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German Pages [674] Year 2013
Matthias Schwartz
EXPEDITIONEN I N AN D ERE WELTEN Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN · WEIMAR · WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Abteilung Kultur am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin sowie des Instituts für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die vorliegende Arbeit wurde 2010 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Auszüge aus den Titelblättern der Leningrader Zeitschrift Vokrug sveta, Nr. 1 (1927) und Nr. 3 (1928) sowie auf der Umschlagrückseite der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt, Nr. 6 (1927).
© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-21057-1
I n h alt
Einleitung 9 1. Ausgangslage: Abenteuerliteratur als schädliche und unseriöse Lektüre
13
2. Vorgeschichten: Die Welt der Abenteuer in Russland vor 1917
17
3. Verortungen und Begriffsunschärfen: Abenteuerliteratur und Science Fiction
20
4. Genealogien: Die „Geburt“ der Science Fiction
25
5. Expeditionen in andere Welten: Zur Konzeptualisierung dieser Studie
28
6. Rezeptionsgeschichte, Forschungsstand und Quellenlage
32
7. Gliederung des Buches
43
Teil I Kommunistische Pinkertons – Entwürfe und Varianten populärer Abenteuerliteratur (1917–1932) 1. Das Vermächtnis Pinkertons – Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur
47 1.1 Der Gott der Hottentotten – Kornej Čukovskijs Polemik gegen die Pinkertonovšcˇina ..................................................................................................... 49 1.2 Literatur für die Massen – Die Entwicklung der Verlage und Zeitschriften ............... 57 1.3 Abenteuer im Land der Bolschewiki – Westliche Bestseller der NÖP-Periode ........... 69
2. Pfadfinder und Stechfliegen – Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur
83 2.1 Die Erziehung der Gefühle – Nikolaj Bucharins Aufruf für einen „kommunistischen Pinkerton“ ................................................................................. 85 2.2 Rote Teufelchen – Pavel Bljachins und Leonid Ostroumovs Bürgerkriegshelden ....... 91 2.3 Weltweite Pfadfinder – Die fiktionale Rekonstruktion des Exotischen ..................... 105
Inhalt | 5
3. Masken der Weltrevolution – Adaptionen und Parodien der Pinkertonovšcˇina
128 3.1 Der Roman der Geheimnisse – Viktor Šklovskijs Überlegungen zum Abenteuerroman ...................................................................................................... 135 3.2 Das Geheimnis der Dinge – Marie˙ tta Šaginjans Mess Mend-Trilogie ....................... 144 3.3 Der Kampf der Welten – Aleksej Tolstojs Ae˙ lita und der Untergang des Abendlandes ....................................................................................................... 168
4. Experimente am Neuen Menschen – Medienfiktionen und Technikfantasien
182 4.1 Poetik der Kinematographie – Mediale Modifikationen des Abenteuergenres ........... 186 4.2 Die Elektrifizierung der Gedanken – Psychomaschinen und Todesstrahlen .............. 201 4.3 Träumer am Machtpol – Die verrückten Gelehrten des Aleksandr Beljaev ................ 215
5. Wissenschaftliche Fantastik – Die Etablierung neuer Genregrenzen
234 5.1 Das Laboratorium des Neuen Robinson – Die Ausweitung der Wissenschaftspopularisierung ................................................................................... 237 5.2 Unsere Mayne Reids und Jules Vernes – Die Eingrenzung der „Wissenschaftlichen Fantastik“ ................................................................................. 245 5.3 Wie Robinson entstanden ist – Das Ende des „Kompinkerton“ ............................... 262
Teil II Das Stiefkind der sowjetischen Literatur – Die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur (1932–1941) 6. Das Ende der Schmuggelware – Der Schriftstellerkongress 1934
275 6.1 Am Vorabend des Kongresses – Legitimierungsversuche einer sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik .................................................................................... 278 6.2 Märchen und Mythen für die Jugend – Maksim Gor’kijs Rekonzeptualisierung der Literaturgeschichte ............................................................................................. 283 6.3 Die Trennung von Wissenschaft und Fantastik – Samuil Maršaks Konzept einer neuen Kinderliteratur ...................................................................................... 292
7. Kinderliteratur für Erwachsene – Die Poetik wissenschaftlich-künstlerischer Expeditionen
304
7.1 Die lebende geographische Landkarte – Michail Il’ins Erzählungen vom sozialistischen Aufbau .............................................................................................. 307
6 | Inhalt
7.2 Die Austreibung der Exotik – Paustovskijs und Zuev-Ordynec’ Poetisierungen der Wüste ................................................................................................................. 319 7.3 Verlagspolitik nach dem Schriftstellerkongress – Das Fortbestehen der Abenteuerliteratur .................................................................................................... 331
8. Aschenputtel betritt den Ball – Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik
341 8.1 Die Kinopoetik des Abenteuers – Vladimir Vajnštoks Verfilmungen von Verne und Stevenson .......................................................................................................... 346 8.2 Die Kinder des Kapitän Grant – Eine neue Autorengeneration betritt die Bühne ..... 353 8.3 Der „fantastische Abenteuerroman“ – Aleksandr Beljaevs Aschenputtel-Vergleich .... 361
9. Heroische Abenteurer unterwegs – Die Entzauberung anderer Welten
371 9.1 Der sozialistische Jules Verne – Grigorij Adamovs Geheimnis zweier Ozeane ........... 372 9.2 Der Blinde Gast – Vsevolod Voevodins und Evgenij Ryss’ Abenteuerpoetik des Terrors ................................................................................................................ 380 9.3 Der erste sowjetische Abenteuerroman – Georgij Tuškans Džura .............................. 387
10. M oskau als Laboratorium der Wunder – Die Verzauberung der eigenen Welt
397 10.1 Zukunftsfantasien der technischen Intelligenz – Kazancevs und Dolgušins Wundergeneratoren .................................................................................................. 402 10.2 Die Wiedererweckung der Toten – Lazar Lagin’s Der Alte Chottabycˇ ...................... 417 10.3 Die Zerstörung des Kanons – Auseinandersetzungen über die Weiterentwicklung des Genres ................................................................................................................ 429
Teil III Die Belletrisierung der Wissenschaften – Die Trennung von Abenteuer und Fantastik (1941–1957) 11. D er Kampf gegen die Blockade – Der Abschied von einer sowjetischen Abenteuerliteratur
441 11.1 Imaginisten und Staatsanwälte – Das vergebliche Bemühen um eine eigenständige Sektion ............................................................................................... 444 11.2 Sherlock Holmes als Untersuchungsrichter – Marie˙tta Šaginjans Konzept eines Detektivromans ............................................................................................... 452 11.3 Superagenten und Wunderwaffen – Fiktionalisierungen des Großen Vaterländischen Krieges ............................................................................... 463
Inhalt | 7
12. D er große Wunschtraum – Die Wissenschaftliche Fantastik der Nachkriegszeit
471 12.1 Die Büchse der Pandora – Die Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur ................................................................................................................... 473 12.2 Die Erfüllung des Wunschtraums – Kirill Andreevs Konzept einer Wissenschaftlichen Fantastik .................................................................................... 477 12.3 Das Schicksal des Scharfsichtigen – wissenschaftlich-fantastische Grenzüberschreitungen ............................................................................................ 480
13. D er hinkende Wunschtraum – Poetisierungsversuche der Wissenschaften
495 13.1 Die Schatten des Vergangenen – Ivan Efremovs Erzählungen vom Ungewöhnlichen ...................................................................................................... 497 13.2 Der schöpferische Darwinismus – Palejs und Studitskijs Prosa auf Abwegen ............ 518 13.3 „Gäste aus dem Kosmos“ – Unbekannte Flugobjekte aus anderen Welten ................ 528
14. A schenputtel verlässt den Ball – Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur
547 14.1 Der Wunschtraum der Ingenieure – Die Reorganisation der Sektion ........................ 550 14.2 Das Phantasma der Belletrisierung – Die Ideologisierung der Wissenschaftspopularisierung ................................................................................... 560 14.3 Die Eroberung der Natur – Die Neuausrichtung der sowjetischen Geografie ........... 569
15. D ie Insel der Enttäuschung – Die Fantastik des „Nahziels“
581 15.1 Der Aufruf an die Zukunft – Die Eliminierung des Fantastischen ............................ 582 15.2 Schatten unter der Erde – Nemcovs und Ochotnikovs Poetik der Scharfsichtigkeit ....................................................................................................... 593 15.3 Das Ende der Illusionen – Debatten und Neuanfänge nach Stalins Tod ................... 609
Zusammenfassung
621
Anhang
627 1. Abkürzungen ........................................................................................................ 627 2. Quellen ................................................................................................................ 628 3. Sekundärliteratur ................................................................................................. 652
Personenindex
8 | Inhalt
673
1. A u s gan g s l a g e : A b e n t e u e rlit e ra t ur a ls s c h ädli c h e u n d u n s e r i ö s e Le kt üre Schaut man sich die grundsätzlichen ideologischen, politischen und kulturellen Positionen in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution an, so war die Ausgangslage für eine Abenteuerliteratur äußerst schwierig: Zwar sprach vieles dafür, sie in das sozialistische Projekt zu integrieren, weil sie doch gerade bei jenen breiten Massen große Popularität genoss, die das bolschewistische Regime für sich zu gewinnen suchte. Zudem assoziierte man diese Literatur – lange bevor der Terminus Science Fiction aufkam – mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt, als dessen Avantgarde sich der erste sozialistische Staat begriff. Auf der anderen Seite aber stand das Aufkommen des Genres unzweifelhaft im engen Zusammenhang mit dem europäischen Kolonialismus, ja die Ausbreitung des Genres zu einer Massenliteratur schien ohne das imperialistische Projekt undenkbar. Handelten seine Geschichten doch in der überwiegenden Mehrzahl von dem Eindringen des weißen Mannes in eine außereuropäische Welt, und dieses Eindringen ist untrennbar mit der europäischen Entdeckung, Kartographierung, Erschließung und schließlich Eroberung und Beherrschung des Erdballs verbunden.9 Abenteuerliteratur formte, mehr noch als Reiseberichte, Landkarten oder seriöse akademische Publikationen, die imperialen und kolonialen Vorstellungen, die man von den kulturellen und natürlichen Gegebenheiten außerhalb Europas hatte.10 Dies stand jedoch in deutlichem Widerspruch zum Selbstverständnis der Sowjetunion als eines anti-kolonialen und anti-imperialen Staates. Lenins These, dass man den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus an seinem schwächsten Glied, und zwar dem russischen Zarenreich treffen müsse, um ihn weltweit zum Einsturz zu bringen, bildete die berühmte Legitimierungsformel der Oktoberrevolution. Der nationale Befreiungskampf innerhalb der europäischen Imperien, aber auch in den Kolonien war von Anfang an ein zentrales Anliegen der Bolschewiki.11 Wie ließ sich da mit einem Genre umgehen, das entscheidend zur Legitimation dieser als verwerflich erkannten Weltordnung beigetragen hatte? Konnte es überhaupt eine antiimperiale und anti-koloniale bolschewistische Abenteuerliteratur geben? Und wie sollte diese aussehen? Reichte es, wenn man einfach die Figur des weißen Abenteurers durch einen Proleta-
9
Vgl. Green, Martin: Dreams of Adventure, Deeds of Empire, New York 1979; Ders. The Adventurous Male. Chapters in the History of the White Male Mind, University Park, Pa. 1993; Bristow, Joseph: Empire Boys. Adventures in a Man’s World, London 1991; Dixon, Robert: Writing the Colonial Adventure. Race, Gender and Nation in Anglo-Australian Popular Fiction, 1875–1914, Cambridge 1995; McClintock, Anne: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York/London 1995.
10
Phillips: Mapping Men and Empire, S. 5ff.
11
Vgl. Baldwin, Kate A.: Beyond the Color Line and the Iron Curtain. Reading Encounters between Black and Red, 1922–1963, Durham/London 2002; Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, London 2001.
Ausgangslage | 13
rier ersetze, der statt auf Schatzsuche zur Unterstützung des anti-imperialen Befreiungskampfes die außereuropäische Welt bereist? Oder musste man die Perspektive gänzlich umkehren, indem man die Sicht der Versklavten und Kolonisierten darstellte? Durfte man an die gesellschaftskritischen westlichen Abenteuergeschichten wie Mark Twains Adventures of Huckleberry Finn (1884) oder Ethel Lilian Voynichs The Gadfly (1897) anknüpfen oder sollte man sich besser auf eigene literarische Traditionen besinnen? Dass zu diesen politischen Implikationen des Genres keine theoretisch elaborierten und konsensfähigen Positionen entwickelt wurden, lag auch an einer gewissen Ignoranz, die die führenden Literaturpolitiker, Kritiker und auch Autoren im ersten Jahrzehnt nach der Revolution gegenüber der Abenteuerliteratur an den Tag legten. Diese hatte vor allem mit ihrer sozialen Herkunft zu tun, stammten sie doch – trotz ihres Selbstverständnisses als künstlerisch-revolutionäre Avantgarde – in der Regel aus den vorrevolutionären Bildungseliten. Und unter diesen galt auch das Abenteuergenre als niedere Massenliteratur, die vielleicht noch für Kinder und Jugendliche geeignet sei, aber ansonsten ein in jeder Hinsicht zu bekämpfendes billiges Kulturprodukt darstelle, das von ästhetischem Niedergang und primitiven Gemütsregungen zeuge. Die nach der Oktoberrevolution zu schaffende proletarische Kultur sollte ja von all dem das Gegenteil darstellen, sie sollte den Höhepunkt der sittlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheitsgeschichte einleiten und alle vorangegangenen Kunst- und Kulturformen über- und nicht unterbieten.12 Zwar vertraten die Bolschewiki in dieser generell für die Moderne kennzeichnenden Spaltung in eine negativ konnotierte „Boulevardkultur“ und eine akzeptierte anspruchsvolle „Hochkultur“ eine dezidiert politische Position, indem sie den Proletariern attestierten, dass sie durchaus zu Hochkultur fähig sein würden, aber eben erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung ständen. Doch dieser Standpunkt hieß in der Konsequenz, dass man die „niederen“ Gattungen nicht speziell fördern, sondern umgekehrt, den Arbeitern helfen müsse, über ein „primitives“ Kulturstadium hinaus zu qualitativ höheren Stufen zu kommen.13 Zudem sahen die Bolschewiki in den „primitiven“ Produkten der Massenkultur generell keinen authentischen Ausdruck der Arbeiterkultur, sondern im Gegenteil Manipulationsmedien zur „Berauschung“, die ähnlich wie Religion oder Alkohol dazu dienten, das Bewusstsein der ausgebeuteten Klassen zu manipulieren und zu vernebeln. Der Vorwurf war, dass die „kapitalistische Unterhaltungsindustrie“ den Lesern exotische Geschichten aus den fernen überseeischen 12
Zu den literaturpolitischen Debatten des ersten Jahrzehnts nach der Revolution vgl. Maguire, Robert: Red Virgin Soul. Soviet Literature in the 1920’s, Ithaca, London 1987; Eimermacher, Karl: Einleitung, in: Ders.: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932. Von der Vielfalt zur Bolschewisierung der Literatur. Analyse und Dokumentation (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bd. 1), Bochum 1994, S. 27–138; Kelly, Catriona: New Boundaries for the Common Good. Science, Philantropy, and Objectivity in Soviet Russia, in: Dies.; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford 1998, S. 238–255.
13
Vgl. Lovell, Stephen: The Russian Reading Revolution. Print Culture in the Soviet and Post-Soviet Eras, London 2000, S. 19ff.; Sehr allgemein und im Detail oft ungenau hierzu vgl. Stites, Richard: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900, New York/Oakleigh 1992, S. 37ff.
14 | Einleitung
Kolonien vorlegte und diese so von ihrem armseligen Dasein und von Klasseninteressen ablenken wolle. Statt die Wut auf die Unterdrücker und Ausbeuter im eigenen Land zu lenken, kanalisierte Abenteuerliteratur demnach die „großen Gefühle“ in eskapistische und vom Alltag entrückte Wunschfantasien. Dass all diese problematischen Seiten des Genres nicht zu dessen allgemeiner Ächtung führten, lag vor allem an drei Dingen. Erstens pflegte man im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution in der Literaturpolitik noch einen relativ toleranten Umgang mit unterschiedlichen literarischen Strömungen, die man als „Mitläufer“ (попутчики) – wie Lev Trockij 1923 all jene Schriftsteller bezeichnet hatte, die zwar keine bolschewistischen, aber auch keine anti-kommunistischen Haltungen vertraten – gewähren ließ. Zweitens entsprach die grundsätzliche Offenheit der Abenteuerliteratur gegenüber neuen Entdeckungen und technisch-wissenschaftlichen Innovationen dem Fortschritts- und Zukunftspathos der sozialistischen Kultur, was von einem großen propagandistischen Potenzial der Gattung zeugte. Und drittens hatte man der Popularität des Genres bis zur Einführung des Sozialistischen Realismus mit dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 keine attraktive Alternative entgegenzusetzen.14 Hinzu kommt eine zeitgenössisch stark ambivalente Rezeptionshaltung in den zwanziger Jahren, die neben einem diffusen Unbehagen gleichzeitig auch eine gewisse Faszination für dieses „unseriöse“ und „schädliche“ Genre erkennen ließ. So forderte der Schriftsteller und Publizist Lev Lunc fünf Jahre nach der Oktoberrevolution in einer Generalabrechnung mit der bisherigen Literaturproduktion deren vollkommene Neuausrichtung „nach Westen“: „Im Westen gibt es von jeher eine gewisse Literaturart, die in Russland als unseriös, um nicht zu sagen schädlich, angesehen wird. Das ist die so genannte Literatur der Abenteuer, der Aventures. In Russland hat man sie mit knirschendem Herzen für die Kinder geduldet. Kindern gegenüber ist man machtlos: Sie lasen die ‚Welt der Abenteuer‘ und die Fortsetzungsreihen mit Cooper, Dumas und Stevenson bei Sojkin, aber von den Beilagen zur ‚Niva‘ mochten sie nichts wissen. Kinder sind eben dumm und ‚verstehen nicht‘. Als sie dann älter und vernünftiger waren und von den Lehrern der russischen Literaturgeschichte aufgeklärt wurden, versteckten sie ihre Haggards und Conan Doyles mit bitterem Bedauern in den Schränken.“15 14
Vgl. ausführlich zu diesen Aspekten der erste Teil dieser Arbeit.
15
Lunc, Lev: Nach Westen! (Deutsch von Gisela Drohla), in: Ders.: Die Affen kommen. Erzählungen, Dramen, Essays, Briefe, Münster 1989, S. 267–280, S. 267 („На Западе искони существует некий вид
творчества, с нашей русской точки зрения несерьезный, чтобы не сказать вредный. Это так называемая литература приключений, авантюр. Ее в России терпели, скрепя сердце, для детей. Ничего с детьми не поделаешь: они читали ‚Мир приключений‘ и Сойкинские серии Купера, Дюма, Стивенсона, а приложения к ‚Ниве‘ отказывались читать. Но ведь дети глупы и ‚не понимают’. Потом, выросшие и поумневшие, они, наученные учителями русской словесности, просвещались и с горьким сожалением прятали в шкафы Хаггарда и Конан-Дойля.“ Lunc, Lev: Na zapad! Reč’ na sobra-
nii „Serapionovych brat’ev“ 2-go dekabrja 1922 g., in: Ders.: Vne zakona. P’esy, rasskazy, stat’i, S-Peterburg 1994, S. 205–214, S. 205). Das Periodikum Mir priključenij (dt. „Welt der Abenteuer“) erschien von 1910 bis 1918 als kostenlose Beilage der von Sojkin verlegten, populären illustrierten Wochenzeitschrift Priroda
Ausgangslage | 15
Vergleichbare Reflexionen blieben zwar für die Literaturproduktion weitgehend folgenlos, doch signalisierten sie Anfang der zwanziger Jahre immerhin die Erkenntnis, dass es hier eine äußerst populäre Literaturform gab, zu der die verantwortlichen Literaturpolitiker und Kritiker irgendwann Stellung beziehen mussten, und sei es, dass man eine solch ideologisch zweifelhafte Gattung in den Giftschrank der verbotenen Literatur sperrte. Lunc’ Appell erinnerte aber auch daran, dass nicht erst bei Stalin Abenteuerliteratur von den kulturellen und politischen Eliten vornehmlich als eine Literatur aus dem Westen wahrgenommen wurde.
i ljudi (dt. „Natur und Menschen“, 1889–1918), während die Illustrierte Zeitschrift Niva (dt. „Das Neuland“) eher nationale Themen für die ganze Familie aufbereitete. Petr Sojkin war einer der größten Verleger des späten Zarenreiches (vgl. Abschnitt 1.2 dieses Buches).
16 | Einleitung
2. V or ges ch i c h t e n : D i e W e l t d e r A b e nt e ue r i n Ru s s l a n d v o r 1 9 1 7 Abenteuerliteratur schien noch lange Zeit nach der Oktoberrevolution für viele Protagonisten der künstlerischen und politischen Elite vornehmlich eine Literatur aus dem Westen zu sein. Fragt man nach den Gründen, wie es hierzu kam, gibt es viele Unschärfen, die darauf hinweisen, dass diese imaginäre Verknüpfung anfangs keineswegs so eng gewesen ist, wie es in der Retrospektive erscheinen mag.16 Hierfür lohnt sich ein Blick in die Geschichte des russischen Abenteuertextes, der sich ab dem 18. Jahrhundert zu einem Vorläufer der modernen Abenteuergeschichte verdichtete, ohne dass er sich je zu einer „respektablen“ Literaturform etablieren konnte. Das russische Zarenreich hatte zwar Ende des 18. Jahrhunderts keine überseeischen Kolonien und auch keine mit Spanien, Frankreich oder England vergleichbare Kolonialgeschichte, doch gab es eine spätestens seit Peter dem Großen einsetzende Geschichte der so genannten „inneren Kolonisierung“, die bis in den fernen Osten Sibiriens und seit Katharina der Großen auch immer weiter in den Süden reichte, also in jene Gebiete, die als „Orient“ so sehr die Imaginationen der europäischen Kolonialstaaten geprägt hatten.17 Gerade der „Orientalismus“ als eine diskursive Formation des späten 18. und 19. Jahrhunderts, in der die für die Abenteuerliteratur so konstitutiven, modernen Differenzierungen in Okzident und Orient, Eigenes und Fremdes, Alltägliches und Exotisches ausgehandelt wurden, fand auch in der russischen Kultur weite Verbreitung in den wissenschaftlichen, administrativen und literarischen Texten über die bis ins 18. Jahrhundert unter tatarischer Herrschaft befindlichen Gebiete der Krim, des Kaukasus und Mittelasiens.18 Genauso existiert eine sentimentalische und romantische Reiseliteratur, die ferne Gegenden inner- und außerhalb Russlands sowie fremde Kulturen als Inspirations- und Initiationsquelle des eigenen künstlerischen Schaffens benutzte. Aleksandr Bestužev-Marlinskijs „südliche Romane“, Faddej Bulgarins „Glaubwürdige erfundene Geschichten“ oder Osip Senkovskijs fantastische Reisen des Baron Brambäus schufen eine populäre Unterhaltungsliteratur, die ausführlich an einer Exotisierung und Orientalisierung 16
Generell zu den Bildern des Westens innerhalb der künstlerischen Eliten nach 1917 vgl. Avins, Carol: Border Crossings. The West and Russian Identity in Soviet Literature 1917–1934, Berkeley 1983; Ėtkind, Aleksandr: Tolkovanie putešestvija. Rossija i zapad v travelogach i intertekstach, Moskva 2001, S. 142–215; Beide Autoren verkennen jedoch die Ambivalenz dieser Bilder in Bezug auf die Abenteuerliteratur, die sie nur ganz am Rande streifen (vgl. Kapitel 3).
17
Vgl. Layton, Susan: Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy, Cambridge 1994; Thompson, Ewa M.: Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism, Westport, CT, 2000; Etkind, Aleksandr: Fuko i tezis vnutrennej kolozinacii. Postkolonial’nyj vzgljad na sovetskoe prošloe, in: Novoe literaturnoe obozrenie 49 (2001), S. 50–73.
18
Vgl. Said, Edward W.: Orientalism, London 1978; Brower, Daniel: Imperial Russia and Its Orient. The Renown of Nikolai Przevalsky, in: The Russian Review 3 (1994), S. 367–381; Greenleaf, Monika: Pushkin and Romantic Fashion. Fragment, Elegy, Orient, Irony, Stanford 1994.
Vorgeschichten | 17
der „kolonisierten“ Randgebiete des Russischen Reiches mitschrieb, auch oder gerade wenn sie deren Darstellung ironisch und satirisch brach.19 Doch auch wenn alle Voraussetzungen dafür gegeben waren, es fand sich kein russischer Walter Scott oder Fenimore Cooper, und auch kein russischer Edgar Allan Poe oder Eugène Sue. Auch wenn der Einfluss Scotts auf Aleksandr Puškin unbestritten ist, mehr als einige historischabenteuerliche Kurzromane – wie Dubrovskij (Дубровский, 1833) oder Die Hauptmannstochter (Капитанская дочка, 1836) – schrieb Letzterer nicht. Auch Lev Tolstojs Cooper-Rezeption ist belegt, doch bis auf ein Frühwerk – Die Kosaken (Казаки, 1863) – beschäftigte er sich nicht weiter mit abenteuerlichen Sujets.20 Selbstverständlich hat es auch im ausdifferenzierten literarischen Feld des zaristischen Russland im 19. Jahrhundert zahlreiche Autoren gegeben, die im Stile eines Cooper oder Doyle schrieben. Gleichwohl blieb dies eine Randerscheinung, die der westlichen Konkurrenz wenig entgegensetzen konnte.21 Warum sich Mitte des 19. Jahrhunderts keine entsprechende literarische Richtung etablierte, ist letztlich kaum eindeutig zu bestimmen. Man kann die politische Lage anführen, die nach der Niederschlagung des Dekabristenaufstandes 1825 und mit dem Ausbau der Zensur zu einer Fixierung auf gesellschaftskritische Themen geführt hat – aber genau diese Umstände hätten auch in einem zunehmenden Eskapismus münden können. Man kann sozialgeschichtlich argumentieren und das fehlende Bürgertum und entsprechend das Ausbleiben einer modernen Nationalstaatsbildung als Grund anführen, weswegen es zu keiner Etablierung von Abenteuergeschichten kam: Doch auch hier gibt es keinen kausalen Zusammenhang, andere „bürgerliche“ Literaturformen etablierten sich durchaus in Russland. Oder man kann anführen, dass russische Identitätsdiskurse gerade im 19. Jahrhundert eben nicht über einen überseeischen Orient und die „dunklen“ Kolonialkontinente geführt werden mussten, weil die kulturellen Selbstverständigungsprozesse und Alteritätsdiskurse viel stärker durch einen Ost-West-Gegensatz geprägt
19
Vgl. Bagby, Lewis: Aleksander Bestuzhev-Marlinsky and the Russian Byronism, University Park PA 1995; Grob, Thomas: Metafiktionalität, Nullpunkt und Melancholie. Osip Senkovskijs „Phantastische Reisen des Baron Brambeus“ am ‚Ende‘ der Romantik. In: Gölz, Christine u.a. (Hg.): Romantik – Moderne – Postmoderne (Beiträge zum ersten Kolloquium des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft, Hamburg 1996), Frankfurt a. M. 1998, 66–97; Polianski, Igor J.; Schwartz, Matthias: Petersburg als Unterwasserstadt. Geologie, Katastrophe und der Homo diluvii testis, Diskursive Ausgrabungen bei Senkovskij, Puškin und Odoevskij, in: Wiener Slawistischer Almanach 53 (2004), S. 5–42.
20
Allerdings nimmt Tolstoj das Thema des „wilden“ Kaukasus noch einmal in dem posthum erschienenen Kurzroman Hadži Murat (Хаджи-Мурат, 1912) auf; Generell zu den Einflüssen Coopers auf Tolstoj, vgl. Green: Dreams of Adventure, S. 164–202.
21
Vgl. Mills Todd, William: Fiction and Society in the Age of Pushkin. Ideology, Institutions, and Narrative, Cambridge, Mass./London 1986; Lovell, Stephen: Literature and Entertainment in Russia. A Brief History, in: Ders.; Menzel, Birgit (Hg.): Reading for Entertainment in Contemporary Russia. Post-Soviet Popular Literature in Historical Perspective, München 2005, S. 11–28, S. 11ff.
18 | Einleitung
waren, was letztlich jedoch nicht erklärt, warum nicht auch eine sujetbetonte Abenteuerliteratur entstehen sollte, die auf Exotik, Sinnlichkeit und geheimnisvolle Spannung Wert legt.22 Für die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ähnlich wie überall in Europa entwickelnde kommerzielle Unterhaltungsliteratur spielte sicherlich die später einsetzende Industrialisierung, die mangelnde Alphabetisierung großer Bevölkerungskreise zusammen mit einer weit reichenden Regulierung und Zensur eine Rolle, die die Ausprägung einer entsprechenden Massenliteratur erschwerte.23 Zwar gewannen Abenteuergeschichten, die in geographischen Journalen wie Vokrug sveta (dt. „Um die Welt“) oder dem schon genannten Periodikum Mir priključenij erschienen, eine wachsende Popularität, doch stellten sie primär aus dem Westen importierte Geschichten dar, die den in diesem Bereich schreibenden russischen Autorinnen und Autoren keinerlei „literarische“ Akzeptanz oder gar Reputation seitens der künstlerischen Intelligenzija einbrachten.24 Gerade der große Durchbruch populärer Abenteuerliteratur am Vorabend des Ersten Weltkriegs konnte sich durch die mehrfachen Zäsuren aus Krieg, Revolution und Bürgerkrieg nicht verstetigen. Galt doch diese vorrevolutionäre „Boulevardliteratur“ – zu deren Bereich auch das Abenteuergenre zählte – nach 1917 als ein reaktionäres Produkt des untergegangenen Zarenreichs, das es zu überwinden galt, egal ob man an dessen Stelle eine neue sowjetische oder gar keine Abenteuerliteratur setzte. Dies führte zu einer markanten Asymmetrie: Während die westlichen „Klassiker“ (solange sie nicht offen reaktionär waren) selbst in ihren boulevardesken Formen nach der Oktoberrevolution weiter gedruckt werden konnten, gab es von der vorrevolutionären russischen Abenteuerliteratur keine Neuauflagen (vgl. Kapitel 1).
22
Vgl. zu den nationalen Alteritätsdiskursen auch Perrie, Maureen: Narodnost’. Notions of National Identity, in: Kelly, Catriona; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford 1998, S. 28–36; Etkind: Tolkovanie putešestvie.
23
So spricht Brooks in seiner Studie zur russischen Populärliteratur sogar von einer „Contrasting Western Adventure Formula“, wonach die russischen Helden als Outlaws, Grenzgänger und Banditen von Anfang an dadurch bestimmt seien, Reue und Wiedergutmachung gegenüber der russischen Autokratie zu üben, indem sie durch patriotische Taten ihre Loyalität bezeugen, während westliche Helden – wie beispielsweise die Protagonisten bei Alexandre Dumas oder Eugene Sue – sehr viel „individualistischer“ ein allgemein akzeptiertes Gerechtigkeitsgefühl verkörperten, das nicht durch den Staat repräsentiert werden müsse: „Western superheroes such as the three musketeers, whose adventures could be endless because they were infallible, were more suitable popular literary figures than Russian characters [...], who ultimately had to face up to their personal failings and whose adventures were therefore finite.“ Brooks, Jeffrey: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton, NJ 1988, S. 195, 197.
24
Zur Popularität vgl. Vgl. Brooks: When Russia Learned to Read; Steinweg, Dagmar: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften. Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija A. Verbickaja und Evdokija A. Nagrodskaja (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bd. 27), Bochum 2002; zum sozialen Status der Schriftsteller, der auch viel mit der „Literaturzentriertheit“ der russischen Oberschichten zu tun hat, vgl. Cornwell, Neil; Witzell, Faith: Literaturnost’. Literature and the Market-Place, in: Kelly, Catriona; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford 1998, S. 37–51; Byford, Andy: The Politics of Science and Literature in French and Russian Criticism of the 1860s, in: Symposium (Winter 2003), S. 210–230.
