Ferne und Nähe der Antike: Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne [Reprint 2014 ed.] 9783110866230, 9783110172386

Das Klassische kann als ein konstitutiver Teil der Moderne gelten. So ist die Auseinandersetzung mit dem antiken Denken

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German Pages 299 [300] Year 2002

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Table of contents :
Kassandra. Abbildung zur Lesung von Gisela Stein
Die Antike in der Geschichte Europas
Die Gegenwart der Antike in Schule und Universität
Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken. Römische Jurisprudenz und griechische Rechtsphilosophie
Antike und moderne Freiheit
Republik, Demokratie und Diktatur. Die Rezeption von drei antiken Begriffen im politischen Denken der Neuzeit
Herodot, Seneca und Die Perser
Die Perser. Abbildungen zur Berliner Inszenierung
‚Seele‘, Mysterien und Mystik Griechische Sonderwege und aktuelle Problematik
Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz
Der glückliche Sisyphos. Zur Präsenz des antiken Mythos
Mathesis perennis. Mathematisches Denken in Antike und Moderne
Naturwissenschaft und Antike Langzeit-Retrospektive ist Orientierungshilfe in der Gegenwart
Wie Antike sehen. Abbildung der Künstlerin
Katharina Sieverding und die Antike
Wie Antike sehen oder Kanon und Kritik. Perspektiven der Kunst und Kunstgeschichte
Der Untergang. Nach den Troerinnen des Euripides
Vorwärts zum Ursprung. Antike Motive in moderner Musik
Konzert
Abbildungen zum von E M. Beyer zusammengestellten Programm
Panta rhei. Videoinstallation
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
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Ferne und Nähe der Antike: Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne [Reprint 2014 ed.]
 9783110866230, 9783110172386

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Ferne und Nähe der Antike

W G DE

Herausgegeben im Auftrag der Akademie der Künste und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Walter de Gruyter • Berlin • New York

2003

Ferne und Nähe der Antike Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne

Herausgegeben von Walter Jens und Bernd Seidensticker

Walter de Gruyter • Berlin • New York 2003

Diese Publikation erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3 - 1 1 - 0 1 7 2 3 8 - 0

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Umschlaggestaltung: tmalsy, Kommunikation und Gestaltung, Bremen Satz: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden/Allgäu

Vorwort Und immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten. Und Noth die Treue. Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See.

Hölderlins Zeilen aus dem Gedichtentwurf Mnemosyne sind das geeignete Motto für einen Band, dessen Beiträge der Frage nachgehen, welche Bedeutung die Antike fiir die Gegenwart besitzt bzw. besitzen kann. Die Sätze beschreiben widersprüchliche Haltungen zur Tradition in einer Zeit des historischen Übergangs. Der Sehnsucht, die bestehenden Bindungen zu verlassen, wird die Treue gegenübergestellt; der Treue wiederum die Weigerung, vorwärts und rückwärts zu sehen, und die — nicht ungefährliche - Lust, sich einfach wiegen zu lassen. Inmitten der widersprüchlichen Haltungen und Tendenzen erscheint der Imperativ: „Vieles aber ist/Zu behalten", als eine Maxime, die Orientierung im Ungewissen verspricht. Die Beiträge, die der vorliegende Band zur Erkundung von Ferne und Nähe der Antike in unserer Zeit präsentiert, sind, wie nicht anders zu erwarten, vielfältig. Denn befragt wurden nicht nur die .gewöhnlichen Verdächtigen', Klassische Philologen und Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler, sondern auch Politologen und Rechtswissenschaftler, Naturwissenschaftler und Mathematiker; und befragt wurden auch und nicht zuletzt Vertreter der Künste in Theorie und Praxis. Das dem Band zugrundeliegende Symposion Antike und Gegenwart war die erste gemeinsame Veranstaltung der beiden Berliner Akademien, der Akademie der Künste und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinem Programm gehörten deshalb nicht nur wissenschaftliche Vorträge, sondern auch Lesung und Theater, Werkstattgespräch und Konzert. Die Beiträge erscheinen in der Reihenfolge des Programms. Gisela Steins Lesung der Kassandra von Christa Wolf, die Aufführung der Aischyleischen Perser in der Übersetzung von Durs Grünbein, die dramatische Umsetzung von Texten Hesiods und Ovids durch Studenten der Hochschule der Künste, die Diskussion mit Katharina Sieverding, das von Frank Michael Beyer zusammengestellte Konzert und Jakobine Engels Videoinstallation Panta rhei konnten naturgemäß nicht aufge-

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Vorwort

nommen werden, sind aber durch Bilder bzw. den Abdruck des Programms dokumentiert, um die nicht selbstverständliche Verbindung von Kunst und Wissenschaft, die sonst in der Regel in ihren eigenen Kontexten bleiben, wenigstens anzudeuten. Der Band versucht — wie der Titel ankündigt - nicht nur die Vielfalt der auf die Frage nach der Gegenwart der Antike gegebenen Antworten zu bündeln, sondern auch die gegenstrebige Harmonie von Ferne und Nähe der Antike zusammenzuhalten. Die Ferne der Antike wird in der Tat mit jedem Jahrhundert und mit jeder Schulreform größer und läßt den Zugang zur alten Welt und ihrer Wirkungsgeschichte immer schwieriger werden; die Nähe kann nur der richtig beurteilen, der die kontinuierlichen Verwandlungen und Anverwandlungen erkennt, die die Antike im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte erlebt hat und erlebt. Die Reihe der wissenschaftlichen Vorträge wird von C h r i s t i a n M e i e r eröffnet, der zwar feststellt, daß der lange Zeit selbstverständliche Glaube an das bei den Griechen beginnende .europäische Wunder' allerspätestens seit Auschwitz nicht mehr selbstverständlich sei, der aber gleichwohl darauf insistiert, daß die Besinnung auf die „erste frühe Ausprägung eines europäischen Menschenbildes" in der griechischen Klassik auf dem Wege zu einem modernen Europa und bei der Lösung der komplexen anthropologischen Fragen, die sich ihm stellen, unentbehrlich ist. J ü r g e n M i t t e l s t r a ß plädiert für die klassische Bildung als Orientierungswissen; dabei betont er die grundlegende Bedeutung dreier Grundelemente des antiken Wissenschaftsbegriffs für die kulturelle und wissenschaftliche Praxis der Gegenwart und der Zukunft: Argumentative Vernunft und wissenschaftliche Rechenschaftslegung seien die von Piaton und Aristoteles entwickelten Kriterien, auf denen auch die moderne Wissenschaft beruhe. Das dritte Moment, die Einheit von Wissenschaft und Lebenswelt, erscheine zwar kaum mehr einlösbar, müsse aber als regulative Idee aufrechterhalten werden. H a s s o H o f m a n n arbeitet in seinem Vortrag drei zentrale Aspekte des antiken Erbes im europäischen Rechtsdenken heraus: die Fortentwicklung des im Corpus iuris civilis Justinians zusammengefaßten römischen Rechts zum ius commune Europas, die Bedeutung der griechischen Rechtsphilosophie für Naturrecht, Menschenrechte und Sozialvertrag und die fundamentale Rolle der Aristotelischen Politik in der Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen Staatsrechts. W i l f r i e d N i p p e l s Vergleich antiker und moderner Freiheit geht von Benjamin Constants Feststellung aus, daß „bei den Alten der Einzelne zwar durchweg souverän in allen öffentlichen Angelegenheiten, aber Sklave in allen privaten Beziehungen" gewesen sei, während es sich beim modernen Individuum genau gegensätzlich verhalte, und verfolgt die Entwicklung des Gedankens von der amerikanischen Staatsgründung über die Französische Revolution und das 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Vorwort

VII

Herfried Münkler behandelt ein zentrales Stück der komplexen Rezeptionsgeschichte der antiken Begriffe Republik, Demokratie und Diktatur und zeigt nicht nur, daß die modernen Konzepte in steter Auseinandersetzung mit den antiken Modellen entwickelt worden sind, sondern auch, wie die mit diesen Konzepten verbundenen politischen Theorien im Kraftfeld aktueller Debatten miteinander in Konfrontation gerieten, wobei die „Orientierung am politischen Vorbild der Antike sehr schnell zu einer Frage von Leben und Tod werden konnte". Durs Grünbein, der nach den Persern auch die Sieben gegen Theben und Senecas Thyestes übersetzt hat, präsentiert seinen Text, mit dem er die Auffuhrung der Perser durch die Berliner Hochschule der Künste Ernst Busch einleitete: Ausgehend von einem Blick auf die Herodoteische Gestaltung des Konflikts entwickelt er seine Deutung der einzigen erhaltenen griechischen Tragödie, die einen historischen Stoff zum Gegenstand hat. Walter Burkert untersucht in seinem Symposionsbeitrag antike Vorstellungen von Seele und Mystik, die gegenwärtig im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften und esoterischen Strömungen stark an Interesse gewinnen. Im Anschluß an die Analyse der für diese Fragestellung zentralen Philosophie Piatons und ihrer Wurzeln und Vorläufer werden auch die biologisch-physikalischen Erklärungsversuche der Antike sowie frühchristliche, asketische, gnostische und neuplatonische Positionen behandelt. Volker Gerhardt setzt sich mit den modernen Versuchen der Entkoppelung von Essenz und Existenz auseinander, die bis heute „zu den großen Versuchungen der Gegenwartsphilosophie" gehören. Als Paradigma dient ihm der platonische Sokrates, der im Angesicht des Todes den praktischen Beweis der Unsterblichkeit der Seele gibt. „Sokrates ist unsterblich, weil er als dieser Sokrates leben und sterben konnte." Daß sich Essenz und Existenz weder im epistemischen noch im praktischen Kontext voneinander trennen lassen, sei ein Wissen, worin das metaphysische Denken des Sokrates dem antimetaphysischen der Moderne (z. B. Sartres) überlegen sei. Bernd Seidensticker erinnert an die starke Präsenz des Mythos in ganz verschiedenen Bereichen unserer Kultur. Nach einem Blick auf Werbung und Karikatur stellt er bildende Kunst und Literatur in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen. Als Leitbeispiel für die besonders intensiv rezipierten mythischen Sinnbilder der menschlichen Existenz, wie Prometheus, Herakles und Odysseus, Kassandra, Antigone und Medea, dient der Steinwälzer Sisyphos, der durch die Deutung Albert Camus' in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Aktualität gewonnen hat. Eberhard Knobloch fuhrt an einer Reihe von Beispielen vor, daß (und wie) die moderne Mathematik über Vorbilder, Methoden (Darstellung, Lösung, Beweis)

VIII

Vorwort

und Probleme auch in der Gegenwart in vielfältiger Weise mit der antiken Mathematik verbunden ist. A l f r e d G i e r e r macht, nach einer Retrospektive der Geschichte der Naturwissenschaften, deutlich, daß sich in der Physik, Mathematik und Biologie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts „alte Fragen neu stellen und damit auch Deutungsmuster der Antike wieder ins Blickfeld rücken". In den Diskussionen um den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften und seine Grenzen (aber auch in wichtigen Einzelproblemen) gewinne die moderne Naturwissenschaft die philosophisch-problematisierende Qualität zurück, die ihre antike Ahnherrin ausgezeichnet habe. P h i l i p U r s p r u n g stellt mit Katharina Sieverding eine Künsderin vor, die sich zwar dezidiert gegen eine Bedeutung der Antike für die moderne Kunst (und für die eigene Arbeit) ausspricht, deren Arbeit aber paradoxerweise doch „mit dem zusammenhängt, was heute auf die Folie der Antike projiziert wird". Ihr Werk lasse die Begrenztheit der Kriterien einer Kunstdiskussion deutlich werden, die die Antike seit langem ignoriere. M i c h a e l D i e r s zeigt - nach einem Blick auf den klassischen Kanon und seine ideale Verkörperung im Doryphoros Polyldets - in der Tradition und Manier Aby Warburgs, daß auch ein Künstler wie Josef Beuys in einem so wichtigen Werk wie

Straßenbahn/Tramstop/Fermata del tram, 1961—1976/A Monument to the Future eine kritische Diskussion mit der Antike und dem von ihr geschaffenen kanonischen Menschenbild und seiner künstlerischen Darstellung gefuhrt hat. W a l t e r J e n s präsentiert und erläutert (in einem Werkstattgespräch) seine Übersetzung der Euripideischen Troerinnen und macht dabei deutlich, daß Übersetzung - als Aneignung des Vergangenen nach Maßgabe der Gegenwart — eine nie abzuschließende Aufgabe sei, die sich jeder Generation neu stelle. H e r m a n n D a n u s e r zeigt in seiner Einleitung zu dem von Frank Michael Beyer zusammengestellten und kommentierten Konzert, daß die Musik im Unterschied zu Literatur und Philosophie, Architektur, Malerei und Plastik zwar nicht auf eine lange Rezeptionsgeschichte antiker Vorbilder zurückblicken könne, daß sie sich aber gleichwohl nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch im 20. Jahrhundert (von Strawinsky über Strauss und Orff bis zu Henze und Rihm, Nono, Carter, Penderecki und Kagel) immer wieder von antiken Stoffen und Mythen, Gattungen und Termini anregen ließ. Die unterschiedlichen Blickwinkel der einzelnen Künste und Wissenschaften und die Art und Weise, wie ihre Vertreter die Frage angehen und beantworten, lassen zwangsläufig ein farbenreiches und differenziertes Bild der Gegenwart der Antike entstehen, die mal recht fern scheint und mal ganz nah. Explizit und implizit sind sich aber alle Beiträge darin einig, daß Hölderlins Einsicht in die Not der Treue ihre Gültigkeit bewahrt hat. Um vorwärts blicken zu können, muß man rückwärts sehen. Vieles ist zu behalten.

