Fallanalysen zur juristischen Methodik [2 ed.] 9783428467259, 9783428067251


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German Pages 96 [100] Year 1989

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Fallanalysen zur juristischen Methodik [2 ed.]
 9783428467259, 9783428067251

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FRIEDRICH MÜLLER

Fallanalysen zur juristischen Methodik

Fallanalysen zur juristischen Methodik Von

Friedrich Müller Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Auflage

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Müller, Friedrich: Fallanalysen zur juristischen Methodik / von Friedrich Müller. - 2., neu bearb. u. erw. Aufl. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06725-8

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06725-8

Inhalt 0.

Aufgabe dieses Buches

7

1.

Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik

8

1.0

Vorbemerkung

8

1.1

Gruppen von Konkretisierungselementen

8

1.2

Interpretation (Normtextauslegung)

9

1.21 Sonderproblem: Abgrenzung der historischen von der genetischen Interpretation

10

1.3

11

Normbereichsanalyse

1.31 Sachbereich/Normbereich/Normprogramm - Rechtsnorm und Entscheidungsnorm

14

1.32 Grundrechte und Generalklauseln

16

1.33 Beispiel: Methodik der Prüfung des Allgemeinen Gleichheitssatzes

17

1.4

Weder „objektive" noch „subjektive" Auslegungstheorie - Rangordnung der Konkretisierungselemente

19

1.5

Vorverständnis

21

1.6

Funktion juristischer Methodik

22

1.7

Methodik und Methodiken

23

2.

Fallbericht zu 3.1 - 3.3

25

3.

Entscheidungsanalysen

27

3.1

BVerwGE 29, 133 (Rechtswege-Fall)

27

3.2

B G H I Z R 54/69 (Vorlagebeschluß)

38

3.31 Beschluß des GmS OGB (BVerwGE 37, 369 = B G H Z 56, 395)

51

3.32 Schlußbemerkung zum Rechtswege-Fall

74

3.33 Methodisch korrekte Lösung (nach dem Beschluß des GmS)

75

3.4

B G H Z 58, 149 (Marinedamm-Fall)

78

4.

Abkürzungsverzeichnis

94

0. Aufgabe dieses Buches Seit einer Reihe von Jahren wird die juristische Methodendebatte immer lebhafter und umfangreicher, für den Rechtsstudenten allerdings auch unübersichtlicher. Er sieht sich gerade beim praktischen Kernproblem juristischer Arbeit oft allein gelassen, nämlich bei der „Anwendung von Rechtssätzen", d.h. bei der produktiven Konkretisierung von Normen in einem Einzelfall. Hierfür geben weder die Lehrbücher auf der einen noch die Klausuren-, Fallund Examensanleitungen auf der anderen Seite ausreichende Hilfe: die einen haben primär inhaltlich-dogmatische, die anderen primär formal-lösungstechnische Ziele. Was gebraucht wird, ist eine Juristische Methodik als systematisches Rahmenmodell aller praktisch verwendeten und wissenschaftlich anerkannten Konkretisierungselemente. Ein solcher Vorschlag liegt vor (Friedrich Müller, Juristische Methodik, 1971, 3. Aufl. 1989). Dieses Arbeitsheft bietet nun ausführliche Beispiele praktischer Konkretisierungsvorgänge. Es kann selbständig durchgearbeitet werden; für die notwendige Vertiefung verweist es auf das Lehrbuch. Als Fallbeispiele werden je eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie zwei Judikate des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen abgedruckt und fortlaufend methodisch untersucht. Der Leser erhält damit Gelegenheit, (a) die in der „Juristischen Methodik" entwickelten Elemente der Rechtsnormkonstruktion praktisch zu erproben, (b) dabei einen genaueren Raster für Rechtsprechungs- und allgemein für Entscheidungskritik kennenzulernen und sich (c) anhand der Analysen und der abschließenden Musterlösungen das grundlegende Instrumentarium für Fallösung durch Normkonkretisierung selbständig zu erarbeiten. Der vorliegende Text wurde für die zweite Auflage auf dem heutigen Stand systematischer und begrifflicher Klärung, der mit der Neufassung der „Juristischen Methodik" von 1989 erreicht ist, neu bearbeitet. Die drei prozeßrechtlichen Analysen der Erstausgabe von 1974 sind jetzt durch eine vierte ergänzt, die einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen zu einem materiellrechtlichen Problem aus dem Schadensersatzrecht gewidmet ist.

1. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik 1.0 Vorbemerkung Es versteht sich, daß die komplexen Probleme juristischer Methodik auch nicht in Kurzform durch Leitsätze hinreichend erfaßbar sind. Die Lektüre dieses Abschnitts kann das Durcharbeiten der „Juristischen Methodik" nicht ersetzen, wohl aber eine erste Orientierung geben (eine kurze Zusammenfassung zu methodologischen Grundlagen und Grundbegriffen findet sich ebd., 3. Aufl. 1989, S. 270ff., 274ff.). 1.1 Gruppen von Konkretisierungselementen Juristische Methodik hat es zum einen mit Texten, zum andren mit Sachgesichtspunkten zu tun. Normkonkretisierung ist einerseits Normtextauslegung, Interpretation (dazu unter 1.2), andererseits Normbereichsanalyse (dazu unter 1.3). Die herkömmlichen Mittel juristischer Methodik beziehen sich explizit allein auf die Behandlung von Texten. Implizit enthalten sie bereits Möglichkeiten, Sachgehalte aus den Normbereichen theoretisch unreflektiert und methodisch undifferenziert in die Konkretisierung einzubeziehen („Zweckmäßigkeit", „Praktikabilität", „Natur der Sache", „teleologische" Auslegung usw.). Sie sind durch methodische Elemente zu ergänzen, die den Sachgehalt der Normbereiche ausdrücklich und auf rational nachprüfbare Art für die Arbeit der Entscheidung von Rechtsfällen verwerten lassen. Praktische Normkonkretisierung bringt folgende Gruppen von Gesichtspunkten ins Spiel: 1.11 Methodologische Elemente im engeren Sinn (grammatische, genetische, historische, systematische und „teleologische" Auslegung einschließlich zusätzlicher Interpretationsfiguren wie Analogie, Prinzipien der Verfassungsinterpretation usw.), 1.12 Normbereichselemente

y

1.13 dogmatische Elemente, 1.14 Theorie-Elemente, 1.15 lösungstechnische Elemente und 1.16 rechtspolitische

Elemente.

1.2 Interpretation (Normtextauslegung)

9

Die Elemente zu 1.11 und 1.12 sowie ein Teil derjenigen zu 1.13 sind unmittelbar normtext- bzw. normprogrammbezogen. Die restlichen Elemente zu 1.13 (normtextgelöste dogmatische Figuren, Systematisierungsversuche usw.) und die Elemente zu 1.14 bis 1.16 sind nicht unmittelbar normtextbezogen und daher auf Hilfsfunktionen im Vorgang der Konkretisierung beschränkt. Eine genauere Untersuchung zur Praxis der einzelnen Aspekte erbringt auch für die herkömmlichen zu 1.11 zahlreiche über den Gesetzespositivismus hinausführende Einsichten in die Struktur des Vorgangs praktischer Rechtsbildung für Einzelfälle (dazu Juristische Methodik, z.B. unter 322, S. 199ff.).

1.2 Interpretation (Normtextauslegung) Grammatische Auslegung: Interpretation des Normtextes als Beginn der Ausarbeitung einer Rechtsnorm. Sie steht in aller Regel am Anfang der methodischen Operationen. Sie ist nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion (v. a. bei numerischen Rechtssätzen) allein tragfähig; hier hat sie Bestimmungswirkung. Normalerweise entfaltet sie dagegen in positiver Richtung nur Indiz-, in negativer Grenzwirkung. Sie ist in der Praxis mit den übrigen Elementen, vor allem mit den anderen zu 1.11 eng verflochten. Die normative Anweisung ist nicht im Normtext substantiell „vorhanden" oder „enthalten"; diese These gehört zu den irrigen Glaubenssätzen des Gesetzespositivismus. Juristische Begriffe können sowenig wie andere ihre Aussagen ver dinglichen. Sie können nur auf ihre Gebrauchsweise hin untersucht werden; sie haben Zeichenwert. In den damit abgesteckten Grenzen zwingt der (nur scheinbar eindeutige) grammatische Aspekt häufig dazu, zwischen mehreren möglichen Gebrauchsweisen der verwendeten Begriffe, zwischen alltagssprachlichen und fachsprachlichen und oft auch zwischen verschiedenen fachsprachlichen (gesetzessprachlichen, dogmatischen, theoretischen) Gebrauchsweisen zu entscheiden. Daran erweist sich unmittelbar, daß auch die grammatische Auslegung nicht nur den vorhandenen Normtext, sondern die herzustellende Norm betrifft. Schon in diesem ersten Stadium muß - abgesehen etwa von den Grenzfällen numerisch abschließend determinierter Vorschriften - über philologische Sinnerfassung des Wortlauts hinaus der mögliche Normsinn in bezug auf den zu entscheidenden Fall vorwegnehmend gedeutet werden. Dabei wird unausweichlich auf andere Elemente als das grammatische übergegriffen: auf andere, mit der für den Fall in Aussicht genommenen Vorschrift in Zusammenhang zu bringende Normtexte (systematische Auslegung), auf den Worlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historische Auslegung) und auf den der (Nicht-Normtexte darstellenden) Gesetzgebungsmaterialien (genetische Auslegung). Grammatische, systematische, historische und genetische Auslegung sind nicht aus einem ihnen substantiell innewohnenden Grund die am nächsten liegenden und sich in der Regel gemeinsam anbietenden Konkre-