Vorgeschichten | 19
3. V er or t u n g e n u n d B e g r i ffsunschä rfe n: Aben t e u e r l i t e r a t u r u n d Scie nce Fict io n Die „so genannte Literatur der Abenteuer“, des „Aventure“, von der Lunc in seiner oben zitierten Polemik noch sehr unbeholfen spricht, bezeichnete in der öffentlichen Wahrnehmung Russlands eine primär aus dem „Westen“ kommende „Kolonialware“. Dabei stellte diese Bezeichnung auch im Westen keine fest umrissene Gattung dar, sondern einen recht vagen Oberbegriff, der sich auf „exotische Literatur“, „Scientific romances“ oder „Voyages Extraordinaires“ beziehen konnte. In Deutschland pries man sie auch als „amerikanische Romane“ oder in Russland als „Pinkerton“-Literatur an, ältere Bezeichnungen wie Kolportage- oder Boulevardroman waren ebenfalls noch gebräuchliche Begriffe für Werke, die nach heutigem Verständnis sowohl der Science Fiction oder Abenteuerliteratur wie auch der Kriminalliteratur zuzuordnen wären.25 Eine homogene Definition der Gattung ist auch heute noch relativ kompliziert. Bekanntlich ist die literaturwissenschaftliche Diskussion zur Klassifizierung und Bezeichnung von spezifischen Texttypen als Gattungen und Genres lang anhaltend und breit gefächert,26 und Genredefinitionen sind ihrerseits als historisch variabel lesbar. 27 Das gilt insbesondere für die so genannte, stärker auf Unterhaltung angelegte „Genreliteratur“ wie Krimis, Science Fiction oder auch Abenteuer, deren Bestimmungen sich vor allem aus kommerziellen Erwägungen ergeben haben, unter deren Namen jedoch häufig in Bezug auf Thematik, Struktur und Motivik äußerst disparate und heterogene Texttypen gefasst werden können.28 Obgleich sich auch durch die breite Rezeption der hier behandelten Texte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein allgemeines Verständnis der diskursiven Merkmale von Abenteuerliteratur herausbildete, waren die Grenzen zu anderen Texttypen recht durchlässig und flexibel. 25
Vgl. White, Andrea: Joseph Conrad and the Adventure Tradition. Constructing and Deconstructing the Imperial Subject, Cambridge 1993, S. 8, 44, 49, 51; Steinbrinck, Bernd: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 72), Tübingen 1983, S. 1ff.
26
Vgl. Bonheim, Helmut: Genres and the Theory of Models, in: Eureopean Journal of English Studies 3:1 (1999), S. 11–32.
27
David Fishelov ordnet all diese ursprünglich als metaphorische Adaptionen aus biologischen, „pseudodarwinistischen“ Erklärungsansätzen entwickelten Genretheorien in zwei Modelle: ein evolutionär und ein nach Lebenszyklen geprägtes, vgl. Fishelov, David: The Strange Life and Adventures of Biological Concepts in Genre Periodisation, in: Canadian Review of Comparative Literature 21 (1994), S. 613–626. Diese „biologistische“ Lesart der Literaturgeschichte war auch für die formalistischen Literaturtheoretiker der 1920er Jahre in Russland charakteristisch, die entsprechend der verwendeten Termini denn auch wiederholt das „Absterben“ und Wiederaufleben des „Genres“ der Abenteuerliteratur diagnostizierten, vgl. Abschnitte 3.1 und 4.1 dieses Buches.
28
Vgl. Le Guin, Ursula K.: Genre. Ein Wort, das eigentlich nur etwas für Franzosen ist, in: Pandora. Science Fiction & Fantasy 1 (2007), S. 24–29; Müller, Eggo: Genre, in: Hügel, Hans-Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussion, Stuttgart, Weimar 2003, S. 212–215.
20 | Einleitung
Versucht man in einer retrospektiven Sicht die Entstehung dieser heterogenen Gemengelage zu rekonstruieren, lässt sich Abenteuerliteratur als ein diskursives Bedeutungsfeld beschreiben, an dem die entsprechenden Texte unterschiedlich stark partizipieren.29 Dieses Diskursfeld ist vor allem durch drei semantische „Differenzbereiche“30 gekennzeichnet, die im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden sollen: Erstens durch den kolonialen und imperialen Kontext, in der Abenteuertexte eine spezifische Poetik des Eigenen und Fremden, Sinnlichen und Exotischen entwickeln; Zweitens verhandeln die Geschichten die für die Moderne so charakteristische Verzeitlichung bestehender Ordnungs- und Wertesysteme, die durch eine temporäre Infragestellung oder spatiale Verkehrung bestimmter Hierarchien und Machtsysteme ausgedrückt werden; und drittens kreisen diese Schriften immer um ein bestimmtes geheimnisvolles, rätselhaftes oder außergewöhnliches Moment, das die Faszination der Protagonisten auf sich zieht und an dem bestimmte Ambivalenzen des europäischen modernen Subjekts zum Ausdruck kommen. Ein grundlegendes Merkmal moderner Abenteuerliteratur war, dass ihre Handlungsorte zwar möglichst weit weg vom Alltag der Leser lagen, das dort Erlebte jedoch für diese emotional und intellektuell nachvollziehbar blieb.31 Im Kontext der kolonialen und imperialen Eroberung der Welt handelten sie vor allem von außereuropäischen Weltgegenden, in denen die Begegnungen mit „exotischen“ Menschen, Tieren oder Naturerscheinungen stattfanden.32 Gerade die anschauliche Darstellung des Fremden und die unmittelbare, sinnliche Konfrontation eines weißen, europäischen, fast immer männlichen Subjekts mit einer anderen Welt stellte ein entscheidendes Moment dieser Geschichten dar.33 In einer fremden Welt, deren Tiere man nicht kannte, deren Sprache man nicht sprach und deren Klimabedingungen man nicht gewohnt war, galt es 29
Dieses „diskursive Bedeutungsfeld“ soll hier nicht wie bei Pierre Bourdieu das „literarische Feld“ oder bei Michel Foucault die „Prozeduren“ des Diskurses als ein klar geordnetes und strukturiertes „Feld“ verstanden werden, vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999; Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. 2. Dezember 1970, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977; Wenn im Weiteren von literarischen Feldern und Diskursen die Rede ist, werden diese vielmehr im „post-kolonialen“ Sinne von Homi Bhabha als ein „Zwischenraum“ verstanden, in dem sich bestimmte „Differenzbereiche“ überlappen und „deplatzieren“, vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 1–28.
30
Ebd., S. 2.
31
Vgl. Best, Otto F.: Abenteuer. Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Geschichte und Deutung, Frankfurt a. M. 1980. Diese Forderung der Nachvollziehbarkeit brachte es mit sich, dass es sich bei den in Russland verbreiteten Werken meist nicht um schlichte Übersetzungen handelte, sondern sie für den russischen Buchmarkt teils stark bearbeitet, teils sogar vollständig neu geschrieben wurden, oder man auch vermeintliche „Amerikanismen“ bewusst imitierte, vgl. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 130–165.
32
Vgl. Maler, Anselm (Hg.): Der exotische Roman. Bürgerliche Gesellschaftsflucht und Gesellschaftskritik zwischen Romantik und Realismus, Stuttgart 1975.
33
Vgl. Eggebrecht, Harald: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert, Berlin/Marburg 1985; Green, Martin: The Aventurous Male. Chapters in the History of the White Male Mind, University Park, PA 1993.
Verortungen und Begriffsunschärfen | 21
sich physisch, aber auch intellektuell zu behaupten. Was dabei strukturell in den Geschichten zum Ausdruck kam, war die prinzipielle Überlegenheit des weißen Mannes, der sich dank seiner Vernunft und Zivilisation letztlich gegenüber den primitiveren „Wilden“ behauptete.34 In der kolonialen Peripherie konnte der häufig ganz auf sich allein gestellte Held im Überlebenskampf sein eigenes Idealbild verwirklichen. Hier, in der Konfrontation mit „zivilisationsfernen“ Räumen, die von keiner Eisenbahn erschlossen sind und in die keine Handels- und Kriegsschiffe mehr vordringen, ist es vor allem die „mediale“ Überlegenheit des Weißen Mannes, die es ihm ermöglicht, sich mit Hilfe europäischer Ordnungs- und Tugendvorstellungen, Wissenschaft, Technikverständnis und Disziplin die feindliche Welt untertan zu machen.35 Anders formuliert werden die außereuropäischen Geographien als jener liminale Raum im Sinne Victor Turners fiktionalisiert, in dem die herrschenden Normen und Hierarchien temporär außer Kraft gesetzt sind, um dann neu im zu initiierenden Subjekt etabliert zu werden.36 Dieser hegemoniale Diskurs von Abenteuer, Kolonialismus und Zivilisation zur Konstruktion eines imperialen Subjekts schrieb sich auch dann noch fort, als diese Männlichkeitskonstruktionen um die Jahrhundertwende längst brüchig geworden waren und es meist gescheiterte Helden waren, die ihr Glück in der Ferne suchten, aber nur „die Wildnis im Menschen selbst“, „das Grauen des Tieres in uns, das Grauen der Urzeit: the horror“ im Eigenen fanden, wie beispielsweise bei Joseph Conrad oder Jack London.37 Aber auch diejenigen, die den Weg in andere Welten keineswegs mehr als Initiationsritual vollzogen, sondern ihre extraordinären Reisen um, in und über die Erde hinaus nur zur Realisierung einer Wette oder zur Befriedigung wissenschaftlicher Eitelkeiten unternahmen, wie die Helden eines Jules Verne oder Arthur Conan Doyle, sind ohne die koloniale Eroberung der Welt undenkbar.38 The White Man’s Burden blieb das zentrale Kennzeichen dieser Literatur, egal ob man das gleichnamige Gedicht von Rudyard
34
Generell zu diesem „kolonialen Blick“ auf die primitiveren Wilden auch jenseits des europazentrierten Kontextes vgl. auch Young, Robert: White Mythologies. Writing History and the West, London/New York 1990; Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturalism, London/New York 1992; Böckelmann, Frank: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Frankfurt a. M. 1998; Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren, Hamburg 1993.
35
Vgl. Werber, Niels. Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München 2007.
36
Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1995; Phillips. Mapping Men and Empire, 13.
37
Vgl. Koebner, Thomas: Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman, in: Ders.; Pickerodt, Gerhart (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 240–266, S. 264; zu Conrads Prosa, vgl. Achebe, Chinua: An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness, in: Kimbrough, Robert (Hg.): Joseph Conrad’s ,Heart of Darkness‘, New York 1988, S. 251–262.
38
Vgl. Green. Dreams of Adventure, 129–163, 297–319; Aberger, Peter: The Portrayal of Blacks in Jules Verne’s ,Voyages Extraordinaires‘, in: The French Review 53:2 (1979), S. 199–206.
22 | Einleitung
Kipling von 1899 als rassistisches Traktat für oder als satirische Polemik gegen die Kolonialisierung der Welt las. Die Konstruktion einer anthropologischen Differenz zwischen der „eigenen“, zivilisierten (europäischen) Welt und einer „anderen“, barbarischen (außereuropäischen) Welt wurde aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Hinsicht auf das weiße Subjekt brüchig. Auch territorial konnte sie aus der Ferne zurück ins Kernland des Imperialismus, vor die eigene Haustür transferiert werden. Sowohl das noch „unkultivierte“ Umland der eigenen Hochkultur als auch die großen Städte konnten in Heterotopien der eigenen Zivilisation verwandelt werden.39 Allerdings rekonstruierten diese Abenteuergeschichten die anthropologische Differenz insofern, als sie sie auf soziale und politische Konflikte bezogen, wie sie in den unzähligen Räubergeschichten verhandelt wurden, die eine andere Welt des Verbrechens und des Glücksrittertums präsentierten. Pierre Alexis Ponson du Terrails Räuber Rocambole oder Alexandre Dumas‘ Graf von Monte Christo problematisierten als „Verbrecher aus verlorener Ehre“ die „verratenen“ Freiheits- und Gleichheitsideale der eigenen Gesellschaft, wobei der Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarei oft mit dem Antagonismus zwischen bürgerlicher Ordnung und adliger Dekadenz amalgamiert wurde.40 In der Konzeptualisierung der Großstadt als „Dschungel“ stellte hingegen die Welt des Verbrechens, des Sittenverfalls und des Vergnügens das zumeist aus der Fremde kommende verführerische Exotische und verbotene Wilde dar, das der Privatdetektiv mit neuesten, naturwissenschaftlich inspirierten Ermittlungsmethoden als Grenzgänger zwischen Staat und Halbwelt bekämpfte.41 In Bram Stokers Gestalt des Grafen Dracula, der die Hauptstadt des britischen Empire heimsucht, fand diese Mischung aus exotischer Wildheit und adeliger Boshaftigkeit, mythischem und rationalem Wissenschaftsverständnis Ende des 19. Jahrhunderts eine ihrer vielleicht wirkungsvollsten und populärsten Figurationen.42 Gleichzeitig wird in dieser Überlagerung von archaischer Wildnis und dekadentem Altertum nicht nur eine räumliche Differenz von Nähe und Fremde, Zentrum und Peripherie prekär, sondern sie refiguriert auch eine temporale Komponente, die generell signifikant für die Verzeit-
39
Zum Begriff der „anderen Räume“ oder Heterotopien, die zugleich innerhalb und jenseits der eigenen Zivilisation liegen, vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz; Gente, Peter u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1990, S. 34–46.
40
Vgl. Klotz, Volker: Abenteuer-Romane. Sue – Dumas – Ferry – Retcliffe – May – Verne, München 1979; Walter, Klaus-Peter: Die „Rocambole“-Romane von Ponson DuTerrail. Studien zur Geschichte des französischen Feuilletonromans, Frankfurt a. M. 1986.
41
Vgl. Rzepka, Charles J.: Detective Fiction (Cultural History of Literature), Cambridge/Malden, MA 2005, S. 90–136; Roy, Pinaki: The Manichean Investigators: A Postcolonial and Cultural Rereading of the Sherlock Holmes and Byomkesh Bakshi Stories, New Delhi 2008.
42
Vgl. Olorenshaw, Robert: Narrating the Monster. From Mary Shelley to Bram Stoker, in: Bann, Stephen (Hg.): Frankenstein. Creation and Monstrosity, London 1994, S. 159–176; Lubrich, Oliver: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld 2004, S. 99–147.
Verortungen und Begriffsunschärfen | 23
lichung des Raumes und der Natur im 19. Jahrhundert im Zeichen der Evolutionstheorie ist.43 So markieren die archaische Wildnis und „primitive“ Kultur der Face-to-face-Gesellschaften in der Lesart des 19. Jahrhunderts nicht einfach nur eine fundamental andere Welt, sondern sind vor allem die Verkörperung einer vorzeitigen und früheren Stufe der Menschheitsentwicklung, die man im eigenen Selbstverständnis längst hinter sich gelassen hat. Mit der zunehmenden „Hybridisierung“ der spatialen und temporalen Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem repräsentiert die andere Welt aber auch eine absterbende und zum Niedergang verurteilte „dekadente“ Gesellschaft. Der „Letzte Mohikaner“ genauso wie Graf Dracula sind immer beides: rückständige Peripherie und niedergehende, anachronistische Hochkultur, die unfähig ist, sich an die neue Zeit des Kolonialismus und des modernen Imperialismus zu adaptieren. Dieses sich im 19. Jahrhunderts etablierende dynamisierte Zeitverständnis brachte zudem eine weitere Ambivalenz und Relativierung der positiven Selbstbilder von eigener „Kultiviertheit“ und „Zivilisiertheit“ mit sich, die sich zu einer zivilisatorischen Angstfantasie ausweiteten: Denn indem der „Wilde“ nicht nur zum Wiedergänger einer historischen Vorzeit narrativiert wird, sondern immer häufiger auch ein verloren gegangenes, höheres „mythisches“ Wissen oder Verfallsstadium einer Zivilisation markiert, signalisiert er gleichzeitig auch die Vergänglichkeit der eigenen Gesellschaft und öffnet den Blick auf eine immer unsicherer scheinende Zukunft: Hatte man einmal die eigene Historizität erkannt, war es auch denkbar, dass man eines Tages mit überlegenen Zivilisationsstufen konfrontiert wurde, die einen selber zu einem „Wilden“ degradieren würden. Und nicht nur das, war doch gerade mit der Durchsetzung des (sozial-) darwinistischen Evolutionsgedankens noch nicht einmal gesichert, dass sich das Bessere, Kultiviertere und ethisch Höherstehende durchsetzen werde, solange es nicht auch das Stärkere war. Verbrecher, Vampire oder „Hottentotten“ sind damit nicht mehr nur bedrohliche Subjekte einer anachronistisch gewordenen Vorzeit, sondern mutieren zu Vorboten einer bedrohlichen Zukunftsvision vom Niedergang des Abendlands.
43
Vgl. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976.
24 | Einleitung
4. G en ealo g i e n : D i e „ G e b u rt “ d e r S c i en c e F i c t i o n Mit einer solchen temporalen und territorialen Umkehrung der kolonialen Perspektive, die das Andere und Fremde nicht nur in einer der Vergangenheit zugeordneten kolonialen Peripherie verortet und gleichzeitig differente Kulturen nicht nur als unterlegene konzeptualisiert, sondern direkt in das von der eigenen Zukunft bedrohte Imperium transferiert, geht kulturgeschichtlich und typologisch betrachtet die Geburt der Science Fiction einher: Je deutlicher im europäischen Kernland die Schattenseiten der imperialen Expansion und kolonialen Unterwerfung erkennbar wurden, desto attraktiver wurde eine Abenteuerliteratur, die einen kritischen oder fantastischen Blick auf ein gleichzeitig primitiv, verführerisch und edel konzeptualisiertes Anderes freigibt und hierbei die eigene Zivilisation exotisiert und zum Objekt kolonialer Begierden fremder Mächte degradiert. Hierin liegt das Wesen des frühen Science-Fiction-Genres, wie John Rieder in Hinsicht auf diese Verschiebung schreibt: „The crucial point is the way it sets into motion a vacillation between fantastic desires and critical estrangement that correspondents to the double-edged effects of the exotic.“44 In dieser Vertauschung der Vorzeichen und Wertungen bei einer gleich bleibenden „kolonialen“ und exotisierenden Narrationsstruktur liegt eine Spezifik der aufkommenden Science Fiction, wie sie beispielsweise in den gleichzeitig im Jahr 1897 erschienenen Romanen Auf zwei Planeten von Kurd Lasswitz und War of the Worlds von H. G. Wells zu erkennen ist. Während bei Wells die kolonialen Invasoren eine aggressive und höher entwickelte Zivilisation darstellen, die jedoch keineswegs einen Fortschritt zum Besseren verspricht, sondern ihre Macht einzig auf dem Recht des Stärkeren gründet, repräsentieren Lasswitz’ Marsianer eine utopische Zivilisation, die die Erde mit friedlichen Absichten besuchen und jungfräulich „unberührt“ wieder verlassen.45 Das „Schwanken zwischen fantastischen Wünschen und kritischer Verfremdung“ im Umgang mit dem Exotischen in der frühen Science Fiction verweist aber auf noch ein weiteres zentrales Merkmal der Abenteuerliteratur, das formal ein ganz entscheidendes Moment für die Popularität des Genres ist: nämlich die Beschwörung von Geheimnisvollem und Außergewöhnlichem. Im Unterschied zu Reiseberichten und Zeitungsreportagen versprach Abenteuerliteratur mehr als nur die Eroberung der Wildnis. Sie handelte von der Entdeckung bislang ungekannter „weißer Flecken“ der Landkarte, die dem Leser vergessene Schätze, unbekannte Kulturen, geheimnisvolle Schönheiten und noch nie gesehene Naturschauspiele offenbarten.46 Auch hier konnte der weiße Mann seine ganze Überlegenheit beweisen, indem er bei der Entzifferung verschlüsselter Botschaften, unleserlicher Landkarten oder verwischter Spuren seine intellektu44
Rieder, John: Colonialism and the Emergence of Science Fiction, Middletown, CO 2008, S. 6.
45
Vgl. Rottensteiner, Franz: Erkundungen im Nirgendwo. Kritische Streifzüge durch das phantastische Genre, Passau 2003, S. 215–229; Kerslake, Patricia: Science Fiction and Empire, Liverpool 2007, S. 83–104.
46
Vgl. Bristow: Empire Boys, S. 127–169; Rottensteiner: Erkundungen im Nirgendwo, S. 193–202.
Genealogien | 25
elle Kompetenz und nicht selten einen extremen physischen Einsatz ins Spiel brachte. Hatte er es aber geschafft, wurde er mit unvorstellbaren Reichtümern (Schätzen und Schmuckstücken) und unbeschreiblichen Naturschönheiten (Frauen und Vegetationen) belohnt, auch wenn er diese „wunderbaren Besitztümer“ meist nie zurück in seine Heimat transferieren konnte.47 Auch diese Elemente des „Außergewöhnlichen“ und „Geheimnisvollen“ sind in der Science Fiction lesbar, indem sie es in eine technisch und sozial überlegene Zukunft projiziert, in der das Exzeptionelle als wunderbare Option fantastischer technisch-wissenschaftlicher Möglichkeiten – wie in den extraordinären Reisen eines Jules Verne – oder als Alptraum – wie in Wells’ War of the Worlds oder Time Machine – auftreten kann. Erst in diesem Kontext wurde ein bislang wenig beachteter romantischer Schauerroman wie Mary Shelleys Frankenstein (1818) Ende des 19. Jahrhunderts ein Bestseller, in welchem man plötzlich einen Zerrspiegel des modernen Menschen mit seiner anmaßenden Hybris wissenschaftlicher und technischer Allmächtigkeit erkannte.48 Gerade dieser Aspekt der Möglichkeiten und Gefahren industrieller, technischer und wissenschaftlicher Innovationen, die weit reichende soziale und gesellschaftliche Folgen zeitigen konnten, sollte für die Geburt der Science Fiction – wie der Ende der 1920er Jahre eingeführte Begriff schon andeutet – ein weiteres bestimmendes Moment werden.49 Gleichzeitig bot aber diese auf technisch-wissenschaftliche Gedankenexperimente und Zukunftsszenarien gerichtete Abenteuerliteratur auch die Möglichkeit, das koloniale Expansionsschema zeitlich und räumlich in „fantastische“ Welten zu extrapolieren, indem der weiße europäische Mann in andere Zeiten oder Räume jenseits der irdischen Gegenwart mit Zeitmaschinen und Raumschiffen vordrang.50 So boten Abenteuerliteratur und Science Fiction am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein breites Spektrum an Narrationsmöglichkeiten, ambivalente Entwicklungen der eigenen Gesellschaft in extrapolierenden und fantastischen Geschichten zu artikulierten. Sie offerierten einen „Wonnetraum aus Flucht und Ferne“,51 der immer auch ein Alptraum sein kann, indem Exotisches und Sinnliches mit Geheimnisvollem und Abenteuerlichem kombiniert wird. Zu einer Massenliteratur wurde das Genre aber nicht nur aufgrund dieser Qualitäten. Ihre Popularität 47
Generell zur Konzeption des Wunderbaren in Reise- und Kolonialliteratur als „ein zentrales Merkmal des ganzen komplexen, verbalen und visuellen, philosophischen und ästhetischen, geistigen und emotionalen Repräsentationssystems, mittels dessen die Europäer [...] das Wünschens- und Hassenswerte in Besitz nahmen oder verwarfen“, vgl. Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994, S. 9–43, hier S. 39.
48
Vgl. ebd., S. 19.
49
Vgl. Luckhorst, Roger: Science Fiction (Cultural History of Literature), Cambridge, Malden, MA 2005, S. 13–49; Kerslake: Science Fiction and Empire, S. 8–42.
50
Diese Möglichkeit wurde desto attraktiver, je weniger „weiße Flecken“ die koloniale Landkarte ließ und je problematischer ein unreflektierter Alteritätsdiskurs angesichts der wachsenden Kolonialismus- und Imperialismuskritik wurde.
51
Best, Otto F.: Abenteuer – Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Geschichte und Deutung, Frankfurt a. M. 1980.
26 | Einleitung
verdankte es auch einer wachsenden alphabetisierten Leserschaft in den industriellen Zentren der großen Kolonialimperien, deren Lesebedürfnisse eine kommerzielle Buchindustrie bediente, die in Groschenheften, Fortsetzungsserien und illustrierten Zeitschriften gerade die weniger gebildeten Mittel- und Unterschichten gezielt ansprach, wobei oft auch Autoren wie Cooper oder Arthur Conan Doyle in gekürzten und bearbeiteten „Volksausgaben“ verlegt wurden.52 Den in den modernen Disziplinaranstalten des Büros und der Fabrik lebenden Großstadtmenschen, die „entfremdet“ von Land und Familie, Natur und Gemeinschaft ihrem arbeitsteiligen Alltag nachgingen, bot die Abenteuerliteratur in den vor-modernen Dschungelabenteuern eine alternative Welt, in der das weiße, europäische Subjekt an den imperialen Herrschaftsträumen partizipieren konnte, oder sie zeigte ihm in den „nach-modernen“ Science Fiction-Geschichten in unterhaltsamer Form all die schrecklichen und faszinierenden Perspektiven auf, die durch technisch-wissenschaftliche Innovationen möglich zu werden schienen. Es war dieses Zusammenspiel aus kolonialen und exotisierenden, wissenschaftlichen und sozialen Dispositiven, denen Abenteuergeschichten ihre Beliebtheit verdankten und die vor allem auf ein kollektives Imaginäres abzielten. Abenteuergeschichten erzählten sich moderne Imperien – wie Martin Green in Bezug auf England formulierte – kollektiv bei Nacht zum Einschlafen: „and, in the form of its dreams, they charged England’s will with the energy to go out into the world and explore, conquer, and rule.“53 Sie lieferten aber auch, könnte man hinzufügen, in den aufkommenden Science Fiction-Geschichten jene kompensatorischen „Energien“, mit einem immer wahrscheinlicher werdenden Scheitern dieser auf Ausbeutung, Eroberung und Herrschaft beruhenden Weltordnung umgehen zu lernen.
52
Vgl. Bristow: Empire Boys, S. 4–52; Brooks: When Russia Learned to Read, S. 109–165.
53
Green: Dreams of Adventure, S. 3.
Genealogien | 27
5. E x ped i t i o n e n i n a n d e r e We lt e n: Z u r Ko n z e p t u a l i s i e r u n g d ie se r St ud ie Aus der im vorigen Abschnitt dargestellten Entstehung des modernen Abenteuerromans und der Science Fiction geht hervor, dass hier die beiden Termini nicht für eine klar einzugrenzende Gattung verwendet werden, sondern eher als Bezeichnung für einen bestimmten populären Bereich der Literatur, der gewisse gemeinsame, historisch bedingte und wandelbare Merkmale aufweist. Das „Abenteuergenre“ stellt in diesem Sinne keinen feststehenden und schon gar nicht präskriptiv zu verstehenden Terminus dar, sondern soll den Untersuchungsgegenstand allgemein im Sinne des Titels „Expeditionen in andere Welten“ verorten: als eine Literatur, die von Begebenheiten in einer räumlichen oder zeitlichen Alterität und Ferne handelt, in der die aus der „eigenen“ Gesellschaft stammenden Heldenfiguren mit fremden Herausforderungen und externen Gefahren konfrontiert werden, gegen die sie sich mit Hilfe ihrer Zivilisationstechniken beweisen müssen und so als Subjekte neu konstituieren können. „Expeditionen“ meint in diesem Sinne nicht nur die Extrapolation des Geschehens in eine narrativ markierte Ferne, sondern auch das „Aufbrechen“ tradierter Vorstellungen und Diskurse in Relation zur eigenen Herkunft, wohingegen das Attribut „andere“ die Alterität der dargestellten Fremde hervorhebt und die Pluralform der „Welten“ betont, dass dieses vermeintlich fremde Andere genauso veränderlich ist wie das kulturpolitische Feld, in dem die hier vorgestellten Texte entstanden sind.54 Das Eigene und das Fremde, das Ferne und die Alterität erscheinen als sich wandelnde Figurationen, die stets mit neuen Inhalten gefüllt werden können. Wenn ich daher des Weiteren im Text von „westlicher Abenteuerliteratur“ oder „Klassikern“ der Abenteuerliteratur spreche, verwende ich die Termini ausschließlich als Quellenbegriffe, die sich genau auf jenen im vorigen Abschnitt umschriebenen „modernen“ Textkorpus beziehen.55 „Moderne“ wird als historischer Begriff gebraucht, der das Zusammenspiel von Nationalstaatsbildung und Imperialismus, Säkularisierung und Rationalisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, neuen Medien und Produktionstechniken, Massenkultur und Kommerzialisierung, Disziplinierung und Biopolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts umfasst. Die Sowjetunion wird in diesem Sinne ebenfalls als ein
54
Wobei diese allgemeine Definition sämtliche Formen der Parodie und „Perversion“ mit einschließt, die eine Vertauschung und Verfremdung von Fern und Nah, Dort und Hier, Fremd und Eigen, Außen und Innen beinhalten.
55
Das heißt ältere Texte, die häufig der Abenteuerliteratur zugerechnet werden, wie beispielsweise die Odyssee oder mittelalterliche Ritter- und Schelmenromane, fallen nicht unter diese Definition. Auch Daniel Defoes Robinson Crusoe ist kein „moderner“ Abenteuerroman, obwohl er unzweifelhaft einen zentralen Prätext und „vormodernen“ Vorläufer des Genres darstellt, fehlen bei ihm doch all die zentralen Momente der Sinnlichkeit, Exotik und liminalen Grenzüberschreitungen, die nur ansatzweise in Freitags Auftreten und den „Kannibalen“ am Horizont vorkommen.
28 | Einleitung
moderner Staat verstanden, der aber einen teilweise grundlegend verschiedenen Weg durch die Moderne gegangen ist.56 Der Terminus „Science Fiction“ wird in der Arbeit ebenfalls als Quellenbegriff gebraucht, der erst ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre insbesondere in den nordamerikanischen Pulp-Magazines auftauchte und hin und wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit sowjetischer Kritiker und Autoren geriet. Werke wie diejenigen von Verne, Edgar Rice Burroughs (dessen Marsromane), Conan Doyle (Lost World und andere) oder H. G. Wells, die man heutzutage zumeist der Science Fiction zuordnet, werden daher nicht als solche bezeichnet, sondern in ihren ursprünglichen Apostrophierungen (als außergewöhnliche Reisen oder „scientific novels“), gegebenenfalls auch als auf Technik und Wissenschaft bezogene Abenteuerliteratur oder fantastische Abenteuerliteratur attribuiert. Entsprechend wird der sowjetische Parallelterminus „Wissenschaftliche Fantastik“ ausschließlich als Quellenbegriff verwendet, der erstmals Mitte der 1920er Jahre vereinzelt auftauchte, ehe er zum Ende des Jahrzehnts innerhalb kurzer Zeit zu einer deutlich definierten Genrebezeichnung weiterentwickelt wurde (vgl. Kapitel 5). Wenn von dem „Fantastischen“ die Rede ist, bezeichnet dies den historisch entstandenen Begriff einer bestimmten Literaturrichtung, die anhand des Übernatürlichen und Übersinnlichen die Schattenseiten der technisch-wissenschaftlichen Moderne verhandelt, so wie ihn unter anderen Renate Lachmann gebraucht.57 Dieses nach Tzvetan Todorov zwischen dem übernatürlichen Fantastisch-Wunderbaren und dem rational erklärbaren Fantastisch-Unheimlichen changierende „fantastische“ Element aber, das auch vielen Abenteuerwerken eigen ist, wenn sie die „geheimnisvolle“ Welt fremder Kulturen fiktionalisieren, stellt immer auch einen metaphorischen Zerrspiegel der eigenen Gesellschaft dar und macht womöglich den zentralen Faszinationspunkt dieser Literatur aus, dem sie ihre Popularität verdankt.58 So geht es dieser Studie auch darum zu analysieren, wie die außerliterarische Wirklichkeit in den Werken reflektiert wird. Gerade dieser Aspekt macht Abenteuerliteratur und Wissenschaft-
56
Vgl. Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M./New York 2006; Baberowski, Jörg: Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: Ders. (Hg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Bonn 2006, S. 37–59.
57
Vgl. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M. 2002.
58
Der in der Forschungsliteratur viel diskutierten Problematik von Todorovs Begriffsbestimmung insbesondere hinsichtlich des sehr begrenzten Textkorpus’, der seiner Definition des Fantastischen entspricht, soll hier nicht weiter nachgegangen werden, da deren Klärung letztlich nichts zur eher literaturgeschichtlich ausgerichteten Fragestellung dieser Arbeit beiträgt, vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur (1970), Frankfurt a. M. 1992; Ruthner, Clemens; Reber, Ursula; May, Markus (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006; zum Fantastischen in der Abenteuerliteratur, vgl. Rottensteiner: Erkundungen im Nirgendwo, S. 194–202; zum MetaphorischSubversiven des Fantastischen, vgl. Britikov, Anatolij: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, Leningrad 1970, S. 4–8; Jackson, Rosemary: Fantasy. The Literature of Subversion, London, New York 1981.