Vorwort

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Der Dank der Initiatoren und Herausgeber gilt den beiden Präsidenten, die den Plan von Anfang an unterstützt haben, und allen denen, die zu seiner Verwirklichung beigetragen haben. Stellvertretend seien Dr. Marion Neumann (Akademie der Künste) und Dr. Wolf-Hagen Krauth (BBAW) genannt, die das Projekt (und die Publikation) auf jeder Stufe seiner Verwirklichung mit Rat und Tat begleitet haben. Ein besonderer Dank gilt dem de Gruyter-Verlag, der den Band nicht nur wie immer ästhetisch ansprechend gestaltet hat, sondern auch das Risiko trägt, ihn zu einem erschwinglichen Preis anzubieten, Katja Hermann, die die Herstellung überwacht hat, Sonja Ernst, die die Manuskripte zum Druck vorbereitet hat, und MarkGeorg Dehrmann, der den Index erstellt und die gesamte Drucklegung gewissenhaft betreut hat. Tübingen/Berlin, Oktober 2002

Walter Jens/Bernd Seidensticker

Inhaltsverzeichnis Christa Wolf Kassandra. Abbildung zur Lesung von Gisela Stein

1

Christian Meier Die Antike in der Geschichte Europas

3

Jürgen Mittelstraß Die Gegenwart der Antike in Schule und Universität

17

Hasso Hofmann Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken Römische Jurisprudenz und griechische Rechtsphilosophie

33

Wilfried Nippel Antike und moderne Freiheit

49

Herfried Münkler Republik, Demokratie und Diktatur Die Rezeption von drei antiken Begriffen im politischen Denken der Neuzeit 69 Durs Grünbein Herodot, Seneca und Die Perser

99

Aischylos Die Perser. Abbildungen zur Berliner Inszenierung

109

Walter Burkert ,Seele', Mysterien und Mystik Griechische Sonderwege und aktuelle Problematik

111

Volker Gerhardt Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz

129

XII

Inhaltsverzeichnis

Bernd Seidensticker Der glückliche Sisyphos Zur Präsenz des antiken Mythos

151

Eberhard Knobloch Mathesis perennis Mathematisches Denken in Antike und Moderne

177

Alfred Gierer Naturwissenschaft und Antike Langzeit-Retrospektive ist Orientierungshilfe in der Gegenwart

199

Katharina Sieverding Wie Antike sehen. Abbildung der Künstlerin

213

Philip Ursprung Katharina Sieverding und die Antike

214

Michael Diers Wie Antike sehen oder Kanon und Kritik Perspektiven der Kunst und Kunstgeschichte

221

Walter Jens Der Untergang Nach den Troerinnen des Euripides

237

Hermann Danuser Vorwärts zum Ursprung Antike Motive in moderner Musik

261

Konzert Abbildungen zum von F. M. Beyer zusammengestellten Programm

. . . .

275

Jakobine Engel Panta rhei. Videoinstallation

277

Abbildungsverzeichnis

279

Personenregister

283

Christa Wolf Kassandra

Christa Wolf, Foto: Marianne Fleitmann

Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letzte, was sie sah. Ein lange vergessener Feind und die Jahrhunderte, Sonne, Regen, Wind haben sie geschleift. Unverändert der Himmel, ein tiefblauer Block, hoch, weit. Nah die zyklopisch gefugten Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin, unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus. Und allein. Christa Wolf, Kassandra

Mit der Erzählung geh ich in den Tod.

© Luchterhand, Darmstadt und Neuwied

Gisela Stein liest Christa Wolfe „Kassandra", Foto: Marianne Fleitmann

Christian Meier

Die Antike in der Geschichte Europas Antike* und Gegenwart ist das Thema dieser Tagung. Mir ist in diesem Zusammenhang Europa aufgegeben worden. Womit primär das zusammenwachsende Europa der EU gemeint sein muß, das gegenwärtige und das zukünftige, nach Osten erweiterte. (Von der Möglichkeit eines Ausbaus zur Eurasischen oder Euromediterranen Union wird man fürs erste absehen können). Antike und Europa aber, und das auf einer Tagung, bei der, wie einem eingeschärft wird, der Akzent auf der Gegenwart liegen muß - das kann nur auf das Problem eines europäischen Geschichtsbewußtseins zielen, auf die Gegenwärtigkeit nicht bloß gewisser (eventuell unbewußter) Erbschaften (wie des Römischen Rechts), sondern auf die Gegenwärtigkeit der Epoche im Rahmen eines aktuellen - oder vielleicht: potentiellen - Geschichtsbewußtseins von heute und morgen. Das also ist mein Thema. Ich habe es gern übernommen, und ich werde folglich auch darüber sprechen. Allein, ich werde es weithin im Irrealis der Vergangenheit tun, werde also sagen, was ich gesagt hätte, wenn ich noch der Uberzeugung wäre, in der ich den Auftrag angenommen habe. rr|päaKCQ 5' ctet KoXXä 8i5acncön£VOli!f

Daß die durch Wort und/oder Bild evozierte Antike dem Adressaten der Werbung auch noch das stolze Gefühl einer gesellschaftlichen Überlegenheit oder der Teilhabe an einer höheren Lebenssphäre zu vermitteln vermag, das jahrhundertelang mit der antiken Bildung einherging, ist ein willkommenes Zubrot, dessen Bedeutung sich allerdings mit dem Verlust der besonderen Position der Antike und ihrer Stellung im Bildungssystem mehr und mehr verlieren wird. Wie schon bei den einleitenden Sisyphos-Beispielen deutlich geworden ist, löst die Verwendung mythischer Figuren in der Werbung beim Betrachter aber nicht selten auch ratloses Kopfschütteln oder Erheiterung aus. Erstaunlicherweise erfreut sich gerade Ikaros, der bei seinem Flug allzu hoch hinauffliegt, der Sonne zu nahe kommt und in den Tod stürzt, besonderer Beliebtheit Denn sieht man einmal von seiner Rolle als Werbeträger für Kreta ab, so stellen sich vom Ende der Geschichte durchweg mehr oder minder kontraproduktive Assoziationen und ironische Nebentöne ein. Mag Ikaros' Verwendung als Name für eine Fahrschule oder für einen Fahrtenplaner noch die frohe Botschaft verbinden, daß sich bei Annahme dieses Angebots ein Scheitern der Fahrt vermeiden lasse, so kann die vielfache Verwendung des Namens gerade im Kontext des Fliegens (Abb. 21), wenn sie denn nicht auf blanker Ignoranz beruht, nur als schwarzer Humor verstanden werden. 8

7 8 20

Ich danke Frau Renate Glas (Klagenfurt) für Hilfe und Material. So, wenn sich ein Reisebüro in Berlin, Konstanzer Str., „Flugreisen Ikarus" nennt.

Der glückliche Sisyphos

Als purer Sarkasmus wirkt die Benennung eines Solarkollektors (Abb. 22) nach dem Helden, der sein Leben verlor, weil er allzu viel Sonnenlicht auf sich zog, und was soll man erst von einer Software (Abb. 23) halten, die den Namen des mythischen Abstürzers Nr. 1 trägt, ganz zu schweigen von der unheilverkündenden Vorbedeutung, die der Name Ikarus auf einer Unterhose (Abb. 24) suggeriert. Da die Werbung bei Produktnamen nicht selten lediglich auf den einprägsamen Klang eines Namens setzt oder reine Kunstnamen schafft, mag man in einzelnen dieser Fälle davon ausgehen, daß entweder der Produzent der Werbung den antiken Mythos nicht mehr oder nicht mehr richtig in Erinnerung hatte oder daß er von der Unwissenheit der Adressaten ausging. Wahrscheinlicher ist aber, daß er durch die verblüffend paradoxe Verwendung der mythischen Chiffre Aufmerksamkeit, Nachdenken und anerkennendes Schmunzeln erreichen will.9 Im Unterschied zu Apollon oder Ikaros wird Sisyphos in der Werbung kaum instrumentalisiert. Immerhin finden sich im Internet Angebote von Softwarefirmen (Abb. 25), die offenbar auf die Frustrationen des hilflosen Anfängers spekulieren, und ein kurzer „Red Bull" Werbespot, der zeigt, wie Sisyphos mit Hilfe der belebenden Kraft des Erfrischungsgetränks von seiner ewigen Mühsal erlöst wird und befreit davonfliegt. 10 Der spielerisch-witzige Umgang mit dem Schicksal des Sisyphos schließt den Blick auf die Werbung ab und leitet über zu einem zweiten Bereich des Alltags, in dem sich die Vitalität des Mythos täglich aufs Neue erweist: zur Karikatur. Parodie und Karikatur des Mythos sind - fast—so alt wie der Mythos selber und haben nach ihrer besonderen Blüte im 19. Jh. und in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts - z. B. bei Daumier oder im „Simplizissimus" und im „Kladderadatsch" auch heute nichts von ihrer Lebendigkeit verloren.11 9

Vgl. dazu Kloepfer-Landbeck, Ästhetik der Werbung, Der Femsehspot in Europa als Symptom neuer Macht, Frankfurt a. M. 1991, S. 23 (.Anspielung und Zitat, Ironie und Augenzwinkern"). 10 Dazu kommt der in der Einleitung genannte Baucontainer (s. o. S. 151). 1 1 M . Kunze (Hrsg.), Antiken auf die Schippe genommen. Bilder und

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Bernd Seidensticker

MYTHOS EUROPA

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Derjunge Autor 27

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Die große Bremer Ausstellung zum Thema „Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Revolution"12 präsentierte vor einigen Jahren eine eindrucksvolle Vielfalt von Europa-Karikaturen (Abb. 26), und eine ähnliche Fülle immer neuer Variationen ließe sich leicht auch für Ikaros und für das Labyrinth, für Laokoon und das trojanische Pferd, für Leda und den göttlichen Schwan und - last but not least - auch für unseren Sisyphos zusammentragen.13 Eine hübsche Verbindung von Werbung und Karikatur, mit der der Faber und Faber Verlag in Leipzig (Abb. 27) für die bibliophilen Ausgaben seiner Sisyphos-Presse wirbt, sei vorausgeschickt (Abb. 28). Typischer sind jedoch Karikaturen, die den Steinwälzer und die nach ihm benannte „Sisyphos-Arbeit" als Bild fiir politische Situationen und Probleme nutzen. Auf dem Stein kann dann, je nach politischer Lage, „Perestroika" (Abb. 29) stehen oder Nahostproblem, aber auch „Giftmüll" oder „Dritte-Welt-Zinsen", .Abrüstung" oder „Reformen". Liegt in diesen Fällen der Akzent in der Regel auf den schier unüberwindlichen Schwierigkeiten einer an sich notwendigen Arbeit, so wird in den Sisyphos-Karikaturen, die auf die sisypheischen Bemühungen des Einzelnen zielen, auch die stereotype Gleichförmigkeit (Abb. 30), absurde Sinnlosigkeit (Abb. 31) oder auch lächerliche Aussichtslosigkeit (Abb. 32) menschliches Lebens und Strebens aufs Korn genommen.14 Die Betrachtung der beiden Bereiche Werbung und Karikatur dokumentiert nicht nur die Allgegenwart des griechischen Mythos im Alltag, sondern läßt auch deudich werden, daß sich die ursprünglich differenzierten und bunten Bilder Motive aus der alten Welt in der Karikatur, Winckelmann-Museum Stendal 1998. 12 S. Salzmann (Hrsg.), Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation, Ausstellung Kunsthalle Bremen 1988; U. Reinhardt, De Europa moderna plus minusve iocose delineata (Europa in der modernen Kunst, Karikatur und Werbung), in: Vox Latina 34 (1988), S. 2-30. 13 U. Reinhardt, Antike Mythen in der Karikatur der Gegenwart, Begleitheft zu einer Ausstellung der Wiener Akademie der Wissenschaften 2001; H. Keulen, Die Antike in der Karikatur, Langenfeld 1986. 14 Vgl. dazu E Maier, Sisyphos, eine europäische Metapher, in: E M., Antike Aktuell, Bamberg 1995, S. 105-118.

