. In solchen Fällen kann das tatsächliche oder behauptete Selbst-Verschulden der Abberufung durch den Geschäftsführer nahe liegender weise erst Recht keine Zumutbarkeit begründen. Vielmehr muss es hier immer gerade auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. In Bezug auf das zu erwartende Beschäftigungsverhältnis kann ein von Seiten der Gesellschafter behauptetes Selbst-­ Verschulden der Abberufung durch den Geschäftsführer eher dazu beitragen, dass seine „Degradierung“ für ihn zu nicht tragbaren Zuständen führt.77 Daher muss die Zumutbarkeit in solchen Fällen in besonderem Maße auf den Prüfstand gestellt werden. Ohnehin sind die weiteren Umstände des Einzelfalls wie beispielsweise Anlass und Umstände der Abberufung, ihre Begründung, das Verhalten der Gesellschafter im Nachgang und gegebenenfalls die Art der Kündigung zu berücksichtigen.78 Lässt sich danach vermuten, dass ein Angebot ohne ernsthaften Willen zur Beschäftigung des Geschäftsführers gemacht wurde und stattdessen lediglich der Versuch unternommen wird, die Regelung des § 615 S. 2 BGB zugunsten der Gesellschaft auszunutzen, ist von einer Unzumutbarkeit ausgehen. Darüber hinaus ist eine angebotene Alternativbeschäftigung als unzumutbar zu bewerten, wenn schikanöse Züge oder Absichten erkennbar sind. Das kann beispielsweise eine sehr engmaschige Auferlegung von „Tä72 OLG Frankfurt v. 27.9.2016 – 14 U 24/16.  73 BGH v. 14.7.1966 – II ZR 212/64. 74 BAG v. 8.8.2002 – 8 AZR 574/01. 75 OLG Frankfurt v. 27.9.2016 – 14 U 24/16. 76 Bork, NZA 2015, 199, 202. 77 Bork, NZA 2015, 199, 202; vgl. auch BAG v. 14.11.1985 – 2 AZR 98/84.  78 OLG Frankfurt v. 27.3.2018 – 14 U 12/17; vgl. BAG v. 14.11.1985 – 2 AZR 98/84.

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tigkeitsberichten“ und vergleichbarer Maßnahmen sein, die eine ordnungsgemäße Durchführung der Alternativtätigkeit erschweren.79 Eine Zumutbarkeit wird in diesem Falle auch nicht etwa dadurch begründet, dass sich der Geschäftsführer unter Vorbehalt auf die unzumutbare Tätigkeit einlässt. Schließlich hat er bei bestehender Rechtsunsicherheit ein Interesse daran, seine Ansprüche so gut wie möglich zu sichern.80 Auch dann, wenn die Tätigkeit in Bereichen stattfinden bzw. Aufgaben umfassen soll, die im Zusammenhang mit der Abberufung stehen, sind nicht tragbare Umstände indiziert. Das gilt vor allem, wenn die Beendigung der Organstellung auf dortige Schlecht- oder Minderleistungen bzw. ein Fehlverhalten in diesem Zusammenhang gestützt wurde. Der abberufene Geschäftsführer kann im Rahmen von § 615 S. 2 BGB zudem nicht dazu verpflichtet sein, in eine Neuregelung der Vertragsgrundlage einzuwilligen bzw. diese zu unterzeichnen. Es existiert schließlich bereits ein Dienstvertrag, der nicht durch das Angebot einer Alternativtätigkeit einseitig beendet werden kann (auch hier gilt § 620 II BGB). Ohnehin braucht der Geschäftsführer a.D. eine (nicht unwesentliche) Verschlechterung seiner Beschäftigungsbedingungen in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht auch im Rahmen von § 615 S. 2 BGB nicht hinzunehmen. Insbesondere aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass eine Tätigkeit unterhalb der Organebene nur dann zumutbar ist, wenn sie mit der eines Geschäftsführers vergleichbar ist, also zumindest ähnliche Entscheidungs- und Interessenwahrnehmungskompetenzen sowie vergleichbare Einflussmöglichkeiten und Unabhängigkeitsmerkmale umfasst.81

V. Zusammenfassung Geschäftsführer einer GmbH sind nach ihrer Abberufung nicht verpflichtet, eine Tätigkeit auszuführen, die von ihrem fortbestehenden Dienstvertrag und damit dem Direktionsrecht der Gesellschaft nicht umfasst ist. Ein Tätigwerden unterhalb der Organebene ist von ihnen somit regelmäßig nicht geschuldet. Gleichzeitig besteht ihr Anspruch auf Vergütung grundsätzlich fort. Er wird nicht unmöglich. Vielmehr kommt die Gesellschaft mit der Annahme der Dienste in Verzug, wenn der ehemalige Geschäftsführer seine Leistung in entsprechender Weise weiter anbietet. Sie ist auf dieser Grundlage dann zur Fortzahlung der Bezüge verpflichtet. Dies gilt gleichermaßen für die variable Vergütung. Eine Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile, die an den Erfolg der Gesellschaft geknüpft sind (erfolgsbezogen), 79 OLG Frankfurt v. 27.3.2018 – 14 U 12/17. 80 OLG Frankfurt v. 27.9.2016 – 14 U 24/16; vgl. BGH v. 7.2.2007 – 5 AZR 422/06. 81 OLG Frankfurt v. 27.3.2018 – 14 U 12/17; OLG Karlsruhe v. 15.8.1995; BGH v. 14.7.1966 – II ZR 212/64; Lunk/Rodenbusch, NZA 2011, 497, 500.

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steht nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Geschäftsführungsleistung. Deren Erbringung ist folglich nicht aufschiebende Bedingung iSv. § 158 BGB, deren Eintritt zur Gewährung eines Bonus (oä.) erforderlich ist. Bei variablen Vergütungen, die von der Erbringung einer bestimmten Leistung durch den Geschäftsführer selbst abhängen (leistungsbezogen), besteht zwar eine synallagmatische Beziehung zur Geschäftsführungsleistung, allerdings muss dem Geschäftsführer ein adäquater Ausgleich für die ihm genommene Möglichkeit der Leistungserbringung gewährt werden. Dies erfolgt über § 242 bzw. 157 BGB. Wurden Ziele, von deren Erreichen die Auszahlung abhängt, bereits vereinbart oder einseitig festgelegt, ist nach Ablauf des Betrachtungszeitraums ohne Weiteres feststellbar, ob erfolgsbezogene Vorgaben erreicht wurden. Bei leistungsbezogenen Zielen muss eine Prognose getroffen werden. Werden in der Zeit, in der der Geschäftsführer zwar abberufen ist, aber sein Dienstvertrag noch gültig ist, keine Ziele festgelegt, ist bei einer einseitigen Festlegungspflicht durch den Arbeitgeber ohne Weiteres ein Anspruch auf Festlegung bzw. nach Ablauf des Bezugszeitraums ein Schadensersatzanspruch nach § 280 I, III iVm. § 283 S. 1 BGB gegeben. Der gesamte/höchstmögliche Bonus ist dabei als Schaden zugrunde zu legen. Trifft die Parteien gemeinsam die Pflicht zur Festlegung, besteht derselbe Schadensersatzanspruch mit dem Unterschied, dass im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB ggf. eine Anspruchskürzung in dem Maße erfolgt, in dem der Geschäftsführer zur Mitwirkung zum Abschluss der Zielvereinbarung verpflichtet ist. Sowohl bei der variablen, als auch bei der Fixvergütung muss sich der Geschäftsführer zudem nach § 615 S. 2 BGB dasjenige anrechnen lassen, was er erspart oder verdient bzw. zu verdienen böswillig unterlässt, weil er wegen des Annahmeverzugs nicht weiter zur Geschäftsführung verpflichtet ist. Unabhängig davon, dass er durch den Dienstvertrag dazu auch nicht verpflichtet ist, wird dem abberufenen Geschäftsführer allerdings eine Tätigkeit unterhalb der Organebene zur Vermeidung der Anrechnung nach § 615 S. 2 BGB im Regelfall unzumutbar sein.

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Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung Inhaltsübersicht I. Auf der Suche nach der Angemessenheit II. Begrenzungsmöglichkeit nach § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG III. Kürzungsmöglichkeit nach § 87 Abs. 2 AktG 1. Verschlechterung der Lage der Gesellschaft, die eine Weitergewährung ­unbillig werden lässt

2. Kürzung von bereits verdienten, jedoch noch nicht ausgezahlten Bezügen 3. § 87 Abs. 2 AktG: Kürzung nur bei dem Vorstand „zurechenbarer“ ­Verschlechterung? 4. Gleichbehandlung der Vorstände IV. Ausblick

I. Auf der Suche nach der Angemessenheit Vorstandsvergütung ist immer ein Thema, wenn es um Gerechtigkeit geht. § 87 AktG begrenzt den Verdienst seit mehr als 80 Jahren auf das Angemessene – aber was ist schon angemessen? Hat die Frage nach dem iustum pretium der Vorstandstätigkeit alte Wurzeln, so ist sie noch immer aktuell: Theresa May brandmarkte überhöhte Vorstandsvergütungen noch vor etwa zwei Jahren als „unacceptable face of capitalism“,1 verwässerte dann aber ihre Reformideen. Die setzten am Vergleich des am schlechtesten bezahlten und des bestbezahlten Mitarbeiters eines Unternehmens an – und das Unternehmen sollte gezwungen werden, diesen Unterschied zu begründen. Ist das so dumm? „Die Gehälter der Dax-Chefs entfernen sich immer weiter von denen der Belegschaft. Post-Chef Frank Appel bekommt 232-mal so viel Gehalt wie der Durchschnitt seiner Mitarbeiter.“ titelte das Handelsblatt noch im vergangenen Jahr.2 Die SPD hatte noch kurz vor den letzten Bundestagswahlen einen Gesetzesvorstoß gemacht, wonach der Aufsichtsrat eine zulässige Maximaldifferenz für das Verhältnis der Vorstandsvergütung zum durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen festlegen sollte.3 Daraus ist nichts geworden, wie auch aus den britischen Plänen wohl doch nichts wird. Dennoch – und so hat es Eberhard Vetter bereits im Jahre 2009 betont – ist die Höhe der Vorstandsvergütung „ein zentrales Thema in der öffentlichen Diskussion“.4 1 Abrufbar unter https://www.bbc.com/news/uk-politics-41065485.  2 Abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/vorstandsbezah​ lung-die-gehaelter-der-dax-chefs-entfernen-sich-immer-weiter-von-denen-der-belegschaft/​ 22766348.html?ticket=ST-1081385-VQFMmfxbVecUgYS2Jshg-ap6; dazu, dass die USA wie immer noch einige Schritte weiter sind jüngst die Untersuchung des Economic Policy Institute, abrufbar https://www.epi.org/files/pdf/130354.pdf. 3 Abrufbar unter https://www.spdfraktion.de/system/files/documents/gesetzentwurf_manager-­ verguetungen_spdbt_final.pdf. 4 E. Vetter, ZIP 2009, 1307. 

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Die Sicherstellung der Angemessenheit der Bezüge steht dabei im Fokus. Bereits bei der Festsetzung der Gesamtbezüge eines einzelnen Vorstandsmitglieds muss der Aufsichtsrat – so sagt es § 87 Abs. 1 S. 1 AktG – „dafür […] sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen“. Ist eine einmal festgesetzte Vergütung angemessen, so kann sich indes infolge künftiger Entwicklungen die Unangemessenheit derselben ergeben. Es müssen daher Instrumente bestehen, die eine Vergütungsanpassung – insbesondere eine Vergütungsbegrenzung oder -senkung  – erlauben, um in Reaktion auf bestimmte Umstände die Angemessenheit wiederherstellen zu können. In § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG und § 87 Abs. 2 AktG sind Begrenzungs- bzw. Kürzungsmöglichkeiten vorgesehen, die den Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung bilden sollen: Ein Instrument, um präventiv eine unangemessene Vergütung bei unerwartet günstiger Entwicklung zu verhindern, ein Instrument, um repressiv eine unangemessene Vergütung bei unerwartet ungünstiger Entwicklung zu verhindern.

II. Begrenzungsmöglichkeit nach § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG Gemäß § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG soll der Aufsichtsrat für außerordentliche Entwicklungen eine Begrenzungsmöglichkeit variabler Vergütungsbestandteile vereinbaren. Die Regelung dient der Reaktion auf unerwartete Ereignisse nach Versprechen der variablen Vergütung und soll präventive Kautelen für zukünftige, möglicherweise eintretende Umstände sein. § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG verlangt – so formulierte es bereits Hüffer und so sagt es nun auch Koch exemplarisch  – „als Vertragselement Möglichkeit zur Begrenzung der Auswirkungen, die sonst von außerordentlichen Entwicklungen (Realisierung stiller Reserven, Zufluss liquider Mittel aus Veräußerung von Unternehmensteilen, Windfallprofits) ausgehen können. […] Nicht vorgeschrieben, aber im Interesse der Praktikabilität sinnvoll ist eindeutig eine definierte Höchstgrenze (Cap).“5 Ähnlich kommentiert Spindler den Telos der Regelung: „Indem die Bemessungsgrundlage der variablen Vergütung dadurch von positiven Sondereffekten bereinigt wird, soll verhindert werden, dass der Vorstand von außerordentlichen Entwicklungen profitiert, die mit seinen persönlichen Leistungen nichts zu tun haben (sog. „windfall profits“). Exemplarisch führt der Gesetzgeber Unternehmensübernahmen, Veräußerung von Unternehmensteilen, Hebung stiller Reserven sowie sonstige externe Einflüsse an. Bereits vor Einführung im Rahmen des VorstAG 2009, wurde über eine allgemeine gesetzliche Pflicht des Aufsichtsrats zur Vereinbarung einer Obergrenze diskutiert […]; letztlich ist der Gesetzgeber mit der Normierung des § 87 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 AktG der bereits seit dem Jahre 2003 in Ziff. 4.2.3 DCGK aF (und jetzt gestrichenen) Empfehlung des Corporate Governance-Kodex gefolgt.“6 Eindeutig ist hier also der Wille, auf unerwartete Ereignisse, die unabhängig von Leitungs-

5 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 16 unter Verweis auf Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 723 f.; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beil. zu Heft 26, Rz. 26. 6 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 96. 

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maßnahmen des Vorstandsmitglieds zu überplanmäßigen Gewinnen führen, nachträglich reagieren zu können. Dabei ist anerkannt, dass diesbezüglich verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Anstellungsvertrags zulässig sind; das Gesetz überlässt die konkrete Ausgestaltung der Begrenzungsmöglichkeit ausdrücklich dem Aufsichtsrat.7 So ist die Vereinbarung von Caps möglich, die eine feste höhenmäßige Begrenzung vorgeben.8 Auch kann dem Aufsichtsrat die Möglichkeit einer einseitigen Ermessensentscheidung im Falle außerordentlicher Entwicklungen eingeräumt werden, variable Vergütungen nicht voll auszuzahlen.9 Berücksichtigt man die Unsicherheiten, die sich aus der Begrenzung durch eine bloße Ermessensentscheidung des Aufsichtsrates ergeben, erscheinen vielen Kommentatoren Caps regelmäßig als vorzugswürdige Gestaltungsvariante.10 Sie sind freilich starrer und können damit eine Angemessenheit im Einzelfall vielleicht nur etwas gröber abbilden. Sofern die Vereinbarung sich als vorformulierte Vertragsbedingung i.S.v. § 305 Abs. 1 S. 1 BGB darstellt, sind dabei die AGB-rechtlichen Schranken zu beachten. Denn die Klausel ist, wenn sie eine Begrenzungsmöglichkeit im Falle außerordentlicher Entwicklungen festlegt, ein Änderungsvorbehalt und ein solcher ist am Klauselverbot des §  308 Nr.  4 BGB zu messen. Das bedeutet, „die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung [muss] unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar“ sein. Damit eine solche Regelung zumutbar nach § 308 Nr. 4 BGB ist, dürfen die „außerordentlichen Entwicklungen“ wohl nicht allzu weit verstanden werden. Das belegt ein Blick auf die Gesetzesmaterialien des VorstAG: Nach der gesetzgeberischen Intention soll durch die Regelung die Bemessungsgrundlage der variablen Vergütung um positive Sondereffekte bereinigt werden.11 Ausgangspunkt ist, dass variable Vergütungsbestandteile an bestimmte Parameter anknüpfen, an deren positiver Entwicklung der Vorstand teilhaben soll. Handelt es sich aber um eine außerordentliche Entwicklung – beispielhaft seien Unternehmensübernahmen, Veräußerungen von Unternehmensteilen, die Hebung stiller Reserven oder sonstige externe Einflüsse genannt –, dann ist es nicht sachgerecht, dass der Vorstand hiervon ohne Begrenzungsmöglichkeit profitiert.12 Gleichwohl muss sichergestellt werden, dass nicht durch ein allzu ausuferndes Verständnis der „außerordentlichen Entwicklungen“ die Angemessenheit der Vorstandsbezüge gefährdet wird – das dürfte eine enge Auslegung des Begriffs nahelegen. Deutlich wird: § 87 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. AktG dient der Abschöpfung überplanmäßiger Gewinne. Sofern diese nicht auf persönlichen Leistungen des Vorstandsmitglieds beruhen, soll dieses auch nicht davon profitieren können. Mit anderen Worten: Damit 7 BT-Drs. 16/13 433, S. 16.  8 BT-Drs. 16/13 433, S. 16.  9 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl 2019, § 87 Rz. 97. 10 MüKo-AktG/Spindler, 5.  Aufl 2019, §  87 Rz.  97; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beil. zu Heft 26, Rz. 26.  11 Eingehend Thüsing, AG 2009, 517, 521 f.; ebenso Fleischer, NZG 2009, 801, 803. 12 BT-Drs. 16/13 433, S. 16.

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die Vergütung angemessen bleibt, muss eine Begrenzungsmöglichkeit im Falle außerordentlicher Entwicklungen vorgesehen werden, die entweder als feste höhenmäßige Begrenzung oder als einseitige Ermessensentscheidung des Aufsichtsrates ausgestaltet werden kann.

III. Kürzungsmöglichkeit nach § 87 Abs. 2 AktG Szenenwechsel: Um auf eine unwillkommene wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft reagieren zu können, wurde vom Gesetzgeber das Instrument des § 87 Abs. 2 AktG vorgesehen. § 87 Abs. 2 AktG normiert, dass der Aufsichtsrat bei wesentlicher Verschlechterung der Lage der Gesellschaft die Bezüge des Vorstands herabsetzen soll. Die im Zuge des VorstAG eingefügte Formulierung „soll“ macht deutlich, dass den Aufsichtsrat im Regelfall die Verpflichtung zu einer Herabsetzung trifft und er nur bei Vorliegen besonderer Umstände davon absehen darf.13 Ein besonderer Umstand kann beispielsweise darin liegen, dass ein besonders qualifiziertes und damit „teures“ Vorstandsmitglied die Gesellschaft aus der schlechten Lage befreien soll.14 Das Recht zur Herabsetzung der Bezüge gemäß § 87 Abs. 2 AktG stellt ein einseitiges Gestaltungsrecht der AG dar, das durch eine Gestaltungserklärung, die der Aufsichtsrat als Vertreter der Gesellschaft gegenüber dem Vorstandsmitglied abgibt, ausgeübt wird.15 Es handelt sich wohl mit der h.M. um einen Sonderfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage16  – und bedürfte daher gar keiner ausdrücklichen vertraglichen oder gesetzlichen Regelung. Ein generelles Kürzungs- oder Begrenzungsrecht lässt sich indes – wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird – hiermit nicht vereinbaren. 1. Verschlechterung der Lage der Gesellschaft, die eine Weitergewährung unbillig werden lässt § 87 Abs. 2 S. 1 AktG verlangt für eine Herabsetzung der Bezüge auf die „angemessene Höhe“, dass sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung so verschlechtert hat, dass die Weitergewährung der festgesetzten Bezüge unbillig für die Gesellschaft wäre. Damit ist schon die erste Hürde denkbar hoch: Denn indem Anknüpfungspunkt eine derart gravierende Verschlechterung der Lage der Gesellschaft ist, dass eine Weitergewährung der Vergütung unbillig wäre, kann etwa eine nachträgliche Veränderung der Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds oder eine lediglich ungünstige Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft noch 13 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 196/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 43; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 66. 14 Behme, BB 2019, 451, 454. 15 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236. 16 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 166; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 60; Thüsing, AG 2009, 523; Fleischer, NZG 2009, 804; Klöhn, ZGR 2012, 1, 3, 22 ff.; Wittuhn/Hamann, ZGR 2009, 847, 852 f.; Diller, NZG 2009, 1006; Weller, NZG 2010, 7; Paschke in FS Reuter, 2010, S. 1107, 1110; Waldenberger/Kaufmann, BB 2009, 2257, 2261; a.A. Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 24.

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nicht für eine Herabsetzung der Bezüge genügen.17 Vielmehr muss sich ein Vorstandsmitglied darauf verlassen können, dass die im Rahmen seines Anstellungsvertrags vereinbarten Bezüge ihm auch tatsächlich gewährt werden. Ausgangspunkt ist dabei, dass das Anstellungsverhältnis eine Treu- und Fürsorgepflicht für die Gesellschaft begründet, der es widersprechen würde, wenn die Gesellschaft nicht auch ihre Pflichten aus dem Anstellungsvertrag erfüllt.18 Hiervon ausgehend ist § 87 Abs. 2 AktG restriktiv im Lichte der Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG auszulegen.19 Auch wenn das VorstAG die Anforderungen an eine Kürzung abgesenkt hat – nunmehr im Gegensatz zur Vorgängernorm keine „wesentliche“ Verschlechterung sowie „schwere“ Unbilligkeit mehr verlangt wird –, bleibt die Regelung dennoch ein „systematischer Fremdkörper“,20 wenn auch wohl nicht mehr „äußerster Notbehelf “21 wie zuvor. Sofern der Vorstand schon durch vorausschauende Vertragsgestaltung unter Einbeziehung variabler Vergütungselemente an Negativentwicklungen hinreichend partizipiert, bleibt für § 87 Abs. 2 AktG wenig Raum.22 Mehr noch – so sagt es Diller treffend: „Richtigerweise müssen auch künftig die wirtschaftlichen Schwierigkeiten so einschneidend und die Unbilligkeit so offensichtlich sein, dass es mit der Treuepflicht des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft gem. § 76 AktG unvereinbar wäre, wenn das Vorstandsmitglied auf Weiterzahlung der vereinbarten Vorstandsbezüge pochen würde.“23 Dazu bedarf es massiver Verwerfungen. Ist eine Gesellschaft insolvenzreif24 oder muss eine Gesellschaft mit Steuermitteln „gerettet“ werden, oder befindet sich die Gesellschaft in einer Notlage, „die die wirtschaftliche Existenz ernstlich bedroht“,25 würde ein Gericht wohl ohne Zögern eine Kürzung billigen.26 Genau dies sind Umstände, die die Begründung des durch das VorstAG neugefassten § 87 Abs. 2 AktG ausdrücklich genügen lässt: Beispielhaft führt die Gesetzesbegründung an, dass eine Verschlechterung der Lage der Gesellschaft etwa dann vorliegen kann, wenn Entlassun17 Heidel/Oltmanns, AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 Rz. 10; MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 164; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 60, 63; s. zu den hohen Anforderungen auch Schockenhoff, ZIP 2017, 1785, 1790.  18 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 164. 19 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 196/14, NJW 2016, 1236, 1238, Rz. 24; Heidel/Oltmanns, AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 Rz. 10.  20 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 24. 21 So noch MüKo-AktG/Spindler, 4. Aufl. 2014, § 87 Rz. 165; nun aber wird nur noch eine „zumindest einer gewichtigen mittleren Gefährdungslage für die Gesellschaft“ gefordert, s. MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 170; so schon – ohne von Spindler zitiert – Schlegelberger/Quassowski, AktG, 3. Aufl. 1939, § 75 Rz. 8. 22 Ihrig/Wandt/Wittgens, Beil. zu ZIP 2012, S. 20; Koch, WM 2010, 49, 52. 23 Diller, NZA 2009, 1006 f. 24 BGH v. 27.10.2015  – II ZR 296/14, NZG 2016, 264; OLG Frankfurt v. 25.5.2011  – 7 U 268/08, WM 2011, 2226. 25 So der Maßstab des LG Essen v. 10.2.2006 – 45 O 88/05, NZG 2006, 356 – allerdings zum alten Recht. 26 Dann auch bei Arbeitnehmern und gegen den Wortlaut der Zusage: BAG v. 29.8.2012 – 10 AZR 385/11, NZA 2013, 148. 

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gen oder Lohnkürzungen vorgenommen werden müssen und keine Gewinne mehr ausgeschüttet werden können. Eine Weiterzahlung der Bezüge sei dabei insbesondere dann „unbillig“, wenn dem Vorstandsmitglied pflichtwidriges Handeln vorzuwerfen oder ihm die Verschlechterung als Bereich seiner Vorstandsverantwortung jedenfalls zurechenbar sei.27 Das hat Gewicht, auch wenn nicht wenige Kommentatoren dieser Interpretation der Norm nicht einschränkungslos folgen: Es wird im Schrifttum teilweise dafür plädiert, die in der Begründung genannten Indizien einschränkend auszulegen, „da etwa Lohnkürzungen und Entlassungen in konjunkturellen Wellenbewegungen unternehmerischen Handelns nicht zwingend krisenhafte Zuspitzung signalisieren“28 würden. Man mag über den Wert von Gesetzesmaterialien bei der Auslegung lange nachdenken,29 doch muss man wohl in der Tat berücksichtigen, dass sowohl Lohnkürzungen als auch Entlassungen Maßnahmen im Rahmen einer vom Vorstand beschlossenen Unternehmensstrategie sind, die oftmals sinnvoll sein mag, aber vielleicht nicht zwingend durch die wirtschaftliche Lage geboten. Die Gewährung der zugesagten Vorstandsvergütung wird dadurch allein wohl noch nicht unbillig. Denn schon über die künftig versprochene variable Vergütung ist in einem gewissen Umfang – der Billigkeit – eine Anpassung der Vorstandsvergütung an die wirtschaftlichen Gegebenheiten und die ggf. durch ein Verhalten der Vorstandsmitglieder verursachten Probleme möglich. Erst wenn diese Kürzungsmöglichkeit, die durchaus erheblichen Einfluss auf das Gehalt der Vorstandsmitglieder hat, nicht mehr ausreicht, ist eine Anwendung der Kürzungsmöglichkeit des § 87 Abs. 2 AktG geboten. Dabei müssten darüber hinaus verschiedene Gestaltungen  – die sich in der Praxis regelmäßig finden – berücksichtigt werden, die im konkreten Fall die Anwendung des § 87 Abs. 2 AktG ausschließen können. Das betrifft zunächst bereits bestehende vertragliche Gestaltungsvarianten zur Anpassung: Es muss – bevor ein Rückgriff auf § 87 Abs. 2 AktG vorgenommen werden kann – eine Prüfung erfolgen, ob nicht bereits 27 BT-Drs. 16/12278, S. 6; s. auch BGH v. 27.10.2015 – II ZR 196/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 39; hierzu auch Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 64; hierzu noch ausführlich unter III. 3.  28 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 25 unter Verweis auf Diller, NZG 2009, 1006; Hohenstatt, ZIP 2009, 1349, 1352; Ihrig/Wandt/Wittgens, Beil. zu ZIP 40/2012, S. 20; Koch, WM 2010, 51, 53 f. Vorsichtig auch u.a. Fleischer, NZA 2009, 803, 804: „Allerdings dürfte eine Verschlechterung der Lage i.S. des § 87 Abs. 2 S. 1 AktG entgegen den Gesetzesmaterialien keineswegs immer schon dann anzunehmen sein, wenn die Gesellschaft Entlassungen oder Lohnkürzungen vornimmt und keine Gewinne mehr ausschütten kann.“ 29 Diese haben durchaus Gewicht in der Argumentation des BGH, s. z.B. BGH v. 19.6.2009 – V ZR 93/08, NJW 2009, 2674, 2675: „Aus den Materialien ergibt sich mit aller Klarheit …“. Gegen eine Berücksichtigung der Materialien dagegen tendenziell starke Strömungen im angloamerikanischen Rechtskreis: vgl. In re Sinclair, 70 F.2d 1340, 1343 (7th Cir. 1989) (Easterbrook): „If you can’t get your proposal into the bill, at least write the legislative ­history to make it look as if you’d prevailed.”; noch bündiger Wisconsin Public Intervenor v. Mortier, 501 U.S. 597, 621 (1991) (Scalia): „We are a government of laws, not of committee reports.”

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durch die vertraglichen Regelungen oder den Verzicht auf zukünftige variable Vergütung ein angemessenes Vergütungsniveau erreicht werden kann. Daneben ist auch ein vergleichender Blick in die Vergangenheit sinnvoll: Wie sah die Kürzungspraxis in der Vergangenheit aus? Sofern es Präzedenzfälle gab, ist eine frühere Kürzungspraxis geeignet, die Erwartungen für die Zukunft zu bestimmen, sofern rechtfertigende Unterschiede fehlen. Auch kann relational zu anderen Mitarbeitern argumentiert werden, indem geprüft werden kann, wie die Gesellschaft in Bezug auf die Kürzung der Bezüge sonstiger Mitarbeiter, die ein den Vorständen ähnliches Gehalt beziehen, verfährt. Weniger aussagekräftig, aber im erweiterten Blick mit heranzuziehen wäre auch ein Vergleich zu anderen Unternehmen. Das Ergebnis einer dann erfolgenden Kürzung müsste eine „angemessene“ Vergütung sein. Dies muss nicht notwendig das sein, was man einem Vorstand zahlen müsste, würde er in der jetzigen Situation neu angestellt,30 weil dies die Mitverursachung des Vorstands außen vor ließe. Es gelten die allgemeinen Maßstäbe der Angemessenheit nach § 87 Abs. 1 AktG. Die Beweislast für die Angemessenheit des verbleibenden Entgelts trägt die Gesellschaft. Freilich bestehen damit Unsicherheiten. Letztlich sind die Anforderungen an die ­Absenkung nicht zu überspannen. Dies gilt umso mehr, als das VorstAG 2009 der Regelung, die bislang in Praxis und Literatur kaum Beachtung fand,31 neues Leben einzuhauchen versucht: „Die Voraussetzungen für eine solche Herabsetzung wurden deutlich abgesenkt“.32 Eine allzu zurückhaltende, einschränkende Auslegung entspricht insoweit nicht dem Willen des Gesetzgebers, der dem bislang papiernen Recht […] zu größerer praktischer Wirksamkeit verhelfen [wollte]“33 – wenngleich auf der anderen Seite auch ein allzu weites Verständnis vor dem Hintergrund einer verfassungskonformen Auslegung nicht geboten erscheint, da auch dies die Angemessenheit der Vorstandsbezüge gefährden kann. Denn zu berücksichtigen ist, dass die Vorschrift des § 87 Abs. 2 AktG – und so sagt es auch der BGH – „keine Herabsetzung der Bezüge des Vorstandsmitglieds, die weiter geht, als es die Billigkeit angesichts der Verschlechterung der Lage der Gesellschaft erfordert“,34 erlaubt – und die Grenze der Billigkeit darf unter Berücksichtigung der Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG nicht niedrig angesetzt werden.35 Insgesamt dürfte damit der ausgewogene Weg „irgendwo in der Mitte“ liegen. Die Billigkeit ist die Gerechtigkeit des Einzelfalls und eignet sich nicht für allzu pauschale Urteile. Eine Kürzung der gesamten variablen Vergütung ist angreifbarer als ein nur teilweiser Wegfall. Das Verhältnis von Festvergütung und variabler Vergütung ist da-

30 So aber noch OLG Stuttgart v. 1.10.2014 – 20 U 3/13, NZG 2015, 194, 196, Rz. 35. 31 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 170. 32 Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 35. 33 Fleischer, NZG 2009, 804 unter Rückgriff auf eine Formulierung von Martens, ZHR 169 (2005), 124, 130. 34 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 196/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 45. 35 In diese Richtung auch Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 60. 

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bei zu berücksichtigen – ebenso die ggf. für die Zukunft neu festzusetzenden Parameter der variablen Vergütung. 2. Kürzung von bereits verdienten, jedoch noch nicht ausgezahlten Bezügen Weitere Unsicherheiten sind im Hinblick auf die Kürzung bereits verdienter, aber noch nicht ausgezahlter Bezüge zu wägen: Die überwiegende Ansicht geht davon aus, dass eine Vergütung nach § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG nur dann gekürzt werden kann, wenn sie noch nicht verdient wurde.36 Dies wird aus der Zukunftsbezogenheit der Norm hergeleitet, die dazu führe, dass grundsätzlich nur noch nicht verdiente Vergütung gekürzt werden könne. Als Begründung hierfür wird auf den Wortlaut der Norm verwiesen, der auf die „Weitergewährung“ der Bezüge abstelle. Eine „Weitergewährung“ umfasse bereits dem Wortsinne nach nicht die Rückforderung geleisteter Zahlungen.37 Eine Unterscheidung zwischen ausgezahlter und nicht ausgezahlter Vergütung, die bereits verdient sei, lasse sich dem Wortlaut der Vorschrift jedoch nicht entnehmen.38 So könne beispielsweise rückständiges Gehalt nicht mehr nach §  87 Abs. 2 Satz 1 AktG herabgesetzt werden.39 Umstritten ist insbesondere die Behandlung bereits verdienter, aber noch nicht ausgezahlter Jahresboni.40 Der wohl überwiegende Teil im Schrifttum spricht sich dafür aus, sie „als schon erarbeitete Expektanz dem Anwendungsbereich des § 87 II zu entziehen“.41 Denn weder aus dem Wortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien könne anderes hergeleitet werden; im Gegenteil ergebe sich aus dem Ausnahmecharakter der Vorschrift sowie aus den verfassungsrechtlich gebotenen hohen Anforderungen, dass auch verdiente Boni nicht herabgesetzt werden könnten.42 Teils bejaht man hingegen die Möglichkeit zur Herabsetzung bereits verdienter jährlicher Leistungen, die noch nicht ausgezahlt wurden, unter Berufung auf einen Vergleich mit der ebenfalls bereits verdienten Altersversorgung, die ausdrücklich in § 87 36 Vgl. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 39; KölnerKommAktG/ Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 102; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz.  72; DAV Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612, 614; Dauner-Lieb, Der Konzern, 2009, S. 583, 590; Hoffmann-Becking/Krieger, NZG 2009, Beilage zu Heft 26 Rz. 36; Koch, WM 2010, 49, 57; Wilsing/Kleißl, BB 2008, 2422, 2424; zu § 87 Abs. 2 AktG aF auch LG Stuttgart v. 28.5.2010 – 31 O 56/09, BeckRS 2010, 13182: „Jedenfalls erlaubt § 87 Abs. 2 AktG nur eine Anpassung der laufenden Vergütung, nicht aber eine Rückwirkung auf bereits verdiente Bezüge, auch wenn sie noch nicht ausgezahlt sind“ – dort als allg. Meinung bezeichnet. 37 MüKo-AktG/Spindler, 5.  Aufl. 2019, §  87 Rz.  207; GroßKommAktG/Kort, 5.  Aufl. 2015, § 87 Rz. 431.  38 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 207. 39 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 207; Wilsing/Kleißl, BB 2008, 2422, 2424. 40 Hierzu ausführlich Koch, WM 2010, 49, 57; MüKo-AktG/Spindler, 5.  Aufl. 2019, §  87 Rz. 207.  41 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 27; MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 207; Koch, WM 2010, 49, 57.  42 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 207. 

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Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung

Abs. 2 Satz 2 AktG genannt wird.43 Zwar sei zutreffend, dass die Norm keine Rückwirkung der Herabsetzung erlaube. Soweit ein ‚verfehlter‘, aber rechtmäßig festgesetzter Bonus einmal erworben und ausgezahlt worden sei, könne er nicht mehr herabgesetzt werden. Damit könne die Änderung die Auszahlung von hohen Boni, die aus vorherigen Geschäftsjahren stammen, auch dann nicht verhindern, wenn sich die Gesellschaft inzwischen in einer Krise befinde. Sei der Bonus dagegen noch nicht ausgezahlt, könne indes anderes gelten, wie das Beispiel der betrieblichen Altersversorgung deutlich macht, die mit der Einfügung des § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG nun klar in das Herabsetzungsrecht einbezogen worden sei. Auch diese sei bereits erworben, und dennoch solle eine Herabsetzung möglich sein. Ein Parallelschluss liege näher als ein Gegenschluss. Noch nicht ausgezahlte Vergütungsbestandteile trügen damit den gesetzesimmanenten Vorbehalt der Herabsetzbarkeit in sich.44 Hierfür spreche auch die Zielrichtung des Gesetzes.45 Höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Problem fehlt bislang. Die Stimmen aus der rechtswissenschaftlichen Literatur sind zu wägen, nicht zu zählen. Ältere Stellungnahmen scheinen nur begrenzt verwertbar, denn durch das VorstAG hat der Gesetzgeber die Herabsetzungsmöglichkeit für Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art benannt, und diese dann zugleich einer Restriktion („nur drei Jahre nach Ausscheiden aus der Gesellschaft“) unterworfen. Er war sich des Streits über das Problem bewusst, die Herabsetzungsmöglichkeit auf bereits verdiente Vergütung zu beziehen und hat dies exemplarisch für bestimmte Vergütungsbestandteile ausdrücklich als zulässig benannt, wenn auch zeitlich begrenzt bei bereits beendeten Anstellungsverträgen – eben aus dem Sinn heraus, dass Ruhegehälter oftmals erst viele Jahre nach Beendigung des Anstellungsvertrags fällig werden. Das scheint mir ein gewichtiges, entscheidendes Argument. Dies gilt umso mehr, als nach der amtlichen Gesetzesbegründung zum VorstAG die Herabsetzungsmöglichkeit in § 87 Abs. 2 S. 1 AktG auch Ansprüche erfasst „auf Auszahlung der Restlaufzeit des Vertrags bei Entlassung des Vorstands“46 – auch die sind aber bereits verdient worden. Daher sprechen die besseren Gründe dafür, dass eine Kürzung auch bei verdienten, aber noch nicht ausgezahlten Vergütungsbestandteilen möglich sein dürfte. In den Gesetzesmaterialien zum VorstAG findet sich diesbezüglich kein einschränkender Hinweis. Zudem ist eine solche Auslegung vom Wortlaut gedeckt und entspricht überdies der Systematik: Es handelt sich bei der Regelung des § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG

43 Thüsing, AG 2009, 517, 522; ebenso dann Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 728; Diller, NZG 2009, 1006, 1008.  44 Thüsing, AG 2009, 517, 522; zust. Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 728; Diller, NZG 2009, 1006, 1008; differenzierend Koch, WM 2010, 49, 57; a.A. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 39: „Angesichts ihres problematischen Ausnahmecharakters erlaubt die Einbeziehung der Altersvorsorge auch keinen Parallelschluss für eine nach der bisherigen Vertragslage angefallene, aber noch nicht ausgezahlte Vergütung; sehr viel näher liegt ein Umkehrschluss“. 45 Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 728. 46 BT-Drs. 16/12278, S. 6.

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wohl mit der h.M. um einen Sonderfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage,47 was für die Erfassung bereits verdienter Vergütungsbestandteile spricht. Dem entspricht wohl auch die Praxis: Die Commerzbank hat gestützt auf § 87 Abs. 2 AktG sogar – so kann man den Geschäftsbericht 200948 verstehen – bereits ausge­ zahlte Gehaltsbestandteile zurückgefordert. Dem Geschäftsbericht zufolge erhielt das ehemalige Vorstandsmitglied Bernd Knobloch im Hinblick auf die Dresdner Bank-­ Transaktion aufgrund einer entsprechenden Bestimmung des Aufhebungsvertrags vom 31.8.2008 eine Zahlung in Höhe von 1113 Tsd. Euro, wobei die Höhe der Ansprüche zwischen den Parteien umstritten war. Auf der Grundlage des § 87 Abs. 2 AktG forderte die Bank nach einer Herabsetzung eine Teilrückzahlung.49 Die Praxis scheint mithin sogar weiter zu gehen, indem die Möglichkeit der Kürzung bereits ausgezahlter Vergütungsbestandteile vorausgesetzt wird. Richtigerweise tritt die Problematik der Behandlung bereits verdienter, aber noch nicht ausgezahlter Vergütungsbestandteile im Rahmen des Anwendungsbereichs des § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG aber in den Hintergrund; viel entscheidender ist indes die Bestimmung der Billigkeit i.S. des § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG: So kann – und das ist evident – die Kürzung bereits verdienter Bestandteile eher unbillig sein als der Eingriff in künftige Erwartungen. Denn das Maß des Vertrauensschutzes ist hier ein anderes. Dies zeigt sich auch an der Billigkeitskontrolle in anderen Bereichen, die von dem spezifischen Vertrauensschutzniveau abhängt. Exemplarisch kann hier auf die Änderung betrieblicher Altersversorgung bei Arbeitnehmern verwiesen werden. Das BAG überprüft in ständiger Rechtsprechung auf der Basis der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit Eingriffe in Betriebsrentenanwartschaften anhand eines dreistufigen Schemas:50 Die Kürzung eines bereits erdienten und nach den Grundsätzen des § 2 BetrAVG errechneten Teilbetrags darf nur in seltenen Ausnahmefällen erfolgen; vorausgesetzt sind hierbei zwingende Gründe. Bei Eingriffen in eine erdiente Dynamik, etwa solchen, „die das Vertrauen des Arbeitnehmers enttäuschen, er werde das von ihm Erdiente in Relation zu dem beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis erreichten Endgehalt beziehen“,51 bedarf es eines triftigen Grundes. Bei Eingriffen in künftige und somit noch nicht erdiente dienstzeitabhängige Zuwächse bestehen die niedrigsten Anforderungen: Ausreichend sind nach Ansicht des BAG sachlich proportionale Gründe.52 Der Pendelblick auf die Änderung betriebli47 Thüsing, AG 2009, 523; Fleischer, NZG 2009, 804; Klöhn, ZGR 2012, 1, 3, 22 ff.; Wittuhn/ Hamann, ZGR 2009, 847, 852 f.; Diller, NZG 2009, 1006; Weller, NZG 2010, 7; Paschke in FS Reuter, 2010, S. 1107, 1110; Waldenberger/Kaufmann, BB 2009, 2257, 2261. 48 Geschäftsbericht 2009, abrufbar unter https://www.commerzbank.de/media/aktionaere/ service/archive/konzern/2010_2/CBK_2009_Geschaeftsbericht_2.pdf. 49 Geschäftsbericht 2009, S.  49, abrufbar unter https://www.commerzbank.de/media/aktio​ naere/service/archive/konzern/2010_2/CBK_2009_Geschaeftsbericht_2.pdf. 50 BAG v. 10.11.2015  – 3 AZR 392/14, BeckRS 2016, 66255, Rz.  17; v. 15.5.2012 − 3 AZR 11/10, NZA-RR 2012, 433, 436, Rz. 25 m.w.N. 51 BAG v. 10.11.2015  – 3 AZR 392/14, BeckRS 2016, 66255, Rz.  17; v. 15.5.2012 − 3 AZR 11/10, NZA-RR 2012, 433, 436, Rz. 25 m.w.N. 52 BAG v. 10.11.2015  – 3 AZR 392/14, BeckRS 2016, 66255, Rz.  17; v. 15.5.2012 − 3 AZR 11/10, NZA-RR 2012, 433, 436, Rz. 25 m.w.N.

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Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung

cher Altersversorgung bei Arbeitnehmern verdeutlicht, dass es bei der Billigkeitsprüfung auf die Ermittlung des Maßes an Vertrauensschutz ankommt. Mithin ist weniger die Eröffnung des Anwendungsbereichs bei bereits verdienten, jedoch noch nicht ausgezahlten Vergütungsbestandteilen bzw. die Differenzierung zwischen bereits verdienten und noch nicht verdienten Vergütungsbestandteilen problematisch, als vielmehr die Bestimmung der Billigkeit – die in Abhängigkeit von dem spezifischen Vertrauensschutzniveau erfolgen muss. Bei einem Defizit in historischem Ausmaß, erheblichem Personalabbau und dem Verzicht auf die Dividende kann aber auch die hohe Messlatte der Billigkeit beim Eingriff in bereits verdiente, aber noch nicht aus­ gezahlte Vergütungsbestandteile erfüllt sein. Wenn andere, vertragsimmanente Wege einer Vergütungsanpassung hin zum angemessenen Niveau nicht zur Verfügung stehen, dann kann mithin auch ein Eingriff in bereits verdiente Vergütungsbestandteile mit vielleicht sogar zwingenden Gründen begründet werden. 3. § 87 Abs. 2 AktG: Kürzung nur bei dem Vorstand „zurechenbarer“ Verschlechterung? Schließlich bedarf es der Klärung der Frage, ob eine Kürzung nur bei dem Vorstand zurechenbarer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage möglich ist, und, falls dies zu bejahen ist, wie die Zurechenbarkeit zu konkretisieren wäre. Wie bereits dargelegt, wird in der Gesetzesbegründung des durch das VorstAG neugefassten § 87 Abs. 2 AktG ausdrücklich eine Zurechenbarkeit der Verschlechterung der Lage der Gesellschaft gefordert, damit die Weiterzahlung der Bezüge „unbillig“ im Sinne des § 87 Abs. 2 S. 1 AktG ist: So sei die Weitergewährung insbesondere dann „unbillig“, wenn dem Vorstandsmitglied pflichtwidriges Handeln vorzuwerfen oder ihm die Verschlechterung im Rahmen seiner Vorstandsverantwortung zurechenbar sei. Maßgeblich sei dabei nicht nur die „Unbilligkeit“ der Gesellschaft.53 In der Literatur stößt das Kriterium der Zurechenbarkeit, durch das ein Verantwortungs- und Sanktionselement Einzug findet,54 weitgehend auf Zustimmung.55 Die Prüfung der Unbilligkeit wird dabei dahingehend konkretisiert, dass eine Würdigung der Gesamtumstände des konkreten Einzelfalls erfolgen müsse, die zugleich die persönlichen Verhältnisse des jeweiligen Vorstandsmitglieds berücksichtigen müsse. Hierbei sei maßgeblich, inwiefern die Geschäftsführungstätigkeit des Vorstandsmitglieds ursächlich für die Verschlechterung der Lage der Gesellschaft sei. Das bedeute  – so führen Mertens/Cahn aus –, dass je gravierender die Fehlleistung des Vorstandsmitglieds sei, desto eher man die Fortgewährung der festgesetzten Bezüge als Unbilligkeit für die Gesellschaft einordnen könne.56 Dabei sei indes nicht zwingend erforderlich, dass das Vorstandsmitglied pflichtwidrig handele; vielmehr wird es als 53 BT-Drs. 16/12278, S. 6; s. auch BGH v. 27.10.2015 – II ZR 196/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 39; hierzu auch Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 64.  54 Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 26.  55 So etwa Heidel/Oltmanns, AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 Rz. 10; KölnerKommAktG/Mertens/ Cahn, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 95.  56 KölnerKommAktG/Mertens/Cahn, 3. Aufl. 2010, § 87 Rz. 95. 

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ausreichend erachtet, wenn die Verschlechterung der Lage in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Vorstandsverantwortung des Mitglieds steht und daher ihm zurechenbar ist.57 Eine Zurechenbarkeit liege dann vor, wenn aufgrund unternehmerischer Entscheidungen oder deren Unterlassen sich jedenfalls eine (Mit-)Verur­ sachung der Verschlechterung – und sei sie auch nicht verschuldet – ergebe. Das sei insbesondere in Fällen relevant, in denen unternehmerische Entscheidungen durch die Business Judgement Rule i.S.v. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG privilegiert würden und daher keine Schadensersatzpflicht auslösten, jedoch bei der Entscheidung über die Herabsetzung der Bezüge Berücksichtigung finden könnten.58 In diese Richtung dürfte auch der BGH tendieren, der unter Verweis auf die aufgrund der eigenverantwortlichen Leitungsmacht des Vorstandsmitglieds gemäß § 76 Abs. 1 AktG bestehenden Treupflicht darlegt, bei einer zurechenbaren Verschlechterung könne „in besonderem Maße aus Billigkeitsgründen eine Herabsetzung der Vergütung“59 geboten sein. Denn bei der Billigkeit seien sämtliche Umstände des Einzelfalls in die Abwägung einzubeziehen, insbesondere auch, „in welchem Grad die Verschlechterung dem Vorstandsmitglied zurechenbar [sei] und ob er sie gegebenenfalls sogar pflichtwidrig herbeigeführt ha[be]“.60 Die Befugnis zur Kürzung der Bezüge sei daher „ersichtlich an die Bedingung geknüpft, dass deren Weitergewährung für die Gesellschaft angesichts der dem Vorstand zurechenbaren Verschlechterung der Lage der Gesellschaft unbillig“61 sei. Teilweise ist das Kriterium der „Zurechenbarkeit“ jedoch in der Literatur auch auf harte Kritik gestoßen,62 da es diffus und nicht klar zu fassen sei: Ausgangspunkt dieser Ansicht ist, dass die Tatbestandsmerkmale „Verschlechterung“ und „Unbilligkeit“ einer getrennten Betrachtung bedürften und kumulativ gegeben sein müssten. Die Formulierung „so…, dass…“ in § 87 Abs. 2 Satz 1 AktG lege zwar eine Verknüpfung der Merkmale nahe; eine dem Vorstandsmitglied zurechenbare Verschlechterung könne gleichwohl nicht verlangt werden. Denn, wie Kort darlegt, könne damit „[b]ei näherer Betrachtung […] nur eine pflichtwidrig-schuldhafte Verursachung der Verschlechterung der Lage der AG durch die Vorstandsmitglieder gemeint sein. Mit anderen Worten wäre also eine Weitergewährung der Vorstandsbezüge nur dann unbillig, wenn sich die Lage der Gesellschaft gerade durch ein pflichtwidriges und schuldhaftes Handeln der Vorstandsmitglieder verschlechtert hat“ 63  – eine nicht schuldhafte sonstige Zurechnung sei daher abzulehnen.

57 Heidel/Oltmanns, AktG, 4. Aufl. 2014, § 87 Rz. 10; Hölters/Weber, AktG, 3. Aufl. 2017, § 87 Rz. 49; Hüffer/Koch/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 87 Rz. 26; MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 179.  58 MüKo-AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 87 Rz. 179; Spindler, DB 2015, 908, 909. 59 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 45. 60 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236, 1241, Rz. 47.  61 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236, 1240, Rz. 45.  62 Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  87 Rz.  35; GroßKommAktG/Kort, 5. Aufl. 2015, § 87 Rz. 408.  63 GroßKommAktG/Kort, 5. Aufl. 2015, § 87 Rz. 408.