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liche Fantastik aber in Bezug auf den sowjetischen Kontext doppelt interessant. Denn erstens stellte die eigene Gesellschaft ihrem Selbstverständnis nach eine „proletarische“ Diktatur dar: Wenn nun die „Träume des Abenteuers“ die „Taten des Imperiums“ legitimierten,59 welche Legitimationsnarrative entwickelt dann eine sowjetische Abenteuerliteratur und welche Ambivalenzen werden diesbezüglich literarisch verhandelt? Und zweitens beinhalten fantastische Texte immer eine metaphorische und imaginäre Mehrdeutigkeit, die im „realistischen“ Mainstream der „ernsthaften“ und anspruchsvollen „Hochliteratur“ sehr schnell an die politischen Grenzen des in der Sowjetunion Möglichen gestoßen wäre. Schon in den zwanziger Jahren entwickelte die sowjetische Abenteuerliteratur in ihren fik tionalen „Aufbrüchen“ in andere Welten diesbezüglich eine spezifische Poetik, indem sie – wie Stephen Greenblatt allgemein in Bezug auf die Manipulationsfähigkeit literarischer Künste schreibt – eine effektvolle Bildlichkeit konstruierte: „Sie nehmen symbolisches Material aus einer kulturellen Sphäre und bewegen es in eine andere, vergrößern dabei seine emotionale Wirkungskraft, wandeln seine Bedeutung ab, verbinden es mit weiterem Material aus einem anderen Bereich und verändern so seinen Ort in einem umfassenden gesellschaftlichen Entwurf.“60
Genau dies gilt auch für die Abenteuerliteratur, indem sie aktuelle Themen wie die „revolutionäre Romantik“ oder technisch-wissenschaftliche Innovationen aufnimmt und in „andere Welten“ extrapoliert und auf diese Weise selbstreflexive Bedeutungen in Bezug auf die umfassenden Gesellschaftsentwürfe ihrer Zeit generiert. Dieser spezifischen Potenz der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik wird in der Arbeit immer wieder anhand von einzelnen Beispieltexten nachgegangen, indem danach gefragt wird, wie bestimmte Wissenschaftsthemen, Kriegsszenarien oder Grenzkonflikte zum Knotenpunkt des Sujets ausgewählt worden sind: Welche anderen Lesarten neben der manifesten ideologischen Aussage ermöglichten die Geschichten auf einer metaphorischen, allegorischen Ebene, die neue heterogene Zwischenräume und alterierende Entwürfe imaginärer Welten eröffneten?61 59
Green: Dreams of Adventure, S. 3.
60
Greenblatt, Stephen: Kultur, in: Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995, S. 48–59, S. 55f.; zur Problematik der von Greenblatt häufig verwendeten „binären Schemata“, vgl. Lubrich: Das Schwinden der Differenz, S.15ff.
61
Es geht in diesem Sinne um eine Poetik der Kultur, wie sie Stephen Greenblatt konzeptualisiert, der es nicht einfach um eine Systemkritik oder euphemistische Antizipation der Wirklichkeit geht, sondern um die Rekonstruktion einer spezifischen „Stimmung“ der Zeit, in der die Autoren schreiben und die Leser lesen – es geht um die Resonanzböden, die sicher immer auch hypothetisch zu konstruierende Faszina tionsgeschichten meinen, oder wie Greenblatt bemerkt, unvermeidlich immer auch teils „unsere“, eine „literaturwissenschaftliche Erfindung“ darstellen, vgl. Greenblatt, Stephen: Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare (Einleitung), in: Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995, S. 35–47, S. 41f.
30 | Einleitung
Solche Einzelanalysen fördern dabei Lesarten zu Tage, die häufig den in den literaturpolitischen Debatten und auch in den Prosawerken vordergründig angelegten Textintentionen zuwiderlaufen. Dabei geht es nicht darum zu zeigen, dass Abenteuerliteratur und wissenschaftlichfantastische Texte quasi ontologisch immer ein „subversives“ Potenzial haben, sondern eher darum offen zu legen, dass gerade für die Literatur der Stalinzeit diese keineswegs ein so monolithisches und „totalitäres“ Gebilde darstellt wie der Blick auf die Periode als Ganzes suggeriert. Vielmehr traten in der literarischen Alltagspraxis, das heißt beim Verfassen des einzelnen Textes durch einen individuellen Autor auch immer wieder massive Bruchlinien und divergente Kraftlinien zu Tage.62 Ohne die generelle Tendenz zu einer „Enteignung des individuellen Autors“ in der Kultur der Stalinzeit abstreiten zu wollen,63 zeigt doch fast die gesamte Textproduktion der ohnehin schon durch ihre vermeintliche „Schablonenhaftigkeit“ charakterisierten Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik, dass diese „Enteignung“ in ihrem Fall recht häufig misslang. Dieses nahezu chronische „Misslingen“, das letztlich in der Nachkriegszeit bis zu Stalins Tod zu einem vorübergehenden Verschwinden des Abenteuergenres aus der sowjetischen Literatur sowie zu einer maximalen „Bändigung“ der Wissenschaftlichen Fantastik führte, macht deren Texte aber aus einer kultur- und literaturgeschichtlichen Perspektive desto aufschlussreicher. Denn gerade das Misslingen gibt auch Auskünfte über den Zustand einer Gesellschaft, die die Kluft zwischen dem utopischen Projekt einer kulturellen Moderne und der historischen Praxis einer forcierten, gewaltsamen Modernisierung aller ihrer Bereiche immer weniger überwinden konnte.64
62
Stephen Kotkin hat diesen Aspekt exemplarisch anhand der wechselvollen und widersprüchlichen Entstehungsgeschichte einer der „kanonischen“ Texte der Stalinzeit, Vasilij Ažaevs Fern von Moskau (Далеко от Москвы, 1948), detailliert rekonstruiert, vgl. Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley/London 1995.
63
Vgl. Städtke, Klaus: Von der Poetik des selbstmächtigen Wortes zur Rhetorik des Erhabenen, in: Ders. (Hg.): Welt hinter dem Spiegel. Zum Status des Autors in der russischen Literatur der 1920er bis 1950er Jahre, Berlin 1998, S. 3–37, S. 23ff..
64
Vgl. Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, S. 7–22.
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6. R ez ep t i o n s g e s c h i c h t e , Fo rschung sst a nd und Q u ell e n l a g e Das in dieser Arbeit behandelte Thema der sowjetischen Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit ist – wie oben erwähnt – in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum beziehungsweise im Fall der Wissenschaftlichen Fantastik äußerst selektiv behandelt worden. Ein Hauptgrund liegt darin, dass die slawistische Literaturwissenschaft sowohl im Westen als auch in Russland populären Literaturformen generell äußerst selten ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat. Meistens wurde diese nur beachtet, wenn es sich um politisch brisante Themen handelte.65 In dieser Geringschätzung der populären Gattungen folgte sie gewissermaßen ihren kanonisierten Protagonisten der „ernsthaften“ Hochliteratur, die dieser „Literatur zweiter Wahl“ als „schädlicher“ und „unseriöser“ Lektüre seit ihrem Aufkommen mit Ablehnung gegenüberstanden.66 Ein zweiter Grund für die fehlende Aufmerksamkeit liegt darin, dass weder die Abenteuerliteratur noch die sich aus ihr entwickelnde Wissenschaftliche Fantastik als „Massenliteratur“ in den Kanon des Sozialistischen Realismus integriert werden konnten. In den zwanziger Jahren kaum beachtet, ordnete man sie in der Stalinzeit der Kinder- und Jugendliteratur zu, wodurch sie in den zentralen literaturpolitischen Debatten und Auseinandersetzungen so gut wie nicht vorkam, was dem Genre zwar größere Gestaltungsräume ermöglichte als in dem stark politisierten Bereich der Erwachsenenliteratur, aber auch dazu beitrug, dass sie in den Studien zum „Sozrealistischen Kanon“ praktisch nicht berücksichtigt wird.67
65
Mit „politisch brisant“ sind hier sowohl Texte gemeint, die dissidente Lesarten offenbarten, wie beispielsweise die Werke von Arkadij und Boris Strugackij, oder aber auch stark ideologisierte Texte wie die offizielle Massenliteratur des Sozialistischen Realismus.
66
Diese Geringschätzung populärer Genreliteratur schlägt sich in Russland bis heute unter anderem auch darin nieder, dass ein wesentlicher Teil entsprechender Werke selbst in den zentralen Landesbibliotheken Russlands nicht zu finden ist. So sind insbesondere die billigen Groschenhefte und Zeitschriftenserien der Vorrevolutionszeit mit ihren unzähligen kostenlosen Supplementbänden nur sehr lückenhaft überliefert. Für die zwanziger Jahre betrifft dies vor allem die in kleineren kommerziellen Verlagen erschienenen Serien und Buchreihen. Neben dem Desinteresse der Bibliotheken für solche „Schundliteratur“ sind diese Sammlungslücken aber auch auf die zahlreichen Säuberungen der Bibliotheken insbesondere in den zwanziger Jahren zurückzuführen (vgl. Kapitel 1 und 5).
67
In dem von Hans Günther und Evgenij Dobrenko im Jahr 2000 herausgegebenen über 1100 Seiten umfassenden Sammelband zum „Sozrealistischen Kanon“ – der gewissermaßen das „kanonische“ Wissen über die Literatur der Stalinzeit versammelt – gibt es lediglich einen kurzen, zehn Seiten umfassenden Aufsatz zur Kinderliteratur der Periode, in dem allerdings Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik ebenfalls mit keinem Wort erwähnt werden, vgl. Ronen, Omry [Ronen, Omri]: Detskaja literatura i socialističeskij realizm, in: Günther, Hans [Gjunter, Chans]; Dobrenkov, Evgenij (Hg.): Socrealističeskij kanon. Sbornik statej, S-Peterburg, S. 969–979.
32 | Einleitung
Ein dritter Grund liegt in der Rezeptionsgeschichte der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik. Abenteuerliteratur verschwand seit 1957 als übergreifender Gattungsbegriff weitgehend beziehungsweise löste sich in unterschiedliche „Sub-Genres“ auf.68 Zum einen bildete sich der „Detektiv“ – der Kriminalroman – als eigenständiger Literaturbereich heraus, der zwar in den Verlagslektoraten und Zeitschriftenredaktionen noch häufig dem Bereich der „Abenteuer“ („приключения“) zugeordnet war, aber nicht mehr als solcher rezipiert wurde.69 Zum anderen bildete nach 1945 und insbesondere seit der Tauwetterzeit die Kriegsliteratur über den Großen Vaterländischen Krieg – den Zweiten Weltkrieg – und den Bürgerkrieg ein eigenes Gebiet der sowjetischen Literatur, in dem „Kriegsabenteuer“ („военные приключения“) und Spionagegeschichten eine wesentliche Rolle spielten, ohne dass sie noch dezidiert als „Abenteuer“-Literatur rezipiert und diskutiert wurden. Der Begriff hingegen blieb in der Publikationspraxis der Verlage lediglich den westlichen „Klassikern“ des 19. und frühen 20. Jahrhundert reserviert, zu denen russische Autoren nur in Ausnahmefällen gezählt wurden, so dass dieser selbst historisch wurde.70 „Wissenschaftliche Fantastik“ emanzipierte sich als Genre hingegen bereits seit den späten 1920er Jahren immer stärker von der klassischen Abenteuerliteratur und wurde durch ihren anhaltenden Erfolg seit 1957 sowohl von den Lesern als auch von den Autoren und Kritikern und schließlich auch von der Literaturwissenschaft – ähnlich wie die Science Fiction im Westen – als ein autonomes Genre rezipiert. Dies hatte zur Folge, dass eine immer weiter zurückreichende Geschichte dieses Genres konstruiert werden konnte, der sich alle auf wissenschaftliche und technische Fantasien bezogenen Texte zuordnen ließen, ohne den kulturhistorischen Kontext und den engen Zusammenhang mit der Abenteuerliteratur zu beachten. Dabei gingen insbesondere die sowjetischen Darstellungen zur Wissenschaftlichen Fantastik äußerst selektiv vor, die naturgemäß vor allem „progressive“ und ideologisch akzeptable Autoren in ihre Auswahl aufnahmen und damit mittelbar auch die westliche Rezeption prägten, die auf diese Vorarbeiten angewiesen war.
68
Einzig in Verlagsserien wie „Bibliothek der Abenteuer“ (20 Bände 1955–1959 und 20 Bände 1965–1970) und der fortlaufend fortgesetzten Buchreihe „Bibliothek der Abenteuer und Wissenschaftlichen Fantastik“ des Kinderbuchverlages Detgiz standen Abenteuergeschichten, Wissenschaftliche Fantastik beziehungsweise Science Fiction sowie Kriminalliteratur noch unter einem editorischen „Dach“.
69
Vgl. Franz, Norbert: Moskauer Mordgeschichten. Der russisch-sowjetische Krimi 1953–1983, Mainz 1988; Razin, Vladimir: V labirintach detektiva. Očerki istorii sovetskoj i rossijskoj detektivnoj literatury XX veka, Saratov 2000, http://www.pseudology.org/chtivo/Detectiv/index.htm (15.03.2010); Dralyuk, Boris: Western Crime Fiction Goes East. The Russian Pinkerton Craze 1907–1934 (Russian History and Culture, Bd. 11), Leiden/Boston 2012.
70
Vgl. beispielsweise die Studie von Abram Vulis In der Welt der Abenteuer zu einer „Poetik des Genres“, die sich abgesehen von wenigen Ausnahmen (vornehmlich sowjetische „Kriegsabenteuer“ während des Zweiten Weltkriegs) ausschließlich auf westliche Autoren konzentriert, vgl. Vulis, Abram: V mire priključenij. Poėtika žanra, Moskva 1986.
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Diese teils erheblichen Wissenslücken und selektiven Genregeschichten führen aber in den Bereichen, in denen sich die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit von der „ernsthaften“ auch auf die „unterhaltsame“ Massenliteratur richtete, wiederholt zu partiellen Fehleinschätzungen. Dies betrifft insbesondere den Bereich der literarischen Fantastik, dem ein großer Teil der Werke „kanonisierter“ Vertreter der Hochliteratur wie Michail Bulgakov, Evgenij Zamjatin, Aleksej N. Tolstoj, Aleksandr Grin oder Andrej Platonov zuzuordnen ist. Anhand ihrer „fantastischen“ Grenzüberschreitungen hat die Forschungsliteratur immer wieder Möglichkeiten und Beschränkungen der literarischen Systemkritik und des anti-utopischen Schreibens diskutiert und die „Zähmungspraktiken“ des „Fantastischen“ in der frühen Sowjetunion reflektiert.71 Der nicht nur quantitativ von der Anzahl der Werke her, sondern auch in der Auflagenhöhe sehr viel größere Bereich „fantastischer“ und teils „anti-utopischer“ Abenteuerliteratur wurde hingegen so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen.72 Ähnliches gilt, um ein zweites Beispiel zu nennen, für die in der Forschung so genannten „roten Pinkertons“, über die einiges geschrieben worden ist, unter denen aber dann fast ausschließlich die Werke „kanonisierter“ Autoren wie Mariėtta Šaginjan, Ilja Ėrenburg oder Valentin Kataev rezipiert werden. Dass deren Werke aber gerade nicht typisch waren für die „kommunistischen Pinkertons“, sondern schon eine avantgardistische Adaption und Parodie dieser populären Massenliteratur der zwanziger Jahre darstellten, wird selten zur Kenntnis genommen (vgl. Kapitel 3). Vor diesem Hintergrund möchte die Studie auch einen Beitrag zur sowjetischen Literaturgeschichte der 1920er bis 50er Jahre leisten, indem sie anhand der leichten, „sekundären“ Unterhaltungs- und Jugendliteratur aufzeigt, dass auch in dem insbesondere seit den dreißiger Jahren ideologisch und ästhetisch stark regulierten Literaturbetrieb der Sowjetunion an den „Rändern“ durchaus divergierende und heterogene Poetiken in begrenztem Sinne möglich waren. Daher richtet sie die Aufmerksamkeit – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – gerade nicht auf kanonisierte Autoren, deren Werke teilweise der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen 71
So zum Beispiel die Studien zu den Werken Zamjatins, Platonovs und Bulgakovs in den zwanziger Jahren, die alle die anti-utopischen Elemente ihrer Fantastik als Gründe für ihre Publikationsprobleme angeben, ohne dass beachtet wird, dass gerade eine solche „fantastische“ Auseinandersetzung mit utopischen und anti-utopischen Gesellschaftsexperimenten ein zentraler Bestandteil der Abenteuerliteratur jener Jahre gewesen ist, vgl. beispielsweise Pomorska, Krystyna: The Utopian Future of the Russian Avant-Garde, in: Debreczeny, Paul (Hg.): American Contributions to the Ninth International Congress of Slavists, Kiev, September 1983, Bd. 2, Columbus Ohio 1983, S. 371–386; Sicher, Efraim: The Last Utopia. Entropy and Revolution in the Poetics of Evgeny Zamjatin, in: History of European Ideas 13:3 (1991), S. 225–237; Striedter, Jurij: Three Postrevolutionary Russian Utopian Novels, in: Garrard, John (Hg.): The Russian Novel from Pushkin to Pasternak, New Haven 1993, S. 177–201; Zu den „anti-utopischen“ fantastischen Abenteuergeschichten vgl. genauer Kapitel 4.
72
Gerade für weiter reichende Schlüsse über die Entwicklung der „Fantastik“ – wenn man eine solche Literaturgeschichte schreiben möchte – spielten diese namhaften Autoren und deren Prosa gewissermaßen nur eine marginale Rolle, während ihre Probleme mit der Zensur etwas mit ihrem privilegierten literarischen Status, weniger aber etwas mit den generellen Möglichkeiten fantastischen Schreibens zu tun hatten.
34 | Einleitung
Fantastik zugeordnet werden können oder auch in diesem Bereich entstanden, sondern vornehmlich auf weniger bekannte Namen.73 Auch richtet sich das Augenmerk dieser Untersuchung nicht auf die großen Uniformierungs- und Kanonisierungsprozesse ästhetischer Normen und politischer Meistererzählungen, sondern im Gegenteil auf abweichende literarische Praktiken und differierende Lesarten. Ihr geht es in vielen Fällen gerade nicht darum, die „roten Fäden“ und großen Kontinuitäten bestimmter Genrebestimmungen und übergeordneter Ordnungsmechanismen der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik herauszuarbeiten, sondern die Brüche und Widersprüche in der literarischen Praxis anhand der publizierten Belletristik und Kritik, aber auch – soweit vorhanden – anhand von internen Protokollen und Stenogrammen aufzuzeigen. Dies gilt auch für die oben genannten Definitionen der Abenteuerliteratur, wie sie sich zum Anfang des Untersuchungszeitraums darstellte, deren Semantiken zwar bis in die fünfziger Jahre noch in vielen Texten und Debatten mitschwangen, aber keineswegs mehr eine dominante Größe in den Auseinandersetzungen um das Genre bildeten. In ihrer Fokussierung auf die literarische Praxis und auf eine literaturgeschichtliche Rekonstruktion der vorgestellten Texte, auf ihre spezifischen Poetiken und imaginären Expeditionen in andere Welten, beschäftigt sich die Studie aber nur sehr begrenzt mit Fragestellungen, die sich nicht unmittelbar aus den im Bereich der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik aufgeworfenen Themenfeldern ergeben. So wird der ganze Bereich der Kinderliteratur, dem sowohl die Abenteuerliteratur als auch die Wissenschaftliche Fantastik mehr oder weniger eng zugeordnet worden sind, in der Arbeit nur insofern behandelt, als er organisatorisch und literaturpolitisch für diesen Bereich von Belang war.74 Eine Auseinandersetzung mit den spezifischen pädagogischen Aufgaben der Kinderliteratur, ihrer Verortung in der sowjetischen Erziehungsund Bildungspolitik sowie den didaktischen, lernpsychologischen und erziehungswissenschaftlichen Debatten um die speziellen Funktions- und Wirkungsmechanismen von für Kinder geschriebenen Texten findet hingegen keinen Eingang in die Analyse, da sie zu den hier skizzierten Fragestellungen nur wenig beiträgt. Hinzu kommt, dass die pädagogischen und didaktischen Aspekte für die Diskussionen über Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik selbst in der Stalinzeit kaum eine Rolle spielten. Ähnliches gilt auch für die Herausforderungen der Wissenschaftsgeschichte. Insbesondere hinsichtlich des Wechselverhältnisses der exakten Wissenschaften und der schönen Künste im
73
So habe ich beispielsweise auf eine Analyse der frühen Erzählungen Andrej Platonovs oder der Werke Aleksandr Grins bewusst verzichtet, obwohl sie teilweise in den gleichen „populären“ Zeitschriften und Verlagen publizierten, die Gegenstand dieser Arbeit sind.
74
Zu neueren Forschungsansätzen zur sowjetischen Kinderliteratur, in der für die hier behandelte Periode Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik allerdings nicht behandelt werden, vgl. Kulešov, Evgenij; Antipova, Inna (Hg.): Detskij sbornik. Stat’i po detskoj literature i antropologii detstva, Moskva 2003; Balina, Marina; Rudova, Larissa (Hg.): Russian Children’s Literature and Culture, New York/London 2008.
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ersten Jahrzehnt nach der Revolution ist bereits einiges publiziert worden.75 Eine Beschäftigung mit Wissenschaftlicher Fantastik legt es geradezu nahe, auch diesen Bezügen näher nachzugehen. Daher wird die Arbeit zwar die Bezüge zur populären und populärwissenschaftlichen Rezeption technischer und wissenschaftlicher Innovationen und Gedankenexperimente aufzeigen, wenn dies für die Entwicklung des Genres von Bedeutung ist. Sie fragt dabei aber nicht nach den spezifischen Figurationen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle und Forschungsfragen, die eventuell das Schreiben auf die eine oder andere Weise affiziert haben, sondern analysiert, wie die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur bestimmte populäre Wissenschaftsdiskurse aufgreift, um durch diese in einer metaphorischen Verschiebung heterogene Semantiken zu produzieren.76 Betrachtet man die vorliegende Sekundärliteratur in Hinsicht auf die hier skizzierten Forschungsfragen und Wissensfelder, so lässt sich generell festhalten, dass zum Bereich der Science Fiction und Wissenschaftlichen Fantastik sehr viel mehr Studien vorliegen als zur Abenteuerliteratur. Allerdings ist die „klassische“ Abenteuerliteratur westlicher Kolonialreiche und ihrer Nachfolgestaaten kontinuierlich erforscht worden, während für Russland und die Sowjetunion so gut wie keine Studien vorliegen. Allgemein setzt eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit populärer Literatur im Westen ab den 1970er Jahren ein, als man infolge der Impulse der „Achtundsechziger“ begann, sich intensiver mit massenkulturellen Erzeugnissen zu befassen.77 Diese anfangs oft stark marxistisch inspirierten Arbeiten besitzen unterschiedliche Stoßrichtungen. Manche betrachten Kolportage- oder auch Trivialliteratur in Nachfolge von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Studien zu „Massenkultur“ vor allem als kapitalistische Manipulations- und Unter drückungsmedien, deren primäres Ziel darin bestand, die Leser durch billige und eskapistische „Schundliteratur“ politisch zu absorbieren und von ihrer eigenen Unmündigkeit abzulenken.78 75
Vgl. Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York/Oxford 1989; Bowlt, John E.; Matich, Olga (Hg.): Laboratory of Dreams. The Russian AvantGarde and Cultural Experiment, Stanford 1990; Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007.
76
Gerade dieser Aspekt ist in den vornehmlich an konkreten Wissenschaftsinnovationen und Denkfiguren interessierten Forschungen der letzten Jahre bislang weniger beachtet worden, nachdem man bis in die 1990er Jahre vornehmlich Fragen der politischen Instrumentalisierung und Ideologisierung der Wissenschaft und Künste diskutiert hatte, vgl. Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben: Bazarovs Erben. Ästhetische Aneignungen von Wissenschaft und Technik in Russland und der Sowjetunion, in: Dies. (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960. Frankfurt am Main 2008, S. 9–36.
77
Vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen und Problematisierungen der unterschiedlichen Ansätze in Fluck, Winfried: Populäre Kultur. Ein Studienbuch zur Funktionsbestimmung und Interpretation populärer Kultur (Amerikastudien, Bd.2), Stuttgart 1979; Hügel, Hans-Otto: Einführung, in: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussion, Stuttgart, Weimar 2003, S. 1–22.
78
Vgl. das Kapitel zur „Kulturindustrie. Aufklärung und Massenbetrug“ in Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (1969), Leipzig 1989, S.139–189; Pehlke, Michael; Lingfeld: Roboter
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Andere Arbeiten sahen jedoch umgekehrt gerade in den Fluchtszenarien der Populärkultur ein genuines Widerstands- und Emanzipationspotenzial, das es freizulegen gelte.79 Eher strukturalistisch und spieltheoretisch geprägte Studien suchen zudem oft in der Abenteuerliteratur und Science Fiction normative Erzählmodelle und archetypische Figuren zu isolieren, die sie auch als Träger für „hochkulturelle“ Kulturmuster akzeptabel machen.80 In Bezug auf Science Fiction sind es vor allem Darko Suvins Studien zu einer Poetik der Science Fiction, die diese nicht nur als ernsthaftes akademisches Interessenfeld adelten, sondern im Westen auch den Blick für die „andere“ Science Fiction jenseits des Eisernen Vorhangs öffneten.81 In der Sowjetunion hingegen ging die Beschäftigung mit dem wachsenden Erfolg des Genres seit Ende der 1950er Jahre einher, fand aber nie ernsthaften Eingang in die universitäre und akademische Forschung und blieb daher auf wenige Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler beschränkt.82 Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs standen diese Arbeiten zudem stark im Zeichen des Kalten Krieges.83 Entsprechend wurden osteuropäische Autoren wie Stanisław Lem oder die Brüder Arkadij und Boris Strugackij vornehmlich unter politischen Vorzeichen für eine systemkritische Lesart des Genres betrachtet.84 Die sich so in den sechziger und siebziger Jahren etablierenden Rezeptionsmuster prägten auch die spätere Beurteilung der hier behandelten Periode maßgeblich. Während im Westen die Stalinzeit als eine Phase der massiven Repression und Gängelung eines noch in den 1920er Jahren und Gartenlaube. Ideologie und Unterhaltung in der Science-Fiction-Literatur, München 1970; Ueding, Gert: Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt 1973; einen kurzen Überblick zur Trivialliteraturforschung bietet Nusser, Peter: Trivialliteratur, Stuttgart 1991, S. 1–20. 79
Insbesondere die die Cultural Studies mitbegründende Birmingham School um Stuart Hall war für diesen Ansatz von entscheidender Bedeutung, vgl. zum Beispiel Hall, Stuart: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000; hierzu auch Wuggenig, Ulf: Subkultur, in: Hügel: Handbuch Populäre Kultur, S. 66–73.
80
Vgl. Zweig: The Adventurer; Hienger, Jörg (Hg.): Unterhaltungsliteratur. Zu ihrer Theorie und Verteidigung, Göttingen 1976; Lem, Stanisław: Phantastik und Futurologie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1984.
81
Vgl. Suvin, Darko: Ein Abriss der sowjetischen Science Fiction, in: Barmeyer, Eike (Hg.): Science Fiction. Theorie und Geschichte, München 1972, S. 318–339; Ders.: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung (Phantastische Bibliothek, Bd. 31, Frankfurt a. M. 1979.
82
Vgl. Larin, Sergej: Literatura krylatoj mečty, Moskva 1961; Rjurikov, Jurij: Čerez 100 i 1000 let. Čelovek buduščego i sovetskaja chudožestvennaja fantastika, Moskva 1961; Britikov: Russkij sovetskij naučnofantastičeskij roman; Ljapunov, Boris: V mire fantastiki. Obzor naučno-fantastičeskoj i fantastičeskoj literatury, Moskva ²1975; Černyševa, Tat’jana: Priroda fantastiki, Irkutsk 1984. Für ausführlichere Kommentare zur sowjetischen Forschungsliteratur über Wissenschaftliche Fantastik und fantastische Literatur vgl. Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 15–20.
83
Vgl. Griffiths, John: Three Tomorrows. American, British and Soviet Science Fiction, London u.a. 1980; McGuire, Patrick L.: Red Stars. Political Aspects of Soviet Science Fiction, Ann Arbor 1985; Geller, Leonid: Vselennaja za predelom dogmy. Razmyšlenija o sovetskoj fantastike, London 1985.
84
Vgl. Howell, Yvonne: Apocalyptic Realism. The Science Fiction of Arkady and Boris Strugatsky, New York u.a. 1994.
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blühenden Genres bewertet wurde, betrachtete die sowjetische und postsowjetische Kritik diese Periode als eine Zeit der Ausnahmen, Abweichungen, Verirrungen und geringen Produktivität,85 wohingegen die zwanziger Jahre seit der Chruščev-Ära als zwar noch embryonale, aber doch entscheidende Phase der Begründung des Genres konzipiert werden.86 Westliche Studien sind dabei von dieser Lesart mittelbar beeinflusst, auch weil ihnen der Zugang zu den Quellen fehlte und die seit der Tauwetterperiode neu aufgelegten „Klassiker“ sowjetischer Wissenschaftlicher Fantastik häufig stark überarbeitet waren. Zudem führte der systemkritische und strukturalistische Impetus dazu, dass man an einer literaturgeschichtlichen Rekonstruktion kaum interessiert war.87 Dies änderte sich erst allmählich nach dem Zerfall der Sowjetunion, wobei in Russland insbesondere in den zahlreichen Erinnerungen und persönlich gefärbten essayistischen Darstellungen die kritische bis nostalgische Aufarbeitung einer bislang ideologisch stark verzerrt rezipierten Epoche im Vordergrund stand.88 Solche Arbeiten haben zwar sehr viel Material – auch im Internet – zugänglich gemacht und bibliographiert, bleiben aber von einer eher publizistischen, gegenwartsbezogenen Lesart der Wiederentdeckung des „Erbes“ einer eigenen sowjetischen Science Fiction-Entwicklung dominiert.89 Allerdings beginnt mit der Neuorientierung der literaturwissenschaftlichen Forschung im universitären Bereich auch ein akademisches Interesse an populären Erzählformen zu wachsen, aus dem schon einige Studien hervorgegangen sind.90 Im Westen hingegen ist nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes die Beschäftigung mit dem Thema merklich zurückgegangen. Erst in den letzten Jahren sind einige wegweisende Arbeiten wie etwa die von Anindita Banaerjee zur vorrevolutionären Science Fiction oder von Muireann Maguire 85
Zur selektiven und ideologisch geprägten sowjetischen Rezeption, vgl. Ljapunov: V mire fantastiki, S. 44ff.; Britikov: Russko-sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 135–178; Zur westlichen, vor allem auf die repressiven Seiten fokussierten Sicht, vgl. Stites, Richard: World Outlook and Inner Fears in Soviet Science Fiction, in: Graham, Loren R. (Hg.): Science and the Soviet Social Order, Cambridge, Mass./London 1990, S. 299–324.
86
Zu dieser stark im Zeichen der kritischen Vergangenheitsaufarbeitung stehenden Rezeption der zwanziger und dreißiger Jahre, vgl. Revič: Perekrestok utopij; Bulyčev, Kir: Padčerica ėpochi. Izbrannye raboty o fantastike, Moskva 2004
87
Vgl. Rullkötter, Bernd: Die Wissenschaftliche Phantastik der Sowjetunion. Eine vergleichende Untersuchung der spekulativen Literatur in Ost und West, Bern 1974; McGuire: Red Stars; Glad, John: Extrapolations From Dystopia. A Critical Study of Soviet Science Fiction, Princeton NJ 1982; Kasack, Wolfgang (Hg.): ScienceFictionin Osteuropa, Berlin 1984.
88
Vgl. Palej, Abram: Vstreči na dlinnom puti. Vospominanija, Moskva 1990; Revič, Vsevolod: Perekrestok utopij. Sud’by fantastiki na fone sudeb strany, Moskva 1998; Bulyčev: Padčerica ėpochi; Praškevič, Genadij: Adskoe plamja. Kommentarii k neizdannoj antologii, Novosibirsk 2007; Ders.: Krasnyj sfinks. Istorija russkoj fantastiki ot V. F. Odoevskogo do Boris Šterna, Novosibirsk 2007.
89
Vgl. Pervušin, Anton: Kosmonavty Stalina. Mežplanetnyj proryv Sovetskoj Imperii, Moskva 2005; Praškevič: Krasnyj sfinks.
90
Vgl. Šušpanov, Arkadij: Literaturnoe tvorčestvo A. A. Bogdanova i utopičeskij roman 1920-ch godov (Diss.), Ivanovo 2001; Drjabina, Oksana; Kovtun; Elena (Hg.): Russkaja fantastika na perekrest’e ėpoch i kul’tur. (Materialy Meždunarodnoj naučnoj konferencii, 21–23 marta 2006 goda), Moskva 2007.
38 | Einleitung
zur gotischen Fantastik der 1920er und 30er Jahre vorgelegt worden.91 Auch kleinere Studien zu einzelnen Werken und Aspekten, vor allem unter wissenschaftsgeschichtlichen und inter medialen Fragestellungen, sind erschienen. 92 Kultur- und literaturgeschichtliche kritische Rekonstruktionen der Genese des Genres für den hier behandelten Zeitraum fehlen hingegen vollkommen. Für die Abenteuerliteratur ist kein entsprechender Forschungsstand zu verzeichnen. Auch hier beginnt die kritische Rezeption im Westen in den 1970er Jahren, die in der Figur des Abenteurers ein Gegenbild zur rationalistischen und technokratischen Moderne entdeckt, der als menschheitsgeschichtlicher Entwurf seine erste Verkörperung in Homers Odysseus findet.93 Diese eher anthropologische und ideengeschichtliche Lesart wird aber sehr bald von Arbeiten aus dem Umfeld der Postcolonial Studies überlagert, die beginnen, den Anteil des Genres im Kontext der kolonialen und imperialen Besitznahme der Welt kultur- und diskursgeschichtlich ausführlich zu analysieren, wobei auch vereinzelt russische Werke in den Blick geraten.94 In der Sowjetunion begann eine kritische Rezeption bezeichnenderweise über die Beschäftigung mit Nachbargattungen, insbesondere zur sowjetischen Science Fiction und Kriminalliteratur, aber auch mit bibliothekarischen Nachschlagewerken, die kanonische Werke für die Jugendbibliotheken empfahlen.95 Die Forschung ist hier stark auf die pädagogische Aufarbeitung der Kinderund Jugendliteratur fokussiert.96 Erst in den 1980er Jahren wird auch hier eine literaturkritische Rezeption sichtbar, die aber oft vor allem westliche Werke in den Blick nimmt oder literaturgeschichtliche Überblicksdarstellungen zu Abenteuerfilm und -literatur darstellt.97
91
Vgl. Banerjee, Anindita: We Modern People. Science Fiction and the Making of Russian Modernity, Middletown, CT 2012; Maguire, Muireann: Stalin’s Ghosts. Gothic Themes in Early Soviet Literature, Bern 2012.