10

1. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik

tisierungselemente; sie sind es vielmehr funktionell in einer geschriebenen (kodifizierten) Rechtsordnung dieses Typs. Für die Auslegung von Gewohnheitsrecht innerhalb dieses Rechtssystems gilt grundsätzlich nichts anderes. Es verfügt nur nicht, wie das geschriebene Recht, über eine einzige autoritativ festgelegte (ausgefertigte, verkündete, veröffentlichte) Sprachfassung, über einen Normtext. Seine (mehr oder weniger stark wechselnde) Textfassung ist in Lehrbüchern, Kommentaren und vor allem in (gerichtlichen) Entscheidungen enthalten. Aus verfassungsrechtlichen, rechtsstaatlichen Gründen bildet der Normtext die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Das heißt nicht, die Entscheidung müsse „sich aus dem Wortlaut ergeben"; das tut sie, wie gesagt, nur in seltenen Grenzfällen. Die Rechts- und die Entscheidungsnorm muß aber mit dem Normtext noch vereinbar sein. Eine Entscheidung gegen den Wortlaut ist zwar methodisch möglich; methodische Regeln haben keinen normativen Rang. Sie ist aber - abgesehen von den Fällen, in denen der Wortlaut nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich ist - nicht rechtmäßig. Damit ist eine Grenze für Rechtsbildung durch Normkonkretisierung gezogen: hier steckt der Wortlaut die äußersten Grenzen funktionell (Gesetzgebung - Rechtsprechung und Verwaltung) zulässiger Sinnvarianten ab.

1.21 Sonderproblem: Abgrenzung der historischen von der genetischen Interpretation Die Abgrenzung dieser Elemente ist schon unter 1.2 gegeben worden. In Lehre und Rechtsprechung werden diese beiden Elemente nicht selten miteinander vermengt. So bezeichnet etwa das Bundesverfassungsgericht (E 11, 130 und st. Rspr.) die Auslegung aus „Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte" als „historische". Korrekt heißt diese Auslegung, von der das Gericht spricht, die genetische. Die historische ist dagegen die rechtsgeschichtliche (gesetzgebungsgeschichtliche) anhand der Texte von Normvorläufern, Norm Vorbildern als Antwort auf die Frage: Wie war das denn früher geregelt? Die historische Auslegung arbeitet also mit (a) Normtexten, und zwar (b) mit anderen Normtexten als den im vorliegenden Fall zu bearbeitenden, nämlich mit früheren, nicht mehr geltenden Wortlauten. Von der systematischen Auslegung, bei der ebenfalls andere Vorschriften vergleichend herangezogen werden, unterscheidet sich die historische dadurch, daß außer Kraft gesetzte Normtexte sowie mit ihrer Hilfe entwickelte Rechtsnormen mit gleichem, ähnlichem oder zumindest funktionell vergleichbarem Normprogramm, und zwar aus älteren Zeitabschnitten, in die Überlegung eingeführt werden.