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Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung

Die Kritik an der Einführung dieses Kriteriums in der Begründung des Gesetzes ist nachvollziehbar. Der Gesetzgeber hat mit dem VorstAG hinsichtlich der Herabsetzungsmöglichkeit durch die Verknüpfung der „Unbilligkeit“ mit der Vorstandsverantwortung in §  87 Abs.  2 AktG einen Paradigmenwechsel vollzogen, der in dem Gesetzestext jedoch keinen klaren Ausdruck findet.64 Eine Anknüpfung an eine – wie auch immer zu verstehende – „Zurechenbarkeit“ wird vom Wortlaut der Norm nicht gefordert.65 Auch kann sie sich nicht auf Anhaltspunkte in den Materialien vor 2009 stützen und findet sich dementsprechend auch nicht im älteren Schrifttum. Überdies steht das Zurechnungskriterium wiederum im Spannungsverhältnis zur Systematik der Norm:66 Auch der Wegfall der Geschäftsgrundlage ermöglicht eine Vertragsanpassung gerade auch bei beidseitig nicht zurechenbarem Wegfall67 – dann muss konsequenterweise auch eine Kürzung unabhängig von einer zurechenbaren Verschlechterung möglich sein. Allerdings gilt auch hier: Der Grad der Zurechenbarkeit dürfte im Rahmen der von §  87 Abs.  2 AktG geforderten Zurechenbarkeit der Verschlechterung durchaus berücksichtigungsfähig sein  – aber als weiches, graduelle Kriterium, nicht als hartes Ausschlusskriterium, das nur im Sinne eines Ja/Nein strukturiert ist. Damit bleibt freilich offen, wie diese Zurechenbarkeit zu konkretisieren ist. Eine stufenweise Annäherung ist möglich: Zurechenbarkeit kann sicherlich nicht dahingehend verstanden werden, dass eine Pflichtverletzung des Vorstands erforderlich wäre, die für die verschlechterte Lage kausal ist. Es geht nicht um Schadensersatzansprüche, sondern um die Kürzungsmöglichkeit einer Vergütung. Verschulden kann hier nicht Voraussetzung der Verantwortlichkeit sein. Zweitens dürfte für eine Zurechenbarkeit auch nicht notwendig eine Kausalität des Tuns oder Unterlassens des jeweiligen Vorstands für die eingetretene Verschlechterung erfordern. Dies dürfte ohnehin regelmäßig schwer nachzuweisen sein. Auch eine solche, weitgehende Einschränkung des Kürzungsrechts bedürfte deutlicherer Hinweise im Gesetz und seiner Entstehung. Wenn man aber das Erfordernis der Zurechenbarkeit anerkennt, dann muss man es in einem weiten Sinne als äußerste Grenze billiger Kürzung begreifen. Es bedarf doch der Verantwortung des Vorstands in irgendeiner noch greifbaren Art, etwa zumindest im Sinne seiner Leitungsverantwortung: Die Verschlechterung muss seinen Grund im Unternehmen haben und darf damit nicht allein auf ggf. unvorhersehbaren, rein externen Einflüsse beruhen – und die Verschlechterung darf auch nicht allein durch solche Umstände bedingt sein, die zu einem Zeitpunkt eintraten, als der Vorstand noch nicht oder nicht mehr Vorstand war. Würde man die Zurechenbarkeit weiter fassen, dann verlöre sie jegliche Kontur. Festzuhalten bleibt damit, dass die Zurechenbarkeit als Teil der Leitungsverantwortung des Vorstands zwar nicht als allzu starres 64 Bauer/Arnold, AG 2009, 717, 726. 65 Darauf stützt auch ihre Kritik Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  87 Rz. 35. 66 Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 35.  67 Prägnant Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 87 Rz. 64: Das Zurechenbarkeitserfordernis „läuft dem bisherigen Verständnis der Vorschrift zuwider, wonach die persönliche Leistung des einzelnen Vorstandsmitglieds gerade keine ausschlaggebende Rolle spielt“.

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Kriterium zu begreifen ist, jedoch in die Abwägung im Rahmen der Billigkeitsprüfung Einzug finden kann und – um die Herabsetzung auf ein angemessenes Vergütungsniveau zu gewährleisten – im Einzelfall auch finden muss. 4. Gleichbehandlung der Vorstände Weniger Probleme bestehen bei der Frage der Gleichbehandlung aller Vorstände. Es mag eine Pflicht zur Gleichbehandlung der Vorstände geben, auch wenn das Ausmaß unklar ist und die Rechtsprechung hierauf bislang nur sporadisch Bezug genommen hat.68 Diese verbietet aber nur die Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund – die übrigens ebenso einer Billigkeit der Kürzung nach § 87 Abs. 2 AktG entgegenstehen dürfte. Denn die Billigkeit ist die Gerechtigkeit des Einzelfalls, die durch Ungleich­ behandlung ohne sachlichen Grund in Frage gestellt wird. Der sachliche Grund kann aber ggf. in einer unterschiedlichen Zurechenbarkeit liegen oder sonstigen legitimen Gründen wie unterschiedlichen persönlichen Verhältnissen.69 Die Ungleichbehandlung ist damit rechtfertigungspflichtig, aber ggf. auch rechtfertigungsfähig. Sie ist dann mehr eine Frage taktvoller Vergütungspolitik als eine Rechtsfrage.

IV. Ausblick Vorstandsvergütung muss angemessen sein. Dabei sind wir bei der Suche nach der Angemessenheit freilich noch lange nicht am Ende angekommen. Alte Streitigkeiten bestehen, neue Impulse kommen aus Europa. Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechte-Richtlinie (ARUG II) zeigt, wo es hingehen kann. Ziel ist nach dem Referentenentwurf „insbesondere die Förderung der Mitwirkung der Aktionäre im Sinn einer langfristig stabilen positiven Entwicklung der Unternehmen“.70 Die Anleger sollen alle vier Jahre ihr Votum über die Be­züge der Unternehmensspitze abgeben sowie bei wesentlichen Änderungen des ­Vergütungssystems. Zudem müssen nun Vorstand und Aufsichtsrat jährlich einen Vergütungsbericht über ihre Vergütung im vorausgegangenen Geschäftsjahr vorlegen, den die Hauptversammlung billigen muss. Notwendiger Bestandteil dieses Berichts ist eine Erklärung, wie sich die Managerbezüge im Verhältnis zur durchschnittlichen Belegschaftsvergütung in den letzten fünf Jahren entwickelt haben. Es gilt: „Sunlight is the best policeman“ – Transparenz und Verfahren sollen Instrumente zur Gewährleistung des materiellen Erfordernisses der Angemessenheit sein. Das Petitum der Publizität ist bereits 68 S. BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236, 1241, Rz. 53; OLG Düsseldorf v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, 15 U 225/02, Rz. 35 f., NZG 2004, 141, 143; ausführlich Thüsing in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 6 Rz. 12. 69 S. hierzu auch BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236, 1241, Rz. 53; kritisch Hölters/Weber, AktG, 3. Aufl. 2017, § 87 Rz. 49, der auf das Prinzip der Gesamtverantwortung hinweist. 70 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechte-Richtlinie (ARUG II), abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ RefE_Aktionaersrechterichtlinie_II.pdf?__blob=publicationFile&v=1, S.  29; s. zum Ganzen auch Diekmann, BB 2018, 3010 ff.

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Begrenzung und Kürzung von Vorstandsvergütung

de lege lata ein die Angemessenheit sicherndes Instrument im Gesellschaftsrecht, wie Regelungen wie §§ 285 S. 1 Nr. 9 lit. a S. 1, 314 Abs. 1 Nr. 6 lit. a S. 1 HGB zeigen. Indem auf diese Weise Transparenz hergestellt wird, sind Aussagen dazu möglich, ob die Bezüge i.S.d. § 87 Abs. 1 S. 1 AktG angemessen sind. Nunmehr soll die Mitwirkung der Anleger als formelles Sicherungsinstrument hinzutreten: Der Effekt stärkerer Aktionärseinbindung in die Vergütungsentscheidungen einer Gesellschaft ist jetzt schon seit mehreren Jahren Gegenstand intensiver empirischer Forschung. Ein gemeinsamer Tenor all dieses Suchens hat sich indes noch nicht herausgebildet.71 So­ lange wir also noch im Dunkeln tappen über die konkreten Effekte, müssen Regeln vernünftigen Vermutens als legitime Grundlage politischen Handelns genügen. Die Suche wird also weitergehen  – Eberhard Vetter wird als leidenschaftlicher Gesellschaftsrechtler hierzu sicherlich gewichtige Beiträge leisten. Auch in diesem Sinne: ad multos annos!

71 Immer noch lesenswert Bebchuks und Frieds Streitschrift „Pay without Performance“, 2005; jüngere Stellungnahmen finden sich reichlich und einfach zugänglich bei ssnr.com.

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Jörgen Tielmann

Der Bezugspreis1 – Ein Beitrag zu den rechtlichen Maßgaben für seine Festsetzung – Inhaltsübersicht I. Das Verhältnis vom Bezugspreis zum Ausgabebetrag II. Vorgaben des Kapitalerhöhungs­ beschlusses III. Ermessen des Vorstands bei einer ­Delegation der Bezugspreisfestsetzung und Rechtsfolgen einer fehlerhaften ­Festsetzung IV. Zeitpunkt der Festlegung des Bezugs­ preises V. Anforderungen an die Höhe des ­Bezugspreises 1. Verbot der Unterpari-Emission 2. Vermeidung eines faktischen Bezugsrechtsausschlusses 3. Gestaltungspflichten durch die aktienrechtliche Treuepflicht

4. Schranken durch faktischen Bezugszwang? a) Keine Übertragbarkeit der Grundsätze vom faktischen Bezugszwang auf die Kapitalerhöhung einer börsennotierten Gesellschaft ohne Sanierungs­ hintergrund b) Keine Anwendbarkeit auf börsennotierte Aktiengesellschaft wegen Übertragbarkeit der Bezugsrechte c) Maßgaben an den Bezugspreis bei ­einer Anwendbarkeit der Grundsätze des faktischen Bezugszwangs 5. Übrige Gesellschaftswohlkriterien VI. Zusammenfassung

Der Bezugspreis beschreibt das von den Aktionären im Rahmen einer Kapitalerhöhung unter mittelbarer Gewährung des Bezugsrechts für den Bezug der Aktien vom Emissionsunternehmen zu leistende Entgelt.2 § 186 Abs. 5 S. 2 AktG bezeichnet diesen Bezugspreis auch als „endgültigen Ausgabebetrag“.3 Über die rechtlichen Maßgaben für die Festsetzung des Bezugspreises und seine Höhe, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigt, wird in der Rechtspraxis kontrovers diskutiert.4 1 Der Autor dankt Herrn Ass. iur. Volkan Top für seine tatkräftige redaktionelle Unterstützung und wissenschaftliche Mitarbeit. 2 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.2; Schürnbrand in Münch­ Komm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 158; Mock in KölnKomm. HGB, 1. Aufl. 2011, § 272 Rz. 133; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 48, 51; Ekkenga in KölnKomm. AktG, Band 4, 3. Aufl. 2017, § 186 Rz. 245. 3 Vgl. zu den in der Praxis etablierten terminologischen Variationen: „Ausgabepreis“, nur „Preis“ oder „Emissionspreis“ oder auch „Bezugskurs“ Wiedemann, WM 1979, 990  ff.; Marsch-Barner, AG 1994, 532, 535; Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.2. 4 So auch Meyer in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 24.

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Eberhard Vetter ist ein erfahrener anwaltlicher Begleiter von Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften. Die hier diskutierten Fragen der Bezugspreisfestsetzung und der Ausformulierung von Vorgaben im Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung ergeben sich regelmäßig bei der Vorbereitung von Hauptversammlungen, die auch über Kapitalmaßnahmen beschließen. Der Beitrag soll insoweit also auch Eberhard Vetters Wirken als Hauptversammlungspraktiker würdigen und stößt hoffentlich auf sein Interesse.

I. Das Verhältnis vom Bezugspreis zum Ausgabebetrag Der Bezugspreis kann dem Ausgabebetrag, der auch in den Zeichnungsschein nach § 185 Abs. 1 Nr. 2 AktG aufzunehmen ist, entsprechen. In diesem Fall besteht er aus dem Mindestausgabebetrag nach § 9 Abs. 1 AktG sowie einem etwaigen aktienrechtlichen Agio im Sinne von §§ 9 Abs. 2, 36a Abs. 1 AktG. Die Bezugsrechtsemission kann jedoch auch zu einem Ausgabebetrag in Höhe des Mindestausgabebetrags mit der Verpflichtung des Emissionsunternehmens erfolgen, die Aktie im Rahmen des Bezugsangebots den Aktionären zu einem etwaig höheren Bezugspreis anzubieten.5 In diesem Fall besteht eine Verpflichtung des Emissionsunternehmens, den etwaigen Mehrerlös an die Gesellschaft abzuführen. Wesentlicher Unterschied zwischen beiden Praktiken ist, dass die zweite Vorgehensweise für das Emissionsunternehmen den Vorteil hat, dass es vor Anmeldung der Durchführung der Kapitalerhöhung lediglich 25  % des geringsten Ausgabebetrags (§ 9 Abs. 1 AktG) einzahlen muss.6 Die Einzahlungspflicht des Emissionsunternehmens erfasst mithin nicht auch das Aufgeld, also die Differenz zwischen dem Mindestausgabebetrag und dem endgültigen Ausgabebetrag, welches in dem von den Aktionären zu leistenden Bezugspreis enthalten ist. Dieses Vorgehen wird auch von der herrschenden Meinung7 für zulässig und insbesondere nicht als Umgehung der Regeln über die Sicherung der Aufteilung des Agios vor Anmeldung der Kapitalerhöhung angesehen.8 Unabhängig davon, ob die Differenz zwischen dem Entgelt für die Aktie und deren Mindestausgabebetrag nun als aktienrechtliches Agio oder als abzuführender Mehrerlös qualifiziert wird, ist sie handelsrechtlich nach §  272 Abs.  2 Nr.  1 HGB in die Kapitalrücklage einzustellen. Der Tatbestand des § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB stellt allein auf den Betrag ab, der bei der Ausgabe von Anteilen über deren Nennbetrag bzw. rechnerischen Anteil hinaus erzielt wird. Dies gilt auch für den mit dem Bezugspreis

5 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.3 und 24.5; Apfelbacher/ Niggemann in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 186 Rz. 107. 6 Vgl. Mock in KölnKomm. HGB, 1. Aufl. 2011, § 272 Rz. 133. 7 Scholz in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 149, Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 159; Schlitt/Seiler, WM 2003, 2175, 2182 f. 8 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.3.

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erzielten Mehrerlös,9 der damit den Bindungen nach § 150 Abs. 3 und Abs. 4 AktG unterliegt. Der Mehrerlös ist damit nicht einem rein schuldrechtlichen Agio gleichzusetzen, dessen causa in Gesellschaftervereinbarungen als freiwillige Zuzahlungen nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 AktG begründet wird und welches hinsichtlich der Auflösung nicht den Bindungen des § 150 Abs. 3 und Abs. 4 AktG unterliegt.10

II. Vorgaben des Kapitalerhöhungsbeschlusses Eine Kapitalerhöhung unter Gewährung des mittelbaren Bezugsrechts über ein Emissionsunternehmen ist nach §§ 182 ff., § 186 Abs. 5 AktG im Rahmen einer Ausnutzung des genehmigten Kapitals als auch im Rahmen einer unmittelbaren Beschlussfassung durch die Hauptversammlung selbst denkbar. Während das genehmigte Kapital üblicherweise keine weiteren Vorgaben an die Festsetzung des Bezugspreises enthält, sondern lediglich abstrakt die Ermächtigung des Vorstands umschreibt (§  202 Abs.  1 AktG),11 das Grundkapital bis zu einer bestimmten Höhe unter Gewährung und/oder Ausschluss des Bezugsrechts zu erhöhen, beschließt die Hauptversammlung eine Kapitalerhöhung im Sinne der §§ 182 ff. AktG selbst.12 Erfolgt im letzteren Fall die Festsetzung des Bezugspreises nicht in dem Hauptversammlungsbeschluss selbst, wird in der Regel der Vorstand ermächtigt, den Bezugspreis festzusetzen.13 Fraglich ist, inwieweit der Vorschlag die Grundlagen für die Festsetzung des Bezugspreises bei einer späteren Festsetzung durch den Vorstand beschreiben muss. Das Gesetz verlangt in § 186 Abs. 2 S. 1 AktG im Rahmen des Bezugsangebots vor Beginn der Bezugsfrist gemäß § 186 Abs. 5 S. 2 AktG in Verbindung mit Abs. 2 S. 1 entweder den Ausgabebetrag oder die Grundlagen für seine Festlegung in den Gesellschaftsblättern (§  25 AktG) bekannt zu machen,14 sofern denn nicht unmittelbar im Bezugsangebot der endgültige Bezugspreis bekannt gemacht wird.15 Als Grundlagen der Festsetzung, die im Bezugsangebot in Ermangelung einer konkreten Angabe zum Bezugspreis bekannt zu machen sind, ist nicht zwingend eine Rechenformel anzugeben. Dies folgt aus der Gesetzeshistorie, da der Gesetzgeber im Referentenentwurf zum TransPuG16 noch die Formulierung „Grundlagen seiner Berechnung“ verwendet,

9 Winkeljohann/K.  Hoffmann in Beck‘scher Bilanzkommentar, 11. Aufl. 2018; § 272 HGB Rz. 173; Reiner in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 272 Rz. 71; nicht eindeutig: Mock in KölnKomm. HGB, 1. Aufl. 2010, § 272 Rz. 133, der jedenfalls den Mehrerlös nicht als korporationsrechtliches Agio qualifiziert. 10 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 9 Rz. 10. 11 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 202 Rz. 2. 12 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 202 Rz. 2. 13 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 49; Ekkenga in KölnKomm. AktG, Band 4, 3. Aufl. 2017, § 186 Rz. 245. 14 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 19. 15 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 24.3. 16 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG), BGBl. I 2002, 2681 ff.

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diese jedoch später in „Grundlagen für seine Festlegung“ umformuliert hat.17 Aus dem Umstand, dass die Bekanntmachungspflicht den Vorstand trifft, kann jedenfalls gefolgert werden, dass es nicht zwingend erforderlich ist, dass der Hauptversammlungsbeschluss nähere Vorgaben an die Grundlagen der Festlegung enthält. Happ/Herchen18 gehen daher auch zutreffend davon aus, dass die Grundlagen der Festsetzung nicht zum zwingenden Kapitalerhöhungsbeschlussinhalt gehören. Sie empfehlen gleichwohl, die Grundlagen für die Festsetzung des Bezugspreises im Kapitalerhöhungsbeschluss festzulegen, da andernfalls die Emissionsunternehmen Gefahr laufen, die Aktien zum gleichen Kurs weiterzugeben.19 Auch wenn die Empfehlung einer näheren Maßgabe Sinn ergeben kann, um das Ermessen des Vorstands einzuschränken, vermag der Begründungsansatz jedenfalls nicht zu überzeugen. Der Bezugspreis wird in praxi nicht vom Emissionsunternehmen selbst, sondern vom Vorstand – gegebenenfalls auch mit Zustimmung des Aufsichtsrats – festgesetzt und als Bote des Emissionsunternehmens bekanntgemacht. Der Übernahmevertrag zwischen dem Emissionsunternehmen und der Aktiengesellschaft, der zwingend vor der Veröffentlichung des Bezugsangebots abzuschließen ist, enthält regelmäßig eine Regelung zum Bezugspreis. Sofern dieser vorher festgesetzt und im Rahmen des Bezugsangebots bekanntgemacht wird, steht er bei Abschluss des Übernahmevertrags fest. Wird der Bezugspreis erst nach Abschluss des Übernahmevertrags festgesetzt und gemäß § 186 Abs. 2 S. 2 AktG spätestens drei Tage vor Ablauf der Bezugsfrist bekanntgemacht, wird regelmäßig dem Vorstand des Emittenten nach § 315 BGB auch vertraglich das alleinige Bestimmungsrecht für den Bezugspreis eingeräumt.

III. Ermessen des Vorstands bei einer Delegation der Bezugspreisfestsetzung und Rechtsfolgen einer fehlerhaften Festsetzung Im Rahmen der auf ihn delegierten Festsetzung des Bezugspreises hat der Vorstand ein grundsätzlich freies, allein am Wohl der Gesellschaft zu orientierendes Ermessen (vgl. § 93 AktG), welches allerdings durch eine etwaige Festsetzung im Kapitalerhöhungsbeschluss eingeschränkt sein kann.20 Die Praxis sieht dabei eine große Bandbreite von Gestaltungsvarianten21 für die Festlegung vor, die von einer genauen Be17 Seibert, NZG 2002, 668, 612; Schmidt/Ries in FS Schwark, 2009, S. 241, 253; Schmidt/Seiler, WM 2003, 2175, 2180; Referentenentwurf des TranspuG in NZG 2002, Rz.  78; so auch Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 69; Busch in Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 42 Rz. 51 f. 18 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.4. 19 Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4.  Aufl. 2015, 12.03 Anm. 10.4; Schürnbrand in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 186 Rz. 159; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 48; Scholz in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 150. 20 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 182 Rz. 24; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 182 Rz. 56; Ekkenga in KölnKomm. AktG, Band 4., 3. Aufl. 2017, § 182 Rz. 50; Veil in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 182 Rz. 23; Schlitt/Seiler, WM 2003, 2175, 2177. 21 Vgl. Busch in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 43 Rz. 53.

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schreibung der Rechenformel auf Basis eines Durchschnittskurses der Schlusskurse der Aktien vor oder während der Bezugsfrist abzüglich eines prozentualen Abschlags22 bis hin zu einem – unter der Maßgabe einer möglichst vollständigen Platzierung der Emissionen, um einen möglichst hohen Emissionserlös zu erreichen – völlig freien Ermessen reichen.23 Bei der vollständigen Delegation der Festsetzung des Bezugspreises auf den Vorstand kann sich eine Anfechtbarkeit des Kapitalerhöhungsbeschlusses wegen einer fehlerhaft zu niedrigen oder hohen Festsetzung des Bezugspreises nicht mehr nachträglich ergeben. Ohnehin wird die etwaig rechtswidrige Handlung bei der Preisfestsetzung in aller Regel erst nach dem Ablauf der Anfechtungsfrist für den Kapitalerhöhungs­ beschluss erfolgen. Mit der Delegation der Festsetzung des Bezugspreises auf die Verwaltung geht auch die Verantwortung für die ordnungsgemäße Preisgestaltung auf diese über. An die Verletzung dieser Vorgaben durch die Verwaltung ist immer nur die Haftung der handelnden Organmitglieder geknüpft. Rechtsfolge eines solchen Ermessensfehlgebrauchs ist daher allein eine Schadensersatzforderung gegen das Vorstandsmitglied nach §  93 Abs.  2 AktG, weil die Festsetzung insoweit pflichtwidrig erfolgt ist;24 die Rechtsgültigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses bleibt aber unberührt. Etwas anderes mag dann gelten, wenn der Hauptversammlungsbeschluss Vorgaben zur Festsetzung des Bezugspreises macht, die zwangsläufig zu einem falschen Bezugsrechtsausschluss führen; insoweit wirken dann auch die Festlegungen des Hauptversammlungsbeschlusses nach § 93 Abs. 4 S. 1 AktG für den Vorstand haftungsbefreiend.

IV. Zeitpunkt der Festlegung des Bezugspreises Der Zeitpunkt der Festlegung des Bezugspreises hängt vom Zeitpunkt seiner Bekanntmachung ab. Wird die Bezugspreisfestsetzung bereits zum Gegenstand der Hauptversammlungsbeschlussfassung, wird der Vorstand hierüber im Rahmen der Beschlussfassung über den Beschlussvorschlag vor Einberufung der Hauptversammlung entscheiden. Findet die Festlegung später aufgrund Delegation durch den Hauptversammlungsbeschluss statt, gibt § 186 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5 S. 2 AktG den Rahmen vor: Danach muss das Bezugsangebot bereits den Bezugspreis enthalten, sofern nicht nur die Grundlagen offengelegt werden, andernfalls ist aber nach § 186 Abs. 2, 2. Halbsatz AktG der Bezugspreis spätestens drei Tage vor Ablauf der Bezugsfrist über die Gesellschaftsblätter oder ein elektronisches Medienmittel bekannt zu machen. Soll bereits im Bezugsangebot der Bezugspreis bekanntgemacht werden, hat die Festlegung des Bezugspreises durch den Vorstand der Aktiengesellschaft in der Regel mehr als zwei Tage vor der Veröffentlichung des Bezugsangebots und damit mehr als drei Tage vor Beginn der Bezugsfrist zu erfolgen, damit eine Bekanntma22 Beispiel: Bezugsangebot der Epigenomics AG v. 8.10.2018. 23 Beispiel: Kapitalerhöhungsbeschluss der IFA Hotel & Touristik AG, Bundesanzeiger v. 20.12.2018. 24 Vgl. Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 182 Rz. 25.

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chung des Bezugsangebots im Bundesanzeiger rechtzeitig vor Beginn der Bezugsfrist erfolgen kann. Erfolgt die Bekanntmachung des endgültigen Bezugspreises erst drei Tage vor Ablauf der Bezugsfrist, kann dessen Veröffentlichung auch über ein elektronisches Informationsmedium und damit ohne zeitlichen Vorlauf erfolgen. In diesem Fall einer sofortigen Bekanntmachung nach Feststellung ist also nur die Frist von drei Tagen vor Ablauf der Bezugsfrist einzuhalten.

V. Anforderungen an die Höhe des Bezugspreises Sowohl für die Rechtmäßigkeitskontrolle des Kapitalerhöhungsbeschlusses selbst, als auch für die Frage der Maßgaben, an denen sich die Ermessensentscheidung des Vorstands zur Festsetzung des Bezugspreises messen lassen muss, sind grundsätzlich folgende rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten: 1. Verbot der Unterpari-Emission Zur Vermeidung einer nach §§ 182 Abs. 3, 9 Abs. 1 AktG unzulässigen Unterpari-­ Emission25 muss die Ausgabe der neuen Aktien mindestens zum Mindestausgabebetrag, mithin zum anteiligen Betrag der Stückaktien am Grundkapital bzw. zum Nennbetrag bei Nennbetragsaktien, erfolgen.26 In einem derartigen Fall einer Festlegung des Bezugspreises in Höhe des Mindestausgabebetrags entspricht der Bezugspreis zugleich dem Ausgabebetrag, so dass es keinen weiteren Mehrerlös gibt, der später von dem Emissionsunternehmen an die Gesellschaft abgeführt werden kann. 2. Vermeidung eines faktischen Bezugsrechtsausschlusses Zur Höhe des Bezugspreises ist weiterhin zu untersuchen, ob ein etwaig über dem Börsenkurs liegender Bezugspreis, also ein ungewöhnlich hoher Bezugspreis, einen faktischen Bezugsrechtsausschluss darstellt, weil er nach den Grundsätzen der ökonomischen Vernunft die Ausübung des Bezugsrechts durch die Aktionäre unattraktiv macht und damit vereitelt.27 Die wohl herrschende Meinung verneint bei einem überhöhten Bezugspreis einen Fall des faktischen Bezugsrechtsausschlusses, solange nicht der Bezugspreis aus sachfremden Erwägungen in dieser Höhe festgesetzt worden ist, also insbesondere mit der Absicht, die Aktionäre oder einen bestimmten Kreis von Aktionären von der Ausübung ihres Bezugsrechts abzuhalten.28 In allen anderen Fällen liegt ein faktischer Bezugsrechtsausschluss nicht vor, weil ein entsprechender Ein25 Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 182 Rz. 19. 26 So die herkömmliche Rechtsprechung RGZ 143, 20, 23; RGZ 144, 138, 142 f.; BGHZ 33, 175, 178. 27 Dies grundsätzlich bejahend: Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4.  Aufl. 2016, §  186 Rz. 144; Ekkenga in KölnKomm. AktG, Band 4, 3. Aufl. 2017, § 186. Rz. 123. 28 Scholz in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 141; Kuntz/Stegemann, ZIP 2016, 2341, 2343; Gehlein, ZIP 2011, 1699, 1701; Groß, AG 1993, 449, 455; vgl. auch Lieder in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 55 Rz. 51 und 82 (zur GmbH); Apfelbacher/Niggemann in

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griff in die Rechtsposition der Aktionäre nicht eintritt. Ist der Ausgabebetrag höher als der innere Wert, aber niedriger als der Börsenkurs, kann der Aktionär auf die Teilnahme an der Kapitalerhöhung verzichten und am Markt zum Börsenkurs Aktien einkaufen. Bei einem Ausgabebetrag oberhalb des inneren Wertes und oberhalb des Börsenkurses kommt es, wenn ein Aktionär sein Bezugsrecht nicht ausübt, zu einer Wertsteigerung der von ihm bereits gehaltenen Aktien, da ihm die über dem Marktwert der Aktien liegende Differenz mittelbar als Wertzuwachs bei der Gesellschaft zugutekommt. Beteiligt sich ein Aktionär an der Kapitalerhöhung, zahlt er zwar unter Umständen zu viel für seine Aktien, dieser Einbuße steht jedoch eine Wertaufstockung der von ihm zuvor gehaltenen Aktien gegenüber. Dies gilt erst recht, wenn die Gesellschaft im Vorfeld einer Kapitalerhöhung mit einem Backstop-Investor eine Zeichnungsvereinbarung mit dem Inhalt abgeschlossen hat, dass bei diesem sämtliche von den Aktionären nicht bezogene Aktien platziert werden können.29 In diesem Fall ist bei dem einzelnen, sein Bezugsrecht ausübenden Aktionär ein wirtschaftlicher Verwässerungsnachteil ausgeschlossen und es kann ein Verwässerungsvorteil gleichmäßig für alle Aktionäre gewahrt werden. Dieser positive Verwässerungseffekt entspricht exakt dem über den Börsen- oder Marktpreis hinausgehenden Bezugspreis.30 Im Ergebnis setzt daher zutreffend das Institut des faktischen Bezugsrechtsausschlusses für die Festsetzung des Bezugspreises keine tauglichen Schranken, sofern denn der den Bezugspreis festsetzende Vorstand das Motiv ausschließen kann, den Bezugspreis in entsprechender Höhe festgelegt zu haben, um das Zeichnungsverhalten einzelner Aktionärskreise negativ zu beeinflussen. Diese Auffassung ist auch praktikabel, weil sich bei volatilen Kapitalmärkten der Aktienkurs naturgemäß im Rahmen der mindestens zweiwöchigen Bezugsfrist derart verändern kann, dass der zu Beginn der Bezugsfrist bzw. bei der Festsetzung noch am Aktienkurs orientierte Bezugspreis, dann infolge eines Aktienkursabfalls zum Ende der Bezugsfrist deutlich über dem Aktienkurs liegen kann, ohne dass hierin ein faktischer Bezugsrechtsausschluss angesichts der Zufälligkeit dieses Ergebnisses intendiert worden war.31 3. Gestaltungspflichten durch die aktienrechtliche Treuepflicht Indes kann der Vorstand im Rahmen seines weiten Entscheidungsermessens über die Festsetzung des Bezugspreises durch aktienrechtliche Treuepflichten32 begrenzt sein Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 186 Rz. 46; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 43a. 29 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 30 Groß, AG 1993, 449, 455  f.; Herchen, DStR 2001, 1437, 1442 (zur GmbH); Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 31 Vgl. Happ/Herchen in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, 12.01 Anm. 8.6 mit Verweis auf die geänderte Fassung des § 186 Abs. 2 AktG (TransPuG, BGBl. I 2002, 2681 ff.). 32 Zur Anerkennung der aktienrechtlichen Treuepflicht im Aktienrecht instruktiv BGHZ 103, 184, 194 f. – Linotype und BGHZ 129, 136, 143 ff. – Girmes; vgl. zur Rechtsentwicklung Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 53a Rz. 14; vgl. ferner Henze, ZGR 162 (1998), 186 ff. und Lutter, ZGR 162 (1998), 194 ff.; OLG Stuttgart v. 1.12.1999 – 20 U 38/99 – Rz. 92, juris (zur GmbH).

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und verpflichtet werden, auf die Interessen der betroffenen Aktionäre Rücksicht zu nehmen.33 Das Aktienrecht hat dem zuständigen Gesellschaftsorgan, in der Regel also der Hauptversammlung oder dem Vorstand, an den dieses Ermessen delegiert worden ist, einen weiten Gestaltungsspielraum gelassen, über die Kondition des Bezugsangebots einschließlich des Bezugspreises, den Zeitpunkt des Bezugsangebots und über weitere Einzelheiten, die ebenfalls einen Einfluss auf den Bezugspreis haben können, zu entscheiden.34 In Ansehung dieser weitreichenden Gestaltungsmacht gebietet die aktienrechtliche Treuepflicht, auf die Belange der betroffenen Aktionäre Rücksicht zu nehmen.35 Eine derartige besondere Rücksichtnahmepflicht ist allerdings nur bei Hinzutreten besonderer Umstände begründet. Beispielhaft darf die Kapitalerhöhung nicht final dazu dienen, einem Aktionär zum Nachteil anderer Aktionäre eine sonst nicht erreichbare qualifizierte Mehrheit36 zu verschaffen. Dies würde auch ihre Anfechtbarkeit wegen Sondervorteils nach § 243 Abs. 2 AktG begründen. Auch wenn die Kapitalerhöhung trotz der Bezugsgewährung infolge des Bezugspreises dazu dienen soll, die Erhaltung einer Minderheitsposition oder Sperrminorität eines Aktionärs zu erschweren,37 mag diese im Einzelfall gegen die aktienrechtliche Treuepflicht verstoßen. Demnach kann sich nur derjenige Aktionär auf Treubindungen berufen, der durch die Folgen der Festsetzung des Bezugspreises auf sein Bezugsrecht in seinen Mitgliedschaftsrechten tatsächlich und qualifiziert betroffen ist.38 Eine derartige Treuebindung kann allein für Aktionäre gelten, die tatsächlich über den Wertverwässerungseffekt der Kapitalerhöhung etwa durch die Anteilsverwässerung bei erschwerter Ausübung infolge der Nichtausübung ein Minderheitsquorum oder eine Sperrminorität verlieren. Dabei kann es sich aber nur um Aktionäre mit nach §§ 33, 34 AktG mitteilungspflichtigen Beteiligungen handeln. Die Grundsätze zur aktienrechtlichen Treubindung können nicht gelten für sämtliche übrigen Aktionäre, auch nicht für solche, die mit einem Aktienpaket von 100.000 bzw. 500.000 Aktien über das Antragsforum nach § 142 Abs. 2 AktG bzw. § 122 Abs. 2 AktG verfügen. Dies ist schon deshalb sachgerecht, weil der Vorstand nur die Interessen der ihm durch Stimmrechtsmitteilungen bekannten Aktionäre berücksichtigen kann. Auch in diesen Fällen kommt es jedoch vorrangig darauf an zu klären, (i) auf welchen Motiven die Festsetzung des Bezugspreises in einer konkreten Höhe beruht, (ii) ob vorhersehbar ist, dass ein wesentlicher Anteil der neuen Aktien nicht zu dem konkreten Bezugspreis von Aktionären wird bezogen werden, (iii) wie hoch die Differenz zwischen dem Bezugspreis und dem Preis ist, bei dem eine vollständige Platzierung zu erwarten gewesen wäre, und (iv) ob den Aktionären, die ihr Bezugsrecht ausgeübt haben, ein Nach- oder Überbezugsrecht angeboten wird.39

33 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 34 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 35 BGHZ 103, 184, 195 – Linotype; Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 36 v. Dryander/Niggemann in Hölters, AktG, 2. Aufl. 2011, § 186 Rz. 45; Gehling, ZIP 1699, 1701. 37 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1700. 38 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1701. 39 Gehling, ZIP 2011, 1699, 1701.

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Keine Relevanz kann in diesem Zusammenhang haben, ob der jeweilige nicht unwesentlich an der Gesellschaft beteiligte Aktionär über die erforderlichen Mittel verfügt, um an der Kapitalerhöhung teilzunehmen, weswegen ihm eine Verwässerung seines Anteils drohe.40 Denn durch das uneingeschränkte Bezugsrecht wird dem Interesse des Aktionärs zum Schutz vor einer Verwässerung seiner Beteiligung hinreichend Rechnung getragen.41 Angesichts der eingeschränkten materiellen Beschlusskontrolle42 ist bereits durch die Gewährung des Bezugsrechts die hier eingetretene Folge bereits abschließend gerechtfertigt. 4. Schranken durch faktischen Bezugszwang? Spiegelbildlich zum Institut des Bezugsrechtsausschlusses hat das Oberlandesgericht Stuttgart43 in einer Entscheidung das Institut des faktischen Bezugszwangs im Fall einer sanierungsbedürftigen GmbH entwickelt. Teilweise wird vertreten, dass dieses Institut auch zur Anfechtung einer Bezugsrechtskapitalerhöhung bei einem unangemessen niedrigen Bezugspreis berechtige, weil der einzelne Aktionär den Wertverwässerungseffekt der Kapitalerhöhung nur durch eine Teilnahme an der Maßnahme, also durch die Ausübung seines Bezugsrechts, vermeiden kann.44 a) Keine Übertragbarkeit der Grundsätze vom faktischen Bezugszwang auf die Kapitalerhöhung einer börsennotierten Gesellschaft ohne Sanierungshintergrund Festzuhalten ist bereits, dass die vom OLG Stuttgart angestellten Rechtsüberlegungen für den Fall einer sanierungsbedürftigen GmbH entwickelt worden sind. In diesem Fall resultiert die Unzumutbarkeit des Bezugszwangs sowohl aus dem Umstand, dass die durch den Bezug erworbenen neuen Anteile in der Rechtsform der GmbH nicht fungibel sind als auch aus dem Sanierungsszenario, nämlich dem Aspekt, dass sich der Bezugszwang auf die Investitionen in eine sanierungsbedürftige unprofitable Gesellschaft bezieht. In einem solchen Fall stellt sich die Ausübung des Bezugsrechts mangels Deinvestitionsmöglichkeit einerseits und hoher Risikoexposition des sein Bezugsrecht ausübenden Gesellschafters bezogen auf die Lage der Gesellschaft andererseits als geradezu unzumutbar dar. Eine derartige Zwangssituation ergibt sich bereits bei einer börsennotierten Gesellschaft von vornherein nicht,45 weil zum einen – jedenfalls bei Vorliegen eines gewissen Handels mit der Aktie – der Aktionär jederzeit in der Lage ist, zu deinvestieren, und andererseits sich – anders als in Sanierungsfäl40 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 182 Rz. 23. 41 OLG Düsseldorf v. 22.11.2018 – I-6 AktG 1/18 (nicht veröffentlicht), 59. 42 Vgl. zu dieser Einschränkungen Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 243 Rz. 23; dagegen für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der materiellen Beschlusskontrolle plädierend wohl Rottnauer, ZGR 2007, 401, 412. 43 OLG Stuttgart v. 1.12.1999 – 20 U 38/99 – Rz. 106 ff., juris (zur GmbH). 44 OLG Stuttgart v. 1.12.1999 – 20 U 38/99 – Rz. 106 ff., juris (zur GmbH); Heckschen, DStR 2001, 1437, 1442 f.; Rottnauer, ZGR 2007, 401, 434. 45 So ähnlich Priester in FS Lutter, 2000, S. 617, 630.

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len  – die Ausübung des Bezugsrechts als Investitionsentscheidung auch nicht von vornherein angesichts der Lage der Gesellschaft als unattraktiv darstellt. b) Keine Anwendbarkeit auf börsennotierte Aktiengesellschaft wegen Übertragbarkeit der Bezugsrechte Das OLG Stuttgart entwickelte die Grundsätze vom faktischen Bezugszwang, weil es eine Parallele zur Nachschusspflicht annahm, die dem Recht der Kapitalgesellschaft fremd sei.46 Eine solche Nachschusspflicht kann jedoch bei einer Deinvestitionsmöglichkeit durch Veräußerung der Bezugsrechte ausgeschlossen werden. Anerkannt ist daher, dass sich die Anwendung des Instituts des Bezugszwangs dann verbietet, wenn die Kapitalerhöhung mit einem sogenannten organisierten Bezugsrechtshandel verbunden ist, der es dem Aktionär ermöglicht, seine Bezugsrechte, die er nicht auszuüben beabsichtigt, zu verwerten.47 Schürnbrand48 formuliert weitergehend, dass bei börsennotierten Gesellschaften allgemein, jedenfalls aber dann, wenn ein Bezugsrechtshandel eingerichtet wird oder die Bezugsemissionsbank den Verkauf von Bezugsrechten vermittelt, eine Beeinträchtigung der betreffenden Altaktionäre ausgeschlossen werden kann.49 Nach der hier vertretenen Auffassung ist hingegen die Organisation eines Bezugsrechtshandels keine zwingende Voraussetzung für die Nichtanwendbarkeit der Grundsätze vom faktischen Bezugszwang. Allein die rechtliche Möglichkeit, die Bezugsrechte zu übertragen, ermöglicht Deinvestitionsmöglichkeiten bezogen auf den Kapitalerhöhungsbestand, ohne das Bezugsrecht ausüben zu müssen.50 Dies gilt umso mehr, als dass es denkbar ist, dass andere Marktteilnehmer etwa einen Handel der Bezugsrechte im Freiverkehr organisieren können oder jedenfalls die Dienstleistung der Vermittlung von Bezugsrechten in Anspruch genommen werden kann, die von einigen Wertpapierhandelsbanken angeboten wird.51 c) Maßgaben an den Bezugspreis bei einer Anwendbarkeit der Grundsätze des faktischen Bezugszwangs Wenn man denn dennoch entgegen der unter 4. a) und b) dargelegten Argumentation von einer Übertragbarkeit der Grundsätze des Bezugszwangs auf börsennotierte Aktiengesellschaften ausginge oder dieser im Einzelfall in einem Sanierungsszenario vorliegt, stellt sich weiterhin die Frage, bei welcher Fallgestaltung, also bei welchem 46 OLG Stuttgart v. 1.12.1999 – 20 U 38/99 – Rz. 105, juris (zur GmbH). 47 Scholz in MünchHdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 57 Rz. 101, 141; vgl. Busch in Marsch-Barner/ Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2.  Aufl. 2009, §  42 Rz.  64  f., 91; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 186 Rz. 7; Schlitt/Seiler, WM 2003, 2175, 2181; a.A. Wiedemann in GroßKommAktG, Sechster Band, 4. Aufl. 1995, § 186 Rz. 176. 48 Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 182 Rz. 54. 49 So auch Priester in FS Lutter, 2000, S. 617, 630; Seibt/Voigt, AG 2009, 133, 139; Busch in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 42 Rz. 16. 50 So auch Priester in FS Lutter, 2000, S.  617, 630; Busch in: Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, § 42 Rz. 16; a.A. wohl Hermanns, ZIP 2003, 788, 790 und Wagner, DB 2004, 293, 294. 51 Seibt/Voigt, AG 2009, 133, 141 f.

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konkreten Bezugspreis und im Verhältnis zu welchem Vergleichsparameter sich ein derartiger Bezugszwang ergeben kann. Da § 255 Abs. 2 AktG einen angemessenen Ausgabebetrag lediglich für den Fall des Bezugsrechtsausschlusses, insbesondere bei Sachkapitalerhöhung, vorschreibt, sind nach ganz herrschender Meinung an die Bejahung eines solchen faktischen Bezugszwangs im Aktienrecht tendenziell hohe Anforderungen zu stellen.52 Jedenfalls wird ein bis zu 50-%iger Abschlag auf den Wert der Aktie für zulässig gehalten.53 Strittig ist insoweit, welche Größe die richtige Basis für die Wertbemessung ist, teilweise wird – jedoch insoweit nicht nach der Rechtsform spezifizierend – auf den inneren Wert der Aktie, teilweise auf den rechnerischen Ausgabekurs nach der Emission abgestellt.54 Für die börsennotierte Gesellschaft selbst kann nach der hier vertretenen Auffassung – auch im Hinblick auf die zeitlich nachfolgende Deinvestitionsmöglichkeit des Aktionärs – insoweit allein der Aktienkurs der Aktie maßgeblich sein, nicht aber der innere Wert der Aktie, gerade weil es bei einem über dem Aktienkurs liegenden inneren Wert der Aktie in der Regel an einer entsprechenden Deinvestitionsmöglichkeit fehlen wird. Eine vermittelnde Lösung mag darin liegen, kumulativ auf den höheren der beiden Werte abzustellen, etwa in Gestalt: Börsenkurs und anteiliger Wert der einzelnen Aktie am Eigenkapital der Gesellschaft zum letzten Bilanzstichtag. Insoweit könnte man jedenfalls auch einen hypothetischen Liquidationswert mitberücksichtigen. Unabhängig davon begegnet ein Abstellen auf den inneren Wert der Aktien auch Praktikabilitätsbedenken, da dies sonst der Hauptsammlung und/oder dem Vorstand abverlangen würde, vor der Festsetzung des Bezugspreises eine Unternehmensbewertung – etwa nach dem IDW S 1 Standard analog wie in Squeeze-Out-Fällen – einzuholen. 5. Übrige Gesellschaftswohlkriterien Regelmäßig wird man den Vorstand für verpflichtet halten dürfen, im Rahmen der Ausübung seines Ermessens – soweit der Hauptversammlungsbeschluss nicht ohnehin entsprechende Vorgaben enthält  – den Preis so festzulegen, dass man zu einer bestmöglichen Verwertung der neuen Aktien und damit zu einem möglichst hohen Emissionserlös55 kommt.56 Dabei ist grundsätzlich auch die Entwicklung des Börsenkurses vom Zeitpunkt der Beschlussfassung der Hauptversammlung bis zur Festsetzung des Bezugspreises zu berücksichtigen, um eine hohe Ausübungsquote bei den 52 Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 182 Rz. 23; Schürnbrand in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 182 Rz. 54; Ekkenga in KölnKommAktG, Band 4, 3. Aufl. 2017, § 182 Rz. 17; vgl. auch Servatius in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 186 Rz. 77; OLG Düsseldorf v. 22.11.2018 – I-6 AktG 1/18, 39 (nicht veröffentlicht). 53 Seibt/Voigt, AG 2009, 133, 139; Sickinger/Kuthe in MünchAnwaltsHdb., Aktienrecht, 3. Aufl. 2018, § 33 Rz. 115; vgl. auch Vaupel/Reers, AG 2010, 93, 94 „erheblicher Abschlag“. 54 So insbesondere Kocher/Feigen, CFL 2013, 116, 122 ff. 55 Dieser ergibt sich aus der Kombination der Faktoren Anzahl der zu platzierenden neuen Aktien und Bezugspreis. 56 Vgl. nur Pleister/Kindler, ZIP 2010, 503, 508: „Ziel eines möglichst hohen Emissionserlöses“.

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Aktionären und einen möglichst hohen Preis zu erzielen und das Spannungsfeld zwischen dem Interesse der Aktionäre an einem niedrigen Bezugspreis bei ihrer Ausübung und einem hohen Erlös für die Gesellschaft in Einklang zu bringen. Gegebenenfalls ist es hier nach der Business Judgement Rule geboten, die Einschätzung der Emissionsbank als Informationsgrundlage einzuholen.

VI. Zusammenfassung 1. Grundsätzlich ist es zulässig und üblich, die Grundlagen der Festlegung des Bezugspreises im Kapitalerhöhungsbeschluss festzulegen, dies ist aber nicht zwingend erforderlich. Dem Vorstand kann bei der Festlegung des Bezugspreises auch ein vollständig freies Ermessen eingeräumt oder bestimmte Vorgaben für die Berechnung gemacht werden. 2. Wird dem Vorstand bei der Festsetzung des Bezugspreises ein vollständig freies Ermessen eingeräumt, schließt dies eine Anfechtbarkeit des Kapitalerhöhungsbeschlusses in Bezug auf die Höhe des Bezugspreises von vornherein aus, weil die Höhe des Bezugspreises nicht Teil des Kapitalerhöhungsbeschlusses ist und auch nicht nachträglich durch die Ausübung des Ermessens des Vorstands wird. Rechtsfolge einer Pflichtverletzung des Vorstands bei der Ausübung seines Ermessens ist insoweit allein seine Haftung nach § 93 AktG. 3. Aus grundsätzlichen Rahmenparametern der Preisfestsetzung ergibt sich aus dem Gesetz lediglich das Verbot der Unterpari-Emission, also die Pflicht zur Ausgabe der Aktien zum Mindestausgabebetrag. Ein zu hoher Bezugspreis kann nur dann unter dem Gesichtspunkt des faktischen Bezugszwangs rechtlichen Bedenken ausgesetzt sein, wenn die Preisfestsetzung zielgerichtet so gewählt worden ist, um einzelne Aktionäre von der Ausübung des Bezugsrechts wegen wirtschaftlicher Unattraktivität auszuschließen. 4. Nach der hier vertretenen Auffassung kann ein zu niedriger Bezugspreis, also ein zu hoher Abschlag auf den Börsenkurs oder den inneren Wert der Aktie nicht von vornherein – unter dem Gesichtspunkt des faktischen Bezugszwangs – eine Anfechtbarkeit eines Kapitalerhöhungsbeschlusses begründen, weil die für eine sanierungsbedürftige GmbH entwickelten Grundsätze nicht auf den Fall einer nichtsanierungsbedürftigen börsennotierten Aktiengesellschaft übertragbar sind. Dies gilt unabhängig davon, ob nun ein börslicher Bezugsrechtshandel organisiert wird oder nicht. Grund hierfür ist, dass auch vor und nach Ausübung des Bezugsrechts dem Aktionär einer Aktiengesellschaft eine Deinvestitionsmöglichkeit zusteht und er auch seine Bezugsrechte grundsätzlich übertragen kann. Die Ausübung des Bezugsrechts stellt sich daher nicht von vornherein als derartig wirtschaftlich unattraktiv wie in dem Fall einer insolvenznahen sanierungsbedürftigen Gesellschaft dar, als dass sie einer unfreiwilligen Nachschusspflicht gleichkommt. 5. Selbst wenn man die Grundsätze des faktischen Bezugszwangs auch auf die börsennotierte Aktiengesellschaft für anwendbar hielte, kann nach der hier vertretenen Auffassung als Vergleichsparameter für die Angemessenheit des Bezugspreises 830

Der Bezugspreis

schon aus Gründen der Praktikabilität allein der Aktienkurs, nicht aber der innere Wert der Aktie maßgeblich sein. Gegebenenfalls ist dieses Ergebnis dann zusätzlich bei einem hohen, über dem Aktienkurs liegenden anteiligen Eigenkapital pro Aktie zu verproben. 6. Einschränkungen aus der gesellschaftsvertraglichen Treuepflicht können sich bezogen auf die Bezugspreisfestsetzung nur dann ergeben, wenn diese Aktionäre trifft, die infolge der Nichtteilnahme an der Kapitalerhöhung wegen unattraktiven Bezugspreises wesentliche Rechtspositionen wie eine Sperrminorität verlieren. Dies kann von vornherein nur für Aktionäre mit meldepflichtigem Stimmrechtsbestand nach §§ 33, 34 WpHG gelten, nicht aber für jeden Aktionär, der auch kleinere Quoren, wie etwa die nach §§ 122 Abs. 2, 142 Abs. 2 AktG, erfüllt.