92
Vgl. Schramm, Caroline: Telemor und Hyperboloid. Strahlen, Geheimwissen und Phantastik in der postrevolutionären Literatur, in: Frank, Susi; Greber, Erika; Schahadat, Schamma; Smirnov, Igor‘ P. (Hg.): Phantasma und Gedächtnis. Festschrift für Renate Lachmann zum 65. Geburtstag, München 2001, S. 319– 339; Howell, Yvonne: Eugenics, Rejuvenation, and Bulgakov’s Journey into the Heart of Dogness, in: Slavic Review 65:3 (2006), S. 544–562.
93
Vgl. Zweig: The Adventurer; Seeßlen, Georg: Abenteuer, in: Ders., Kling, Bernt: Unterhaltung. Lexikon zur populären Kultur, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 243–299; Klotz: Abenteuer-Romane; Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer; Green: Dreams of Adventure; Märtin, Ralf-Peter: Wunschpotentiale. Geschichte und Gesellschaft in Abenteuerromanen von Retcliffe, Armand, May (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 10), Königstein, Taunus 1983.
94
Vgl. Bristow: Empire Boys; Green: The Adventurous Male; Phillips: Mapping Men and Empire; Dixon: Writing the Colonial Adventure.
95
Vgl. Šalašova, Zoja; Zubov, Jurij: Priključenija, Putešestvija, Fantastika. Rekomendatel’nyj ukazatel’ literatury, Moskva 1957; Šalašova, Zoja: Priključenija i putešestvija. Rekomendatel’nyj ukazatel’ literatury, Moskva 1979.
96
Vgl. Begak, B. A: V mire priključenij (Priključenčeskaja literatura dlja detej), Moskva 1979.
97
Vgl. Mošenskaja, Lidija: Mir priključenij i literatura, in: Voprosy literatury 9 (1982), S. 170–202; Dies.: Žanry priključenčeskoj literatury. Genezis i poėtika (Avtoreferat Diss.), Moskva 1983; Olejnikova, Ol’ga:
Rezeptionsgeschichte, Forschungsstand und Quellenlage | 39
Hingegen liegen zur Unterhaltungs- und Massenliteratur in Russland und in der frühen Sowjetunion inzwischen einige Untersuchungen vor, wobei insbesondere die wegweisenden Arbeiten von Jeffrey Brooks und Dagmar Steinweg zu nennen sind.98 Allerdings streifen diese häufig eher kulturgeschichtlich und sozialwissenschaftlich orientierten Studien meist Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik nur am Rande.99 Gleiches gilt auch für die in letzter Zeit vermehrt erschienenen Arbeiten zur sowjetischen Kinderliteratur.100 Wissenschaftsgeschichtlich angelegte Studien greifen immer wieder auf vereinzelte Werke der Wissenschaftlichen Fantastik zurück, haben aber häufig die Tendenz, diese rein illustrativ zur Veranschaulichung ihrer Thesen zu gebrauchen, ohne auf deren Poetik näher einzugehen.101
Žanr priključenčeskogo romana i tvorčestvo Tomasa Majna Rida (Avtoreferat Diss.), Moskva 1984; Zuletzt hat Marija Černjak in ihrer Monographie zum Phänomen der Massenliteratur des 20. Jahrhunderts ein längeres Kapitel dem Abenteuerroman der 1920er Jahre gewidmet. Allerdings greift sie vornehmlich auf die bekannten, „avantgardistischen“ Adaptionen des „kommunistischen Pinkerton“ zurück, geht äußerst ungenau mit ihren Quellen um, schreibt Autoren Zitate zu, die sie nicht geäußert haben, und verallgemeinert sehr schnell kaum gesicherte Thesen, vgl. Čerjnak, Marija: Fenomen massovoj literatury XX veka, S-Peterburg 2005, S. 76–122. Sehr viel genauer geht Dmitrij Nikolaev mit seinem breiten Quellenmaterial um, bleibt aber bei einer eher assoziativen Lektüre heterogener Texte, die den kulturgeschichtlichen Kontext und populäre Genretexte kaum berücksichtigt, vgl. Nikolaev, Dmitrij: Russkaja proza 1920– 1930-ch godov. Avantjurnaja, fantastičeskaja i istoričeskaja proza, Moskva 2006, S. 49–225.
98
Vgl. Brooks, Jeffrey: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton, NJ 1988; Ders.: Thank You, Comrade Stalin! Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton, NJ 2000; Steinweg, Dagmar: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften. Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija A. Verbickaja und Evdokija A. Nagrodskaja (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bd. 27), Bochum 2002; Venediktova, Tat’jana (Hg.): Populjarnaja literatura. Opyt kul’turnogo mifotvorčestva v Amerike i v Rossii, Moskva 2003. Boris Dralyuk hat unlängst eine wegweisende Studie zur „Pinkertonbegeisterung“ im vorund nachrevolutionären Russland vorgelegt, die auch die publizistische Rezeption mit einschließt, konzentriert sich dabei aber auf Detektiv- bzw. Kriminalliteratur, vgl. Dralyuk: Western Crime Fiction Goes East.
99
Vgl. Dobrenko, Evgenij: Formovka sovetskogo čitatelja. Social’nye i ėstetičeskie predposylki recepcii sovetskoj literatury, S-Peterburg 1997.
100
Vgl. Marinelli-König, Gertraud: Russische Kinderliteratur in der Sowjetunion der Jahre 1920–1930, München 2007; Marinelli-Königs Studie stellt die „ergänzte Version einer Dissertation“ aus dem Jahr 1976 dar, die vollkommen unkritisch und ziemlich willkürlich ihre Wertungen aus den sowjetischen Quellen übernimmt und lediglich durch die Fülle des Materials besticht; Kulešov; Antipova: Detskij sbornik; Balina; Rudova: Russian Children’s Literature and Culture; einen recht instruktiven Überblick aus der Sicht der DDR stellt der Band dar Ludwig, Nadeshda; Bussewitz, Wolfgang (Hg.): Sowjetische Kinder- und Jugendliteratur. In Überblicken und Einzeldarstellungen, Berlin 1981.
101
Vgl. Graham, Loren R. (Hg.): Science and Soviet Social Order, Cambridge, Mass/London 1990; Andrews, James T.: Science for the Masses. The Bolshevik State, Public Science, and the Popular Imagination in Soviet Russia. 1917–1934 (Eastern European Studies, Bd. 24), College Station, Texas 2003; Pervušin: Kosmonavty Stalina.
40 | Einleitung
Für die Analyse der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik stützt sich diese Studie primär auf drei Quellenkorpora. Zum einen sind dies die publizierten Prosatexte, wobei die Arbeit sich grundsätzlich auf die Originalausgaben aus der jeweiligen Untersuchungsperiode stützt, da fast alle Neuauflagen ab den 1930er Jahren teils erheblich überarbeitet worden sind. Dabei handelt es sich neben Einzelausgaben und Sammelbänden insbesondere um teils in hohen Auflagen erschienene Zeitschriften und Buchreihen, die Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik druckten.102 Zweitens sind dies die publizierten zeitgenössischen Beiträge zu dem hier behandelten Themenbereich, seien es Rezensionen, Kritiken, Artikel, Aufsätze, Essays, Reden, Prosaskizzen (russ. „očerki“) oder auch Briefwechsel, die zur diskursiven Einbettung der Prosatexte beitragen.103 Und drittens stützt sie sich auf nicht publizierte Archivquellen, wobei die Arbeit auf die Bestände des Schriftstellerverbandes der UdSSR (russ. „Sojuz pisatelej SSSR“, existierte 1934 bis 1991) und der für Abenteuerliteratur zentralen Verlage Detgiz (Abk. für „Detskoe gosudarstvennoe izdatel’stvo“, dt. „Staatlicher Kinderverlag“, 1933 bis 1936 und 1941 bis 1963) beziehungsweise Detizdat (Abk. für „Detskoe izdatel’stvo“, dt. „Kinderverlag“, 1936–1941) zurückgreift.104 Diese Archivbestände umfassen neben Sitzungsprotokollen, internen Rezensionen, Dateien mit Angaben zu den Autoren und Briefwechseln mit Kritikern und Autoren auch Stenogramme interner Diskussionen zu programmatischen und thematischen Fragen (Aussprachen zu literaturpolitischen Richtungsentscheidungen, zu Ergebnissen der bisherigen Arbeit, einzelnen Werken oder bestimmten kulturpolitisch im Vordergrund stehenden Themenfeldern). Die Überlieferungssituation ist jedoch sehr unterschiedlich. So finden sich für die Verlags- und Zeitschriftenredaktionen der zwanziger Jahre so gut wie keine Quellensammlungen. Diese beginnen meist erst mit der zunehmenden staatlichen Kontrolle der Literaturpolitik in den dreißiger Jahren und 102
Manche Werke aus den zwanziger Jahren haben sogar mehrere Überarbeitungen erfahren, wenn der Autor so lange lebte, so dass es eine Fassung der Erstauflage, eine aus der Stalinzeit und dann eine aus der Tauwetterperiode gibt. Nur in Ausnahmefällen, wenn es sich um textidentische Neuauflagen handelte, wird auf spätere Ausgaben zurückgegriffen. Außerdem bezieht die Arbeit in manchen Fällen neben Prosatexten auch Filme in die Analyse mit ein, soweit diese für die Fortentwicklung des Genres und die Diskussionen hierüber von Bedeutung gewesen sind.
103
Gegebenenfalls werden auch Erinnerungen Beteiligter herangezogen, die allerdings immer mit Vorsicht zu genießen sind, da sie auch immer retrospektive Legitimationsnarrative darstellen.
104 Diese
Bestände befinden sich im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (Российский государственный архив литературы и искусства, Abk. RGALI) in Moskau. Neben den genannten Quellenkorpora wird auch in geringerem Ausmaß auf die Bestände der zentralen Literaturzeitung des Schriftstellerverbandes, der Literaturnaja gazeta, sowie auf einzelne persönliche Nachlässe von Autoren zurückgegriffen, soweit diese zugänglich waren. Die Recherchen in den im Staatsarchiv der Russländischen Föderation (Государственниы архив Российской Федерации, Abk. GARF) vorhandenen Beständen der für Zensurfragen zuständigen Hauptverwaltung der Angelegenheiten der Literatur und des Verlagswesens (Главное управление по делам литературы и издательств, Abk. Glavlit) haben hingegen keine für die Arbeit relevanten Ergebnisse erbracht. Zur Zitierweise der Archivquellen vgl. die Angaben im Anhang dieser Arbeit.
Rezeptionsgeschichte, Forschungsstand und Quellenlage | 41
nehmen ihre größten Ausmaße in der Zeit von 1945 bis zu Stalins Tod an, als die Sektionen des Schriftstellerverbandes, in geringerem Umfang aber auch die Verlags- und Zeitungsredaktionen umfassende Dokumentationen ihrer Tätigkeit anlegten. Nach 1953 nimmt dann die Anzahl der den Archiven übergebenen Bestände wieder massiv ab.105 Diese unterschiedliche Quellenlage spiegelt damit auch die unterschiedlichen literaturpolitischen Bedingungen, unter denen Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik in der Sowjetunion entstanden sind.106
105
Teilweise sind wohl auch große Archivbestände der Zeitschriften- und Verlagsredaktionen nach dem Ende der Sowjetunion 1991 verloren gegangen beziehungsweise vernichtet worden, teils aber schon sehr viel früher aufgelöst worden, ohne dass man sie staatlichen Archiven übergeben hätte. So sind beispielsweise für die noch existente populärwissenschaftliche Zeitschrift Znanie – sila deren Archive bei der Privatisierung von ehemaligen leitenden Redakteuren übernommen worden. Nach deren Tod haben die Erben diese jedoch aufgelöst, so dass sie heute nicht mehr vorhanden sind, wie Recherchen des Autors ergeben haben.
106
Das weitgehende Fehlen an Archivbeständen für die Zeit vor 1934 und nach 1953 stellt methodisch für die Zielstellungen der Arbeit allerdings insofern kein schwerwiegendes Problem dar, als für diese Perioden die publizierten Textkorpora sehr viel ergiebiger und heterogener sind.
42 | Einleitung
7. G li eder u n g d e s B u c h e s Das Buch gliedert sich in drei Teile, die so geschrieben sind, dass einzelne Kapitel auch für sich gelesen werden können, ohne dass man das ganze Werk zuvor rezipiert haben muss. Der erste Teil (Kommunistische Pinkertons – Entwürfe und Varianten populärer Abenteuerliteratur, 1917–1932) umfasst die Periode von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung aller literarischen Organisationen und eines Großteils der Verlage und Zeitschriften, die zu einer vollkommenen Neuausrichtung der sowjetischen Literatur führte. Dieser Zeitraum stellte die große Blütezeit einer sowjetischen Abenteuerliteratur dar, die seit einer entsprechenden Äußerung des maßgeblichen bolschewistischen Kulturpolitikers Nikolaj Bucharin im Jahr 1922 häufig als „kommunistische Pinkertons“ diskutiert wurde. In diese Phase fällt auch das Aufkommen des Terminus „Wissenschaftliche Fantastik“, der gegen Ende der Periode im Zuge heftiger literaturpolitischer Attacken gegen die Abenteuerliteratur etabliert worden ist. Der zweite Teil des Buches (Das Stiefkind der sowjetischen Literatur – Die wissenschaftlichfantastische Abenteuerliteratur, 1932–1941) befasst sich mit der in Bezug auf die Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik am stärksten widersprüchlichen und wechselhaften Periode. Nachdem die „kommunistischen Pinkertons“ bereits mit dem durch den ersten Fünfjahresplan eingeleiteten „Großen Umbruch“ in Verruf geraten waren, stellten beide Richtungen im Zuge der Durchsetzung des „Sozialistischen Realismus“ auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 ein weitgehend verfemtes Genre dar, dem man auch im Bereich einer neu zu schaffenden Kinderliteratur keine Existenzberechtigung einräumen wollte. Doch dieser Versuch stieß auf verschiedenen Ebenen auf massive Widerstände, so dass man schon bald mangels attraktiver Alternativen dazu überging, Abenteuer und Wissenschaftliche Fantastik in engen Grenzen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zuzulassen. Begünstigt durch die großen Säuberungen konnte dann ein Neuanfang als eine „wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur“ in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gemacht werden, der ungeachtet erheblicher Differenzen hinsichtlich der Konzeptualisierung der nun gleichberechtigt nebeneinander stehenden Termini des Abenteuers und der Wissenschaftlichen Fantastik von vielen Beteiligten als Auftritt des bisherigen „Aschenputtels“ auf dem „Ball“ der „großen“ sowjetischen Literatur wahrgenommen wurde. Der dritte Teil des Buches (Die Belletrisierung der Wissenschaften – Die Trennung von Abenteuer und Fantastik, 1941–1957) umfasst die Zeitspanne vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion bis zu den ersten Jahren nach Ende der Stalinzeit, die noch als signifikante Übergangsphase für spätere Entwicklungen in den Untersuchungszeitraum mit einbezogen wurden. Diese Periode ist nach einer kurzen Phase des euphorischen Aufbruchs in der Nachkriegszeit vor allem durch die von höchster kulturpolitischer Ebene angewiesenen Maßnahmen einer maximalen Uniformierung und Regulierung der Literatur gekennzeichnet. Sie zielten auf eine weitgehende Eliminierung der Abenteuerliteratur und eine Parallelisierung der Wissenschaftlichen Fantastik mit dem Genre der Wissenschaftspopularisierung. Gleichzeitig zeigen die internen
Gliederung des Buches | 43
und öffentlichen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung dieser Politik, wie weitreichend und gleichzeitig kompliziert eine solche Umsetzung literaturpolitischer Direktiven in der Alltagspraxis war. Man blieb am Ende auf eine Handvoll Autoren angewiesen und mit einem erheblichen Unmut seitens der Leser und übrigen Autoren konfrontiert, so dass schon wenige Monate nach Stalins Tod eine Revision dieser literaturpolitischen Richtungsentscheidungen einsetzte. Die später so genannte „Fantastik des Nahziels“ („фантастика ближнего прицела“), nach deren Ideal ferngesteuerte Traktoren und automatisierte Kolchosen die realisierte Utopie der kommunistischen Zukunft darstellten, sollte jedoch in der reziproken Rezeption das Bild der gesamten Stalinzeit prägen und als negative Kontrastfolie wegweisend für die weitere Entwicklung der Wissenschaftlichen Fantastik werden. Die drei Teile dieses Buches sind in jeweils fünf Kapitel mit drei Abschnitten gegliedert. Die Anordnung der einzelnen Kapitel erfolgt chronologisch und systematisch. So gruppieren sich die Kapitel immer um eine Themen- oder Fragestellung, aus der sich dann die Aufteilung der einzelnen Abschnitte ergibt. Die Abschnitte sind mal Überblicksdarstellungen zu bestimmten Aspekten, mal sind sie der Rekonstruktion bestimmter Diskurse, den literaturpolitischen oder literaturtheoretischen Positionen sowie der Analyse einzelner Werke oder der Texte bestimmter Autoren gewidmet. Am Ende des Buches findet sich eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Kapitel und Abschnitte, in der die wesentlichen Thesen und Fragestellungen rekapituliert werden. Diese Studie stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die ich im Juli 2010 am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin unter dem Titel „Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik 1917–1957“ verteidigt habe. Für die vielfachen Anregungen, Ratschläge und Korrekturen danke ich insbesondere Igor J. Polianski und Kristine Krause sowie Susanne Strätling, Heike Winkel, Torben Philipp und Georg Witte, der die Doktorarbeit wissenschaftlich betreut hat. Für Hinweise und Zuarbeiten danke ich Evgenij Charitonov, Anke Hennig, Sandra Janßen, Fritz Mierau, Sylvia Sasse, Henrike Schmidt, Erik Simon, Franziska Thun-Hohenstein und Barbara Wurm; für das Lektorat des Russischen danke ich Olga Polianski und des Deutschen meiner Mutter, Ingeborg Schwartz.
44 | Einleitung
1. D as Ver m ä c h t n i s P i n k e r t o ns – D ie A nfä ng e ei n er n e u e n U n t e r h a l t u n g slit e ra t ur 1 „Ich sehe, Bürger, wie Du vor der Buchvitrine stehst, erfasst von dem völlig natürlichen Zweifel: mein Büchlein kaufen oder nicht kaufen? Kein Problem, du kannst es auch sein lassen! Doch dann beklag dich nicht, wenn es morgen jemand anderem gehört, wenn jemand anderes ergriffen über das Schicksal der schönen Teresa trauert und zittert vor dem Geschimpfe des einäugigen Pedž. Und willst Du wirklich nicht den Oberst Jašikov kennen lernen? Im Übrigen, es ist nicht meine Aufgabe dich zu überzeugen. Du kannst meiner „Schönen“ auch zwei Schachteln Papirossy vorziehen. Mosselprom liegt gleich um die Ecke. Doch schade ist es – Du hast so ein sympathisches Arbeitergesicht!“ Der Autor (1926)
Wenn man sich an die Rekonstruktion der sowjetischen Abenteuerliteratur und Science Fiction macht, dann gilt es zu allererst die komplexe historische Semantik der Begriffe zu rekonstruieren, unter denen diese verhandelt wurden, lange bevor man sie nach bestimmten Erzählformen und Inhalten klassifizieren sollte. Was Ende des 19. Jahrhunderts und das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch undifferenziert als Schundliteratur und billige Unterhaltung für Unterschichten firmierte, bekam erst mit Kornej Čukovskijs Polemik gegen den von ihm geprägten Sammelbegriff der „Pinkertonovščina“ im Jahr 1908 einen griffigen Namen, der als polarisierendes Schlagwort die Debatten der nächsten zwei Jahrzehnte prägen sollte und als Signum für eine leichte Unterhaltungsliteratur, die sich keine Sorgen um eine massenhafte freiwillige Leserschaft machen müsse, bis zum Ende des Untersuchungszeitraums dieser Studie von Relevanz blieb. Erst die neue Generation der 1960er Jahre, die mit Sputnik, Gagarin, Weltjugendtag, Dekolonisierung, Physikern und Lyrikern, intimer Lyrik und junger Prosa ihre eigene Populärkultur generierte, wusste mit den Fiktionen des Jahrhundertanfangs nichts mehr anzufangen. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution ging es aber vorerst um die erst allmählich sich durchsetzende Erkenntnis, dass es nicht einfach damit getan war, die alte Literatur vom
1
„Я вижу, гражданин, как ты стоишь перед книжной витриной, охваченный вполне естественным сомнением: покупать или нет мою книжку? Ну что же, можешь и не покупать! Но тогда не сетуй, если она завтра будет принадлежать другому, если другой будет умиленно скорбеть о судьбе прекрасной Терезы и содрогаться, внимая ругани одноглазого Педжа. А разве тебе не хочется познакомиться с полковником Яшиковым? Впрочем, не мне убеждать тебя. Можешь предпочесть моей „Красавине“ две коробки папирос, Моссельпром - за углом. А жаль - у тебя такое симпатичное, трудовое лицо!/ Автор“.
So die Buchreklame für den unter dem Pseudonym P’er Djum’el veröffentlichten Roman Die Schöne von der Insel Ljulju (Красавица с острова Люлю, 1926) von Sergej S. Zajaickij, vgl. Bugrov, Vitalij: 1000 likov mečty. O fantastike vser’ez i s ulybkoj. Očerki i ėtjudy, Sverdlovsk 1988, S. 152.
Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur | 47
„Dampfer der Gegenwart“ zu stoßen.2 Denn es gab durchaus literarische Vorlieben, die vollkommen unberührt von allen politischen und sozialen Umbrüchen weiterhin das Leseverhalten der Arbeiter und Bauern maßgeblich prägten. Dass die neue Gesellschaftsordnung diese „gefährlichen“ Vorlieben der Massen zu verändern hatte, war in der frühen Sowjetunion Konsens. Keinen Konsens gab es jedoch darüber, wovon man eigentlich redete und worin denn der „schädliche“ und „verderbliche“ Einfluss im Einzelnen bestehe, über den man sich vorgeblich so einig war. Einen ersten bedeutenden Beitrag zur konzeptionellen Bestimmung dieser neuen Massenliteratur hatte Čukovskij bereits vor 1917 mit seiner Polemik gegen den „Gott der Hottentotten“ – den New Yorker Privatdetektiv Pinkerton – geleistet, prägte er mit dem von seinem Namen abgeleiteten Kollektivum doch nicht nur einen prägnanten Begriff, sondern führte auch einige entscheidende Kategorien in die Diskussion um eine populäre Unterhaltungsliteratur ein, an die die Debatten um das Genre auch nach der Oktoberrevolution anknüpfen konnten (Abschnitt 1.1. Der Gott der Hottentotten). Die Pinkertonovščina als eine neue Literatur für die Massen basierte dabei, wie im übernächsten Abschnitt gezeigt wird, auf einer kommerziellen Buchkultur, die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Russland entwickelte und sich insbesondere im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg auf eine wachsende alphabetisierte Leserschaft stützen konnte. Nach einer ersten Hochphase in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte diese neue Massenliteratur in der so genannten NÖP-Periode eine zweite Blütezeit, sicherte doch der große Absatz die ökonomische Existenz inbesondere der privaten und halbstaatlichen Zeitschriften und Verlage (Abschnitt 1.2. Literatur für die Massen). 3 Diese Popularität gründete sich noch bis Ende der zwanziger Jahre vor allem auf Übersetzungen und Adaptionen westlicher Unterhaltungsliteratur (Abschnitt 1.3. Abenteuer im Land der Bolschewiki). Zwar versuchte man literaturpolitisch die in den Geschichten dominierende Mischung aus rasanter Action, kolonialer Exotik sowie sensationellen Erfindungen und Entdeckungen im Sinne der Revolution umzudeuten und auch einheimische Autoren und Heldenfiguren zu propagieren, konnte aber die Marktdominanz der westlichen Bestseller in der NÖPPeriode nicht wesentlich brechen. Das Vermächtnis Pinkertons, so wie es Čukovskij in seiner Polemik aus dem Jahr 1908 erstmals als zentrales Wegzeichen für eine immer mächtiger und einflussreicher werdende neue Massenliteratur gedeutet hatte, hatte auch zwei Jahrzehnte später nichts an seiner Aussagekraft verloren.
2
So die legendäre Forderung der russischen Futuristen in ihrem Manifest Eine Ohrfeige dem Geschmack der Gesellschaft (Пощечина общественному вкусу) von 1913. Vgl. Lauer, Rainhard: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 497ff.
3
NÖP ist die Abkürzung für Neue Ökonomische Politik (russ. Новая экономическая политика, russ. Abk. NĖP), die offiziell auf dem 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) im März 1921 von Lenin verkündet wurde und de facto mit den Beschlüssen auf dem 15. Parteitag der KPdSU zum ersten Fünfjahresplan im Dezember 1927 endete.
48 | Kommunistische Pinkertons
1 .1 Der Got t der Ho tte nto tte n – K o r n e j Cˇ u ko vski js Pol em i k ge g e n d ie Pink e rto nov šcˇ i n a 4 „Und wenn ich sehe, dass unsere Intelligenz plötzlich verschwunden ist, dass unsere Jugend erstmals seit hundert Jahren ohne ‚Ideen‘ und ‚Programme‘ dasteht, dass in der Kunst jetzt die Pornographie und in der Literatur das Rowdytum vorherrscht, sage ich nicht, dass das eine Reaktion ist, sondern ich sage, dass das der vollkommene Hottentotte ist, der von irgendwo her herbeiströmt und in zwei-drei Jahren unsere ganze Intelligenz aufgefressen hat, er hat alle unsere Parteien, Programme und Ideologien aufgefressen, hat unsere Literatur und unsere Kunst aufgefressen, und wenn noch irgendwo irgendwelche unscheinbaren kleinen Wurzeln übrig geblieben sind, – bis auf Haut und Haar – wird er auch die auffressen [...].“ Kornej Cˇ ukovskij (1908)4
Schaut man sich die literaturpolitischen Debatten der frühen Sowjetunion an, dann fällt auf, dass man zwar intensiv neue Prosaformen und die der postrevolutionären Wirklichkeit angemessenen Inhalte diskutierte, die eigentlich zentrale Frage nach den literarischen Vorlieben der „werktätigen Massen“ und den Gründen für die überaus große Popularität leichter Unterhaltungsliteratur kaum ernsthaft gestellt wurde.5 Die Massenliteratur tauchte höchstens als „schädliches“ und mit allen Mitteln zu bekämpfendes Phänomen auf, blieb aber ansonsten bis auf wenige Ausnahmen weitgehend außerhalb der kulturpolitischen Reflexionen. Fragt man nach den Gründen für diese augenfällige Ignoranz, so liegt eine erste Antwort in der kulturellen und intellektuellen Sozialisation der an den Auseinandersetzungen Beteiligten, in derem „hochkulturellen“ Paradigma leichte Unterhaltungsliteratur per se unter dem Verdacht stand, primitiv, vulgär und reaktionär zu sein. Sie repräsentierte das Gegenteil von Aufklärung, Bildung, Fortschritt und all dem, was sich die bolschewistischen Bildungspolitiker und Agitatoren des Proletkul´t, aber auch die übrigen literaturpolitischen Gruppen der zwanziger Jahre auf die Fahnen geschrieben hatten. 4
„И когда я вижу, что наша интеллигенция вдруг исчезла, что наша молодежь впервые за сто лет оказалась без ‚идей‘ и ‚программ‘, что в искусстве сейчас порнография, а в литературе хулигантство, я не говорю, что это реакция, а я говорю, что это нахлынул откуда-то сполшной готтентот и съел в два-три года всю нашу интеллигенцию, съел все наши партии, программы, идеологии, съел нашу литературу и наше искусство, и если где еще остались какие-нибудь неприметные корешки, – рожки и ножки, – он и те съест [...].“ Čukovskij, Kornej: Nat Pinkerton i sovremennaja literatura (²1910), in: Ders.: Sobranie
sočinenij v 15 tomach. Tom 7. Literaturnaja kritika 1908-1915, Moskva 2003, S. 25-62, S. 36. 5
Vgl. bspw. Maguire, Robert: Red Virgin Soil. Soviet Literature in the 1920’s, Ithaca, London 1987; Eimermacher, Karl: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932. Von der Vielfalt zur Bolschewisierung der Literatur. Analyse und Dokumentation (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Bd. 1), Bochum 1994;
Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur | 49
Wirft man einen genaueren Blick auf die Genese dieses allgemein, auch im westlichen Europa weitverbreiteten „hochkulturellen“ Paradigmas der Ignoranz und Antipathie gegenüber leichter Unterhaltungsliteratur, dann hatte im russischen Kulturkontext wahrscheinlich der Schriftsteller und einflussreiche Literaturkritiker der Vorkriegszeit Kornej Čukovskij einen ganz entscheidenen Anteil an dessen Ausgestaltung. Denn dieser hatte bereits 1908, ein knappes Jahrzehnt vor der Oktoberrevolution, in einem weit rezipierten und in verschiedenen Städten gehaltenen öffentlichen Vortrag ein massives Unbehagen über die ungemeine Beliebtheit der aufkommenden Massenliteratur formuliert und die entscheidenden Argumente und Stichworte zu deren Diskreditierung geliefert.6 In den Folgejahren wurde der Vortrag unter dem Titel Nat Pinkerton und die zeitgenössische Literatur (Нат Пинкертон и современная литература) mehrfach in gedruckter Form publiziert. In ihm stellte Čukovskij mit Entsetzen fest, dass das große Publikum eine Unterhaltungsliteratur lese, von der allein in Petersburg in einem Monat mehr als 600.000 Exemplare verkauft würden, während „das größte aller Genies unseres Landes“, der „im höchsten Ruhm“ stehende Fedor Dostoevskij zur selben Zeit in fünf Jahren landesweit noch nicht einmal die Auflage von 2.000 Bänden seines Romans Verbrechen und Strafe (Преступление и наказание, 1866) habe verkaufen können.7 Und diese Literatur sei schlimmer als alles, was man bislang dem „Spießbürgertum“ (мещанство) zugeschrieben habe. Die Spießbürger mit ihrer Vorliebe für den „englischen Gentleman“ Sherlock Holmes seien gegenüber diesen Leuten regelrechte kulturelle „Giganten“. Dieser vollkommen kulturlose und fantasielose „kulturelle Wilde“ hingegen hätte nur „eine Quelle starker seelischer Emotion: physischer Kampf, Sport, körperlicher Wettkampf“:8 „Alle anderen Erregungen sind ihm unzugänglich – und nur dann funkeln seine Augen, und pulst sein Blut, und ballen sich seine Fäuste, wenn mit Hunden, mit Pistolen, mit wildem Geschrei, ein Mensch hinter einem anderen hinterher jagt, und dieser erschöpft wird, mit Schweiß bedeckt, seine Schritte schwerer werden, und endlich zum Stehen kommt, und in die Hände der Wachen oder die Hände der Soldaten oder die Hände der Polizei fällt, oder sich von einem Felskliff in den Tod stürzt, oder mit durchschossenem Haupt zwei Schritte vor seinem Fluchtziel fällt. Nur solche Pferdeportionen archaischer Leidenschaften sind dem kulturellen Wilden zugänglich, andere kennt er nicht und will er nicht haben [...].“9
6
Zu Čukovskij als Kritiker der populären Literatur der Vorrevolutionszeit vgl. Steinweg, Dagmar: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften. Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija A. Verbickaja und Evdokija A. Nagrodskaja (Dokumente und Analysen zur rusischen und sowjetischen Kultur, Bd. 27), Bochum 2002, S. 109–113; Ivanova, Evgenija: Gody izvestnosti Čukovskogo-kritika, in: Čukovskij, Kornej: Sobranie sočinenij v 15 tomach. Tom 7. Literaturnaja kritika 1908–1915, Moskva 2003, S. 5–14.
7
Čukovskij: Nat Pinkerton i sovremennaja literatura, S. 39f.
8
Ebd., S. 32. Kursiv im Original.