Der glückliche Sisyphos

der mythischen Figuren im Verlaufe ihrer abendländischen Rezeption nicht selten auf ein einzelnes Element reduziert haben. Karl Heinz Stierle hat in diesem Zusammenhang von „Schwundstufen des Mythos" gesprochen.15 Das gilt z. B. für die Geschichte vom Raub der Europa, von der nichts geblieben ist als „das Mädchen auf dem Stier" oder für Ikaros, in dessen Rezeption schon lange die kretische Vorgeschichte (mit dem Bau des Labyrinths und der Gefangenschaft) ebensowenig eine Rolle spielt wie der Bau der Flügel und die Warnungen des Vaters. Flug und Sturz des Ikaros sind das einzige Element des Mythos, das erhalten und fruchtbar geblieben ist. Ebenso konzentriert sich die moderne Arbeit am Sisyphos-Mythos völlig auf ein einziges Element, das böse Ende des so lange Erfolgreichen: nicht Sisyphos' Streit mit Zeus, nicht die Begegnung mit Autolykos, dem anderen listigen Schelm der Antike, und auch nicht die doppelte Überlistung des Todes, sondern die Bestrafung des Sisyphos, wie sie Odysseus in der Unterweltsszene der Homerischen Odyssee beobachtet und beschreibt. Die Reduzierung beginnt übrigens schon früh. Bereits in Rom erscheint Sisyphos fast nur als Büßer in der Unterwelt, neben Tantalos, Ixion, Tityos und den Danaiden, deren Geschichten heute so gut wie vergessen sind, und die Beschränkung auf das einfache Bild des Steinwälzers und seine drei Elemente ,Mann, Stein, Berg' ist auch in der Folge nur in Einzelfällen durchbrochen worden.16 Doch die radikale Reduktion oder besser Komprimierung der Geschichten bedeutet nicht etwa Verarmung, sondern Polyvalenz. Die entstandenen Chiffren sind, wie z. B. Ikaros zeigt, offen für immer neue Variationen mit immer neuen Bedeutungen und Wertungen: Die spannungsreiche Verbindung von Kühnheit und Maßlosigkeit, stürmischem Aufbruch und kläglichem Sturz, Streben und Gefährdung läßt Ikaros zu einem einzigartigen Sinnbild für die Moderne wer15 K. H. Stierle, Mythos als ,Bricolage' und zwei Endstufen des Prometheusmythos, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythosrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 455-472, hier: S. 465. 16 Zur Rezeptionsgeschichte des Sisyphosmythos vgl. B. Seidensticker/ A. Wessels, s. o. Anm. 4.

158

Bernd Seidensticker

den, in der Intelligenz, experimentelle Neugier und Risikobereitschaft zu einem ungeahnten technischen und zivilisatorischen Höhenflug geführt, zugleich aber auch nie dagewesene Gefährdungen und Katastrophen gebracht haben. 17 Wie Ikaros kann - das hat schon die kleine Auswahl der Sisyphos-Karikaturen gezeigt - auch die Chiffre Sisyphos in immer neuen Kontexten und mit immer neuen Interpretationen für politische und gesellschaftliche, fiir philosophische und poetologische Feststellungen und Fragen fruchtbar gemacht werden. Die Lebendigkeit eines Mythos ist also ganz offenbar nicht von seiner narrativen Buntheit abhängig; sie ergibt sich vielmehr, wie schon die ganz unterschiedliche Lebendigkeit der mythischen Geschichten und ihrer Hauptfiguren zu verschiedenen Zeiten zeigt, aus ihrer Relevanz oder wie Bertolt Brecht gesagt hätte, aus ihrem „Materialwert" 18 für die Beschreibung und Deutung zentraler Fragen der jeweiligen Gegenwart. Viele mythische Geschichten bzw. Figuren verschwinden auf Dauer oder doch vorübergehend; andere können plötzlich auf kürzere oder längere Zeit neues Leben gewinnen. Herfried Münkler hat in seinem Essay „Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos" 1 9 die unheilvolle Revitalisierung des Nibelungenmythos im 19. Jahrhundert und sein Ende mit dem Zusammenbruch des 1000jährigen Reichs analysiert. „Das Jahr 1945 war nicht nur das unförmliche Ende des Deutschen Reichs... 1945 waren auch die dem Nibelungenlied entnommenen mythischen Sinnangebote erschöpft: von der Nibelungentreue über den Siegfrieden bis zum Dolchstoß des Verräters, von der Wiederkehr des Helden bis zum Untergang der Nibelungen in Etzels brennender Burg. Der Mythos war zu Ende agiert, der Bann löste sich. Seit 1945 haben die Nibelungen keine Gewalt mehr über die Köpfe der Deutschen, und die Deutschen sind keine Nibelungen mehr." Wie stark die Präsenz des Mythos von den historischen Rahmenbedingungen abhängt, läßt sich in jüngster Vergangenheit auch an der ganz außergewöhnlichen Intensität seiner Rezeption in der bildenden Kunst und Literatur der D D R ablesen, auf die ich noch zurückkommen werde. 20 Die Revitalisierung eines Mythos kann in einem dafür aufnahmebereiten historischen bzw. geistesgeschichtlichen Kontext aber auch durch eine individuelle Begegnung und Gestaltung erfolgen. So ist es keine Frage, daß die Bedeutung des Odysseus für die Moderne mit den historischen Entwicklungen und Katastrophen 17 Vgl. A. Aurnhammer/D. Martin, Mythos Ikarus, Texte von Ovid bis Wolf Biermann, Leipzig 1998. 18 B. Brecht, Wie soll man heute Klassiker spielen?, in: B. B., Werke, Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von W. Hecht u. a„ Bd. 21 (Schriften I), S. 181 f. 19 H. Münkler, Siegfrieden, in: H. Münkler/W. Storch, Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988, S. 49-138, 131 f. 20 S. 161 ff. u. 169 ff.

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des 20. Jh. zu tun hat, in denen der Kriegsverweigerer und Spätheimkehrer, aber auch der clevere Intellektuelle und neugierige Reisende Odysseus als besonders aktuell erscheinen mußte; 21 zugleich aber kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß James Joyces „Ulysses" erheblich zu den späteren Auseinandersetzungen mit der Gestalt beigetragen hat; und ohne Frage hat erst Camus' Sisyphos den Sisyphosmythos revitalisiert, der viele Jahrhunderte hindurch relativ wenig Beachtung gefunden hatte. 22 „Mich" - so Camus - „interessiert Sisyphos auf dem Rückweg." ... „Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schritts zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels."... „Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Bergs. Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Größe leugnet und die Steine wälzt. Der Kampf gegen Gipfel kann ein Menschenleben ausfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."23 Camus' radikale Umwertung der Figur des Sisyphos-Mythos die aus dem mythischen Frevler mit seiner elenden und erfolglosen Arbeit ein existentialistisches Sinnbild des Menschen machte, der sich der Absurdität des Lebens bewußt wird, sich ihr entschlossen stellt und gerade daraus Würde und Glück gewinnt („wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen"), hat dem schon fast toten mythischen Bild ganz neue Perspektiven erschlossen.24 Camus hat dem Mythos von Sisyphos aber nicht nur neues Leben eingehaucht; nach Camus wird die Arbeit an der Sisyphosgestalt auch sehr stark von der Auseinandersetzung mit seinem Sisyphos bestimmt. Mit aller Deutlichkeit zeigt sich an diesem Beispiel, was zwar überall in der langen europäischen Wirkungsgeschichte des griechischen Mythos zu beobachten ist, für die Moderne aber in ganz besonderem Maße gilt. Der Zugang zum antiken Mythos erfolgt nur noch in seltenen Fällen auf direktem Wege über die antiken Texte und Bilder; die Kenntnisse stammen zumeist aus Schwabs „Sagen des klassischen Altertums" und Ranke-Graves' „Griechischer Mythologie", aus Handbüchern und populären Lexika der Antike oder 21 W. B. Stanford, The Ulysses Theme. A Study in the Adaptability of a Traditional Hero, Oxford 2 1963; W. Jens, Odysseus. Das Doppelgesicht des Intellektuellen, in: W. J„ Mythen der Dichter, Modelle und Variationen, München 1993, S. 9-33; B. Seidensticker, Aufbruch zu neuen Ufern. Transformationen der Odysseusgestalt in der literarischen Moderne, in: B. Seidensticker/ M. Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 249-270. 22 S. o. Anm. 4. 23 A. Camus, Der Mythos des Sisyphos, in: A. C., Der Mythos des Sisyphos, Aus dem Französischen von Vincent von Wroblensky, Reinbek 1998, S. 155-60. 24 Vgl. B. Seidensticker/A. Wessels, s. o. Anm. 4.

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auch aus der Rezeptionsgeschichte. Iphigenie wird allein oder auch über Goethe rezipiert, Amphitryon über Kleist, Sisyphos über Camus. Hier möchte ich nicht mißverstanden werden. Es handelt sich hier nicht um die nostalgische Klage eines klassischen Philologen über den Verfall der klassischen Bildung, sondern nur um die Konstatierung eines Faktums, das fiir die Frage nach der Präsenz des Mythos und ihren Formen offensichtlich einige Bedeutung hat. Im übrigen liegt in dieser sekundären Form des Zugangs nicht selten gerade der besondere Reiz der neuen Version der alten Geschichte. Die Zwiesprache nicht nur mit dem antiken Modell, sondern auch mit den früheren Variationen verleiht den modernen Texten immer wieder eine ganz besondere intertextuelle Komplexität; so wenn z. B. Peter Hacks' .Amphitryon" nicht nur das Plautinische Original, sondern auch die kreativen Adaptationen des Stoffs durch Molière und Dryden, Kleist und Giraudoux zitiert und evoziert25 oder wenn Volker Braun in seiner Iphigenie gleichzeitig mit Euripides' und Goethes Versionen des Stoffs arbeitet.26 In der Folge Camus' - und in vielen Fällen in direkter oder indirekter Auseinandersetzung mit ihm — haben Philosophen und Psychologen, Anthropologen und Politologen Sisyphos als Modell fiir Überlegungen und Thesen zur Existenz des Menschen genutzt. Pädagogen sehen in ihm, wie die große Zahl von Büchern und Zeitschriften zeigt, die sein Name ziert, ein Modell fiir die eigene, nie enden wollende Tätigkeit,27 und Lebenshelfer wie Verena Kast28 verpacken ihre Problembeschreibungen und Ratschläge gern in eine mehr oder minder triviale Interpretation der mythischen Gestalt und ihrer modernen Abbilder. Interessanter sind da schon die immer neuen Variationen, mit denen moderne Künstler am Mythos Sisyphos oder an einzelnen seiner drei Grundelemente: Stein, Berg, Mensch arbeiten. Dabei muß ich leider auf zwei Formen des künstlerischen Ausdrucks verzichten, deren Vorstellung in einem Vortrag zu schwierig oder zu zeitaufwendig wäre: Film29 und Musik. Vor allem für die Musik könnte ich auf eine ganze Reihe interessanter Stük25 Vgl. V. Riedel, „Amphitryon' bei Kleist und Hacks. Traditionsbeziehungen in Peter Hacks Komödie Amphitryon" Impulse 3 (1981), S. 153-178. 26 Vgl. H.-P. Preußer, Die Iphigenien. Zur Metamorphose der .unerhörten Tat'. EuripidesGoethe-Berg-Braun, in: B. Seidensticker/M. Vöhler (Hrsg.), Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, Berlin 2002, S. 19-43. 27 Die Titel lauten z. B.: Sisyphos im Exil. Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus (1990); Bildung im Schatten der Postmoderne: Von Prometheus zu Sisyphos (1992); Tantalus undSisyphus im Jugendheim (1999); Der Stein des Sisyphos. Studien zur allgemeinen Pädagogik der DDR (2000). 28 Verena Kast, Sisyphos. Der alte Stein - der neue Weg, Zürich 1986. 29 Z. B. Gerard Betts' Film (mit der Musik von Spike Jones) The Myth of Sisyphos (1993) oder Klaus Karbauer, Sisy's Fuß (1996). Erinnert sei auch daran, daß die beiden Komiker Laurel und Hardy ihren einzigen Oscar (1933) fiir ihre Sisyphosvariation mit dem Titel The Music Box erhielten.