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Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Hauptversammlung Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Meinungsstand



III. Veränderungen im rechtlichen Umfeld IV. Auslegung des § 131 AktG 1. Wortlaut 2. Historische Auslegung 3. Systematische und teleologische ­Auslegung 4. Kritik an den dogmatischen Ersatzkonstruktionen der herrschenden ­Meinung 5. Zutreffendes Verständnis des § 131 AktG



1. § 131 AktG 2. Annex-Verpflichtung aus §§ 171 Abs. 2, 176 Abs. 1 S. 2 AktG und ­anderen Informationspflichten des Aufsichtsrats 3. Verpflichtung aus §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 AktG 4. Durchsetzung der Auskunfts­ verpflichtung

VI. Abgrenzung der Kompetenzen ­zwischen dem Aufsichtsrat und ­seinem Vorsitzenden VII. Zusammenfassung und Thesen

V. Verpflichtung des Aufsichtsrats zur Auskunftserteilung

I. Einleitung Dass der Aufsichtsratsvorsitzende in der Hauptversammlung Fragen beantwortet, ist absolut üblich; seine Verweigerung, dies zu tun, würde Aufruhr verursachen. Die ganz herrschende Meinung sieht zwar allein den Vorstand nach § 131 AktG für berechtigt und verpflichtet an, Fragen von Aktionären in der Hauptversammlung zu beantworten.1 Trotzdem wird die übliche Praxis von der herrschenden Meinung nicht für unzulässig gehalten; vielmehr werden dogmatische Konstruktionen bemüht, wie diese unzweifelhaft sinnvolle Praxis auf Basis des § 131 AktG gerechtfertigt werden kann. Allein zur zweckmäßigen Bewältigung von Hauptversammlungen wäre eine erneute ausführlichere Befassung mit dem Thema nicht erforderlich. Das zutreffende Verständnis der Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden in der Hauptversammlung kann aber Bedeutung über die konkrete Frage der Auskunftserteilung in der Hauptversammlung hinaus haben. Von den Organen der Aktiengesellschaft sucht derzeit am ehesten der Aufsichtsrat seinen Platz in der aktienrechtlichen Corporate Governance. Zwar ist der gesetzliche Ausgangspunkt klar: Das Aktiengesetz 1965 hat im Wege eines Systems der checks 1 Hierzu ausführlicher nachfolgend unter II.

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and balances den Vorstand im Grundsatz als extern handelndes Geschäftsführungsund den Aufsichtsrat als intern handelndes Überwachungsorgan vorgesehen. § 111 Abs. 4 S. 1 AktG bestimmt ausdrücklich, dass dem Aufsichtsrat keine Geschäftsführungsangelegenheiten übertragen werden können. In Gesetzgebung und Rechts­praxis ist seitdem jedoch ein Trend erkennbar, den Aufsichtsrat verstärkt in Geschäftsführungsangelegenheiten einzubinden (ausführlicher nachfolgend unter III.); im Windschatten des Aufsichtsrats stellen sich auch für den Aufsichtsratsvorsitzenden neue Aufgaben und Fragen. Der Jubilar hat in diesem Zusammenhang von einem schleichenden Streben des Aufsichtsrats nach Kompetenzerweiterung gesprochen.2 Allerdings wird der Aufsichtsrat dabei auch vom Gesetzgeber und der Regierungskommission DCGK vor sich her getrieben. Einzelfragen rund um die Kompetenzerweiterung des Aufsichtsrats werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Zu verweisen ist etwa auf die folgenden: –– Kann der Aufsichtsrat in den Bereichen, für die er die Geschäftsführungsbefugnis hat, Entscheidungen der Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG (analog) vorlegen, obwohl § 119 Abs. 2 AktG nur ein Verlangen des Vorstands vorsieht.3 –– Darf der Aufsichtsratsvorsitzende eigenständig mit Investoren außerhalb der Hauptversammlung kommunizieren und, wenn ja, in welchem Umfang und zu welchen Themen?4 –– Darf der Aufsichtsrat oder sein Vorsitzender eigenständig ohne Beteiligung des Vorstands über den Aufschub einer Selbstbefreiung nach Art. 17 Abs. 4 der MMVO entscheiden?5 Bedeutung hat dies insbesondere für die beabsichtigte Abberufung 2 E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 103, 124 f. 3 Gegen eine solche Möglichkeit etwa Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 13; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 20; Mülbert in GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2017, § 119 AktG Rz. 9, 197; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 724; a.A. bei originärer Geschäftsführungsbefugnis des Aufsichtsrats Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 76; Habersack, NZG 2016, 321, 326 f.; Hoffmann in Spindler/ Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 119 AktG Rz. 14a; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 119 AktG Rz. 15; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601, 604 f.; Schüppen, ZIP 2010, 905, 909.  4 Dies ist, befeuert durch Vorschläge aus der Praxis, vgl. die Leitlinien der Initiative „Developing Shareholder Communication“ v. 5.7.2016, abrufbar unter http://www.ey.com/Publicati​ on/vwLUAssets/ey-Leitsaetze-fuer-den-dialog-zwischen-investor-und-aufsichtsrat-​ 20160705/$FILE/ey-Leitsaetze-fuer-den-dialog-zwischen-investor-und-aufsichts ​ r at20160705.pdf (zuletzt abgerufen am 7.2.2019) und die Aufnahme einer Anregung in Ziff. 5.2 des DCGK 2017, in den letzten Jahren eine der meist diskutierten Fragen des Aktienrechts, an der sich auch der Jubilar pointiert beteiligt hat, s. E. Vetter, AG 2016, 873 ff. und AG 2014, 387 ff., wobei er eine tendenziell restriktive Position eingenommen hat; großzügiger Fleischer/Bauer/Wansleben, DB 2015, 360 ff.; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725, 728 ff.; Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337, 349; Grunewald, ZIP 2016, 2009, 2010  f.; Koch in ­Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz (2016), 66, 88  f.; Leyendecker-Langner, NZG 2015, 44, 45; M. Roth, ZGR 2012, 343, 369; M. Roth in FS Bergmann, 2018, S. 565 ff.; zu einem Überblick der Diskussion auch in Österreich Brodey/J. Vetter, ecolex 2017, 219 ff. und 333 ff. 5 Die BaFin verlangt hierfür nach wie vor die Beteiligung eines Vorstandsmitglieds, s. Emittentenleitfaden, 4.  Aufl., Stand v. 28.4.2009, Ziffer IV.3 (zu §  15 Abs.  3 WpHG a.F.) und

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Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden

des Vorstandsvorsitzenden, bei der es geradezu widersinnig wäre, wenn der Aufsichtsrat zunächst den Kreis der Insider erweitern müsste, und zwar gerade um den Betroffenen oder mit diesem unmittelbar zusammenarbeitende Personen, nur um sich dann selbst zu befreien. –– Darf der Aufsichtsrat eigenständig Mitarbeiter der zweiten Führungsebene befragen6 und Sachverständige mit Prüfungen unabhängig von der Informationsversorgung durch den Vorstand beauftragen?7 Basierend auf den gesetzlichen und rechtstatsächlichen Veränderungen mag man sich fragen, ob die Rolle des Aufsichtsrats in der Corporate Governance der AG tatsächlich grundlegend neu justiert werden muss. Dieser Frage kann man sich – quasi von oben nach unten ‑ nähern, indem man versucht, abstrakt eine Neupositionierung des Aufsichtsrats in der Corporate Governance zu entwickeln, oder umgekehrt von unten nach oben, indem man die verschiedenen Einzelfragen separat analysiert, um dann anschließend zu schauen, ob sich aus den Antworten auf die Einzelfragen ein neues Bild des Aufsichtsrats und seines Vorsitzenden ergibt. Mit der erstgenannten Methode ist das Risiko vorschneller und primär begrifflicher Argumentation verbunden.8 Mit den nachfolgenden Überlegungen soll ein Beitrag zur zweitgenannten Vorgehensweise geleistet werden. Dass diese Überlegungen dem Jubilar gewidmet werden, ist kein Zufall. Eberhard Vetter hat sich wie kaum ein anderer intensiv literarisch mit der Rolle des Aufsichtsrats in der Corporate Governance befasst.9 Dazu ist er auch wie kein anderer berufen, da er einerseits ausgewiesener, methodentreuer und kritischer Wissenschaftler, anderer„Art. 17 MAR – Veröffentlichung von Insiderinformationen (FAQs)“, Stand 31.1.2019, unter III.1; ausführlicher und a.A. etwa Mülbert in FS Stilz, 2014, S. 411 ff.; Retsch, NZG 2016, 1201, 1206; Klöhn in Klöhn, MAR, 1. Aufl. 2018, Art. 17 Rz. 193; keinen Bedarf für eine solche Kompetenz des Aufsichtsrats sehend Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, WPH, 7. Aufl. 2019, Art. 17 MMVO Rz. 95. 6 Zur Darstellung des Streitstands s. Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 21. 7 S. etwa Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 ff. 8 S.  auch Koch in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S.  65, 78 f. 9 So etwa allgemein zu dessen Spagat zwischen gesetzlichen Vorgaben und wachsenden He­ rausforderungen in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 103 ff.; zur Shareholders Communication in AG 2016, 873 und AG 2014, 387; zur Berichterstattung des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung in ZIP 2006, 257 ff.; zur Aufsichtsratswahl bzw. deren Anfechtung in ZIP 2008, 1806 ff. und ZIP 2012, 701 ff.; zur Aufsichtsratsvergütung in ZIP 2008, 1 ff. und Der Aufsichtsrat 2015, 85 f.; zur Rolle des Aufsichtsrats bei der Bestimmung der Vorstandsvergütung in ZIP 2009, 1307; zu Beratungsverträgen der Gesellschaft mit Aufsichtsratsmitgliedern in AG 2006, 173 ff.; zur Abberufung von gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitgliedern in DB 2005, 875; zur Rolle des Aufsichtsrats in der GmbH in GmbHR 2011, 449 ff.; zur Teilnahme des Vorstands an Aufsichtsratssitzungen in VersR 2002, 951  ff.; zur Haftung des überstimmten Aufsichtsratsmitglieds in DB 2004, 2623  ff.; zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten in liber amicorum Martin Winter, 2011, S. 705 ff. oder zur CSR-Berichterstattung und der Verantwortung des Aufsichtsrats in FS Marsch-Barner, 2018, S. 559 ff.

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seits erfahrener Praktiker ist, der die Aufsichtsratsarbeit sowohl von innen aus dem Unternehmen heraus als auch als Berater intensiv kennengelernt und gestaltet hat. Eberhard Vetter, der sich – für einen Praktiker ungewöhnlich – häufig auch mit rechtspolitischen Fragen und Lösungsvorschlägen de lege ferenda beschäftigt hat,10 befasste sich auch mit dem Thema dieses Beitrags bereits ausführlich im Jahr 2008 in der Festschrift für Harm Peter Westermann unter dem Titel „Auskünfte des Aufsichtsrats in der Hauptversammlung – Gedanken de lege ferenda“.11 Seine Gedanken sollen aufgegriffen werden, wobei der Schwerpunkt der nachfolgenden Überlegungen auf der Frage liegt, was als lex lata im Jahr 2019 zu gelten hat.

II. Meinungsstand Der Blick in die Literatur ergibt ein zahlenmäßig eindeutiges Bild: Die ganz herrschende Meinung orientiert sich streng am Gesetzeswortlaut des §  131 Abs.  1 S.  1 AktG und sieht die originäre Kompetenz zur Beantwortung von Aktionärsfragen allein beim Vorstand, und zwar auch dann, wenn die Frage an den Aufsichtsrat adressiert ist oder ausschließlich dessen Angelegenheiten betrifft.12 Die Auskunftserteilung sei Geschäftsführungsmaßnahme, die in die Kompetenz des Vorstands falle.13 Nur der Vorstand soll nach § 131 AktG Auskunft erteilen können; Auskünfte anderer Personen seien keine Auskünfte i.S.d. § 131 AktG, es sei denn, der Vorstand habe sich diese erkennbar zu eigen gemacht.14 Eine Differenzierung zwischen Verpflichtung und Berechtigung zur Auskunftserteilung wird nicht vorgenommen. Die Rechtspre-

10 Das rechtspolitische Interesse von Eberhard Vetter wird auch an seiner 12-jährigen Mitarbeit in der Deputation des Deutschen Juristentages von 1996 bis 2008, davon vier Jahre als Kassenführer, deutlich. 11 E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589 ff. 12 Decher in GroßKomm. AktG, 4.  Aufl. 2001, §  131 AktG Rz.  91; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 6; Groß, AG 1997, 97, 99; Herrler in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 131 AktG Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, § 29 Rz. 1122; Kersting in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 131 AktG Rz. 72; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 7; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 22; Liebscher in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 131 AktG Rz.  4; Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4.  Aufl. 2018, Rz. 34.35; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 5; Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  131 AktG Rz.  16  f.; Spindler in K.  Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 18; Wachter in Wachter, AktG, 2. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 6; Zimmermann in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, Abschn. 10.18 Rz. 24.2; s. auch BVerfG, NJW 2000, 349, 351; OLG Stuttgart, AG 1995, 234, 235; OLG Celle, AG 2005, 438, 440; gegen eine Auskunftspflicht des Aufsichtsrats OLG Hamburg, AG 2001, 359, 362. 13 S. bereits die Begr. des RegE, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 185; außerdem etwa Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 736; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, §  131 AktG Rz.  20; dagegen Trescher, DB 1990, 515, zu §  112 AktG 1937 bereits Ritter, AktG, 1939, § 112 AktG Anm. 3a). 14 OLG Düsseldorf, NJW 1988, 1033, 1034; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 7.

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chung erweckt teilweise sogar den Eindruck, als seien an den Aufsichtsrat oder seinen Vorsitzenden gerichtete und deren Einschätzungen betreffende Fragen unzulässig.15 Die meisten Autoren belassen es bei einer wertungsfreien Wiedergabe dieses Ergebnisses. Andere – insbesondere der Jubilar – erkennen an, dass das Ergebnis jedenfalls in der heutigen Zeit rechtspolitisch nicht mehr überzeugt und schlagen daher de lege ferenda eine Erstreckung der Auskunftserteilung auf den Aufsichtsrat bzw. den Aufsichtsratsvorsitzenden vor.16 Die Regierungskommission „Corporate Governance“ befasste sich bereits 2001 mit der Frage, ob sich die Einführung eines gesetzlichen Auskunftsrechts auch gegenüber dem Aufsichtsrat oder zumindest dem Aufsichtsratsvorsitzenden und seiner Erläuterungspflicht gem. § 176 Abs. 1 S. 2 AktG empfiehlt. Beides wurde jedoch mit Hinweis auf den „erheblichen“ bzw. „unverhältnis­ mäßigen Regulierungsaufwand“, der „außer Verhältnis zum Nutzen einer derartigen Regelung“ stünde, verworfen.17 Auf dieser Basis bereitet die Praxis der Hauptversammlung, in der der Aufsichtsratsvorsitzende wie bereits erwähnt selbstverständlich alle den Aufsichtsrat betreffenden Fragen beantwortet, einen besonderen Begründungsaufwand. Angeboten werden die folgenden Ansätze: –– Zum einen wird argumentiert, dass der Vorstand vor Beantwortung der Frage die Auskunftserteilung an einen Dritten, hier also den Aufsichtsratsvorsitzenden, delegieren kann, so wie er sich auch des Versammlungsleiters, Rechtsanwälten oder sonstiger externer Experten zur Erfüllung des Auskunftsanspruchs bedienen kann. Zwar erfülle dann die Auskunft des Aufsichtsratsvorsitzenden die Pflicht nach § 131 Abs. 1 S. 1 AktG, rechtlich gesehen handele es sich aber weiterhin um eine Auskunft des Vorstands.18 –– Zum anderen wird angenommen, dass sich der Vorstand eine Auskunft des Aufsichtsratsvorsitzenden auch noch nachträglich (konkludent) zu Eigen machen könne.19 15 OLG Stuttgart, AG 1995, 234, 235; OLG Celle, AG 2005, 438, 440. 16 E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1600 ff.; außerdem Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 738 ff.; Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, Abschn. G Rz. 28; Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 17.  17 Bericht der Regierungskommission „Corporate Governance“, 14.8.2001, BT-Drucks. 14/7515, Rz. 61. 18 Decher in GroßKomm. AktG, 4.  Aufl. 2001, §  131 AktG Rz.  90; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 6; Herrler in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 131 AktG Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, § 29 Rz. 1121 f.; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 5; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 16; Wachter in Wachter, AktG, 2. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 6; Zimmermann in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, Abschn. 10.18 Rz. 24.2; erstmalig zur Delegation RGZ 167, 151, 169 (zu § 112 AktG 1937). 19 OLG Celle, AG 2005, 438, 440; Decher in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 91; Drinhausen in Hölters, AktG, 3. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 6; Groß, AG 1997, 97, 99; Herrler in Grigoleit, AktG, 1. Aufl. 2013, § 131 AktG Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2014, § 29 Rz. 1121 f.; Kersting in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2009,

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Demgegenüber kommt eine sich zahlenmäßig deutlich in der Minderheit befindliche Ansicht dazu, dass der Aufsichtsratsvorsitzende berechtigt ist, in eigener Kompetenz Fragen, die in den Zuständigkeitsbereich des Aufsichtsrats fallen, in der Hauptversammlung zu beantworten.20 Teilweise wird sogar ausdrücklich eine entsprechende Verpflichtung angenommen.21 Begründet wird dies mit einer notwendigen Annexfunktion zur Berichterstattung des Aufsichtsrats nach §§ 171 Abs. 2, 176 Abs. 1 S. 2 AktG.22 Zudem wird auf die größere Sachkenntnis des Aufsichtsrats in Aufsichtsratsangelegenheiten23 und gesellschaftsrechtliche Grundprinzipien verwiesen: Würde man das Auskunftsrecht hinsichtlich der Überwachungstätigkeit beim Vorstand verorten, würde das Recht und die Pflicht zur Auskunft vom Überwachenden auf den Überwachten übertragen werden. Niemand sei jedoch weniger geeignet, über Überwachungstätigkeiten Auskünfte zu erteilen, als der Überwachte selbst (Prinzip der Inkompatibilität).24 Das Ergebnis der nachfolgenden Untersuchung soll bereits an dieser Stelle vorweg genommen werden: Die herrschende Meinung überzeugt nicht. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende ist jedenfalls berechtigt, Fragen, die in die Kompetenz des Aufsichtsrats fallen, in der Hauptversammlung zu beantworten. Zur Begründung sollen nachfolgend zunächst relevante Veränderungen im Aktienrecht und der aktienrechtlichen Praxis in den letzten Jahren skizziert werden. Anschließend folgen einige Überlegungen zur Auslegung des § 131 AktG, bevor auf alternative Begründungsansätze für eine Kompetenz des Aufsichtsratsvorsitzenden zur Beantwortung von Fragen eingegangen wird. Dabei soll bewusst zwischen der Berechtigung und einer Verpflichtung zur Beantwortung von Fragen unterschieden werden. § 131 AktG Rz. 72; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 7; Marsch-Barner in Marsch-Barner/Schäfer, Hdb. börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 34.35; Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl. 2017, § 131 AktG Rz. 5; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 16; Zimmermann in Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2015, Abschn. 10.18 Rz. 24.2. 20 Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 285 f.; Trescher, DB 1990, 515, 516; M. Roth in FS Bergmann, 2018, S. 565, 575 f.; Heidel in Heidel, Aktien- und KapitalmarktR, 4. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 17a; Steiner, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 1995, § 11 Rz. 7; sehr knapp Mutzke, AG 1966, 173, 174. 21 Heidel in Heidel, Aktien- und KapitalmarktR, 4. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 17a; Steiner, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 1995, § 11 Rz. 7 (analoge Anwendung des § 131 AktG); soweit der Bericht des Aufsichtsrats nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG unzureichend ist, die Auskunft zur sachgemäßen Beurteilung der Information erforderlich ist und das Beratungsgeheimnis nicht verletzt wird, auch Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286; von einer Obliegenheit spricht Trescher, DB 1990, 515, 516. 22 Trescher, DB 1990, 515 f.; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 285 f.; ähnlich M. Roth in FS Bergmann, 2018, S. 565, 575; ausdrücklich a.A. Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 738; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 18; OLG Celle, AG 2005, 438, 440. 23 Heidel in Heidel, Aktien- und KapitalmarktR, 4. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 17a; Trescher, DB 1990, 515, 516. 24 Trescher, DB 1990, 515, 516; ausdrücklich a.A. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 22.

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III. Veränderungen im rechtlichen Umfeld In den letzten Jahren sind zwei Trends zu beobachten, die für die vorliegende Frage Relevanz haben: Zum einen hat der Gesetzgeber mehr und mehr den Aufsichtsrat in Aufgaben mit einbezogen, die eigentlich Geschäftsleitungsaufgaben sind. Im Jahr 2008 wies der Jubilar darauf hin, dass die Rechtsentwicklung im letzten Jahrzehnt insgesamt zu Änderungen in der aktienrechtlichen Kompetenzordnung geführt habe, die sich auch auf die Rolle des Aufsichtsrats ausgewirkt haben, sodass inzwischen vereinzelt vom Aufsichtsrat als „Mitunternehmer“ gesprochen werde.25 Zum anderen werden alte oder im Zuge der vorstehenden Entwicklung neu geschaffene Aufgaben des Aufsichtsrats verstärkt zu Themen für die Hauptversammlung gemacht, indem der Hauptversammlung entweder gezielt zu berichten oder die Hauptversammlung sogar zur Beschlussfassung berufen ist. Zu beiden Trends, die teilweise Hand in Hand gehen, einige Beispiele. –– Schon der Jubilar wies im Zusammenhang mit seiner vorstehend wiedergegebenen Feststellung auf die verstärkte Einbindung des Aufsichtsrats in die Bestellung und Beauftragung des Abschlussprüfers hin.26 Bis zum KonTraG von 199827 war der Aufsichtsrat nur für den Beschlussvorschlag zur Bestellung des Abschlussprüfers durch die Hauptversammlung zuständig, anschließend auch für die Erteilung des Prüfungsauftrags gem. § 111 Abs. 2 S. 3 AktG. Seitdem sind die gesetzlichen Anforderungen an den Aufsichtsrat und den Prüfungsausschuss im Hinblick auf die Auswahl und Bestellung des Prüfers (s. Art. 16 EU-APVO28 zum Auswahlverfahren und zur Begründung der Entscheidung, Art. 11 EU-APVO zum zusätzlichen Bericht des Abschlussprüfers an den Prüfungsausschuss) noch weiter gestiegen. –– Nach § 161 AktG geben Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam die Entsprechenserklärung ab. Wird Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) nicht entsprochen, ist anzugeben warum. Dabei ist zu beachten, dass sowohl nach dem DCGK 2017 als auch dem am 25.10.2018 veröffentlichten Entwurf eines komplett überarbeiteten DCKG 2019 deutlich mehr Empfehlungen die Arbeit des Aufsichtsrats als die des Vorstands betreffen. –– Der Jubilar wies bereits 2008 darauf hin, dass sich der Kodex intensiv mit der Aufsichtsratsarbeit befasst und dabei insbesondere Anregungen zur Amtsdauer von Vorstandsmitgliedern enthält, die der Aufsichtsrat bei seinem Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung beachten sollte (Ziff. 5.1.2 Abs. 2 des DCGK 2017). Seitdem sind weitere an den Aufsichtsrat gerichtete Empfehlungen und Anregungen 25 E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1594 f. 26 Ausführlicher zur Zusammenarbeit des Aufsichtsrats mit dem Abschlussprüfer einschließlich dessen Bestellung E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 103, 125 ff. 27 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich v. 27.4.1998, BGBl.  I, S. 786. 28 Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission.

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im Hinblick auf die Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat hinzugekommen, beispielsweise die Empfehlung, bei der Zusammensetzung auf Vielfalt zu achten (Ziff. 5.1.2 Abs. 1 Satz 2 DCGK 2017) oder Zielgrößen für den Anteil von Frauen festzulegen (Ziff. 5.1.2. Abs. 1 Satz 3 DCGK 2017). Viele Empfehlungen betreffen die Zusammensetzung und Qualität des Aufsichtsrats und Wahlvorschläge an die Hauptversammlung zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern (s. Ziff. 5.4 DCGK 2017). Damit sind Themen betroffen und zu einer Erklärungspflicht des Aufsichtsrats gemacht worden, die für Aktionäre auch in der Hauptversammlung von besonderer Bedeutung sind und bei denen es entsprechend naheliegt, dass Aktionäre in der Hauptversammlung zusätzliche Erläuterungen erbitten. –– Besonders hinzuweisen ist auf die Anregung in Ziff. 5.2 Abs. 2 des DCGK 2017, wonach der Aufsichtsratsvorsitzende in angemessenem Rahmen bereit sein sollte, mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen Gespräche zu führen. Der primäre Austausch zwischen den investierten Aktionären und der Verwaltung ist nach der gesetzlichen Konzeption eigentlich die Hauptversammlung, so dass die Regierungskommission vermutlich wie selbstverständlich davon ausgeht, dass der Aufsichtsratsvorsitzende auch in der Hauptversammlung mit Aktionären kommuniziert. –– Zur Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB wird verbreitet vertreten, dass auch diese von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam abgegeben wird.29 Diesem Verständnis hat sich ausdrücklich der Entwurf für einen überarbeiteten DCGK 2019 vom 25.10.2018 in Ziff. 3.10 angeschlossen. Der bis zum DCGK 2017 in dessen Ziff. 3.10 empfohlene Corporate Governance Bericht sollte ebenfalls von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam erstellt werden. –– Ein weiteres Beispiel für die Erweiterung der Kompetenzen des Aufsichtsrats neben dem Vorstand ist die Verpflichtung auch des Aufsichtsrats einer Zielgesellschaft, nach § 27 WpÜG eine Stellungnahme zu einem Übernahmeangebot abzugeben. § 16 Abs. 3 WpÜG sieht vor, dass die Zielgesellschaft nach Veröffentlichung einer Angebotsunterlage eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen kann; der DCGK 2017 hat dies in Ziff. 3.7 Abs. 3 sogar empfohlen. Auch hier betreffen die erweiterten Pflichten des Aufsichtsrats also gerade einen Bereich, zu dem Fragen von Aktionären in der Hauptversammlung besonders nahe liegen. –– Der wichtigste Anwendungsfall, in dem die Arbeit des Aufsichtsrats zum Gegenstand besonderer Berichtspflichten und der Billigung durch die Hauptversammlung gemacht worden ist, ist die Vorstandsvergütung: Schon bisher kann die Hauptversammlung über die Billigung des Systems der Vorstandsvergütung entscheiden (§ 120 Abs. 4 AktG a.F.). In Zukunft wird dies durch das nunmehr zwingende Votum zum Vergütungssystem und zum Vergütungsbericht ersetzt (§ 120a

29 Merkt in Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 289f Rz. 2; Lentfer/Weber, DB 2006, 2357, 2362 wollen dies auf eine Analogie zu der Vorschrift über die Entsprechenserklärung stützen; Paetzmann, ZCG 2009, 64, 65; a.A. Grottel in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 11. Aufl. 2018, § 289f Rz. 35; zur Vorgängernorm Lange in MünchKomm. HGB, 3. Aufl. 2013, § 289a Rz. 8.

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Abs. 1 AktG i.d.F. des ARUG II-E30). Zusätzlich ist der Hauptversammlung damit ein von Vorstand und Aufsichtsrat erstellter Vergütungsbericht zur Billigung vorzulegen. Diese Beschlussgegenstände dürften auch in vermehrtem Umfang Fragen von Aktionären in der Hauptversammlung zur Folge haben. –– Eine weitere in den letzten gut zehn Jahren für den Aufsichtsrat relevant gewor­ dene Geschäftsführungsmaßnahme ist die Prüfung und ggfs. Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder.31 Hier liegt die ­Geschäftsführungsbefugnis beim Aufsichtsrat. Die besondere Bedeutung dieses Themas auch für Aktionäre liegt zum einen in ihrer Einbindung in vergleichsweise Erledigungen nach § 93 Abs. 4 S. 3 AktG, für die typischerweise entweder der Aufsichtsrat oder Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam einen schriftlichen Bericht erstatten. Zum anderen hat die Organhaftung angesichts der Höhe der insbesondere durch Compliance-Verstöße verursachten Schäden und die typischerweise gegebene Möglichkeit, zumindest einen Teil davon von D&O-Versicherern ersetzt zu erhalten, eine erhebliche wirtschaftliche Relevanz für die Gesellschaft und damit auch ihre Inhaber.

IV. Auslegung des § 131 AktG 1. Wortlaut § 131 Abs. 1 AktG bestimmt, dass jedem Aktionär auf Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben ist, soweit dies für die sachgemäße Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist. Abs. 3 regelt, unter welchen Voraussetzungen der Vorstand die Auskunft verweigern darf. §  132  AktG bestimmt, wie ein Streit über die Frage, ob der Vorstand die Auskunft zu geben hat, gerichtlich zu entscheiden ist. Nach dem Wortlaut des § 131 AktG scheint danach recht deutlich ein Anspruch von Aktionären auf Auskunftserteilung nur gegen den Vorstand eingeräumt zu werden. Dem Wortlaut selbst lässt sich dagegen nicht die weitergehende Conclusio entnehmen, dass auch nur der Vorstand berechtigt ist, Auskünfte zu erteilen. Es ist nicht zwingend, dass einem Recht zur Erteilung von Auskünften auch eine entsprechende Pflicht entspricht. Der Wortlaut spricht daher zwar dafür, dass der Aufsichtsrat nicht verpflichtet ist, Auskünfte zu erteilen, er verbietet ihm dies aber auch nicht. 2. Historische Auslegung Vor 1937 fehlten Regelungen zu individuellen Auskunftsrechten der Aktionäre. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahr 1894 sollte „jeder Aktionär ein 30 S. RegE eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) v. 20.3.2019. 31 Als maßgebliche Treiber dieser Entwicklung dürften einerseits das ARAG/Garmenbeck-Urteil des BGH v. 21.4.1997 − II ZR 175/95, ZIP 1997, 883, andererseits der Siemens-Korruptionsskandal und dessen Aufarbeitung anzusehen sein.

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vom Mehrheitswillen unabhängiges Recht darauf [haben], daß ihm die Möglichkeit gewährt werde, sich ein selbständiges Urteil über die Verwaltung zu bilden.“32 Hieraus folgerten zahlreiche Autoren die Existenz eines individuellen Informationsrechts.33 Soweit ersichtlich drehte sich die rechtswissenschaftliche Diskussion dabei aber stets um die Frage, ob überhaupt ein Anspruch bestehe. Ob etwaige Fragen vom Vorstand oder vom Aufsichtsratsvorsitzenden als Versammlungsleiter zu beantworten wären, wurde – soweit ersichtlich – nicht diskutiert. Im Aktiengesetz von 1937 wurde in § 112 erstmals ein individuell ausgestaltetes Informationsrecht der Aktionäre aufgenommen.34 Welches Gesellschaftsorgan zur Erteilung der Auskunft verpflichtet war, war allerdings noch nicht ausdrücklich geregelt. Eindeutige Hinweise hierzu finden sich auch nicht in der Entstehungsgeschichte dieser Norm. Erstmals war das individuelle Auskunftsrecht im Entwurf für ein Aktiengesetz von 1930 enthalten (dort § 86 Abs. 1 S. 1 AktG-E).35 Auch die Materialien zu diesem Entwurf äußern sich nicht ausdrücklich dazu, welches Gesellschaftsorgan diese Pflicht zu erfüllen hat. Nur an einer Stelle ist davon die Rede, dass „der Vorstand … seine Auskunftspflicht [erfüllt]“.36 Hieraus lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres folgern, dass allein der Vorstand eine Auskunftspflicht oder ein Auskunftsrecht habe. Weder der Aufsichtsrat noch dessen Vorsitzender werden in den Materialien zu diesem Entwurf erwähnt. Bei der späteren Reform des AktG im Jahr 1965 ging der Gesetzgeber offenbar davon aus, dass schon nach der Vorgängerregelung des § 112 AktG 1937 nur der Vorstand verpflichtet war, und spricht in der Gesetzesbegründung stets vom Vorstand als Auskunftserteilenden.37 Dass der Vorstand für die Gesellschaft als Anspruchsgegnerin des Auskunftsanspruchs handle, stelle der Entwurf nur klar.38 Dem entspricht auch das damalige Schrifttum zum Verständnis der bis dahin geltenden Rechtslage.39 Etwas weniger eindeutig, allerdings doch eine klare Tendenz erkennen lassend, sind die Stellungnahmen in der Literatur kurz nach der Einführung des § 112 AktG 1937. Zeitge32 RG v. 13.10.1894 – I 195/94, RGZ 34, 57 (58). 33 Vgl. Casper in Bayer/Habersack (Hrsg.), Aktienrecht im Wandel II, 2007, § 12 Rz. 11. 34 § 112 Abs. 1 lautete: „Jedem Aktionär ist auf Verlangen in der Hauptversammlung Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, die mit dem Gegenstand der Verhandlung im Zusammenhang stehen.“ 35 § 86 Abs. 1 S. 1 AktG-E hatte folgenden Wortlaut: „Jedem Aktionär ist auf Antrag in der Generalversammlung über Angelegenheiten der Gesellschaft, die mit den Gegenständen der Verhandlung im Zusammenhang stehen, Auskunft zu erteilen. […]“ 36 Begründung des Entwurfs für ein Aktiengesetz 1930, abgedruckt bei Schubert, Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik (1926-1931), S. 952. 37 Vgl. Begr RegE zu § 131 AktG, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 185: „Die Vorschrift [des § 112 AktG 1937] gewährt einerseits jedem Aktionär das Auskunftsrecht […]. Andererseits kann der Vorstand die Auskunft verweigern […]. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet allein der Vorstand. […] Das Auskunftsverlangen [nach neuem Recht] richtet sich gegen die Gesellschaft. Für sie handelt, wie der Entwurf klarstellt, der Vorstand.“ (Hervorhebung durch Verf.) 38 Begr RegE zu § 131 AktG, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 185. 39 Brox, DB 1965, 731, 734; Schuler, NJW 1962, 841, 842.

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nössische Kommentierungen sprachen überwiegend von einer Pflicht der Gesellschaft, zu deren Ausübung der Vorstand zuständig sei.40 Allerdings unterschieden andere Kommentatoren nach dem Gegenstand der verlangten Auskunft41 oder nahmen im Hinblick auf die bereits zur damaligen Zeit verbreitete Praxis der Beantwortung von Fragen durch den dem Aufsichtsrat entstammenden Versammlungsleiter die Zulässigkeit dieses Vorgehens an, allerdings nur unbeschadet der Verantwortlichkeit des Vorstands.42 In Österreich gilt mit § 118 öAktG bis heute eine dem § 112 AktG 1937 entsprechende Regelung.43 Diese Vorschrift wird im österreichischen Schrifttum so ausgelegt, dass nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht des Aufsichtsrats zur Beantwortung von Fragen, die seinen Tätigkeitsbereich betreffen, besteht.44 Auch eine allgemeine Auskunftspflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden wird diskutiert.45 3. Systematische und teleologische Auslegung Die folgenden Argumente sprechen aus systematischer und/oder teleologischer Sicht dagegen, § 131 AktG ein Verbot der Beantwortung von die Aufsichtsratsarbeit betreffenden Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden zu entnehmen: –– Es gibt keinen Grund, sondern wäre widersinnig, eine zwingende Verpflichtung zur Beantwortung von Fragen durch ein für die konkrete Frage nicht kompetentes Organ anzuordnen. Der Verwaltung sollte die Möglichkeit gegeben sein, Fragen jeweils durch dasjenige Organ beantworten zu lassen, dem auch die Sachkompetenz zugeordnet ist.46 Dies gilt insbesondere für Fragen der Personalpolitik einschließlich der Vorstandsvergütung, aber auch etwa die Nachfolgeplanung für Vorstand und Aufsichtsrat oder Fragen rund um die Abschlussprüferbestellung.47 Methodisch spricht für einen weitergehenden Interpretationsspielraum der Umstand, dass der Gesetzgeber in den letzten Jahren wie gezeigt gerade originär in die Zuständigkeit des Aufsichtsrats fallende Themen in die Hauptversammlung getragen hat (Paradebeispiel Say-on-pay-Beschlüsse).

40 Schlegelberger/Quassowski, AktG v. 30.  Januar 1937, 3.  Aufl. 1939, §  112 Anm. 3; Ritter, AktG, 1939, § 112 AktG Anm. 3a). 41 Adler/Düring/Schmaltz, 1. Aufl. 1938, § 128 AktG Anm. 85. 42 v. Godin/Wilhelmi, AktG vom 30. Januar 1937, 2. Aufl. 1950, § 112 Anm. 2. 43 § 118 Abs. 1 S. 1 öAktG lautet: „Jedem Aktionär ist auf Verlangen in der Hauptversammlung Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunkts erforderlich ist.“ 44 M. Doralt in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, AktG § 131 Rz. 262. 45 Vgl. Nachweise bei M. Doralt in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, AktG § 131 Rz. 262 mit Fn.  710; Kastner/Doralt/Nowotny, Grundriss des österreichischen Gesellschaftsrechts, 5. Aufl. 1990, S. 289.  46 Vgl. Trescher, DB 1990, 515, 516; ähnlich Heidel in Heidel, Aktien- und KapitalmarktR, 4. Aufl. 2014, § 131 AktG Rz. 17a. 47 S. schon E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1596 f., 1598 f.

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–– Teilweise ist der Vorstand nicht einmal berechtigt, bestimmte den Aufsichtsrat betreffende Auskünfte zu geben, die der Aufsichtsrat erteilen dürfte: Die strikte Verschwiegenheitsverpflichtung des § 116 S. 2 AktG, insbesondere das Beratungsgeheimnis des Aufsichtsrats, stehen nicht zur Disposition des Vorstands.48 Das betrifft etwa das Abstimmungsverhalten einzelner Aufsichtsratsmitglieder. Der Vorstand darf dazu, selbst wenn er wollte und die Information besäße, nichts sagen; allein der Aufsichtsrat entscheidet über die (ausnahmsweise) Offenlegung seinem Beratungsgeheimnis unterliegender Umstände.49 –– Dieser Gedanke wird noch stichhaltiger, wenn man § 131 AktG eine Kontroll- und Überwachungsfunktion beimisst. Die Aktionäre als der Souverän und Prinzipal sollen die Möglichkeit haben, sich über die Arbeit der mit der Verwaltung ihres Vermögens betrauten Unternehmensleiter und Agenten zu informieren und von ihnen Rechenschaft jedenfalls im Hinblick auf die Tagesordnungspunkte der Hauptversammlung zu verlangen.50 Nach der Corporate Governance der deutschen Aktiengesellschaft handelt es bei den Unternehmensleitern eben nicht nur um den Vorstand, sondern in begrenzten Teilbereichen auch den Aufsichtsrat. –– Die Aktionäre entscheiden über die Wahl, Abwahl und Entlastung der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat. Das Auskunftsrecht wird gerade als ein Mittel angesehen, die sachgerechte Ausübung der Mitgliedschaftsrechte sicherzustellen.51 Eine informierte, im Unternehmensinteresse zu treffende Entscheidung erfordert eine ausreichende Informationsgrundlage. Auch hier wäre es zweckwidrig, müsste kraft Gesetzes der Vorstand den nachfragenden Aktionären Rechenschaft über die Arbeit des Aufsichtsrats geben. Erschwerend kommt hinzu, dass ihm die relevanten Informationen häufig fehlen werden, da der Vorstand nicht alle Details der Beratungen und Überlegungen des Aufsichtsrats kennen wird. Ein Verbot der Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsrat, vertreten durch seinen Vorsitzenden, wäre geradezu aktionärsdemokratiefeindlich. –– Soweit der Aufsichtsrat den Vorstand überwacht, wäre es geradezu widersinnig, würde der Vorstand darauf abzielende Aktionärsfragen beantworten. Das Paradebeispiel ist die Prüfung und Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Hier ist an den bereits zitierten Hinweis zu erinnern, dass niemand weniger geeignet ist, über Überwachungstätigkeiten Auskünfte zu erteilen, als der Überwachte selbst.52 48 S. etwa Habersack in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 68 ff.; Spindler in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 116 AktG Rz. 117. 49 Ausführlicher Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 284 f.; zur Entscheidungskompetenz s. auch unten Fn. 78. 50 S. etwa E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1600 f.; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 1 m.w.N.; ausführlich, aber zurückhaltend Decher in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 10 ff. 51 S. bereits die Begr. des RegE, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 184; außerdem etwa Decher in GroßKomm. AktG, 4.  Aufl. 2001, §  131 AktG Rz.  5; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 1; speziell zur Entlastung E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1601. 52 Trescher, DB 1990, 515, 516; ausdrücklich a.A. Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 22.

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–– Nach § 171 Abs. 2 AktG ist der Aufsichtsrat verpflichtet, der Hauptversammlung einen schriftlichen Bericht über die Prüfung des Jahresabschlusses nebst weiterer Dokumente und seiner Prüfung der Geschäftsführung durch den Vorstand zu erstatten. Nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG hat der Aufsichtsratsvorsitzende den Bericht des Aufsichtsrats in der Hauptversammlung mündlich zu erläutern. Für die for­ male Information der Aktionäre über die Aufsichtsratsarbeit sind damit der Aufsichtsrat bzw. in der Hauptversammlung der Aufsichtsratsvorsitzende zuständig. Auch insoweit erschiene es widersinnig, wenn für Rückfragen zu diesen Berichten der Vorstand zuständig wäre.53 –– Die Frage, ob der Aufsichtsrat eine originäre Kompetenz zur Beantwortung von Fragen hat, hat auch Bedeutung für die Anforderungen an die Berichte nach §§ 171 Abs. 2 und 176 Abs. 1 S. 2 AktG. Unterstellt man, dass die Berichtsgegenstände vom Aufsichtsrat und nicht vom Vorstand zu erläutern sind, müsste insbesondere der mündliche Bericht nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG umfassend und abschließend sein, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende keine Möglichkeit hätte, in der Generaldebatte im Wege der Beantwortung von Aktionärsfragen zur Aufsichtsratstätigkeit des betreffenden Geschäftsjahrs nachzulegen. In der Praxis differiert die Intensität der mündlichen Berichterstattung erheblich. Teilweise werden ausführliche, eng am schriftlichen Aufsichtsratsbericht orientierte mündliche Berichte erstattet, teilweise nur äußerst knappe, in denen im Wesentlichen auf den schriftlichen Bericht verwiesen wird.54 Jedenfalls in der Praxis wird eine Legitimation für eher knappe Berichte auch darin gesehen, dass die Aktionäre zusätzliche Informationen ja in der Generaldebatte erfragen können. Einer Straffung und Konzentration der Hauptversammlung und der in ihr zu erstattenden Berichte auf für die Aktionäre wirklich wichtige Themen kommt diese Vorgehensweise in jedem Fall entgegen. –– Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei Betrachtung der Grundsätze zum Vergütungssystem für den Vorstand (zukünftig § 87a AktG i.d.F. ARUG II-E) sowie die Angemessenheit der Vorstandsvergütung gem. § 87 AktG. Auch hier liegt die größere Sachnähe offensichtlich beim Aufsichtsrat. Hinzu kommt, dass die Vorstandsmitglieder im Hinblick auf ihre eigene Vergütung leicht als „befangen“ gelten können. Aktionärsfragen, die derartige Themen betreffen, werden vom Aufsichtsrat daher nicht nur sachgerechter, sondern vermutlich auch objektiver beantwortet werden. Darüber hinaus wird durch die bereits dargelegte Rechtslage nach dem ARUG II die Stellung des Aufsichtsrats in Bezug auf das Vergütungssystem auch im Außenverhältnis aufgewertet. Vorstand und Aufsichtsrat haben den Vergütungsbericht zu erstellen (§  162 Abs.  1 AktG i.d.F. des ARUG II-E). Nach Ziff. 4.2.3 Abs.  6 des DCGK 2017 wird empfohlen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende die Hauptversammlung über die Grundzüge des Vergütungssystems des Vorstands und etwaige Änderungen informiert. Auch dies spricht dafür, den Aufsichtsrat bzw. seinen Vor53 S. schon E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1598. 54 Zu den rechtlichen Anforderungen an den Bericht nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG s. etwa Euler/Klein in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 176 AktG Rz. 16 ff.; Ekkenga in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2011, § 176 AktG Rz. 13; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 176 AktG Rz. 19 f.

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sitzenden als zur Beantwortung einschlägiger Fragen der Aktionäre zuständig anzusehen. –– Nach § 118 Abs. 3 AktG sollen die Mitglieder des Aufsichtsrats an der Hauptversammlung teilnehmen. Daraus wird ein Rederecht jedes Aufsichtsratsmitglieds in der Hauptversammlung abgeleitet.55 Allerdings soll das Aufsichtsratsmitglied nur in Erfüllung seiner organschaftlichen Pflichten das Wort ergreifen.56 Da die Funktion des Sprechers des Aufsichtsrats allein bei dessen Vorsitzenden liegt, darf sich das einzelne Mitglied nur mit Zustimmung des Vorsitzenden zu Themen aus dem Bereich des Aufsichtsrats äußern.57 Auch wenn sich damit aus § 118 Abs. 3 AktG kein Recht des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds zur Beantwortung von Aktionärsfragen ableiten lässt, spricht doch die Teilnahmeobliegenheit des § 118 Abs. 3 AktG und das daraus abgeleitete Rederecht dafür, dass zu Aufsichtsratsangelegenheiten der Aufsichtsrat (durch seinen Vorsitzenden als Sprecher) und nicht der Vorstand Stellung nehmen sollte. –– Eine verwandte Problematik betrifft die Auskunftserteilung des besonderen Vertreters nach § 147 Abs. 2 AktG gegenüber der Hauptversammlung. Der besondere Vertreter wird allgemein als Organ der Gesellschaft angesehen.58 Nach zutreffender, aber umstrittener Ansicht ist der besondere Vertreter der Hauptversammlung gegenüber berichts- und auskunftspflichtig, sofern seine Tätigkeit Gegenstand eines Tagesordnungspunkts der Hauptversammlung ist. Beim besonderen Vertreter ist ebenfalls offensichtlich, dass die Aktionäre ein berechtigtes Informationsbedürfnis haben, dieses aber nicht sachgemäß durch den Vorstand nach § 131 AktG erfüllt werden kann.59 4. Kritik an den dogmatischen Ersatzkonstruktionen der herrschenden Meinung Die dogmatischen Ersatzkonstruktionen, mit der die h.M. die Rechtswirklichkeit mit dem eigenen dogmatischen Grundansatz vereinbaren möchte (Delegation der Auskunftserteilung vom Vorstand an den Aufsichtsratsvorsitzenden und nachträgliches Zu-Eigen-Machen vom Aufsichtsratsvorsitzenden erteilter Antworten),60 erscheinen

55 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 118 AktG Rz. 100; Mülbert in GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 51; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 40; tendenziell zurückhaltender Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286.  56 Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286; Mülbert in GroßKomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 118 AktG Rz. 51. 57 Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286. 58 S. nur Rieckers/J. Vetter in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2014, § 147 Rz. 515 m.w.N. 59 Ausführlicher m.w.N. Rieckers/J.  Vetter in KölnerKomm. AktG, 3.  Aufl. 2014, §  147 Rz. 565 ff.; außerdem Böbel, Die Rechtsstellung der besonderen Vertreter gem. § 147 AktG, 1999, S. 123; Kling, ZGR 2009, 190, 219 f.; Verhoeven, EWiR 2009, 65, 66; kritisch allerdings G. Bezzenberger in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2005, § 147 Rz. 58; Mock, AG 2008, 839, 844.  60 Zu Nachweisen bereits oben unter II.

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artifiziell, der Rolle des Aufsichtsrats nicht angemessen und unnötig umständlich.61 Würde man einen Vorstand oder einen Aufsichtsratsvorsitzenden fragen, ob der Aufsichtsratsvorsitzende zur Beantwortung von den Aufsichtsrat betreffenden Aktionärsfragen einer Ermächtigung durch den Vorstand bedürfe, würde man nur Unverständnis und Kopfschütteln ernten. Würde man die Begründungsansätze in der Praxis der Hauptversammlung juristisch exakt analysieren, dürfte in vielen Fällen jegliches Erklärungsbewusstsein auf Seiten des Vorstands fehlen. Sowohl die Delegation an den Aufsichtsratsvorsitzenden als auch eine nachträgliche Aneignung müssten wohl Willensäußerungen des Vorstands als Gesamtorgan erfordern. Die Voraussetzungen eines Vorstandsbeschlusses dürften häufig nicht vorliegen.62 Der artifizielle Charakter der Begründungsansätze der herrschenden Meinung wird auch deutlich, wenn man den in der Praxis nicht vorkommenden Fall durchdenkt, dass der Vorstand mit einer Auskunftserteilung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden, beispielsweise zur Beurteilung der Vorstandsarbeit, zur Nachfolgeplanung oder zur Untersuchung und potentiellen Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder, nicht einverstanden ist. Nach der h.M. könnte der Vorstand die Beantwortung einer solchen Frage verhindern, indem er dem Aufsichtsratsvorsitzenden die Beantwortung für den Vorstand verbietet und die Frage selbst beantwortet. Was gälte, wenn der Vorstand mit einer vom Aufsichtsratsvorsitzenden erteilten Antwort nicht zufrieden ist und sie sich ausdrücklich nicht zu eigen macht? Ist die Frage dann nicht ordnungsgemäß beantwortet mit der Folge, dass Aktionäre ein Auskunftserzwingungsverfahren nach § 132 AktG einleiten können? Die Begründungsansätze der herrschenden Meinung können erst recht dort nicht überzeugen, wo der Vorstand, wie etwa bei dem Beratungsgeheimnis des Aufsichtsrats unterliegenden Gegenständen, gar nicht berechtigt wäre, eine Auskunft zu erteilen. Die These, dass nur der Vorstand nach § 131 AktG Auskunft erteilen kann und dass Auskünfte anderer Personen keine Auskünfte i.S.d. § 131 AktG sind, es sei denn, der Vorstand hat sich diese erkennbar zu eigen gemacht, läge ein Verständnis zugrunde, wonach der Aktionär Anspruch gerade auf Erteilung der Information durch und nur durch den Vorstand hat. Es gibt jedoch keinen Grund, warum der Aktionär Anspruch darauf haben sollte, dass sein Informationsanspruch gegen die Gesellschaft ausschließlich durch den Vorstand und nicht ein anderes Gesellschaftsorgan erfüllt wird, solange die erbetene Auskunft nur ordnungsgemäß erteilt wird. Hat der Aufsichtsratsvorsitzende beispielsweise in seinem mündlichen Bericht an die Hauptversammlung eine bestimmte Information erteilt, hat ein Aktionär keinen Anspruch mehr darauf, dass ihm der Vorstand dieselbe Information noch einmal gibt und nicht lediglich auf den Bericht verweist. Gleiches muss gelten, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende eine Frage in der Generaldebatte beantwortet hat. Für die Frage, ob das Informationsbedürfnis des Aktionärs gestillt und sein Informationsanspruch erfüllt ist, kann es nicht darauf ankommen, wer ihm für die Gesellschaft die Information erteilt hat. 61 So zu recht Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 285; außerdem etwa Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 736, 738, ohne daraus allerdings Konsequenzen de lege lata zu ziehen. 62 Kritisch bereits E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1591, der aber letztlich von einer konkludenten Beschlussfassung des Vorstands ausgeht.