9 „Все другие волнения недоступны ему – и глаза у него лишь тогда сверкают, и кровь стучит, и
сжимаются кулаки, когда с собаками, с пистолетами, с диким гиканьем и исступленными жестами,
50 | Kommunistische Pinkertons
Man habe es hier mit einem Typ des „Hottentotten“ zu tun, dessen Katalysator das Kino mit seinen immer gleichen Bildern an Menschenjagden sei und der inzwischen alle kulturellen Unterschiede zwischen Land und Stadt, Spießbürgertum und Intelligenzija nivelliert habe und weltweit an die Stelle des „einfachen Kerls“ (мужик) getreten sei: „Und der weltweite, echte Hottentotte, der über die ganze Erde geht und kommt, diesen einfachen Kerl abzulösen, schuf eine zimtfarbene Étoile und setzte sie, in seiner armseligen Fantasie, sogar auf den Mond und ließ sie auf den Grund des Ozeans herab.“10
Dieser „millionenfache Hottentotte“ (многомиллионный готтентот) sei gewissermaßen der kollektive Autor verschiedener populärer Helden − wie in diesem Falle derjenigen André Laurie‘s und H. G. Wells‘.11 „Doch der millionenfache Hottentotte braucht einen Gott. Er braucht einen Führer, dem er folgen kann, er braucht einen Helden, vor dem er sich verneigen kann.“12 Daher habe er alle „ihm zugänglichen Ideen von der möglichen Größe der menschlichen Seele“ zusammengenommen und sich einen „Helden nach seinem Aussehen und Ebenbild“ geschaffen, und so sei die Figur des Spitzels „im erbsenfarbenen Mantel“, Nat Pinkerton, entstanden:13 „Millionen menschlicher Herzen glühen für ihn vor Liebe und jubeln ihm begeistert zu: Hosianna! Er ist ein vom Volk Auserwählter und Gesalbter, seien Sie doch ehrfurchtsvoll ihm gegenüber./ Mögen diese Büchlein, in denen seine Odyssee gedruckt ist, mögen sie hilflos und ungebildet sein, mögen sie nicht einmal Literatur, sondern nur das klägliche Gemurmel irgendeines betrunkenen Wilden sein, denken Sie sich aufmerksam in ihn hinein, denn dieses Gemurmel stellt für Millionen Menschenseelen die süßeste geistige Nahrung dar.“14 один человек несется в погоне за другим, а тот ослабевает, и обливается потом, и замедляет шаги, и, наконец, останавливается, и попадает в руки сторожей, или в руки солдат, или в руки полиции, или срывается со скалы и разбивается насмерть, или с простреленной головой падает в двух шагах от того места, куда он бежал. Только такие лошадиные порции первобытнейших страстей и доступны культурному дикарю, других он не знает и не хочет [...].“ Ebd., S. 32f. 10 „А всемирный, сплошной готтентот, идущий и пришедший по всей земле этому мужику на смену,
создал коричневую этуаль и, в убожестве фантазии своей, посадил ее даже на луну и спустил на дно океана.“ Ebd., S. 36.
11
Gemeint sind mit dem Hinweis, der „kulturelle Wilde“ habe den Hottentotten in seiner Fantasielosigkeit sogar auf den Meeresgrund und den Mond versetzt, wahrscheinlich André Lauries (Pseud. von. Paschal Grousseet) Roman Atlantis (1895, russ. Übersetzung 1900) über ein mythisches Königtum unter einer Glaskuppel auf dem Meeresgrund und die Beschreibung der extraterristischen, insektenartigen Mondbewohner in The First Men in the Moon (1901) von Wells.
12 „Но многомиллионному готтентоту нужен Бог. Ему нужен вождь, за которым идти, ему нужен герой,
пред которым склониться.“ Ebd., S. 38.
13
Ebd., S. 38f.
14 „Миллионы человеческих сердец пылают к нему любовью и в восторге кричат ему: осанна! Он
народный избранник и помазанник, будьте же почтительны к нему./ Пусть эти книжки, где печатается его Одиссея, пусть они беспомощны, безграмотны, пусть они даже не литература, а жалкое
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Damit sei das menschliche Sein aber zu reiner „Zoologie“ degeneriert, das alle alten Ideale über Bord geworfen habe.15 An die Stelle der Seele, des Geistes und des Herzens sei einzig eine „ riesige Faust“ getreten,16 die nur von Hass und Rache getrieben sei ohne Gerechtigkeitsgefühl: „Ich habe dreiundfünfzig Abenteuerhefte von Nat Pinkerton durchgelesen und mich überzeugt, dass das Einzige, worin Nat Pinkerton genial ist, gerade im Austeilen von Backpfeifen, Schlägen auf die Zähne, Ohrfeigen und schrecklichen, ohrenbetäubenden Faustschlägen besteht.“17
Für Čukovskij ist „Pinkerton“ somit zugleich gesellschaftliches Symptom des kulturellen Niedergangs und Synonym für eine „nicht zufällige, ja notwendige, unausweichliche, von Millionen Menschen geschaffene“18 Entwicklung, die dazu geführt hat, dass das „Kannibalentum“ der Hottentotten sowohl die Spießbürger als auch die Intelligenzija vollständig assimiliert habe.19 Mit dieser Polemik prägte Kornej Čukovskij den Begriff des „Pinktertontums“ (Пинкертоновщина) für eine neue Art der Unterhaltungsliteratur, die noch eine recht junge Entwicklung in Russland darstellte. Bei dieser Literatur handelte es sich unter anderem um Adaptionen von deutschen und französischen Geschichten über den US-amerikanischen Privatdetektiv Nat Pinkerton, dessen Figur sich wiederum an der populären Krimiserie über Nick Carter sowie an dem Detektivbüro Allan Pinkertons (1819–1884) orientierte.20 Die Adaptionen erschienen in Russland seit 1907 als Fortsetzungshefte mit wechselnden Auflagenzahlen bei fallenden Preisen, wobei allein von Pinkerton, Carter und Sherlock Holmes 1907 bis 1915 mehr als 800 Hefte mit einer Auflage von über 13 Millionen Exemplaren publiziert wurden.21 Doch unter den Begriff der Pinkertonovščina fielen bei Čukovskij nicht nur im weitesten Sinne Kriminalgeschichten, sondern jede Art von Abenteuer, die von rätselhaften Verbrechen, außergewöhnlichen Reisen, sensationellen Erfindungen, technischen Innovationen oder anderen ungewöhnlichen Be gegnungen mit dem Fremden und Exotischen in spannender und unterhaltsamer Form erzählten. Die „verwilderten“ Romane von Arthur Conan Doyles, H.G. Wells oder Jack London бормотание какого-то пьяного дикаря, вдумайтесь в них внимательно, ибо это бормотание для миллионов душ человеческих сладчайшая духовная пища.“ Ebd., S. 39. 15
Ebd., S. 50.
16
Ebd., S. 44.
17 „Я прочитал пятьдесят три книжки приключения Ната Пинкертона – и убедился, что единственно, в
чем Нат Пинкертон гениален, это именно в раздавании оплеух, зуботычин, пощечин и страшных, оглушительных тумаков.“ Ebd., S. 45.
18
Ebd., S. 49.
19
Ebd., S. 52.
20
Vgl. hierzu Foltin, Hans-Friedrich: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Nat Pinkerton. Der König der Detectivs. 10 Lieferungshefte in einem Band, Hildesheim New York 1974, S. VI-IX; Ginzburg, Lidija: Posleslovie, in: Dies.: Angentstvo Pinkertona, Moskva, Leningrad 1932, S. 176–187.
21
Brooks, Jeffrey: When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton, NJ 1988, 141ff, 367.
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g ehörten genauso hierher wie die unzähligen Adaptionen heute weitgehend vergessener russischer Kolportageschriftsteller.22 Doch prägte Čukovskij mit seiner Polemik nicht nur den Begriff „Pinkertontum“ als Synonym für billige Unterhaltungsliteratur, er trägt in seinem Aufsatz auch zu einer starken Polarisierung aporetischer Positionen bei, die nach 1917 für die weitere Beschäftigung mit dem Genre explizit und implizit konstitutiv werden. Schon in seiner Wortwahl in der Kennzeichnung des „degenerierten“ Publikums und seiner Helden als „Hottentotten“, Barbaren, Kannibalen oder „Wilde“ referiert er polemisch auf den kolonialen und imperialen Zusammenhang, in dem diese Literatur stand und entstand. Bekanntlich galt der „Hottentott“ im europäischen Kolonialdiskurs als Inbegriff von „Unordnung“, „Chaos“ und „Primitivität“. Diesem „Bindeglied“ zwischen Mensch und Tier wurde eine wilde Sexualität, zügellose Triebhaftigkeit und rassische Minderwertigkeit zugeschrieben.23 Diesen kolonialen Diskurs über eine exotische, fremde, ferne Welt der Wildnis mit zugleich primitiven, chaotischen und „zügellosen“ Bewohnern projizierte Čukovskij in seiner Polemik jedoch nicht nur auf die in den Kolonialgebieten spielende Abenteuerliteratur, die ihre (weißen) Helden an solche „fantasielosen“ Schauplätze am Rande oder jenseits der europäischen Zivilisation extrapolierte, sondern der „Hottentott“ war vor allem jener inmitten der europäischen Zivilisation „wildernde“ Spitzel oder Bandit, der aus der Halb- und Unterwelt moderner Großstädte eine „barbarische“ Wildnis machte und damit die Gesetze des „Dschungels“ direkt ins Herz des „zivilisierten“ Okzidents importierte. In der pauschalen Abgrenzung der „eigenen“ europäischen „Hochkultur“ von jeglicher Unterhaltungsliteratur gab es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Kriminalromanen im Stile Pierre Alexis Ponson du Terrails oder den Pinkertongeschichten, zwischen der in der „unzivilisierten Wildnis“ spielenden Abenteuerliteratur (литература приключений) im Stile Fenimore Coopers, Mayne Reids oder Henry Rider Haggards und zwischen „extraordinären“ Technikvisionen im Stile Jules Vernes oder H.G. Wells. Nun bestanden Anfang des Jahrhunderts die Genregrenzen zwischen Abenteuerliteratur, Detektivgeschichte und Science Fiction tatsächlich noch nicht, sondern es gab – wie einleitend dargestellt – fließende Übergänge und eine unendliche Vielzahl von möglichen Ordnungskategorien. Die „massenkulturelle“ Faszination für das Fremde und Verbotene, Irrationale und Exotische, für die „Schattenseiten“ der eigenen Zivilisation fanden sich in allen diesen Geschichten 22
Vgl. hierzu ausführlich Brooks: When Russian Learned to Read, S. 109–168; Brandis, Evgenij: Ot Ėzopa do Džanni Rodari. Zarubežnaja literatura v detskom i junošeskom čtenii, Moskva 1980, S. 154–165, 172–174, 179–187; Steinweg: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaft, S. 72–97.
23
Bereits seit dem 17. Jahrhundert wurde der Begriff „Hottentott“ durch niederländische Kolonisatoren als Bezeichnung für verschiedene „primitive“ Gesellschaften im südlichen Afrika in Europa eingeführt. Im 19. Jahrhundert kamen zu den bestehenden negativen Konnotationen noch biologistische Kategorien hinzu, die den Hottentotten zum „Sinnbild wilder Sexualität und zugleich rassischer Minderwertigkeit“ machten „als ein Beleg für ein damals gesuchtes Bindeglied zwischen Mensch und Tier.“ Vgl. Göttel, Stefan: „Hottentotten/Hottentottin“, in: Arndt, Susan; Hornscheid, Antje (Hg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2004, S. 147–153, S. 151.
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mehr oder weniger stark wieder. Nicht zufällig schrieb ein Autor wie Conan Doyle neben den Adventures of Sherlock Holmes auch spätkoloniale Abenteuergeschichten im Zeichen des Darwinismus, populärwissenschaftliche Abhandlungen über den Spiritismus und sozialkritische fantastische Romane.24 Dass es zwischen all diesen „Adventure novels“ (frz. roman aventureux, russ. авантюрный роман)25 schon Ende des 19. Jahrhunderts ungeachtet ihrer manifesten Ähnlichkeiten auch enorme formale und inhaltliche Ausdifferenzierungen gab, musste allerdings einer Polemik wie derjenigen Čukovskijs, der es einzig um die Markierung einer maximalen Differenz und Distanz ging, verborgen bleiben. Genau solche in der russischen Intelligencija weit verbreiteten Positionen trugen aber auch dazu bei, dass die Potenziale und Wirkungsmächtigkeit der Pinkertonovščina nach der Revolution in der Literaturkritik weitgehend verkannt und ignoriert wurden. Ein zweiter Aspekt in Čukovskijs Polemik, der zu einer Devaluierung und Diskreditierung populärer Unterhaltungsliteratur wesentlich beitrug, bestand in seiner Identifizierung der „barbarischen“ Pinkertonovščina mit dem sozialdarwinistischen Paradigma vom Kampf ums Dasein, dem er dezidiert ein imperiales Weltbild europäischer Hochkultur entgegensetzt. Alle seine Charakteristika des „millionenfachen Hottentotten“ sind durchdrungen von biologistischen Metaphern, wonach die archaischen Gesetze des Urwalds und des Rechts der Stärkeren die Errungenschaften der Zivilisation bis aufs Letzte ausrotten, aus den Kolonien importiertes Rowdytum und Pornographie an die Stelle von europäischer Kunst und Literatur treten werden. Indem Čukovskij die Gegenüberstellung von hochliterarischer Zivilisation und barbarischer Wildnis durch die Oppostion von kulturellen Werten und nacktem Daseinskampf ergänzt, spricht er der Unterhaltungsliteratur aber auch jegliche sittliche und ethische Kompetenz ab. Gerade aber die durchaus auch ambivalente Popularisierung von neuen Wissensparadigmen und naturwissenschaftlich inspirierten Welterklärungsmodellen wie Darwins Evolutionstheorie zeichnete diese Literatur aus und verlieh ihr ihre Attraktivität.26 Denn indem sie die Ambivalenzen wissenschaftlicher Paradigmenwechsel und moderner Innovationen auf ganz verschiedene Weise narrativierte, knüpfte sie direkt an die Alltagserfahrung ihrer Leserschaft an und verhalf dieser, mit 24
Auch in vielen der Sherlock-Holmes-Geschichten steht die Lösung des Rätsels häufig mit der britischen Kolonialgeschichte in engem Zusammenhang. So führen in The Sign of the Four (1890) oder The Adventure of the Speckled Band (1892) die Spuren nach British-Indien, bei A Study in Scarlet (1887) oder The Valley of Fear (1914/1915) führen sie in religiöse Gemeinden in Utah bzw. Pennsylvania. Zum kolonialen Zusammenhang und orientalistischen Blick der Sherlock Holmes-Geschichten vgl. auch Roy: The Manichean Investigators, S. 124–139.
25
Vgl. Blagoj, Dmitrij: Avantjurnyj roman, in: Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov v 2-ch t., Bd. 1, Moskva, Leningrad 1925, S. 3–10.
26
Dies galt sowohl für die sozialdarwinistischen Erklärungsmodelle kolonialer Abenteuergeschichten wie auch für die physiologischen und psychologischen Ermittlungsmethoden eines Sherlock Holmes oder die utopischen Technikgeschichten eines Jules Verne. Zur Wissenschaftspopularisierung in Russland Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Lazarevič, Ėleonora A.: S vekom naravne. Populjarizacija nauki v Rossii. Kniga. Gazeta. Žurnal, Moskva 1984, S. 143–214.
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ihnen zurechtzukommen.27 Populäre Unterhaltungsliteratur machte die mit den Folgen industrieller und technischer Innovationen verbundenen Wünsche und Ängste überhaupt erst darstellbar und somit verhandelbar. Sie stellte ein Sozialisationsangebot an die Leser dar, sich mit Hilfe der „Götter“ der neuen Zeit wie Rocambole, Pinkerton oder später Tarzan mit den Herausforderungen der Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung der eigenen Gesellschaft zu arrangieren.28 Eben dieses erzieherische und emanzipatorische Potenzial der Geschichten wird bei Čukovskij nahezu in ihr Gegenteil verkehrt, wenn er sie als eine rückständige und minderwertige Literatur ohne Ethik und Moral darstellt, die einzig sozialdarwinistischen Ideen folge. Und noch ein dritter Aspekt kommt in Čukovskijs Polemik zur Sprache, der zur Charakterisierung und Diskreditierung dieser Literatur beitrug, und zwar die intermedialen Einflüsse des jungen Mediums Film, dessen auf die rein physische Welt reduzierte visuelle Ästhetik er mit den populärwissenschaftlich-reduktionistischen Paradigmen parallelisiert. Kinoästhetik und Daseinskampf befördern demnach auch in der Unterhaltungsliteratur eine Beschleunigung des Erzähltempos sowie eine Konzentration auf physische, äußere Inhalte statt auf geistige, seelische Zustände.29 Physich-visuelle Effekte treten an die Stelle eher psychisch-imaginärer Momente und verändern so auch die Wahrnehmungsmuster und die Aufmerksamkeitsstruktur der Leserinnen. Anders formuliert: Die Erziehung der Gefühle und Gedanken der Leser der neuen Zeit vollzieht sich nach ganz anderen Normvorstellungen als bei denjenigen, die noch im hochkulturellen „Kanon“ sozialisiert worden sind. Auch dieser Aspekt intermedialer Bezüge wird bei Čukovskij rein negativ als eine Verfalls- und Verflachungsgeschichte thematisiert, die zur Barbarisierung der Heldenfiguren und zu einer Schematisierung der Handlungsmuster führe. Dass die Kinematographie, aber auch andere neue Medien wie das Radio oder die Fotographie durchaus auch innovative Aspekte zur Erneuerung der Prosaformen sowohl in der formalen Kompositionstechnik als auch in der imaginären und fiktionalen Ausgestaltung der Texte beinhalten könnten, liegt für Čukovskij jenseits des Vorstellbaren.30 27
Vgl. hierzu Brooks: When Russian Learned to Read, S. 246–268.
28
Zum Genderaspekt dieser Imaginationen, vgl. Steinweg: Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften, S. 112.
29
Zu den Abenteuerserien der Vorrevolutionszeit vgl. Margolit, Evgenij: Der russische Film im Zarenreich und in der Zeit des Umbruchs, in: Engel, Christine (Hg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999, S. 1–16, 11f.
30
So stellte die „Kinematographie“ zwar ein beliebtes Thema für Gedichte und populäres Freizeitvergnügen unter den russischen Intellektuellen der Vorkriegszeit dar, wurde aber anfangs nicht als Kunstmedium angesehen: „Für den Kinematographen allerdings gibt es auf der Ebene der Kunst keinen Platz“, so das apodiktische Urteil von Vsevolod Mejerchol’d noch 1913. Vgl. Ingold, Felix Philipp: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik, München 2000, S. 71. Gerade die mit dem Kino und Radio verknüpfte Metaphorik der Aufklärung und Bewusstseinmanipulation, von messbaren Gedankenwellen und telepathischen Gehirnstrahlen, sollte hingegen in den zwanziger Jahren ein zentrales Phantasma für die auf Technikfantasien und Medienfiktionen bezogene Abenteuerliteratur werden. Vgl. Kapitel 4 (Experimente am Neuen Menschen).
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So lassen sich in der Polemik Čukovskijs gegen die Pinkertonovščina drei für die weitere Auseinandersetzung zentrale Aspekte ausmachen, die er phänomologisch einkreist, ohne sie jedoch analytisch fassen zu können: 1.) den Diskurs kolonialer Exotik, der zwischen Faszination für das Fremde und der Angst vor feindlichen Invasionen changiert, 2.) die populärwissenschaftlichen Moden, die Vorstellungen anderer, heterogener Welten ermöglichen und gleichzeitig beispielsweise „sozialdarwinistisch“ rassistische, diskriminierende Ausgrenzungsrhetoriken legitimieren, sowie 3.) die Medienkonkurrenz zur Kinematographie, die als neue Kunst des 20. Jahrhunderts sowohl als Zerstörerin der Hochliteratur als auch als innovatorische Erneuerin der Prosaformen rezipiert werden konnte. Nun stand Čukovskij mit dieser Polemik gegen den „Gott der Hottentotten“ keineswegs alleine dar. Vielmehr brachte er mit ihr ein Unbehagen gegenüber dem Aufkommen einer neuen, an den positiven Wissenschaften und materiellen Werten orientierten Zeit zum Ausdruck, das die russische Literatur spätestens seit der Romantik begleitet hat.31 Allerdings bewegten sich die vorangegangenen Debatten um die Herausforderungen der Moderne weiterhin innerhalb eines literarischen Feldes, an dem sowohl sozialistisch-materialistische Denker wie Pisarev und Černyševskij als auch konservativ-humanistische Dichter wie Turgenev und Dostoevskij gleichermaßen partizipierten.32 Die neue Massenliteratur der Jahrhundertwende stand hingegen von Anfang an außerhalb der eigenen sozialen und kulturellen Selbstverortung und bot sich damit geradezu an, sie als „kulturpessimistischen“ Inbegriff des gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls zu diskreditieren.33 Alle Ambivalenzen kultureller (koloniale Exotik), technischer
31
Schon Senkovskijs Erneuerung der Journalistik mit Hilfe feuilletonistischer und populärwissenschaftlicher Erzählmuster war auf massiven Widerstand gestoßen. Vgl. Polianski, Igor J.; Schwartz, Matthias: Petersburg als Unterwasserstadt. Geologie, Katastrophe und der Homo diluvii testis, Diskursive Ausgrabungen bei Senkovskij, Puškin und Odoevskij, in: Wiener Slawistischer Almanach 53 (2004), S. 5–42.
32
Die Popularisierung materialistischer und sozialdarwinistischer Narrative seit den späten 1950er Jahren führte zwar zu einer massiven Erschütterung des an humanistischen und christlichen Werten orientierten Literaturverständnisses, bewirkte aber letztlich beispielsweise in der Prosa Dostoevskijs oder später auch Čechovs innovative Neuerungen in der Gestaltung des Konflikts zwischen ethisch-moralischen Dispositiven und wissenschaftlich-medizinischen Paradigmenwechseln. Vgl. Merten, Sabine: Die Entstehung des Realismus aus der Poetik der Medizin. Die russische Literatur der 40er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Murašov, Jurij; Nicolosi, Riccardo (Hg.): Russkaja literatura i medicina. Telo, predpisanija, social’naja praktika, Moskva 2006; Sirotkina, Irina E.: Diagnosing Literary Genius. A Cultural History of Psychiatry in Russia, 1880–1930, Baltimore 2002.
33
Dies galt auch für sozial engagierte Schriftsteller und Intellektuelle, die wie die Narodniki (Volkstümler) oder der späte Lev Tolstoj versuchten, die Bauern mit billigen Broschüren und einfachen Alltagstexten aufzuklären und zu mobilisieren, für die die kommerzielle Unterhaltungsliteratur der Inbegriff westlicher, urbaner Dekadenz darstellte. Vgl. Smith, Steve; Kelly, Catriona: Commercial Culture and Consumerism, in: Kelly, Catriona; Shepherd, David: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1881–1940, Oxford 1998, S. 106–155, S. 113ff., 144ff.
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(populärwissenschaftliche Moden) und medialer (Kinematographie) Innovationen konnten als der eigenen Indentitätskonstruktion feindlich und fremd ausgegrenzt werden.34 Dass diese von Čukovskij geprägten Attribute des „Gottes der Hottentotten“ über die Zäsuren des Ersten Weltkriegs, der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges hinaus bis in die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik weiter die Rezeption der „Pinkertonovščina“ prägten, lag jedoch nicht nur daran, dass auch die nachrevolutionäre kulturelle Elite stark von den intellektuellen Dispositiven der Vorkriegszeit beeinflusst war. Maßgeblich war letztlich die umfassende Professionalisierung der Produktions- und Distributionswege des Zeitschriften- und Buchmarktes, die seit den 1860er Jahren in Russland stattgefunden hatte. Sie gewährleistete, dass die neue Massenliteratur auch wirklich ihre Leser erreichte. So konnte die „Pinkertonovščina“ von Anfang des 20. Jahrhunderts an bis Ende der zwanziger Jahre mehr als zwei Jahrzehnte lang die Herzen nicht nur der jungen Leserschaft, sondern vor allem auch der frisch alphabetisierten, agrarisch geprägten großen Masse des neuen Arbeiter- und Bauernstaates erobern, ohne dass sie dafür der intellektuellen Nobilitierung durch die Literaturkritik oder der propagandistischen Unterstützung durch die Kulturpolitik bedurfte. Es war dieses „Vermächtnis Pinktertons“, das man dann ab den 1930er Jahren versuchte mit allen administrativen und literaturpolitischen Mitteln zu bekämpfen.
1 .2 L it erat ur für d ie Mas s en – Die E n twi c klu n g d e r Ve r la g e und Zeit s chrifte n 3 5 „Alle sagten und sagen einstimmig, dass der Einfluss des Pinkertontums schädlich und verderblich ist, dass man es bekämpfen muss. Man hat auch versucht es zu bekämpfen, doch augenscheinlich war der Kampf nicht ganz erfolgreich, denn das Pinkertontum existiert fort und zeigt keine Anzeichen sterben zu wollen.“ Ivan Kubikov (1918)35
Als Kornej Čukovskij ein Jahrzehnt vor der Oktoberrevolution vor der massenweisen Invasion literarischer „Hottentotten“ warnte, konnte sich dieses neue Schreckgespenst der russischen Intelligenzija auf 34
Dieser Kulturpessismus gegenüber Phänomenen der Moderne war natürlich keine spezifisch russische Besonderheit, sondern eine insbesondere unter liberalen Intellektuellen weit verbreitete Reaktion auf enttäuschte gesellschaftspolitische Hoffnungen. Vgl. Herman, Arthur: The Idea of Decline in Western History, New York 1997, S. 13–144.
35 „Все в один голос говорили и говорят, что влияние пинкертоновщины вредно и развращающе, что
нужно с нею бороться. Пробовали и бороться, но видимо, борьба оказалась не совсем удачной, так как пинкертоновщина существует и умирать не желает.“ Kubikov, Ivan [K., I.]: Nat Pinkerton – korol’
syščikov, in: Rabočij mir 11 (1918), S. 40-42, 40. Hier und im Weiteren ist bei russischen Zitaten von vor 1918 (und in deren Transliteration) die Schreibweise der heute gültigen Orthographie angeglichen worden.
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eine breite ökonomische Basis stützten. Hatte doch die kommerzielle Buchkultur in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen mächtigen Entwicklungsimpuls erhalten und sich enorm schnell ausgebreitet.36 Beigetragen dazu hatten in erster Linie die Reformen unter Aleksandr II. in den 1860er Jahren, die sowohl ökonomisch als auch politisch durch die Lockerung der Zensurbestimmungen neue Voraussetzungen schufen.37 Innerhalb weniger Jahre eröffneten Hunderte an Verlagen ihre Betriebe, mit Hilfe moderner Dampfdruckmaschinen entstand eine professionalisierte Buch- und Zeitschriftenindustrie. Parallel zu dieser Entwicklung führten die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und die Industralisierungspolitik zu einer massiven Landflucht und zum Aufkommen einer modernen städtischen Arbeiterschaft, von der ein immer größerer Teil des Lesens kundig war. Allerdings blieb weiterhin ein Großteil der Bevölkerung analphabetisch. Noch 1897 konnten nur etwas mehr als 20 % lesen und schreiben, 1914 waren es geschätzte 40 % der Bevölkerung, wobei unter der städtischen Arbeiterschaft die Alphabetisierungsrate unter den Männern immerhin bei über 60 % lag.38 Diese wachsende Leserschaft innerhalb der unteren städtischen Schichten hatte zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Buchmarkts in eine später so genannte „Hochliteratur“ für die gebildeten Schichten und zu neuen Formen der „niederen“ Massenliteratur beigetragen. Prominentestes Beispiel hierfür war die extraorbitant wachsende Verbreitung der so genannten „Lubok“-Literatur, die sich aus den traditionellen Volksbilderbögen (Lubki) entwickelte und populäre Geschichten ganz unterschiedlicher Provenienz in anschaulicher und unterhaltsamer Form nacherzählte. Diese Literatur wurde auf billigstem Papier als Broschürhefte millionenfach aufgelegt und zumeist von Straßenhändlern für ein paar Kopeken landesweit vertrieben.39 Auch die Anzahl der Buchpublikationen stieg in dieser Zeit erheblich. Von knapp 700 Buchtiteln 1850 wuchs deren Zahl 1887 bereits auf knapp 7400 mit einer Gesamtauflage von über 24 Millionen Exemplaren.40 Verleger und Buchhändler wie Sergej Il‘ič Leuchin oder Ivan Dmitrievič Sytin (1851–1934) stiegen dank der billigen Unterhaltungsliteratur zu Großunternehmern auf, wobei sie nicht nur mit Groschenheften und Büchern, sondern auch mit Kalendern, Landkarten und jeder Art von Lehr- und Bildungsmaterialien Geschäfte machten.41 36
So hatte es noch Mitte des 19. Jahrhunderts nur eine Handvoll in Petersburg oder Moskau niedergelassene Familien- und Kleinbetriebe gegeben, die vornehnlich für das adlige und gebildetere Publikum Zeitschriften und Bücher verlegten. Vgl. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 91.
37
Cornwell, Neil; Wigzell, Faith: Literaturnost‘. Literature and the Market Place, in: Kelly, Catriona; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford 1998, S. 37–49, 47; Bljum, Arlen V.: Zensur in der UdSSR. Hinter den Kulissen des „Wahrheitsministeriums“ 1917–1929. Teil I (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur, Band 13/I), Bochum 1999, S. 26ff.
38 Brooks:
When Russia Learned to Read, S. 4. Einen Überglick zur Entwicklung des Buchwesens in dieser Zeit gibt Barenbaum, Iosif: Geschichte des Buchhandels in Russland und der Sowjetunion, Wiesbaden 1991, S. 81–112.
39
Vgl. Zor´kaja, Neja: Fol´klor. Lubok. Ėkran, Moskva 1994.
40
Für die vorindustriellen Buchdrucke vor den 1860er Jahren gibt es noch keine Auflagenzahlen. Vgl. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 61.
41
Vgl. Dinerštejn, Efim: Ivan Dmitrievič Sytin i ego delo, Moskva 2003.
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Abb 2
Zeitschriften der 1920er Jahre; Links: Titelblatt der zehntägig im Verlag Zemlja i fabrika erscheinenden Zeitschrift für Reisen und Abenteuer Vokrug sveta Nr. 8 (1930); Mitte: Titelblatt der in Petr Sojkins Verlag erscheinenden Monatszeitschrift Mir prikljucˇenij, Nr. 6 (1926); Rechts: Titelblatt der bei Krasnaja gazeta erscheinenden Zeitschrift Vokrug sveta, Nr. 3 (1928).
Ähnliche Ausdifferenzierungen fanden im Bereich der Publizistik statt, wo vor allem illustrierte Wochenzeitschriften wie Niva (Die Flur; 1870–1917), die schon in den 1890er Jahren eine Auflage von über 100.000 Exemplaren hatte, Ogonek (Das Flämmchen, 1899–1918), Priroda i ljudi (Natur und Menschen, 1889–1918) oder Vokrug sveta (Um die Welt, 1861–1868, 1885–1917) sich mit spannender Unterhaltungsliteratur und Sensationsmeldungen an ein breiteres Publikum richteten. Fast alle diese Zeitschriften begannen in den 1890er Jahren meist monatlich erscheinende eigene Literatur- und Wissenschaftsbeilagen herauszubringen, viele boten gleichzeitig mehrere Buchserien an, deren Preis im Abonnement inbegriffen war. Diese Supplemente in Buchform („приложения“) beinhalteten sowohl Werksausgaben von populären Schriftstellern, Neuauflagen als auch literarische Erstveröffentlichungen. Vokrug sveta startete beispielsweise 1911 die monatliche Literaturbeilage Na suše i na more (Zu Land und zu Wasser), die fast ausschließlich Abenteuergeschichten, Technikutopien und historische Romane druckte.42 Eine weitere wichtige Zäsur für den kommerziellen Buchmarkt bildeten dann die Reformen unter Nikolaj II. nach der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1905, die unter anderem eine vollkommene Abschaffung der Vorzensur beinhalteten.43 Die Zahl der Buchtitel erreichte 1908 bereits knapp 24.000 bei einer Gesamtauflage von 76 Millionen, 1913 stieg die Anzahl 42
Die Literaturbeilage wurde 1915 aus aktuellem Anlass in Mirovaja vojna (Weltkrieg) umbenannt, die Geschichten über den patriotischen Kampf der Slawen gegen die Deutschen publizierte, doch als die Kriegseuphorie bald nachließ, erschien sie noch bis zur Oktoberrevolution unter dem Titel Žurnal priključenij (Zeitschrift der Abenteuer). Vgl. Krutskich, K.: Russkij Kėmpbell, in: Uralskij sledopyt 8 (2000), S. 5–8.
43 Bljum:
Zensur in den UdSSR, S. 29.