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ke verweisen, die im Titel auf die Bedeutung des Sisyphosmythos für den Komponisten verweisen und das Thema mehr oder minder deutlich gestalten - und zwar aus den verschiedensten Bereichen der E- und der U-Musik.30 Aus der bildenden Kunst wähle ich als Beispiel den Leipziger Graphiker und Maler Wolfgang Mattheuer, dessen - ebenfalls von Camus inspirierte Arbeit am Mythos Sisyphos in den 70er Jahren begann und bis heute andauert,31 und konzentriere mich auf die drei großen Gemälde, die heute in der Dresdner Kunsthalle zu einem eindrucksvollen Triptychon vereint sind:32 Mattheuers Sisyphos-Variationen überraschen und provozieren. Der Bildermacher, wie er sich selber gerne nennt, nutzt die einfache Grundstruktur des Mythos zu einprägsamen Denkbildern, die existentielle Fragen stellen und mit verschiedenen möglichen Antworten experimentieren. Die erste Möglichkeit, die Mattheuer zur Diskussion stellt, heißt: Flucht des Sisyphos. Sisyphos, der mit schweren Schuhen, blauer Hose und weißem Unterhemd als Arbeiter gekennzeichnet ist, hat sich entschlossen, den über die Kante des Hangs auf den Berg gewuchteten Fels einfach liegenzulassen, und eilt mit großen Schritten davon, hinunter in die sich im Abendlicht unter ihm öffnende Ebene. Zu Sisyphos und dem Stein hat Mattheuer als weiteres Element eine Figur hinzugefügt, die sich in immer neuen Variationen auf vielen seiner Bilder findet: den Zuschauer, der die zentrale Szene beobachtet und hier durch die vorsichtige Distanz, durch die leichte seitliche Drehung, mit der er sich zum Gehen abwendet, und durch die vor das Gesicht gehaltene Maske deutlich zu verstehen gibt, daß er mit der überraschenden Entscheidung des Sisyphos, deren Folgen nicht absehbar sind, nichts zu tun haben will. Die Schafmaske ist eine Privatmetapher Mattheuers, die auf vielen seiner Bilder auftaucht, Symbol für den vorsichtigen Midäufer (der 30 Das Internet trägt auf eine entsprechende Anfrage allein für die letzten 15 Jahre zahlreiche Werke von zum Teil namhaften Vertretern der musikalischen Moderne zusammen: dazu gehören z. B. die Arbeiten von Luca Lombardi zu einem Sisyphostext von Heiner Müller (1988/89) oder von Georg Heike nach dem Sisyphosgedicht von Hans Magnus Enzensberger (s. u. S. 168), das 1997 geschriebene Stück für Bläser und Schlagzeug von Steffen Schleiermacher und die gerade uraufgefuhrte 2. Symphonie für Schlagzeug und Orchester von Enjott Schneider mit den drei Sätzen: „Punished by the Gods", „Visions" und „The Liberation of Sisyphos". Für die U-Musik erinnere ich nur daran, daß Richard Wright seinem Soloanteil an dem Pink Floyd Doppelalbum „Ummagumma" den Titel „Sisyphos" gegeben hat und der Jazzmusiker Phil Woods 1998 eine CD mit dem Titel „Song for Sisyphus" produzierte. 31 Der folgende Text stammt im wesentlichen aus meinem Beitrag über Mattheuer, in: B. Seidensticker/A. Wessels, s. Anm. 4, Sisyphos sinniert. Wolfgang Mattheuers Arbeit am Stein des Sisyphos-, dort sind auch die zahlreichen anderen Arbeiten Mattheuers zum Thema Sisyphos besprochen. 32 Zu einem vierten Sisyphosbild, das ebenfalls in den 70er Jahren begonnen, aber erst 1991 fertig gestellt worden ist, s. u. S. 173.

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sich nicht aus der Herde herauswagt), der Individualität und kritische Gedanken hinter der freundlich bescheidenen Maske schafstumber Bravheit verbirgt. Die Aktion des Sisyphos kann nicht einfach, wie ein Interpret des Bildes gemeint hat,33 als befreiende Verweigerung entfremdeter Arbeit verstanden werden. Sie erscheint eher als spontane Verzweiflungstat, denn als besonnene Entscheidung. Es könnte zwar so scheinen, als sei der hinter dem rechten Bildrand zu einem Teil verschwundene Stein bewältigt, gleichsam beseitigt; zugleich aber sieht es so aus, als breche er von dort schon wieder hervor und verfolge den Davonstürzenden. Sisyphos wird doch wieder zurückmüssen in die alte Fron. Weglaufen vor der Arbeit, vor dem Leben, vor der Welt, vor dem Schicksal ist keine Lösung. Auch das wenig später entstandene zweite Sisyphos-Motiv ist ähnlich ambivalent wie die Flucht des Sisyphos: Das monumentale Gemälde (2 x 2 m) trägt den Titel Der übermütige Sisyphos und die Seinen. Dieses Mal spielt die Szene nicht oben auf dem Berg, sondern auf halber Höhe, auf einem schmalen abschüssigen Felsplateau, das nach vorne steil abbricht. Die Männer, die von einer hochaufgerichteten Frau angefeuert werden, sind einerseits (durch Kleidung und Aussehen) durchaus als Individuen differenziert; sie sind aber andererseits durch Gesichtsausdruck und Haltung der Arme, sowie vor allem durch die völlige Ubereinstimmung der vorwärtsstürmenden Bewegung, mit der sie den Anführer unterstützen, der dem Fels gerade den letzten und entscheidenden Stoß versetzt hat, als Masse definiert. Die jubelnde Begeisterung über die gemeinsame 33 H. Schönemann, Wolfeang Mattheuer, Leipzig 1988, S. 85, 87.

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Tat hat zugleich etwas Wildes, Besinnungsloses. Der Ausbruch aus Lethargie und Anonymität, den die weggeworfenen Schafsmasken signalisieren (vorne links und im Hintergrund) erscheint so als irrationaler, blinder Aktionismus. Der Stein, den die Männer in den Abgrund stürzen, ist in dieser Variation des Sisyphos-Themas nicht als Erdball, wie auf der „Flucht des Sisyphos", sondern als gewaltiger Schädel stilisiert, der eben noch auf einer monumentalen Statue gesessen haben mag. Der Stoß erscheint so als Befreiungsversuch nicht von der physischen Fron entfremdeter Arbeit, sondern von der noch drückenderen Last versklavender Ideologie. In den rätselhaften Zügen des Kopfes verbinden sich Uraltes und Gegenwärtiges, Göttliches und Menschliches; Zeus und Marx als Ausdruck der zeitlosen Last des Uberbaus, sei dieser nun theologisch, moralisch oder politisch determiniert. Der Titel „Der übermütige Sisyphos" deutet auf das Sprichwort „Übermut tut selten gut". Eine wirkliche, dauernde Befreiung kann durch blinden Angriff und Sturz ebensowenig erreicht werden wie durch die Flucht. Im Hintergrund des Bildes wälzt denn auch Sisyphos - immer noch oder schon wieder? - seinen Stein auf der uralten, tief in den Hang eingegrabenen Bahn nach oben. Das dritte Gedankenexperiment, das Mattheuer ins Bild umgesetzt hat, trägt den Titel Sisyphos behaut den Stein. Ort des Geschehens sind hier weder der Gipfel noch der Hang des Berges, sondern die Ebene: ein Schrottplatz am Rande der Stadt. Das Bergmotiv ist mit der im

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Hintergrund bis zur Straße ansteigenden Müllhalde, an deren Fuß Sisyphos arbeitet, immerhin angedeutet. Die schwefelgelb rauchenden Schlote, das häßliche rotviolette Autowrack und der tote Baum, mit dem Sisyphos den Felsblock festgekeilt hat, signalisieren die industrielle Welt des modernen Sisyphos, dessen Arbeit Natur zerstört und Müll produziert. Sisyphos aber erscheint in dieser Gestaltung des Stoffs nicht als Arbeiter, sondern als Künstler, der den Stein mit Hammer und Meißel die Form einer Faust aufzwingt. Nicht Verweigerung und Flucht also, nicht übermütiges Von-sich-Stoßen und Zerstören, sondern gezielte Veränderung der Welt durch geduldiges und kreatives Umformen der Lebensbedingungen. Der dritte Lösungsvorschlag ist deutlich positiver als die beiden anderen. Die Faust symbolisiert bei Mattheuer Widerspruchsgeist und Widerstandskraft des Menschen. Hier zielt sie zudem auf die Macht der künstlerischen Arbeit, die Realität nicht nur abzubilden, sondern auch zu verändern. Aber Mattheuer wäre nicht Mattheuer, wenn er nicht auch hier ein Fragezeichen setzte. Die Betrachter der Szene wenden sich zwar - anders als auf der „Flucht des Sisyphos" nicht ab, und sie tragen auch keine Masken; aber auch sie bleiben hinter der Schranke in deutlicher Distanz, die durch die verschränkten oder lässig aufgestützten Arme und durch die übereinandergelegten, zur Seite gestreckten oder gefalteten Hände noch betont wird. Ob und, wenn ja, welche Wirkung der Künstler und seine Kunst haben können und werden, bleibt also völlig offen; und auch die Faust ist nicht uneingeschränkt positiv konnotiert. Sie kann auch Gewalt signalisieren, und die Position der Faust mag andeuten, daß sie sich auch gegen den Künstler richten kann.

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Wie Mattheuer (und andere Künstler)34 haben sich auch sehr viele Schriftsteller von Camus inspirieren lassen. Überhaupt ist die Literatur der wichtigste moderne Ort des antiken Mythos.35 Das sei im folgenden Schlußteil an Hand einer Reihe von Sisyphos-Texten und mit einer knappen Skizze über die Antikerezeption in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart wenigstens noch angedeutet.36 Natürlich kann auch nach Camus der negative Aspekt des Bilds betont werden. In einem Sisyphoszweizeiler von Arnfrid Astel37 heißt es: Aus dem Vollen schöpfen ins Leere, ins Leere

und Christa Alten, eine Lyrikerin der ehemaligen DDR, beklagt die auch im Lande sozialistischer Utopie nie endende Mühsal des Steinwälzers bzw. der Steinwälzerin am Ende ihres 1974 publizierten Gedichts „Frau Sisyphos":38

Frau Sisyphos arbeitet täglich zwei Schichten oder drei eine wird ihr bezahlt Täglich Frau Sisyphos, ihr erschöpftes Gesicht, bei Engels, Lenin, wie lange noch?