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5. Zutreffendes Verständnis des § 131 AktG Versucht man, diese Überlegungen mit dem recht klaren Wortlaut des § 131 AktG in Einklang zu bringen, bietet sich folgendes Verständnis an: § 131 Abs. 1 AktG regelt das rechtliche Verhältnis des Aktionärs zu der Gesellschaft, an der er beteiligt ist, im Hinblick auf Informationen. Das Gesetz gewährt ihm insoweit einen individuellen, eigennützigen Rechtsanspruch auf Auskunftserteilung; der Informationsanspruch steht weder der Hauptversammlung noch der Gesellschaft zu.63 Auskunftsverpflichteter Anspruchsgegner ist die Gesellschaft selbst, nicht der Vorstand; der Vorstand wird lediglich für die Gesellschaft organschaftlich tätig.64 In diesem Rechtsverhältnis wird die Gesellschaft grundsätzlich also in Übereinstimmung mit der allgemeinen Vertretungsregelung des § 78 Abs. 1 S. 1 AktG vertreten. Deutlich wird dies auch an § 132 AktG, der die gerichtliche Durchsetzung des Auskunftsanspruchs regelt; im Auskunftserzwingungsverfahren vertritt der Vorstand die Gesellschaft. § 131 AktG enthält dagegen keine Regelung dazu, wer Auskünfte in der Hauptversammlung erteilen darf und wer nicht. Weder Wortlaut und Entstehungsgeschichte noch erst recht Systematik und Telos des § 131 AktG tragen die Begründung eines Verbots der Beantwortung von Aktionärsfragen durch den Aufsichtsrat oder seinen Vorsitzenden. § 131 AktG ist keine Norm, die eine abschließende Verteilung innergesellschaftlicher Kompetenzen vornimmt, sondern primär eine Norm, die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Aktionär und Gesellschaft regelt. Dass der Aufsichtsrat die originäre Kompetenz hat, Auskünfte zu allein im Verantwortungsbereich des Aufsichtsrats liegenden Themen zu geben, folgt aus den oben unter IV.3. dargestellten Gründen, insbesondere als Annex zu seiner jeweiligen Aufgabe, der Sachnähe, seiner Verantwortung gegenüber der Hauptversammlung sowie der geringeren oder sogar fehlenden Qualifikation des Vorstands zur Auskunftserteilung. Dies lässt sich auch nicht mit der formalen Behauptung entkräften, Auskunftserteilung sei eine Geschäftsführungsmaßnahme,65 die daher nach § 111 Abs. 4 S. 1 AktG nicht auf den Aufsichtsrat übertragen werden könne. Zwar scheint ein Grund für den Gesetzgeber, die Auskunftserteilung dem Vorstand zuzuweisen, in der Tat das Verständnis gewesen zu sein, dass die Auskunftserteilung und die Entscheidung über eine Auskunftsverweigerung Geschäftsführungsmaßnahmen sind.66 Dieser Schluss erscheint heute angesichts der Vielzahl von (Geschäftsführungs-)Entscheidungen, die in die Kompetenz des Aufsichtsrats gestellt sind, allerdings nicht (mehr) überzeugend. Die Entscheidung über die Ausnutzung eines Auskunftsverweigerungsrechts, aber auch die Entscheidung, wie und in welchem Detaillierungsgrad eine Frage beantwortet wird, sind zwar echte unternehmerische Entscheidungen. Allerdings kann 63 S. nur Decher in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 85 ff.; Koch in Hüffer/ Koch, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 2. 64 Decher in GroßKomm. AktG, 4. Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 90; Kersting in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2009, § 131 AktG Rz. 70; Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 119 AktG Rz. 6; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 19; Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 735. 65 S. oben Fn. 13. 66 Begr. des RegE, abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 185.

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es nicht überzeugen, die Kompetenz für diese Entscheidungen allein aufgrund einer Qualifikation als Geschäftsführungsmaßnahme unter Berufung auf § 111 Ab. 4 S. 1 AktG generell dem Vorstand zuzuweisen.67 Die Entscheidung über das Ob und Wie der Auskunftserteilung kann nicht von der Kompetenz für denjenigen Teil des Gesellschaftshandelns getrennt werden, auf den sich die Frage des Aktionärs bezieht. Nur dasjenige Organ, dessen Handeln, Entscheidungen oder Bewertungen in Frage stehen, kann sachgemäß über die Beantwortung entscheiden. Dass die Informations­ versorgung der Aktionäre nicht generell eine in die Vorstandskompetenz fallende Geschäftsführungsmaßnahme ist, zeigt sich an den vielfältigen (und in den letzten Jahren erweiterten) Informationspflichten des Aufsichtsrats gegenüber der Hauptversammlung und der Öffentlichkeit. Die Kompetenz zur Auskunftserteilung ist Annex einer Sachkompetenz, die von demjenigen Organ erfüllt wird oder jedenfalls erfüllt werden darf, das für das Objekt der Auskunft sachlich zuständig ist.68 Der Aufsichtsrat bzw. sein Vorsitzender (zur Abgrenzung der Kompetenzen zwischen ihnen nachfolgend VI.) ist daher berechtigt, Fragen, die allein den Aufgabenbereich des Aufsichtsrats betreffen, zu beantworten. Damit erübrigen sich auch die von der herrschenden Meinung bemühten Hilfskonstruktionen, um ein Recht des Aufsichtsratsvorsitzenden zur Beantwortung von Aktionärsfragen zu begründen.

V. Verpflichtung des Aufsichtsrats zur Auskunftserteilung 1. § 131 AktG Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob der Aufsichtsrat bzw. sein Vorsitzender Fragen von Aktionären, die die Aufsichtsratsarbeit betreffen, unter den Voraussetzungen der Absätze 1 und 3 des § 131 AktG beantworten muss. Hier ist zu konstatieren, dass der Wortlaut des § 131 AktG in der Tat eher gegen eine solche Verpflichtung spricht, auch wenn die teleologischen Erwägungen (vorstehend unter IV.3.) auch eine solche Verpflichtung tragen würden. Anspruchsgegner des Auskunftsanspruchs ist allerdings ohnehin die Gesellschaft und der Umstand, dass eine Erfüllung dieses Anspruchs durch das (im Grundsatz) nicht geschäftsführungs- und nicht vertretungsberechtigte Organ Aufsichtsrat nicht angesprochen ist, überrascht nicht. Den Aufsichtsrat im Außenverhältnis zu den Aktionären durch eine Analogie zu § 131 AktG zum Anspruchsgegner und Verpflichteten im Außenverhältnis zu machen, lässt sich methodisch wohl nicht rechtfertigen. Damit ist aber nur gesagt, dass die Aktionäre selbst keinen Anspruch aus § 131 AktG auf Auskunftserteilung durch den Aufsichtsrat haben. Nicht gesagt ist damit, dass der Aufsichtsrat und/oder sein Vorsitzender nicht aus anderen Normen oder Grundsätzen im Innenverhältnis zur Gesellschaft die Pflicht zur Auskunftserteilung gegenüber den Aktionären trifft. 67 So zu Recht schon E. Vetter in FS H. P. Westermann, 2008, S. 1589, 1593 f. 68 Zutreffend Trescher, DB 1990, 515.

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2. Annex-Verpflichtung aus §§ 171 Abs. 2, 176 Abs. 1 S. 2 AktG und anderen Informationspflichten des Aufsichtsrats Auf die §§ 171 Abs. 2, 176 Abs. 1 S. 2 AktG wurde bereits vorstehend unter IV.3. verwiesen, um eine Annex-Kompetenz des Aufsichtsrats zur Beantwortung von Fragen zu begründen. Fraglich ist, ob sich daraus auch eine „Annex-Verpflichtung“ ergeben kann. Die Berichtspflicht im Vorfeld der Hauptversammlung und in der Hauptversammlung selbst ist zwingend, wobei die Anforderungen an die inhaltliche Aussagekraft durch die Rechtsprechung in den letzten Jahren verschärft worden sind.69 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, ergänzende Informationen auf Nachfrage von Aktionären zu erteilen, die Praxis der Hauptversammlung erheblich erleichtert. Teilweise wird vertreten, es bedürfe zur Behebung von Defiziten der Berichte nach §§ 171 Abs. 2, 176 Abs. 1 S. 2 AktG keines Auskunftsrechts gegen den Aufsichtsrat; vielmehr könnten die Aktionäre mit den vorgesehenen Sanktionen bei Pflichtverletzungen durch den Aufsichtsrat reagieren.70 Derartige Sanktionen können etwa die Ablehnung der Entlastung der Aufsichtsratsmitglieder bzw. die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses und ggf. auch des Gewinnverwendungsbeschlusses, die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und mitunter sogar die Strafbarkeit nach § 400 AktG darstellen.71 Der Verweis auf die Sanktionen ist zwar zutreffend; die Ablehnung einer Informationspflicht überzeugt jedoch nicht. Insbesondere kann ein Aktionär durch eine Anfechtungsklage beispielsweise gegen den Entlastungsbeschluss, sofern die Vorenthaltung von Informationen im Aufsichtsratsbericht eine Anfechtungsklage rechtfertigen sollte, die gesetzlich vorgesehene Information nicht erhalten. Näherliegend ist es, eine Verpflichtung des Aufsichtsratsvorsitzenden zur Ergänzung seines unzureichenden mündlichen Berichts auf Nachfrage eines Aktionärs anzuerkennen, soweit die Auskunft zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunkts erforderlich ist und kein Auskunftsverweigerungsrecht vorliegt.72 Die Informationen, die im Bericht des Aufsichtsrats enthalten sein müssten, aber nicht sind, sind daher auf Nachfrage in der Hauptversammlung zu erteilen, und zwar vom Aufsichtsratsvorsitzenden. Eine ähnliche Argumentation wäre bei defizitären Erläuterungen der Abweichung von den Aufsichtsrat betreffenden Empfehlungen in der Entsprechenserklärung oder der Erklärung zur Unternehmensführung, bei defizitärem Vorstandsvergütungspolitiken oder Vergütungsberichten (§ 120 Abs. 4 AktG bzw. §§ 120a, 161 AktG i.d.F. des ARUG II-E) oder bei einer unvollständigen oder nicht verständlichen Stellungnahme zu einem Übernahmeangebot nach § 27 WpÜG denkbar. Wie die Verpflichtung zur Erstattung des mündlichen Berichts in der Hauptversammlung (§ 176 Abs. 1 S. 2 AktG) handelt es sich bei dieser Annexpflicht zur „Nachbesserung“ aber lediglich um eine Organpflicht gegenüber der Gesellschaft. Der einzelne

69 S. etwa E. Vetter, ZIP 2006, 257 ff. 70 Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 22. 71 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 171 AktG Rz. 225 ff. 72 Zutreffend Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286.

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Aktionär hat keinen Anspruch gegenüber dem Aufsichtsrat oder seinem Vorsitzenden.73 3. Verpflichtung aus §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 AktG Die Pflichtenbindung des Aufsichtsrats und seines Vorsitzenden geht jedoch noch weiter; sie ist nicht begrenzt auf die Nachbesserung nicht ordnungsgemäß erstatteter zwingender Berichte. Grund ist, dass sich eine entsprechende interne Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft schon aus allgemeinen Grundsätzen ergibt. Der Aufsichtsrat und auch sein Vorsitzender sind nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 AktG verpflichtet, über die Ausübung ihrer Kompetenz zur Auskunftserteilung sachgemäß zu entscheiden. Bei dieser Entscheidung haben sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters bzw. Aufsichtsrats anzuwenden. Maßstab für die Entscheidung ist das Unternehmensinteresse, zu dem auch die Interessen der Aktionäre gehören. Ist der mündliche Bericht des Aufsichtsratsvorsitzenden nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG oder sogar der schriftliche Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG defizitär, ist nicht denkbar, dass es im Unternehmensinteresse liegen und mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsrats vereinbar sein könnte, trotz Nachfrage eines Aktionärs nicht zu versuchen, die Defizite durch Auskunftserteilung in der Hauptversammlung auszugleichen. Diese Überlegung geht über die zwingend in den Bericht des Aufsichtsrats aufzunehmenden Informationen hinaus, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung eines Gegenstands der Tagesordnung erforderlich sind. Da § 131 Abs. 1 und 3 AktG die Abwägung zwischen dem Auskunftsinteresse des Aktionärs und den Interessen der Gesellschaft an einer Verweigerung der Auskunft generell in den Blick genommen und entschieden hat, können diese Grundsätze auch auf die Entscheidung des Aufsichtsrats über eine Auskunftserteilung in der Hauptversammlung angewendet werden. Der Aufsichtsrat bzw. sein Vorsitzender ist daher auf Nachfrage eines Aktionärs grundsätzlich zur Ergänzung seines mündlichen Berichts und zur Beantwortung sonstiger in den Zuständigkeitsbereich des Aufsichtsrats fallender Fragen verpflichtet, soweit die Auskunft zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunkts erforderlich ist und kein Auskunftsverweigerungsrecht vorliegt. Das Ermessen wird sich typischerweise auf Null reduzieren. Dabei haben Aufsichtsrat und Vorsitzender selbstverständlich die Verschwiegenheitspflicht des § 116 S. 2 AktG und die Interessen der Gesellschaft an der Wahrung der Vertraulichkeit, beispielsweise im Hinblick auf das Beratungsgeheimnis im Aufsichtsrat zu beachten. Auf die Auskunftsverweigerungsgründe des § 131 Abs. 3 AktG kann sich auch der Aufsichtsrat und sein Vorsitzender berufen. 4. Durchsetzung der Auskunftsverpflichtung Sowohl die Annexverpflichtung zur Ergänzung defizitärer obligatorischer Aufsichtsratsberichte in der Hauptversammlung als auch die vorstehend begründete Verpflichtung des Aufsichtsrats zur sorgfältigen Amtsführung bestehen wie bereits gesagt ausschließlich im Verhältnis zur Gesellschaft. Aktionäre können zwar die Erteilung von 73 Zutreffend Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286.

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der Gesellschaft zu Unrecht verweigerter Informationen, auf die sie nach § 131 Abs. 1 AktG Anspruch haben, im Wege des Auskunftserzwingungsverfahrens gegen die Gesellschaft nach § 132 AktG geltend machen; die Gesellschaft wird in diesem Verfahren aber durch den Vorstand vertreten. Die Aktionäre haben dagegen keinen individuellen Auskunftsanspruch gegen den Aufsichtsrat oder dessen Vorsitzenden aus § 131 AktG oder §§ 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 AktG und können auch keinen Informationsanspruch unmittelbar gegen den Aufsichtsrat(svorsitzenden) nach §  132 AktG geltend machen.74 Dass gegenüber der Gesellschaft bestehenden Organpflichten von Vorstand und Aufsichtsrat kein individuell einklagbarer Anspruch jedes Aktionärs gegenübersteht, ist nicht ungewöhnlich, sondern geradezu der Normalfall.75 Einen eigenen Anspruch gegen den Aufsichtsrat oder seinen Vorsitzenden brauchen die Aktionäre auch nicht zur Wahrung ihrer Rechte; sie sind durch §§ 131 f. AktG, die auch Informationen erfassen, die in den Kompetenzbereich des Aufsichtsrats fallen, ausreichend geschützt.

VI. Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem Aufsichtsrat und seinem Vorsitzenden Der Aufsichtsratsvorsitzende ist in der Praxis in verschiedener Hinsicht der ihm vom Aktiengesetz zugedachten, eng definierten und schwach ausgestalteten Rolle entwachsen; jedenfalls zerren einzelne Vorsitzende an den ihnen vom Gesetz angelegten Ketten. Besonders deutlich ist dies in der Diskussion um die Befugnis des Aufsichtsratsvorsitzenden zur Kommunikation mit Investoren geworden. Kommt man – was aus Sicht des Verfassers mit guten Gründen möglich ist76 – zu einer Kompetenz des Aufsichtsrats zur Kommunikation mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen, ist damit noch nicht gesagt, dass damit auch der Aufsichtsratsvorsitzende eigenständig kommunizieren darf.77 Auf den ersten Blick sollte es bei der Beantwortung von Fragen in der Hauptversammlung, die die Aufsichtsratsarbeit betreffen, ausschließlich um die Wiedergabe von Wissen gehen; dies würde keine autonome Willensbildung bis auf die Entscheidung, ob die Frage überhaupt beantwortet werden soll, ­erfordern. So einfach ist die Beantwortung von Fragen bei genauerem Zusehen allerdings nicht. Es ist weiter zu entscheiden, wie und in welcher Tiefe die erbetene Auskunft erteilt werden soll. Darüber hinaus betreffen Fragen von Aktionären nicht nur reine Fakten, sondern häufig auch Bewertungen von Vorgängen, bei denen noch ein deutlich größerer Spielraum bei der Beantwortung besteht. In jedem Fall muss der 74 Ausdrücklich auch Butzke, Hauptversammlung der AG, 5. Aufl. 2011, Abschn. G Rz. 28; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281, 286; Spindler in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 131 AktG Rz. 18. 75 Trescher, DB 1990, 515, 516 spricht hier von einer aus § 242 BGB folgenden Obliegenheit, was allerdings insoweit missverständlich ist, als es sich im Verhältnis zur Gesellschaft um echte Organpflichten handelt. 76 Brodey/J. Vetter, ecolex 2017, 219 ff. 77 S. hierzu etwa Koch in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2015, S. 65, 90 ff.; Brodey/J. Vetter, ecolex 2017, 219, 222 f.; Stellungnahme der VGR zum Entwurf der DCGK-Änderungen 2017, AG 2017, 1, 4 f.

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Aufsichtsratsvorsitzende beachten, dass über die ausnahmsweise Offenlegung einer vertraulichen Information aus dem Bereich der Aufsichtsratsarbeit, insbesondere eine Befreiung vom Beratungsgeheimnis, nicht der Vorsitzende, sondern der Aufsichtsrat selbst entscheidet.78 Die vorstehenden Fragen zur Kompetenzabgrenzung zwischen Organ und dessen Vorsitzendem stellen sich ebenso beim Vorstand. Zwar werden Fragen typischerweise vom Vorstandsvorsitzenden oder einem von ihm bestimmten anderen Vorstandsmitglied beantwortet. Eine originäre gesetzliche Kompetenz hierzu steht dem Vorstandsvorsitzenden aber nicht zu, auch wenn es gesetzliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Vorstandsvorsitzende mündliche Berichte für den Vorstand erstattet. Beim Vorstand ist anerkannt, dass die Frage, ob und mit welchem Inhalt eine Aktionärsfrage beantwortet wird, eine Geschäftsführungsmaßnahme darstellt, für die im Ausgangspunkt mangels abweichender Bestimmung in der Satzung, der Geschäftsordnung oder durch Vorstandsbeschluss der Gesamtvorstand gem. § 77 Abs. 1 S. 1 AktG zuständig ist.79 Allerdings erfolgt die Auskunftserteilung in der Hauptversammlung durch den Vorsitzenden oder das fachlich zuständige Vorstandsmitglied ohne ausdrückliche vorherige Abstimmung im Vorstand. Entweder wird eine Delegation durch konkludenten Vorstandsbeschluss oder ein konkludentes Zu-Eigen-Machen der Antwort durch den Gesamtvorstand angenommen.80 Problematik und Lösung sind in entsprechender Weise auf die Auskunftserteilung durch den Aufsichtsrat und seinen Vorsitzenden zu übertragen. Beim Aufsichtsrat ist zu beachten, dass der Vorsitzende aus eigenem Recht seinen mündlichen Bericht an die Hauptversammlung nach § 176 Abs. 1 S. 2 AktG in der Hauptversammlung um die Informationen ergänzen kann, die im schriftlichen Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG enthalten sind, dieser schriftliche Bericht ist bereits vom Aufsichtsrat gebilligt worden.

VII. Zusammenfassung und Thesen   1. Die ganz h.M., die eine originäre Kompetenz des Aufsichtsrats und seines Vorsitzenden zur Beantwortung von aufsichtsratsbezogenen Fragen ablehnt, überzeugt 78 Nach h.M. entscheidet der Aufsichtsrat darüber mit einfacher Mehrheit, s. etwa Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 10; Hoffmann-Becking in Münchener Hdb. AG, 4. Aufl. 2015, § 33 Rz. 65; ob das Aufsichtsratsmitglied, dessen Verhalten offengelegt werden soll, zustimmen muss, ist umstritten, befürwortend etwa Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 10; Wilsing/v. der Linden, ZHR 178 (2014), 419, 440; ablehnend Mertens/Cahn in KölnerKomm. AktG, 3. Aufl. 2012, § 116 AktG Rz. 53. 79 Koch in Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 8 sowie die in der folgenden Fn. Genannten.  80 S. etwa mit Unterschieden im Begründungsansatz Butzke, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 5.  Aufl. 2011, Abschn. G Rz.  26; Decher in GroßKomm. AktG, 4.  Aufl. 2001, § 131 AktG Rz. 90; Kubis in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2018, § 131 AktG Rz. 20; Merkner/Schmidt-Bendun, AG 2011, 734, 736; Siems in Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 131 AktG Rz. 16.

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nicht. Die dogmatischen Ersatzkonstruktionen, mit der sie die Rechtswirklichkeit mit dem eigenen dogmatischen Grundansatz vereinbaren möchte (Delegation der Auskunftserteilung vom Vorstand an den Aufsichtsratsvorsitzenden und nachträgliches Zu-Eigen-Machen vom Aufsichtsratsvorsitzenden erteilter Antworten), erscheinen artifiziell und dogmatisch nicht überzeugend.   2. § 131 Abs. 1 AktG regelt das rechtliche Verhältnis des Aktionärs zur Gesellschaft im Hinblick auf Informationen. Das Gesetz gewährt ihm insoweit einen rechtlichen Anspruch gegen seine Gesellschaft. In diesem Rechtsverhältnis wird die Gesellschaft in Übereinstimmung mit der allgemeinen Vertretungsregelung des § 78 Abs. 1 S. 1 AktG vertreten. Der Aktionär hat jedoch keinen Anspruch darauf, dass eine für die Gesellschaft gegebene Auskunft gerade vom Vorstand erteilt oder wiederholt wird, solange die Auskunft nur inhaltlich ordnungsgemäß erteilt worden ist. Sein Auskunftsanspruch kann auch durch andere Organe erfüllt werden.   3. § 131 AktG enthält keine gesellschaftsinterne Kompetenznorm derart, dass abschließend geregelt wird, welches Organ Auskünfte in der Hauptversammlung erteilen darf. Insbesondere verbietet §  131 AktG weder dem Aufsichtsrat noch seinem Vorsitzenden, Fragen von Aktionären, die seinen Zuständigkeitsbereich betreffen, zu beantworten.   4. Eine Kompetenz des Aufsichtsrats, Auskünfte zu allein im Verantwortungsbereich des Aufsichtsrats liegenden Themen zu geben, folgt als Annex zu seiner jeweiligen Aufgabe, der Sachnähe, seiner Verantwortung gegenüber der Hauptversammlung sowie der geringeren oder sogar fehlenden Qualifikation des Vorstands zur Auskunftserteilung.   5. Zu einer Verpflichtung des Aufsichtsrats(vorsitzenden) zur Auskunftserteilung besagen die §§ 131 f. AktG nur, dass der Aufsichtsrat und sein Vorsitzender nicht den Aktionären gegenüber zur Auskunftserteilung verpflichtet ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass sie im Innenverhältnis zur Gesellschaft die Pflicht zur Information der Aktionäre trifft.   6. Eine Verpflichtung des Aufsichtsrats bzw. seines Vorsitzenden zur Ergänzung defizitärer, vom Aufsichtsrat verantworteter Berichte auf Nachfrage von Aktionären in der Hauptversammlung ergibt sich als Annex zu den jeweiligen Berichtspflichten aus §§ 171 Abs. 2 und 176 Abs. 1 S. 2 AktG, § 120 Abs. 4 AktG bzw. §§ 120a, 161 AktG i.d.F. des ARUG II-E und § 27 WpÜG, soweit die Auskunft zur sachgemäßen Beurteilung eines Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist und kein Auskunftsverweigerungsrecht entsprechend § 131 Abs. 3 AktG vorliegt.   7. Allgemeiner und unabhängig von Defiziten zu erstattender Berichte kann sich die Verpflichtung des Aufsichtsrats zur Auskunftserteilung aus seinen Sorgfaltspflichten nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 1 AktG ergeben. Ob eine Information erteilt wird, die den originären Aufgabenbereich des Aufsichtsrats betrifft, entscheidet der Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen. Für diese Abwägung kann bei § 131 Abs. 1 und 3 AktG Rückgriff genommen werden. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt nahe, wenn eine von einem Aktionär begehrte Information zur

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Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden

sachgemäßen Beurteilung eines Gegenstands der Tagesordnung erforderlich und kein Auskunftsverweigerungsrecht entsprechend § 131 Abs. 3 AktG gegeben ist.   8. Eine Verpflichtung des Aufsichtsrats oder seines Vorsitzenden zur Auskunftserteilung gilt nur im Verhältnis zur Gesellschaft. Aktionäre haben keinen Rechts­ anspruch auf Auskunftserteilung gegen den Aufsichtsrat selbst. Den brauchen sie aber auch nicht zur Wahrung ihrer Rechte; sie sind durch §§ 131 f. AktG, die auch Informationen erfassen, die in den Kompetenzbereich des Aufsichtsrats fallen, ausreichend geschützt.   9. Für die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Aufsichtsrat und seinem Vorsitzenden gelten dieselben Grundsätze wie beim Vorstand. 10. Die Diskussion um die Auskunftserteilung durch den Aufsichtsrat und seinen Vorsitzenden in der Hauptversammlung ist ein Beispiel dafür, wie eine gewachsene, aber übermäßig enge Gesetzesauslegung es erschweren kann, die Rolle des Aufsichtsrats und seines Vorsitzenden in der aktienrechtlichen Corporate Governance zutreffend zu bestimmen.

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Wahrung der Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG bei Nachschieben von Anfechtungsgründen im Prozess Inhaltsübersicht

f) Die Entscheidung BGH, ZIP 2005, 1318 vom 9.5.2005 g) Die Entscheidung BGHZ 167, 204 vom 20.4.2006 h) Die Entscheidung BGHZ 180, 9 vom 16.2.2009 i) Die Entscheidung BGH, AG 2010, 452 vom 7.12.2009 j) Die Entscheidung BGH, AG 2010, 748 vom 31.5.2010 k) Die Entscheidung BGHZ 189, 32 vom 22.3.2011

I. Problemstellung – der Konflikt ­zwischen der „Klagefrist“ des § 246 Abs. 1 AktG und dem einheitlichen Streitgegenstand der Nichtigkeitsund Anfechtungsklage

II. Die Rechtsprechung zur Fristwahrung im Falle des Nachschiebens von ­Anfechtungsgründen 1. Die Entscheidungen des Reichsgerichts a) Die Urteile RG, JW 1903, 390 Nr. 22 und RG Warneyer 1913, 196 zur Anwendung der Monatsfrist des § 271 Abs. 2 HGB a.F. bei Nachschieben von Anfechtungsgründen b) Die Entscheidung RGZ 91, 316 vom 11.1.1918 c) Die Entscheidung RGZ 170, 83 vom 24.9.1942 2. Die Rechtsprechung des BGH zur Fristwahrung im Falle des Nachschiebens von Anfechtungsgründen a) Die Entscheidung BGHZ 15, 177 vom 10.11.1954 b) Die Entscheidung BGHZ 32, 318 vom 23.5.1960 c) Die Entscheidung BGHZ 120, 141 vom 9.11.1992 d) Die Entscheidung BGH, NJW 1995, 260 vom 26.9.1994 e) Die Entscheidung BGH, ZIP 2005, 706 vom 14.3.2005

III. Meinungsstand in der Literatur zu § 246 Abs. 1 AktG IV. Der zweigliedrige prozessuale Streit­ gegenstandsbegriff als Grundlage für die Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG im Falle des Nachschiebens von ­Anfechtungsgründen

V. Der einheitliche prozessuale Streit­ gegenstand von aktienrechtlicher Nichtigkeits- und Anfechtungsklage

VI. Die Einordnung des § 246 Abs. 1 AktG als materiell-rechtliche Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen VII. Zusammenfassung

I. Problemstellung – der Konflikt zwischen der „Klagefrist“ des § 246 Abs. 1 AktG und dem einheitlichen Streitgegenstand der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage Nach § 246 Abs. 1 AktG muss „die Klage“ – und damit ist auch nach der Überschrift zu § 246 AktG die „Anfechtungsklage“ gemeint – innerhalb eines Monats nach der Beschlussfassung erhoben werden. Erfolgt die Klageerhebung binnen dieser Frist, so 857

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ist das Vorbringen eines weiteren, bislang nicht in den Prozess eingeführten Anfechtungsgrundes jedenfalls nach dem reinen Wortlaut dieser Vorschrift nicht verfristet. Denn die Klageerhebung erfolgte ja rechtzeitig. Das entspricht aber im Ergebnis nicht der h.M.1 Begründet werden kann die Verfristung im Falle des Nachschiebens eines neuen Anfechtungsgrundes zwar mit dem Vorliegen eines neuen Streitgegenstands. Denn dann läge eine Klageänderung i.S.d. § 263 ZPO vor, und diese Änderung müsste wegen Vorliegens eines neuen Streitgegenstands in Bezug auf die Wahrung der Frist des § 246 Abs. 1 AktG zumindest aktienrechtlich wie eine Klageerhebung be­ handelt werden. Nach § 263 ZPO hinge die Zulässigkeit der Klageänderung dann aber davon ab, ob die AG als Beklagte zustimmt oder das Gericht sie als sachdienlich ­ansieht. Dieser prozessuale Weg, eine Anwendung der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG auf den Fall des Nachschiebens von Anfechtungsgründen zu rechtfertigen, ist von vornherein versperrt, wenn man mit der neueren Rechtsprechung des BGH und der h.L. von einem einheitlichen Streitgegenstand der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage ausgeht, die auf eine umfassende Klärung der Nichtigkeit des Beschlusses gerichtet ist.2 Offensichtlich nicht widerspruchsfrei möglich ist es, insbesondere in Bezug auf Rechtshängigkeit, Rechtskraft von stattgebendem und abweisendem Urteil, Hilfsantragsstellung und Zulässigkeit eines Teilurteils in Übereinstimmung mit der neuen BGH-Linie von einem einheitlichen prozessualen Streitgegenstand auszugehen und dann bei der Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG auf den Fall des Nachschiebens von Anfechtungsgründen von einem neuen Sachverhalt und daher von einem neuen Streitgegenstand auszugehen. Der Wortlaut des § 246 Abs. 1 AktG beruht ohne wesentliche Veränderung auf Art. 190a ADHGB in der Fassung der Aktienrechtsnovelle vom 7.3.1884. Eine prozessuale Konkordanz mit der heutigen „Nichtigkeitsklage“ in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal „die Klage“ konnte 1884 schon deshalb nicht hergestellt werden, weil die Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen außerhalb der „Anfechtungsklage“ erst seit der Aktienrechtsreform 1937 in Anknüpfung an die Rechtsprechung des RG gesetzlich geregelt ist.

II. Die Rechtsprechung zur Fristwahrung im Falle des Nachschiebens von Anfechtungsgründen 1. Die Entscheidungen des Reichsgerichts a) Die Urteile RG, JW 1903, 390 Nr. 22 und RG Warneyer 1913, 196 zur Anwendung der Monatsfrist des § 271 Abs. 2 HGB a.F. bei Nachschieben von Anfechtungsgründen In der Entscheidung RG, JW 1903, 390 Nr. 22 ging es um die Anwendung des § 271 Abs. 2 HGB a.F. im Fall des Nachschiebens von Anfechtungsgründen im Prozess. Das RG verwies zunächst darauf, dass aus dieser Fristenregelung nicht gefolgert werden könne, dass nur die Erhebung der Klage, nicht aber deren Begründung innerhalb ei1 Vgl. dazu unten II. und III. 2 Vgl. dazu unten IV.

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nes Monats erfolgen müsse. Die Anfechtungsklage müsse – wie jede Klage – die „bestimmte Angabe des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten“. Die bloße Behauptung, der Generalversammlungsbeschluss verletze das Gesetz oder die Satzung, genüge nicht. Die Klageschrift müsse vielmehr diejenigen Tatumstände bezeichnen, aus denen der eine oder der andere der vom Gesetz zugelassenen Anfechtungsgründe entnommen werden soll.3 Eine Berichtigung oder Ergänzung sei statthaft, sofern „der Klagegrund der nämliche bleibt“.4 Nach Ablauf der Monatsfrist des § 271 Abs. 2 HGB a.F. könne der Kläger sich allerdings nicht mehr auf Tatumstände berufen, aus denen sich eine Verletzung von Gesetz oder Satzung „ganz anderer Art“ ergeben würde, da dies „die Erhebung einer verspäteten Klage“ wäre.5 Die Vorschriften der ZPO über die Zulässigkeit einer Klageänderung (§§ 264, 269, 527 ZPO a.F.) seien nicht anwendbar, weil die Fristbestimmung des § 271 Abs. 2 HGB a.F. dem öffentlichen Recht angehöre.6 Die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Anwendung der Monatsfrist stehende Streitgegenstandsproblematik trat damit schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts offen zutage. Das RG geht von einem neuen Streitgegenstand aus und lehnt dann die Zulässigkeit einer Klageänderung mit einer nur schwer nachvollziehbaren Begründung ab. Mit der Entscheidung RG Warneyer 1913, 196 bestätigt das RG das zuvor ergangene Urteil RG JW 1903, 390 Nr. 22. Nicht übernommen wird aber die hier bereits kritisierte Begründung. Abgesehen von den an keine Frist gebundenen absoluten Nichtigkeitsgründen könnten, so nunmehr das RG, nach Ablauf des Monats neue Verletzungen von Gesetz oder Satzung „nicht nachgebracht werden“.7 Entscheidend dafür sei das „praktische Bedürfnis“ sowie der aus den Einzelbestimmungen der §§  271  ff. HGB a.F. ersichtliche „Standpunkt des Gesetzes“. Beide Erwägungen schließen es nach Ansicht des RG „gleichmäßig aus“, die Erhebung von Anfechtungsklagen zu begünstigen.8 Auf die Frage des Streitgegenstands und des Vorliegens einer Klageänderung geht das RG in Bezug auf die Fristenregelung nicht ein. b) Die Entscheidung RGZ 91, 316 vom 11.1.1918 In diesem Fall des RG war mit der Anfechtungsklage beantragt worden, zwei Generalversammlungsbeschlüsse vom 4.12.1915 für nichtig zu erklären. Die Rüge des Klägers, 561 Stimmen seien von Nichtberechtigten abgegeben worden, war in der Klageschrift nicht enthalten. Dieser Anfechtungsgrund wurde erst mit Schriftsatz vom 11.3.1916 und damit weit nach Verstreichen der Monatsfrist des § 271 Abs. 2 HGB a.F. in den Anfechtungsprozess eingeführt. Das RG wies darauf hin, dass diese Ausschlussfrist von Amts wegen beachtet werden müsse und deshalb neue Klagegründe auch mit Einwilligung der beklagten Gesellschaft nach Fristablauf nicht mehr vorgebracht 3 RG, JW 1903, 390 Nr. 22. 4 RG, JW 1903, 390 Nr. 22. 5 RG, JW 1903, 390 Nr. 22. 6 RG, JW 1903, 390 Nr. 22. 7 RG Warneyer 1913, 196. 8 RG Warneyer 1913, 196.

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werden könnten.9 Unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung10 betont das RG, dass neue Klagegründe – und darum handele es sich hier – auch mit Einwilligung der verklagten Gesellschaft nach Fristablauf nicht mehr nachgeschoben werden könnten.11 Entgegen der Ansicht der Anfechtungsklägerin liege kein Fall der bloßen Ergänzung der Klage i.S.d. § 268 Nr. 1 ZPO a.F. (§ 264 Nr. 1 n.F.) vor.12 Das RG geht also hier offenbar wieder von einer Klageänderung und damit von einem neuen Streitgegenstand aus. c) Die Entscheidung RGZ 170, 83 vom 24.9.1942 Die Entscheidung RGZ 170, 83 betrifft die Anfechtung eines Generalversammlungsbeschlusses einer Genossenschaft. Das RG weist zunächst darauf hin, dass „gewisse Vorschriften“ des Aktiengesetzes 1937 über die Anfechtungsklage im Genossenschaftsrecht entsprechend anzuwenden seien, da diesen Neuregelungen „ein Rechtsgedanke von allgemeiner Bedeutung“ zu Grunde liege.13 Im Fall des RG wurde im Anschluss an einen gerichtlichen Ermächtigungsbeschluss von einer Gesellschafterminderheit die Generalversammlung einberufen. Streitig war, ob nicht nur zum Zeitpunkt des Gerichtsbeschlusses, sondern auch zum Zeitpunkt der tatsächlichen Einberufung der Generalversammlung das gesetzlich erforderliche Quorum gegeben war. Der Anfechtungskläger hatte dies lediglich bestritten, ohne darzulegen, welche der ursprünglichen 300 Vollmachtgeber die von ihnen erteilte Vollmacht gemäß §§ 168, 167 Abs. 1 BGB widerrufen hätten.14 Das RG weist darauf hin, dass die „sämtlichen Anfechtungsgründe innerhalb der Anfechtungsfrist wenigstens ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern nach in den Rechtsstreit eingeführt worden sein“ müssen.15 Insoweit genüge es nicht, wenn der Anfechtungskläger durch „ganz allgemein gehaltenes Bestreiten“ lediglich bezweifele, ob die erforderliche Zahl von Genossen noch hinter dem Ermächtigungsantrag stehe.16 Wesentliche tatsächliche Behauptungen könnten, so das RG, nachträglich nicht mehr „eingeschoben werden“.17 In diesem Fall des RG ging es in Wirklichkeit nicht um die klassische Fallkonstellation, in der ein zweiter Anfechtungsgrund nachgeschoben wird, sondern um das unsubstantiierte Vorbringen eines Anfechtungsgrundes im Rahmen einer fristgerecht erhobenen Klage. Das RG hat die Anfechtungsfrist auf eine nachträgliche Substantiierung eines fristgerecht vorgetragenen Anfechtungsgrundes in gleicher Weise angewandt wie im Falle eines völlig neuen, weiteren Anfechtungsgrundes.

9 RGZ 91, 316 (323). 10 RG, JW 1903, 390; RG Warneyer 1913, 196. 11 RGZ 91, 316 (323). 12 RGZ 91, 316 (323). 13 RGZ 170, 83 (89). 14 RGZ 170, 83 (94). 15 RGZ 170, 83 (94 f.). 16 RGZ 170, 83 (95). 17 RGZ 170, 83 (95).

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2. Die Rechtsprechung des BGH zur Fristwahrung im Falle des Nachschiebens von Anfechtungsgründen a) Die Entscheidung BGHZ 15, 177 vom 10.11.1954 Die Entscheidung BGHZ 15, 177 betrifft die Anfechtung eines Generalversammlungsbeschlusses einer Genossenschaft (Baugenossenschaft). Im Fall des BGH war im Rahmen der Erhebung der Anfechtungsklage die Klageschrift des Anfechtungsklägers zwar rechtzeitig bei Gericht eingegangen. Die klagebegründenden Tatsachen waren vom Kläger aber erst nach Ablauf der Frist des § 51 Abs. 1 S. 2 GenG vorgebracht worden.18 Nach Ansicht des BGH fehlte es damit am Erfordernis, dass die die Klage begründenden Tatsachen innerhalb der Anfechtungsfrist „wenigstens in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern“ in den Rechtsstreit eingeführt werden müssen.19 Ein Nachschieben von Gründen sei, so der BGH, nach ständiger Rechtsprechung20 nicht zulässig.21 b) Die Entscheidung BGHZ 32, 318 vom 23.5.1960 Die Entscheidung BGHZ 32, 318 bezieht sich ebenfalls auf die Anfechtung eines Generalversammlungsbeschlusses einer Genossenschaft. Der Anfechtungskläger griff zunächst einen Generalversammlungsbeschluss unter Berufung auf einen Einladungsmangel an. In der Klageschrift trug der Kläger fristgerecht vor, wie der Generalversammlungsbeschluss zur Wahl der Vertreter für die Bildung der Vertreterversammlung zustande gekommen sei. Zudem hatte der Kläger mit der Klageschrift den Wortlaut der Einladung zur Generalversammlung vorgetragen. Er hatte aber in der Klageschrift nicht aus den vorgebrachten Tatsachen den rechtlichen Schluss gezogen, dass für den Wahlbeschluss der Generalversammlung eine „gehörige Einladung“ gefehlt habe.22 Nach Ansicht des BGH war dies auch nicht erforderlich; denn die klagebegründenden Tatsachen müssten nur in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern in den Rechtsstreit eingeführt werden.23 Nicht erforderlich sei, so der BGH, dass der Anfechtungskläger diejenigen Tatsachen, die er „als zur Anfechtung geeignet“ ansieht, rechtlich würdige.24 Nach Ablauf der Anfechtungsfrist brachte der Anfechtungskläger einen weiteren Angriff gegen einen anderen Generalversammlungsbeschluss vor. Der BGH sah darin ein „neues Anfechtungsbegehren“, und insoweit sei die Anfechtungsfrist nicht gewahrt.25 Zu den Fragen des Vorliegens eines neuen Streitgegenstands und einer Klageänderung i.S.d. § 263 ZPO äußert der BGH sich nicht.

18 BGHZ 15, 177 (180). 19 BGHZ 15, 177 (180). 20 Der BGH verweist insoweit auf „RGZ 170, 94 m. w. Nachw.“. 21 BGHZ 15, 177 (180 f.) Der BGH führt insoweit aus, dass er sich der ständigen Rechtsprechung des RG anschließe. 22 BGHZ 32, 318 (323). 23 BGHZ 32, 318 (323) unter Hinweis auf BGHZ 15, 177 (180 f.). 24 BGHZ 32, 318 (323). 25 BGHZ 32, 318 (329).

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c) Die Entscheidung BGHZ 120, 141 vom 9.11.1992 Im fünften Leitsatz von BGHZ 120, 141 bestätigt der BGH die bisherige Rechtsprechung zur Geltung der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG im Falle des Nachschiebens von Gründen im laufenden Anfechtungsprozess: „Die Gründe, auf welche die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses gestützt wird, müssen in ihrem wesentlichen Kern innerhalb der Ausschlussfrist des § 246 Abs. 1 AktG in den Rechtsstreit eingeführt werden.“ Im Fall des BGH ging es um die Anfechtungsklage eines Minderheitsaktionärs der beklagten Bank. Der Kläger wandte sich gegen einen Hauptversammlungsbeschluss, der sich auf den Abschluss von zwei Genussrechtsverträgen über je 15 Millionen D-Mark zwischen der beklagten AG und ihrer Mehrheitsaktionärin, der Kreditbank N. V., unter Ausschluss des Bezugsrechts der anderen, außenstehenden Aktionäre bezog und insoweit eine Zustimmung enthielt.26 Innerhalb der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG machte der Kläger mehrere Anfechtungsgründe geltend, insbesondere eine Unvollständigkeit der Unterrichtung der Aktionäre über den Inhalt der Genussrechtsverträge, die Beschränkung des Beschlussinhalts auf die Zustimmung zum Abschluss der Genussrechtsverträge ohne Einbeziehung des Tatbestands der Gewährung von Genussrechten, einen Verstoß des Bezugsrechtsausschlusses gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Fehlen von sachlichen, im Interesse der AG liegenden Rechtfertigungsgründen in Bezug auf diesen Ausschluss sowie die Verschaffung eines Sondervorteils zugunsten der Mehrheitsaktionäre in der verklagten AG.27 Erst nach Ablauf der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG berief sich der Kläger zusätzlich noch darauf, dass die AG den Bericht des Vorstands zum Ausschluss des Bezugsrechts nicht von der Einberufung der Hauptversammlung an in den Geschäftsräumen der AG zur Einsicht der Aktionäre ausgelegt habe. Der BGH wies diesen nachträglichen Einwand des Anfechtungsklägers ohne nähere Prüfung wegen Verfristung zurück.28 Der „wesentliche tatsächliche Kern“ dieses Anfechtungsgrundes war nicht innerhalb der Ausschlussfrist des § 246 Abs. 1 AktG vorgebracht worden.29 In rechtsdogmatischer Hinsicht führte der BGH aus, dass ein derartiges verspätetes Nachschieben eines Anfechtungsgrundes „einer verspäteten Klage gleichkomme“. Die verspätet vorgebrachten Gründe seien dann „unbeachtlich“.30 Der BGH äußert sich zwar nicht zur Frage des Vorliegens eines anderen Streitgegenstands und der Anwendbarkeit des § 263 ZPO wegen Eintritts einer Klageänderung im technischen Sinne. Die Auffassung des BGH, das verspätete Vorbringen eines Anfechtungsgrundes stehe einer verfristeten Anfechtungsklage gleich, deutet aber darauf hin, dass der BGH nicht vom Vorliegen eines anderen Streitgegenstands ausgeht.

26 BGHZ 120, 141. 27 BGHZ 120, 141 (143). 28 BGHZ 120, 141 (156 f.). 29 BGHZ 120, 141 (156 f.). 30 BGHZ 120, 141 (157).

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d) Die Entscheidung BGH, NJW 1995, 260 vom 26.9.1994 Auch in diesem Fall des BGH ging es um einen Hauptversammlungsbeschluss zur Ermächtigung des Vorstands zur Ausgabe von Genussscheinen unter Ausschluss des Bezugsrechts der Aktionäre. In materiell-rechtlicher Hinsicht stellte sich zwar die Frage, ob ein Ermächtigungsbeschluss, der nicht zumindest den Höchstnennbetrag der auszugebenden Genussscheine festlegt, nach § 241 Nr. 3 AktG nichtig ist.31 Der BGH ließ dies aber offen, weil der Kläger keine Nichtigkeits-, sondern eine Anfechtungsklage erhoben habe und eine solche Klage auch auf einen Nichtigkeitsgrund gestützt werden könne.32 Der BGH ging also in dieser Entscheidung noch davon aus, dass Nichtigkeitsklage und Anfechtungsklage in prozessualer Hinsicht zwei verschiedene Klagearten darstellen, die sich notwendigerweise auch auf verschiedene Streitgegenstände beziehen. Eine Verfristung der Geltendmachung dieses „Anfechtungsgrundes“ wurde vom BGH unter Hinweis darauf abgelehnt, dass der Kläger bereits in der Klageschrift die fehlende Festlegung eines Nennbetrags der auszugebenden Genussscheine gerügt habe.33 Auf den Gesichtspunkt der Nichtanwendung der Frist des § 246 Abs. 1 AktG auf den Fall, in dem die Anfechtungsklage auf einen Nichtigkeitsgrund gestützt werde, komme es daher im konkreten Fall nicht an.34 e) Die Entscheidung BGH, ZIP 2005, 706 vom 14.3.2005 Diese Entscheidung des BGH betrifft einen Gesellschafterbeschluss der GmbH über den Ausschluss eines Gesellschafters ohne sachlichen Grund. Mit der rechtzeitig erhobenen Anfechtungsklage begehrte die Klägerin die Feststellung der Nichtigkeit des Gesellschafterbeschlusses wegen Fehlens eines sachlichen Grundes für den Verlust der Gesellschafterstellung. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, berief sich die Klägerin im Berufungsverfahren unter Verweis auf ein inzwischen eingeholtes Rechtsgutachten auch darauf, dass ihr in der Gesellschafterversammlung das rechtliche Gehör verweigert und darüber hinaus ihr Informationsrecht aus § 51 GmbHG verletzt worden sei.35 Zudem machte die Klägerin geltend, bei der Kündigung des für die Gesellschafterstellung bedeutsamen Kooperationsvertrags sei die GmbH nicht ordnungsgemäß vertreten worden.36 In Bezug auf die Frage der Verfristung des Nachschiebens von Anfechtungsgründen bestätigt der BGH die bisherige Rechtsprechung, nach der Anfechtungsgründe binnen der einen Monat betragenden Anfechtungsfrist  geltend gemacht werden müssen.37 Aus der Entscheidung BGHZ 152, 1 vom 22.7.200238 könne nicht geschlossen werden, dass ein Anfechtungskläger jederzeit neue Anfechtungsgründe in den Rechtsstreit einführen und damit die vom Gesetzgeber aus wohlerwogenen Gründen geschaffene Fristenregelung des § 246 Abs. 1 AktG 31 BGH, ZIP 1994, 1857 (1858). 32 BGH, ZIP 1994, 1857 (1858). 33 BGH, ZIP 1994, 1857 (1858). 34 BGH, ZIP 1994, 1857 (1858). 35 BGH, ZIP 2005, 706 (707). 36 BGH, ZIP 2005, 706 (707). 37 BGH, ZIP 2005, 706 (707). 38 BGHZ 152, 1.