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nochmals auf über 34.000 Titel mit einer Auflage von mehr als 133 Millionen.44 Den Großteil der Bücher stellten weiterhin billig hergestellte Druckerzeugnisse dar, die meist in Fortsetzungen, als Beilagen zu Zeitschriften oder in Buchserien erschienen und jetzt landesweit über die Zeitungskioske vertrieben werden konnten. Diese recht kurze Periode bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist vor allem die große Zeit der von Čukovskij so bezeichneten „Pinkertonovščina“, die ab 1908 den Markt mit jeder Art von Abenteuern und Verbrechen, Liebesromanzen und Geheimnissen, Technik- und Kriegsgeschichten überflutete. Waren beispielsweise noch 1907 lediglich 15 Fortsetzungsgeschichten über Nat Pinkerton und Sherlock Holmes in einer Auflage von 55.000 Stück herausgekommenen, sprang deren Zahl 1908 auf 341 Folgen (123 mit Pinkerton, 218 mit Holmes) mit einer Gesamtauflage von knapp sechs Millionen Exemplaren, ehe sie in den Folgejahren zwar wieder dramatisch fiel, aber 1913 immer noch 49 neue Folgen erschienen.45 Neben den fast 2000 Filmen, die in Russland zwischen 1908 und 1914 gedreht wurden, markierten sie wohl am deutlichsten das Aufkommen einer modernen Unterhaltungsund Konsumkultur in der Vorkriegszeit.46 Mit dem Ersten Weltkrieg kam dann der Buch- und Zeitschriftenmarkt in eine schwere Krise. Aber erst infolge der Oktoberrevolution mussten die meisten der populären Zeitschriften und Verlage ihr Erscheinen einstellen. Während des Bürgerkriegs 1918 bis 1920 änderte sich an dieser Situation kaum etwas. Einige der ersten Dekrete der Bolschewiki bezogen sich auf die Neuregelung des Presse- und Buchwesens, die von Anfang an mit der Wiedereinführung politischer Zensur verbunden waren und eine Verstaatlichung der größten Verlagshäuer vorsahen.47 Allerdings richteten sich diese ersten Eingriffe der Bolschewiki vor allem auf die Kontrolle der Publizistik, während andere Bereiche noch kaum reguliert wurden. Angesichts von Bürgerkrieg und Kriegskommunismus ging es vor allem um die Informationshoheit bei der politischen Berichterstattung und Meinungsbildung. Während vor dem Krieg die großen Tageszeitungen aus kommerziellen Erwägungen immer auch durch Sensationsmeldungen und Unterhaltungsrubriken versuchten möglichst breite Leserkreise zu erreichen, verschwanden neben der kommerziellen Werbung nun auch die unzähligen, häufig in Fortsetzung abgedruckten fiktionalen Abenteuergeschichten weitgehend aus den nationalisierten Zeitungen. Das knapp gewordene Papier wurde nunmehr fast ausschließlich für propagandistische und agitatorische Zwecke gebraucht.48 44
Ebd., S. 61; Ingold: Der große Bruch, S. 80. Damit hatte die russissche Buchproduktion im weltweiten Vergleich nach Deutschland die zweitgrößte Zahl an Buchtiteln auf den Markt gebracht, vgl. Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 335.
45 Bljum:
Zensur in den UdSSR, S. 366.
46
Brooks, Jeffrey: Thank You, Comrade Stalin! Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton, NJ 2000, S. XIII.
47
Vgl. hierzu Eimermacher: Einleitung, S. 27ff.
48 Brooks:
Thank You, Comrade Stalin!, S. 6–12; Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 334.
60 | Kommunistische Pinkertons
Abb 3
Abonnementwerbung für die „am weitesten verbreitete Monatszeitschrift der UdSSR“ Vsemirnyj sledopyt, mit Sämtlichen Werken von Jack London (in 48 Bänden) als Zugabe, in Vsemirnyj sledopyt, Nr. 11 (1928), S. 872–873 (Auszug).
Doch auch außerhalb der Publizistik hatte es die populäre Literatur in den Bürgerkriegsjahren schwer. Nach einem vorläufigen Verbot 1917 wurden im April 1919 sämtliche Lubok-Publikationen endgültig untersagt, wodurch viele Verleger, wie beispielsweise der erfolgreichste Buchhändler und -verleger der Vorkriegszeit Sytin, ihre Existenzgrundlage verloren.49 Zwar gab es 1917 noch einige Hundert Verlage und Periodika, doch der Großteil überstand die Folgejahre nicht. Vor allem die Gründung des neuen Staatsverlags der RSFSR (Gosizdat RSFSR) im Mai 1919 förderte diese Entwicklung, da ihm die zentralen Druckereien der verstaatlichten Verlage zugeordnet wurden und er damit das Monopol auf die Papierzuteilung an andere Verlage innehatte. Auf diese Weise konnte Gosizdat sämtliche Publikationen anderer Verlage unter Verweis auf akuten Papiermangel reglementieren. Selbst Verlage, die den Ministerien und Parteiorganisationen unterstellt waren, hatten daher während der Zeit des Kriegskommunismus massive Produktionsprobleme. Da zudem politischer Propagandaliteratur zentrale Bedeutung zukam und zeitweise zwei Drittel aller Bücher vom Staatsverlag selber herausgebracht wurden, gab es für populäre Unterhaltungsliteratur so gut wie keine Papiervorräte mehr.50 Allerdings änderte sich die Situation mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik grundlegend, die auch ein privates und genossenschaftliches Buchwesen ermöglichte. Bereits im 49
Vgl. Ruud, Charles A.: Russian Entrepreneur. Publisher Ivan Sytin of Moscow, 1851–1934, Montréal 1990, S. 178, 182. Zu Sytins weiterer Karriere als „Spec“ der Sowjetmacht vgl auch Schlögel, Karl: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne. 1909–1921, Frankfurt a. M. ²2009, S. 293–301.
50
Vgl. Bljum: Zensur in der UdSSR, S. 50f.
Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur | 61
Februar 1921 wurden 143 neue solcher privaten oder kooperativen Verlage gegründet, insgesamt existierten in der NÖP-Phase mehr als 500 nichtstaatliche Verlage.51 Auch wenn deren Anzahl in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder sank, stieg die Buchproduktion von 6000 Titeln 1918 auf über 20.000 im Jahr 1925 rapide an und erreichte bereits 1928 die Vorkriegszahlen, wobei sich die Druckauflage gegenüber 1913 mehr als verdoppelte.52 Um diese rasant wachsende Produktion effektiver kontrollieren zu können, wurde im Juni 1922 dann mit der Gründung der Hauptverwaltung für Literatur und Verlage (Glavnoe upravlenie literatury i izdatel’stv, Abk. Glavlit) auch formell eine Zensurbehörde geschaffen, die dem Volkskommissariat für Bildung unterstellt war. Diese versuchte zwar insbesondere auch auf die Kinder- und Jugendliteratur immer wieder Einfluss auszuüben, griff aber insgesamt angesichts mangelnder Personalausstattung nur recht sporadisch in die Publikationspraxis ein, so dass das Genre populärer Abenteuerliteratur in den Jahren bis 1930 noch einmal eine Blütephase erlebte, die vergleichbar mit derjenigen der Jahre von 1908 bis 1914 war.53 Angesichts der anhaltenden Popularität der „Pinkertonovščina“ unter der Bevölkerung war das politische Interesse in den ersten Jahren der NÖP-Periode daher auch nicht so sehr auf Repression gerichtet, sondern man war vielmehr bestrebt, durch die Schaffung eigener Verlage und Zeitschriften Einfluss auf die Gestaltung populärer Jugendliteratur zu nehmen. So wurde auf der 5. Sitzung des Kommunistischen Jugendverbandes 1922, auf dem Bucharin seine Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“ aufstellte, auch die Gründung eines eigenen Verlages Molodaja Gvardija (Die Junge Garde) beschlossen, nachdem man schon seit April desselben Jahres begonnen hatte, eine „literarisch-belletristische, gesellschaftspolitische und wissenschaftlich-populäre“ Monatszeitschrift mit gleichem Namen herauszugeben (1922–1941). Sowohl in dem Periodikum als auch im Verlag erschienen in den Folgejahren regelmäßig populär geschriebene Abenteuergeschichten vornehmlich mit wissenschaftlich-technischer Ausrichtung. Nach H.G. Wells’ Besuch bei Lenin startete man 1923 sogar eine eigenständige „Zeitschrift für Abenteuer“ (журнал приключений) mit dem Titel Bor’ba mirov (dt. Kampf der Welten, wie bis 1946 der rus51 Bljum:
Zensur in der UdSSR, S. 143. Im Juli 1923 waren beispielsweise 752 Verlage registriert, mehrheitlich handelte es sich um Partei-, Staats- und Gewerkschaftsverlage, doch auch 223 private und 38 kooperativ organisierte befanden sich darunter. Allein in Leningrad (Petrograd) und Moskau existierten in den 1920er Jahren mehr als 900 Verlage. Vgl. Čekryžova, N. E.: Kniga v SSSR v 1920-e gody (Glava 20), in: Balackij, Vadim N.; Kallinikov, Pavel Ju. (Hg.): Istorija knigi (Centr distancionnogo obrazovanija MGUP, 2001), http://www.hi-edu.ru/e-books/HB/index.htm (01.03.2009); Charlamov, V. I. (Hg.): Moskovskie izdateli i izdatel’stva dvadcatych godov. Ukazatel’ (2 Bde.), Moskva 1990.
52
34.000 Buchtitel erschienen 1928 mit einer Gesamtauflage von 270 Millionen gegenüber 133 Millionen im Jahr 1913. Vgl. Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 335.
53 Brooks
berichtet, dass noch 1926 lediglich 86 Zensoren insgesamt bei Glavlit eingestellt waren. Vgl. Brooks: Thank You, Comrade Stalin!, S. 4. Die von Bljum genannten Zensurbeispiele in Bezug auf Abenteuerliteratur scheinen recht zufällig zustande gekommen zu sein, eine einheitliche literaturpolitische Linie lässt sich angesichts der allgemeinen Publikationspraxis nicht erkennen. Vgl. Bljum: Zensur in der UdSSR, S. 143.
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sische Übersetzungstitel von War of the Worlds lautete) unter der Redaktion von V. Verevkin, die allerdings nach nur sechs Nummern 1924 wieder eingestellt wurde, ehe sie ab 1930 nochmals drei Jahre erscheinen konnte.54 Auch der Staatsverlag Gozisdat und die von Aleksandr Konstantinovič Voronskij (1884–1937) herausgegebene Zeitschrift Krasnaja nov’ (Rotes Neuland, 1921–1942) publizierten immer wieder leichtere Unterhaltungsliteratur, was den beiden Institutionen insbesondere von Seiten der Proletkul’t-Bewegung wiederholt scharfe Kritik einbrachte.55 Einer der produktivsten Verleger jener Jahre war Petr Petrovič Sojkin (1862–1938), der sich ebenfalls schon in der Vorrevolutionszeit einen Namen als größter Produzent populärer und populärwissenschaftlicher Literatur gemacht hatte, die in einer Vielzahl von Buchserien und Fortsetzungsheften publiziert wurde. Reihen wie die „Nützliche Bibliothek“ (Полезная библиотека), „Bibliothek zur Selbstbildung“ (Библиотека для самообразования), „Bibliothek des Wissens“ („Библиотека знания“) oder die „Bibliothek der Romane. Abenteuer zu Land und zu Wasser“ („Библиотека романов. Приключения на суше и на море“) wurden zu seinen kommerziell erfolgreichsten Projekten. Aber auch die von ihm herausgegebenen schon erwähnten Supplementbände zu seiner „Wöchentlichen illustrierten populärwissenschaftlichen Zeitschrift zur Familienlektüre und zur Selbstbildung“ (Еженедельный иллустрированный журнал для семейного чтения и самообразования) Priroda i ljudi brachten eine Vielzahl an Belletristik mit russischen und ausländischen Abenteuerromanen heraus. Nachdem sein Petersburger Verlag 1918 nationalisiert worden war, arbeitete Sojkin zunächst in staatlichen Behörden, ehe er 1922 die Erlaubnis bekam, seinen eigenen Verlag neu zu gründen und seine ehemaligen Produktionsanlagen vom Staat zurückzumieten. Sein erstes Projekt hier war die Wiedereröffnung der Monatszeitschrift Mir priključenij (Welt der Abenteuer, 1922–1930), die schon vor der Revolution als eine monatliche Beilage (1910–1917) von Priroda i ljudi vor allem westliche Abenteuerliteratur gedruckt hatte. Diese Publikation konzentrierte sich jetzt vor allem auf mit Wissenschaft und Technik verbundene Abenteuergeschichten, wohingegen koloniale Themen und Detektivgeschichten weniger wurden.56 Sehr viel breiter war das Angebot der 1922 gegründeten Staatlichen Aktionärsverlagsgesellschaft Zemlja i fabrika (Erde und Fabrik, 1922–1930), die ihre Buchproduktion von 51 Titeln 54
Vgl. Dinamov, Sergej: Sovetskij avantjurnyj roman, in: Knigonoša 36–37 (1925), S. 7–8, S. 7; Bočarov, Ju.; Ippolit, I.: Žurnaly russkie, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t., Bd. 4, Moskva 1930, S. 217–160, S. 255. Ab Anfang 1930 erschien Bor’ba mirov sogar als „Monatszeitschrift für revolutionäre Romantik, soziale Fantastik und die künstlerische Propaganda des Generalplans“ (Ежемесячный журнал революционной романтики, социальной фантастики и художественной пропаганды генерального плана), konzentrierte sich allerdings weniger auf „klassische“ Abenteuerliteratur als auf die Propaganda des Fünfjahresplans und sozialutopische Fantastik, die die zukünftigen gesellschaftlichen Segnungen des Aufbaus des Sozialismus beschrieb.
55
Vgl. Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 358.
56
Zur Verlagstätigkeit Sojkins nach der Revolution vgl. Volkova, L. L.: Kniga v Rossii vo vtoroj polovine XIX veka, in: Balackij, Vadim N.; Kallinikov, Pavel Ju. (Hg.): Istorija knigi (Centr distancionnogo obrazovanija MGUP, 2001), http://www.hi-edu.ru/e-books/HB/index.htm, 01.03.2009.
Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur | 63
1923 auf 245 im Jahr 1928 steigerte.57 Hiervon ließ sich ein großer Teil dem Abenteuergenre zuordnen, die in Buchreihen wie „Helden und Opfer der Arbeit“ (Герои и жертвы труда),58 „Die Arbeiter des Meeres“ (Труженики моря)59 oder „Flug-Erzählungen“ (Авиo-рассказы)60 als „ungewöhnliche Erzählungen“ (необычайные рассказы) aus dem Leben des arbeitenden Menschen, der Taucher oder der Leuchtturmwärter unterschiedlicher Länder und Völker erschienen.61 Die wichtigste und einflussreichste Zeitschrift des Genres wurde jedoch die im selben Verlag seit 1925 herausgegebene „illustrierte Monatszeitschrift“ Vsemirnyj sledopyt (Der weltweite Pfadfinder, 1925–1932) für Reisen, Abenteuer und Wissenschaftliche Fantastik. Sie startete mit einer Auflage von 15.000 Exemplaren, lag aber 1929 schon bei 100.000 Stück.62 Als Chefredakteur fungierte Vladimir Alekseevič Popov (1875–1942), der schon vor der Revolution in Sytins Verlag für populäre Literatur zuständig gewesen war.63 Der Vsemirnyj sledopyt knüpfte fast nahtlos an die bei Sytin verlegte Monatszeitschrift Žurnal priključenij an, von der Popov ebenfalls der Chefredakteur gewesen war, nur dass er nun neben Belletristik auch Reiseberichte und geographische Skizzen druckte. In den sieben Jahren ihrer Existenz wurde die Zeitschrift nicht nur zu einem zentralen Publikationsorgan ausländischer Abenteuerliteratur, sondern auch viele junge einheimische Autoren aus dem ganzen Land begannen hier ihre Karriere, die zum Teil noch für die 1930er und 1940er Jahre eine wichtige Rolle spielen sollten. Aufgrund des großen Erfolges ließ Popov die populärste Abenteuerzeitschrift der Vorkriegszeit, Vokrug sveta, 1927 als Monatsbeilage von Vsemirnyj sledopyt wiederaufleben. Diese unter der Chefredaktion von I. A. Uranov vier Jahre lang erscheinende Zeitschrift für Reisen und Abenteuer (Журнал путешествий и приключений) war so erfolgreich, dass sie schon 1929 auf einen zweiwöchigen Rhythmus mit 24 Nummern im Jahr und 1930 sogar auf eine zehntägige Erscheinungsweise mit 36 Nummern umgestellt wurde bei einer Auflage zwischen 250.000 und 300.000 Exemplaren.64 Fast zeitgleich machte Popov den Vsemirnyj sledopyt erneut zu einer reinen Literaturzeitschrift, während er für Reiseberichte eine Extrabeilage mit dem Titel Vsemirnyj 57
Vgl. Ionov, I.: „Zemlja i fabrika“, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 4, Moskva 1930, S. 335–337, S. 336; Der Verlag wurde 1930 mit dem Staatsverlag für Belletristik (Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudožestvennoj literatury) vereinigt, in dem noch einige von ihm herausgebrachte Titel weiter erschienen. Zur Publikationspraxis des Verlages allgemein vgl. Finkel’štejn, Aleskandr L.: Bibliofil’skie rasskazy, Moskva 2005, S. 327–337.
58
Vgl. Dinamov, Sergej [D., S.]: Kanadskij sledopyt, in: Knigonoša 15–16 (1925), S. 15.
59
Der Serientitel spielt auf den gleichnamigen Roman Les travailleurs de la mer von Victor Hugo aus dem Jahr 1866 an.
60
Vgl. Markovič, M. Ja.: Avio-Rasskazy (Pod. red. V. A. Popova), in: Knigonoša 19 (1925), S. 19.
61
Vgl. Akcionernoe izdatel’skoe obščestvo chudožestvennoj literatury ,Zemlja i fabrika‘ (Hg.): Zemlja i fabrika. Pol’nyj ukazatel’ izdanij (1922–1927), Moskva 1927, S. 156–159.
62
Vgl. ebd., S. 231–233; Ionov: „Zemlja i fabrika”, S. 337.
63
Vgl. Krutskich: Russkij Kėmpbell, S. 6ff.
64
Diese Zeitschrift existierte vier Jahre lang bis 1930. Vgl. Ebd; Akcionernoe izdatel’skoe obščestvo: Zemlja i fabrika, S. 231ff.
64 | Kommunistische Pinkertons
turist (Der weltweite Tourist, 1928–1930) gründete.65 Zusätzlich erschien als eine weitere Beilage von Vsemirnyj sledopyt ab 1927 ebenfalls monatlich die Buchserie „Bibliothek des Vsemirnyj sledopyt“ (Библиотека всемирного следопыта), die die „besten ausländischen Abenteuerschriftsteller und Fantastikschriftsteller“ (лучших иностранных писателей-приключенцев и фантастов) publizierte.66 Die in Vsemirnyj sledopyt und Vokrug sveta publizierte Belletristik machte wiederum einen wesentlichen Bestandteil der Buchneuerscheinungen von Zemlja i fabrika aus.67 Diese unter den Bedingungen der NÖP kommerziell erfolgreichen Verlagsprojekte führten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zur Gründung einer Reihe weiterer Zeitschriften und Buchreihen, die ausschließlich oder teilweise Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik publizierten. Ab Januar 1926 brachte der Verlag des kommunistischen Jugendverbandes Molodaja gvardija die „Monatliche populärwissenschaftliche und Abenteuerzeitschrift für Heranwachsende“ (Ежемесячный, научно-популярный и приключенческий журнал для подростков) Znanie – sila (Wissen ist Macht, 1926-) heraus, die sich in ihrer Textauswahl nicht wesentlich von den halbstaatlichen oder privaten Konkurrenten unterschied.68 Ein Jahr später kam am 15. Februar im Verlag des Leningrader Parteikomitees und des Leningrader Sowjets, Krasnaja gazeta (Die rote Zeitung, 1918–1939), erstmals eine „Zeitschrift für Reisen, Entdeckungen, Erfindungen und Abenteuer (Журнал путешествий, открытий, изобретений и приключений) heraus, die wie die Moskauer Beilage zum Vsemirnyj sledopyt den Namen Vokrug sveta (1927–1930) trug. Auch dieses Journal erschien von Anfang an im zweiwöchentlichen Rhythmus, ab 1929 bis zu seiner Schließung im September 1930 sogar wöchentlich. Schon im ersten Jahr verzehnfachte die Zeitschrift ihre Auflage von 10.000 auf 100.000 Exemplare am Ende des Jahres und brachte 17 Bücher als Beilagen heraus, 1928 bekamen die Abonnenten gegen einen geringen Aufpreis sogar 24 Supplementbände geliefert.69 Neben diesen auf Abenteuerliteratur spezialisierten Zeitschriften und Supplementbänden kam ab Mitte der 1920er Jahre eine Vielzahl anderer Buchreihen in fast allen großen staatlichen 65
Vgl. Zvojdin, F.: Nevypolnennoe zadanie. Illjustrirovannyj žurnal „Vsemirnyj turist“, in: Kniga i revoljucija 22 (10.12.1929), S. 46–48.
66
Akcionernoe izdatel’skoe obščestvo: Zemlja i fabrika, S. 231ff.
67
Sie erschienen in der „Bibliothek für Regionalkunde, Reisen, Abenteuer, Jagd, Sport, Erfindungen und Wissenschaftliche Fantastik“, vgl. ebd., S. 139–155; Ljapunov 1975, S. 49.
68
Auch die Anfang 1924 von Zentralkomitee des Komsomol gegründete literarisch-künstlerische illustrierte Zeitschrift Smena (dt. Der Nachwuchs) druckte seit ihrem Bestehen immer wieder Abenteuerliteratur.
69
Vgl. [Anon.]: O priloženijach k žurnalu „Vokrug sveta“, in: Vokrug sveta 1 (1927), S. 2 Umschlag; [Anon.] Kto naš čitatel’? (K itogam našej ankety), in: Vokrug sveta 24 (1927), s. 30. Diese Beilagen hatten zum Teil den Reihentitel „Zu Land, zur See und in der Luft“ („По суше, морю и воздуху“). Unter diesen Supplementbänden befanden sich 1929 gleich zwei Bücher des „Illustrierten Almanachs der revolutionären Romantik, Abenteuer und wissenschaftlichen Fantastik“ (Иллюстрированный альманах революционной романтики приключений и научной фантастики), Bor’ba mirov (dt. Kampf der Welten), der aber nach der Wiederaufnahme der gleichnamigen Zeitschrift im Verlag Molodaja gvardija 1930 nicht weiter erschien.
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und privaten Verlagen auf den Markt. Der Verlag Rabočaja Moskva (Das Arbeitermoskau) brachte bereits seit 1924 monatlich erscheinende Sammelbände unter dem Titel „Kleine Bibliothek der Revolutionsabenteuer“ (Библиотечка революционных приключений) heraus, Gosizdat hatte eine Buchreihe „Reisen und Abenteuer“ (Путешествия и приключения),70 Brokhaus-Ėfron aus Leningrad eine Buchreihe „Bibliothek der Reisen und Abenteuer“ (Библиотека путешествий и приключений),71 Zemlja i fabrika eine „Bibliothek der Abenteuer“ (Библиотека приключений), der Verlag Moskovskaja artel’ pisatelej (Krug des Moskauer Artels der Schriftsteller) hatte seit 1926 eine thematische Reihe „Romane der Abenteuer“ (Романы приключений) und die Moskovskoe tovariščestvo pisatelej (Moskauer Genossenschaft der Schriftsteller) publizierte nicht nur eine „Bibliothek der Reisen, Abenteuer und historischen Romane, Kurzromane und Erzählungen“ (Библиотека путешествий, приключений и исторических романов, повестей и рассказов), sondern ab 1927 auch einen eigenen „Almanach der Abenteuer“ (Альманах приключений), und selbst Molodaja gvardija schloss sich ab 1927 diesem Trend mit einer „Bibliothek der Abenteuerromane“ (Библиотека романoв приключений) an.72 Zur Anzahl der populären Abenteuerromane, die insgesamt in dieser kurzen Periode der 1920er Jahre erschienen sind, gibt es keine genauen Angaben, da die billigen Broschüren und unzähligen Supplementbände nur bruchstückhaft erfasst sind. Schätzungsweise sind bereits 1925 circa 200 Romane herausgekommen.73 Auch zu den Auflagenzahlen gibt es keine einheitlichen Angaben, gebundene Bücher hatten in der Regel eine Auflage von 5.000 bis 50.000 Exemplaren, die Supplementbände zu Zeitschriften kamen hingegen je nach Auflage des Magazins auf sehr viel größere Stückzahlen.74 Aufgrund einer Leserumfrage kam die Redaktion der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt und ihrer Monatsbeilage für Abenteuerliteratur, Vokrug sveta, schon 1929 zu dem Ergebnis, dass jede Nummer ungefähr von sechs Personen gelesen werde, so dass man von unge-
70
Im Jahr 1923 erschienen einige Bände mit dem Reihentitel „Bibliothek der Abenteuer“, 1926 hieß er „Reisen und Abenteuer“, ab 1927 lautete die Bezeichnung dann „Bibliothek der Reisen und Abenteuer“.
71
Vgl. Dinamov, Sergej: Biblioteka putešestvij i priključenij, in: Knigonoša 7 (1925), S. 21.
72
Hinzu kam eine Reihe an Verlagen, die ebenfalls Abenteuerliteratur ohne Zuordnung zu bestimmten Reihentitel druckten, dies waren private Verlage wie der Moskauer Verlag Pučina (Der Strudel, 1924–) von Ė. F. Minovickaja oder der Leningrader kooperative Parteiverlag Priboj (Die Brandung, 1922–1927), aber auch Staatsverlage wie Novaja Moskva (Das Neue Moskau, 1918–) oder Gosizdat. Der von Maksim Gor’kij mitbegründete Petersburger bzw. Leningrader Verlag Vsemirnaja literatura (1919–1927) brachte eine Vielzahl an Abenteuerromanen unter anderem von Conrad, Haggard, London und Wells heraus, woran Kornej Čukovskij als Herausgeber, Übersetzer und Verfasser von Vorworten großen Anteil hatte; Vgl. Bugrov: 1000 likov mečty, S. 122ff.; Kalmyk: Bibliografija zarubežnoj fantastiki.
73
Vgl. Černjak: Fenomen massovoj literatury XX veka, S. 85.
74
Die „Bibliothek der Abenteuerromane“ bei Molodaja gvardija hatte beispielsweise eine Auflage von 5.000 bis 6.000 Exemplaren,Vgl. Gosudarstvennaja Central’naja Knižnaja Palata (Hg.): Knižnaja letopis’ 1927, Moskva 1928, Nr. 17929; 1928, Nr. 1437, 3532, 16306 [des Weiteren werden Angaben aus der Bibliographie nur noch mit Kurztitel „Knižnaja letopis’“ und der jeweiligen Jahreszahl zitiert, das heißt in diesem Fall „Knižnaja letopis’ 1927“]; Finkel’štejn: Bibliofil’skie rasskazy, S. 328f.
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fähr 600.000 Lesern für den Sledopyt und 1.200.000 für Vokrug sveta ausgehen müsse, was der Leserschaft der größten Zeitungen des Landes entspräche, wobei beide Zeitschriften sowohl die Häufigkeit ihres Erscheinens als auch ihre Auflagenzahlen in der Folgezeit noch steigerten.75 Schaut man sich an, auf welche Leserschaft diese Abenteuerliteratur zielte, dann lässt sich festhalten, dass sie anfangs keineswegs wie in späteren Jahrzehnten vornehmlich von männlichen, jugendlichen Lesern rezipiert wurde. Ganz im Gegenteil handelte es sich um für die „ganze Familie“ geschriebene Texte, die von der kolonial geprägten Neugierde auf ferne Länder, fremde Sitten und exotische Naturschauspiele lebten. Das änderte sich auch nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion nicht wesentlich. So ergab eine Großstudie, die 1920 unter Rotarmisten zu deren Lektüregewohnheiten durchgeführt wurde, dass in der Belletristik in allen Altersgruppen zwischen 17 und 40 Jahren unabhängig vom Bildungsstand, Beruf und sozialer Herkunft Werke zu „Abenteuern und Reisen“ am beliebtesten waren.76 Eine Großstudie aus den Jahren 1925 und 1926 zum Leseverhalten auf dem Lande kam in Bezug auf die bevorzugte Unterhaltungsliteratur (Беллетристика для развлечения) zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wonach Abenteuerbücher unter allen Bauern eindeutig am meisten gefragt seien.77
75
Wobei diese Berechnung noch nicht einmal die Abonnentenkollektive (wie Bibliotheken, Lesezirkel u.a.) berücksichtige, bei denen ein Exemplar oft von 35, 50 oder mehr als 100 Menschen gelesen werde. Zudem habe die Umfrage ergeben, dass der Sledopyt immer häufiger laut vorgelesen werde. Die Auswertung stützte sich auf 3000 Leserantworten, 98 % davon Abonnenten. Vgl. [Red.]: Čto skazal čitatel’. Otčet redakcii ob ankete ‚Vsem. Sledopyta‘ sredi čitatelej, provedennoj v 1928 godu, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1929), S. 78–79. Vokrug sveta erschien beispielsweise 1930 schon mit einer Auflage von 250–300.000 Exemplaren (gegenüber 150–200.000 im Jahr 1928), vgl. auch Charitonov, Evgenij: Apokrify zaterkal’ja (Zapisnye knižki archivariusa), in: Fantastika 1 (2003), S. 661–692. Hinzu kommen die Millionen an Broschüren und Büchern aus der Vorrevolutionszeit, die zwar zu einem Großteil aus den städtischen und kommunalen Lesebibliotheken entfernt worden waren, aber sich weiterhin über Antiquariate und in den Haushalten bis in die 1930er Jahre noch massenweise in Umlauf befanden. Vgl. Beljaev, Aleksandr: Zoluška. O naučnoj fantastike v našej literature, in: Literaturnaja gazeta 27 (15.05.1938), S. 3.
76
Nur bei den Angehörigen der Intelligenz lagen „Romane“ knapp vor den Abenteuern, generell wirkte sich aber der Bildungsgrad nicht wesentlich auf die Beliebtheit der Abenteuer- und Reiseliteratur aus. Selbst wenn man die Kategorie Sachbuch hinzunahm, wurden „Abenteuer und Reisen“ bei Bauern, Arbeitern, Handwerkern und Handelsangestellten (тогровые служащие) aufgrund ihrer bäuerlichen Herkunft nur von landwirtschaftlicher Literatur in der Beliebtheit übertroffen, Kanzleiangestellte und Angehörige der Intelligenz bevorzugten hingegen Geschichtsbücher. Alle anderen Sachbuchkategorien, auch diejenigen zu Religion, Ethik, Politik, Medizin oder militärischen Fragen rangierten hinter den Abenteuern und Reisen. Vgl. Rybnikov, Nikolaj A. (Hg.): Massovyj čitatel’ i kniga, Moskva 1925, S. 37ff, 44ff., 47f. Insgesamt wurden in der Studie über 11.000 Fragebögen ausgewertet. Vgl. Ebd, S. 37.
77
„Die Antwort aus dem Dorf fiel in unseren Materialien entgegen unseren Erwartungen eindeutig aus. Sie zeugt von einer besonderen Beeinflussbarkeit der Bauernfantasie, die dafür durch ihre innere Klarheit besticht. Beim Bauern dominiert das Interesse für das Abenteuerbuch.“ („Ответ деревни выявился в наших материалах, против ожидания определенный. Он не свидетельствует об особой гибкости крестьянской фантазии, но зато подкупает внутренней ясностью. У крестьянина доминирует интерес к книге прключенческой.“) Sluchovskij, Michail I.: Kniga i derevnja, Moskva, Leningrad 1928, S. 109.
Die Anfänge einer neuen Unterhaltungsliteratur | 67
In einer differenzierteren Umfrage zu den beliebtesten Sachbuch- und Belletristikautoren kamen neben Karl Marx und der Bibel nur drei ausländische Namen auf die ausgewerteten ersten 23 Plätze, und zwar Verne, Mayne Reid und Alexandre Dumas, die unter den 17- bis 20-jährigen Rotarmisten sogar zusammen mit Aleksandr Kuprin mit Abstand die Spitzengruppe bildeten, während sie bei den 21- bis 28-Jährigen immerhin noch in der oberen Hälfte rangierten. 78 In den Einzelbewertungen sind diese drei Autoren zudem die einzigen, deren Werken als positive Kriterien Fantasie, Reisen, Abenteuer und Unterhaltsamkeit zugeschrieben werden.79 Diese Dominanz westlicher Autoren im Bereich der Abenteuer-, Reise- und fantastischen Literatur blieb die ganzen 1920er Jahre über bestehen.80 So kam die Redaktion des Vsemirnyj sledopyt 1929 in einer Leserumfrage für das Jahr 1928 zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die Studie von 1920. Hier war Abenteuerliteratur eine Lektüre vor allem der unteren Bildungsschichten aller Altersstufen, und die Leser forderten vor allem ausländische Autoren und Übersetzungen.81 Betrachtet man diese Entwicklungen in einem größeren Zusammenhang der Literaturpolitik der 1920er Jahre, dann lassen sich an ihnen drei Tendenzen erkennen: Erstens etabliert sich nach Einführung der NÖP recht schnell wieder eine auf Abenteuerliteratur spezialisierte Publikationslandschaft, die gegen Ende der zwanziger Jahre schon einen vergleichbaren Umfang wie in der Vorkriegszeit ausmachte; Zweitens scheint ungeachtet aller propagandistischen Versuche der Bolschewiki und einer steigenden Alphabetisierungsrate das
Eine Studie von 1923 zu den Dorfbibliotheken war schon zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, vgl. Dobrenko: Formovka sovetskogo čitatelja, S. 126f. 78 Dumas
bekam 38 %, Kuprin 34,3 %, Verne 29 %, Mayne Reid 28 %, dann erst folgte Puškin mit 22,8 % Zuspruch. Bei allen Altersgruppen zusammen genommen nehmen Tolstoj, Puškin, Gogol’, Gork’ij und Nekrasov die ersten fünf Plätze ein, während sich Verne auf Platz 17, Mayne Reid auf 21 und Dumas auf 23 der Beliebtheitsskala befindet. Dass die drei Abenteuerautoren hingegen unter den 17- bis 20-Jährigen ganz vorne stehen, liegt wahrscheinlich daran, dass insgesamt der Anteil dieser Personengruppe in der Roten Armee prozentual relativ gering war. Dass ungeachtet ihrer generellen Popularität nicht mehr, auch russische Abenteuerschriftsteller genannt worden sind, liegt vermutlich einfach daran, dass diese Literatur in den Zeitschriften, Heft- und Buchserien nicht nach Autorennamen, sondern nach Themenfeldern gekauft und gelesen wurde. Für diese Annahme spricht auch, dass ein Großteil der Antworten fehlerhaft war, weil zum Beispiel Sherlock Holmes und Pinkerton als Autoren genannt wurden. Vgl. Rybnikov (Hg.): Massovyj čitatel’ i kniga, S. 62ff., 68ff.