Man kann die Camussche Heroisierung des menschlichen Lebens in der Gestalt eines Sisyphos, der sich immer aufs neue plagt und auch noch stolz ist auf seine Plakkerei, auch attackieren, wie z. B. Peter Maiwald:39 Hau ab, Mensch, elender Angeber mit Mühe, Lastesel

34 Zu anderen künstlerischen Gestaltungen des Themas vgl. B. Seidensticker/A. Wessels, o. Anm. 4, S. 254 f. 35 Vgl. die Anthologie, o. Anm. 4 und die Homepage des Berliner Antikerezeptionsprojektes, http://userpage.fu-berlin.de/-antikewa.html. 36 Der folgende Text beruht im wesendichen auf dem Nachwort zur Sisyphos-Anthologie, s. Anm. 4, S. 231-253; die Beispiele sind aus der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart gewählt (natürlich haben der Mythos und seine Gestaltung durch Camus, wie die Anthologie dokumentiert, auch in anderen Ländern gewirkt); daß die Beispiele sich auf Lyrik und kurze Prosa beschränken, ist aus dem Wunsch erwachsen, die Texte im Vortrag ganz vorstellen zu können. 37 Arnfrid Astel, Sisyphos, in: A. A., Neues (&Altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme, Frankfurt a. M. 1978, S. 241. 38 Christa Alten, Frau Sisyphos, in: Auswahl 74. Neue Lyrik — Neue Namen, hrsg. von B. Jentzsch u. a., Berlin 1974, S. 10. 39 Peter Maiwald, Sisyphos I, in: P. M., Balladen von Samstag auf Sonntag, Stuttgart 1984, S. 34.

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und man kann schließlich den ganzen Mythos einfach ironisch verwerfen und erklären, daß es den Stein längst nicht mehr gibt, wie Hans-Ulrich Treichel:40 Sisyphos' Dementi: Der Berg auf dem ich wohne ist nicht so hoch wie ihr glaubt. Er ist gar kein Berg. Und der Stein war schon bald nur noch der Rest eines Steins. Vor ein paar Jahren ist er mir in den Ausguß gerutscht. Seitdem sitze ich hier und gebe Erklärungen ab. Alles andere ist falsch.

Aber auch der immer kleiner gewordene und schließlich in den Ausguß gerutschte Stein verweist noch auf den Felsen. Auch das Dementi wird den Sisyphosmythos nicht aus der Welt schaffen. Interessanter aber als diese eher spielerischen Sisyphos-Variationen scheinen mir die Antworten auf die im Bild des Sisyphos gestellte Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz zu sein, die - wie Camus - die sisypheische Situation des Menschen ernst nehmen und akzeptieren, ja ihr eine positive Seite abgewinnen, auch wenn sie dabei Sisyphos - d. h. uns alle - nicht gleich glücklich nennen, wie Camus. So entwickeln eine ganze Reihe von modernen Texten aus der Camusschen Wende vom elenden zum glücklichen Sisyphos, der sein absurdes Schicksal annimmt, die Vorstellung, daß Sisyphos den Stein braucht. Dafür nur zwei Beispiele: Günter Kunerts Sisyphos (in der Prosaparabel „Neues von Sisyphos"41) kann nicht leben ohne den Stein. Als „die Tücke des Objekts" durch „unendliche Geduld und Leidensfähigkeit" besiegt ist, wird der Glückliche - plötzlich ohne Arbeit - un4 0 Hans-Ulrich Treichel, Sisyphos' Dementi, in: H.-U. T., Seit Tagen kein Wunder, Frankfurt a. M. 1990, S. 21. 41 Günter Kunert, Neues von Sisyphos, in: G. K„ Im toten Winkel. Ein Hausbuch, München 1992, S. 219.

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glücklich und kehrt schließlich „zu seinem Berg zurück, stieß den Marmorblock in die Tiefe und begann aufs neue, ihn emporzurollen." Und auch in Ulla Hahns schöner „Ballade von S." (aus dem Jahre 1988 42 ) bleibt der Fels eines überraschenden Tages plötzlich oben liegen; Sisyphos aber muß nach kurzem Triumphgeschrei begreifen: „S. war S. nur wenn er den Felsen rührte". Ohne die Last des Steins spürt er nichts mehr: Nahm weder Wind noch Quellen noch den Dattelbaum den Abendstern nicht wahr und nicht den Weg hinunter zu den Menschen.

Ohne den Stein ist S. gar kein Mensch mehr. Der Kampf gegen Berge kann ein Menschenleben ausfüllen.43

Günter Grass, der Sisyphos wiederholt als seinen Privatheiligen bezeichnet hat, 44 identifiziert sich in vielen Texten und Gesprächen mit Camus' Interpretation der Figur und ihres Schicksals:45 „Sisyphos ist wieder aktuell", formuliert er in einem Gespräch mit Siegfried Lenz. „Ich erkenne mich am Fuß des Berges, der Stein ist da, ich wälze ihn... Ich sage, bitte schön, der Stein gehört zu mir - im Camusschen Sinn." 46 Und in demselben Gespräch entwickelt Grass aus dieser Haltung heraus eine klare utopie-kritische Position: „die Leugnung eines Endzieles", „die Absage an jedes geschlossene ideologische System, das... Menschen... glauben machen will, wir erreichen etwas, einen Zustand, wo der Stein oben liegenbleibt". Wichtiger, so Grass, als jede idealistische Utopie ist der lange Atem, das Durchhalten und Weitermachen, selbst wenn immer wieder enttäuscht wird: „Schnecken kommen nie an." 47 Aus dem politischen Bereich in den Bereich der Kunst übertragen, heißt das: Was zählt ist der künstlerische Prozeß. Nicht der Stein, der oben auf dem Gipfel lie42 Ulla Hahn, Ballade von S., in: U. H„ Unerhörte Nähe, Stuttgart 1988, S. 74 f. 43 Albert Camus, s. o. Anm. 23. 44 Günter Grass, Sisyphos und der Traum vom Gelingen. Gespräch mit Oskar Negt, Horst Wernicke und Johano Strasser, in: G. G„ Werkausgabe in zehn Bänden, hrsg. v. Klaus Stallbaum. Darmstadt-Neuwied 1987, Bd. 10: Gespräche mit G. G„ S. 340. 45 Günter Grass hat sich wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller immer wieder (unter anderem im Tagebuch einer Schnecke und in Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus, in: ebd., Bd. 10, S. 212 f.) auf Sisyphos (und Camus) bezogen. 46 Günter Grass, Phantasie als Existenznotwendigkeit. Siegfried Lenz im Gespräch mit Günter Grass, in: ebd., Bd. 10, S. 279 f. 47 Günter Grass, ebd., S. 280.

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genbleibt, sondern die immer neue Herausforderung, die immer neue Anstrengung macht den Künstler. U n d in einem fiktiven Sisyphos-Interview von Albrecht Fabri 4 8 ist dieser Gedanke auf jede geistige Tätigkeit ausgedehnt: „Der Geist bringt es zu überhaupt nichts. Der Geist, der es zu etwas bringt, bringt sich um. Wer sich, statt ihn dem Abgrund zurückzugeben, auf den Stein setzt, petrifiziert. Geistiger Besitz ist Paläontologie." Wie Grass, aber weniger abgeklärt als dieser, reagiert der junge Hans Magnus Enzensberger in einem frühen Text auf Camus' ,Mann mit dem Stein'. 4 9 In dem 1957 erschienenen Gedicht „Anweisung an Sisyphos" fordert er den Camusschen Sisyphos auf, sich nicht etwa mit der begriffenen Aussichtslosigkeit seiner Situation abzufinden, sich nicht zu früh zu freuen und sich nicht an seiner Ohnmacht zu laben, sondern zornig zu sein: Was du tust, ist aussichtslos. Gut: du hast es begriffen, gib es zu, aber finde dich nicht damit ab, Mann mit dem Stein. Niemand dankt dir; Kreidestriche, der Regen leckt sie gelangweilt auf, markieren den Tod. Freu dich nicht zu früh, das Aussichtslose ist keine Karriere. Mit eigner Tragik duzen sich Wechselbälge, Vogelscheuchen, Auguren. Schweig, sprich mit der Sonne ein Wort, während der Stein rollt, aber lab dich an deiner Ohnmacht nicht, sondern vermehre um einen Zentner den Zorn in der Welt, um ein Gran. Es herrscht ein Mangel an Männern, das Aussichtslose tuend stumm, ausraufend wie Gras die Hoffnung, ihr Gelächter, die Zukunft, rollend, rollend ihren Zorn auf die Berge.

Die Vermehrung des Zorns, so ergebnis- und hoffnungslos sie auch bleibt, sie bewahrt dem das Aussichtslose immer wieder Anpackenden zwar nicht sein Glück, wohl aber seinen Stolz.

48 Albrecht Fabri, Interview mit Sisyphos, in: A. F., Der schmutzige Daumen, Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 2000, S. 26-32. 49 Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955-1970, Frankfurt a. M. 1971, S. 13.

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Auch Hilde Domin 5 0 ruft ihrem Sisyphos zu, „mit unermüdlicher Hand" und „mit unermüdlichem Atem" immer aufs neue die „Löcher" und „schwarzen Risse" der Welt zu ,,stopfe[n]" und „die Ränder der Wunden zusammenzuhalten, auch wenn es sich um eine Sisyphosarbeit handelt. Aber anders als Grass' nüchtern-realistische Analyse und Enzensbergers zornige Imperative schließt ihr Gedicht mit einem hoffnungsvollen Ton: Bergaufwärts gerollt die Steine werden Quelle und Brot. Das immer neue Rollen des Steins - wenn es auch keine Erlösung bringt - ist doch die einzige segenbringende Tätigkeit, die dem Menschen angesichts des sich immer erneuernden Leids und der immer wieder aufbrechenden Wunden noch bleibt. Enzensberger hat sich übrigens vor wenigen Jahren in einem zweiten Sisyphostext ganz ähnlich geäußert. In dem Band „Aussichten auf den Bürgerkrieg" (1993) 5 1 vergleicht er mit Sisyphos alle diejenigen, die sich nach zerstörerischen Bürgerkriegen - in Afrika, auf dem Balkan oder in Lateinamerika - wieder einzurichten versuchen - bis zum nächsten Mal - , obwohl sie genau wissen, „daß sie die Welt nicht in Ordnung bringen können", „daß die Mörder wiederkehren werden". Sisyphos ist ihm jetzt kein „existentialistischer Held" mehr, „kein Outsider und Rebell von überlebensgroßer Tragik, umgeben mit luziferischem Glanz", sondern eine „Figur des Alltags", die immer wieder ihren Stein wälzt, und „dieser Stein ist der Frieden". Die kleine Auswahl von Sisyphostexten muß hier stellvertretend für die große Zahl von Gedichten und Erzählungen, Dramen und Romanen stehen, in denen sich die Vitalität des Mythos (nach Werbung, Karikatur und bildender Kunst) auch in der zeitgenössischen Literatur erweist. Die folgende .gesamtdeutsche' Skizze mag das abschließend bestätigen und zugleich einen besonders interessanten Aspekt des Themas ins Licht rücken, die Präsenz und Bedeutung der Antike bzw. des antiken Mythos in der Literatur der DDR.52 In der Literatur der alten Bundesrepublik (und in Österreich und in der Schweiz) spielte der antike Mythos (bzw. die Antike insgesamt), sieht man einmal von den ersten Jahren nach dem Kriege ab, lange Zeit eine eher marginale Rolle. 50 Hilde Domin, Sisyphos. Variationen auf einen Imperativ von Mallarmé, in: H. D., Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M. 1987, S. 346 f. 51 Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. 1993, S. 91-93. 52 W. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig21997, passim, v.a.S. 347ff.;V. Riedel, Antikerezeption der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1984; B. Seidensticker, DDR, Antikerezeption II: Literatur, Musik und bildende Kunst, in: Der neue Pauly 13, 1999, Sp. 689-699 (dort auch die weitere Literatur).