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„funktionslos machen dürfe“.39 Bei der Anfechtungsklage müsse vielmehr – bei Zugrundelegung der Entscheidung BGHZ 152, 1 – innerhalb der Anfechtungsfrist der „den einen Teil des Klagegrundes bildende maßgebliche Sachverhalt, aus dem der Kläger die Anfechtbarkeit des Beschlusses herleiten will, vorgetragen werden“.40 f) Die Entscheidung BGH, ZIP 2005, 1318 vom 9.5.2005 Dieser Fall des BGH betrifft die formwechselnde Umwandlung einer Aktienge­ sellschaft in eine (Publikums-)GmbH & Co. KG. Im Rahmen einer von Minder­ heitsaktionären erhobenen Anfechtungsklage ging es um die Rechtmäßigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses über die formwechselnde Umwandlung und um die Wirksamkeit von Bestimmungen des im Zusammenhang damit beschlossenen Gesellschaftsvertrags der KG. Soweit die Anfechtungskläger ihre Klage erst geraume Zeit nach deren Erhebung auch darauf gestützt haben, dass sich die Mehrheitsgesellschafterin der AG durch die Umwandlung (Formwechsel) einen Sondervorteil in Gestalt eines Steuervorteils verschafft habe, der aufseiten der Minderheitsgesellschafter und der Gesellschaft selbst zu einem Steuernachteil geführt habe, bestätigt der BGH die Auffassung des Berufungsgerichts zum Vorliegen einer Verfristung gemäß §  195 Abs. 1 UmwG.41 Nach § 195 Abs. 1 UmwG muss eine Klage gegen die Wirksamkeit des Umwandlungsbeschlusses binnen eines Monats nach der Beschlussfassung erhoben werden. Das Nachschieben von neuen Unwirksamkeitsgründen ist hier nach Auffassung des BGH in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zu § 246 Abs. 1 AktG ausgeschlossen.42 Der Steuervorteil, auf den sich die Anfechtungskläger erst nach Ablauf der Anfechtungsfrist berufen haben, sei ein anderer Vorteil als der von der Mehrheitskommanditistin angeblich durch die Bestimmung der S. Verwaltungs-­ GmbH zur Komplementärin erlangte Vorteil, so dass insoweit ein anderer Sachverhalt vorliege.43 g) Die Entscheidung BGHZ 167, 204 vom 20.4.2006 Im Fall BGHZ 167, 204 ging es um die Anfechtung eines Hauptversammlungsbeschlusses, der unter Mitwirkung eines nach § 20 Abs. 7 AktG nicht stimmberechtigten Aktionärs gefasst wurde, wegen Gesetzesverletzung i.S.d. § 243 Abs. 1 AktG. Die Klägerin hatte gegen mehrere Hauptversammlungsbeschlüsse Klage erhoben und verschiedene Inhalts- und Verfahrensmängel geltend gemacht. Erst sechs Monate nach Klageerhebung wurde aber der potentielle Anfechtungsgrund einer Nichterfüllung der Mitteilungspflicht nach § 20 Abs. 1 AktG in den Prozess eingeführt.44 Der BGH 39 BGH, ZIP 2005, 706 (708). 40 BGH, ZIP 2005, 706 (708). 41 BGH, ZIP 2005, 1318 (1320). 42 BGH, ZIP 2005, 1318 (1320) mit Verweis auf BGHZ 120, 141 (156 f.) = ZIP 1992, 1728 (1733); BGHZ 134, 364 (366) = ZIP 1997, 732 (733); BGHZ 137, 378 (386) = ZIP 1998, 467 (470). 43 BGH, ZIP 2005, 1318 (1320 f.). 44 BGHZ 167, 204 Rz. 19.

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nahm an, dass es sich bei dem nachgeschobenen Vortrag im Verhältnis zu dem in der Klageschrift geltend gemachten Klagegrund unzweifelhaft um einen anderen (neuen) Lebenssachverhalt handele.45 Ein Hauptversammlungsbeschluss, bei dem entgegen § 20 Abs. 7 AktG ausgeschlossene Stimmen mitgezählt würden, sei im Falle der Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses nach h.M. lediglich wegen Gesetzesverletzung nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar.46 In Bezug auf die Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG bestätigt der BGH in dieser Entscheidung, dass ein potentieller Anfechtungsgrund in seinem wesentlichen tatsächlichen Kern innerhalb der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG in den Rechtsstreit eingeführt werden müsse. Nach dieser Vorschrift sei nicht nur die nachträgliche Erhebung einer Anfechtungsklage, sondern auch das Nachschieben von neuen Anfechtungsgründen ausgeschlossen.47 Aus der Entscheidung BGHZ 152, 1 ergebe sich nicht, dass jederzeit neue Anfechtungsgründe in den Prozess eingeführt werden könnten.48 h) Die Entscheidung BGHZ 180, 9 vom 16.2.2009 Im Fall BGHZ 180, 9 griffen die Kläger innerhalb der Frist des § 246 Abs. 1 AktG mit ihren Nichtigkeits-und Anfechtungsklagen Entlastungsbeschlüsse, die Bestellung des Abschlussprüfers sowie die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder an. Geltend gemacht wurde eine Nichtigkeit gemäß § 241 Nr. 2 AktG wegen fehlender ordnungsgemäßer Beurkundung und fehlender Überwachung der Stimmauszählung durch den Notar.49 In Bezug auf die von zwei Klägern gerügten Verletzungen des Informationsrechts der Aktionäre nach § 131 AktG weist der BGH darauf hin, dass es insoweit nur auf die in der Klageschrift konkret als nicht oder nicht zutreffend beantwortet aufgeführten Fragen der Aktionärsvertreter E. und N. ankomme, weil Anfechtungsgründe in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern innerhalb der Anfechtungsfrist des §  246 Abs.  1 AktG in den Rechtsstreit eingeführt werden müssten.50 Nicht ausreichend sei insoweit das Vorbringen, dass der Vorstand der verklagten AG „eine ganze Reihe von Fragen“ aus einer der Klageschrift beigefügten Frageliste eines Aktionärsvertreters nicht oder nicht zutreffend beantwortet habe.51 i) Die Entscheidung BGH, AG 2010, 452 vom 7.12.2009 In dieser Entscheidung beruft der BGH sich darauf, dass die Anfechtungsgründe „abtrennbare Teile des Streitstoffs“ seien.52 Der Streitgegenstand der aktienrechtlichen Anfechtungsklage werde durch die jeweils geltend gemachten Beschlussmängelgrün-

45 BGHZ 167, 204 Rz. 22. 46 BGHZ 167, 204 Rz. 26. 47 BGHZ 167, 204 Rz. 18. 48 BGHZ 167, 204 Rz. 18. 49 BGHZ 180, 9 Rz. 4 = ZIP 2009, 460 mit Anm. Mutter. 50 BGHZ 180, 9 Rz. 34. 51 BGHZ 180, 9 Rz. 34. 52 BGH, AG 2010, 452 Rz. 3.

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de als Teil des zugrundeliegenden Lebenssachverhalts bestimmt.53 Schon die Klage könne auf einzelne Anfechtungsgründe beschränkt werden mit der Folge, dass nach Ablauf der Klagefrist des § 246 Abs. 1 AktG nachgeschobene Gründe nicht mehr berücksichtigt werden könnten.54 Erst recht sei eine derartige Beschränkung im Verlauf des Prozesses möglich.55 j) Die Entscheidung BGH, AG 2010, 748 vom 31.5.2010 Im Fall BGH, AG 2010, 748 hatte der Kläger die Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses darauf gestützt, dass die Teilnahmebedingungen und der Nachweis des Anteilsbesitzes unzutreffend angegeben wurden. Als Anfechtungsgrund brachte der Kläger die Nichteinhaltung der Einberufungsfrist vor. Das Berufungsgericht beschränkte die Zulassung der Revision auf den Anfechtungsgrund. Der BGH hielt dies für zulässig.56 Schon die Klage könne auf einzelne Anfechtungsgründe mit der Folge begrenzt werden, dass nach Ablauf der Klagefrist nachgeschobene Gründe nicht mehr berücksichtigt werden könnten.57 Der geltend gemachte Anfechtungsgrund sei im konkreten Fall ein abtrennbarer und unabhängiger Teil des Streitstoffes. Zwar hätten Nichtigkeits- und Anfechtungsklagen gegen einen Hauptversammlungsbeschluss ein einheitliches Rechtsschutzziel, so dass ein Teilurteil über die Anfechtungs- oder die Nichtigkeitsgründe ausscheide, wenn diesen ein einheitlicher Lebenssachverhalt zugrunde liege. Die Einberufung auf Grundlage einer vom Kläger für nichtig gehaltenen Satzungsbestimmung als Nichtigkeitsgrund betreffe indes einen anderen Lebenssachverhalt als die Einhaltung der Einberufungsfrist als Anfechtungsgrund.58 k) Die Entscheidung BGHZ 189, 32 vom 22.3.2011 Im Fall BGHZ 189, 32 waren von mehreren klagenden Aktionären verschiedene Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe gegen einen Hauptversammlungsbeschluss vorgebracht worden. Der BGH bestätigte, dass die Gründe, auf welche die Anfechtung gestützt wird, in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern innerhalb der An­ fechtungsfrist des §  246 Abs.  1 AktG in den Prozess eingeführt werden müssen.59 Geschehe das erst nach Ablauf der Frist, so komme dies einer verspäteten Klage gleich.60 Auf einen von einem anderen Kläger geltend gemachten Anfechtungsgrund könne sich ein Kläger nicht ohne weiteres berufen. Im Fall des BGH wurde eine derartige Berufung deshalb abgelehnt, weil die Klagen der betreffenden anderen Aktionäre wegen Fehlens der Anfechtungsbefugnis zur Klageabweisung führten.61 Im Falle 53 BGH, AG 2010, 452 Rz. 3 unter Verweis auf BGHZ 152, 1 und BGHZ 180, 221. 54 BGH, AG 2010, 452 Rz. 3. 55 BGH, AG 2010, 452 Rz. 3. 56 BGH, AG 2010, 748. 57 BGH, AG 2010, 748. 58 BGH, AG 2010, 748 Rz. 5. 59 BGHZ 189, 32 Rz. 13. 60 BGHZ 189, 32 Rz. 13. 61 BGHZ 189, 32 Rz. 13.

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des Ausscheidens eines Klägers aus dem Prozess könnten, so der BGH, die nur von ihm vorgebrachten Anfechtungsgründe den verbliebenen Klägern nicht mehr zugute kommen. Denn dies liefe auf ein Nachschieben von Anfechtungsgründen hinaus, das gerade verhindert werden solle.62 Einem Kläger mit Anfechtungsbefugnis komme der fristgerecht vorgetragene Anfechtungsgrund eines notwendigen Streitgenossen zwar zugute, soweit die Entscheidung aus prozessrechtlichen Gründen (§ 248 Abs. 1 AktG) für alle Aktionäre nur einheitlich ausfallen könne. Ein gemeinsames Prozessrechtsverhältnis bestehe aber nicht, soweit einzelnen Klägern die Anfechtungsbefugnis fehle. Es sei dann auch keine einheitliche Entscheidung des Gerichts erforderlich.63

III. Meinungsstand in der Literatur zu § 246 Abs. 1 AktG In der Literatur besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Erhebung der Klage innerhalb der Anfechtungsfrist nicht das zeitlich unbeschränkte Nachschieben von Anfechtungsgründen ermöglicht.64 Die Anfechtungsgründe müssten vielmehr innerhalb der Frist in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern dargelegt werden.65 Entscheidend seien insoweit nur die Tatsachen, nicht aber ihre rechtliche Würdigung.66 Eine weitere Substantiierung im Lauf des Rechtsstreits sei unter dieser Voraussetzung möglich, und zwar insbesondere bei Tatsachen, die dem Kläger nicht von Anfang an bekannt gewesen seien.67 Ein nach diesen Grundsätzen verspäteter Vortrag des Klägers könne nur noch Erfolg haben, wenn er sich auf einen Nichtigkeitsgrund beziehe.68 Zudem stehe die Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG nicht zur Disposition der Parteien.69

62 BGHZ 189, 32 Rz. 13. 63 BGHZ 189, 32 Rz. 13. 64 Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  246 AktG Rz.  26; K. Schmidt in Großkomm.AktG, Stand 1.6.1995, § 246 AktG Rz. 24; Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 44; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 9; Grigoleit/Ehmann, AktG, 1. Aufl. 2013, § 246 AktG Rz. 9. 65 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 246 AktG Rz. 26; Schwab in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246 AktG Rz. 15; Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 44; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 9; Spindler/ Stilz/Dörr, AktG, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 19, 20; Wilk in MHd GesR VII, 5. Aufl. 2016, § 29 Rz. 83. 66 Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  246 AktG Rz.  26; K. Schmidt in Großkomm.AktG, Stand 1.6.1995, § 246 AktG Rz. 23; Hüffer/Schäfer in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 44; Spindler/Stilz/Dörr, AktG, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 19. 67 K. Schmidt in Großkomm.AktG, Stand 1.6.1995, §  246 AktG Rz.  2; Hüffer/Schäfer in Münch­Komm. AktG, 4. Aufl. 2016, § 246 AktG Rz. 44; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 9; Spindler/Stilz/Dörr, AktG, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 19. 68 K. Schmidt in Großkomm.AktG, Stand 1.6.1995, § 246 AktG Rz. 24; Schwab in Schmidt/ Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246 AktG Rz. 15.  69 Schwab in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 246 AktG Rz. 19.

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IV. Der zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandsbegriff als Grundlage für die Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG im Falle des Nachschiebens von Anfechtungsgründen Zentrale Bedeutung für die Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG im Falle des Nachschiebens von Anfechtungsgründen hat die Frage, ob der neue Anfechtungsgrund einen neuen Streitgegenstand darstellt. Nach herrschender Meinung gilt im deutschen Zivilprozess der sogenannte zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff.70 Er wurde begründet von Leo Rosenberg.71 Maßgeblich fortentwickelt wurde dieser Streitgegenstandsbegriff von Walther Habscheid.72 Der zweigliedrige Streitgegenstand wird gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gebildet durch den Klageantrag und den Klagegrund.73 Vom Streitgegenstand erfasst werden sämtliche materiell-rechtliche Ansprüche, die sich im Rahmen des vom Kläger gestellten Klageantrags i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO aus dem vorgebrachten Lebenssachverhalt ableiten lassen.74 In Bezug auf mehrere materiell-­ rechtliche Ansprüche (Anspruchskonkurrenz) auf Grundlage eines einheitlichen Sachverhalts und als Ziel des Klageantrags besteht danach in prozessualer Hinsicht eine Einheit.75 Als Klageantrag i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist die Konkretisierung der vom Kläger geltend gemachten Rechtsfolge anzusehen.76 Beantragt wird vom Kläger eine bestimmte Entscheidung des Gerichts.77 Unter dem Klagegrund ist der Lebenssachverhalt zu verstehen, aus dem der Kläger die anvisierte Rechtsfolge ableitet.78 Der Streitgegenstand ist demzufolge das Begehren des Klägers, das er auf den von ihm vorgebrachten

70 BGHZ 198, 294 Rz. 15 ff.; BGHZ 194, 314 Rz. 18; BGHZ 168, 179 Rz. 15; BGHZ 157, 47; BGHZ 154, 342 (347 f.); BGHZ 153, 173; BGH, NZI 2008, 685; BGHZ 117, 1 (5); Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, Einl Rz. 69; Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 32; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz.  18; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18.  Aufl. 2018, §  93 ZPO Rz. 11.  71 Vgl. Rosenberg, 3. Aufl. 1931, § 88 II 2 ZPO, S. 247; vgl. dazu auch Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 19. 72 Vgl. dazu Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 22. 73 Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15.  Aufl. 2018, Einl Rz.  76; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 18; Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 32; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 93 ZPO Rz. 11. 74 Vgl. dazu BGHZ 203, 1 Rz. 145; BGHZ 198, 294; BGH, NJW 2015, 3162 Rz. 15; BGH, NJW 2015, 2411 Rz. 11; BGH, NJW 2015, 2407 Rz. 15; Roth in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 11, 28; Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, Einl Rz. 76.  75 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 93 ZPO Rz. 11. 76 Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 33.  77 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 93 ZPO Rz. 28. 78 Vgl. dazu BGHZ 194, 314; BGH, NJW-RR 2013, 748 Rz. 13; BGH, NJW 2013, 540 Rz. 14; BGHZ 198, 294 Rz. 15; BGH, ZIP 2015, 245 Rz. 16; BGH, NJW-RR 2015, 299 Rz. 16; BGH, NJW 2015, 1296 Rz. 14; Becker-Eberhard in MünchKomm. ZPO, 5. Aufl. 2016, Vor § 253 ZPO Rz. 33. 

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Lebenssachverhalt stützt.79 Kommt es zu einer Änderung des Sachverhalts, so ist dies – auch bei unverändertem Fortbestand des Klageantrags – als Änderung des Streitgegenstands anzusehen.

V. Der einheitliche prozessuale Streitgegenstand von aktienrechtlicher Nichtigkeits- und Anfechtungsklage Nach den Grundsatzurteilen BGHZ 134, 36480 und BGHZ 152, 181 bilden ein Klageantrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses (§ 249 AktG) und ein Antrag auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses (§§ 246, 248 AktG) einen einheitlichen Streitgegenstand.82 In Bezug auf die in Rede stehenden Klageanträge liegt kein Eventualverhältnis vor; der Nichtigkeitsantrag umfasst vielmehr auch den Anfechtungsantrag.83 Dies beruht entscheidend darauf, dass beiden „Klagen“, trotz abweichender Terminologie des AktG, derselbe Streitgegenstand zugrunde liegt.84 Beide „Klagen“ bezwecken „die richterliche Klärung der Nichtigkeit des Gesellschafterbeschlusses mit Wirkung für und gegen jedermann“ und verfolgen dasselbe materielle Ziel.85 Die Prüfung des nach §  246 Abs.  3 S.  1 AktG zuständigen Gerichts, ob die 79 Musielak in Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, Einl Rz. 69. 80 BGHZ 134, 364. 81 BGHZ 152, 1. 82 BGHZ 134, 364 (366); BGHZ 152, 1 (4 f.); BGH, NJW 1999, 1638; OLG München, NZG 1999, 1173; OLG Rostock, NZG 2004, 191 (192); OLG Hamm, BeckRS 2008, 12848 = juris Rz. 53; Thüringer OLG, GmbHR 2013, 149 (153); Grigoleit/Ehmann, AktG, 1. Aufl. 2013, § 246 AktG Rz. 4; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 29; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Anh § 47 GmbHG Rz. 166; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 218; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, Anh §  47 GmbHG Rz.  78; K. Schmidt in ­Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152; Teichmann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 5; Austmann in MHdB GesR IV, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 137. 83 BGHZ 134, 364 (366 f.); BGHZ 152, 1 (4 f.); BGH, NJW 1999, 1638; Drescher in Henssler/ Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 29; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 218; Teichmann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 5. 84 BGHZ 134, 364 (366); BGHZ 152, 1 (4 f.); BGH, NJW 1999, 1638; OLG München, NZG 1999, 1173; OLG Rostock, NZG 2004, 191 (192); OLG Hamm v. 12.3.2008 – 8 U 190/06, juris Rz. 53; Sosnitza, Nichtigkeits- und Anfechtungsklage im Schnittfeld von Aktien- und Zivilprozessrecht, NZG 1998, 335; Grigoleit/Ehmann, AktG, 1.  Aufl. 2013, §  246 AktG Rz. 4; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 29; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Anh § 47 GmbHG Rz. 166; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, Anh §  47 GmbHG Rz.  78; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 218; UHL/Raiser, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh § 47 GmbHG Rz. 214 f. 85 BGHZ 134, 364 (366); BGHZ 152, 1 (4 f.); BGH, NJW 1999, 1638; Thüringer OLG, GmbHR 2013, 149 (153); Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 29; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Anh § 47 GmbHG Rz. 166; Wer-

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Nichtigkeit des angegriffenen Hauptversammlungsbeschlusses festzustellen ist oder dieser Beschluss wegen Vorliegens eines Anfechtungsgrundes für nichtig erklärt werden muss, ist aufgrund der Einheitlichkeit des prozessualen Streitgegenstands eine reine Rechtsfrage.86 Die gegen einen Hauptversammlungsbeschluss erhobenen Nichtigkeits- und/oder Anfechtungsklagen sind daher unabhängig von der Deklarierung durch den Kläger in Wirklichkeit als Klage auf „Klärung der Nichtigkeit“ zu qualifizieren. Im Falle der Abweisung der Klage durch das zuständige Gericht kann eine neue Klage nicht mit demselben Streitgegenstand erhoben werden.87 Bei Zugrundelegung des herrschenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs (Klageantrag und relevanter Sachverhalt) stellen demnach der Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit nach § 249 Abs. 1 AktG und der Antrag auf Nichtigerklärung nach § 248 Abs. 1 AktG nicht verschiedene Klageanträge i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO dar.88 Denn andernfalls müssten entgegen der Rechtsprechung des BGH verschiedene prozessuale Streitgegenstände anerkannt werden, die dann dazu führen würden, dass bei Erhebung einer Nichtigkeitsklage vom Gericht nicht ohne Hilfsantrag oder Klageänderung über die Frage der Anfechtbarkeit entschieden werden könnte und nach Abweisung der Nichtigkeitsklage noch eine Anfechtungsklage ohne entgegenstehende Einrede der Rechtskraft möglich wäre.89 Der Entscheidung BGH, AG 2010, 748 kann daher nicht zugestimmt werden, soweit sie so zu verstehen sein sollte, dass ein Verstoß gegen eine Einberufungsbestimmung als Nichtigkeitsgrund einen anderen Lebenssachverhalt im Sinne des Streitgegenstandsbegriffs darstellt als die Nichteinhaltung der Einberufungsfrist als Anfechtungsgrund.90

tenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 218; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19.  Aufl. 2016, Anh §  47 GmbHG Rz.  78; K. Schmidt in ­Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152; Teichmann in Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 4. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 5, 68; UHL/Raiser, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh § 47 GmbHG Rz. 213 ff. 86 BGHZ 134, 364 (367); Thüringer OLG, GmbHR 2013, 149 (153) („eine vom Gericht zu beantwortende Rechtsfrage, ob die Vorschrift des § 248 AktG oder die des § 249 AktG Anwendung findet“); LG Berlin, BeckRS 2014, 15139 = NZG 2015, 485 (Ls.) = juris Rz. 27 (Prüfung sämtlicher geltend gemachter Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe erforderlich); Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 218. 87 BGHZ 134, 364 (367); BGH, NJW 1999, 1638; Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 30; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, Anh § 47 GmbHG Rz. 167; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 220; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh § 47 GmbHG Rz. 80; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 176.  88 Vgl. Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, Anh §  47 GmbHG Rz.  220; Puszkajler in Saenger/Inhester, GmbHG, 3. Aufl. 2016, Anh § 47 GmbHG Rz. 77; Sosnitza, NZG 1998, 335 (337 f.). 89 Vgl. Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 220. 90 BGH, AG 2010, 748 Rz. 5 (zur Frage der Beschränkung der Revisionszulassung durch das Berufungsgericht; vgl. dazu oben II. 2. j)). Eine andere Frage ist, ob ein einzelner Anfechtungs- oder Nichtigkeitsgrund prozessual zumindest so selbständig ist, dass er Gegenstand der in ZPO gar nicht besonders geregelten Revisionszulassung sein kann.

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Wahrung der Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG

Aus den dargelegten Gründen sind die Anfechtungsklage des §  246  AktG und die Nichtigkeitsklage nach §  249  AktG prozessual keine selbständigen Klagen. Es liegt vielmehr eine einheitliche Nichtigkeits- und Anfechtungsklage vor.91 Der vom Kläger zum Zwecke der Begründung einer „Klage“ vorgetragene Sachverhalt ist deshalb nur ein Teil des Klagegrundes i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.92 Prozessual handelt es sich um einen Antrag auf „Klärung der Nichtigkeit“, der die nicht eigenständigen Anträge auf Nichtigkeitsfeststellung (wegen Eingreifens eines Nichtigkeitsgrundes) und auf Nichtigerklärung (wegen Anfechtbarkeit) umschließt.93 Wesentliche Folge der Identität des Streitgegenstands ist zudem, dass nach rechtskräftiger Abweisung einer der beiden Klagen als unbegründet die andere Klage nicht mehr erhoben werden kann bzw. als unzulässig abgewiesen werden muss.

VI. Die Einordnung des § 246 Abs. 1 AktG als materiell-rechtliche Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen Der Wortlaut des § 246 Abs. 1 AktG darf in Bezug auf die Frage der fristgerechten prozessualen Geltendmachung von Anfechtungssachverhalten aus mehreren Gründen nicht überbewertet werden. Dass eine wortlautgetreue Anwendung dieser Fristbestimmung ihren Zweck, die Beschränkung der Geltendmachung von Anfechtungsgründen, offensichtlich verfehlen würde, gilt unabhängig davon, ob ein neuer Anfech­ tungsgrund entgegen der neueren Auffassung des BGH und der herrschenden Lehre prozessual einen neuen Streitgegenstand darstellt. Dies wird schon durch die Entscheidungen des RG aus den Jahren 1903 und 1913 deutlich. Mit dem Versuch, das Fristenproblem beim Nachschieben von Anfechtungsgründen mit Verweis auf einen neuen prozessualen Streitgegenstand möglichst wortlautkonform zu lösen, gerät man in eine Zwickmühle. Wenn nämlich neue Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe entgegen der herrschenden Meinung einen neuen Streitgegenstand darstellten, dann könnten nach rechtskräftiger Abweisung einer Nichtigkeits- und Anfechtungsklage noch neue Klagen erhoben werden, ohne dass der AG der Einwand der Rechtskraft zustünde. Neue Klagen würden dann in Bezug auf Anfechtungsgründe – nicht aber bei Geltendmachung von neuen Nichtigkeitsgründen  – nur an der Frist des §  246 Abs. 1 AktG scheitern. Es kann nicht einerseits ohne Widerspruch bei Fragen der Rechtskraft und der Rechtshängigkeit in Übereinstimmung mit BGHZ 152, 1 auf einen einheitlichen Streitgegenstand der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage abgestellt und dann andererseits in Bezug auf die Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG angenommen werden, ein neu91 Vgl. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21.  Aufl. 2017, Anh §  47 GmbHG Rz.  166, 177; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, Anh §  47 GmbHG Rz. 221; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152, 176 f.; UHL/ Raiser, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh § 47 GmbHG Rz. 261; Hillmann in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 8. 92 BGHZ 134, 364 (367); BGH, NJW 1999, 1638; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 221. 93 Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 221.

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er Anfechtungsgrund und der dazu gehörende Sachverhalt führten wegen Vorliegens eines neuen Lebenssachverhalts zu einem neuen Streitgegenstand. Zudem würde durch die Annahme eines neuen Streitgegenstands prima facie zwar wegen Vorliegens einer Klageänderung i.S.d. § 263 ZPO die Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG erleichtert. Die Klageänderung unterläge dann aber im Hinblick auf ihre Zulässigkeit erst einmal nur dem Regime der ZPO, das heißt, entscheidend wäre, ob gem. § 263 ZPO eine Zustimmung der AG erteilt oder vom Gericht die Sachdienlichkeit bejaht wird. Das RG hat daher bereits in der Entscheidung RG Warneyer 1913, 196 zutreffend erkannt, dass die von RG JW 1903, 390 Nr. 22 angenommene Klageänderung zur Problemlösung nicht geeignet ist. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der BGH geht in der Grundsatzentscheidung BGHZ 152, 194 zu Recht davon aus, dass der zum zweigliedrigen Streitgegenstand gehörende Sachverhalt als Klagegrund i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sich auf die „gesamten, der Entstehung des Beschlusses zugrundeliegenden Umstände“ erstreckt.95 Der Tatsachenvortrag des Klägers zu einem weiteren Anfechtungsgrund betrifft daher regelmäßig nicht einen neuen Lebenssachverhalt im Sinne des Streitgegenstandsbegriffs.96 Unerheblich ist insoweit, ob auf einen neuen Anfechtungsgrund bezogene Umstände zum Zeitpunkt der Klageerhebung für den Kläger erkennbar waren. Die Berufung des Klägers auf einen neuen Anfechtungsgrund im Rahmen eines neuen Tatsachenvortrags führt daher nicht zu einer Klageänderung.97 Da nach nunmehr herrschender Meinung die Nichtigkeits- und Anfechtungsklage auf richterliche Klärung der Nichtigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses mit Wirkung für und gegen jedermann gerichtet ist und einen einheitlichen Streitgegenstand bildet,98 beziehen sich die im AktG vorhandenen besonderen Vorschriften zur Nichtigkeitsklage und zur Anfechtungsklage in Wirklichkeit nicht auf prozessual selbständige Klagearten. Die in §  246 AktG geregelte Anfechtungsklage gibt es bei Zugrundelegung der herrschenden Meinung in Wirklichkeit nicht (mehr). Etwaige Nichtigkeitsgründe sind ebenso wie Anfechtungsgründe nur Teil des zum betreffenden Hauptversammlungsbeschluss gehörenden Lebenssachverhalts und daher auch nur Teil des Klagegrundes i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Daher bezieht sich auch die 94 BGHZ 152, 1 (5 f.) 95 BGHZ 152, 1 (5 f.); vgl. zur GmbH Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 362. 96 BGH v. 22.7.2002 – II ZR 286/01, BGHZ 152, 1 (4) = NJW 2002, 3465 (3466); vgl. auch K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152 („selten“ neuer Lebenssachverhalt), Rz.  176; vgl. zur GmbH Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, Anh § 47 GmbHG Rz. 363. 97 BGH v. 22.7.2002 – II ZR 286/01, BGHZ 152, 1 (4) = NJW 2002, 3465 (3466); zur GmbH Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3.  Aufl. 2019, Anh §  47 GmbHG Rz.  363; a.A. Spindler/Stilz/Dörr, AktG, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 20; RG Warneyer 1913, 196 (vgl. dazu oben I 1 a). 98 BGHZ 134, 364 (366); BGHZ 152, 1 (4 f.); Drescher in Henssler/Strohn, GesR, 4. Aufl. 2019, § 246 AktG Rz. 29; Wertenbruch in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl 2019, Anh § 47 G ­ mbHG Rz. 218; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh § 47 GmbHG Rz. 78; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2013, § 45 GmbHG Rz. 152; vgl. dazu auch oben V.

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Fristbestimmung des § 246 Abs. 1 AktG auf eine Klage (laut Überschrift „Anfechtungsklage“) und damit jedenfalls heute auf einen prozessualen Rechtsbehelf, der keinen eigenständigen Streitgegenstand begründet und damit in Wirklichkeit auch keine selbständige Klageart darstellt. Der Zweck des § 246 Abs. 1 AktG besteht nach ständiger Rechtsprechung und einhelliger Literaturauffassung darin, die Geltendmachung von Anfechtungsgründen zeitlich zu beschränken. Insoweit macht es im Falle des Vorbringens eines Anfechtungsgrundes nach Ablauf der Monatsfrist offensichtlich keinen Unterschied, ob der Kläger schon eine auf Nichtigkeitsgründe oder/und andere Anfechtungsgründe gestützte Nichtigkeits- und Anfechtungsklage erhoben hat. Dies hat die Rechtsprechung nie angezweifelt. Ebenso unerheblich ist, ob nach Eintritt der Verfristung der neue Anfechtungsgrund im Rahmen einer von einem Dritten erhobenen neuen Klage oder von einem Kläger geltend gemacht wird, der fristgerecht eine Nichtigkeits- und Anfechtungsklage erhoben, aber den betreffenden Anfechtungsgrund nicht zumindest „im Kern“ vorgebracht hat. Ansonsten könnte ein Dritter an denjenigen Kläger, der zumindest die Klage rechtzeitig erhoben hat, mit der Bitte herantreten, weitere Anfechtungsgründe nachzuschieben, wodurch auch leicht ein dahin gehender Markt entstehen könnte. Die „Klagefrist“ des § 246 Abs. 1 AktG ist aus diesen Gründen in Wirklichkeit eine materiell-rechtliche (aktienrechtliche) Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen i.S.d. § 243 AktG im Rahmen der einheitlichen Nichtigkeits- und Anfechtungsklage. Ohne Bedeutung für die Frage der Verfristung ist daher, ob der Anfechtungsgrund unmittelbar mit der Klageerhebung oder mit einem späteren Schriftsatz vorgetragen wird. Auch die Einordnung als materiell-rechtliche Ausschlussfrist weicht zwar vom Wortlaut des § 246 Abs. 1 AktG ab. Dies kann aber auf eine ganze Phalanx von Rechtfertigungsgründen gestützt werden. Der Zweck dieser Fristenregelung könnte nämlich ansonsten nicht ohne Bruch mit dem zweigliedrigen Streitgegenstand und dem da­ rauf beruhenden einheitlichen Streitgegenstand der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage verwirklicht werden. § 246 Abs. 1 AktG kann – wie die gesamte Rechtsprechung zeigt – ohnehin in den Fällen des Nachschiebens von Anfechtungsgründen nicht wortlautkonform angewandt werden. Dass der Gesetzgeber in § 246 Abs. 1 AktG von einer echten Klagefrist ausgeht, fällt demgegenüber nicht entscheidend ins Gewicht. Der Wortlaut des § 246 Abs. 1 AktG geht zurück auf Art. 190a Abs. 1 S. 1 ADHGB in der Fassung der zweiten Aktienrechtsnovelle vom 7.3.1884.  Denn zum einen hat sich nach dem ursprünglichen Erlass der auf die „Anfechtungsklage“ bezogenen Monatsfrist und der Übernahme in das AktG 1937 der heute herrschende prozessuale Streitgegenstandsbegriff als Grundlage für den einheitlichen Streitgegentand von Nichtigkeits- und Anfechtungsklage durchgesetzt. Zudem – und dies ist wohl die Ursache für die Wortlautproblematik – wurde mit der ADHGB-Novelle von 1884 nur die Anfechtungsklage, nicht aber eine Nichtigkeitsklage in das ADHGB aufgenommen, um die Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen „in einer dem allgemeinen Inte­ resse entsprechenden Weise zu begrenzen“.99 Das RG hat dann aber nach der Novelle 99 Vgl. U. Huber in FS Coing, 1982, S. 167, 168 f. m.w.N. Art. 190a Abs. 1 ADHGB in der Fassung v. 7.3.1884 lautete: “Ein Beschluss der Generalversammlung kann wegen Verlet-

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von 1884 die Regelung der Anfechtbarkeit von Beschlüssen nicht als abschließend eingeordnet und Fallgruppen für die Nichtigkeit von Beschlüssen entwickelt.100 Erst das Aktiengesetz von 1937 führte dann zu einer Regelung der Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen.101

VII. Zusammenfassung Die für die „Anfechtungsklage“ gemäß § 246 Abs. 1 AktG geltende Monatsfrist ist – abweichend vom auf Art 190a ADHGB aus dem Jahre 1884 zurückgehenden Wortlaut – keine echte Klagefrist. Es handelt sich vielmehr um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Für die Präklusion von Anfechtungsgründen kommt es daher nicht darauf an, ob sie nach Ablauf der Monatsfrist in einen laufenden, mit fristgerechter Klage begonnenen Prozess eingeführt oder erst jetzt mit einer Klageerhebung geltend gemacht wird. Ein einzelner Anfechtungsgrund und der dazu gehörende Lebenssachverhalt bilden keinen selbständigen Klagegrund im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und daher keinen eigenständigen Streitgegenstand, so dass das Nachschieben von Anfechtungsgründen nicht als Klageänderung nach § 263 ZPO einzuordnen ist. Auch der nachgeschobene Anfechtungsgrund ist nur Teil dieses Klagegrundes (Lebenssachverhalts im Sinne des zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs) der Nichtigkeitsund Anfechtungsklage mit einheitlichem Streitgegenstand.

zung des Gesetzes oder des Gesellschaftsvertrages als ungültig im Wege der Klage angefochten werden. Dieselbe findet nur binnen der Frist eines Monats statt. …“. 100 Vgl. U. Huber in FS Coing, 1982, S. 167, 169 ff. 101 Zum Ganzen U. Huber in FS Coing, 1982, S. 167, 169 ff.

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Zur vertraglichen Regelung des Ausscheidens eines Partners aus einer überregionalen Berufsausübungsgesellschaft, besonders bei an ihn persönlich gebundenen Mandaten Inhaltsübersicht I. Fragestellung II. Grundsätze der Regelung der Ansprüche eines ausscheidenden Gesellschafters 1. Die gesetzliche Ausgangslage 2. Verhältnis zum Mandantenschutz 3. Sonderprobleme 4. Zur ergänzenden Anwendung des § 740 BGB 5. Zwischenfazit

III. Ausblick auf mögliche Folgen im ­Rahmen der Reform des Anwalts­ gesellschaftsrechts 1. Rechtslage bei Berufsausübungsgesellschaften als Handelsgesellschaften 2. Einlagenrückgewähr durch Abfindung?

I. Fragestellung Sozietätsverträge von Freiberuflern sind schon seit längerem Gegenstand von Studien zur Eignung und Handhabung der für diese Gesellschaften (Sozietäten) nach wie vor relativ am besten passenden Rechtsform der BGB-Gesellschaft, jedenfalls soweit es gemeinschaftliche Berufsausübung im Rahmen einer Außengesellschaft betrifft.1 Dabei stehen die Fragen zum Ausscheiden von Partnern, zur Abfindung und zu Wettbewerbsverboten – offenbar aufgrund nicht seltener praktischer und zum Teil sogar forensischer Auseinandersetzungen  – ein wenig im Vordergrund.2 Sie sind daher so bekannt und viel besprochen, dass sie für einen Festschriftbeitrag, der ja bekanntlich den Jubilar zum Nachdenken über für ihn interessante, also möglichst neue oder innovative Problemkreise anregen soll, nicht so passend erscheinen. Nun steht allerdings im Anwaltsgesellschaftsrecht insofern eine Neuerung bevor, als BRAK und DAV dem demgegenüber offenbar aufgeschlossenen Gesetzgeber die Öffnung der Berufsausübungsgesellschaften für Handelsgesellschaften, somit vor allem die KG und die GmbH & Co KG, vorgeschlagen haben und dieses Projekt mit großem Eifer voran1 Übersichten bei Damm, FS Th. Raiser, 2005, S. 23 ff.; Henssler, NJW 1993, 2137 ff.; Michalski/ Römermann in Henssler/Streck, Handbuch Sozietätsrecht, S. 46 ff.; K. Schmidt, NJW 2005, 280 ff.; H. P. Westermann in Erman, Vor § 705 BGB Rz. 30; Schäfer in MünchKomm. BGB, vor § 705 BGB Rz. 36. 2 Kürzlich v. Falkenhausen in Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht (hrsg. von Priester/Heppe/H. P. Westermann), 2018, S. 113 ff.; schon früher H. P. Westermann, AnwBl 2007, 103, 109 ff.; Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 79 ff., 191 ff.

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treiben,3 was dazu führen könnte, dass auch im Hinblick auf den Gesellschafterwechsel und seine Folgen einige unter dem bisherigen GbR-Statut der Sozietäten weniger bedeutende, nämlich die personelle Zusammensetzung der Gesellschaft betreffende Fragen relevant werden. Aufmerksamkeit könnten daneben aber auch Umstände fordern, die wohl zu dem genannten Reformvorhaben beigetragen haben könnten, ohne aber unmittelbar Gegenstand der hier unterbreiteten Vorschläge geworden zu sein. Gedacht ist hier an die Organisation großer Ausübungsgesellschaften in mehreren, zum Teil räumlich weit auseinanderliegenden Niederlassungen, die auch dadurch entstanden sein können, dass eine zum Teil interprofessionelle Zusammenarbeit, etwa von Rechtsanwälten und Steuerberatern sowie Wirtschaftsprüfern, beabsichtigt war, die ja durch die Reform des anwaltlichen Berufsausübungsrechts auch gefördert werden soll,4 ganz zu schweigen von der ebenfalls verstärkt angestrebten und demnächst tatsächlich kommenden Einbeziehung europäischer oder sonst ausländischer Berufsangehöriger und ihrer Ausübungsgesellschaften.5 Eine derartige Entwicklung  – dies der gedankliche Ansatz für den vorliegenden Beitrag – könnte für die Fragen des Ausscheidens von Gesellschaftern gewisse Besonderheiten – um nicht zu sagen: Sondergesetzlichkeiten – ins Blickfeld bringen, die sich aus der Aufteilung der Zusammenarbeit, der Abrechnung und der Gewinnverteilung auf stark verselbständigte Niederlassungen, infolgedessen möglicherweise sogar im Hinblick auf die Regeln zum Mandantenschutz und Wettbewerbsverboten, ergeben könnten. Konkret: Für die Frage, welche Mandate „der Sozietät“ beim Ausscheiden des Sachbearbeiters verbleiben sollen, und welche er „mitnehmen“ kann, wird sich bei Bearbeitung im Rahmen einer Niederlassung – namentlich, wenn dort Vertreter der hierfür zuständigen Berufssparte tätig sind – nach dem genauen Mandantenstamm richten; wenn die in einem solchen Profit-Center erwirtschafteten Erträge unter den hier tätigen Berufsangehörigen aufgeteilt werden – wenn auch vielleicht mit teilweiser Beteiligung der Zentrale – stellt sich die Frage, ob dies Einfluss auf die Berechnung eines „Kanzlei-Werts“ auf der Grundlage der Bewertung des vom Ausscheidenden geschaffenen good will hat, wie auch die Beteiligung an schwebenden Geschäften sich nicht gut auf die in allen Niederlassungen angenommenen Mandate beziehen kann. Das sollte, wie es im Titel dieses Beitrags ja auch angedeutet ist, vor allem für solche „Mandate“ gelten, die aus rechtlichen Gründen nicht von der bisherigen Sozietät des Ausgeschiedenen fortgesetzt werden können. Das alles muss freilich nicht unbedingt so gesehen werden, es kann sich durchaus empfehlen (oder bei längerem Bestehen einer Sozietät mit späterer Gründung von selbständigen Niederlassungen so ergeben haben), dass die Vertragsgestaltung die Dinge und die Regelungsansätze differenziert, wobei hinzukommen kann, dass auch bei Interprofessionalität der Aktivitäten und damit der einem einzelnen Gesellschafter erteilten Mandate an ihnen verhältnismäßig viele auf ihn persönlich zugeschnittene Aufgaben (und Ertragserwartungen) hängen könnten, so dass eine „Mitnahme“ (oder Abgeltungspflichten, wie sie der Sozietät zur Last fallen) ein Gestaltungsproblem aufwerfen – das ist ein etwas neuerer Aspekt des Problembereichs. 3 Dazu näher H. P. Westermann, NZG 2019, 1 ff. 4 Henssler, AnwBl Online 2018, S. 564 ff. 5 Dazu Henssler, AnwBl Online 2018, S. 579 ff.; Offermann-Burckart, ZRP 2018, 158.

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II. Grundsätze der Regelung der Ansprüche eines ausscheidenden Gesellschafters 1. Die gesetzliche Ausgangslage Dem BGB ist keine zukunftsgerichtete Konzeption der Verteilung von Chancen und Risiken unter dem ausscheidenden und den verbliebenen Gesellschaftern zu entnehmen, sondern eine im Grundsatz auf die aktiven wie passiven Vermögenswerte beschränkte Ordnung der Auseinandersetzung. Immerhin folgt aus der – dies freilich nicht ausdrücklich bestimmenden – Regelung des § 738 BGB, dass der Ausscheidende durch eine Abfindung an den geschaffenen Vermögenswerten teilhaben soll, wozu auch die Teilnahme an schwebenden Geschäften (§  740 BGB) gehört, und auf der Gegenseite einer anteiligen Zahlungspflicht für einen im Zeitpunkt des Ausscheidens bestehenden Verlust (§ 735 BGB) und u.U. einer Nachhaftung nach § 736 BGB unterliegt.6 Dieses Konzept ist stark von der Vorstellung der Fortsetzung der Gesellschaft durch die Partner des Ausgeschiedenen bestimmt, daneben ist aber eine Auseinandersetzung mit dem Ziel einer Verteilung der einzelnen Vermögensgegenstände bzw. auch Erstattung von Einlagen, der Schuldenberichtigung und schließlich der Verteilung des Liquidations-Überschusses vorgesehen. Dieses Konzept, so schlüssig es sich anhört, bedarf erfahrungsgemäß stark einzelfallbezogener Konkretisierung, vor allem in Bezug auf die Weiterentwicklung, wobei sich aber im Lauf der Zeit einige F ­ ixpunkte herausgestellt haben. So ist einer neueren Entscheidung des BGH zu entnehmen, dass neben dem Abfindungsanspruch, durch den nach dem Gesetz die Anwachsungsfolgen bestimmt werden,7 ein Ausgleich der Kapitalkonten nicht stattfinden soll, was zwar nicht unstreitig ist,8 aber bei der Freiberufler-Sozietät, die nicht unbedingt zu Geldeinlagen zwingt, vernachlässigt werden kann. Immerhin ist aber eine Abschichtungsbilanz zu erstellen, die keine Erfolgsbilanz ist, sondern dazu dient, die Beteiligung des Ausgeschiedenen am Vermögen, damit also auch an den in Mandatsbeziehungen liegenden Werten zu ermitteln, wobei freilich nicht die nach dem Gesetz eigentlich naheliegenden Liquidationswerte maßgeblich sind, sondern Fortführungswerte, da vom Grundsatz her der Ausgeschiedene nicht soll verlangen können und auch nicht darauf soll verwiesen werden können, wie bei einer Abwicklung des Vermögens behandelt zu werden.9 Die hier herauskommenden, in den Sozietätsverträgen nicht immer ganz deutlich ausgedrückten Regeln laufen auf eine Bewertung der Substanz nach der Ertragswertmethode hinaus,10 was in gewisser Hinsicht eine contradictio in obiecto sein mag, aber hier einen charakteristischen Aspekt hervorhebt. Derartiges ist bei Unternehmen der produzierenden Wirtschaft, z.T. auch im Handel und bei Dienstleistungen, leichter durchführbar als bei freiberuflicher Tätigkeit im rechts- und steuerberatenden Bereich, da die hier besonders wichtigen Mandanten 6 Kurze Zusammenfassung bei H. P. Westermann in Erman, § 738 BGB Rz. 1. 7 Schäfer in MünchKomm. BGB, § 738 BGB Rz. 9. 8 Zum Urteil BGH, NJW 2011, 2335 krit. Altmeppen, NJW 2013, 1025. 9 BGHZ 17, 130, 136; BGH, NJW 1967, 1464; Schulze-Osterloh, ZGR 1986, 545, 549. 10 BGHZ 116, 359, 170; BGH, NJW 1993, 2100; 1995, 192; Schulze-Osterloh, ZGR 1986, 550 ff.; Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und

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beziehungen, obwohl sie jedenfalls im Bereich der Rechtsdienstleistungen gewöhnlich ziemlich volatil sind, sich überwiegend auf die persönliche Qualifikation eines oder einzelner Partner und seines Stabs und erst danach auf die technische oder gar die bibliotheksmäßige Ausrüstung der Kanzlei stützen. Hier liegt eine Besonderheit in rechtlicher Hinsicht, da es dazu kommen kann, den „reinen Substanzwert“ der Beteiligung, den es ja geben kann, um einen Firmen- oder Geschäftswert zu vermehren.11 Hier zeigt sich, dass im Rahmen einer Mischung von Substanz- und Ertragswertmethode der Ertragswert praktisch als Substanzstück behandelt wird, was dann auch dazu führen kann, in ein Abfindungsguthaben vertraglich doch einen anteiligen Kanzleiwert einzubeziehen. Dieses den Verhältnissen einer Freiberufler-Sozietät angepasste, natürlich vermögensrechtlich verfasste, aber auch auf immaterielle Werte zurückgreifende Berechnungselement könnte Ausstrahlungen auch auf weitere mit Ausscheiden und Abfindung zusammenhängende Ansprüche und Pflichten haben, wie etwa auf die Behandlung schwebender Geschäfte und das Verfahren zur Durchsetzung ein­ zelner Rechte, vor allem aber auf das Verhältnis von Geld-Abfindung und Mandanten-­ Mitnahme bzw. Wettbewerbsverbot des Ausgeschiedenen, wobei im letzteren Bereich Besonderheiten bei der Bewertung der Substanz und der Erträge bei solchen – hier besonders zu beachtenden – Mandaten relevant werden können, die stärker als gewöhnlich an die Person des Ausgeschiedenen gebunden sind. Hinsichtlich des Verfahrens ist auch noch kurz auf ein ziemlich neues höchstrichterliches Urteil hinzuweisen. Der Fall12 ist charakteristisch. Aus einer Anwaltskanzlei war der Kläger ausgeschieden und begehrte seinen Gewinnanteil für das letzte Quartal vor seinem Ausscheiden abzüglich Entnahmen; er berief sich hierbei auf eine Vertragsregelung der Gewinnverteilung, die bestimmte, dass bei Auflösung der Gesellschaft die Partner am Liquidationsergebnis anteilig teilnehmen sollten. Das verwarf das OLG, weil der Kläger zwar einen Abfindungsanspruch nach § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB geltend machen könne, dies aber erst nach Erstellung einer Auseinandersetzungsbilanz, nicht aber – mit Rücksicht auf die bekannte „Durchsetzungssperre“13 – einen isolierten Gewinnanteil. An sich geht es hierbei um die Reduktion von Rechten und Pflichten auf den Abwicklungszweck, weshalb man zweifeln kann, ob die Sperre wirklich auch für einen Abfindungsanspruch des Ausgeschiedenen gilt.14 Doch spricht es für eine solche Verschiebung der Zahlungspflicht, wenn deren Grundlagen nicht ohne vorherige Abwicklung des Gesellschaftsvermögens berechnet werden können.15 Das OLG Frankfurt sah jedenfalls keinen Anlass zur Abweichung von der Durchsetzungssperre, weil die Liquidation im zu entscheidenden Fall zwar sehr langwierig war, Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 31 ff.; Ulmer, FS Quack, 1991, S. 477 ff.; Hülsmann, ZIP 2001, 450; Schäfer in MünchKomm. BGB, § 738 BGB Rz. 34. 11 Schäfer in MünchKomm. BGB, § 738 BGB Rz. 34. 12 OLG Frankfurt v. 15.2.2018 – III U 176/15, ZIP 2018, 967 mit Kurzkomm. Rüppell, EWiR 2018, 619. 13 Dazu allgemein H. P. Westermann in Erman, § 738 BGB Rz. 11. 14 Dagegen KG, NZG 2008, 70; dafür aber Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 112 ff. mit eingehender Begründung. 15 BGHZ 37, 299, 304; BGH, WM 1970, 90; BGH, NJW 2000, 2586.