1.3 Normbereichsanalyse

11

Die genetische Auslegung arbeitet mit (a) Nicht-Normtexten (Diskussionen, Überlegungen, Entwürfe, Parlamentsreden, Ausschußberichte, amtliche Begründungen) aus der rechtspolitischen Debatte, vor allem aber aus den Verhandlungen der normsetzenden Gremien; und zwar betreffen diese Texte (b) die Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien derselben Normtexte, nämlich der im Fall zu bearbeitenden. Als Beispiel soll die Konkretisierung der Art. 73ff. GG dienen. Bei genetischer Auslegung wird die Frage gestellt: Was wurde zum fraglichen Problem im Parlamentarischen Rat (und in den Verhandlungen von Herrenchiemsee) gesagt? Die historische Auslegung argumentiert aus Inhalt und Typik der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern nach der Weimarer Reichsverfassung (oder ggf. auch nach der Reichsverfassung von 1871). 1.3 Normbereichsanalyse Der Vorgang praktischer Erarbeitung von Rechtsnormen für zu regelnde Rechtsfälle erweist sich als strukturiert. Nur in relativ seltenen Grenzfällen ist er als „Anwendung", als „syllogistischer Schluß" oder als „Subsumtion" erfaßbar, wie es der Gesetzespositivismus allgemein glauben machen möchte. Die Rechtsnorm ist mehr als der anfängliche Normtext. Die Interpretation des Normtextes bildet einen wichtigen, aber meist nicht den einzigen Bestandteil der Umsetzung legislatorischer „Signale" auf zu entscheidende Fälle der sozialen Wirklichkeit. Daher ist nicht länger nur von Interpretation oder Auslegung, also von Normiejtfbehandlung (dazu oben 1.2) zu sprechen, sondern umfassend von Normkonkretisierung (s.o. 1.1). Der Normtext ist nicht das Gesetz, sondern eine Vorform des Gesetzes. Die Normen gehen aus dem Vorgang praktischer Fallösung als sachbestimmte Ordnungsmodelle hervor, die sowohl nach den einzelnen Rechtsdisziplinen als auch innerhalb dieser strukturell und funktionell zu differenzieren sind*.

* Das ist eines der Ergebnisse meiner „hermeneutischen" Untersuchung „Normstruktur und Normativität" (1966): die Position wurde inzwischen rechts(norm)theoretisch präzisiert: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 241 ff., 263ff. u.ö. „Hermeneutik" meint dort nicht die traditionelle rhetorische Kunstlehre in ihrer Anwendung auf die Rechtswissenschaft, sondern die Untersuchung der Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen rechtlicher Konkretisierung. Abweichend vom üblichen Sprachgebrauch werden also dort „Hermeneutik" und „hermeneutisch" als rechtsnorm-theoretische termini technici verwendet. Sie bezeichnen ein strukturierendes Konzept von den Voraussetzungen juristischer Methodik, Fallösung, Dogmatik und Theorie auch im Blick auf die Rolle der normierten Realität für Wirkungsweise und Entscheidungsfunktion, für die Normativität der Rechtsnorm (vgl. dazu auch: Juristische Methodik unter 12).

12

1. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik

Je nach dem Typus von Normstruktur (Generalklausel, Spezialnorm, Materienregelung, Legaldefinition, Verweisungsnorm, Grundrecht, Verfahrensvorschrift, Formbestimmung, Fristregel u.s.w.) wird mehr oder weniger deutlich, daß praktisch wirkende Normativität rechtlicher Vorschriften in grundsätzlich gleicher Weise wie durch die von Texten gelieferten Entscheidungsaspekte auch durch den Sachgehalt des Normbereichs mitbegründet wird, soweit er ein begriffener Sachgehalt ist. Aus den allgemeinen Berührungspunkten der Norm mit der sozialen Realität, dem „Sachbereich" bzw. dem daraus verdichteten Fallbereich hebt das (mit den Mitteln der Textinterpretation zu erarbeitende) Normprogramm den für praktische Normativität mitkonstitutiven Normbereich heraus. Der Normbereich ist somit umschrieben als die Grundstruktur des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, den „sich" das Normprogramm als Regelungsfeld ausgesucht und/oder häufig erst geschaffen hat. Anders ausgedrückt: „Normbereich" heißt die Grundstruktur des Sachbereichs der Rechtsnorm: also die Summe und der Zusammenhang der vom Rechtsarbeiter anhand des Normprogramms als mit diesem vereinbar und für die Fallösung wesentlich, damit aber als (mit-)normativ begründbaren Tatsachen*. Ist der Normbereich zur Gänze rechtserzeugt (wie etwa bei Vorschriften über Fristen, Termine, Formalien, bei gewissen Institutions- und Verfahrensregeln, bei abstrakter Abgrenzung von Rechtswegzuweisungen u.s.w.), dann liefert er oft keine zusätzlichen Gesichtspunkte. In diesen Fällen kann die Konkretisierung insgesamt als Auslegung des Normtextes erfolgen, d.h. durch Bestimmung des Normprogramms mit Hilfe aller anerkannten Interpretationselemente von der grammatischen Auslegung bis zu methodischen Figuren einzelner Rechtsgebiete. Dort dagegen, wo das Normprogramm auf soziale Strukturen verweist (Ehe und Familie, Handelsgesellschaften, die Bereiche des Besonderen Verwaltungsrechts, Grundrechte und so weiter), auf typisierbare Handlungs- bzw. Verhaltenszusammenhänge (z.B. im Strafrecht), oder wo es Funktionsabläufe erfaßt (Verfahrensrecht, Funktions* Der Begriff des Normbereichs ist enger als jener des Regelungs- und Schutzbereichs von Normen in der Ausdrucksweise der herrschenden Auffassung. Was dort mit „Regelungsbereich" gemeint wird, kommt dem hier gebrauchten Begriff des Sachbereichs am nächsten. „Schutzbereich" ist dagegen ein dogmatisch verengter Begriff, weil er gegenläufige und einschränkende Normen, zum Beispiel Vorbehaltsgesetze bei Grundrechten, bereits berücksichtigt. Eine einzelne Gemeinsamkeit des Schutzbereichs mit dem Normbereich besteht aber darin, daß die Dogmatik einschränkender Vorschriften sowie die der Schutzrichtungen einer bestimmten Norm zu den Sprachdaten gehören, aus denen das Normprogramm erarbeitet wird; und dieses dient als Auswahlkriterium für die Fakten des Normbereichs. - Andererseits setzt sich der Normbereich nur aus empirischen Gegebenheiten zusammen. Er ist die Menge der die Entscheidungsnorm zu Recht mittragenden Tatsachen. Dagegen wird der Ausdruck „Schutzbereich" nicht für eine Teilmenge von Realdaten, sondern für eine Teilmenge von Entscheidungsnormen verwendet: nämlich für diejenigen Entscheidungsnormen, die sozusagen zugunsten der fraglichen Rechtsnorm ausfallen.