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Außer dem Sonderfall des Autors, Literaturkritikers und Klassischen Philologen Walter Jens53 gibt es keinen Autor, für den die kreative Rezeption der antiken Welt und ihrer künstlerischen Leistungen von mehr als vorübergehender oder nebensächlicher Bedeutung ist. Die Gründe dafür sind nicht einfach zu bestimmen. - Liegt es vielleicht daran, daß es im Westen keine so beherrschende Vaterfigur wie Brecht gab, die mit ihrem Beispiel der Antikerezeption den folgenden Generationen Anregung und Rechtfertigung zugleich hätte liefern können? - Hat Peter Hacks recht mit seiner an Arnold Gehlen orientierten These, daß die unbedingte Originalitätssucht und der allgemeine Traditionsverlust der westlichen Moderne verantwortlich oder doch mitverantwortlich seien dafür, daß die jahrhundertealte Kontinuität der Antikerezeption gestört erscheint; - oder erklärt eher der nachhaltige Schock, den die Verfuhrbarkeit und Verfügbarkeit des Humanismus durch die Ideologie des Unmenschen auslöste, die langandauernde Distanz der westlichen Intelligenz zur Antike? Die Literaturwissenschaft hat in diesem Zusammenhang geradezu von einem „Mythosverbot" gesprochen.54 Für diese Erklärung spricht, daß sich das Bild in den letzten beiden Jahrzehnten gewandelt hat. Zu Christoph Ransmayrs Bestseller „Die letzte Welt" 55 kommen immerhin nicht nur Sten Nadolny mit seinem Hermes-Roman „Der Gott der Diebe" und Michael Köhlmeier, der österreichische Rhapsode antiker Mythen und Verfasser einer noch nicht abgeschlossenen Odysseus-Tetralogie;56 aber auch Peter Handke, der sich intensiv mit antiken Texten, Ideen und Idealen auseinandersetzt,57 oder Botho Strauß, der in vielen seiner Stücke mit antiken Mythen arbeitet und zuletzt eine Dramatisierung der Homerischen Odyssee präsentiert hat. 58 53 Zu Jens' Antikerezeption vgl. B. Seidensticker, Die Götter sind sterblich. Walter Jens und die Antike, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 186-207 (dort auch die weitere Literatur). 54 Vgl. K.-H. Bohrer, Vorwort zu: K.-H. B., Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983, S. 10. 55 Zu Ransmayrs Antikerezeption zuletzt U. Schmitzer, Tomi, das Kaff, Echo, die Hure - Ovid und Christoph Ransmayrs ,Die letzte Welt': eine doppelte Wirkungsgeschichte, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 276-297 (mit der weiteren Literatur). 56 Zu Köhlmeiers Antikerezeption zuletzt K. Töchterle, Narrat et omnis amans: Liebe, Tod und Erzählen im Mythos Michael Köhlmeiers, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 211-225 (mit der weiteren Literatur). 57 Zu Handkes Antikerezeption zuletzt O. Panagl, Auch die Zeit der Orakel ist vorbei, oder? Ein Versuch über Peter Handke, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 157-180 (mit der weiteren Literatur). 58 Zu Strauß' Antikerezeption zuletzt W. Emmerich, „Eine Phantasie des Verlusts." Botho Strauß' Wendung zum Mythos, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 321-343.

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Gemeinsamkeiten lassen sich allerdings kaum konstatieren, und der Mythos ist auch bei den Genannten eine Sprache der Poesie neben anderen. Die Antikerezeption in der ehemaligen D D R ist ungleich reicher.59 Es sei nur an Heiner Müllers lebenslange Arbeit mit griechischen Mythen und griechischer Literatur erinnert. Ähnlich intensiv ist die Antikerezeption auch bei Peter Hacks, Franz Fühmann und Günter Kunert, und dazu kommen — mit vielen wichtigen Texten — auch Karl Mickel, Christa Wolf und Volker Braun, Hartmut Lange und Stefan Schütz, Jochen Berg und Durs Grünbein 60 und manche andere. Die Gründe fiir dieses erstaunliche Phänomen sind vielfältig: Marx' und Engels' intensive Beschäftigung mit der Antike; Lenins These, daß der Marxismus seine weltgeschichtliche Bedeutung dadurch erlangt habe, „daß er sich alles, was in der zwei tausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete", und das für die Kulturpolitik der D D R konstitutive Konzept des „Kulturellen Erbes" (bzw. der „Erworbenen Tradition") gehören ebenso dazu wie das Vorbild Bertolt Brechts, der sich zeitlebens kritisch-kreativ mit der griechisch-römischen Antike und mit dem Mythos beschäftigt hat. Marx-Verehrung, Erbe-Theorie und Brecht-Tradition hätten aber kaum so mächtig wirken können, wenn die Antikerezeption nicht aus zwei weiteren Gründen fiir Autoren wie bildende Künstler attraktiv gewesen wäre. 1. ermöglichte die kreative Arbeit mit der Antike die Vermeidung oder doch erhebliche Modifikation des lange Zeit von Partei und offizieller Kritik („Bitterfelder Weg") geforderten und geförderten sozialistischen Realismus mit seinen ästhetischen und thematischen Verengungen; 2. konnten mit Hilfe der von der Erbediskussion gedeckten Antikerezeption heikle Fragen aufgegriffen, Hoffnungen geäußert und Utopien entworfen, gesellschaftliche und politische Schwierigkeiten und Widersprüche angesprochen werden, die sich unverhüllt wohl kaum hätten äußern bzw. darstellen lassen. In einem Interview stellte Heiner Müller fest: 59 S. o. Anm. 52. 60 Durs Grünbeins großes Interesse an antiken Texten und Autoren, Motiven und Themen zeigt sich schon in seinem ersten Lyrikband und hat sich seitdem kontinuierlich verstärkt; besonders interessant ist das ungewöhnlich große Interesse an der römischen Antike, besonders der Kaiserzeit (vgl. vor allem „Nach den Satiren", Frankfurt a. M. 1999, und den Warburgvortrag „Schlaflos in Rom", in: Vorträge aus dem 'Warburg-Haus 5 [2000]). In den letzten Jahren ist zunehmend auch die Übersetzung antiker Texte hinzugekommen: Nach den „Persern" des Aischylos hat Grünbein auch Senecas „Thyestes" und zuletzt Aischylos' „Sieben gegen Theben" übersetzt; cf. dazu M. Fuhrmann, Zeitdiagnose am Widerpart Rom. Zu Grünbeins Gedichtband „Nach den Satiren", in: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1999), S. 276-285, und M. v. Albrecht, Nach den Satiren. Durs Grünbein und die Antike, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 101-116.

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Bernd Seidensticker

In den frühen sechziger Jahren konnte man kein Stück über den Stalinismus schreiben. Man brauchte diese Art von Modell (er meint den Philoktet-Mythos), wenn man die wirklichen Fragen stellen wollte. Die Leute hier verstehen das sehr schnell.61

Kunert spricht immer wieder - mit einem Ausdruck Lenins - von „Sklavensprache". 62 Hatte Brecht die Antike immer wieder zur Kritik am Kapitalismus und am Faschismus instrumentalisiert, so nutzten viele Autoren und Künsder in der D D R in der Tat das Medium der „Sklavensprache" zur Kritik am real existierenden Sozialismus, indem sie individuelle und gesellschaftliche Probleme auf dem Hintergrund mythischer Modelle (und ihrer vielfältigen Variationen) gestalteten. Wie die heftigen Debatten um Heiner Müllers „Philoktet" oder die Tatsache, daß Christa Wolfs „Kassandra" in der D D R nicht ohne gewichtige Kürzungen erscheinen konnte, zeigen, blieben die kritischen Töne auch so nicht immer unbemerkt; sie wurden aber letztlich toleriert, auch wenn sie zunehmend schärfer wurden. Doch Vorsicht. So naheliegend die politisch-kritische Interpretation dieser und vieler anderer Texte, Lieder und Bilder auch ist: Die Bedeutung des antiken Mythos für die Literatur der ehemaligen D D R kann natürlich nicht allein mit dem Hinweis auf „Sklavensprache" und die Möglichkeiten poetisch-subversiver Kritik erklärt werden. In vielen, wenn nicht in den meisten Fällen greift diese Erklärung zu kurz. Heiner Müllers „Philoktet"-Drama ist weit mehr als eine Attacke auf die Machtkämpfe in der kommunistischen Partei. Das Modell Antike wird hier und in anderen Texten weit grundsätzlicher zu kritischer Analyse historischer Entwicklungen und zur Darstellung allgemeiner gesellschaftlicher und individueller Probleme genutzt. 63 So hat denn auch nach der Wiedervereinigung nicht nur Heiner Müller seine intensive Arbeit mit griechischen Mythen und anderem antiken Material fortgesetzt. Christa Wolf hat - nicht zuletzt zur Selbstrechtfertigung - eine Ehrenrettung der Kindesmörderin Medea präsentiert; 64 Volker Braun hat den Iphigeniestoff für seine bittere Analyse der Wiedervereinigung instrumentalisiert; 65 und auch Wolfgang Mattheuer hat nicht nur den abgestürzten Ikaros zu einem neuen Versuch animiert, sondern auch ein viertes Sisyphosbild gemalt: 66

61 Heiner Müller, in: Walls/Mauern. Interview mit S. Lothringer, in: H. M „ Rotwelsch, Berlin 1982, S. 77. 62 G. Kunert, z. B. in: Von der Antike eingeholt, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 227 f. 63 Zum Philoktet W. Barner, Modell, nicht Historie. Heiner Müller, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 57-71 (mit weiterer Literatur). 64 Vgl. dazu G. Most, Eine Medea im Wolfspelz, in: B. Seidensticker/M. Vöhler, s. o. Anm. 26, S. 348-366 (mit der weiteren Literatur). 65 Vgl. dazu Preußer, s. Anm. 26. 66 Mattheuer hat das Bild mit dem Titel „Was nun" im Kontext der anderen drei Bilder begon-

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Auch auf diesem Bild aus dem Jahre 1991 mit dem Titel Sisyphos sinniert arbeitet Mattheuer mit den uns vertrauten Elementen. Den Hintergrund bilden hohe Berge; der Fels hat, ähnlich wie beim „übermütigen Sisyphos", die Form eines monumentalen Marx-Kopfes; diesmal lehnt Sisyphos am Stein, auf den er sich mit dem rechten Ellenbogen stützt; der leicht geneigte Kopf ruht in der offenen Hand. Die Haltung suggeriert Müdigkeit, Nachdenklichkeit, Ratlosigkeit. Die drei Beobachter aus „Sisyphos behaut den Stein" sitzen nun wie rastende Arbeiter oder Bergwanderer rechts oberhalb von Sisyphos am Hang. Sie drehen ihm den Rücken zu, blicken aber über die Schulter interessiert zu ihm herüber und unterstreichen so die Frage, die das zentrale Sisyphos-Motiv stellt: Was tun? Soll er weitermachen oder aufgeben? Es ist der Augenblick, in dem der Camussche Sisyphos sich seiner absurden Situation bewußt wird und gerade daraus seine Stärke, ja sein Glück gewinnt. nen, aber erst nach der Wiedervereinigung zuende gemalt. Anders als die drei Dresdner Bilder (s. o. S. 161, 163, 164) befindet sich das Bild in Privatbesitz.

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Was wird, was soll Mattheuers Sisyphos tun - 1991 - im Augenblick der Schwebe zwischen dem Ende der D D R und dem Beginn einer neuen/alten Zeit? Auch hier stellt Mattheuer eher Fragen, als daß er sie beantwortet; und hierin liegt offenbar - heute wie früher - die Funktion der mythischen Geschichten und Gestalten: Die uralten legendären Stoffe sind in doppeltem Sinne unerschöpflich: nach innen zu enthalten sie das Menschliche Gleichbleibende in einer Verdichtung, die den Jahrtausenden widersteht und jedem neuen Geschlecht durch frische unberührte Bruchflächen ergiebig wird, nach außen hin setzen sie die Phantasie der Welt unabhängig in Bewegung. 67

Hofmannsthals Gedanke hat seine Gültigkeit behalten. Orpheus, Herakles und Prometheus, Odysseus und Oidipus, Kassandra und Medea, Ikaros und Sisyphos setzen auch heute noch die Phantasie der Welt in Bewegung. Als Sinnbilder menschlicher Möglichkeiten und Träume, Hoffnungen und Gefährdungen sind sie einerseits geschlossene griechische Entwürfe, andererseits jedoch offen und unerschöpflich; Modelle, die offenbar immer wieder dazu herausfordern, ihre Gültigkeit oder doch Brauchbarkeit unter veränderten historischen Bedingungen zu überprüfen, immer wieder dazu reizen, sich mit dem Urmodell und mit den Variationen der Vorgänger auseinanderzusetzen, ihnen die eigene Version entgegenzustellen. Die Präsenz und Bedeutung des Mythos in der Gegenwart hängt jedoch nicht allein an dem besonderen Reiz, den er auf die künstlerische Phantasie ausübt und an der Herausforderung, sich mit einer eigenen Variation in die lange und reiche Tradition seiner Rezeption einzuordnen. Sie hängt gewiß auch — und vor allem - mit der Rehabilitation des Mythos im 20. Jahrhundert zusammen, zu der ganz verschiedene Wissenschaften und Forschungsrichtungen beigetragen haben: Ethnologie und Anthropologie ebenso wie Psychoanalyse und Religionswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft. Bei allen Unterschieden in der Beschreibung und Deutung des Phänomens ist man sich doch darin einig, daß das mythische Denken nicht etwa Ausdruck primitiver Irrationalität, Produkt naiven Aberglaubens und wirrer Phantasterei ist, sondern eine bedeutungsvolle Form des menschlichen Geistes, die Realität zu ordnen, zu verstehen, zu erklären: d. h. zu bewältigen. Auch in der abendländischen Welt des Logos hat der Mythos seit dem Dichterphilosophen Piaton Philosophen und Dichtern dazu gedient, in einfachen Bildern oder bunten Geschichten über die zentralen Fragen des menschlichen Lebens nachzudenken und gerade dort, wo die rationale philosophische Analyse keine eindeutigen Antworten mehr zu geben vermag, Lösungen anzubieten oder doch Lösungsmöglichkeiten zu suggerieren. 67 Hugo von Hofmannsthal: [Einleitung zur] Josephslegende (1912), in: H. v. H.: Gesammelte Werke, hrsg. von Bernd Schoeller, Dramen VI, Frankfurt a. M. 1979, S. 92.