79
Ebd., S. 75.
80
Sluchovskij berichtet in seiner Studie zum Leseverhalten der Landbevölkerung, dass die Bauern wiederholt nach Büchern von H. G. Wells fragten, die selbst in den örtlichen Roten Ecken zu haben waren. Vgl. Sluchovskij: Kniga i derevnja, S. 110–112; In späteren Studien der 1920er Jahre zu den Lesepräferenzen wird Abenteuerliteratur nicht mehr speziell abgefragt und spielt so auch in den soziologischen Befragungen keine Rolle mehr, vgl. Brooks, Jeffrey: Studies of the Reader in the 1920s, in: Russian history (NEP. Culture, Society and Politics in the 1920s, hg. Richard Stites) 2–3 (1982), S. 187–202.
81
Demnach machten Kinder und Heranwachsende 11 %, Jugendliche 30 % und Erwachsene 59 % der Leserschaft aus. Vom Bildungshintergrund gaben 32 % der Leser die Kategorie Schüler und Studenten an, 29 % Angestellte, 14,5 % Arbeiter, 12 % Bauern, den Gewerkschafts-, Kultur- und Politikarbeitern zählten sich nur 5,4 % zu, womit diese Literatur weiterhin vor allem eine Freizeitbeschäftigung der unteren Bevölkerungsschichten blieb. Vgl. [Red.]: Čto skazal čitatel’, S. 78f.
68 | Kommunistische Pinkertons
Leseverhalten der breiten Massen, was Unterhaltungsliteratur anbelangt, weitgehend unverändert geblieben zu sein: man präferierte die Exotik ferner Länder und ungewöhnlicher Abenteuer, geschrieben von ausländischen Autoren; und Drittens lässt sich eine fortgesetzte Segregation feststellen: Während in der Vorkriegszeit Abenteuerliteratur als Fortsetzungsgeschichte oder Gratisbeilage auch in großen Tageszeitungen und Familienzeitschriften präsent war, verschwindet sie nach der Revolution weitgehend aus der Tages- und Abendpresse, ohne dass sie zeitgleich in die expandierenden Publikationsorgane für Arbeiter und Bauern Einzug hält; lediglich im Bereich der Jugendliteratur und Wissenschaftspopularisierung ist sie noch präsent.82 Im Bereich „ernsthafter“ Literatur hingegen änderte sich nichts: Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen gab es keine Berührungspunkte, und diese Ausnahmen stellten zumeist ausländische Autoren dar wie H. G. Wells, Jack London oder Ethel Vojnych.
1 .3 Abent euer im Land der Bols chew i ki – W e stli c h e B e stse lle r der NÖP-Pe rio d e 8 3 „Hm... Zum Teufel! [...] Im Übrigen, darüber müssen wir uns keinen Kopf machen... Was hat sich da für ein Pinkertontum angehäuft! Sollen das doch die Spezialisten von der Miliz klären, Rätselchen lösen, ich hab da nichts mit zu tun, ich hab mir das nicht ausgedacht. Ja sieh mal an, da ist ja schon der Genosse...“ Sergej Beljaev (1927)83
Will man eine Literaturgeschichte der Abenteuerliteratur und Science Fiction der Sowjetunion schreiben, so muss diese womöglich stärker noch als in anderen Bereichen der Belletristik unvollständig bleiben, berücksichtigt sie nicht die Flut der Übersetzungen ausländischer Autoren, die diese maßgeblich seit ihren Anfängen mitgeprägt haben. Die Bestseller der NÖP-Periode kamen
82
Diese Verdrängung aus der „öffentlichen“ Wahrnehmung versuchte man auch in den städtischen und ländlichen Bibliotheken durchzusetzen, in denen man seit Anfang der zwanziger Jahre selbst aus den Kinder- und Jugendabteilungen Abenteuerliteratur weitgehend entfernte. Vgl. Dobrenko: Formovka sovetskogo čitatelja, S. 51f., 176; Ungeachtet dessen blieb Abenteuerliteratur auch in den offiziellen Statistiken zum Leseverhalten der jugendlichen Bibliotheksnutzer die beliebteste Lektüre. Vgl. ebd., S. 70f.; Generell zu diesen literaturpolitischen Interventionen, das Leseverhalten zu regulieren, indem man die unterhaltsame „Massenliteratur“ durch eine propagandistische „Literatur für die Massen“ ersetzte, siehe ausführlich Ebd., S. 11–42.
83 „Гм... Вот черт! […] Впрочем, не нашего разума это дело... Какая пинкертоновщина свалилась! Это
уж пускaй милицейские спецы разбирают, загадочки разгадывают, я тут ни при чем, не я загадывал. Да вот, кстати, и товарищ...“ Beljaev, Sergej: Radio-mozg. Fantastičeskij roman (1927), in: Ders. Vlastelin
molnij. Naučno-fantastičeskie romany, Taškent 1990, http://books.rusf.ru/unzip/add-on/xussr_av/beylas03. htm?4/16 (23.06.2005).
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fast durchweg aus dem Ausland, und wenn sich mal eine große Tageszeitung wie die Pravda oder Izvestija oder eine „ernsthafte“ Literaturzeitschrift wie Krasnaja nov’ oder Oktjabr’ bemüßigt fühlte, einen Abenteuerroman zu rezensieren, dann handelte es sich beinahe ausnahmslos um eine Übersetzung. Die Lektüreerfahrungen der Leserschaft gründeten sich auf westeuropäische und nordamerikanische Autoren, die schon im Russischen Reich wesentlich die modernen Imaginationen von fernen Ländern, fremden „Völkern und Sitten“, ungewöhnlichen wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen sowie von maskulinen Heldenfiguren beeinflussten. Zu den meist gelesenen Autoren des Genres in Russland gehörten Ende des 19. Jahrhunderts Louis-Henri Boussenard, Fenimore Cooper, Alexandre Dumas, H. Rider Haggard, Rudyard Kipling, Robert Stevenson oder Thomas Mayne Reid.84 Neben den „klassischen“ Kolonialromanen kam seit Bestehen der populären Abenteuerliteratur immer auch die „urbane“, indigene Variante dieser Imaginationen hinzu, in der das von Außen kommende Andere als die eigentliche Gefahr im Innern der eigenen Gesellschaft konstruiert wurde, der so genannte Boulevard- oder Feuilletonroman, aus dem später auch die Detektivliteratur hervorging.85 Demnach stellte die kapitalistische Metropole, in der die Folgen von Industrialisierung, Modernisierung und Globalisierung am stärksten erfahrbar waren, einen zwielichtigen „Dschungel“ des mysteriösen Verbrechens und obszönen Lasters dar. Kriminalität, Drogen, Prostitution, „Sittenlosigkeit“ und Armut bildeten die Topoi, die als ansteckende und archaische Importe aus der imperialen Peripherie die eigene Gesellschaft „infizierten“ und drohten, nationale Traditionen und kulturelle Werte zu zerstören.86 Ehe Bram Stoker mit seiner Dracula-Figur 1897 dieser ambivalenten Mischung aus erotischer Lust und krimineller Energie, die von der kolonialen Peripherie aus die dekadente Metropole London erobert, ihre kulturgeschichtlich erfolgreichste Prägung gab,87 waren es vor allem die Feuilletonromane eines Eugène Sue (1804–1857) über die Geheimnisse von Paris (so der Titel seines bekanntesten Romans Les Mystères de Paris von 1843) oder Pierre Ponson du Terrail (1829–1871) über die Großtaten von Rocambole oder die Dramen von Paris (so der Titel der un84
Siehe hierzu auch Russell Robert: Red Pinkertonism. An Aspect of Soviet Literature of the 1920s, in: Slavonic and East European Review 3/60 (1982), S. 390–412, 391.
85
Vgl. Blagoj, Dmitrij: Bul’varnyj roman, in: Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov v 2-ch t., Bd. 1, Moskva, Leningrad 1925, S. 108–109; Walter, Klaus-Peter: Die „Rocambole“-Romane von Ponson DuTerrail. Studien zur Geschichte des französischen Feuilletonromans, Frankfurt a. M. 1986.
86
Zum engen Zusammenhang des britischen Kolonialismus und dem Aufkommen von „Detektivgeschichten“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunders vgl ausführlich Roy, Pinaki: The Manichean Investigators. A Postcolonial and Cultural Rereading of the Sherlock Holmes and Byomkesh Bakshi Stories, New Delhi 2008, S. XI–XIII, 83–113.
87 Stokers
Dracula ist von 1902 bis 1913 mehrmals ins Russische übersetzt worden, konnte aber nach der Revolution nicht mehr neu aufgelegt worden. Er hatte nachhaltigen Einfluss unter anderem auf Bogdanovs Denken und seine Marsromane Der Rote Planet und Ingenieur Mėnni, vgl. Odesskij, Michail P.: Mif o vampire i russkaja social-demokratija. Literaturnaja i naučnaja dejatel’nost’ A. A. Bogdanova), in: Literaturnoe obozrenie 3 (1995), http://www.screen.ru/vadvad/Litoboz/vamp1.htm (01.10.2008).
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vollendeten, neunbändigen Romanserie über den gleichnamigen Räuberhelden, Les Exploits de Rocambole ou les drames de Paris, 1859–1884), die auch die russischen Leser um die Jahrhundertwende massenweise in ihren Bann zogen.88 In den Jahren 1907 bis 1915 gewannen dann neben den Pinkerton- und Rocambole-Geschichten die − nach Čukovskij „spießbürgerlichen“ − Sherlock-Holmes-Erzählungen an Popularität, von denen viele ebenfalls auf die russische Wirklichkeit umgeschrieben oder gänzlich neu verfasst – im Sinne Čukovskijs „barbarisiert“ − wurden. So kämpft beispielsweise in der Geschichte Die neuesten Abenteuer des Sherlock Holmes in Russland. Das Geheimnis der Zigeunerin Steža (Новейшие приключения Шерлока Холмса в России. Тайна цыганки Стеши) von 1908 Holmes gegen die russische Rückständigkeit.89 Ebenfalls John R. Coryells in den 1880er bis 1920er Jahren geschriebene Geschichten über den „amerikanischen Sherlock Holmes“, den Detektiv Nick Carter, erfreuten sich großer Popularität, genauso wie die russischen Adaptionen der ursprünglich deutschen Pulp-Serie zu Lord Lister, genannt Raffles, der Meisterdieb.90 Zwar wurden auch zunehmend genuin russische Abenteuergeschichten produziert, wie diejenigen über Das Genie der russischen Verbrechensfahndung I. D. Putilin, doch ihre Verkaufszahlen blieben vergleichsweise gering.91 Diese Präferenz für westliche Abenteuerautoren änderte sich auch nach der Oktoberrevolution 1917 nicht grundsätzlich.92 Bereits in den ersten Jahren hatte man den verbliebenen Privatverlagen erlaubt, weiterhin Klassiker westlicher Abenteuerliteratur wie Cooper, Kipling, London, Mayne Reid oder Stevenson neu aufzulegen. Angesichts der Konzentration auf politische Propagandaliteratur während des Kriegskommunismus und aufgrund des Papiermangels wurden sie aber kaum gedruckt.93 Die Leser populärer Unterhaltungsliteratur waren auf die weiter88
Die im Feuilleton großer Tageszeitungen zuerst erschienenen Romane des „sentimental-kleinbürgerlichen Sozialphantasten“ (Marx/Engels) Eugène Sue erlebten nicht nur im 19. Jahrhundert unzählige Buchauflagen auf Russisch, sondern konnten aufgrund ihrer deutlichen Sozialkritik auch nach der Revolution bis in die 1930er Jahre weiter erscheinen, vgl. Kubikov, Ivan [K., I.]: Sju, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 tomach, Bd. 11, Moskva 1939, S. 136–139. Ponson du Terrail hingegen hatte insbesondere mit seinen Rocambole-Romanen bis 1912 immensen Erfolg in Russland, so dass der Räuber Rocambole neben dem Spitzel Pinkerton zum Inbegriff reaktionärer Unterhaltungsliteratur wurde, die nach 1917 nicht mehr erscheinen konnte. Vgl. Šrajber, N: Terrajl’ Ponson, dju, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 tomach, Bd. 11, Moskva 1939, S. 243–244; Walter: Die „Rocambole“-Romane von Ponson DuTerrail.
89
Brooks: When Russia Learned to Read, S. 146.
90
Vgl. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 306.
91
Dobryj, Roman: Ivan Putilin, genij russkogo syska (Znamenitye syščiki), Moskva 2007. Roman Dobryj war das Pseudonym Roman L. Andropovs (1876–1913), die Geschichten bezogen sich wie bei Pinkerton auf ein reales Vorbild, hier den Petersburger Chef der Kriminalpolizei Ivan D. Putilin (1830–1893). Vgl. Brooks: When Russia Learned to Read, S. 146.
92
Vgl. Friče, V.: Glavnejšie obščestvenno-literaturnye tečenija Zapada, in: Kransnaja molodež’ 3–4 (1925), S. 192–198, 192.
93
Vgl. Iškova, S. S.: K istorii izdanija detskoj knigi v pervye gody sovetskoj vlasti (1917–1921), in: Nemirovskij, E. L. (Hg.): Istorija knigi. Raboty otdela redkich knig (Gosudarstvennaja ordena Lenina Biblioteka SSSR imeni V. I. Lenina. Trudy, Bd. 14), Moskva 1978, S. 47–61, S. 59; Das Knižnaja letopis’ verzeichnet unter
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hin in großem Umlauf und in Leihbibliotheken zirkulierenden Vorkriegsausgaben angewiesen.94 Zwar versuchten literaturpolitische Aktivisten immer wieder deren Distribution einzuschränken, insbesondere indem man die Bibliotheken weitgehend von Abenteuerliteratur säuberte.95 Aber als seit 1922 die Restriktionen des Buchhandels teilweise zurückgenommen wurden, breitete sich innerhalb kurzer Zeit unter den „nicht sehr wählerischen und wenig erfahrenen“ Lesern wieder der „Import-Schund“ aus, wie Dmitrij Mirskij noch 1926 in seiner Geschichte der russischen Literatur schreibt: „Tarzan sauste durch Russland wie ein Waldbrand und ist heute dort genau so populär wie es 1908 Nat Pinkerton war.“96 „Nie zuvor seit wahrscheinlich der Zeit des jungen Gor’kij“, vermutete Viktor Šklovskij 1924 in einer Besprechung, „hat das Land solch eine massenhafte Begeisterung für ein literarisches Werk erlebt.“97 Tarzan, so hieß der bekannte Titelheld einer Fortsetzungsgeschichte des amerikanischen Autors Edgar Rice Burroughs (1875–1950), von der bis 1920 bereits acht Bände erschienen waren. Sie handeln von dem Sohn eines britischen Lords, der als Waisenkind an der afrikanischen Küste unter Affen aufgezogen worden ist. Deren erste sechs Bücher wurden in den Jahren 1922– 1924 auf Russisch publiziert.98 Insgesamt erschienen 17 Buchausgaben, die nicht nur in Privatverlagen wie in dem Petrograder Verlag A. F. Marks, sondern auch in Staatsverlagen wie Gosizdat und Novaja Moskva verlegt wurden. Aber auch von Burroughs nicht weniger populärer Barsoom‑Serie konnten noch die ersten drei Bände auf Russisch erscheinen. Sie handelt von dem amerikanischen Bürgerkriegshelden John Carter, den es auf den sterbenden Planeten Mars verschlägt, wo er mit einer degenerierten Hochkultur konfrontiert wird, in der unterschiedliche
den eingesandten Büchern für das Jahr 1918 immerhin je einen Band von Francis Bret Harte und Mayne Reid, je zwei von Jules Verne und H. G. Wells sowie gleich sieben Bücher von Jack London in Auflagen zwischen 4.000 und 15.000 Exemplaren. Vgl. Knižnaja letopis’, Petrograd 1918, Nr. 169, 1024–25, 1354– 56, 1474, 2809–10, 2814, 3437, 4123, 4681. Ein Jahr später wird London nur noch zweimal wiederaufgelegt, dafür erscheinen von Wells fünf Neuausgaben in einer Auflage zwischen 5.000 und 40.000 Exemplaren. Vgl. Knižnaja letopis’, Nr. 1179, 3749, 6550–51, 6718, 6814, 8270. 94
Vgl. Brandis, Evgenij: Ot Ėzopa do Džanni Rodari. Zarubežnaja literatura dlja v detskom i junošeskom čtenii, Moskva 1980, S. 211.
95
Vgl. Dobrenko: Formovka sovetskogo čitatelja, S. 50.
96
Mirskij, Dmitrij S.: Istorija russkoj literatury s drevnejšich vremen do 1925 goda, London 1992, S. 809.
97 „Никогда, вероятно, со времени молодого Горького, страна не переживала такого массового
увлечения литературною повестью.“ Šklovskij, Viktor [V. Š.]: Tarzan, in: Russkij sovremennik 3 (1924),
S. 253–254, S. 253. 98
Allein die ersten beiden Bücher Tarzan of the Apes (1912; Тарзан – приëмиыш обезьяны, 1922) und The Return of Tarzan (1913; Возвращение Тарзана, 1923) erlebten bis 1923 je vier Buchausgaben, gefolgt von The Beasts of Tarzan (1914; Тарзан и его звери, 1923), The Son of Tarzan (1915; Сын Тарзана, 1923), Tarzan and the Jewels of Opar (1915; Тарзан и сокровища Опара, 1924) sowie dem Erzählungsband Jungle Tales of Tarzan (1916; Приключения Тарзана в джунглях, 1923).Vgl. Kalmyk, Konstantin: Burroughs, Edgar Rice (USA), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009); Vgl. auch Clark: The Soviet Novel, S. 104.
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Zivilisationen sich in permanenter Feindschaft gegenseitig bekriegen.99 Nach massiver Kritik an dieser „Revolverliteratur im reinsten Boulevardstil“100 konnten Burroughs Werke allerdings ab 1924 bis 1989 nicht mehr in der Sowjetunion erscheinen. Mit diesem Verbot löschte man jedoch nicht den „Waldbrand“ (Mirskij), den Burroughs Tarzan-Geschichten angeblich in der postrevolutionären russischen Literaturlandschaft ausgelöst hatten, sondern reagierte lediglich auf die publizistische Aufmerksamkeit, die dieses Werk aufgrund seines enormen Erfolgs im Westen auf sich gezogen hatte. Weitgehend unbeachtet von der Kritik expandierte der Markt für ältere und aktuelle „Revolverliteratur“ aus dem Ausland weiter und prägte fast unzensiert die literarischen Vorlieben und Lesegewohnheiten auch der nächsten, frisch alphabetisierten Generation junger Leser nachhaltig für die kommenden Jahrzehnte. Neben den Klassikern der Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts wie Alexandre Dumas,101 Jack London,102 Cooper,103 Jules Verne,104 Robert Stevenson105 oder Kipling106 begann man in den
99
Diese Geschichten wurden erstmals ab 1912 in dem Pulp-Magazin The All Story publiziert, ehe sie ab 1917 auch in Buchform erschienen. Es handelt sich um die Bände A Princess of Mars (1912/1917; Дочь тысячи джеддаков, 1923), The Gods of Mars (1913/1918; Боги Марса, 1924) und The Warlord of Mars (1913– 14/1919; Владыка Марса, 1924). Diese russischen Übersetzungen über eine niedergehende Zivilisation auf dem roten Planeten bildeten dann unter anderem auch den Anlass für Aleksej N. Tolstojs spätere Beschäftigung mit dem Thema in seinem Roman Aėlita (siehe Abschnitt 3.3 dieses Buches).
100
Vgl. Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932, S. 358. Vgl. auch Šklovskij: Tarzan, S. 253.
101
Von Dumas erschien 1929 eine Werksausgabe bei Zemlja i fabrika.
102
Von Jack London erschienen allein bei Zemlja i fabrika gleich zwei Werksausgaben, eine in gebundenen Einzelausgaben 1925, eine zweite sämtliche Werke umfassende als Supplementausgabe von Vokrug sveta, die in insgesamt 48 Broschürbänden in den Jahren 1928–1929 alle zwei Wochen mit einer Auflage von 80.000 Stück gedruckt wurde. Vgl. Finkel’štejn: Bibliofil’skie rasskazy, S. 329f. Auch Gosizdat (Werke in zwölf Bänden), Mysl’, der Verlag Petrograd u.a. verlegten Londons Werke, vgl. Pranskus, B.: London, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 6, Moskva 1932, S. 572–579, S. 579. So war London in einer Umfrage 1927 sogar der populärste ausländische Autor überhaupt, vgl. Dobrenko: Formovka sovetskogo čitatelja, S. 51, 66.
103
Eine „Vollständige Sammlung der Romane“ (Полное собрание романов) hat Zemlja i fabrika in den Jahren 1922–1930 mit einem Vorwort von Maksim Gor’kij herausgebracht. Vgl. Gor’kij, Maksim: [Predislovie k knige Fenimora Kupera „Sledopyt“] (1923), in: Ders.: Sobranie sočinenij v tridcati tomach, Bd. 24 (Stat’i, reči, privetstvija, 1907–1928), Moskva 1953, S. 225–227.
104
Von Jules Verne erschien 1928 bis 1931 bei Zemlja i fabrika eine auf 24 Bände angelegte Werksausgabe, von denen 23 erschienen, sowie 1930 eine 6-bändige kostenlose Supplementausgabe zu der Zeitschrift Vokrug sveta. Vgl. Ljapunov: V mire fantastiki, S. 49f. Im Vergleich zu Wells wurde aber Verne recht selten aufgelegt, abgesehen von den Werksausgaben erschienen von ihm in den Jahren 1918–1930 nur 15 Werke in Einzelbuchausgaben. Vgl. Kalmyk, Konstantin: Verne, Jules (Gabriel) (France), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
105 Stevenson wurde in den 1920er Jahren von Gosizdat, Molodaja gvardija und Zemlja i fabrika verlegt. Vgl.
Anikst, A.: Stivenson, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 11, Moskva 1939, S. 33–36, S. 35f. 106 Kipling erschien bei Gosizdat (The Jungle Book, 1894; The Second Jungle Book, 1895; russ. Maugli. Sbornik
povestej, 1926) und Zemlja i fabrika.
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1920er Jahren auch heute weitgehend vergessene Autoren wie Gustave Aimard (1818–1883),107 Louis-Henri Bousenard (1847–1910),108 Ray Cummings (1887–1957),109 Henry Rider Haggard (1856–1925),110 Louis Jaccolliot (1837–1897),111 Henry de Graffigny (1863–1942), Georges Le Faure (1856–1953),112 André Laurie (Pseud. von Pascal Grousset, 1844–1909),113 Captain Fre-
107
In der „Bibliothek der der Abenteuerromane“ bei Molodaja gvardija erschien 1928 der Roman L’eau qui court (1863, russ. Текущая вода). Vgl. Knižnaja letopis’ 1928, Nr. 16305.
108
Bei Sojkin war vor der Revolution eine Gesamtausgabe als Supplement der Zeitschrift Priroda i ljudi erschienen (1911), nach der Revolution waren Boussenards Werke als schädliche Lektüre anfangs verboten und verschwanden aus den Bibliotheken, ehe ab 1926 seine populärsten Abenteuerromane dann doch wieder gedruckt werden konnten. Bücher erschienen unter anderem bei Zemlja i fabrika (Les Robinsons de la Guyane. Le Secret de l’or, 1882; russ. Беглецы в Гвиане. Тайна золота, 1926) und Molodaja gvardija in der „Bibliothek der Abenteuerromane“ (Les Secrets de Monsieur Synthèse, 1888; russ. Тайна доктора Синтеза, 1928). Vgl. C., S.: Bussenar, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 1, Moskva 1930, s. 630–631.
109
The Man on the Meteor (1924; russ. Человек на метеоре, 1925). Vgl. Kalmyk, Konstantin: Cummings, Ray(mond King) (USA), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992– 2009), http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
110
Von Haggard sind nach der Revolution vornehmlich seine Romane über den englischen Abenteurer Allan Quatermain verlegt worden, der die geheimen Seiten des „dunklen“ Kontinents Afrika erkundet. Sein bekanntestes Werk King Solomon’s Mines (1885; russ. Копи царя Соломона) erschien in den 1920er Jahren gleich in zwei Auflagen herausgegeben von Kornej Čukovskij 1922 und 1927, hinzu kamen Übersetzungen von Allan and the Holy Flower (1915; russ. Священный цветок, 1923 in zwei Auflagen bei Gosizdat in der „Bibliothek der Abenteuer“ und bei Nauka i prosveščenie) sowie die späten QuatermainRomane Heu-Heu, or The Monster (1924; russ. Хоу-Хоу, или чудовище, 1925) im Verlag Mysl’ und Allan and the Ice Gods (1927; russ. Ледяные боги, 1928) bei Pučina. Vgl. Kalmyk, Konstantin: Haggard, [Sir] H(enry) Rider (UK), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992– 2009), http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009). Diese Romane inspieriren später Ivan Efremov zu seinem Frühwerk, vgl. Abschnitt 13.1 dieses Buches.
111
Von Jacolliot war 1910 bei Sojkin eine Werksausgabe erschienen, nach der Revolution verlegten Molodaja gvardija und Pučina seine Abenteuerromane wie Les Ravageurs de la mer (1890; russ. Грабители моря, 1928) oder eher populärwissenschaftlichen Romane wie La Côte d’Ebèbe. Le dernier des négriers I (1876) und La Côte d’Ivoire. L’homme des déserts II (1877; russ. Берег черного дерева и слоновогй кости, 1928) in Einzelausgaben. Vgl. [Anon.]: Žakolio, in: Literaturnaja ėniclopedija v 11 t. Tom 4, Moskva 1930, S. 150.
112
Henry de Graffigny ist das Pseudonym von Raoul Henre Clément Auguste Antoine Marquis, der zusammen mit Le Faure im Stile Jules Vernes einen zweiteiligen Roman über die „extraordinären Abenteuer eines russischen Gelehrten“ namens Michail Osipov bei seinen Reisen in den Weltraum schrieb, die schon vor der Revolution mehrfach bei Sojkin aufgelegt worden waren, deren zweiter Teil nach der Revolution nochmals bei Zemlja i fabrika erscheint. Vgl. Bugrov, Vitalij [Gubin, V.]: Prošlyj vek v kosmose, in: Ural’skij sledopyt 8 (1974), S. 65–67.
113 Laurie
ist bekannt geworden als Co-Autor von Jules Verne. In der „Bibliothek der Abenteuerromane“ erschien 1927 bei Molodaja gvardija sein bekanntester Roman Les Exiles de la Terre (1887, russ. Изгнаники земли), der erstmals 1900 auf Russisch erschienen war.
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derick Marryat (1792–1848),114 Maurice Renard (1875–1939),115 Emilio Salgàri (1862–1911)116 oder Georges Gustave Toudouze (1877–1972)117 neu aufzulegen. Zu den meistaufgelegten Autoren jener Jahre, deren Abenteuergeschichten nicht nur in unzähligen Einzelausgaben erschienen, sondern die alle auch eine eigene Werksausgabe bekamen, zählten Francis Bret Harte (1836–1902),118 James Oliver Curwood (1878–1927),119 O. Henry (Pseud. von William Sydney Porter, 1862–1910),120 Thomas Mayne Reid (1812– 114
Nachdem vor der Revolution eine Ausgabe sämtlicher Werke bei Sojkin erschienen war, wurden Ende der 1920er Jahre noch einige seiner bekannteren Abenteuerromane wie Mr. Misthipman Easy (1836, russ. Мичман Изи, 1927), Maerman ready or the Wreck in the Pacific (1841, russ. Крушение „Великого океана“, 1928) oder The Little Savage (1848, russ. Маленький дикарь, 1927) neu aufgelegt. Vgl. Levit, T.: Marriėt, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 7, Moskva 1934, S. 20–21.
115
Von Renards fantastischen Abenteuergeschichten erschienen einige Erzählungen im Vsemirnyj sledopyt, während seine Romane unter anderem im Verlag Pučina gedruckt wurden, so zum Beispiel Le Docteur Lerne, Sous-Dieu (1908; russ. Новый зверь (Доктор Лери), 1923), Lui? Histoire d’un Mystère (1927; russ. Кто?, 1928) oder das zusammen mit Albert Jean geschriebene Werk Le Singe (1924, russ. Загадка Ришара Сегюра, 1927). Kalmyk, Konstantin: Renard, Maurice (France), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
116 Bei
Molodaja gvardija in der „Bibliothek der Abenteuerromane“ erschienen beispielsweise von ihm L’Uomo di Fuoco (1904, russ. Человек огня, 1927) und I Pescatori di Trepang (1896, russ. Ловцы трепанга, 1928). Vgl. Knižnaja letopis’ 1927, Nr. 17929; 1928, Nr. 3532.
117
L’Éveilleur des volcans (1927; russ. Разбудивший вулканы, 1927) Vgl. Kalmyk, Konstantin: Toudouze, Georges-G(ustave) (France), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
118
Von Harte waren vor der Revolution schon vier Werksausgaben erschienen bei verschiedenen Verlagen, ab 1925 wurden dann von ihm Dutzende Abenteuerromane in Einzelauflagen aufgelegt und die zweimal im Monat im Verlag Krasnaja gazeta erscheinende „Illustrierte gesellschaftspolitische und literarischbelletristische Zeitschrift“ Kransnaja panorama (1923–1930) brachte 1928–1929 eine Ausgabe sämtlicher Werke in zwölf Supplementbänden in einer Auflage von je 50.000 Exemplaren heraus. Vgl. die entsprechenden Jahrgänge von Knižnaja letopis’ sowie Š, L.: Bret-Gart, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 1, Moskva 1930, S. 580–582.
119
1926 kündigt der Verlag Krug Curwoods Золотая долина an Vgl. Anzeige des Verlags in Voronskij, Aleksandr: Literaturnye zapisi, Moskva 1926, S. 168.
120
O. Henrys nur zum Teil der Abenteuerliteratur zuzurechnende Kurzgeschichten sind seit 1923 in unterschiedlichen Verlagen fast vollständig ins Russische übersetzt worden, der Leningrader Verlag Mysl’ gab seine Werke sowohl in Einzelausgaben als auch in einer achtbändigen Werksausgabe (1924–1925) heraus, Gosizdat druckte 1926 ebenfalls neben Einzelausgaben eine vierbändige Ausgabe gesammelter Werke, die auch Boris Ėjchenbaums längeren Artikel O. Henry und die Theorie der Novelle (O. Genri i teorija novelly) von 1925 beinhaltete. Vor allem seine Cowboy-Geschichten aus dem Wilden Westen mit der populären Figur Cisco Kid (The Heart of the West, 1907; russ. Ковбои, 1926 bei Gosizdat) sowie seine Short Stories über die „banana republics“ Lateinamerikas wurden immer wieder aufgelegt. Vgl. Dinamov, Sergej: Genri, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 2, Moskva 1929, S. 462–464; Kalmyk, Konstantin: O. Henry (USA), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
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1883)121 und Arthur Conan Doyle (1859–1930),122 wobei Conan Doyle nicht nur als Autor von Sherlock Holmes, sondern auch aufgrund seiner nicht weniger populären Abenteuerserie über den egozentrischen Naturforscher Professor Challenger in fast allen großen Verlagen gedruckt wurde.123 Conan Doyles letzter Roman The Maracot Deep (1927, russ. Глубина Маракота, 1927) sowie die späten Challenger-Erzählungen When the World Screamed (1928, russ. Когда мир завопил, 1928) und The Disintegration Machine (1929, russ. Дезинтегратор Немора, 1929) wurden teils nur wenige Wochen nach ihrer Erstveröffentlichung auf Englisch teils zeitgleich parallel in den Zeitschriften Mir priključenij, Vokrug sveta und Vsemirnyj sledopyt publiziert.124 Einen mehrfachen Ausnahmefall stellten Ethel Lilian Voynich (1864–1960) und H. G. Wells dar, da beide nicht nur kommerziell extrem erfolgreich waren, sondern auch als politisch oppor121
Nachdem von Mayne Reid in der Vorrevolutionszeit schon drei Werksausgaben erschienen waren und die Verlage Sytin und Sojkin ihn massenhaft aufgelegt hatten, brachte nach der Revolution Zemlja i fabrika 1929 und 1930 nochmal eine 24 Bände umfassende Werksausgabe heraus, die viele, auch zum Teil bislang noch nicht übersetzte Werke enthielt. Unter anderem erschienen hier Run Away to Sea. An Autobiography for Boys (1858; russ. На невольничьем судне, 1929), The War Trail or The Hunt of the Wild Horse (1857; russ. Тропа войны, 1930) und The Rilfe Rangers or Adventures of an Officer in Southern Mexico (1850; russ. Вольные стрелки, 1930). Vgl. [Anon.]: Rid T.-M., in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 9, Moskva 1935, S. 665–667; Červonnyj, S. M.: Po sledam kapitana Majn Rida (1996), in: Domašnaja stranica Boris Berdičevskogo, http://www.borisba.com/litlib/online/cherv.html, 01.03.2009.