1.3 Normbereichsanalyse

13

normen von Institutionen, Gerichtszweigen u.s.w.) bzw. Sachmaterien umschreibt (Kompetenzregeln), gehören Sachgesichtspunkte aus der sozialen Wirklichkeit, d.h. begriffene Sachgegebenheiten, erfahrungsgemäß und legitimermaßen zu den Determinanten der Fallentscheidung durch Normkonkretisierung. Diese Sachfaktoren der Rechtsnorm sind empirisch zu ermitteln und mit den Elementen der Normtextauslegung rational, d.h. mit einer nicht zuletzt auch systematisch ansetzenden Methodik in Beziehung zu bringen. Wieweit das fachlich kompetent oder dilettantisch erfolgt, ist unmittelbar eine Frage der Juristenausbildung. Die Tendenz der Hochschulpolitik zu kostensparender „Effizienz" und gegen Wissenschaftlichkeit der Ausbildung läßt für die Zukunft wenig Hoffnung. Davon abgesehen, erfordert Normbereichsanalyse als wesentlicher Faktor juristischer Entscheidung aber auch grundsätzlich eine funktionale Arbeitsteilung zwischen Juristen und anderen Sozialwissenschaftlern - eine Zusammenarbeit, welche die nichtjuristischen Beteiligten nicht an ihnen fremde normative Fragestellung ketten, sondern vielmehr die methodische und politische Verantwortung für das Ganze der rechtlichen Entscheidungsvorgänge bei den normkonkretisierenden Juristen belassen soll. Es ist wichtig, angesichts dieser nach-positivistischen Rechtsnormtheorie und Methodik nicht in die Haltung pseudo-wissenschaftlicher Verdinglichung zurückzufallen, die den Gesetzespositivismus kennzeichnet. Es ist wichtig, sich über folgendes klar zu sein: „Das" Normprogramm ist ebensowenig wie „der" Normbereich, Sach- und Fallbereich etwas, das dinghaft vorgegeben wäre und das daher nur noch richtig entdeckt, nach vollzogen, aufgefunden werden müßte. Diese Lebenslüge eines formalistischen Rechtsstaatsverständnisses wird mit der hier vorgeschlagenen Konzeption verlassen. Die genannten Begriffe sind wie die andern, mit denen diese Methodik operiert, Arbeitshypothesen; genauer: Arbeitsanforderungen an den Juristen, soweit er rechtsgebunden zu entscheiden hat. Der Begriff „Normbereich" besagt in diesem Zusammenhang: Die Fakten, die in einem Entscheidungsfall ins Spiel zu bringen sind, dürfen nicht wahllos („pragmatisch" - je nachdem, ob es „in den Kram paßt" oder nicht) zu mitbestimmenden Faktoren der Entscheidung gemacht werden, sondern nur in generalisierbarer Form. Der Gesetzespositivismus kann nicht auf der Seite des bewußten Einbeziehens der sozialen Wirklichkeit überwunden werden, wenn man auf der Seite seiner rechtsstaatlichen Technizität und Formqualitäten ν erfassungsgeschichtlich hinter ihn zurückfällt. Eine nach-positivistische Rechtsnormtheorie und Methodik muß versuchen, beiden Varianten von Rationalität gerecht zu werden. Regeln für die Verallgemeinerungsfähigkeit der normativ relevanten Sachbestandteile der Rechtsnorm entwickelt deshalb die vorliegende strukturierende Methodik mit ihren Aussagen zu Elementen aus dem Normbereich und über deren Beziehungen zu den übrigen Elementen. Normbereichsanalyse ist ein Teilvorgang der /tec/itenormkonkretisierung. Sie ist kein Verfahren der Sozialwissenschaften, sondern eines der angewand-