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aber nicht – was zu einem anderen Schluss geführt haben würde16 – von den verbleibenden Gesellschaftern absichtlich verzögert wurde. Streit über die Berechnung und Bewertung gehört nicht hierher. Namentlich in Fällen, die eine erste Abrechnung über die in einem Profit-Center erzielten Gewinne und die von dort „mitgenommenen“ Mandate erfordern und sodann auf die Verhältnisse in der gesamten Sozietät bezogen werden müssen, liegt eine solche Durchsetzungssperre – notfalls ihre vertragliche Regelung – in der Tat ziemlich nahe – das ist auch und gerade für den hier besprochenen Problembereich zu beachten. 2. Verhältnis zum Mandantenschutz Dies betrifft dann auch die Berücksichtigung der „Mitnahme von Mandanten“ durch den Ausscheidenden bzw. eines ihn treffenden Wettbewerbsverbots in der Gesamtabrechnung. Im Ausgangspunkt ist klar, dass das Wettbewerbsverbot, das ja vereinbart werden muss, trotz gewisser dabei zu beachtender zeitlicher und räumlicher Beschränkungen doch mit Rücksicht darauf geschaffen werden muss, dass die verbleibenden Partner vor einer einseitigen Verwertung gemeinsam geschaffener Arbeits­ ergebnisse zu schützen sind. Auf der anderen Seite soll der Ausgeschiedene hierdurch nicht einer besonderen Sanktion unterworfen werden,17 und ihm darf auch nicht der Verlust wesentlicher Bestandteile seines „Anteilswerts“ auferlegt werden. Wenn der Ausscheidende dagegen berechtigt (und unter den tatsächlichen Umständen praktisch in der Lage) ist, bestehende Mandate fortzuführen oder bisher von ihm betreuten Mandanten auch künftig zur Verfügung zu stehen, ist eine pekuniäre Abfindung zu kürzen oder ganz auszuschließen. Dies legt auch der BGH als Lösung nahe,18 wobei noch danach unterschieden wird, ob dem früheren Partner nur die Werbung bei Mandanten seiner bisherigen Sozietät untersagt ist,19 oder ob er darüber hinaus nicht für Mandanten soll arbeiten dürfen, die ihm nach seinem Ausscheiden aus seiner Sozietät „folgen“,20 es sei denn, er hat eine solche Gefolgschaft nicht veranlasst.21 Ein weiterer Schritt auf dieser Grundlage wird getan, wenn der Ausgeschiedene, etwa durch Berücksichtigung anteiliger durchschnittlicher Umsätze seines Profit-Centers oder der gesamten Gesellschaft, die in den letzten Geschäftsjahren erzielt sind, am Ertragswert beteiligt wird, woraus ein Schluss auf ein nicht ausdrücklich vereinbartes Wettbewerbsverbot gezogen werden kann.22 Noch weiter geht man, wenn aus einer Unwirksamkeit eines vertraglichen Wettbewerbsverbots (wegen Überschreitung zeitlicher und räumlicher Grenzen) gefolgert wird, dass der Abfindungsanspruch, wenn 16 Zust. Rüppell, EWiR 2018 S. 620. 17 BGH, NJW 2004, 66; Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 167 ff.; H. P. Westermann in Erman, § 738 BGB Rz. 7. 18 BGH, ZIP 1994, 378; NJW 2000, 2584; Goette, ZGR 2017, 432. 19 Zur Zulässigkeit einer solchen Regelung BGHZ 91, 1; Goette, AnwBl 2007, 637, 643. 20 Zur Zulässigkeit auch hier BGH, NJW 2000, 2584; Michalski/Römermann, ZIP 1994, 433, 442; abl. aber Henssler/Michel, NZG 2002, 401, 412. 21 H. P. Westermann, AnwBl 2007, 103, 109. 22 BGH, NJW 1995, 1551; NZG 2004, 35.

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nicht anders vereinbart ist, auf den anteiligen Wert der Praxisausstattung (if any) ohne besonderen Ansatz eines good will beschränkt wird.23 Vor dem Hintergrund der Anwendung der „Durchsetzungssperre“ dürften die hier entstehenden Regelungsaufgaben den Eindruck davon verstärken, in welchem Ausmaß schon generell die Regelung des Ausscheidens eines Partners (erst recht natürlich: mehrerer) aus einer Anwalts-Berufsausübungsgesellschaft zwar grundsatzbezogene, aber zugleich kasuistische Überlegungen und Absprachen erfordert. Diese können erfahrungsgemäß nur sehr begrenzt im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geleistet werden, sondern erfordern über die nachgerade übliche Vereinbarung von Schiedsgutachten hinaus Verhandlungen unter den hierfür zuständigen Gesellschaftern anhand eines konkret aktuellen Kündigungs- oder Ausscheidensfalls. Diese haben dann auch noch die Einbeziehung von Mandanten gezahlter Abschlagszahlungen oder von Vorschüssen in die Abrechnung eines einzelnen Profit-Centers oder der Gesamtsozietät zu klären. 3. Sonderprobleme Ein Sonderproblem, das auch im einschlägigen Schrifttum schon gesehen, aber noch nicht voll geklärt worden ist, kann sich ergeben, wenn ein ausgeschiedener Partner gem. §  740 BGB eine Beteiligung am Ergebnis schwebender Geschäfte einfordert. Diese Norm bezieht sich ausdrücklich auf „Gewinne und Verluste“ aus den zur Zeit des Ausscheidens noch nicht beiderseits voll abgewickelten, nach anderer Ansicht nur solcher Geschäfte, die zu diesem Zeitpunkt hätten abgewickelt sein können.24 Der hieraus sich ergebende Anspruch steht neben demjenigen aus § 738 BGB; seine selbständige Geltendmachung, die ja zum Teil auf etwas spekulative Gegebenheiten eingeht, soll einer späteren Veränderung der Ansätze der Abschichtungsbilanz entgegenwirken (woraus dann allerdings folgt, dass diese Gewinne und Verluste nicht schon in die Berechnung des Abfindungsguthabens eingegangen sein dürfen).25 Bevor auf die hierdurch aufgeworfene Frage nach einer schlüssigen Abdingung des § 740 BGB eingegangen wird (dazu unten 4.), soll die in der Tat vorgelagerte, sich an das Verhältnis von Wettbewerbsverbot und „Mitnahmerechten“ anschließende kautelarjuristische Behandlung solcher Ansprüche und Belastungen dargestellt werden, die sich aus den Vergütungserwartungen aus im Bereich der Rechtsdienstleistungen besonders gestalteten „Mandaten“ ergeben, was ja wichtig ist, weil verbreitet in den Abschichtungsbilanzen die aktiven und passiven Vermögenswerte der Sozietät möglichst zu ihrem „wirklichen Wert“ angesetzt werden sollen. a) Nun ist bekanntlich ein Ausgleichsanspruch nach einem Ausscheiden eines Gesellschafters unter ungleicher Verteilung der bisher gemeinsamen Mandate, wenn über23 BGH, NJW 2011, 2355. 24 Zum ersteren Verständnis BGH, NJW 1993, 1194; Schäfer in MünchKomm. BGB, § 740 BGB Rz. 4; zum zweiten BGH, ZIP 1986, 301, 303. 25 Zur ratio des § 740 BGB Hadding/Kießling in Soergel, § 740 BGB Rz. 1; H. P. Westermann in Erman, § 740 BGB Rz. 1.

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haupt, nicht leicht zu begründen.26 Das betrifft hauptsächlich die Fälle, in denen die Mandanten sich für das Verbleiben bei der bisherigen Sozietät oder ein „Mitgehen“ mit dem Ausgeschiedenen zu entscheiden gehabt hatten. Die hier näher zu behandelnde angedeutete Besonderheit liegt dagegen darin, dass manche Mandate eines ausscheidenden Partners nicht, wie sonst gewöhnlich der Fall ist, an sich der Sozietät als der Vertragspartnerin des Mandanten zustehen,27 sondern zwingend an seine Person gebunden sind. Dies gilt für „Ämter“ wie das eines Insolvenzverwalters,28 je nach der Anordnung des Erblassers auch eines Testamentsvollstreckers;29 im letzteren Fall wird der Erblasser nämlich in der Regel der von ihm bestimmten Einzelperson besonderes Vertrauen entgegengebracht haben, so dass ein aus seiner Anwaltssozietät Ausscheidender gewöhnlich das Amt allein behalten wird, damit auch die damit verbundenen Vergütungserwartungen. Bei der Insolvenzverwaltung werden davon dann angesichts des erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwandes womöglich erhebliche Beträge erfasst, denen aber auf der anderen Seite – ebenfalls: erfahrungsgemäß – ziemlich bedeutende Aufwendungen für Personal und sonstige Kostenfaktoren gegenüberstehen, die die bei sonstigen Rechtsdienstleistungen anfallenden übersteigen, und die während der Zeit der Mitgliedschaft des früheren Sozius ganz oder zu einem großen Teil durch die Gesellschaft getragen worden sind. Hier besteht also Gestaltungsbedarf. Die insolvenzrechtliche Situation, d.h. die Bindung des „Amts“ an die Person des ­Bestellten, regelt die vermögensmäßige Zuständigkeit zumindest der Vergütungsansprüche – darin etwa einer dinglichen Anordnung vergleichbar –, sollte aber nicht ausschließen, dass durch Vertrag, in den hier erörterten Fällen also durch den Gesellschaftsvertrag, die Mandate eines Partners für das Innenverhältnis wie solche der Gesellschaft – oder eines verselbständigten Profit-Centers – behandelt werden. Die Praxis scheint das in dem Sinne weiterzutreiben, dass durch die vertragliche Regelung die künftigen Honorarforderungen der Partner an die Gesellschaft vorausabgetreten werden, was nach allgemeinem Schuldrecht unbedenklich möglich ist, und wozu die Rechtsgrundlage zukünftiger Forderungen noch nicht bestehen muss, solange eine solche Entstehung möglich erscheint,30 was hier wohl der Fall ist. In die Berechnung des Anteils des Ausscheidenden an den Vermögenswerten der Gesellschaft sind demnach mehrere Posten einzubeziehen, nämlich die zedierten Teile der Honorarforde26 Eingehend dazu Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 253 ff. in Auseinandersetzung mit OLG München, NZG 2002, 235 f. 27 Nach BGHZ 56, 355; 97, 273, 276; Michalski/Römermann in Henssler/Streck, Handbuch Sozietätsrecht, B Rz.  25  ff.; Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 58; H. P. Westermann in Erman, Vor § 705 BGB Rz. 32 ist auch nach Kontaktaufnahme des Mandanten mit einem der Sozien die Sozietät als ganze Vertragspartnerin. 28 Dies folgt aus § 56 Abs. 1 InsO. Nach dieser kann nur eine natürliche Person als Insolvenzverwalter bestellt werden; zur mangelnden Eignung eines Personenzusammenschlusses gleich welcher Art hierfür Kreft/Eickmann, InsO, 5. Aufl. 2008, § 56 Rz. 8. 29 Die frühere Annahme, eine GbR könne mangels Rechtsfähigkeit nicht Testamentsvollstrecker sein, ist durch die Qualifikation der GbR als rechtsfähig überholt (näher Zimmermann in MünchKomm. BGB, § 2197 BGB Rz. 9). 30 BGH, NJW 1991, 2897; BAG, NJW 1967, 752; H. P. Westermann in Erman, § 398 BGB Rz. 11.

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rung, die ausstehenden Honorare des Ausgeschiedenen, das „Amt“ aber fortführenden Partners, am besten  – wenn sich die Vertragschließenden darauf verständigen konnten – ein Prozentsatz dieser später fällig werdenden Ansprüche, der dem zum Entstehen dieser Forderung eingesetzten Kostenaufwand der Sozietät und damit der verbleibenden Gesellschafter entspricht. Es liegt nahe, den Prozentsatz der ausstehenden Honorare nach der Zeitdauer der nach dem Ausscheiden des Gesellschafters von ihm fortgeführten Verwaltertätigkeit zu verteilen, wodurch dann auch dem Umstand Rechnung getragen werden kann, dass die nach dem Ausscheiden angefallenen Kosten jetzt von dem das Amt fortführenden ehemaligen Partner zu tragen sind. Das sind Überlegungen und Berechnungen, die von den bei manchen Anwaltsmandaten nach dem Verhältnis von „mitgenommenen“ und aufgrund Wettbewerbsverbots bei der Sozietät verbleibenden verteilten Umsätzen und Gewinnerwartungen abweichen. Es können sich auch noch zusätzliche Modifikationen ergeben, wenn in einer überregionalen, auf mehrere Profit-Center verteilten Sozietät die Aufwendungen für die Insolvenzverwaltertätigkeit im Rechenwerk jedes Centers berücksichtigt werden, die Honorarabtretung und die daraus folgende Inhaberschaft an Vergütungserwartungen aber der Gesamtsozietät zugeordnet wird, so dass zweierlei Wertansätze in die Abschichtungsbilanz eingehen müssen. b) Ganz unzweifelhaft ist – auch angesichts der sehr auf alle Umstände des Einzelfalls abstellenden Inhaltskontrolle der Regelung von Kündigungsfolgen in §  723 Abs.  3 BGB – allerdings noch nicht, ob mögliche Bedenken gegen eine solche Abfindungsregelung sich aus dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters (§ 56 Abs. 1 InsO) und ihrer Beeinträchtigung durch die finanziellen Ausscheidensfolgen ergeben, was auch im Zusammenhang mit den allgemeinen Grenzen der Privatautonomie bei Wettbewerbsverboten relevant werden kann. Immerhin gibt es hierzu e­ ine nicht allzulange zurückliegende Judikatur, nämlich einen im Tatbestand vergleichbaren Fall des OLG Dresden, der auch beim BGH ankam.31 Hier hatte ein ausgeschiedener Partner einer schwerpunktmäßig in der Insolvenzverwaltung tätigen Sozietät die berufsrechtliche Unzulässigkeit der – soeben erwähnten – Vorausabtretung geltend gemacht, da diese seine Unabhängigkeit, die nach § 56 Abs. 1 InsO zu beachten ist, beeinträchtige. Das OLG hielt dem entgegen, dass es nicht ausgewogen und interessengerecht sei, wenn ein Insolvenzverwalter, der vor Abschluss der ihm übertragenen Insolvenzverfahren aus der Gesellschaft ausgeschieden ist, die bislang die mit seiner Tätigkeit verbundenen Aufwendungen finanziert hat, nun die Verwaltervergütung für sich allein beansprucht. Das OLG ging davon aus, dass es sich nach der Regelung des Gesellschaftsvertrages, die schwebende Geschäfte und darunter auch Insolvenzverwaltungen betraf, um wirtschaftliche Werte handle, die zumindest zu einem guten Teil der Gesellschaft (und damit den verbliebenen Partnern) zuzuordnen seien. Diese Werte müssten also bei der vertraglich vorgesehenen Bestimmung des Ertragswerts der Beteiligung in der Abfindung anteilig der Gesellschaft zugerechnet werden, und zwar nach dem Verhältnis des Bearbeitungsaufwands vor dem Stichtag zu dem nach dem Stichtag angefallenen. Das Urteil nennt hier ausdrücklich die verschiedenen von der Gesellschaft getragenen Aufwendungen, die es als unangemessen erscheinen lie31 OLG Dresden, BeckRS 2014, 19327; BGH, BeckRS 2014, 19313.

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ßen, dem Ausgeschiedenen zu Lasten der Verbleibenden den Vorteil in Gestalt der Zuweisung der gesamten Vergütungserwartungen zuzubilligen, und es sah in der dies verhindernden Vertragsbestimmung keine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters. Das ist wohl richtig, weil § 56 InsO das Auswahlverfahren von vornherein unter Berücksichtigung der persönlichen Voraussetzungen für das Verwalteramt zu bestimmen vorschreibt,32 was zur Prüfung etwa der persönlichen Beziehungen mit dem Schuldner oder etwaiger sonstiger Ausschlussgründe i.S.  des §  41 ZPO zwingt. Eben das ist aber nicht zu besorgen, wenn der als unabhängig Bestellte, der ja von Anfang an und nach seinem Ausscheiden aus seiner bisherigen Sozietät persönlich allein über die Führung des Verfahrens entscheidet, Teile seines Honorars an seine früheren Partner abgeben muss. Der BGH, der in der Revisionsentscheidung die Lösung des OLG im wesentlichen bestätigte, behandelte dies im Zusammenhang mit dem auch hier noch näher zu erörternden Anspruch des Ausgeschiedenen aus § 740 BGB, wobei aber klar war, dass die Ansprüche aus solchen Mandaten als Posten in der Abfindungsregelung zu berücksichtigen waren. Ergänzend ist daher jetzt nur noch auf eine Entscheidung des BVerfG33 hinzuweisen, die wegen der Reaktion der anwaltlichen Praxis bemerkenswert erscheint. Im Vordergrund stand der bekannte durch § 56 InsO verursache Ausschluss juristischer Personen, also auch einer in der Rechtsform als GmbH oder AG betriebenen Berufsausübungsgesellschaft von Anwälten oder anderen sozietätsfähigen Berufen, von der Bestellung zum Insolvenzverwalter, was als Verstoß gegen Art. 12 GG gerügt worden war. Das BVerfG ging von der Tätigkeit als Insolvenzverwalter als von einem eigenständigen Beruf aus, die sich nicht als Nebentätigkeit etwa von Rechtsanwälten oder Steuerberatern darstelle. Dass eine juristische Person nicht Insolvenzverwalter werden kann, schränke ihre berufliche Tätigkeit im Bereich der Rechts- oder Wirtschaftsberatung nicht ein, da sie mit ihr zusammenarbeitenden Insolvenzverwaltern aufgrund vertraglicher Grundlage ihre personellen und sachlichen Ressourcen zur Verfügung stellen könne. Dies wie auch der Fall eines das Amt eines Insolvenzverwalters ausübenden angestellten Rechtsanwalts, der die Vergütungen für diese Tätigkeit an seinen Arbeitsgeber abtreten muss, taste die Unabhängigkeit der Durchführung der Insolvenzverwaltung nicht an, weil auch hier der Arbeitgeber einen Ausgleich für die Unterstützung der Verwaltungstätigkeit durch die Finanzierung der hierfür notwendigen Büroorganisation erhalte. Mit dieser Überlegung hat das Gericht im Schrifttum34 Zustimmung mit dem auch für die Gültigkeit der vertraglichen Behandlung der Ausscheidens-Konstellation wichtigen Hinweis gefunden, dass nach dem Ausscheiden eines als Insolvenzverwalter tätigen Partners die Verbleibenden tunlichst nicht vor die Situation gestellt werden sollten, längere Zeit die Büroorganisation vorfinanziert zu haben und nun keinen Teil an den Vergütungen zu erhalten. Entscheidend für die Beurteilung ist damit am Ende doch die durch eine nach Maßgabe der Laufzeit des Verwalteramts abgestufte Abtretung der Vergütungsansprüche entstandene Vergemeinschaftung des betreffenden Auftragsbestandes, die interessengerecht erscheint. 32 Zu den Kriterien näher Kreft/Eickmann, § 56 InsO Rz. 9. 33 ZIP 2016, 321 ff., im Wesentlichen Rz. 35, 38, 61 des Spruchs. 34 Römermann, ZIP 2016, 328 ff.

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4. Zur ergänzenden Anwendung des § 740 BGB Es bleibt allerdings noch zu überlegen, ob ein solches in einem Sozietätsvertrag ausgearbeitetes System der Mitnahme und Einbehaltung von Auftrags-Chancen ergänzt oder unterlaufen werden kann durch den in § 740 BGB vorgesehenen Anspruch des Ausgeschiedenen auf Beteiligung an laufenden Geschäften. Dafür ist von vornherein darauf hinzuweisen, dass nach dem Gesetz (angedeutet in § 740 Abs. 1 Satz 2 BGB) die Erledigung dieser Geschäfte, also auch etwa bei ihnen verbliebener Mandate, in den Händen der verbleibenden Gesellschafter liegt.35 Nun ist im hier untersuchten Bereich davon auszugehen, dass in den Sozietätsverträgen in Bezug auf Ausscheiden und Abfindung häufig ein System von Regeln für den Ausschluss von Abfindungsansprüchen unter deren Beschränkung auf den anteiligen Wert am Gesellschaftsvermögen unter Ausklammerung eines Geschäftswerts, aber unter Berücksichtigung von Ertragserwartungen, vorhanden ist. Demgemäß wird im wissenschaftlichen Schrifttum verbreitet davon ausgegangen, dass bei Bewertung nach der Ertragswertmethode die schwebenden Geschäfte schon berücksichtigt sind,36 was für eine Abdingung des § 740 BGB spricht, dies jedenfalls dann, wenn einer Abschichtungsbilanz die Bewertung nach Ertragswerten zugrunde liegt oder doch ein „Geschäftswert“ als Vermögensgegenstand angesetzt ist.37 Für eine schlüssige Abdingung spricht auch, dass bei Anwaltsmandaten, besonders aber bei Insolvenzverwaltungen, die mögliche Dauer derartiger „schwebende Geschäfte“ und die vom Zeitablauf weitgehend unabhängige Methode der Honorarberechnung eine Anwendung des § 740 BGB praktisch fast unmöglich machen können.38 Bei der Auslegung eines konkreten Vertrages einer Berufsausübungsgesellschaft von Rechtsanwälten auf eine Abdingung des § 740 BGB hin kann davon ausgegangen werden, dass den Vertragschließenden das Verhältnis eines an eine Auseinandersetzung der Gesellschaft angelehnten Abfindungsanspruchs zu einer Beteiligung am Ergebnis, also auch an Gewinn und Verlust schwebender Geschäfte, klar ist, einschließlich des Umstandes, dass bei der Berechnung des Abfindungsguthabens gewöhnlich die Ertragswertmethode angewendet wird. Schließlich dürften die Beteiligten auch gewusst haben, dass Mandate wie Insolvenzverwaltungen häufig erst nach recht langer Zeit abrechnungsfähig werden, so dass ihre Bearbeitung bis zum Ausscheiden des Amtsinhabers von der Sozietät, nach dem Ausscheiden allein von dem früheren Partner finanziert werden muss. Dies und die Tatsache, dass die hier in Rede stehenden „schwebenden Geschäfte“ gerade nicht von den verbleibenden Gesellschaftern bearbeitet 35 Hierzu und zu den fortbestehenden Treupflichtbindungen näher H. P. Westermann in Erman, § 740 BGB Rz. 4. 36 Schäfer in MünchKomm. BGB, § 740 BGB Rz. 8; H. P. Westermann in Erman, § 740 BGB Rz. 1. 37 Schulze-Osterloh, ZGR 1986, 559  ff.; Bunk, Vermögenszuordnung, Auseinandersetzung und Ausscheiden in Sozietät und Gemeinschaftspraxis, 2007, S. 99 ff. mit Behandlung der sonstigen Schwierigkeiten der Anwendung des § 740 BGB bei Freiberufler-Sozietäten; ferner Hadding/Kießling in Soergel, § 740 BGB Rz. 3, K. Schmidt in MünchKomm. HGB, § 131 HGB Rz. 15. 38 Dazu schon H. P. Westermann, AnwBl 2007, 103, 106.

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werden können, werden bei der diesen Punkt behandelnden Vertragsgestaltung zu dem Leitgedanken geführt haben, die Vergütungserwartungen unter dem im Außenverhältnis hierfür allein zuständigen Partner und die Sozietät nach Maßgabe des Ziels zu verteilen, den Ausscheidenden zwar angemessen an der von ihm mit geschaffenen Vermögenssubstanz teilhaben zu lassen, ihm aber andererseits nicht uneingeschränkt alle Vergütungserwartungen aus laufenden Verfahren zu belassen. Dies alles zeigt, dass die Fortführung schwebender Geschäfte durch den Ausgeschiedenen – insoweit gerade anders als in der gewöhnlichen Perspektive des § 740 BGB – ein mehrschichtiges Regelungsproblem aufwirft, dessen Schichten die Berechnung des anteiligen Werts des Ausgeschiedenen an der gesamten Sozietät (nicht nur eines einzelnen Profit-Centers), die Verteilung der Vergütungserwartungen aus laufenden Verfahren und der sonstige „Mandantenschutz“ sind. Eine solche Konzeption, die sich den Vertragschließenden zumindest im Laufe ihrer Zusammenarbeit als geboten aufdrängen muss und auch aufgedrängt haben wird, könnte durch einen Anspruch aus § 740 BGB in der Tat unterlaufen werden. 5. Zwischenfazit Ein kurzes Zwischenfazit kann nur lauten, dass es ein auch nur halbwegs allgemeingültiges Modell einer Regelung der Ansprüche und Verpflichtungen eines aus einer Freiberufler-Sozietät ausgeschiedenen Gesellschafters nicht gibt, sondern nur Einzelpunkte aufgezeigt werden können, deren Durchschlagskraft – wenn über sie eine Entscheidung getroffen ist – sogar vorsichtig zu beurteilen ist. Die häufig vorgesehenen Schiedsgutachten haben es unter diesen Umständen nicht nur mit betriebswirtschaftlichen Bewertungsfragen zu tun, sondern eben auch mit bisweilen etwas intrikaten Rechtsfragen zum Verhältnis von Gesetzesnormen und Vertragsbestimmungen. Zum Glück bietet das gesetzliche Rechtsformstatut der GbR genügend Gestaltungsmöglichkeiten, wenn es auch die Reaktionen auf unvorhergesehene – manchmal auch vertragswidrige – Verhaltensweisen der Gesellschafter oder Entwicklungen des „Markts“ (man stelle sich vor, für die gerichtliche Bestellung von Insolvenzverwaltern wird ein „Geschlechterproporz“ eingeführt!) kaum vorherbestimmen kann. Ein kurzer Seitenblick auf bevorstehende Änderungen des Rechts der Berufsausübungsgesellschaften kann dem noch eine weitere Perspektive hinzufügen.

III. Ausblick auf mögliche Folgen im Rahmen der Reform des Anwaltsgesellschaftsrechts 1. Rechtslage bei Berufsausübungsgesellschaften als Handelsgesellschaften Die auf dem 71. DJT diskutierte, inzwischen vom Bundesgesetzgeber durch Einberufung einer Expertenkommission aufgegriffene Reform des Rechts der Personengesellschaften ist in ihren Dimensionen noch nicht voll übersehbar; die von der BRAK und dem DAV intensiv betriebene Reform des Anwaltsgesellschaftsrechts, vor allem durch die Zulassung der GmbH & Co KG als Rechtsform für (auch: interprofessionelle) 885

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Berufsausübungsgesellschaften ist dagegen schon heute in aller Munde.39 Hier ist u.a. vorgesehen, dass nicht alle Partner einer solchen Gesellschaft als Rechtsanwälte aktiv mitarbeiten müssen, eine gewisse Fremdfinanzierung (auch durch Beteiligung nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben) ist also vorstellbar. Es versteht sich, dass eine solche Entwicklung die Handhabung der gesetzlichen Regeln über Ausscheiden, Auseinandersetzung und Abfindung, die dann ja unter Berücksichtigung des KG-Rechts zu entwickeln sind, beeinflussen könnte, wenn nicht gar muss. Das gilt nicht nur für den Bereich des „Anteilswerts eines Fremdfinanzierers“, zumal auch die Rechtslage um ein Wettbewerbsverbot für Kommanditisten40 zu beachten sein wird. Es lässt sich andererseits nicht ausschließen, dass der Gesetzgeber das leidige Problem der Forthaftung ausgeschiedener Gesellschafter für bestimmte oder sich neu entwickelnde Verbindlichkeiten in Angriff nimmt, was dann wiederum auch für den ausgeschiedenen Partner wichtig wäre. 2. Einlagenrückgewähr durch Abfindung? Andererseits muss Klarheit darüber bestehen, ob Auszahlungen an einen ausscheidenden Kommanditisten (welche Position ja in diesen Fällen gerade auch mitarbeitende Anwälte haben werden) als Einlagenrückgewähr nach §  172 Abs.  4 HGB zu betrachten sein werden. Diesem für die Lösung der hier behandelten Fragen sicher sehr hinderlichen Aspekt liegt der – allerdings etwas plakathafte – Satz zugrunde, dass eine teilweise oder vollständige Rückzahlung der Hafteinlage auch vorliegt, wenn die Gesellschaft dem ausgeschiedenen Kommanditisten sein Abfindungsguthaben ausgezahlt hat.41 Das dürfte zwar einigermaßen sicher nur für eine Umbuchung der Abfindungsforderung auf ein Kapitalkonto eines Kommanditisten gelten,42 in deren Nähe aber – rein unter dem Aspekt der Kapitalsicherung gesehen – auch die Abzweigung von Gewinn aus schwebenden Geschäften zugunsten des Ausgeschiedenen rücken könnte. Aber das ist und bleibt ein Problem des heute für Anwaltssozietäten noch nicht relevanten Handelsgesellschaftsrechts, während die Regeln über eine mögliche Forthaftung eines ausgeschiedenen BGB-Gesellschafters durch die Gestaltung und weitere Handhabung der Ausscheidensfolgen derzeit noch nicht beeinflusst werden. Der Verf. des Beitrags hofft auf die gelegentliche Bestätigung des Jubilars, dass die vorstehenden Überlegungen die Bewältigung der gängigen Probleme des Ausscheidens und der Abfindung eines Partners einer Anwalts-Sozietät nicht über Gebühr erschweren.

39 Gutachten von Henssler, AnwBl Online 2018, S.  564  ff.; dazu Römermann, NZG 2018, 1041 ff.; H. P. Westermann, NZG 2019, 1 ff. 40 Gerade für die als Anwälte mitarbeitenden Kommanditisten einer Anwalts-GmbH & Co KG, die Geschäftsführungsbefugnisse haben, dürfte auch ein Wettbewerbsverbot in Betracht kommen (Langhein in MünchKomm. HGB, § 112 HGB Rz. 6; BGH, BB 2002, 324; BGHZ 86, 166; OLG Frankfurt, NZG 2009, 903). 41 RGZ 64, 77, 81; K. Schmidt in MünchKomm. HGB, §§ 171, 172 HGB Rz. 73; Roth in Baumbach/Hopt, § 172 HGB Rz. 6. 42 So etwa K. Schmidt, ZGR 1976, 230  ff.; Scholz in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Rz. I 2956/3031.

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Beschaffungsverträge der öffentlichen Hand im Spannungsfeld zwischen Vergabe- und AGB-Recht – ein wegweisendes Urteil des OLG Celle Inhaltsübersicht I. Urteil des OLG Celle 1. Sachverhalt 2. Urteilsgründe II. Besonderheiten des vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens 1. Vorliegen von AGB-Klauseln 2. Verhandlungsverfahren nach § 119 Abs. 5 GWB keine Basis für ein Aus­ handeln nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB 3. Schutzzweck der Inhaltskontrolle von AGB a) Formelles Erfassen der Vertrags­ bedingungen der Ausschreibung b) Abwehr einseitiger Gestaltungsmacht des Klauselverwenders 4. Schadensersatz nach § 311 Abs. 2 BGB bei Verwendung unwirksamer AGB – Parallele zu § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB a) AGB-rechtliche Sanktionen b) Drohender Schaden – § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB 5. Verwendung unwirksamer AGB = ­Wettbewerbsverstoß 6. Maßgeblichkeit des BGH-Urteils vom 19.4.2016 a) Sachverhalt

b) Begründung c) Abschließende Erwägungen des OLG Celle 7. Vorläufiges Fazit III. Schwerpunkte einer Inhaltskontrolle von Beschaffungsverträgen – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB 1. Vertragsstrafe – Schadensersatz a) Verschuldensunabhängigkeit der ­Vertragsstrafe b) Höhe der Vertragsstrafe c) Abbedingung des Kumulations­ gebots – § 340 Abs. 2 und § 341 Abs. 2 BGB d) Grenzen der Schadenspauschalierung – § 309 Nr. 5a BGB 2. Verschuldensunabhängige Haftung a) Qualifikation des Garantie­ versprechens b) Rechtsprechungsergebnisse 3. Haftung für Pflichtverletzungen des ­Vorlieferanten – § 278 BGB a) Werkvertragliche Spezifika b) Kaufvertragliche Spezifika IV. Summe

Zwar ist das hier vom Verfasser gewählte Thema nicht unbedingt dem hauptsächlichen Interessengebiet des zu ehrenden Jubilars zuzuweisen, auf dem er seit langem – wie vor allem im Bereich des Gesellschaftsrechts – hohe wissenschaftliche und praktische Anerkennung gefunden hat. Doch da sich Jubilar und Verfasser dieses Beitrags schon seit mehr als vier Jahrzehnten kennen und sehr schätzen, ist sicherlich Nachsicht, aber auch ein waches Interesse des Jubilars zu erwarten, wenn der Verfasser – zwar mit gewissen Modifikationen und auch einem neuen Seitenblick auf das Vergaberecht – sich seinem Lieblingsthema auch in diesem Beitrag widmet, dem AGB-Recht. Der im Thema gestellten Aufgabe will ich mich in drei Schritten nähern. Zunächst wird es darum gehen, ein neues, inzwischen rechtskräftiges Urteil des OLG Celle nä887

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her darzustellen (sub Ziff. I). Daran anschließen wird sich eine erste vertiefende Betrachtung, wie denn im Kontext der §§ 97 ff. GWB die Frage zu beantworten ist, ob der Bieter das Recht und auch die Pflicht hat, einen Verstoß der Beschaffungsbedingungen der öffentlichen Hand nach §§ 160 ff. GWB rechtzeitig im Nachprüfungsverfahren zu rügen (sub Ziff. II). Dies setzt ja tatbestandsmäßig voraus, dass der Bieter schlüssig behaupten kann, er sei durch eine oder mehrere unwirksame AGB-Klauseln des öffentlichen Auftraggebers in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt worden. Den dritten Teil bilden dann allgemeine Erwägungen zum AGB-Recht und vor allem zu den Unwirksamkeitsgründen solcher AGB nach Maßgabe von §§ 310 Abs. 1, 307 Abs. 2 BGB (sub Ziff. III).

I. Urteil des OLG Celle1 1. Sachverhalt Die Tatsachen, um die es in dieser Entscheidung geht,22 sind rasch erzählt. Nachdem der Bieter den Auftrag zur Beförderung von Schülern erhalten hatte, rügte er in einem gewöhnlichen Zivilprozess, dass ihm nach Maßgabe von § 2 VOL/B wegen geänderter Leistungen ein zusätzliches Entgelt für die Vergangenheit zustehe. Dabei machte die Klägerin auch geltend, dass Vertragsbestimmungen nach §  307 Abs.  1 Satz 1 BGB unwirksam seien, soweit sie seinem Begehren entgegenstehen. 2. Urteilsgründe In einem ersten Argumentationsschritt bezweifelt das OLG Celle, dass es sich bei den zugrunde liegenden Vertragsbestimmungen um AGB-Klauseln nach § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt.3 Es weist darauf, dass es fraglich sein könnte, ob denn das AGB-Recht in einem Vergabeverfahren tatsächlich zu beachten sei, zumal insoweit – das ist sicherlich zutreffend – keine instanzgerichtliche Judikatur4 vorliegt und auch die Literatur dieser Fragestellung bislang ausgewichen ist.5 In der entscheidenden Argumentationskette aber geht das OLG Celle  – hypothetisch – davon aus, dass es sich in der Tat bei den Vergabebedingungen und dem der Ausschreibung zugrunde liegenden Vertragswerk um AGB nach § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt.6 Es gelangt daher folgerichtig zu dem Resultat, dass der Ausschluss von Ansprüchen auf eine Preisanpassung (wegen geänderter Umstände) für alle in Betracht kommenden Ansprüche – auch für solche aus § 313 BGB – nicht mit § 307 1 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 – Schülerbeförderungsentgelt. 2 Laut Dokumentationsstelle des BGH inzwischen rechtskräftig, da Revision zurückgenommen. 3 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 16 f. 4 Zu erwähnen ist allerdings zumindest die Entscheidung der VK Sachsen v. 21.4.2015, ­BeckRS 2015, 16419. 5 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 18. 6 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 19 ff.

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Beschaffungsverträge der öffentlichen Hand

Abs. 1 Satz 1 BGB im Einklang steht.7 Doch dann kommt die in der Sache durchaus überraschende, aber hier noch im Einzelnen zu vertiefende, die Klage abweisende Begründung: Auf die Unwirksamkeit einer den Auftragnehmer bindenden Festpreis­ abrede8 kommt es auch bei Vorliegen geänderter Umstände nicht an, weil er es versäumt hat, diese Rechtsfrage in einem Nachprüfungsverfahren nach §§ 160 f. GWB rechtzeitig zu rügen. Der Auftragnehmer ist nämlich in einem eigenen (späteren) Zivilverfahren nicht mehr berechtigt, Ansprüche geltend zu machen, welche sich auf die AGB-Widrigkeit einer oder mehrerer Vertragsklauseln nach § 307 BGB stützen. Im Ergebnis blieb also die Frage im Urteil des OLG Celle offen, ob denn eine AGB-Widrigkeit einer Vertragsklausel tatsächlich vorliegt, weil sie – so das OLG Celle – jedenfalls nicht mehr außerhalb des Nachprüfungsverfahrens nach den §§ 160 f. GWB geltend gemacht werden kann.

II. Besonderheiten des vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens 1. Vorliegen von AGB-Klauseln Um sich der entscheidenden Frage zu nähern, ob denn etwaige Verstöße der ausschreibenden öffentlichen Hand gegen die §§ 307 ff. BGB zwingend im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens nach § 160 GWB zu rügen sind, sei zunächst einmal unterstellt, dass es sich insoweit bei den verwendeten Beschaffungsbedingungen der öffentlichen Hand um AGB-Klauseln handelt. Darin liegt auch keineswegs eine unzulässige Unterstellung, sondern ein allgemein bekannter Befund: Beschaffungsverträge der öffentlichen Hand sind für eine große Zahl von Anwendungsfällen vorgestanzt. Dass im Übrigen auch die von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder von einem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen verwendeten Vertragsbestimmungen tendenziell der richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 ff. BGB unterworfen sind, ist bereits in § 310 Abs. 1 Satz 1 BGB abzulesen. Danach gelten nämlich für diese AGB die gleichen Maßstäbe der richterlichen Inhaltskontrolle wie gegenüber einem Unternehmer.9 Dabei wird man allerdings bereits im Ausgangspunkt der hier zu unterbreitenden Erwägungen betonen müssen, dass in aller Regel bereits der Aufbau solcher Vertragsbedingungen, ihre Systematisierung und ihr Zuschnitt auf eine mehrfache Verwendung hindeuten und so den zu widerlegenden Anschein erwecken, dass es sich um eine Vielzahl von beabsichtigen Verwendungsfällen im Sinn von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt.10 Des Weiteren widerspricht es grundsätzlich der gebotenen Gleichbe 7 Berufung auch auf BGH v. 20.7.2017 – VII ZR 259/16, NZBau 2018, 29; BGH v. 4.11.2015 – VII ZR 282/14, NZBau 2016, 96. 8 Sie ließ nur eine Anpassung des Preises für die Schülerbeförderung vor, wenn sich die Gesamtzahl der zu befördernden Schüler in einem Schuljahr um mehr als zehn Prozent erhöht hatte – Leitsatz Nr. 2. 9 Ulmer/Schäfer in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 310 Rz. 24. 10 BGH v. 20.3.2014 – VII ZR 243/13, NJW 2014, 1725; BGH v. 27.11.2003 – VII ZR 53/03, NJW 2004, 502; Grüneberg in Palandt, 77. Aufl. 2018, § 305 BGB Rz. 23; Ulmer/Habersack in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 305 Rz. 61.

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handlung der Bieter, dass ein individuelles Aushandeln nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB im Rahmen eines Vergabeverfahrens stattfindet. Denn dieses setzt ja nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass die ausschreibende Stelle bereit ist, den „gesetzesfremden Kerngehalt“ der einzelnen Vertragsbestimmung ernsthaft gegenüber dem Höchstbietenden zur Disposition zu stellen, um ihm die „reale Möglichkeit“11 einzuräumen, von seiner autonomen Vertragsgestaltungsfreiheit entsprechend seinen eigenen Interessen Gebrauch zu machen. 12 Regelmäßig führt diese Vorgehensweise im Rahmen des §  305 Abs.  1 Satz 3 BGB dazu, dass der Vertragstext im Blick auf die Einflussnahme des Vertragspartners abgeändert wird.13 Diese engen Voraussetzungen für ein Aushandeln – und das Erreichen einer kontrollfreien Individualabrede – gelten auch und gerade uneingeschränkt im unternehmerischen Bereich.14 Somit ist für den weiteren Gang der hier zu unterbreitenden Erörterungen nicht davon auszugehen, dass es sich bei den von der öffentlichen Hand verwendeten Standardverträgen um einen ausgehandelten Individualvertrag nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB handelt. 2. Verhandlungsverfahren nach § 119 Abs. 5 GWB keine Basis für ein Aushandeln nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB Doch dieser Gedanke bedarf im Rahmen von § 119 Abs. 5 GWB noch einer kurzen Vertiefung. Danach unterscheidet nämlich der Gesetzgeber nach verschiedenen Verfahrensarten im Rahmen einer Vergabe; neben dem offenen15 und dem nicht offenen Verfahren,16 an dem nach einer öffentlichen Ausschreibung nur eine begrenzte Zahl von Unternehmen sich am Verfahren beteiligen, gibt es nach § 119 Abs. 5 GWB ein so genanntes Verhandlungsverfahren.17 Die Voraussetzungen eines solchen Verfahrens sind im Einzelnen in § 14 Abs. 3 und 4 VgV geregelt. Nach § 17 Abs. 10 VgV ist es ­jedoch das Ziel eines solchen Verhandlungsverfahrens, dass die einzelnen Angebote der Bieter zugunsten des öffentlichen Auftraggebers „inhaltlich“ verbessert werden. Doch ergibt sich aus eben dieser Norm gleichzeitig auch, dass das „endgültige Angebot“ des Bieters nicht mehr verhandelt und daher auch nicht mehr abgeändert werden darf.18 Wägt man diese Voraussetzungen unter der Perspektive eines ausgehandelten Individualvertrages nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB,19 dann wird deutlich: Die in § 17 Abs. 10 11 BGH v. 3.11.1999 – VIII ZR 269/98, NJW 2000, 1110, 1111. 12 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 23; BGH v. 22.11.2012 – VII ZR 222/12, NJW 2013, 856, 858 – bring as you pay I; BGH v. 22.10.2015 – VII ZR 58/14, NZBau 2016, 213 – bring as you pay II; kritisch u.a. Maier-Reimer, NJW 2017, 1, 3 f. 13 Zu den Einzelheiten vgl. Ulmer/Habersack in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 305 Rz. 52 ff.; AGB/Klauselwerke/Graf von Westphalen, 40. EL 2018, Individualvereinbarung Rz. 9 ff. 14 Neuestens BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 23. 15 Fett in MünchKomm. VergabeR I, § 119 GWB Rz. 18 ff. 16 Fett in MünchKomm. VergabeR I, § 119 GWB Rz. 23 ff. 17 Fett in MünchKomm. VergabeR I, § 119 GWB Rz. 43 ff. 18 Jasper in Beck’scher Vergaberechts-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 119 GWB Rz. 26. 19 BGH v. 22.11.2012 – VII ZR 222/12, NJW 2013, 856, 858.

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VgV angesprochene „inhaltliche“ Verbesserung der der Ausschreibung im Verhandlungsverfahren nach § 119 Abs. 5 GWB zugrunde liegenden Vertragsbestimmungen zielt auf die Rechtsposition des Auftraggebers/AGB-Verwenders, nicht aber – wie dies von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB geboten ist – auf die des Vertragspartners, zu dessen Gunsten der „gesetzesfremde Kerngehalt“ einer AGB-Klausel ja ernsthaft und auch nachhaltig zur Disposition gestellt werden muss. Mehr noch: Aus § 17 Abs. 10 VgV folgt auch, dass nach Vorlage des endgültig verhandelten Angebots eine weitere Verhandlung im Sinn eines Aushandelns nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB nicht mehr zulässig ist. Unter diesem Gesichtswinkel ist es dann auch entbehrlich darauf aufmerksam zu machen, dass im Rahmen des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB ein ganz entscheidender Unterschied zwischen dem Begriff des tätigkeitsbezogenen Verhandelns und dem ergebnisbezogenen Aushandeln liegt, weil dieses in der Regel auch zu einer Abänderung der vorformulierten Klausel im Interesse des Auftragnehmers führt.20 Daraus folgt: Selbst dann, wenn es sich bei einer öffentlichen Vergabe im Sinn des § 119 GWB um ein Verhandlungsverfahren nach § 119 Abs. 5 GWB handelt, ist dies nicht einmal ein Indiz dafür, dass die Voraussetzungen des Aushandelns nach § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB erfüllt sind. 3. Schutzzweck der Inhaltskontrolle von AGB a) Formelles Erfassen der Vertragsbedingungen der Ausschreibung Da das Nachprüfungsverfahren nach § 160 Abs. 2 GWB voraussetzt, dass der Antragsteller nach § 97 Abs. 6 GWB geltend macht, dass die Bestimmungen des Vergabeverfahrens nicht eingehalten worden sind und ihm dadurch ein Schaden entstanden ist, stellt sich zunächst die Frage, ob denn die Bestimmungen der §§ 307 ff. BGB in diese Typisierung nach § 97 Abs. 6 GWB hineinpassen. Dabei ist bereits im Ausgangspunkt zu unterstreichen, dass nach den Vorgaben von §  160 Abs.  2 GWB insoweit eine Rechtsverletzung des Antragstellers nur auf Grund einer schlüssigen Behauptung als möglich erscheinen muss.21 Eine solche die Rechtsverletzung des Antragstellers stützende Behauptung kann sich auch, so der BGH,22 auf die „in der Ausschreibung festgelegten Bedingungen des betreffenden Vergabeverfahrens“ ergeben. Unter diesem Gesichtswinkel ist es leicht nachvollziehbar, dass das OLG Celle23 diese Frage nicht weiter beantworten musste, weil es ja zum dem Ergebnis gelangte, dass der dortige Antragsteller es versäumt hatte, wegen der (behaupteten) Unwirksamkeit einer Preisanpassungsklausel Primärrechtsschutz nach §§ 160 f. GWB in Anspruch zu

20 BGH v. 20.3.2014 – VII ZR 243/13, NJW 2014, 1725. 21 BGH v. 26.9.2006 – X ZB 14/06, NZBau 2006, 800 Rz. 20; OLG Düsseldorf v. 1.6.2016 – VII Verg 6/16, BeckRS 2016, 13257; Jaeger in MünchKomm. VergabeR I, GWB, 2. Aufl. 2018, § 160 Rz. 26. 22 BGH v. 26.9.2006 – X ZB 14/06, NZBau 2006, 800 Rz. 20. 23 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 15 ff., wo nur die Frage problematisiert wurde, ob es sich um AGB handelt.

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nehmen.24 Ohne Zögern konstatiert das OLG Celle, dass die (angeblich unwirksame) Preisanpassungsklausel in den Schülerbeförderungsbedingen eine materiell-rechtliche Bestimmung darstellt, welche im Sinn des § 160 Abs. 2 GWB als „Vergabevorschrift“ einzuordnen ist, weil die Vergabestelle diese „zum Inhalt ihrer Ausschreibung“ gemacht hatte.25 Daher kann für den weiteren Gang der hier anzustellenden Erwägungen davon ausgegangen werden, dass Vertragsbestimmungen im Sinn des § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB, welche integraler Teil eines Vergabeverfahrens sind, auch – formell bewertet – geeignet sein können, einen Antrag nach § 160 Abs. 2 GWB zu stützen. b) Abwehr einseitiger Gestaltungsmacht des Klauselverwenders aa) Voraussetzungen nach § 97 Abs. 6 GWB Doch ist nunmehr zu fragen, ob denn auch die Voraussetzungen des § 97 Abs. 6 GWB erfüllt sind, wenn und soweit die ausschreibende Stelle der öffentlichen Hand AGB-­ Klauseln verwendet, welche nach § 307 BGB als unwirksam einzuordnen sind. Das setzt zunächst voraus, dass der insoweit betroffene Bieter einen Anspruch darauf hat, dass die Regeln der §§ 307 ff. BGB auch in einem Vergabeverfahren eingehalten werden müssen. Das aber ist im Rahmen des § 97 Abs. 6 GWB nur dann der Fall, wenn es sich bei den Normen des AGB-Rechts um solche handelt, welche den Schutz potentieller Auftragnehmer bezwecken.26 Diese Voraussetzung sieht der BGH immer dann als erfüllt an, wenn es sich um solche Bestimmungen handelt, die dem Schutz wohlberechtigter Interessen dienen, welche die am Vergabeverfahren teilnehmenden oder auch nur interessierten Unternehmen geltend machen können.27 Mit anderen Worten: Es muss sich um die Verletzung einer bieterschützenden Norm handeln.28 Dem ist nunmehr nachzugehen. bb) AGB-rechtlicher Schutzzweck – unternehmerischer Verkehr Ob dies auch unter Beachtung des besonderen Schutzzwecks der richterlichen Inhaltskontrolle von AGB-Klauseln zutrifft, ist daher jetzt im Kontext von § 97 Abs. 6 GWB zu prüfen. Die neue Rechtsprechung des BGH geht indessen – wie selbstverständlich – davon aus, dass die Schutzmechanik der richterlichen Inhaltskontrolle nach §  307 BGB in gleicher Weise für den Verbraucher wie für den Unternehmer eingreift.29 Die entscheidende Argumentation: Es kommt allein auf die einseitige Gestaltungsmacht des AGB-Verwenders an, nicht aber darauf, ob und inwieweit eine wie auch immer zu beurteilende wirtschaftliche Überlegenheit oder eine größere Erfahrung auf Seiten ei24 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 29. 25 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 36. 26 BGH v. 18.2.2003 – X ZB 43/02, NZBau 2003, 293 - Rohbauarbeiten; Ziekow in Ziekow/ Völling, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 97 Rz. 110. 27 BGH v. 18.2.2003 – X ZB 43/02, NZBau 2003, 293 – Rohbauarbeiten. 28 Jaeger in MünchKomm./VergabeR I, GWB, 2. Aufl. 2018, § 160 Rz. 33. 29 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 64 ff.