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Und eben das vermag der antike Mythos offenbar, wie die Sisyphosbilder und Texte andeuten sollten, auch heute noch. Am Ende seines Griechenlandreisetagebuchs „Die Götter sind sterblich" formuliert Walter Jens, in Erinnerung an ein Gespräch mit Albert Camus über den glücklichen Sisyphos: Der griechische Mythos ... ist vielleicht die einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können.68

68 W. Jens, Die Götter sind sterblich, Pfullingen 1959, S. 149.

Eberhard Knobloch

Mathesis perennis Mathematisches Denken in Antike und Moderne

Einleitung ß^£7to|i£v yäp aptt 5i' ecoTttpoD ev aiviyncm, tote 5e Ttpöaamov rcpö«; Jtpöoomov; äpxv YIVCQGKG} E K nepovq, TOTE 8e ¿7ciyvcooo|iai KOÖÖX; ¿Jieyvcooöriv. Wir sehen nämlich bald durch einen Spiegel in einem Rätsel: dann aber von Angesicht zu Angesicht. Bald erkenne ich stückweise: dann aber werde ich erkennen so wie ich erkannt wurde. (1. Korinther 13, Vers 12)

Mit diesem Zitat aus dem ersten Korintherbrief des Apostels Paulus (ohne jenes zu übersetzen) beendete der Göttinger Mathematiker S. J. Patterson 1990 seine Übersicht über die Entwicklung der Zahlentheorie im 20. Jahrhundert:1 Ein erfreuliches Zeichen dafür, dass auch Mathematiker unserer Tage die klassischen Sprachen hochachten. Ein Befund, der durch die altsprachlichen Titel zahlreicher, in diesem Jahrhundert begründeter mathematischer Zeitschriften bestätigt wird: Studia mathematica (seit 1929 in Polen), Annales Polonici Mathematici (seit 1954), Aequationes Mathematicae (seit 1962 in Kanada/Schweiz), Inventiones mathematicae (seit 1966 in Deutschland), Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Series A, I Mathematica (seit 1975 in Finnland), Analysis Mathematica (seit 1975 in Ungarn/Russland). Aber ist dies mehr als schmückendes Beiwerk, spielt das mathematische Denken der Antike noch heute eine funktionale Rolle? In erster Näherung mag man zweifeln: Die Zahl der mathematischen Aufsätze hat sich durchschnittlich alle zwölf Jahre verdoppelt. Man rechnet im Jahre 2001 mit etwa 100.000 Aufsätzen 1

Samuel J . Patterson, Erich Hecke u n d die Rolle der L-Reihen in der Zahlentheorie, in: G e r d Fischer/Friedrich Hirzebruch/Winfried Scharlau/Willi T ö r n i g (Hrsg.), Ein Jahrhundert

matik 1890-1990,

Festschrift zum Jubiläum

Sohn, 1990, S. 6 2 9 - 6 5 5 .

Mathe-

der DMV, Braunschweig-Wiesbaden: Vieweg &

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der weltweit etwa 100.000 lebenden Mathematiker.2 Wo bleibt da die Antike? Und doch bietet sich beim näheren Hinsehen ein anderes Bild. Ich möchte versuchen, es in drei Abschnitten zu beschreiben: 1. Vorbilder 2. Methoden 3. Probleme Epilog

1. Vorbilder Die höchste Auszeichnung für einen Mathematiker ist die sogenannte Fields-Medaille, benannt nach dem kanadischen Algebraiker und Theoretiker algebraischer Funktionen John Charles Fields (1863-1932). Sie wird seit 1936 alle vier Jahre anlässlich der internationalen Mathematikerkongresse verliehen, zuletzt 1998 viermal in Berlin. 3 Die Vorderseite

Abb. 1: Vorderseite der Fields-Medaille

enthält eine Seitenansicht von Archimedes: An der Identität der dargestellten Person besteht kein Zweifel, da der Name in griechischer Schrift hinzugefügt ist. Umrahmt wird das Bildnis von einer lateinischen Inschrift: Transire suum pectus mundoque potiri. 2

Vgl. Jean-Paul Pier (Hrsg.), Development of Mathematics 1950-2000, Birkhäuser, 2000, S. 8.

Basel-Boston-Berlin:

3

Vgl. Eberhard Knobloch, Die Fields-Medaille, Eine Nachlese zum ICM 1998, in: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker- Vereinigung Heft 2 (2000), S. 56-57.

Mathesis perennis

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Ein fast vollständiger Hexameter, wie der Kenner schnell bemerkt, und zwar aus dem astrologischen Lehrgedicht Astronomica (VI, Vers 392) des römischen Dichters Manilius. Als der fiktive Adept der Astrologie - der Leser - nach der Erläuterung der Dekanlehre darüber seufzt, wie schwer es sei, die Kräfte und Einflüsse der Sterne zu erkennen, weist ihn der Dichter zurecht: Q u o d quaeris, deus est: conaris scandere caelum Fataque fatali genitus cognoscere lege Et transire tuum pectus m u n d o q u e potiri. „Was D u suchst, ist Gott: D u versuchst, gen H i m m e l aufzusteigen u n d die Schicksale zu erkennen, obwohl D u selbst unter d e m Gesetz des Schicksals gezeugt bist, u n d Deine Verstandesgrenzen zu übersteigen u n d Dich z u m Herrn der Welt aufzuschwingen."

Zweifel sind angebracht, ob sich die heutigen Mathematiker des astrologischen Kontextes ihres Spruches bewusst sind, der ja als eine Zurechtweisung gegenüber dem menschlichen Vorwitz gemeint ist, die Zukunft zu erfahren. Und doch ist dieser Griff in den astrologischen Zitatenschatz kein Einzelfall. 1890 wurde die Deutsche Mathematiker-Vereinigung auf Drängen Georg Cantors in Bremen gegründet. Man schuf ein kreisförmiges Emblem, das den Einband des 1990 erschienenen Jubiläumsbandes ziert.

Abb. 2: Medaille der Deutschen Mathematiker-Vereinigung

Auf dem Rand ist die Vereinigung mit dem Gründungsjahr genannt. Das Innere des Emblems nimmt ein aufgeschlagenes Buch ein. Es wird von einem Lorbeerkranz umrahmt, so wie die Rückseite der Fieldsmedaille durch einen Lorbeerzweig geschmückt ist: der mathematicus laureatus in der Nachfolge despoeta laureatus, wie er uns von Petrarca oder Conrad Celtis her bekannt ist:

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Artem geometriae discere atque exercere publice interest, „Die Kunst der Geometrie zu lernen und zu üben liegt im öffentlichen Interesse"

heißt es auf den aufgeschlagenen Seiten. Was der unbefangene Leser als Lob der Geometrie um deren unbestreitbaren öffentlichen Nutzens willen liest, gibt dem Rechtshistoriker den entscheidenden Hinweis auf die Identität des Buches: Es ist der Codex Iustinianus des Corpus Iuris Civilis des oströmischen Kaisers Justinian. Der auf das Zitat folgende Satz klingt weit weniger schmeichelhaft: Ars autem Mathematica damnabilis est, et interdicta omnino, „Die mathematische Kunst aber ist verdammenswert und von Grund auf untersagt."

Mehr noch: Das betreffende Kapitel (IX, 18) trägt die Überschrift: De maleficis et mathematicis et ceteris similibus, „Über Bösewichter, Mathematiker und die übrigen diesen ähnlichen Personen". Mit Mathematikern waren die Astrologen und Wahrsager gemeint, denen das Gesetz das Handwerk legen sollte. Paragraph 5 bestimmte: Nemo haruspicem consulat aut mathematicum, nemo hariolum, „Niemand frage einen Weissager oder Mathematiker (sprich Astrologen) um Rat, niemand einen Wahrsager". Hieß doch das astrologische Werk des spätrömischen Autors Firmicus Maternus Mathesis. Die Freude über soviel Antikenbezug wird freilich getrübt, wenn man liest, was darüber hinaus auf der Vorderseite der Fieldsmedaille eingraviert ist: das in römischen Ziffern geschriebene Datum 1933 ihres Entwurfs: MCNXXXIII. Alle 42 bisher verliehenen Medaillen enthalten diesen Prägefehler, den ich 1998 zu meiner nicht geringen Überraschung entdeckte. Als ich den Preisträger Michael Atiyah anlässlich eines Treffens im Juli 2000 in Granada daraufhin ansprach, schrieb er mir zurück: „I believe you are correct in saying that the second M appears as an N and is therefore a mistake. However, it is in very small characters and the difference at that scale between M and N is almost not visible to the naked eye." Eine typisch moderne, mathematische Argumentation. Hinreichend kleine Fehler können vernachlässigt werden. Noch Newton hatte dagegen betont, „auch die kleinsten Fehler dürfen in der Mathematik nicht verachtet werden", errores quam minimi in rebus Mathematicis non sunt contemnendi. 4 Noch bleibt uns, genauer die Rückseite der Fields-Medaille zu analysieren: Abgesehen von der lateinischen Inschrift Congregati ex toto orbe mathematici ob scripta insignia tribuere, „Die aus der ganzen Welt versammelten Mathematiker verliehen (diese Medaille) aufgrund herausragender Schriften"

4 Isaac Newton, Tractatw de quadratura curvarum in usum studiosae juventutis mathematicae explicationibus illustratus a Daniele Melander, Upsala, 1762, S. 4.