14

1. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik

ten Rechtswissenschaft. Sie bringt keine „neuen" sozialwissenschaftlichen Ergebnisse, sondern Elemente für die juristische Arbeit. Normbereichsanalyse gehört zur Rechtsnormkonkretisierung. Sie kann Konkretisierung nicht grundsätzlich verändern, macht sie aber vollständiger, methodisch genauer und damit kontrollfähiger. Sie weist die immer schon einfließenden Sachargumente aus dem tatsächlichen Umfeld, in dem die rechtliche Vorschrift wirken soll, aus und weist ihnen zugleich, orientiert an den interpretierten Sprachdaten (Normprogramm) ihren Platz zu. Fragestellungen in diesem Zusammenhang sind typischerweise etwa die folgenden: Setzt das Normprogramm die einen oder anderen der im Entscheidungsvorgang ins Spiel gebrachten Realdaten notwendig voraus? Spart der Normtext sie aus oder sagt er etwas zu ihnen; „regelt" er sie, und wenn ja, in welcher Richtung? Schließt das Normprogramm die fraglichen Tatsachen aus oder ein? Wie werden die tatsächlichen Gegebenheiten im Umkreis der Vorschrift, die zu konkretisieren ist, von den vorhersehbaren Folgen der ins Auge gefaßten Entscheidung berührt werden und welche Bedeutung haben sie für die Realisierbarkeit der Entscheidung selbst? Auch die Denkoperation der Folgenbewertung kann, statt methodisch weiterhin in der Beliebigkeit vernünftiger Alltagstheorien zu verbleiben, durch eine methodisch vollständige, ausgewiesene und offen dargestellte Normbereichsanalyse an Präzision und Kontrollierbarkeit nur gewinnen. 1.31 Sachbereich / Normbereich /Normprogramm und Entscheidungsnorm

- Rechtsnorm

Der Normbereich ist ein Ausschnitt aus dem Sach- bzw. Fallbereich; das durch Interpretation ermittelte Normprogramm „schneidet" ihn „heraus". Das ist keine quasi-ontologische Bestimmung, sondern eine Aussage über den Ablauf eines Arbeitsprozesses, nämlich der juristischen Entscheidung. M.a.W.: Normativität ist keine „Eigenschaft", sondern ein „Vorgang"; sie „ist" nicht, sie „wirkt". Alle Elemente, die diesen Entscheidungsvorgang mitbestimmen, sind sprachlich geformt und vermittelt. Sie unterscheiden sich aber nach ihrer Herkunft danach, ob sie als Texte oder als soziale Fakten konstituiert sind. Noch genauer denn als „sprachliche" und „nichtsprachliche" sind sie als „primär sprachliche" ( = Sprachdaten) und „nicht primär sprachliche" ( = Realdaten) Elemente zu bezeichnen. Herkömmliche juristische Methodik beschränkt sich bis in die Gegenwart darauf, wissenschaftliche Regeln für die Verwendung der Sprachdaten zu beschreiben bzw. vorzuschreiben. Die hier entwickelte Normtheorie und Methodik versucht, darüber hinaus auch die Realdaten regelhaft (und nicht willkürlich oder „rein pragmatisch") in den rechtlichen Entscheidungsprozeß ein- bzw. sie von ihm auszuschließen. Das bedeutet für „Sach"- bzw. „Fallbereich" und „Normbereich": So wie „Normprogramm