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ner der beiden Parteien eines Vertrages besteht.30 Immer dann, wenn – so der BGH – die „Grundsätze der Vertragsgerechtigkeit in nicht zu billigender Weise verletzt sind“,31 muss die richterliche Inhaltskontrolle auf Basis des „auf einen gegenseitigen Interessenausgleich gerichteten dispositiven Gesetzesrechts“ darauf hinwirken, dass „die einseitige Gestaltungsmacht des Klauselverwenders außer Kraft gesetzt wird“.32 Genau diese aber ist immer und damit auch typischerweise mit der Verwendung von AGB-Klauseln verbunden,33 und zwar „unabhängig von der Marktstellung des Verwenders“.34 Kernelement einer so verstandenen richterlichen Inhaltskontrolle von AGB-Klauseln ist daher auch im unternehmerischen Bereich35 der Grundgedanke des dispositiven Gesetzesrechts, wie er unmittelbar und prägnant in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB niedergelegt ist.36 Denn dort wird die unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners des Verwenders so umschrieben, dass die von ihm einseitig gestellte Klausel „mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der ab­ gewichen wird, nicht zu vereinbaren ist“. Verstößt also eine Klausel gegen diesen Grundsatz und ist sie daher wegen der ihr innewohnenden unangemessenen Benachteiligung des Vertragspartners des Verwenders unwirksam, dann kommt nach § 306 Abs. 2 BGB in der Regel dispositives Gesetzesrecht als Ersatzrecht zum Zug. Genau dieses Recht, sich auf die Unwirksamkeit einer Vertragsbestimmung nach § 307 BGB zu berufen, würde dem Bieter versagt, wenn er nicht in der Lage wäre, sich gegen eine ihn in seinen Rechten verletzende Klausel nach § 160 Abs. 2 GWB in Verbindung mit § 97 Abs. 6 GWB zur Wehr zu setzen. Mehr noch: Er wäre, um mit den Worten des BGH zu formulieren, im Ergebnis das Opfer einseitiger Gestaltungsmacht des AGB-Verwenders;37 er wäre ihr schutzlos ausgesetzt, weil die ausschreibende Stelle sanktionslos rechtswidrig handeln könnte. Dass ein solches Ergebnis nicht hinzunehmen ist, braucht nicht weiter begründet zu werden. cc) Schlussfolgerung Man wird daher kaum zögern dürfen, den materiell-rechtlichen Schutz der richterlichen Inhaltskontrolle nach §§ 307, 310 Abs. 1 BGB als einen solchen zu qualifizieren, der auch vergaberechtlich im Sinn des § 97 Abs. 6 GWB dem an einer Ausschreibung beteiligten Unternehmen zugute kommen soll.38 Das deckt sich im Übrigen auch aufs 30 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 65; BGH v. 20.3.2014 – VII ZR 243/13, NJW 2014, 1725 Rz. 30. 31 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 64. 32 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 64. 33 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 65. 34 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 233/16, BB 2017, 2066 Rz. 66. 35 Hierzu im Einzelnen eingehend Graf von Westphalen, BB 2017, 2051 ff. 36 Im Einzelnen Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, § 307 Rz. 206 ff.; Staudinger/Coester, BGB (Bearbeitung 2013), § 307 Rz. 220 ff. 37 BGH v. 4.7.2017 – XI ZR 562/15, BB 2017, 2062. 38 Kritisch im Blick auf die Rechtsprechung, welche zahlreiche Normen aus unterschiedlichen Rechtsgebieten als Anknüpfungsnorm für § 97 Abs. 6 GWB wählt vgl. Dreher, NZBau 2013, 665 ff.

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Haar mit der Feststellung des OLG Celle, dass nämlich materiell-rechtliche Vertragsbestimmungen – wie etwa AGB-Klauseln –, die Gegenstand der Ausschreibung sind, auch als Vergabevorschriften nach § 160 Abs. 2 GWB einzuordnen sind.39 Man wird aber auch noch einen Schritt weitergehen dürfen: Handelt es sich um eine Ausschreibung, bei der nicht nur eine einzelne, sondern gleich zahlreiche Vertragsbestimmungen  – Stichwort: Beschaffungsvertrag der öffentlichen Hand  – unwirksam und daher auch rechtswidrig sind, dann wird man durchaus auch in Erwägung ziehen müssen, dass es Unternehmen gibt, welche sich wegen der „Härte“ der AGB gehindert sehen, an der Ausschreibung überhaupt teilzunehmen.40 Darüber wird noch hier zu reden sein. 4. Schadensersatz nach § 311 Abs. 2 BGB bei Verwendung unwirksamer AGB – Parallele zu § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB a) AGB-rechtliche Sanktionen Wie bereits kurz erwähnt: Die nach den §§ 307, 310 Abs. 1 BGB eingreifende Unwirksamkeit einer einzelnen Klausel führt in der Regel nach § 306 Abs. 2 BGB zu einem Rückgriff auf die zugrunde liegenden Normen des dispositiven Rechts;41 die betreffende Klausel entfällt zugunsten des dispositiven Rechts.42 Notfalls ist – mangels Verfügbarkeit einer Norm des dispositiven Rechts – auf das Instrument einer ergänzenden Vertragsauslegung nach den §§  133, 157 BGB zurückzugreifen.43 Doch neben diesen Sanktionen ist es auch anerkannt,44 dass der Vertragspartner des Verwenders einen Schadensersatzanspruch nach § 311 Abs. 2 BGB geltend machen kann, weil die Verwendung einer unwirksamen AGB eine Pflichtverletzung des Verwenders im vorvertraglichen Bereich darstellt.45 Dieser ist grundsätzlich – wie stets im Rahmen von § 311 Abs. 2 BGB – auf den Ersatz des negativen Intereses des Geschädigten gerichtet und durch den Schutzzweck der jeweiligen Norm begrenzt.46 b) Drohender Schaden – § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB Es ist anerkannt, dass der Antragsteller in einem Nachprüfverfahren nach § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB darlegen muss, dass ihm als Folge der Nichteinhaltung einer vergabe-

39 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 36. 40 Hierzu auch Dicks in Ziekow/Völling, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 160 Rz. 12. 41 BGH v. 15.7.2009 – VIII ZR 225/07, NJW 2009, 2662, 266 – Unwirksame Preisanpassung. 42 Vgl. auch Grüneberg in Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 306 Rz. 12. 43 BGH v. 6.4.2016 – VIII ZR 79/15, NJW 2017, 320 – Dreijahreslösung bei Unwirksamkeit einer Preisanpassungsklausel bei Energielieferverträgen. 44 Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, Vor § 307 Rz. 104. 45 BGH v. 11.6.2010  – V ZR 85/09, NJW 2010, 2873  – Schadensersatzanspruch; BGH v. 27.5.2009 – VIII ZR 302/07, NJW 2009, 2950, 2592 – Bereicherungsanspruch. 46 BGH v. 11.6.2010 – V ZR 85/09, NJW 2010, 2873, 2876 – § 308 Nr. 1 BGB.

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rechtlichen Bestimmung (§ 97 Abs. 6 GWB) ein Schaden drohen kann.47 Dies ist bei Verwendung einer unwirksamen Vertragsbestimmung – wie gezeigt – eindeutig der Fall. Es geht nämlich auch hier, wie in der Kommentarliteratur betont wird, darum, dass der Bieter im Rahmen eines von ihm angestrengten Nachprüfungsverfahrens die „zweite Chance“ erhält.48 Er kann und darf dann auf Basis eines gesetzmäßig gestalteten Verfahrens – unter Einschluss rechtmäßiger AGB – neu anbieten; er ist nicht an die vorhandene Rechtswidrigkeit gebunden. Diese „zweite Chance“ muss aber dem Bieter und damit der Bietergemeinschaft auch dann zugute kommen, wenn es sich um rechtswidrige AGB-Klauseln handelt, weil dann die Vergabebestimmungen rechtlich fehlerhaft sind und den Bieter – vor allem den Auftragnehmer – in seinen subjektiven Rechten nach § 307 BGB verletzen.49 5. Verwendung unwirksamer AGB = Wettbewerbsverstoß Eindeutig hat der BGH sich dafür ausgesprochen, dass die Bestimmung von § 4 Nr. 11 UWG a.F. – nunmehr: § 3a UWG – in ihrer Qualifikation als Regeln über das Marktverhalten auch in die Vorschriften der §§ 160 f. GWB zu integrieren sind, so dass bei einem Verstoß der Vergabevorschriften § 97 Abs. 6 GWB zum Zuge gelangt.50 Daher wären die Bestimmungen über die richterliche Inhaltskontrolle von AGB-Klauseln (§§ 307, 310 Abs. 1 BGB) auch dann solche, auf die ein vergaberechtliches Nachprüfverfahren nach § 160 GWB gestützt werden kann, wenn diese Bestimmungen ihrerseits das Markverhalten (§ 4 Nr. 11 UWG a.F.) regeln. Das gilt es zu prüfen. In der Literatur wird die Ansicht vertreten,51 dass auch Mitbewerber berechtigt sind, bei der Verwendung unwirksamer AGB-Klauseln Unterlassungs- und auch Schadensersatzansprüche nach § 3 oder § 7 UWG geltend zu machen. Denn zwischen den Normen des AGB-Rechts und denen des UWG besteht insoweit Gesetzeskonkurrenz.52 Klar und einprägsam hat der BGH – allerdings erheblich einschränkend – formuliert, dass die Regeln der §§ 307, 308 Nr. 1 und 309 Nr. 7a BGB Marktverhaltensregeln im Sinn des §  4 Nr.  11 UWG sind (nunmehr: §  3a UWG  – Rechtsbruch).53 Voraussetzung ist allerdings nach der Rechtsprechung, dass die betreffenden Vorschriften des AGB-Rechts eine Stütze im Unionsrecht haben.54 Das ist im Rahmen des Verbraucherrechts eindeutig, weil hier die Richtlinie 93/13/EWG55 als Unionsrecht in 47 BGH v. 26.9.2006 – X ZB 14/06, NZBau 2006, 800; Horn/Hofmann, Beck’scher Vergaberechtskommentar, GWB, 3. Aufl. 2017, § 160 Rz. 33 ff. 48 Horn/Hofmann, Beck’scher Vergaberechtskommentar, GWB, 3. Aufl. 2017, §  160 Rz.  36; Dicks in Ziekow/Völling, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 160 Rz. 24. 49 Horn/Hofmann, Beck’scher Vergaberechtskommentar, GWB, 3. Aufl. 2017, § 160 Rz. 36. 50 BGH v. 3.7.2008 – I ZR 145/05, NZBau 2008, 664, 666 – Kommunalversicherer. 51 Köhler, NJW 2008, 177 ff. 52 BGH v. 31.5.2012 – I ZR 45/11, GRUR 2012, 949 – Missbräuchliche Vertragsstrafe. 53 BGH v. 31.3.2010 – I ZR 34/08, GRUR 2010, 1117 – Gewährleistungsausschluss im Internet; von Jagow in Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 4. Aufl., München 2016, § 3a Rz. 70. 54 BGH v. 31.5.2012 – I ZR 45/11, GRUR 2012, 949 Rz. 47 – Missbräuchliche Vertragsstrafe. 55 Abl. 1993 Nr. L 95, 29 Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen.

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das AGB-Recht des Verbraucherschutzes weithin integriert ist. Das aber ist im Bereich des unternehmerischen Verkehrs nicht ohne Weiteres zu bejahen. Entscheidend dürfte hier allerdings sein, ohne dass dieser Gedanke hier weiter vertieft werden kann, dass die Verwendung unwirksamer AGB zwar einen Gesetzesverstoß zum Gegenstand hat, dass es aber praktisch nicht beweisbar ist, dass sich ein so handelnder Unternehmer auf diese Weise im Sinn des Marktverhaltens gewertet einen Vorsprung gegenüber einem unternehmerischen Mitbewerber verschafft. Denn AGB werden auch im unternehmerischen Verkehr in der Regel vor Abschluss des Vertrages nicht gelesen; sie sind daher auch nicht geeignet, einen wettbewerblichen Vorsprung des gesetzwidrig handelnden AGB-Verwenders im Sinn von § 3a UWG zu begründen.56 Daher spricht einiges dafür, dass die Schutzvorschriften der §§ 307 ff. BGB nicht dem Zweck dienen, das Marktverhalten, also das „wie“ des Wettbewerbs zu regeln,57 so dass der nach dieser Norm erforderliche Marktbezug zweifelhaft erscheint. 6. Maßgeblichkeit des BGH-Urteils vom 19.4.201658 Um zu zeigen, dass das hier erörterte Urteil des OLG Celle59 kein kruder Ausnahmefall ist, soll hier auch die Entscheidung des BGH vom 19.4.2016 näher unter die Lupe genommen werden. a) Sachverhalt In diesem im Übrigen auch vom OLG Celle60 in den Entscheidungsgründen bereits als maßgeblich angesehen Urteil des BGH ging es darum, dass die ausschreibende Stelle für die über die Bearbeitung der Angebotsunterlagen hinausreichenden Aufwand eine pauschale Vergütung als abschließende Zahlung vorgesehen hatte. Das Vergabeverfahren war auf Basis der Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF) eingeleitet worden. Technisch ging es um die Erstellung einer Projektstudie, für deren Erarbeitung sowie für die Übertragung der Verwertungsrechte der Auftraggeber bereit war, einen Betrag von 6.000,00 Euro zu zahlen. Der Auftragnehmer, der den Zuschlag erhalten hatte, vertrat die Auffassung, dass diese Vergütung im Sinn des § 13 Abs. 3 VOF als nicht angemessen anzusehen ist. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass die Projektstudie nach den Regeln der HOAI zu vergüten sei (§ 20 Abs. 3 VOF) und forderte im Rahmen eines gewöhnlichen Zivilverfahrens einen Gesamtbetrag von ca. 250.000,00 Euro.

56 Vgl. Ohly in Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl. 2016, § 3a Rz. 16. 57 Götting/Hetmank in Fezer/Büscher/Obergfell, Lauterkeitsrecht UWG, 3. Aufl. 2016, §  3a Rz. 62. 58 BGH v. 19.4.2016 – X ZR 77/14, NZBau 2016, 368 – Projektstudie. 59 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314. 60 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 31 ff.

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b) Begründung In den Urteilsgründen hatte sich der BGH mit einer in der Fachliteratur geführten Kontroverse auseinanderzusetzen. Auf der einen Seite wurde die Meinung vertreten,61 § 20 Abs. 3 VOF sei eine rein zivilrechtliche Anspruchsgrundlage, so dass es nicht angezeigt sei, vor Abschluss eines Vergabeverfahrens ein vergaberechtliches Nachprüfverfahren durchzuführen.62 Auf der anderen Seite steht die Auffassung, es handele sich bei dieser Norm um einen vergaberechtliche, so dass der Verstoß gegen § 20 Abs. 3 VOF zur Nachprüfung nach §§ 160 f. GWB gestellt werden müsse, weil sonst die Anspruchsgrundlage der HOAI für die Erstellung von Zusatzleistungen nicht zum Zuge kommen könne.63 Das letztlich entscheidende Sachargument des BGH, der für die zwingende Einleitung eines Nachprüfverfahrens vorgebracht wird: Es ist nicht sachgerecht, wenn Bieter – nach Abschluss des Vergabeverfahrens – eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über die angemessene Höhe einer Zusatzvergütung führen, nachdem sie diese zuvor im Vergabeverfahren zunächst stillschweigend anerkannt hatten.64 c) Abschließende Erwägungen des OLG Celle Unter Bezugnahme auf diese BGH-Entscheidung meint das OLG Celle nunmehr,65 es sei mit dem vergaberechtlichen Grundsatz, allen Bietern die gleichen Chancen ein­ zuräumen, nicht vereinbar, wenn ein Bieter in seiner späteren Funktion als Auftragnehmer  – aber erst nach Abschluss des Vergabeverfahrens  – die zivilgerichtliche Möglichkeit erhält, die Unwirksamkeit einer Vertragsklausel (aktuell: einer Preisanpassungsklausel – § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) geltend zu machen und diese durch eine für ihn allein wirtschaftlich sinnvollere Regelung zu ersetzen. Mehr noch: Die Pflicht ein Nachprüfungsverfahren nach § 160 GWB in jedem Fall durchzuführen, beruht – so das OLG Celle – auch auf der Erwägung, dass nur so verhindert werden kann, dass der betreffende Bieter zunächst ein für ihn nicht auskömmliches Angebot unterbreitet, so den Zuschlag erhält, um dann im Rahmen eines Zivilverfahrens nachzubessern.66 Im Ergebnis – so das OLG Celle – ist also der Bieter, der im Blick auf eine als unwirksam angesehene Preisanpassungsklausel sich nicht entschließt, ein Nachprüfungsverfahren – vor dem Abschluss des Vergabeverfahrens – durch eine entsprechende Rüge einzuleiten (§ 160 Abs. 2 GWB) gehindert, dies in einem nachfolgenden Zivilverfahren nachzuholen. Er ist präkludiert. Denn Verstöße gegen vergaberechtliche Regeln sind abschließend in einem Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer geltend zu machen.

61 Orlowski, BauR 2012, 1550, 1556. 62 Vgl. auch Deckers, VergabeR 2015, 834, 835. 63 Stolz, VergabeR 2014, 295, 300. 64 BGH v. 19.4.2016 – X ZR 77/14, NZBau 2016, 368 Rz. 32. 65 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 34. 66 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 34.

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7. Vorläufiges Fazit Bedenkt man, dass eines der maßgebenden Argumente des OLG Celle67 – in Anlehnung an die Entscheidung des BGH vom 19.4.201668 – darin besteht, dass bereits im Nachprüfverfahren nach § 160 Abs. 2 GWB verhindert werden soll, dass der Höchstbietende den Zuschlag erhält, dann aber im Rahmen eines nachgeschalteten Zivil­ verfahrens „nachbessern“ und die Rechtswidrigkeit der Ausschreibung wegen eines Rechtsfehlers geltend machen kann, dann gelten die sich daraus ableitenden Grundsätze auch uneingeschränkt für den Bereich der Klauselkontrolle der zugrunde liegenden Vergabebedingungen im Rahmen des § 307 BGB.

III. Schwerpunkte einer Inhaltskontrolle von Beschaffungsverträgen – § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Es ist hier nicht der Ort, das ganze Arsenal von Argumentationsketten auszubreiten, welches gegen die Wirksamkeit von AGB-Klauseln in Beschaffungsverträgen nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB vorgebracht werden kann. Das würde den zur Verfügung stehenden Raum bei weitem sprengen.69 Doch einige wesentliche Aspekte sollen hier erörtert werden, soweit sie Haftungsvoraussetzungen und Haftungsfolgen wegen einer dem Lieferanten zurechenbaren Pflichtverletzung über die Grenzlinien des dispositiven Rechts hinaus ausdehnen. 1. Vertragsstrafe – Schadensersatz Um entscheiden zu können, ob im Fall einer dem Auftragnehmer zuzurechnenden Pflichtverletzung dem Auftraggeber ein Anspruch auf Ersatz des Schadens oder auch ein Anspruch auf Vertragsstrafe nach den §§ 339 ff. BGB zusteht oder diese Ansprüche an § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB scheitern, sind zunächst einige Klärungen vorauszuschicken. a) Verschuldensunabhängigkeit der Vertragsstrafe Der BGH hat eine vom Verschulden nach § 339 Abs. 1 BGB losgelöste Vertragsstrafe nur dann nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB gebilligt, wenn der Verwender dafür gewich­tige Gründe geltend machen kann, wie etwa bei den Privatisierungsverträgen der TREUHAND.70 Bei einem Bauvertrag, der vorsah, dass auch bei witterungsbedingten Verzögerungen eine Vertragsstrafe zu zahlen ist, hat er diese Einschränkung jedoch für unwirksam erklärt.71 Nach der Rechtsprechung liegen nämlich bei einem Bauvertrag 67 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 Rz. 34. 68 BGH v. 19.4.2016 – X ZR 77/14, NZBau 2016, 368. 69 Im Einzelnen Graf von Westphalen, Allgemeine Einkaufsbedingungen, 6. Aufl. 2016. 70 BGH v. 3.4.1998  – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600, 2601; im Einzelnen auch Thüsing in AGB-Klauselwerke/Graf von Westphalen, 40. EL 2018 – Vertragsstrafe Rz. 23. 71 BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, WM 2008, 892 .

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grundsätzlich nicht die Voraussetzungen vor, wonach eine vom Verschulden losgelöste Vertragsstrafe vereinbart werden kann.72 Auch die Literatur vertritt überwiegend die Meinung, dass im unternehmerischen Verkehr grundsätzlich73 das Merkmal des Verschuldens vorgesehen werden muss,74 sollte eine vereinbarte Vertragsstrafe im Fall einer Pflichtverletzung in wirksamer Weise verwirkt sein.75 Man kann nämlich mit durchaus belastbaren Gründen die Rechtsprechung des BGH zum Bauvertrag als einem Werkvertrag allgemein auf Werk- und Kaufverträge bei Vorliegen einer vom Auftraggeber vorformulierten Vertragsstrafe übertragen, weil es sich in allen Fällen um synallagmatische Verträge handelt. Doch wird man im Rahmen einer auch hier nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB anzustellenden Gesamtwertung kaum übersehen dürfen, dass Ausschreibungen der öffentlichen Hands tendenziell auch im öffentlichen Interesse liegen, so dass von daher betrachtet „gewichtige“ Interessen nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ausnahmsweise rechtfertigen könnten,76 dass in diesen Fällen eine vom Verschulden losgelöste Vertragsstrafe in wirksamer Weise vereinbart wird. Ob und unter welchen Voraussetzungen jedoch solche besonderen Interesselagen im Blick auf eine vom Verschulden losgelöste Vertragsstrafe der öffentlichen Hand tatsächlich gegeben sind, wird man im Zweifelsfall nur unter Beachtung der jeweiligen Einzelheiten nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB bejahen oder auch verneinen können. b) Höhe der Vertragsstrafe Wendet man sich der weiteren Frage zu, in welcher Höhe denn im Einzelfall eine Vertragsstrafe nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam formularmäßig vereinbart werden kann, dann stellt sich die Frage, ob die von der Rechtsprechung des BGH für den Bauvertrag entwickelten Höchstgrenzen auch allgemein – also: außerhalb des engen Bereichs des Bauvertragsrechts  – bei Abschluss von Beschaffungsverträgen, die ja auch dem Kaufrecht nach den §§ 433 ff. BGB folgen, Beachtung verdienen. Nähert man sich der Antwort auf diese Frage, dann muss allerdings sogleich einschränkend bemerkt werden, dass die Rechtsprechung des BGH vor allem Fälle entschieden hat, in denen die Vertragsstrafe mit dem Tatbestand des Verzugs verknüpft war. So hat der BGH festgelegt, dass in diesen Fällen eine Begrenzung auf 5% der Auftragssumme als Höchstbetrag vorgesehen werden muss,77 wobei allerdings die für 72 BGH v. 16.7.1998 – VII ZR 9/97, NJW 1998, 3488; BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, WM 2008, 892. 73 BGH v. 20.3.2003 – I ZR 225/00, WM 2004, 132 – Kommittent. 74 A.M. BGH v. 28.9.1978 – II ZR 10/77, NJW 1979, 105 – Schmuggelklausel. 75 Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 309 Nr. 6 Rz. 37; Coester-Waltjen in Staudinger, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 28; Roloff in Erman, 15. Aufl. 2018, § 309 BGB Rz. 56a; Grüneberg in Palandt, § 309 BGB Rz. 39; großzügiger Dammann in Wolf/ Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 6. Aufl. 2014, § 309 Nr. 6 Rz. 110. 76 BGH v. 6.12.2002 – V ZR 184/02, WM 2003, 839 – TREUHAND: Arbeitsplatzgarantie. 77 BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805 – grundlegend.

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jeden Arbeitstag des Verzugs vorgesehene Vertragsstrafe in Höhe von 0,5%78 an § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB scheitert.79 Die Notwendigkeit einer höhenmäßigen Begrenzung gilt auch bei kleineren Aufträgen.80 Jedenfalls für den Fall des Verzugs wird man mit guten Gründen argumentieren können, dass eine Vertragsstrafe – angelehnt an die Rechtsprechung des BGH zum Bauvertragsrecht – eine Höchstgrenze enthalten muss, welche im Zweifel 5% der Auftragssumme nicht überschreiten darf, ohne dass sie an § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB scheitert.81 Ganz allgemein ist bei der Beurteilung der angemessenen Höhe einer Vertragsstrafe an den Grundsatz der Rechtsprechung zu erinnern: Der Verwender muss bei ihrer Festlegung immer die berechtigten Belange des Auftragnehmers im Sinn von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB beachten.82 Entscheidend ist insoweit der Gedanke der Bi-Funktionalität der Vertragsstrafe; sie hat nämlich, auch wenn sie ein Druckmittel ist, den Charakter eines Mindestbetrages eines Schadens, wie sich aus den Regeln der §§ 340 Abs. 2, 341 Abs. 2 BGB ablesen lässt. Daher hat der BGH auch die Höhe der Vertragsstrafe an dem voraussichtlich eintretenden Schaden im Sinn von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB orientiert.83 Denn dem Auftraggeber steht es ja im Rahmen von § 340 Abs. 2 und § 341 Abs. 2 BGB frei, einen weitergehenden Schaden, soweit er diesen als Folge einer Pflichtverletzung des Auftragnehmers nachweisen kann, zusätzlich in Höhe der Differenz geltend zu machen. Jedenfalls dient eine Vertragsstrafe nicht dazu, eine neue, weitere Quelle für den Auftraggeber zu schaffen, Geld zu vereinnahmen.84 Das ist immer als entscheidendes Merkmal im Blick zu behalten. Des Weiteren ist stets der Grundsatz der Rechtsprechung zu beachten, dass nämlich die jeweilige Höhe der Vertragsstrafe nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB auch in einem angemessenen Verhältnis von Pflichtverletzung, Verschulden und prospektivem Schaden stehen muss.85 Es gilt danach der Grundsatz, dass eine Vertragsstrafe wegen ihrer generell-abstrakten Bewertung nur dann als wirksam nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB eingeordnet werden kann, wenn sie auch in Bezug auf den geringstmöglichen Verstoß noch als angemessen zu qualifizieren ist.86 Dabei sind stets auch die Folgen für den Auftragnehmer im Auge zu behalten.87 Allerdings ist auch hier ihre Funktion als Druckmittel gegenüber dem Auftragnehmer zu bedenken, damit dieser seine Pflichten ordnungsgemäß erfüllt.88

78 BGH v. 17.1.2002 – VII ZE 198/00, NJW-RR 2002, 806. 79 BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106, 2107. 80 BGH v. 19.1.1989 – VII ZR 348/87, NJW-RR 1989, 527. 81 BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805. 82 BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1808. 83 BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1808. 84 BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/82, NJW 1983, 385, 387. 85 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, ZVertriebsR 2016, 95. 86 BGH v. 20.1.1994 – VIII ZR 165/92, NJW 1994, 1060, 1068 – DAIHATSU. 87 BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600, 2602 – TREUHAND. 88 BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106, 2107.

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c) Abbedingung des Kumulationsgebots – § 340 Abs. 2 und § 341 Abs. 2 BGB Diese Sicht führt unmittelbar zu der nächsten Schlussfolgerung: Nach den Vorgaben der §§ 340 Abs. 2, 341 Abs. 2 BGB ist es im Rahmen von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB notwendig, dass die jeweilige Vertragsstrafe der Mindestschaden ist.89 Sie kann daher nicht zusätzlich zum geltend gemachten und auch zu liquidierenden Schaden reklamiert werden. Es besteht vielmehr ein strikt zu beachtendes Anrechnungsgebot, welches nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu respektieren ist.90 Das hat der BGH im Übrigen bereits vor Erlass des AGBG entschieden.91 d) Grenzen der Schadenspauschalierung – § 309 Nr. 5a BGB In einer sehr wichtigen Entscheidung hat der BGH vor kurzem die Grenzen fixiert, welche für eine wirksame Pauschalierung eines Schadenersatzanspruchs im Kontext von § 309 Nr. 5a BGB zu beachten sind.92 Es ging darum, dass der Betreiber eines Schwimmbades Chipbänder verkaufte, die dazu dienten, den jeweiligen Verzehr mittels der Chips zu begleichen. Im Fall des Verlustes eines solchen Bandes war bestimmt, dass der Besucher verpflichtet war, Schadensersatz in Höhe des jeweils eingeräumten „Kredits“ zu leisten, wobei ihm der Nachweis vorbehalten blieb, dass in Wirklichkeit ein geringerer Schaden entstanden war. Der BGH kassierte diese Klausel als unwirksam nach § 309 Nr. 5a BGB. Denn sie orientierte sich nicht an dem typisch durchschnittlichen Schaden, sondern verlangte immer den Gesamtbetrag, welchen der Besucher vorher für die Nutzung des Chipbandes als „Kredit“ eingezahlt hatte. Das aber war der maximal denkbare Schaden.93 In dieser Perspektive aber hilft es dem Verwender auch nicht, dass er dem Besucher bei Verlust des Chipbandes die Möglichkeit eröffnet, einen niedrigeren Schaden nachzuweisen. Denn dies entspricht nur den Vorgaben von §  309 Nr.  5b BGB, nicht aber dem vom Verwender nachzuweisenden typischen Durchschnittsschaden, auf den sich die Schadenspauschale auch im unternehmerischen Verkehr nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB beziehen muss.94 Für die Praxis folgt daraus, dass auch im unternehmerischen Bereich ein Differenzierungsgebot für die Wirksamkeitsgrenzen von Schadenspauschalen im Sinn von § 309 Nr. 5a BGB zu beachten ist: Die jeweilige Pflichtverletzung sowie die Höhe des durchschnittlichen Schadens sind zwingend zu berücksichtigen, weil sie auch in ihrer Wirksamkeit von der hier geforderten Beweisführungslast des Verwenders abhängen.95

89 Statt aller Grüneberg in Palandt, 77. Aufl. 2018, § 340 BGB Rz. 7. 90 BGH v. 24.6.2009 – VIII ZR 332/07, NJW-RR 2009, 1404, 1405. 91 BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163. 92 BGH v. 18.2.2015 – XII ZR 199/13, NJW-RR 2015, 690 – Chipband. 93 BGH v. 18.2.2015 – XII ZR 199/13, NJW-RR 2015, 690, 691 – Chipband. 94 BGH v. 22.10.2015 – VII ZR 58/14, NZBau 2016, 213, 216. 95 BGH v. 18.2.2015 – XII ZR 199/13, NJW-RR 2015, 690, 691 – Chipband.

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2. Verschuldensunabhängige Haftung Der BGH steht auf dem Standpunkt, dass es dem Verwender nicht in die Hand gegeben ist, eine nach den Regeln des Individualvertrages im Einzelfall festgestellte Beschaffenheitsvereinbarung nach § 434 Abs. 1 sowie nach § 633 Abs. 2 BGB durch eine AGB-Klausel in den Rang einer vom Verschulden unabhängigen Garantiehaftung zu erheben.96 Denn dadurch verschärft der AGB-Verwender – in der Regel auch unter Missachtung des Vorrangs der Individualabrede nach § 305b BGB – die Haftungsvoraussetzungen und die Haftungsfolgen, weil der Auftragnehmer dann ohne Rücksicht auf ein Verschulden für die Schadensfolgen einstehen muss, die sich aus der Verletzung des ­Garantieversprechens nach den §§ 249 ff. BGB ergeben.97 Im Blick auf diese weitreichenden Haftungsfolgen ist deshalb eine formularmäßige Garantiezusage des Auftragnehmers nur dann mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB vereinbar, wenn sie auch von dem beiderseitigen Willen der Vertragsparteien umfasst wird. Denn das deutschrechtliche System der Schadensersatzhaftung basiert auf dem Verschuldensprinzip.98 Dieses kann und darf im Rahmen von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB durch AGB-Klauseln nicht ausgehebelt werden.99 a) Qualifikation des Garantieversprechens Ob ein Garantieversprechen des Auftragnehmers tatsächlich vorliegt, ist stets eine durch Auslegung nach den §§ 133, 157 BGB zu beantwortende Frage. Dabei geht es auch darum, ob ein solches Versprechen als eine selbständige oder als eine unselbständige Garantiezusage zu verstehen ist. aa) Als selbständiger Garantievertrag Unter diesem nach § 311 BGB zulässigen Vertragstyp eines selbständigen Garantievertrages versteht die Rechtsprechung des BGH das vom Verschulden losgelöste Einstehen für einen bestimmten Erfolg. Dieser geht über die reine Sachmängelhaftung hinaus und deckt den Nichteintritt eines weitergehenden Erfolges in Form einer Risikoübernahme ab.100 Gekennzeichnet ist dieses Versprechen dadurch, dass der Schuldner sich verpflichtet, den Gläubiger – unabhängig von einem Verschulden – von den Risiken und Schäden freizuhalten, welche dann eintreten, wenn der durch das Garantieversprechen abgedeckte „Garantiefall“ sich realisiert.101 Dabei kann es – abhängig vom Ergebnis der Auslegung – so sein, dass der garantierte Erfolg neben der Mängelhaftung besteht oder aber weitergehend auf die Erfüllung der vertraglich übernom 96 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47, 49. 97 BGH v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, NJW 2007, 1346, 1348. 98 BGH v. 18.10.2017  – VIII ZR 86/16, NJW 2018, 291, 293; BGH v. 18.2.2015  – XII ZR 199/13, NJW-RR 2015, 690, 691 – Chipband. 99 BGH v. 18.10.2017 – VIII ZR 86/16, NJW 2018, 291, 293. 100 BGH v. 13.6.1996 – IX ZR 172/95, NJW 1996, 2569, 2570; statt vieler Beckmann in Dauner-Lieb/Langen, BGB, 3. Aufl. 2016, Vor § 765 Rz. 14; Sprau in Palandt, 77. Aufl. 2018, Vor § 765 BGB Rz. 16. 101 BGH v. 10.2.1999 – VIII ZR 70/98, NJW 1999, 1542, 1543.

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menen Leistungspflicht im Sinn einer Risikoübernahme zielt.102 Damit sind die Wesensmerkmale eines selbständigen Garantieversprechens umrissen. bb) Als unselbständiger Garantievertrag Unter einem unselbständigen Garantievertrag versteht man die Erweiterung oder auch Verstärkung der gesetzlichen Mängelhaftung.103 Im Rahmen des Kauf- oder Werkvertrages wird man auch hier in der Regel von einer vom Verschulden losgelösten Haftung des Garantiegebers/Auftragnehmers ausgehen müssen.104 Folglich muss bei diesem ein entsprechender Garantiewille gegeben sein, was die Forderung auslöst, in der Annahme eines solchen Versprechens wegen der weitreichenden, durchaus krassen Haftungsfolgen Zurückhaltung zu üben.105 Ein Sonderfall der Rechtsfigur einer Garantie ist, was nur am Rande anzumerken ist, im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs in § 479 BGB enthalten. Sie geht davon aus, dass zwischen den Mängelrechten des Käufers und denen aus einer insoweit unabhängigen Garantie der Käufer/Begünstigter eigene Rechte aus einer Garantie im Fall eines Mangels der Kaufsache erwirbt.106 b) Rechtsprechungsergebnisse Schon in einer der ersten wichtigen Entscheidungen zu dem ansonsten in der Rechtsprechung nur spärlich anzutreffenden Gebiet der Einkaufs-AGB befasste sich der BGH mit einer Klausel, wonach die Haftung des Lieferanten für die Folgen verletzter Schutzrechte ohne Rücksicht auf ein Verschulden bestehen sollte.107 Hier formulierte der BGH sehr dezidiert: „Es ist ein wesentlicher Grundgedanke der gesetzlichen Regelung im Sinn von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, dass eine Verpflichtung zum Schadensersatz regelmäßig nur bei schuldhaftem Verhalten besteht“.108 Und dann setzte der BGH noch ein weiteres Argument hinzu: „Dieser allgemeine Grundsatz des Haftungsrechts gilt als Ausdruck des Gerechtigkeitsgebots gleichermaßen für vertragliche wie für ­gesetzliche Ansprüche.“109 Eine Ausnahme von dieser Regel konzedierte der BGH nur für die Fälle, in denen „nach dem Kaufvertrag eine Garantie für die Freiheit von Rechtsmängeln“ vom Lieferanten übernommen wird.110 Genau diesen Grundsatz, der über § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB strikt zu beachten ist, wiederholte der BGH erst kürzlich, als es darum ging, die in einer Qualitätssicherungsvereinbarungen vorgesehene Klausel zu beurteilen, wonach der Mehraufwand, der 102 BGH v. 23.5.1998 – VIII ZR 126/57, NJW 1958, 1483. 103 Vgl. Sprau in Palandt, 77. Aufl. 2018, § 443 BGB Rz. 9. 104 Voith in Bamberger/Roth/Hau/Poseck, 40. EL 2017, § 634 BGB Rz. 14. 105 Busche in MünchKomm, 6. Aufl. 2017, § 634 BGB Rz. 96. 106 Weidenkaff in Palandt, 77. Aufl. 2018, § 479 BGB Rz. 10 f. 107 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 – Baumarkt. 108 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47, 49 – Baumarkt. 109 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47, 49 – Baumarkt. 110 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47, 50 – Baumarkt.

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dem Auftraggeber bei Mängeln der Lieferung des Auftragnehmers entsteht, „in angefallener Höhe“ von diesem zu tragen ist.111 Denn eine nach den allgemeinen Regeln durchzuführende Auslegung dieser Klausel führt dazu, dass damit auch die „Aufwandpositionen“ des Auftraggebers erfasst werden, die nach der gesetzlichen Wertung dem Bereich eines Schadensersatzanspruchs zuzuweisen sind.112 Das aber ist mit der Grundwertung von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht vereinbar, weil diese Klausel von dem Erfordernis eines Vertretenmüssens absieht. Die Klausel ist mithin unwirksam. 3. Haftung für Pflichtverletzungen des Vorlieferanten – § 278 BGB Eng mit diesen Fallkonstellationen hängt eine weitere zusammen, die in Beschaffungsverträgen immer wieder anzutreffen ist, nämlich: die unbedingte Haftung für Pflichtverletzungen eines Vorlieferanten, der als „Erfüllungsgehilfe“ des Auftragnehmers eingeordnet wird. a) Werkvertragliche Spezifika Die Weichenstellung, ob es sich bei einer solchen Klausel um eine wirksame oder um eine unwirksame Gestaltung im Sinn des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB handelt, hängt in­ soweit entscheidend von dem zugrunde liegenden, individualvertraglich zu be­ stimmenden Vertragstyp ab. Soweit dieser als Werkvertrag nach den §§ 631 ff. BGB einzuordnen ist, bestehen gegen diese Haftungsverschärfung im Blick auf einen „Unterauftragnehmer“ in seiner Eigenschaft als Erfüllungsgehilfe nach § 278 BGB keine durchgreifenden Bedenken. Denn § 278 BGB bedingt, dass im Rahmen eines solchen Vertrages jedenfalls der Subunternehmer als Erfüllungsgehilfe einzuordnen ist. Daher ist die in der Klausel ausgewiesene Haftungszuweisung nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht zu beanstanden.113 Dabei ist zu unterstreichen, dass sich die Definition des Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB einer formularmäßigen Änderung entzieht; diese scheitert an § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, weil sie in unangemessener Weise die Haftung des Auftragnehmers erweitert. Deshalb ist daran zu erinnern, dass die Rechtsprechung die Rolle eines Zulieferanten114 auch im Rahmen eines Werkvertrages nicht nach § 278 BGB als Erfüllungs­ gehilfen definiert. Vielmehr lehnt sie die Haftung des Auftragnehmers für etwaige Pflichtverletzungen des Zulieferanten nach § 278 BGB ab, weil und soweit das Rechtsverhältnis zwischen dem Werkunternehmer (Auftragnehmer) und seinem Zulieferanten dem Typus des Kaufvertrages folgt.115

111 BGH v. 18.10.2017 – VIII ZR 86/16, NJW 2018, 291 mit Anm. von Thamm. 112 BGH v. 18.10.2017 – VIII ZR 86/16, NJW 2018, 291, 293. 113 BGH v. 15.1.1976 – VII ZR 96/74, NJW 1976, 516; Grüneberg in Palandt, 77. Aufl. 2018, § 278 BGB Rz. 14. 114 BGH v. 9.2.1978 – VII ZR 84/77, NJW 1978, 1157 – Lieferant eines Ersatzteils: kein Erfüllungsgehilfe. 115 So ausdrücklich BGH v. 9.2.1978 – VII ZR 84/77, NJW 1978, 1157.

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Dass aber auch bei Annahme eines Werkvertrages der Zulieferant nicht als Erfüllungsgehilfe des Auftragnehmers im Rahmen des § 278 BGB anzusehen ist, beruht darauf, dass dieser nicht im Rahmen der werkvertraglichen Erfolgshaftung bei der Erfüllung der dem Auftragnehmer obliegenden Vertragspflichten mitwirkt. Geht man also davon aus, dass das Rechtsverhältnis zwischen Zulieferant und Auftragnehmer dem Bereich des Kaufvertrages zuzuordnen ist – was immer wieder zutrifft – dann ist eine solche Klausel nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Die unangemessene Benachteiligung liegt auch in diesen Fällen auf der Hand, weil eine Haftungszuweisung, welche den Rahmen des § 278 BGB sprengt, mit wesentlichen Grundsätzen der Norm nicht vereinbar ist und erkennbar den Auftragnehmer unangemessen benachteiligt. b) Kaufvertragliche Spezifika Regelmäßig ist bei der Beantwortung der hier anstehenden Fragen auch die Konstellation in den Blick zu nehmen, dass es sich bei dem zugrunde liegenden Vertragsverhältnis um einen Kaufvertrag im Sinn des § 650 BGB handelt. Davon ist immer dann zu sprechen, wenn die Verpflichtung des Auftragnehmers dahin geht, die Lieferung einer herzustellenden Sache und einer zu erzeugenden beweglichen Sache zu schulden. Trifft dies zu, dann sind nicht die Regeln des Werkvertrages, sondern nach der ausdrücklichen Weisung des § 650 BGB die des Kaufvertrages anwendbar. Nach feststehender Rechtsprechung sind aber in einem solchen Fall der Hersteller116 und auch der Lieferant der erst zu erzeugenden/herzustellenden Sache nicht als Erfüllungsgehilfe des Lieferanten/Auftragnehmers anzusehen.117 Daraus folgt, dass auch in dieser alternativen Interpretation keine „gesamtverantwortliche“ Haftung im Sinn einer „Erfolgsverantwortung“ des Auftragnehmers für ein Fehlverhalten des von ihm eingeschalteten „Vorlieferanten“ gibt, so dass eine hiervon abweichende Klausel an § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB scheitert und unwirksam ist. Gerade für den Bereich des Kaufvertrages hat im Übrigen der BGH wiederholte Male – und dies noch in jüngster Zeit – den Grundsatz bestätigt, dass der Vorlieferant nicht als Erfüllungsgehilfe des Verkäufers anzusehen ist.118 Hiervon kann in AGB nicht in wirksamer Weise abgewichen werden, ohne dass die betreffende Klausel an § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB scheitert.

IV. Summe 1. Da die Verwendung unwirksamer AGB immer eine zum Schadensersatz nach § 311 Abs. 2 BGB einzuordnende Pflichtverletzung des Auftraggebers/Verwenders darstellt, wird man kaum durchgreifende Bedenken haben können, die grundle116 So ausdrücklich BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, NJW 2014, 2183; BGH v. 21.6.1967 – VIII ZR 26/65, NJW 1967, 1903 – TREVIRA. 117 BGH v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07, NJW 2008, 2837, 2840 – Parkettstäbe. 118 BGH v. 18.10.2017 – VIII ZR 86/16, NJW 2018, 291, 293; BGH v. 29.4.2015 – VIII ZR 104/14, NJW 2015, 2244; BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, NJW 2014, 2183.

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genden Erwägungen des Urteils des OLG Celle vom 16.1.2018119 als maßgebend dafür anzusehen, dass der Höchstbieter in einer Ausschreibung der öffentlichen Hand nach § 160 Abs. 2 GWB im Sinn des § 97 Abs. 6 GWB auch verpflichtet ist, die Unwirksamkeit von AGB-Klauseln im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren feststellen zu lassen. Es geht nicht an, dass der Höchstbieter mit dieser Rüge bis zu einem nachgeschalteten ordentlichen Zivilverfahren zuwartet, weil er dann präkludiert ist. Unwirksame Beschaffungsbedingungen der öffentlichen Hand verletzen den Bieter – vor allem aber den Auftragnehmer – in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB. 2. Dabei kommt es nicht darauf an, dass es sich um solche unwirksame Klauseln handelt, die – wie die Preisanpassungsklausel im Fall des OLG Celle – direkte Auswirkungen auf die dem Auftragnehmer zustehende Gegenleistung haben. Es reicht vielmehr aus, wenn sie – gemessen an den Kriterien des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB – unwirksam sind und die Rechtsstellung des Auftragnehmers gegenüber den Wertungen des dispositiven Rechts unangemessen benachteiligen. Insoweit reicht es aus, dass eine nach §  307 BGB festzustellende Unwirksamkeit einer Klausel im Rahmen der AGB-rechtlich gebotenen generell-abstrakten Wertung ermittelt wird. Denn die nach § 97 Abs. 6 GWB erforderliche Beeinträchtigung der Rechte des Unternehmens wird allein dadurch begründet, dass wegen der Verwendung unwirksamer Beschaffungsbedingungen das Vergabeverfahren nicht rechtmäßig war. 3. Unwirksame Beschaffungsverträge der öffentlichen Hand im Sinn der §§ 307, 310 Abs. 1 BGB sind keineswegs selten, auch wenn dies bislang noch nicht in Gerichtsurteilen nachhaltig reflektiert wird.

119 OLG Celle v. 18.1.2018 – 11 U 121/17, NZBau 2018, 314 – Schülerbeförderung.

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Kompetenzgefüge der AG und Vorstandshaftung Inhaltsübersicht

I. Sachverhalt

II. Entscheidung des BGH 1. Vorabbeteiligung des Aufsichtsrats 2. Kein Ersatz durch Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. ­Alleinaktionärs 3. Einwand rechtmäßigen Alternativ­ verhaltens III. Aktienrechtliches Kompetenzgefüge 1. Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats 2. Beteiligung der Hauptversammlung bei Geschäftsführungsmaßnahmen 3. Argumentation des BGH IV. Willensbildung des Alleinaktionärs



V. Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens 1. Kein besonderer Sanktionszweck bei Kompetenzverstößen 2. Darlegungs- und Beweislast 3. Rechtmäßiges Alternativverhalten bei nachgewiesener HV-Zustimmung?

VI. Zur Gestaltung von Zustimmungs­ vorbehalten 1. Vorabzustimmung 2. Nachträgliche Zustimmung und ­Gremienvorbehalt 3. Sonderregelung für Eilfälle VII. Seitenblick auf das GmbH-Recht VIII. Schluss

Ein Vorstand, der sich über einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG hinwegsetzt, kann sich schadensersatzpflichtig machen. Dies gilt nach dem Schloss-Eller-Urteil des BGH vom 10.7.2018 auch dann, wenn er im Einvernehmen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Alleinaktionär handelt. Allerdings kann er gegenüber der Schadensersatzklage der Aktiengesellschaft den Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens geltend machen. Die Thematik gehört zum Kernbereich nicht nur der praktischen Tätigkeit Eberhard Vetters, sondern auch seiner wissenschaftlichen Arbeiten, auf die in den Entscheidungsgründen wiederholt verwiesen wird, und soll daher im Folgenden näher beleuchtet werden.

I. Sachverhalt In dem Sachverhalt der (für die Amtliche Sammlung vorgesehenen) BGH-Entscheidung verklagte die Klägerin, eine im Immobiliengeschäft tätige kommunale Aktiengesellschaft mit der Stadt Düsseldorf als Alleinaktionär, ihren Vorstand auf Schadensersatz.1 Hintergrund war die Übernahme, Sanierung und der Betrieb eines der Stadt 1 BGH, NJW 2018, 3574; dazu Fleischer, DB 2018, 2619; Weißhaupt, ZIP 2019, 202; Schilha/ Teusinger, AG 2019, 26; Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416; Holle/Mörsdorf, NJW

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gehörenden Gebäudekomplexes mit Schloss und Wirtschaftshof. Der Aufsichtsrat hatte zu dem Konzept ursprünglich seine Zustimmung erteilt, die nach der Satzung angesichts der Größenordnung erforderlich war. In der Folge mussten die zu erwartenden Sanierungskosten erheblich nach oben korrigiert werden, so dass das Projekt nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden konnte. Gleichwohl schloss der Vorstand den anvisierten Erbbaurechtsvertrag im Einklang mit der Beschlussvorlage des Aufsichtsrats, konnte aber nur das Schloss und nicht den zur Vermietung vorgesehenen Wirtschaftshof sanieren lassen. Dem voraus gegangen war eine Besprechung mit dem Oberbürgermeister der Stadt, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der AG war, dessen Inhalt streitig ist. Der Aufsichtsrat als Gremium wurde nicht erneut beteiligt.

II. Entscheidung des BGH Die Vorstandsmitglieder einer AG haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG). Verletzen sie ihre Pflichten, sind sie der Gesellschaft gesamtschuldnerisch zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet (§ 93 Abs. 2 S. 1 AktG). Im Ausgangspunkt bestätigt der BGH die Annahme des Berufungsgerichts, dass eine Pflichtverletzung des Vorstands vorgelegen habe, die zu einem Schaden der AG geführt hat.2 1. Vorabbeteiligung des Aufsichtsrats Die maßgebliche Pflichtverletzung wird in dem Kompetenzverstoß des Vorstands gesehen, der darin liegt, dass er vor Umsetzung des geänderten Konzepts nicht einen weiteren Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats eingeholt hat. Bei einer wesentlichen nachträglichen Änderung der Planung hätte der Aufsichtsrat erneut beteiligt werden müssen.3 Die Argumentation überzeugt insoweit, da dem ursprünglichen Einverständnis des Aufsichtsrats ein anderer Kostenrahmen zugrunde lag, und damit letztlich über einen anderen Gegenstand entschieden wurde.4 Die erforderliche Zustimmung kann nach Ansicht des BGH nicht durch eine nachträgliche (konkludente) Genehmigung des Aufsichtsrats ersetzt werden. Diese Sichtweise entspricht der h. M., die Zustimmungsvorbehalte im Sinne des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG als ein Instrument vorbeugender Kontrolle des Aufsichtsrats qualifiziert, um Maßnahmen der Geschäftsleitung, die möglicherweise nicht mehr rückgängig gemacht werden können, von vornherein zu unterbinden.5 Ob in Eilfällen eine Ausnahme greift, oder ob durch eine

2018, 3555; Priester, EWiR 2018, 645; Müller, LMK 2018, 413368; Than, WuB 2019, 11; Geißler, DZWiR 2018, 592; Haarmann, BB 2018, 2515; Sudbrock, IR 2018, 311. 2 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 14. 3 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 14. 4 Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rz. 75; Fleischer, DB 2018, 2619, 2621 zur relevanten Schwelle für eine erneute Zustimmungspflicht. 5 S. zur GmbH bereits BGH, NZG 2007, 187 Rz. 9.