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zeigt sie vor allem einen senkrechten Kreiszylinder (Höhe gleich Durchmesser), dem eine Kugel einbeschrieben ist. In einem erst 1906 wiederaufgefundenen Brief an Eratosthenes, der fälschlicherweise sogenannten Methodenschrifi, bewies Archimedes, dass der Zylinder das anderthalbfache Volumen des Kugelvolumens hat. Wir wissen aus Plutarchs Parallelvita von Pelopidas und Marcellus (XVII, 7), dass Archimedes seine Angehörigen gebeten hatte, diese Figur mit dem zugehörigen Verhältnis der beiden Volumina zueinander auf sein Grab zu schreiben. Die geometrische Figur ermöglichte es Cicero 75 v. Chr., als Quaestor das Grab in Sizilien wiederzuentdecken und freilegen zu lassen (Tusculanae disputationes V, 23). Die Zwischenbilanz ist interessant genug: Archimedes, dem schon zu Plutarchs Zeiten aufgrund seiner theoretischen Erkenntnisse göttliche Einsicht zugeschrieben wurde, der in der Renaissance zum unbestrittenen Sinnbild mathematisch-technischen Erfindungsreichtums wurde, dient zusammen mit der von ihm am höchsten geschätzten mathematischen Einsicht als Vorbild für die besten Mathematiker unserer Zeit. Doch der mathematische Hintergrund birgt mehr: Archimedes hatte das Volumenverhältnis mittels seiner heuristischen Methode gefunden, zu berechnende Flächen oder Volumina in Schnitte zu zerlegen und diese auszuwiegen. Nur im heuristischen Kontext gestattete er sich das dreifache Sakrileg: 1. Er verwandte mechanische Überlegungen, die nicht zur Geometrie gehörten und verstieß damit gegen das Gebot der Methodenreinheit. 2. Er verwandte Indivisiblen, Nichtgrößen, da Größen per definitionem vergrößerbar und verkleinerbar, teilbar sind, und damit nichtmathematische Objekte: Mathematik war die Wissenschaft der kontinuierlichen oder diskreten Größen. 3. Diese Nichtgrößen verstießen gegen das heute nach ihm benannte Maßaxiom. Zu zwei beliebigen reellen Zahlen a, b gibt es stets eine natürliche Zahl n, so dass n a > b. Auch wenn man die kreisförmigen, breitenlosen Schnitte durch die Kugel oder den Zylinder noch so oft vervielfacht, erhält man kein Volumen. Dies war umso bedenklicher, als zu seiner Zeit dieses Axiom noch nicht allgemein anerkannt war. Ausdrücklich erklärte er sich damit zufrieden, wenn die mit Hilfe des Axioms bewiesenen Sätze denselben Glauben, Tticmi;, erzielten, wie die ohne Hilfe des Axioms bewiesenen Sätze — Glaube statt Sicherheit: ein unbekannter Zug des Mathematikers Archimedes {De quadraturaparabolae, Einleitung). 5 Das axiomatische Denken des 20. Jahrhunderts sah die Situation entspannter: Abraham Robinson (1918-1974) entwickelte in den 1960er Jahren die Nichtstandardanalysis. Diese stützt sich auf eine nichtarchimedisch angeordnete Erweiterung 5

Vgl. Eberhard Knobloch, Archimedes, Kepler, and Guldin: The role of proof and analogy, in: Rüdiger Thiele (Hrsg.), Mathesis, Festschrift zum siebzigsten Geburtstag von Matthias Schramm, Berlin-Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 2000, S. 82-100; hier S. 84.

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des Körpers der reellen Zahlen, in der das archimedische Axiom nicht gilt. Robinson entwickelte dazu eine konsistente Theorie der unendlich kleinen Größen oder Infinitesimalien, die nicht mit Indivisiblen zu verwechseln sind. Programmatisch sagte Robinson 1968:6 „Die Kodifizierung intuitiver Konzepte und die Reinterpretation akzeptierter Prinzipien wird auch in Zukunft neue Fortschritte bringen." Hatte das 19. Jahrhundert durch Verneinung des euklidischen Parallelenpostulats nichteuklidische Geometrien hervorgebracht, so schuf Robinson durch Verneinung des archimedischen Axioms nichtarchimedische, algebraische Strukturen. Auch in der Verneinung bestimmter Voraussetzungen blieb der Bezug auf antikes mathematisches Denken präsent, wie denn die qualitative Entwicklung der Mathematik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Tendenz zum radikalen Wechsel des Standpunktes mit sich gebracht hat. Davon zeugt die Vorsilbe „nicht", „non" in Begriffen wie nichtlineare Analysis, nichtkommutative Geometrie, Nonstandard Analysis.7

2. Methoden Eine vernunftgeleitete Wissenschaft wie die Mathematik stützt sich auf Methoden: der Darstellung, der Lösung, des Beweisens. 2.1 Darstellung Euklid hatte das Ideal einer axiomatischen, deduktiven Darstellung des mathematischen Wissensgebäudes geliefert, an dem man sich auch im 20. Jahrhundert orientierte.8 Zwar hat der Begriff Axiom eine grundlegende Bedeutungsänderung durchgemacht: An die Stelle evidenter Aussagen, deren Evidenz wie im Falle des archimedischen Maßaxioms oder des euklidischen Parallelenpostulats durchaus umstritten war, sind Aussageformen getreten. Aber die Mathematikergruppe Bourbaki nannte unter bewusster Anknüpfung an Euklid ihre umfassende, axiomatische Darstellung der Strukturmathematik Éléments de mathématique.'3 Die Bände erscheinen seit den 1930er Jahren. 6

Joseph W. Dauben, Abraham Robinson, The Création of Nonstandard Analysis, A Mathematical Odyssey, Princeton: Princeton University Press, 1995, S. 412.

Personaland

7 8

Vgl. J.-P. Pier, s. Anm. 2, S. 9. Vgl. Wolfgang Schwarz, Geschichte der analytischen Zahlentheorie seit 1890, in: Gerd Fischer/ Friedrich Hirzebruch/Winfried Scharlau/Willi Törnig (Hrsg.), Ein Jahrhundert Mathematik 1890-1990, Festschrift zum Jubiläum der DMV, Braunschweig-Wiesbaden: Vieweg & Sohn, 1990, S. 7 4 1 - 7 8 0 ; hier S. 742.

9

Vgl. J.-P. Pier, s. Anm. 2, S. 10.

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2.2 Lösung Das Lösen mathematischer Probleme wird entscheidend erleichtert, wenn es auf standardisierte Verfahren, insbesondere auf Algorithmen zurückgeführt werden kann, also auf ein mechanisierbares Verfahren zur schrittweisen Umformung von Zeichenreihen. Von jeder Zeichenreihe Z ' kann man in endlich vielen Schritten feststellen, ob sie aus einer gegebenen Zeichenreihe Z durch Anwendung des Algorithmus erhalten werden kann. Mit dem Einsatz von Rechnern zur Lösung mathematischer Probleme haben Algorithmen eine überragende Bedeutung erlangt. Das Ziel sind computerausfiihrbare Algorithmen, ohne dass die Algorithmisierung der Mathematik je abgeschlossen sein wird. Dies ist eine beweisbare, inhärente Eigenschaft der Mathematik, die praktische Erscheinungsform des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes. 10 Die Automatisierung setzt eine vollständige Formalisierung und einwandfreie formale Durchdringung des Problems voraus: Je algorithmischer und effizienter man mathematische Probleme lösen will, umso mehr mathematische Theorie und umso schwierigere Beweise sind nötig. Die abstrakteste Ausprägung der algorithmischen Mathematik ist ,symbolic computation', Computer-Algebra. Es ist nun hervorzuheben, dass bereits Archytas und Aristoteles einen solchen Algorithmus kannten und dass dieser Algorithmus noch heute eine bedeutende Rolle spielt. Er dient zur Ermittlung des größten gemeinsamen Teilers GGT. Da ihn Euklid (Elemente VII, 2) überlieferte, heißt er zu Unrecht „Euklidischer Algorithmus". Er gründet auf folgender Tatsache: Ist a, = a 2 q, + a3, a,, a2, a 3 € Z, so gilt G G T (a,, a2) = GGT (a2, a3) Nach endlich vielen Schritten bricht der Algorithmus mit der Zeile an_, = a n q n _, ab, wenn der Rest 0 ist: a n ist der gesuchte GGT. Euklid wusste auch um die wichtige Konsequenz {Elemente X, 2). Bricht die Methode der Wechselwegnahme im Falle geometrischer Größen nicht ab, so sind die beiden Größen inkommensurabel: Ein Beispiel sind Seite und Diagonale eines Quadrates. Im Bereich der Zahlen fiihrt es auf ein Rationalitätskriterium. Jean-Louis Nicolas zählt in seinem soeben erschienenen Überblick über Arithmetik und Kryptographie der letzten 50 Jahre den euklidischen Algorithmus zu den sieben Grundalgorithmen der Zahlentheorie, neben dem chinesischen Restsatz und dem Legendre- und Jacobisymbol. 11 In der mathematischen Praxis fuhrt die Algo10 Bruno Buchberger, Computer - Algebra: Das Ende der Mathematik?, in: Mitteilungen der DMVHek 2 (2000), S. 16-19; hier S. 22. 11 Vgl. Jean-Louis Nicolas, Arithmétique et Cryptographie, in: J.-P. Pier (Hrsg.), s. Anm. 2, S. 849-877; hier S. 850-854.

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rithmik zu einer Hierarchisierung der mathematischen Sätze. Diese sind brauchbar oder nicht, je nachdem ob sie einen guten Algorithmus einschließen. Lassen Sie uns annehmen, wir wollten prüfen, ob eine Zahl Primzahl ist. Nach dem Satz von Wilson gilt: (N-l)! = - 1 (mod N ) « N Primzahl Der Satz ist mangels eines guten Algorithmus für (N—1)! mod N unbrauchbar, obwohl er eine notwendige und hinreichende Bedingung darstellt. Der Satz von Fermat aN-> = 1 mod N, N Primzahl ist brauchbar, weil a N_1 mod N mittels des Potenzalgorithmus berechenbar ist. Gleichwohl ist er keine notwendige und hinreichende Bedingung, also schwächer als der Wilsonsche Satz. Und so spielt die Suche nach Algorithmen in den verschiedensten Gebieten der Mathematik heute eine wesentliche Rolle: in der diskreten Mathematik, speziell in der linearen Optimierung, 12 in der Gruppentheorie,13 in der mathematischen Logik, speziell der Rekursionstheorie14 usf. Diese Suche kann durchaus erfolglos bleiben, einfach weil es einen solchen Algorithmus nicht gibt. Nur: Erfolglosigkeit allein bietet freilich keine Gewähr für Nichtexistenz. Noch 1494 hielt Pacioli die algorithmische Auflösung der kubischen Gleichung für unmöglich. Kaum 20 Jahre später gelang sie Scipione del Ferro.15 Anders steht es mit einem auf die Antike zurückgehenden Problem: Die nach Diophant aus Alexandria (3. Jh. n. Chr.) benannten Gleichungen sind Gleichungen in n Unbekannten mit ganzen rationalen Koeffizienten und sollen in ganzen rationalen Zahlen gelöst werden. Hilbert hatte 1900 im 10. Problem gefordert, einen Algorithmus anzugeben, der entscheiden lässt, ob eine vorgelegte diophantische Gleichung in diesem Sinn lösbar ist. 1970 gelang es Matijasevitch, die 12 Vgl. Martin Aigner, Diskrete Mathematik, in: Gerd Fischer/Friedrich Hirzebruch/Winfried Scharlau/Willi Törnig (Hrsg.), Ein Jahrhundert Mathematik

1890-1990,

Festschrift zum Jubi-

läum der DMV, Braunschweig-Wiesbaden: Vieweg & Sohn, 1990, S. 8 3 - 1 1 2 ; hier S. 85, 103. 13 Vgl. Gerhard O . Michler, Vom Hilbertschen Basissatz bis zur Klassifikation der endlichen einfachen Gruppen, in: Gerd Fischer/Friedrich Hirzebruch/Winfried Scharlau/Willi Törnig (Hrsg.), Ein Jahrhundert Mathematik

1890-1990,

Festschrift zum Jubiläum der DMV, Braun-

schweig-Wiesbaden: Vieweg & Sohn, 1990, S. 5 3 7 - 5 8 6 , hier S. 580. 14 Vgl. Kurt Schütte/Helmut Schwichtenberg, Mathematische Logik, in: Gerd Fischer/Friedrich Hirzebruch/Winfried Scharlau/Willi Törnig (Hrsg.), Ein Jahrhundert Mathematik

Festschrift zum Jubiläum

der DMV,

1890-1990,

Braunschweig-Wiesbaden: Vieweg & Sohn,

1990,

S. 7 1 7 - 7 4 0 ; hierS. 7 3 5 f. 15 Moritz Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, S. 483.

Bd. 2, Leipzig: Teubner, 2 1900,

Mathesis perennis

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algorithmische Unlösbarkeit und damit die Unentscheidbarkeit des 10. Hilbertschen Problems nachzuweisen. 16

a) Die

2.3 Beweis Sicherheitsgarantie

Mathematik ist durch die Methode des Beweisens charakterisiert, wie Buchberger im Jahre 2000 bemerkt. 17 Die Methoden unterlagen jedoch schon in der Antike Normen: Heuristische Methoden zum Auffinden von Theoremen hatten keine Beweiskraft. Wir hörten davon im Zusammenhang mit der archimedischen Schrift l l e p i tcöv |ir)xaviK