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ausdrückliche Satzungsregelung eine nachträgliche Zustimmung gestattet werden kann, war nach Sachlage nicht entscheidungsrelevant. 2. Kein Ersatz durch Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. Alleinaktionärs Da die Entscheidung des Aufsichtsrats über die Zustimmung, vorbehaltlich der Übertragung auf einen Ausschuss, gemäß § 108 Abs. 1 AktG durch ausdrücklichen (Mehrheits-) Beschluss erfolgt, konnte eine etwaige Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht genügen, da dieser seinen Willen abweichend von dem Kollegialorgan bilden kann.6 Dem Beklagten half es nach der Begründung des BGH auch nicht, dass er möglicherweise in Absprache mit der durch ihren Oberbürgermeister vertretenen Stadt als Alleinaktionär gehandelt hat. Zwar tritt die Ersatzpflicht des Vorstands gemäß § 93 Abs. 4 S. 1 AktG dann nicht ein, wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Dafür wird allerdings allgemein ein förmlicher Beschluss gefordert, die konkludente Einwilligung der Hauptversammlung oder einzelner Aktionäre wird auch dann nicht für ausreichend gehalten, wenn es sich um Bekundungen des Alleinaktionärs handelt.7 Die umstrittene Frage, ob bei Einwilligung des Alleinaktionärs die Geltendmachung der Ersatzpflicht rechtsmissbräuchlich wird,8 entscheidet der II. Zivilsenat dahin, dass der Alleinaktionär sich nur im Ausnahmefall mit dem Einwand widersprüchlichen Verhaltens verteidigen kann, was konkret aber verneint wurde. 3. Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens Einen möglichen Ausweg eröffnet der BGH dem beklagten Vorstand jedoch durch den Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens,9 dessen Zulässigkeit im Schrifttum bei Kompetenzverstößen streitig beurteilt wird.10 Dem Vorstand könne der infolge des Kompetenzverstoßes entstandene Schaden im Grundsatz billigerweise nicht zugerechnet werden, wenn er nachweist, dass der Aufsichtsrat bei Beachtung des § 111

6 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 22. 7 S. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 71; K. Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, AktG, 3. Aufl. 2015, § 93 Rz. 60; MüKo AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 269; von Falkenhausen, NZG 2016, 601, 602; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 266. 8 In diesem Sinne MHdB AG/Wiesner, 4. Aufl. 2015, § 26 Rz. 43; für Ausnahmefälle auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 71; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 266; aA OLG Düsseldorf, AG 2015, 434 Rz. 36; OLG Köln, NZG 2013, 872; Wolff/ Jansen, NZG 2013, 1165, 1168; Großkomm AktG/Hopt/Roth, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 479. 9 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 42; s. zur GmbH bzw. GmbH & Co. KG bereits BGH, NJW 2007, 917 Rz. 12; NZG 2008, 783 Rz. 19; NZG 2013, 1021 Rz. 32. 10 Für die Zulässigkeit Fleischer, DStR 2009, 1204, 1208  f.; Goette, DStR 2018, 1599, 1600; Seebach, AG 2012, 70, 73; Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115, 2117; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rz. 216; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 50; dagegen MüKo AktG/Spindler, 5.  Aufl. 2019, §  93 Rz.  95; Großkomm AktG/Hopt/Roth, 5.  Aufl. 2015, § 93 Rz. 416.

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Abs. 4 S. 2 AktG in die betreffende Maßnahme mehrheitlich eingewilligt hätte.11 Bei der Prüfung des Einwands ist der (eigene) unternehmerische Handlungsspielraum des Aufsichtsrats zu berücksichtigen (business judgement rule), zudem sind zwei äußere Grenzen zu beachten: Eine Haftung muss zum einen ausscheiden, wenn ausnahmsweise eine Zustimmungspflicht des Aufsichtsrats besteht, die aber angesichts der Risiken jeder unternehmerischen Entscheidung nur selten gegeben ist. Zum anderen findet der Einwand des pflichtgemäßen Alternativverhaltens seine Grenze zwingend dort, wo eine zustimmungspflichtige Maßnahme gegen Gesetz oder Satzung verstoßen würde, da sie dann nicht mehr vom unternehmerischen Handlungsspielraum des Vorstands bzw. Aufsichtsrats gedeckt wäre. Dafür reicht es nach der Argumentation des BGH aber nicht aus, dass das Geschäft für die Gesellschaft wirtschaftlich nachteilig ist, da langfristige Vorteile zu erwarten sein können, und zudem bei unternehmerischen Entscheidungen auch Gemeinwohlbelange Berücksichtigung finden können.12 Die Sache wurde daher zur erneuten Prüfung des Einwands pflichtgemäßen Alternativverhaltens an das Berufungsgericht zurück verwiesen.

III. Aktienrechtliches Kompetenzgefüge 1. Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats Festzuhalten ist zunächst, dass der maßgebliche Pflichtverstoß nicht in dem Abschluss eines defizitären Geschäfts liegt, der vom unternehmerischen Ermessen des Vorstands gedeckt sein kann, sondern in der Verletzung der aktienrechtlichen Kompetenzvorschriften, die daher näher in den Blick genommen werden sollen. Die Geschäftsführung ist bei der AG Aufgabe des Vorstands (§§ 76 Abs. 1, 111 Abs. 4 S. 1, 119 Abs. 2 AktG). Die Satzung oder der Aufsichtsrat hat jedoch zu bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen (§ 111 Abs. 4 S. 2 AktG). Missachtet der Vorstand einen Zustimmungsvorbehalt, handelt er pflichtwidrig, und kann sich schadensersatzpflichtig machen. Die Wirksamkeit des betreffenden Geschäfts bleibt im Außenverhältnis nach allgemeiner Auffassung aber unberührt (§§ 78, 82 AktG).13 2. Beteiligung der Hauptversammlung bei Geschäftsführungsmaßnahmen Verweigert der Aufsichtsrat seine Zustimmung, so kann der Vorstand verlangen, dass die Hauptversammlung über die Zustimmung beschließt (§ 111 Abs. 4 S. 3 AktG). Der Beschluss bedarf einer Mehrheit von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen. Bei nichtbörsennotierten Gesellschaften soll der Beschluss nach h. M. nicht der notariellen Beurkundung bedürfen, vielmehr soll eine vom Vorsitzenden des Auf11 S. dazu Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416, 1417 f. 12 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 54; zur Corporate Social Responsibility s. in diesem Zusammenhang Fleischer, DB 2018, 2619, 2624; J. Vetter, ZGR 2018, 338, 345. 13 S.  Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555; Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  111 Rz. 75.

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sichtsrats zu unterzeichnende Niederschrift genügen (§ 130 Abs. 1 S. 3 AktG).14 Nach überwiegender Auffassung darf der Vorstand solche zustimmungsbedürftigen Maßnahmen der Hauptversammlung auch vorlegen, ohne den Aufsichtsrat vorher damit zu befassen.15 Jedenfalls scheidet, wie auch in der vorliegenden Entscheidung betont wird, eine Ersatzpflicht des Vorstands aus, wenn ein förmlicher Beschluss der Hauptversammlung ergangen ist (§ 93 Abs. 4 S. 1 AktG).16 Damit ist die Hauptversammlung in der Frage der Zustimmung zu Geschäftsführungsmaßnahmen dem Aufsichtsrat im Konfliktfall rangmäßig übergeordnet. 3. Argumentation des BGH Vor diesem Hintergrund erscheint die Argumentation des BGH zunächst überraschend, in der Übergehung des Aufsichtsrats einen so tiefgreifenden Eingriff in das Kompetenzgefüge der AG zu sehen, dass auch bei Einvernehmen des Alleinaktionärs der Einwand widersprüchlichen Verhaltens gegenüber dem Ersatzanspruch ausgeschlossen ist. Wenngleich die Begründung nicht auf gemeindliche Aktiengesellschaften beschränkt ist, mag der kommunale Hintergrund die Entscheidung begünstigt haben:17 Das Vertrauen des Vorstands, der eine der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfende Konzeptänderung bewusst geheim hält, weil er und der Oberbürgermeister das Vorhaben für politisch nicht durchsetzbar halten, erachtet der BGH nicht für schutzwürdig.18 In der Tat kann gerade im öffentlichen Sektor, wenn Belange der Allgemeinheit unmittelbar berührt sind, der Verdacht der „Klüngelei“ entstehen, wenn der Aufsichtsrat in einer sensiblen Angelegenheit entgegen Satzung und Gesetz nicht beteiligt wird. Die Betonung der gesetzlichen Zuständigkeit des Aufsichtsrats dient jedenfalls der Stärkung einer guten Corporate Governance.19

IV. Willensbildung des Alleinaktionärs Dessen ungeachtet hätte der Vorstand den Aufsichtsrat auch ohne eigenes Schadensrisiko übergehen können, wenn er die gesetzlichen Vorgaben für einen wirksamen Hauptversammlungsbeschluss beachtet hätte, die noch dazu bei der Ein-Personen-­ AG erheblich herabgesenkt sind. In Fall einer Vollversammlung und damit bei jeder 14 OLG Karlsruhe, NZG 2013, 1261, 1265; MüKo AktG/Kubis, 4.  Aufl. 2018, §  130 Rz.  28; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  130 Rz.  14b; aA aber Kölner Komm AktG/Noack/ Zetzsche, 3.  Aufl. 2011, §  130 Rz.  144; Spindler/Stilz/Wicke, AktG, 4.  Aufl. 2019, §  130 Rz. 38. 15 MüKo AktG/Kubis, 4. Aufl. 2018, § 119 Rz. 24, 26; Spindler/Stilz/Hoffmann, AktG, 4. Aufl. 2019, § 119 Rz. 14; Großkomm AktG/Mülbert, 5. Aufl. 2017, § 119 Rz. 194, 207; vgl. auch §  119 Abs.  2 AktG; aA Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721, 724; zweifelnd auch Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 119 Rz. 14; kritisch aus Praxissicht Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 206 f. 16 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 26. 17 S. auch Geißler, DZWiR 2018, 596; Müller, LMK 2018, 413368; Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 203 f. 18 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 37. 19 Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 205.

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Hauptversammlung einer Ein-Personen-AG unter Mitwirkung ihres Aktionärs befreit §§ 121 Abs. 6 AktG von sämtlichen Einberufungsförmlichkeiten der §§ 121 bis 128 AktG.20 Geht man von der h. M. im Schrifttum aus, bestehen bei der Ein-Personen-AG noch eine Reihe weiterer Erleichterungen. So bedarf es keines Teilnehmerverzeichnisses im Sinne des § 129 Abs. 1 S. 2 AktG,21 ein Versammlungsleiter ist nicht erforderlich,22 auch sind Angaben in der Versammlungsniederschrift über Art und Ergebnis der Abstimmung sowie Feststellungen des Vorsitzenden zur Beschlussfassung entbehrlich.23 Zwar sollen nach § 118 Abs. 3 AktG die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats an der Hauptversammlung teilnehmen, woraus nach allgemeiner Auffassung ein korrespondierendes Teilnahmerecht zu folgern ist, das auch bei einer Vollversammlung zu beachten ist. Eine Verletzung dieses Teilnahmerechts bleibt jedoch weitgehend sanktionslos, insbesondere sind Hauptversammlungsbeschlüsse wegen Abwesenheit des Aufsichtsrats nicht anfechtbar.24 Bei einer nichtbörsennotierten Ein-Personen-AG bedarf es für einen zustimmenden Hauptversammlungsbeschluss über Geschäftsführungsmaßnahmen auf der Grundlage der h.M. nur einer vom Alleinaktionär nach § 130 Abs. 1 S. 3 AktG unterzeichneten Niederschrift über seine Erklärungen,25 die, wie § 241 Nr. 2 AktG erkennen lässt, allerdings Wirksamkeitsvoraussetzung ist.26 Im Ergebnis hätte der Vorstand eine Ersatzpflicht daher auch ohne Einschaltung des Aufsichtsrats vermeiden können, hätte er sich das behauptete Einvernehmen vom Oberbürgermeister schriftlich geben lassen.27

20 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 121 Rz. 22 f. 21 Spindler/Stilz/Wicke, AktG, 4. Aufl. 2019, § 129 Rz. 19; Kölner Komm AktG/Noack/Zetzsche, 3. Aufl. 2011, § 129 Rz. 44; MüKo AktG/Kubis, 4. Aufl. 2018, § 129 Rz. 15; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 129 Rz. 5; LG Berlin, JW 1938, 1034; Knur, DNotZ 1938, 700, 712 f.; s. auch v. Falkenhausen, BB 1966, 337, 344; Bürgers/Körber/Reger, AktG, 4. Aufl. 2017, § 129 Rz. 16; aA K. Schmidt/Lutter/Ziemons, AktG, 3. Aufl. 2015, § 129 Rz. 17; dazu kritisch Terbrack, RNotZ 2012, 221, 223; Blasche, AG 2017, 16, 19 f. 22 Spindler/Stilz/Wicke, AktG, 4.  Aufl. 2019, Anh. §  119 Rz.  1; Hölters/Drinhausen, AktG, 3. Aufl. 2017, Anh. § 129 Rz. 1; MüKo AktG/Kubis, 4. Aufl. 2018, § 119 Rz. 105; Großkomm AktG/Mülbert, 5. Aufl. 2017, § 129 Rz. 107; Terbrack, RNotZ 2012, 221, 222; aA K. Schmidt/ Lutter/Ziemons, AktG, 3. Aufl. 2015, Anh. § 119 Rz. 48; Ott, RNotZ 2014, 423, 426; Blasche, AG 2017, 16; ferner OLG Köln, DNotZ 2008, 789 mit krit. Anm. Wicke bei Satzungsregelung zum Versammlungsleiter. 23 Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 121 Rz. 23; Ott, RNotZ 2014, 423, 427; ferner Spindler/ Stilz/Wicke, § 130 Rz. 52, 58; skeptisch Polte/Giangreco, AG 2014, 729, 735. 24 Zöllter-Petzoldt, NZG 2013, 607, 610; Hüffer/Koch, AktG, 13.  Aufl. 2018, §  121 Rz.  23; Spindler/Stilz/Hoffmann, AktG, 4. Aufl. 2019, § 118 Rz. 20 f.; MüKo AktG/Kubis, 4. Aufl. 2018, § 118 Rz. 102. 25 S. auch Wicke, DNotZ 2008, 793. 26 Vgl. Spindler/Stilz/Drescher, AktG, 4. Aufl. 2019, § 241 Rz. 142. 27 So auch Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 207.

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V. Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens 1. Kein besonderer Sanktionszweck bei Kompetenzverstößen Ein wichtiger Focus der Entscheidung liegt darin, dass der BGH entgegen der wohl herrschenden Auffassung im Schrifttum den Einwand des pflichtgemäßen Alternativ­ verhaltens zugelassen hat. Bei diesem beruft sich der Schädiger darauf, er habe sich zwar rechtswidrig verhalten, hätte den Schaden aber entweder durch normgerechtes Verhalten herbeiführen dürfen bzw. dieser wäre auch bei ordnungsgemäßem Verhalten eingetreten.28 Die Begründung des II. Zivilsenats verdient uneingeschränkt Zustimmung, dass der Schutzzweck des § 93 Abs. 2 AktG darin liegt, Schäden der Gesellschaft auszugleichen bzw. bereits der Entstehung solcher Schäden durch eine Steuerung des Verhaltens der Vorstandsmitglieder vorzubeugen, und dass es nicht angeht, bei Verstößen gegen Kompetenz-, Organisations- oder Verfahrensregeln zusätzlich einen besonderen Sanktionszweck bzw. Strafschadensersatz zu konstruieren.29 Damit werden konsequent die Grundsätze des allgemeinen Schadensrechts auf die Vorstandshaftung angewendet, deren Zweck in einer Kompensations- und Präventions-, nicht aber in einer Vergeltungsfunktion liegt.30 2. Darlegungs- und Beweislast Für den Vorstand bleibt im Hinblick auf den Einwand pflichtgemäßen Alternativ­ verhaltens allerdings die praktische Erschwernis der Darlegungs- und Beweislast.31 Damit eine Entlastung gelingt, muss er den sicheren Nachweis erbringen, dass der Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre. Die bloße Möglichkeit und selbst die Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre, genügen insoweit nicht.32 Angesichts dieser Beweislastverteilung verliert die Argumentation der Gegenmeinung in der Literatur an Gewicht, dass bei Zulassung des Einwands pflichtgemäßen Alternativverhaltens die Missachtung des Zustimmungsvorbehalts ohne Sanktion bliebe.33 Wie der II. Zivilsenat zutreffend ausführt, ist die Sanktionierung von Fehlverhalten des Vorstands im Übrigen Gegenstand der Personalkompetenz des Aufsichtsrats. Zu denken ist insoweit vor allem an eine vorzeitige Abberufung aus wichtigem Grund sowie eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags (§§ 84 Abs. 3 AktG, 626 BGB).34

28 S. MüKo BGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rz. 217; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb v § 249 Rz. 64. 29 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 44. 30 Fleischer, DB 2018, 2619, 2620. 31 Haarmann, BB 2018, 2515; Than, WuB 2019, 11; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, Vorb v § 249 Rz. 66. 32 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 45 mwN; NZG 2013, 708 Rz. 36; Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5. Aufl., § 93 Rz. 415, 441; Born in Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, Rz. 14.17. 33 Zutreffend Müller, LMK 2018, 413368. 34 Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416, 1417; Fleischer, DB 2018, 2619, 2623.

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3. Rechtmäßiges Alternativverhalten bei nachgewiesener HV-Zustimmung? Nicht nachvollziehbar ist allerdings, warum der BGH nicht mit gleicher Begründung auch eine hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung des Alleinaktionärs als mögliche Entlastung berücksichtigt.35 Wie dargelegt, hätte ein förmlicher Hauptversammlungsbeschluss die Haftung entfallen lassen (§ 93 Abs. 4 S. 1 AktG). Aus schadensrechtlicher Perspektive wäre bei sicherem Nachweis eines zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens in gleicher Weise erheblich gewesen. Die mögliche Sorge, dass auf diesem Wege die formalen Anforderungen für Hauptversammlungsbeschlüsse umgangen werden könnten,36 erscheint angesichts der Beweislastverteilung zu Lasten des Klägers nicht begründet. Zudem würde ein Vorstand, der allein mit hinreichend nachweisbarer Einwilligung des Mehrheitsaktionärs Aufsichtsrat und Hauptversammlung bewusst übergeht, nach wie vor pflichtwidrig handeln mit den genannten potentiellen personellen Konsequenzen.37

VI. Zur Gestaltung von Zustimmungsvorbehalten 1. Vorabzustimmung Die Zulassung des Einwands pflichtgemäßen Alternativverhaltens hat Bedeutung auch für die Gestaltung von Zustimmungsvorbehalten in der Satzung, einer Geschäftsordnung oder durch Beschluss des Aufsichtsrats. Zustimmung verdient zunächst die Argumentation des BGH und der h. M.,38 dass Zustimmungsvorbehalte, zumindest dann, wenn die Satzung zum Zeitpunkt der Zustimmungserteilung schweigt, als Instrument vorbeugender Kontrolle im Grundsatz eine vorab zu erteilende Einwilligung des Aufsichtsrats verlangen. Das abweichende Begriffsverständnis der §§  183, 184 BGB, wonach die Zustimmung sowohl die vorherige Einwilligung als auch die nachträgliche Genehmigung umfasst, ist angesichts des unterschiedlichen Regelungsgehalts der Vorschriften des BGB nicht übertragbar: Dort bleibt das Geschäft bis zur Erteilung der Zustimmung unwirksam, wohingegen es sich bei einem Zustimmungserfordernis nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG nur um eine interne Regelung der Gesellschaft handelt.39 Angesichts des unterschiedlichen Sprachgebrauchs in BGB und AktG empfiehlt es sich allerdings, bei der Formulierung eines Zustimmungsvorbe35 S. im Ansatz auch Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555, 3557. 36 Vgl. zu diesem Argument MüKo AktG/Spindler, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 269. 37 S. unter V. 2.; ferner Schilha/Theusinger, AG 2019, 26, 28. 38 Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 728; Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rz. 75; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 46; Lutter/Krieger/ Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rz. 124; Wachter/Schick, AktG, 2. Aufl. 2014, § 111 Rz. 14; Bürgers/Körber/Israel, AktG, 4. Aufl., § 111 Rz. 25; Heidel/Breuer/ Fraune, AktG, 4.  Aufl. 2014, §  111 Rz.  29; Henssler/Strohn/Henssler, Gesellschaftsrecht, 4.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  22; aA Hoffmann/Preuß, Der Aufsichtsrat, 5.  Aufl. 2003, Rz. 302. 39 BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 17; NJW 2012, 1718 Rz. 20.

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halts ausdrücklich klarzustellen, dass eine vorherige Zustimmung (Einwilligung) verlangt wird. 40 2. Nachträgliche Zustimmung und Gremienvorbehalt Umgekehrt bestehen entgegen einigen Stimmen in der Literatur keine Bedenken dagegen, zumindest für einzelne Fälle auch eine nachträgliche Zustimmung genügen zu lassen.41 Da es im pflichtgemäßen Ermessen des Satzungsgebers bzw. Aufsichtsrats steht, für bestimmte Gegenstände gar keinen Zustimmungsvorbehalt vorzusehen,42 kann es nicht unzulässig sein, dem Aufsichtsrat als mildere Form der Kontrolle eine nachgelagerte Mitsprachemöglichkeit zu gewähren. Dafür spricht gerade auch die Zulassung des Einwands pflichtgemäßen Alternativverhaltens durch den BGH im vorliegenden Fall, der bei einer nach Vertragsschluss tatsächlich erteilten Zustimmung des Aufsichtsrats begründet gewesen wäre. Ebenso dürfte eine Abberufung des Vorstands aus wichtigem Grund wegen einer Kompetenzverletzung regelmäßig ausscheiden, wenn der Aufsichtsrat das Verhalten nachträglich genehmigt. Fehlt es an einer solchen (abschließenden) Bestimmung in der Satzung, kann eine entsprechende Regelung auch noch durch den Aufsichtsrat getroffen werden.43 Unter normalen Umständen wird es sich für den Vorstand allerdings kaum empfehlen, sich auf eine (nachträgliche) Genehmigung zu verlassen, vor allem wenn die ernste Möglichkeit einer Verweigerung besteht, und die Maßnahme nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Stattdessen erscheint es stets vorzugswürdig, den Geschäftsabschluss, wie in der Praxis häufig anzutreffen, ausdrücklich unter einen Gremienvorbehalt zu stellen.44 3. Sonderregelung für Eilfälle In der Literatur wird vertreten, dass auch ohne entsprechende Regelung bei besonderen Gründen und insbesondere bei Eilbedürftigkeit vom Erfordernis vorheriger Einholung der Zustimmung durch den Vorstand abgewichen werden kann.45 Nach hier 40 Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 729; Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rz. 76; Fleischer, DB 2018, 2619, 2621; Semler/v. Schenck, Der Aufsichtsrat, 2015, § 111 Rz. 567. 41 Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5.  Aufl. 2019, §  111 Rz.  729; Kölner Komm AktG/Cahn, 3.  Aufl. 2013, §  111 Rz.  106; Seebach, AG 2012, 70, 75; einschränkend (nur in Eilfällen) MüKo AktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 141; aA K. Schmidt/Lutter/Drygala, 3. Aufl. 2015, § 111 Rz. 61. 42 Zum pflichtgemäßen Ermessen in diesem Zusammenhang s. etwa MüKo AktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 122; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 111 Rz. 36; Weißhaupt, ZIP 2019, 202, 205. 43 Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5.  Aufl. 2019, §  111 Rz.  728; Kölner Komm AktG/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 111 Rz. 106. 44 Dazu Weißhaupt, ZIP 2019, 202; 211; ferner MüKo AktG/Habersack, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 147. 45 So Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn, AktG, 3. Aufl. 2017, § 111 Rz. 80; Großkomm/Hopt/ Roth, AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 728; Kölner Komm AktG/Cahn, 3. Aufl. 2013, § 111 Rz.  106; Henssler/Strohn/Henssler, Gesellschaftsrecht, 4.  Aufl. 2019, §  111 AktG Rz.  22;

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Hartmut Wicke

vertretener Auffassung kommt dies nur in Betracht, wenn der Vorstand mit einer Zustimmung rechnen konnte, was im Regelfall zumindest durch Nachfrage beim Aufsichtsratsvorsitzenden zu ermitteln ist.46 Eine endgültige Zustimmung durch spätere Genehmigung bleibt auch in einem solchen Fall dem Plenum oder einem Ausschuss vorbehalten.47 Es empfiehlt sich, diesbezüglich eine klarstellende Regelung in die Satzung oder Geschäftsordnung aufzunehmen. Angesichts der Möglichkeit einer Delegation an einen Ausschuss, der zügigen Beschlussfassung durch moderne Kommunikationsmittel (§ 108 Abs. 4 AktG) und der alternativen Option des Vorstands, den Geschäftsabschluss unter den Vorbehalt der Zustimmung des Aufsichtsrats zu stellen, dürften solche Fälle in der Praxis nur höchst selten vorkommen.48 Nicht ausgeschlossen, wenngleich nicht empfehlenswert, wäre umgekehrt eine Regelung dergestalt, dass sogar in Notsituationen ein selbständiges Handeln des Vorstands untersagt bleibt.49

VII. Seitenblick auf das GmbH-Recht In den Entscheidungsgründen wird wiederholt auf die Rechtsprechung zum Recht der GmbH verwiesen, die abschließend kurz in den Blick genommen werden soll. So hat der BGH zur Anwendung des § 111 Abs. 4 AktG auch für den Aufsichtsrat einer GmbH entschieden, dass es sich um ein Instrument der vorbeugenden Kontrolle handelt,50 das grundsätzlich nur das Innenverhältnis der Gesellschaft betrifft.51 Entsprechende Überlegungen dürften auch für Zustimmungsvorbehalte zugunsten der Gesellschafterversammlung gelten, die bei der GmbH weitaus häufiger anzutreffen sind. Der Gestaltungsrahmen ist angesichts der größeren Vertragsfreiheit im GmbH-Recht weiter als bei der AG, so dass grundsätzlich etwa auch ein Zustimmungsvorbehalt zugunsten einzelner Personen denkbar erscheint.52 Zudem ist zu beachten, dass nach der zutreffenden Auffassung von Eberhard Vetter und der h. M. das bei der GmbH bestehende Weisungsrecht der Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern auch MHdB AG/Hoffmann-Becking, 4. Aufl. 2015, § 29 Rz. 58; Fonk, ZGR 2006, 841, 871; kritisch Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4. Aufl. 2019, § 111 Rz. 76; Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, §  111 Rz.  47; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6.  Aufl. 2014, Rz. 124 (vorherige Zustimmung muss zumindest versucht worden sein); Götz, ZGR 1990, 633, 643 f. (nur, wenn Verweigerung der Zustimmung pflichtwidrig wäre); MüKo AktG/ Habersack, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 141 (nur bei entsprechender Satzungsregelung); ablehnend K. Schmidt/Lutter/Drygala, 3. Aufl. 2015, § 111 Rz. 61; offenlassend BGH, NJW 2018, 3574 Rz. 18. 46 So auch Grigoleit/Tomasic, AktG, 2012, § 111 Rz. 57. 47 Großkomm/Hopt/Roth, AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 729. 48 Zutreffend Grigoleit/Tomasic, AktG, 2012, §  111 Rz.  57; ferner Marsch-Barner/Schäfer/​ E. Vetter, Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, Rz. 26.37; Brouwer, Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats im Aktien- und GmbH-Recht, 2008, 176 f.; Schilha/Theusinger, AG 2019, 26. 49 Fleischer, DB 2018, 2619, 2622; Semler/v. Schenck, Der Aufsichtsrat, 2015, § 111 Rz. 564. 50 BGH, NZG 2007, 187 Rz. 9. 51 BGH, NJW 2012, 1718 Rz. 20. 52 Vgl. Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 37 Rz. 7.

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Kompetenzgefüge der AG und Vorstandshaftung

im Fall der Mitbestimmung uneingeschränkt erhalten bleibt.53 Bei Kompetenzverstößen in der GmbH hat der BGH den Einwand pflichtgemäßen Alternativverhaltens bereits wiederholt zugelassen.54 Für einen Haftungsausschluss der Geschäftsführer genügt bei der GmbH im Unterschied zur AG nach der Rechtsprechung das formlose Einverständnis sämtlicher Gesellschafter bzw. des Alleingesellschafters, auch ohne förmlichen Beschluss.55

VIII. Schluss Kompetenzverstöße können Schadensersatzverpflichtungen des Vorstands begründen. Bei Bestehen eines Zustimmungsvorbehalts hat der Vorstand vor Geschäftsabschluss einen ausdrücklichen Beschluss des Aufsichtsrats bzw. eines zuständigen ­Ausschusses einzuholen. Diesem Erfordernis kann zwanglos auch durch einen Gremienvorbehalt Rechnung getragen werden. Die Zustimmung des Aufsichtsrats kann durch eine Entscheidung der Hauptversammlung ersetzt werden, die aber im förmlichen Beschlussweg zu treffen ist. Für Eilfälle sollte eine Ausnahmeregelung in die Satzung aufgenommen werden, wonach das Einvernehmen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden herzustellen ist, und die Zustimmung des Gesamtgremiums nachgeholt werden kann, wenn sie im Vorfeld nicht zu erlangen ist bzw. ein Zustimmungsvorbehalt nicht vereinbart werden kann. Unter dem Gesichtspunkt der schadensrechtlichen Präventions- und Kompensationsfunktion sollte der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens – über die Grundsätze der Schloss-Eller-Entscheidung hinaus – auch im Hinblick auf eine hypothetische Zustimmung der Hauptversammlung zugelassen werden. Bei der GmbH genügt generell das formlose Einverständnis sämtlicher Gesellschafter, um eine Ersatzpflicht des Geschäftsführers auszuschließen.

53 E. Vetter, GmbHR 2011, 449, 457; Michalski/Giedinghagen, GmbHG, 3.  Aufl. 2017, §  52 Rz.  233; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, 21.  Aufl. 2017, §  52 Rz.  124; Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 52 Rz. 15. 54 BGH, NJW 2007, 917 Rz. 12; NZG 2008, 783 Rz. 19; ferner NZG, 2013, 1021 Rz. 32. 55 BGH, NJW-RR 2003, 895; MüKo GmbHG/Fleischer, 3.  Aufl. 2019, §  43 Rz.  279; Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 43 Rz. 15.

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Veröffentlichungen Eberhard Vetter Dissertation Beiträge zur inneren Ordnung des Aufsichtsrates der mitbestimmten Aktiengesellschaft, Europäische Hochschulschriften Band 281, 1982

Herausgeber Happ/Groß/Möhrle/Vetter (Hrsg.), Happ, Aktienrecht, Band I, 5. Aufl., 2019 Happ/Groß/Möhrle/Vetter (Hrsg.), Happ, Aktienrecht, Band II, 5. Aufl., 2019

Buchbeiträge in Sammelwerken und Handbüchern   1. Aspekte der Risikodurchstellung zwischen Hauptvertrag und Subunternehmervertrag im internationalen Anlagengeschäft, in: Nicklisch (Hrsg.), Der Subun­ ternehmer bei Bau- und Anlagenverträgen im In- und Auslandsgeschäft, 1986, S. 77-91  2. Rechtsfragen der inneren Ordnung des Konsortiums im Industrieanlagengeschäft, in: Nicklisch (Hrsg.), Konsortien und Joint Ventures bei Infrastrukturprojekten, 1998, S. 155-185  3. Risikoträchtige Vertragsklauseln in Konsortialverträgen, in: Nicklisch (Hrsg.), Konsortien und Joint Ventures bei Infrastrukturprojekten, 1998, S. 199-201   4. Aufsichtsrat (§ 23-30), in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2005, S. 842-1075   5. Organisation (Geschäftsverteilung und Delegation) und Überwachung (§ 17), in: Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2007, S. 453-493   6. Compliance in der Unternehmerpraxis, in: Compliance in der Unternehmerpraxis, Wecker/van Laak (Hrsg.), 2008, S. 29-42   7. Aufsichtsrat (§ 23-30), in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 2. Aufl. 2009, S. 849-1031   8. Compliance in der Unternehmerpraxis, in: Compliance in der Unternehmerpraxis, Wecker/van Laak (Hrsg.), 2. Aufl. 2009, S. 33-47   9. Organisation (Geschäftsverteilung und Delegation) und Überwachung (§ 18), in: Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 2.  Aufl. 2010, S. 501-539 10. Compliance im Unternehmen, in: Compliance in der Unternehmerpraxis, Wecker/Ohl (Hrsg.), 3. Aufl. 2013, S. 1-19 11. Aufsichtsrat (§ 23-30), in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 3. Aufl. 2014, S. 1007-1199 919

Veröffentlichungen Eberhard Vetter

12. Bearbeitung des Abschnitts 9: Aufsichtsrat, in: Happ/Groß (Hrsg.), Happ, Aktienrecht, 4. Aufl. 2014, S. 919-1095 13. Kosten der Aufsichtsratstätigkeit und Budgetrecht des Aufsichtsrats, in: VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2014, 2015, S. 115-142 14. Der Aufsichtsrat im Wandel zwischen Markterwartung und gesetzlichen Anforderungen, in: Schoppen (Hrsg.), Corporate Governance, 2015, S. 263-276 15. Corporate Governance und Mittelstand, in: Fahrenschon/Kirchhoff/Simmert (Hrsg.), Mittelstand – Motor und Zukunft der deutschen Wirtschaft, 2015, S. 127143 16. Der Aufsichtsrat – Spagat zwischen gesetzlichen Vorgaben und wachsenden He­ rausforderungen, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter (Hrsg.), 50 Jahre Aktiengesetz, 2016, S. 103-153 17. Der Aufsichtsrat im Rechtsvergleich Österreich/Deutschland, in: Kalss/Kunz (Hrsg.), Handbuch für den Aufsichtsrat, 2. Aufl. 2016, S. 1671-1714 18. Organisation (Geschäftsverteilung und Delegation) und Überwachung (§ 22), in: Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3.  Aufl. 2017, S. 623-668 19. Aufsichtsrat (§ 23-30), in: Marsch-Barner/Schäfer (Hrsg.), Handbuch börsennotierte AG, 4. Aufl. 2018, S. 967-1156 20. Praktische Fragen der Korrektur der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG, in: Priester/Heppe/Westermann (Hrsg.), Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht, 10 Jahre Österberg-Seminare, 2018, S. 243-256 (gemeinsam mit Marc Peters) 21. Bearbeitung des Abschnitts 9: Aufsichtsrat, in: Happ/Groß/Möhrle/Vetter (Hrsg.), Happ, Aktienrecht, Band I, 5. Aufl. 2019, S. 959-1139

Kommentierungen  1. Kommentierung der §§  23, 150-176, 256 und 257 AktG, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 2011  2. Kommentierung der §§  23, 150-176, 256 und 257 AktG, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2014  3. Kommentierung der §§  23, 150-176, 256 und 257 AktG, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016   4. Kommentierung der §§  170-176 AktG, in: Hirte/Mülbert/Roth (Hrsg.), Großkommentar AktG, 5. Aufl. 2018  5. Kommentierung der §§  23, 150-176, 256 und 257 AktG, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019

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Veröffentlichungen Eberhard Vetter

Festschriften   1. Individuelle Rechtsverfolgung versus Solidarität im Industrieanlagen-Konsortium, in: Festschrift für Walter Jagenburg, 2002, S. 913-932   2. Abfindungswertbezogene Informationsmängel und Rechtsschutz, in: Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 1323-1347   3. Auskünfte des Aufsichtsrats in der Hauptversammlung – Gedanken de lege ferenda, Festschrift für Harm Peter Westermann, 2008. S. 1589-1604   4. Gruppenvorbesprechungen im Aufsichtsrat  – Ausdruck einer Good Corporate Governance?, Festschrift für Uwe Hüffer, 2009, S. 1015-1029   5. Zur Compliance-Verantwortung des Vorstands und zu den Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats, Festschrift für Friedrich Graf von Westphalen, 2010, S. 719739   6. Interessenkonflikte im Aufsichtsrat der Zielgesellschaft bei der Abgabe der Stellungnahme nach § 27 WpÜG, Festschrift für Klaus J. Hopt, 2010, S. 2657-2677   7. Neue Vorgaben für die Wahl des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 5 AktG, Festschrift für Georg Maier-Reimer, 2010, S. 795-818   8. Aufsichtsratswahlen durch die Hauptversammlung und § 161 AktG, Festschrift für Uwe H. Schneider, 2011, S. 1345-1370   9. Die Vertretung der AG gegenüber den Mitgliedern des Vorstands, Festschrift für Günter H. Roth, 2011, S. 855-870 10. Zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrates in eigenen Angelegenheiten, Liber Amicorum Martin Winter, 2011, S. 705-733 11. Anmerkungen zur Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern, Festschrift für Michael Hoffmann-Becking, 2013, S. 1297-1316 12. CSR-Berichterstattung nach §§ 289b ff. und 315b ff. HGB und die Verantwortung des Aufsichtsrats, Festschrift für Reinhard Marsch-Barner, 2018, S. 251-266 13. Unternehmensexterne Versammlungsleiter der Hauptversammlung, Festschrift für Alfred Bergmann, 2018, S. 799-825 14. Der Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG und die CSR-Berichterstattung, Festschrift für N. N. im Erscheinen

Aufsätze in Zeitschriften   1. Gefahrtragung beim grenzüberschreitenden Industrieanlagen-Vertrag, Anmerkung zu BGH RIW 1982, 441 ff., RIW 1984, 170-176   2. Subunternehmerverträge im internationalen Industrieanlagengeschäft, Aspekte der Risikodurchstellung und Risikoverlagerung, RIW 1986, 81-91   3. Akzessorische Anknüpfung von Subunternehmerverträgen bei internationalen Bau- und Industrieanlagen-Projekten?, NJW 1987, 2124-2128   4. Kollisionsrechtliche Fragen bei grenzüberschreitenden Subunternehmerverträgen im Industrieanlagenbau, ZvglRW 87 (1988), 248-276 921

Veröffentlichungen Eberhard Vetter

  5. Stillschweigender Grundsatzbeschluss der Hauptversammlung zur Bewilligung der Aufsichtsratsvergütung?, BB 1989, 442-443   6. Die Zuständigkeit der Hauptversammlung beim Abschluss eines Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrages mit einer GmbH, BB 1989, 2125-2130   7. Die Teilnahme ehemaliger Vorstandsmitglieder an der Hauptversammlung, AG 1991, 171-174   8. Die Geltung von § 293 Abs. 2 AktG beim Unternehmensvertrag zwischen herrschender AG und abhängiger GmbH, Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 30.1.1992, AG 1993, 168-173  9. Die Schiedsgerichtsbarkeit der American Arbitration Association, RIW 1993, 191-198 10. Eintragung des Unternehmensvertrages im Handelsregister des herrschenden Unternehmens?, AG 1994, 110-115 11. Zur Aufhebung eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages im GmbH-­ Recht, ZIP 1995, 345-355 12. Rechtsprobleme der Organisation des Konsortiums bei Großprojekten, ZIP 2000, 1041-1051 13. Aktienrechtliche Probleme der D & O Versicherung, AG 2000, 453-458 14. Die Entschädigung der Minderheitsaktionäre im Vertragskonzern erneut vor dem Bundesverfassungsgericht, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 8.9.1999 – 1 BvR 301/89, ZIP 1999, 1804 (Hartmann & Braun AG), ZIP 2000, 561-568 15. Squeeze-out in Deutschland, Anmerkungen zum Diskussionsentwurf eines gesetzlichen Ausschlusses von Minderheitsaktionären, ZIP 2000, 1817-1824 16. Squeeze-out nur durch Hauptsversammlungsbeschluss? DB 2001, 743-747 17. Börsenkurs und Unternehmensbewertung, Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 12.03.2001, DB 2001, 969 (DAT/Altana), DB 2001, 1347-1353 18. Squeeze-out Der Ausschluss der Minderheitsaktionäre aus der Aktiengesellschaft nach den §§ 327 a-f AktG, AG 2002, 176-190 19. Die Verzinsung der Barabfindung nach § 305 Abs. 3 Satz 3 AktG und die Ausgleichszahlung nach § 304 AktG, AG 2002, 383-388 20. Die Teilnahme des Vorstandes an den Sitzungen des Aufsichtsrates und die Corporate Governance, VersR, 2002, 951-953 21. Deutscher Corporate Governance Kodex, DNotZ 2003, 748-764 22. Stock Options für Aufsichtsräte – ein Widerspruch? Anmerkung zu BGH vom 16.2.2004, AG 2004, 234-238 23. Rechtsprobleme des externen Ratings, WM 2004, 1701-1712 24. Die Verantwortung und Haftung des überstimmten Aufsichtsratsmitglieds, DB 2004, 2623-2628 25. Abberufung eines gerichtlich bestellten Aufsichtsratsmitglieds ohne wichtigen Grund? – AG Charlottenburg vom 5.11.2004, DB 2005, 875-878 26. Update des Deutschen Corporate Governance Kodex, BB 2005, 1689-1695 922

Veröffentlichungen Eberhard Vetter

27. Handgeld für in der Hauptversammlung präsente Aktionäre?, AG 2006, 32-35 28. Die Berichterstattung des Aufsichtsrates an die Hauptversammlung als Bestandteil seiner Überwachungsaufgabe, ZIP 2006, 257-265 29. Beratungsverträge mit Aufsichtsratsmitgliedern, Anmerkung zu OLG Frankfurt vom 21.9.2005, AG 2006, 173-180 30. Widerspruch zu Protokoll der Hauptversammlung erst zur Mitternachtsstund? Anmerkung zu OLG Jena vom 22.3.2006, DB 2006, 2278-2281 31. Interessenkonflikte im Konzern – vergleichende Betrachtungen zum faktischen Konzern und zum Vertragskonzern, ZHR, 171 (2007), 342-375 32. Die Änderungen 2007 des Deutschen Corporate Governance Kodex, DB 2007, 2278-2281 33. Aufsichtsratsvergütung und Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern, ZIP 2008, 1-10 34. Der Deutsche Corporate Governance Kodex nur ein zahnloser Tiger?, NZG 2008, 121-126 35. Die angefochtene Aufsichtsratswahl (gemeinsam mit Hendrik van Laak), ZIP 2008, 1806-1813 36. Begrenzung der Vorstandsbezüge durch Hauptversammlungsbeschluss?, ZIP 2009, 1307-1309 37. Der Tiger zeigt die Zähne  – Anmerkungen zum Urteil des BGH im Fall Leo Kirch/Deutsche Bank, NZG 2009, 561-567 38. Der kraftlose Hauptversammlungsbeschluss über das Vorstandsvergütungssystem nach § 120 Abs. 4 AktG, ZIP 2009, 2136-2143 39. Der Prüfungsausschuss in der AG nach dem BilMoG, ZGR, 2010, 751-793 40. Corporate Governance in der GmbH – Aufgaben des Aufsichtsrats der GmbH, GmbHR 2011, 449-459 41. Zur Haftung im fakultativen Aufsichtsrat der GmbH, GmbHR 2012, 181-188 42. Anfechtung der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, Bestandsschutzinteresse der AG und die Verantwortung der Verwaltung, ZIP 2012, 701-711 43. Geschäfte der AG mit ihren Aktionären und mit dem Vorstand nahestehenden Unternehmen, Der Konzern 2012, 437-444 44. Kapitalmarktkommunikation, Kapitalmarktdruck und Corporate Governance – wider die Erosion der aktienrechtlichen Kompetenzordnung, AG 2014, 387-393 45. Spagat zwischen Freiheit und Verantwortung: Reform der Organhaftung? Materielles Haftungsrecht und seine Durchsetzung im privaten und öffentlichen Unternehmen, Anwaltsblatt 2014, 582-587 46. Aktienrechtliche Organhaftung und Satzungsautonomie, Überlegungen de lege ferenda, NZG 2014, 921-926 47. Aufsichtsratsvergütung und gewandelte Rolle des Aufsichtsrats, Der Aufsichtsrat 2015, 85-86

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Veröffentlichungen Eberhard Vetter

48. Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern, aktienrechtliche Kompetenzverteilung und Exkulpation des Vorstands bei rechtlicher Beratung, NZG 2015, 889-895 49. Shareholders Communication – Wer spricht mit den institutionellen Investoren?, AG 2016, 873-877 50. Unternehmerische Entscheidungen und Untreue – ein schwieriges Verhältnis – Anmerkung zum Urteil des BGH vom 12.10.2016 (gemeinsam mit Marc Peters), Der Konzern 2017, S. 269-273 51. Praktische Fragen der gerichtlichen Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 AktG, DB 2018, 3104-3108

Entscheidungs-Rezensionen   1. Anmerkung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 1999 (1 BvR 1613/94), AG 1999, 569-572   2. Kurzkommentar zum Beschluss des LG München I vom 27. März 2000 (5 HKO 19156/98), § 15 UmwG 1/00, EWiR 2000, 595-596   3. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 24. Juli 2000 (II ZR 168/99), § 20 AktG 1/2000, EWiR 2000, 989-990   4. Kurzkommentar zum Beschluss des OLG Düsseldorf vom 21.  Dezember 2000 (19 W 5/00 AktE), § 306 AktG 3/01, EWiR 2001, 247-248   5. Kurzkommentar zum Beschluss des BayObLG vom 19.  Oktober 2001 (3Z AR 36/01), § 306 UmwG 2/02, EWiR 2002, 827-828   6. Kurzkommentar zum Beschluss des BayObLG vom 5. Februar 2002 (3Z AR 2/02), § 306 UmwG 1/02, EWiR 2002, 825-826   7. Kurzkommentar zum Beschluss des LG Frankfurt vom 14.  Mai 2003 (3-13 O 22/03), § 327 e AktG 1/03, EWiR 2003, 1063-1064   8. Kurzkommentar zum Beschluss des OLG Düsseldorf vom 16. Januar 2004 (I-3 Wx 290/03 AktE), § 122 AktG 1/04, EWiR 2004, 261-262   9. Anmerkung zum Urteil des LG München I vom 22. Dezember 2005 – 5HK O 9885/05, ZIP 2006, 952-953 10. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 20. September 2010 (II ZR 78/09), § 52 GmbHG 1/10, EWiR 2010, 713-714 11. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 20. September 2011 (II ZR 234/09), § 93 AktG 2/11, EWiR 2011, 793-794 12. Kurzkommentar zum Beschluss des BGH vom 30. Januar 2012 (II ZB 20/11), § 7 MitbestG 1/12, EWiR 2012, 219-220 13. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 19. Februar 2013 (II ZR 90/11), § 93 AktG, 2/13, EWiR 2013, 261-262 14. Kurzkommentar zum Beschluss des BGH vom 5. November 2013 (II ZB 28/12), § 131 AktG, 1/14, EWiR 2014, 37-38 15. Kurzkommentar zum Urteil des OLG München vom 5. März 2015 (23 U 2384/14), § 112 AktG, 1/15, EWiR 2015, 271-272 924

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16. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 16. Juni 2015 – II ZR 384/13, IWRZ 2015, 29-30 17. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 26. April 2016 – XI ZR 108/15, EWiR 2016, 423-424 18. Kurzkommentar zum Urteil des BGH vom 18. September 2018 – II ZR 152/17, EWiR 2019, 69-70

Buchbesprechungen (Auswahl)  1. P. Ulmer, Die Anpassung der Satzung mitbestimmter Aktiengesellschaften an das MitbestG 1976, AG 1980, 168  2. W. Mosch, Patronatserklärungen deutscher Konzernmuttergesellschaften und ihre Bedeutung für die Rechnungslegung, AG 1980, 260  3. W. Treumann/M. Peltzer, US-Amerikanisches Wirtschaftsrecht  – US Business Law, RIW 1980, 530.  4. D. Geitner/P. Pulte, Entscheidungen zum Mitbestimmungsgesetz, AG 1980, 266  5. K. H. Lehmann/Th. Heinsius, Aktienrecht und Mitbestimmung, 3.  Aufl., 1976, ZHR 145 (1981), 83-85  6. Ch. Reithmann, Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl., 1980, RIW 1981, 575-576  7. O. Sandrock, Handbuch der Internationalen Vertragsgestaltung, BB 1981, 744  8. P. Joussen, Der Industrieanlagenvertrag, BB 1981, 1588  9. W. Schurtmann/O. Walter, Der amerikanische Zivilprozess, RIW 1981, 651-652 10. I. Dünnweber, Vertrag zur Erstellung einer schlüsselfertigen Industrieanlage im internationalen Wirtschaftsverkehr, ZHR 149 (1985), 344-346 11. Ch. Ebenroth, Code of Conduct, NJW 1987, 3064 12. F. Nicklisch (Hrsg.), Der komplexe Langzeitvertrag, RIW 1988, 329-330 13. A. Schlüter, Management- und Consulting-Verträge, NJW 1989, 646 14. J. Nielsen, Neue Richtlinien für Dokumenten-Akkreditive, ZHR 158 (1994), 540542 15. A. von Oppen, Der internationale Industrieanlagenvertrag, ZHR 165 (2001), 399402 16. U. R. Siebel, Handbuch Projekte und Projektfinanzierung, ZHR 165 (2001), 623624 17. S.  Gutheil, Die Auswirkungen von Umwandlungen auf Unternehmensverträge nach §§ 291, 292 AktG und die Rechte außenstehender Aktionäre, AG 2002, 696 18. Th. Raiser, Kommentar zum Mitbestimmungsgesetz, 4. Aufl., AG 2003, 464 19. H. Hirte/Ch. von Bülow (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpÜG, AG 2003, 535 20. V. Emmerich/M. Habersack, Aktien- und Konzernrecht, 3. Aufl., AG 2004, 219 21. J. Semler/R. Volhard (Hrsg.), Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 2. Aufl., ZHR 168 (2004), 241-245 925

Veröffentlichungen Eberhard Vetter

22. B. Kropff/J. Semler (Hrsg.), Münchener Kommentar zum AktG, Band 3, 2. Aufl., GmbHR 2004, 526-527 23. J. Semler/K. von Schenck (Hrsg.), Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl., GmbHR 2004, 754-755 24. Th. Abeltshauser/P. Buck (Hrsg.), Corporate Governance, AG 2005, 319-320 25. H. Fleischer (Hrsg.), Handbuch des Vorstandsrechts, AG 2007, 878-879 26. G. Spindler/E. Stilz (Hrsg.), Aktiengesetz, AG 2008, 303-304 27. Ph. Hanfland, Haftungsrisiken im Zusammenhang mit §  161 AktG und dem Deutschten Corporate Governance Kodex, ZHR 175 (2011), S. 732-736 28. M. Schatz, Der Missbrauch der Anfechtungsbefugnis durch den Aktionär und die Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts, 2012, NZG 2012, 773-774 29. Kölner Kommentar AktG, Band 2/2, §§ 95-117, 3. Aufl., AG 2014, 175-176 30. H. Fleischer/R. Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, 2015 (gemeinsam mit Marc Peters), AG 2015, 720 31. G. Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, AG 2017, 288

Sonstiges (Zeitungs-Artikel, Glossen, etc.)   1. Bloße Stimmenthaltung schützt Aufsichtsratsmitglied nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. April 2004, S. 17   2. Der Deutsche Corporate Governance Kodex – nur ein Testballon für den Gesetzgeber?, ZIP 2004, 1527  3. Wen schützt das Kapital?, Debatte über Gläubigerschutz, Stuttgarter Zeitung, 8. Mai 2006, S. 15   4. Gesellschaftsrechtlicher Gläubigerschutz quo vadis?, BB 2006, Heft 36, Die erste Seite   5. Der Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung, Compliance Report Mai 2006, S. 8-9   6. Eröffnung der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung, 66. Deutscher Juristentag, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart, 2006, Band II/1 , 2007, P 7-9   7. Bericht über die Beschlüsse der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung, 66. Deutscher Juristentag, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart, 2006, Band II/1 , 2007, S 13-15   8. MoMiG weit mehr als nur ein Facelift, BB 2008, Heft 45, Die erste Seite   9. Aufsichtsratsmitglied als verlängerter Arm des externen Beraters, in Director‘s Channel, Januar 2016

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