122
Sowohl von Curwood als auch von Conan Doyle brachte die Zeitschrift Vokrug sveta 1928 eine jeweils achtbändige kostenpflichtige Supplementausgabe heraus. Vgl. [Anon.]: Vokrug sveta v 1928 g. daet svoium čitateljam dopolnitel’nym platnym priloženijam lučšie proizvedenija trech mirovych avtorov: A. Konan-Dojlja, D. Kėrvuda i G. Uėllsa, in: Vokrug sveta 24 (1927), S. 2 Umschlag.
123
Von Conan Doyle war schon vor der Revolution neben drei weiteren Werksausgaben eine Ausgabe sämtlicher Werke in 22 Bänden als kostenlose Beilage von Priroda i ljudi bei Sojkin erschienen, nach 1917 hatte er Neuauflagen in fast allen großen Verlagen, u.a. bei Gosizdat, Izvestija CIK SSSR i VCIK, A. F. Marks, Priboj, Krasnaja Gazeta und Zemlja i fabrika. Vgl. Lann, E.: Doyl’, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 3, Moskva 1930, S. 343–345; Kalmyk, Konstantin: Doyle, [Sir] Arthur (Ignatius) Conan (UK), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009) http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
124
Nach der Erstveröffentlichung in der New Yorker Zeitschrift The Saturday Evening Post im Oktober 1927 begann beispielsweise Vokrug sveta schon Mitte desselben Monats The Maracot Deep in Fortsetzungen abzudrucken, im November 1927 folgten Mir priključenij und im Januar 1928 Vsemirnyj sledopyt mit eigenen Abdrucken. Der Abenteuerroman bietet eine neue Version über die Entdeckung von Atlantis an. Der zweite Teil des Romans erschien unter dem Titel The Lord of the Dark Face im April 1929 erstmals im britischen The Strand Magazine und bereits in gekürzter Form in der Mai- und Juninummer von Vsemirnyj sledopyt in Übersetzung (jetzt unter dem Übersetzungstitel Маракотова бездна. 2 часть.). Eine Buchausgabe des gesamten Romans konnte dann genauso wie eine geplante Neuauflage von The Adventures of Sherlock Holmes (1892) in der zweiten Jahreshälfte 1929 nicht mehr erscheinen, da sämtliche Werke des Autors für die nächsten Jahre von der Zensur verboten wurden, verdächtigte man Conan Doyle doch aufgrund seiner Propagierung des Spiritismus des Okkultismus und des Mystizismus. Vgl. Kalmyk: Doyle; Aleksov, G.: „Vsemirnyj sledopyt“, in: Kniga i revoljucija 24 (30.12.1929), S. 48–51, S. 50.
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tun galten. Voynich verdankte ihren Ruhm eigentlich nur einem einzigen Werk, und zwar der Stechfliege (The Gadfly, 1987), das schon 1900 das erste Mal ins Russische übersetzt worden war, aber erst aufgrund seiner Konfiszierung 1905 durch die zaristische Zensur sich schnell zu einem Lieblingsbuch der politischen Untergrundbewegung und von sozialistischen Parteiaktivisten entwickelte, beschrieb es doch mit revolutionärem Pathos den Widerstand des „Jungen Italien“ gegen die Habsburger Monarchie gleichermaßen wie die Rebellion der Jugend gegen Kirche, Tradition und überkommene Gesellschaftsstrukturen.125 Dieses Werk erlebte schon im vorrevolutionären Russland Dutzende, häufig stark zensierte Auflagen, nach der Revolution erschien es dann ungekürzt gleich in mehreren Übersetzungen, wurde 1928 erstmals verfilmt und blieb in der Sowjetunion bis zu deren Ende einer der populärsten ausländischen Romane, während die Autorin im Westen bereits längst vergessen war.126 Wells wiederum wurde infolge seiner sozialistischen Ansichten und seiner Besuche Lenins (1920)127 und Stalins (1934)128 fast vollständig aufgelegt und ist wahrscheinlich einer der meist publizierten lebenden ausländischen Autoren der 1920er und 1930er Jahre überhaupt gewesen.129 Nachdem es schon vor dem Ersten Weltkrieg zwei Ausgaben gesammelter Werke von ihm gegeben hatte, erschienen nach der Revolution gleich drei Werksausgaben in den Jahren 1918 (vier Bände in Sojkins schon verstaatlichtem Verlag), 1924–26 (elf Bände herausgegeben von Evgenij Zamjatin im Leningrader Verlag Mysl’) und 1930 (sechs Bände als Supplementbände zum Vsemirnyj sledopyt) sowie eine „Vollständige Sammlung der fantastischen Romane“ 1929–1931 (15 Bände bei Zemlja i fabrika). Hinzu kommen Hunderte an Buchausgaben, Sammelbänden und 125
Vgl. Taratuta, Evgenija: Po sledam „Ovoda“, Moskva ²1967, S. 3–13.
126
The Gadfly wurde allein innerhalb der Sowjetunion in 18 Landessprachen übersetzt, wohingegen die Fortsetzungsbände Jack Raymond (1901), Olive Latham (1904) und An Interrupted Friendship (1910), obschon sowohl vor als auch nach 1917 mehrmals übersetzt und neu aufgelegt, kaum beachtet wurden. Vgl. [Anon.]: Vojnič, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t. Tom 2, Moskva 1929, S. 276–277; Im Jahr 1955 im Zusammenhang mit einer Neuverfilmung des Romans (Regie: Aleksandr Fajncimmer, Filmmusik: Dmitrij Šostakovič) wurde die in New York lebende vollkommen vergessene Schriftstellerin durch sowjetische Journalisten wieder entdeckt, was dem Roman eine weitere Erfolgswelle bescherte und ihn auch zur Schullektüre machte. Vgl. Taratuta: Po sledam „Ovoda“, S. 48–64.
127
Über diesen zweiten Russlandbesuch nach einer ersten Reise 1914 schrieb Wells eine Artikelserie im The Sunday Express, die noch im gleichen Jahr unter dem Titel Russia in the Shadows auch in Buchform erschien.
128
Das Gespräch erschien sowohl in der Sowjetunion und England umgehend. Vgl. Stalin, Josif: Beseda s anglijskim pisatelem G. D. Uėllsom, 23 ijulja 1934 u., Moskva 1935; Stalin, Joseph; Wells, H. G.: Marxism vs. Liberalism. An Interview, London 1934. Sein Treffen mit Stalin hat Wells zudem in seiner im gleichem Jahr erschienenen autobiografischen Schrift Experiment in Autobiography (1934) beschrieben.
129
Allerdings sorgte die weite Distribution von Wells Werken bis in die Roten Ecken der ländlichen Institutionen auch für einige Verwirrung, rezipierten die bäuerlichen Leser doch seine fantastischen Romane und Sozialutopien häufig als realistische Beschreibungen wahrhafter Begebenheiten. Sluchovskij berichtet in seiner Studie zum dörflichen Leseverhalten, dass selbst ein Dorfkorrespondent den Inhalt von War of the Worlds für eine historische Tatsache hielt. Vgl. Sluchovskij: Kniga i derevnja, S. 110ff.
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Zeitschriftenpublikationen. Allein The Time Machine ist 1918 bis 1935 zwölfmal in Buchform aufgelegt worden, War of the Worlds im gleichen Zeitraum zehnmal.130 Vergleicht man die Anzahl der Übersetzungen mit der Anzahl an Werken einheimischer Abenteuerliteratur, so lassen sich zusammenfassend zwei Tendenzen für die zwanziger Jahre feststellen. Nachdem es in den ersten Jahren nach der Revolution noch kaum sowjetische Autoren gibt, die in dem Genre schreiben, ändert sich das mit der Etablierung einer ausdifferenzierten Buch- und Zeitschriftenlandschaft ab Mitte der 1920er Jahre ein wenig. Seitens der Zeitschriften- und Verlagsredaktionen bemüht man sich ähnlich wie in der Vorkriegszeit, einheimische Autoren zu fördern und einige von ihnen können auch einen vergleichbaren Erfolg wie ihre westlichen Kollegen aufweisen.131 Parallel zu dieser Förderung junger sowjetischer Abenteuerschriftsteller dominiert aber eine zweite Tendenz, die durch ein rapides Wachstum übersetzter Abenteuerliteratur insbesondere gegen Ende der 1920er Jahre gekennzeichnet ist. Denn nur so lassen sich die Seiten der ständig steigenden Anzahl an entsprechenden Publikationsorten und Buchreihen auch füllen.132 Ging es in den ersten Jahren der NÖP-Periode jedoch vor allem darum, die Nachfrage nach den vergriffenen Klassikern und Bestsellern des vergangenen Jahrzehnts zu stillen, konzentrieren sich die Redaktionen nun zunehmend darauf, Neuerscheinungen populärer Unterhaltungsliteratur über Wissenschaft, Abenteuer und Reisen möglichst zeitnah, manchmal innerhalb weniger Monate und Wochen zu übersetzen.133 Betrachtet man die Auswahl der übersetzten Abenteuerliteratur, dann zeichnen sich ungeachtet der dominierenden Kontinuität in der Publikation von Abenteuerliteratur hier doch einige 130
Vgl. Zabludovskij, M.: Uėlls, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t., Bd. 11, Moskva 1939, S. 630–634; Kalmyk, Konstantin: Wells, H(erbert) G(eorge) (UK), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009), http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
131
Vgl. hierzu die Abschnitte zu Pavel Bljachin, Leonid Ostroumov (2.2), Mariėtta Šaginjan (3.2) und Aleksander Beljaev (4.3) in diesem Buch.
132
Noch 1928 macht von knapp 300 übersetzten Werken im Bereich der Belletristik die Kategorie „Abenteuer und Fantastik“ knapp 20 Prozent aus und ist damit knapp hinter der gegenwartsbezogenen schönen Literatur platziert. Unter den neun meistübersetzten Themenfeldern rangieren aber auch noch „Imperialistischer Krieg und Revolution“ (Platz 5), „Historische Romane und Kurzromane“ (6) und „Aus dem Leben in den Kolonien“ (7), die unter Umständen ebenfalls zum Bereich der Abenteuerliteratur gezählt werden können. Unter massivem literaturpolitischen Druck halbiert sich 1929 der Anteil von „Abenteuer und Fantastik“ auf zehn Prozent, liegt damit aber immer noch auf dem 4. Platz. Vgl. Veberg, V.: Inostrannaja chudožestvennaja literatura 1928–1929 g., in: Kniga i revoljucija 24 (30.12.1929), S. 38–41, S. 38f.
133
So schreibt beispielsweise Vitalij Bugrov: „In den zwanziger Jahren wurde unser Buchmarkt buchstäblich überschwemmt von einer Flut an übersetzter Belletristik, – um sich davon zu überzeugen, reicht der Blick in einen beliebigen Buchhandelskatalog der damaligen Zeit. In dieser Flut an Werken gingen die wirklich bleibenden inmitten der Fülle an übersetzter Schundlektüre unter.“ („В двадцатые годы наш книжный рынок был буквально захлестнут потоком переводной беллетристики, – чтобы убедиться в этом, достаточно просмотреть каталог любой из книжных баз того времени. В этом потоке произведения действительно стоящие попросту терялись среди изобилия переводного бульварного чтива.“) Vgl. Bugrov: 1000 likov mečty, S. 164.
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entscheidende Verschiebungen in der Publikationspraxis ab. Zum einen erschienen die „barbarisierten“ Formen – die „klassischen“ Pinkerton-Romane –, die in Form billiger Groschenhefte bekannte Stoffe und Heldenfiguren adaptierten und umschrieben, nach der Revolution nicht mehr. Zum anderen wurden eindeutig zum rechten politischen Flügel tendierende Autoren und Werke, die subalterne Bevölkerungsschichten oder -gruppen offen diskriminierten und keinerlei kritischen Impetus gegenüber Imperialismus und Kapitalismus erkennen ließen, nicht mehr gedruckt.134 Doch ungeachtet dieser Limitierung blieben auch die meisten der publizierten Autoren und Abenteuergeschichten – selbst H. G. Wells wissenschaftliche Romanzen (scientific romances) – in enger Verbindung mit der imaginären kulturellen Geografie der großen englischen und französischen Kolonialstaaten. Und diese druckte man, obwohl ihre Poetik – wie immer wieder festgestellt wurde – eindeutig von imperialen Vorurteilen und bürgerlichen Wertvorstellungen bestimmt war, eine Poetik, die sich auch durch redaktionelle Bearbeitungen und Kürzungen nicht wesentlich verändern ließ. Das hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen hatte das Thema Antikolonialismus für die junge Sowjetunion außenpolitisch noch eine weit geringere Konjunktur als etwa in den 1950er und 60er Jahren und man bediente sich innenpolitisch sogar stellenweise einer ähnlichen kolonialen Rhetorik in Bezug auf indigene sibirische und kaukasische Bevölkerungsgruppen.135 Zum anderen spielten kommerzielle Erwägungen der Verlage eine Rolle, da selbst die Partei- und Staatsverlage im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik marktwirtschaftlichen Mechanismen unterworfen waren. Um es sich leisten zu können, massenweise politische Propagandaliteratur und anspruchsvollere Belletristik zu drucken, brauchte man auch leicht verkäufliche Titel. Zur Rechtfertigung dieser Doppelstrategie zwischen Propaganda und Kommerz schuf man gewisse politische Legitimationsnarrative, die Neuauflagen und Erstveröffentlichungen westlicher Abenteuerliteratur rechtfertigen sollten. Diese in Vor- und Nachworten, aber auch in Rezensionen und Kritiken formulierten Legitimationsnarrative setzten sich vor allem aus zwei Elementen zusammen: Zum einen versuchte man eine in den Werken anzutreffende Kritik an der imperialistischen Herrschaft nachzuweisen und zum anderen wurde immer wieder die auf wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen zielende Neugierde der Haupthelden betont.136 Denn tatsächlich kam kaum eines dieser 134
Zu den Direktiven zur Entfernung entsprechender Literatur aus den Bibliotheken, vgl. Dobrenko: Formovka sovetskogo čitatelja, S. 174f.
135
Vgl. hierzu Abschnitt 2.3 dieses Buches.
136
So schreibt beispielsweise Maksim Gor’kij 1923 in seinem Vorwort zu Coopers Pathfinder: „Ein Erforscher der Wälder und Steppen der ‚Neuen Welt‘, der in ihnen Wege für die Menschen ebnete, die ihn dann als Verbrecher verurteilten dafür, dass er ihre eigennützigen Gesetze verletzte, die seinem Freiheitsgefühl unverständlich waren. Er widmete sein ganzes Leben lang der großen Aufgabe die materielle Kultur im Land der wilden Menschen geographisch auszubreiten, doch erwies sich als unfähig unter den Bedingungen dieser Kultur zu leben, für die er das erste Mal die Pfade gefunden hatte.“ („Исследователь лесов и степей ‚Нового света’, он проложил в них пути для людей, которые потом осудили его как преступника за то, что он нарушил их корыстные законы, непонятные его чувству свободы. Он всю жизнь бессознательно служил великому делу географического распространения материальной
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Werke ohne die Referenz auf sensationelle Entdeckungen oder rätselhaft verlaufene Forschungsexpeditionen aus, während gleichzeitig die repressive Realität der Kolonialregime oder der Verfall der eigenen Zivilisation häufig ohne jegliche Illusion dargestellt wurde. Und gerade diese beiden Aspekte sozialer Kritik und wissenschaftlicher Hybris, die letzten Geheimnisse der Menschheitsgeschichte enträtseln und sich die Natur untertan machen zu können, wurden immer wieder in Vorworten und Rezensionen zur Rechtfertigung herangezogen, weswegen diese Werke auch in der nachrevolutionären Zeit ihre Existenzberechtigung hätten.137 So war es ausgerechnet Kornej Čukovskij, der in seiner Arbeit als Lektor und Übersetzer der Buchreihe „Vsemirnaja literatura“ beim Verlag Gosizdat versuchte, die „hochliterarischen“ Qualitäten angloamerikanischer Abenteuerliteratur in scharfer Abgrenzung zu ihren „barbarisierten“ Varianten der Groschenhefte hervorzuheben und sie in den Kanon einer „Weltliteratur“ zu integrieren. In einem Vorwort zur Neuausgabe von Haggards King Solomon’s Mines hebt er beispielsweise 1922 hervor, dass dessen einziges wirkliches Verdienst seine „schöpferische, unerschöpflich-erfinderische“ Fantasie („фантазия творческая, неисчерпаемо-изобретательная“) sei, mit deren Hilfe er sich ein „Zauberreich“ („волшебное царство“) rätselhafter märchenhafter Länder geschaffen habe, außerhalb dessen er aber niemanden und nichts sehe.138 Ähnlich akzentuierte die Kritik auch ihre Bewertung für einen weiteren Bestseller der 1920er Jahre, für Pierre Benoits (1886–1962) Roman L’Atlantide (1919, russ. Атлантида), der von 1922 bis 1927 in insgesamt sechs Buchausgaben auf Russisch erschien.139 Dieser Abenteuerroman erzählte von dem Oberleutnant André des Saint-Avit der französischen Kolonialarmee, der im nordafrikanischen Hoggar-Massiv auf die Nachkommen des legendären Atlantis von Platon trifft. In einem unheimlichen Höhlenpalast im Berginnern gerät Saint-Avid in den tödlichen Zauber der dämonischen Herrscherin Antinea, die ihre Geliebten in Höhlen gefangen hält und für ihre Zuneigung das Leben der ihr verfallenen Männer verlangt. Der Kontrast zwischen dem öden und repressiven Alltag der Kolonialverwaltung und dem an Wahnsinn grenzenden Forscherdrang sowie den tödlichen Wunschfantasien über die unwiderstehliche Femme fatale im культуры в стране диких людей и – оказался неспособным жить в условиях этой культуры, тропинки для которoй он впервые открыл.“) Gor’kij: [Predislovie k knige Fenimora Kupera „Sledopyt“], S. 226. 137
Vgl. zum Beispiel die Rezensionen zu Werken von Verne und London, vgl. Loks, K.: Gerbert Uėlls. Neugasimyj ogon’ [The Undying Fire, 1919], in: Pečat’ i revoljucija 2 (1923), S. 225–226; B-ev, Sergej: Džek London, in: Knigonoša 2 (1926), S. 11–12; fehlte dieser „progressive“ Aspekt, führte das zu scharfen Verrissen, wie beispielsweise bei der Übersetzung des fantastischen Abenteuerromans L’étonnant voyage de Haréton Ironcastle (1922, russ. Удивительное приключение Гектора Айронкестля, 1924) von J.-H. Rosny aîné, vgl. M.: Ž. A. Roni (staršij). Udivitel’noe priključenie Gertona Ajronkestlja [Rez.], in: Knigonoša 7 (1925), S. 23.
138
Vgl. Čukovskij, Kornej: G. R. Chaggard. Kopi Carja Solomona (1922), in: Ders.: Sobranie sočinenij v 15 tomach. Tom 3. Vysokoe iskusstvo. Iz anglo-amerinanskich tetradej, Moskva 2001, S. 531–533, S. 532f.
139
Vgl. Anisimov, I.: Benua, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t., Bd. 1, Moskva 1930, S. 449–450; Kalmyk, Konstantin: Benoit, (Ferdinand Marie) Pierre (France), in: Ders.: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk (1992–2009), http://bibliograph.ru/0start.html (1.3.2009).
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Stile von Haggards Roman She – A History of Adventure (1887) machen hier die Spannung des Romans aus.140 Gerade der aus dieser Spannung entstehende „hypnotisierende, narkotische Eindruck“ (гипнотизирующее, наркотическое впечатление) des Romans aber, der ganz darauf aus sei mit seinem „wahnsinnigen Begehren“ („безумным желанием“) den Leser zu vergiften, führt den Rezensenten der Pravda dazu, Benoit positiv zu loben, sei dessen Prosa doch diametral den aktuellen Tendenzen der russischen Kunst entgegengesetzt: „Der Autor versucht im Leser das Interesse an blühenden Feldern abzutöten, ihn zu überzeugen, dass das Leben nichts wert ist im Vergleich zu einem kurzem, aber intensiven Genuss, selbst wenn es den Tod nach sich ziehen würde.“141 Denn mit dieser Lebenseinstellung zeige das mit „großer Meisterschaft und Spannung“ (с большим мастерством и увлекательностью) geschriebene Werk ein wesentliches „Merkmal der Stimmung der degenerierenden französischen Gesellschaft“ (показатель настроения дегенерирующего французского общества).142 Was in Čukovskijs Polemik gegen das Pinkertontum noch als Verfallssymptom der eigenen Gesellschaft des späten Zarenreichs verworfen wurde, wird hier als Beleg für den Verfall der fremden imperialistischen Gesellschaft insofern positiv hervorgehoben, als den Autoren ein sozialdiagnostisches Gespür für die Gebrechen der „verfaulenden“ Kolonialordnung zugeschrieben wird. Gerade die Koppelung imperialer Fantasien mit sozialdarwinistischen Erklärungsmodellen, von kolonialer Exotik und zivilisatorischer Dekadenz, narkotisiertem Individualismus und gesellschaftlicher Degeneration zeichnet demnach die westliche Abenteuerliteratur als eine Darstellung anderer Welten aus, die sich fundamental von der eigenen sowjetischen Wirklichkeit unterscheiden. Auch in den ab Ende 1922 beginnenden Versuchen, einen kommunistischen Pinkerton zu schaffen, spielte diese Perspektivverschiebung eine entscheidende Rolle, eröffnete sie doch unterschiedliche Optionen zur Neuausrichtung des Genres, die von politisierten Adaptionen bis zu unterhaltsamen Parodien der „klassischen“ Abenteuernarrative reichten. Die Frage, ob dieser kritische Blick der Herausgeber und Rezensenten westlicher Abenteuerwerke aber auch derjenige der Leser war, stellte bis auf die Aktivisten des Proletkul’t in den 1920er Jahren noch kaum jemand.143 Diese Frage gewann erst gegen Ende des Jahrzehnts wieder 140
Vgl. Benoit, Pierre: Atlantis. Roman (1919) Wien o. J.
141 „Автор пытается угасить в читателе интерес к цветущим полям, убедить его, что жизнь ничего не
стоит в сравнении с кратким, но острым наслаждением, хотя бы за ним и следовала смерть.“ L’vov,
Nikolaj: P’er Benua. „Atlantida“. Izdanie Vsemirnaja Literatura, in: Pravda 236 (19.10.1922), S. 6. 142 Ebd. 143 Ledliglich
Lev Lunc nahm Benoits Atlantis-Roman in seinem provokativen Vortrag Nach Westen! (На запад!) Ende 1922 zum Anlass, um auf eben diese Diskrepanz zwischen offizieller Rezeption und verbotenen Vorlieben hinzuweisen, denn das, was man dem Westen als bürgerliche Dekadenz unterschiebe, stelle auch die eigene heimliche Lieblingslektüre dar: „Dieser Roman ist mit außerordentlicher Begeisterung aufgenommen worden. Einer in letzter Zeit nicht gekannten./ Die ganze russische Kritik hat sich gegenüber dem Roman gleich verhalten. Der Erfolg von ‚Atlantis‘, – ist ein Anzeichen für das Scheitern der westlichen bourgeoisen Kultur. Der Westen verfällt. Erschöpft vom Krieg, sucht er Erholung in der Exotik und in abenteuerlichen Lappalien, die ihn weit weg von der harten Wirklichkeit füh-
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literaturpolitische Bedeutung, als es darum ging, dieser leichten Unterhaltungsliteratur ihre Existenzberechtigung grundsätzlich streitig zu machen. Bis dahin blieb man bei dem Ziel, die womöglich hinter den Legitimationsnarrativen sich verbergende heimliche Begeisterung für degenerierte Adlige oder barbarische Wilde, für koloniale Reiseexotik und imperiale Abenteuerhelden in fernen Ländern mit Hilfe einer Neuausrichtung der Inhalte und einer Erneuerung der Prosaformen im sowjetischen Sinne positiv verändern zu können.
ren. ‚Atlantis‘ kitzelt die Nerven der westlichen Bourgeois, und statt Barbusse und Rolland lesen sie – oh diese lebenden Leichen! – Benoit.“ („Роман этот был встречен с исключительным восторгом.
Небывалым за последнее время./ Вся русская критика отнеслась к роману одинаково. Успех ‚Атлантиды‘, – показатель крушения западной буржуазной культуры. Запад разлагается. Утомленный войной, он ищет отдохновения в экзотике и в авантюрных пустячках, уводящих его далеко от строгой действительности. ‚Атлантида‘ щекочет нервы западным буржуа, и они – о живые трупы! – вместо Барбюса и Роллана читают Бенуа.“) Lunc, Lev: Na zapad! Reč’ na sobranii „Serapio-
novych brat’ev“ 2-go dekabrja 1922 g., in: Ders.: Vne zakona. P’esy, rasskazy, stat’i, S-Peterburg 1994, S. 205–214, S. 205.
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2. P f adf i n d e r u n d S t e c h f l i e g e n – Di e Neu a u s r i c h t u n g d e r A b e nt e ue rlit e ra t ur 1 „Die erzieherische Bedeutung der Bücher Coopers ist unbestritten. Sie stellten fast hundert Jahre lang die Lieblingslektüre der Jugend aller Länder dar, und wenn man zum Beispiel die Erinnerungen der russischen Revolutionäre liest, trifft man nicht selten auf Hinweise, dass die Bücher Coopers als gute Erzieher des Ehrgefühls, des Muts und des Tatendrangs gedient haben.“ Maksim Gor’kij (1923)1
Mit seiner kulturpessimistischen Polemik gegen die Pinkertonovščina hatte Kornej Čukovskij 1908 ein massives Unbehagen über die ungemeine Beliebtheit der aufkommenden Massenliteratur artikuliert, die im Zeichen der Moderne nicht nur das kulturelle Selbstverständnis der Oberschichten radikal infrage stellte, sondern auch eine es bedrohende egalitäre kulturpolitische Gegenprogrammatik zum Ausdruck brachte. Gerade diese in kolonialen, imperialen und sozialdarwinistischen Stereotypen und Stigmata artikulierte Angst vor einem tiefgehenden ästhetischen und gesellschaftspolitischen Umbruch nimmt Lev Davidovič Trockij (1879–1940) schon 1914 in einer grundsätzlichen Abrechnung mit dem „führenden“ Literaturkritiker dieser „niederträchtigen Epoche“ (подлая эпоха)2 des Jahrzehnts nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 ins Visier: „Was für einen hässlichen Witz stellte der laute Auftritt des Bürgers Čukovskij zur Verteidigung der bürgerlichen Kultur gegen den Ansturm des Hottentotten dar, des Massenlesers der Pinkertonovščina und kinematographischer Melodramen.“ 3 Mit Hilfe der für ihn typischen „Possentreiberei“ (поясничество), mit der er gewöhnlich seine geistige Leere und vollkommene Ungebildetheit zu verbergen suche,4 betreibe er hier eine „tiefreaktionäre Verleumdung“ (глубокореакционная клевета) der städtischen Massen, anstatt das Potenzial dieser neuen Massenkultur zu erkennen: „Wenn die Unterschichten, das erste Mal zu Leben erwacht, gierig die nachgemachte Romantik und den Margarinensentimentalismus herunterschlingen, vollziehen sie in verkürzter, dürftiger, zer1
„Воспитательное значение книг Купера – несомненно. Они на протяжении почти ста лет были любимым чтением юношества всех стран, и, читая воспоминания, например, русских революционеров, мы нередко встретим указания, что книги Купера служили для них хорошим воспитателем чувства чести, мужества, стремления к деянию.“ Gor’kij: [Predislovie k knige Fenimora
Kupera „Sledopyt“], S. 227. 2
Trockij, Lev: K. Čukovskij (09.02.1914), in: Ders.: Literatura i revoljucija (1923), Moskva 1991, S. 273– 283, 283.
3 „Каким скверным анекдотом было шумное выступление г. Чуковского в защиту буржуазной культуры
от нашествия готтентота – массового читателя пинкертоновщины и посетителя кинематографных мелодрам.“ Ebd., S. 279.
4
Ebd., S. 274, 279.
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rupfter Form jene ästhetische Evolution, die in prunkvollen Formen die besitzenden Klassen die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzogen haben, das heißt es gibt keinerlei Ansturm der Hottentotten auf die Kultur, es gibt nur die ersten Schritte der Aneignung von Kultur durch die Unterschichten. Hier geht es nicht um eine Bedrohung der Kultur, sondern um ihre Konsolidierung. Hier besteht nicht die Gefahr eines Rückschritts von Shakespeare zu Pinkerton, sondern es geht um einen Aufstieg – über Pinkerton – zu Shakespeare. [...] Pinkerton wird übertroffen werden, von den Millionen aber, die zum ersten Mal zu geistigem Leben erweckt worden sind, wird die Grundlage gelegt für eine unvergleichlich umfassendere menschliche Kunst, als wir sie jetzt haben...“5
Genau an dieser Frage nach der Überwindung Pinkertons, nach dem Weg von der unbewussten Klassenlage zum bewussten geistigen Leben setzten die wenigen literaturpolitischen Äußerungen zur „Pinkertonovščina“ nach der Revolution an, wobei sie sich weiterhin an den von Čukovskij diagnostizierten Aporien abarbeiteten. Man wollte eine neue populäre Literatur schaffen, die die „Seelen der Hottentotten“ gewann und sie zum richtigen Klassenbewusstsein führte, ohne die gefälschte Romantik und deren „Margarinensentimentalismus“ zu reproduzieren. So konzentrierte man sich in den ersten Jahren nach der Revolution vor allem auf Fragen der Produktion und Distribution, während die Rezeptionsseite weitgehend unbeachtet blieb. Erst Nikolaj Bucharin lieferte seit 1921 mit seinen Überlegungen zur Schaffung eines „kommunistischen Pinkertons“ erste Anstöße dazu, den „Massenleser“ nicht nur als zu agitierendes oder zu erziehendes Objekt der Aufklärungsarbeit zu betrachten, sondern auch dessen subjektive intellektuelle Vorlieben und emotionale Kapazitäten zu berücksichtigen. Bucharins didaktisches Konzept zielte darauf, die von Čukovskij und letztlich auch von Trockij als minderwertig erachtete Form leichter Unterhaltungsliteratur nicht einfach zu verwerfen, sondern ihre Erzählmuster aufzunehmen und mit neuen, der postrevolutionären Zeit adäquaten Inhalten zu füllen. Auf diese Weise sollte eine Erziehung der Gefühle der orientierungslos gewordenen Jugend erreicht werden (Abschnitt 2.1. Die Erziehung der Gefühle). Die ersten auch beim Publikum erfolgreichen Adaptionen solcher westlichen Muster lieferten die Abenteuerromane von Pavel Bljachin und Leonid Ostroumov, die beide Figuren, Motive und Szenen insbesondere aus Fenimore Coopers Lederstrumpf-Geschichten ins ukrainische Grenzland der Bürgerkriegszeit übertrugen (Abschnitt 2.2. Rote Teufelchen). Ähnliche Verfahren der Adaption und Alteration bewährter Erzählmuster, Motive und „exotischer“ Kulissen verwendete man auch für Szenarien, die in anderen Weltgegenden innerhalb und außerhalb der Sowjetunion spielten. Während man dabei die „kinematographische“ Form aus 5 „Если низы, впервые пробужденные к жизни, жадно поглoщают поддельную романтику и
маргариновый сантиментализм, проделывая в сокрaщенном, убогом, обобранном виде ту эстетическую эволулюцию, которую в пышных формах проделывали в предшествующие десятилетия и столетия имущие классы, то здесь нет никакого нашествия готтентотов на культуру, а есть первые шаги приобщения низов к культуре. Тут не угроза культуре, а ее упрочение. Тут нет опасности возврата от Шекспира к Пинкертону, а есть восхождение от бессознательности – через Пинкертона – к Шекспиру. [...] Пинкертон будет превзойден, а миллионами, впервые пробужденными к сознательной духовной жизни, будет заложена основа для несравненно более широкого человечного искусства, чем наше...“ Ebd., S. 279f.
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Spannung, Action und Exotik soweit wie möglich übernahm, zielte die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur inhaltlich darauf, die vom westlichen Imperialismus beherrschten Weltgegenden fiktional zu dekolonisieren, während man umgekehrt den sowjetischen Einflussbereich versuchte zu „exotisieren“ und so für die Leserimagination attraktiver zu machen (Abschnitt 2.3. Weltweite Pfadfinder). So gaben die „Weltweiten Pfadfinder“ in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht nur in der gleichnamigen Zeitschrift (Vsemirnyj sledopyt), sondern allgemein in einer expandierenden kommerziellen Unterhaltungsliteratur Coopers Pfadfinder- und Voynichs Stechfliegen-Figur eine neue „sozial-revolutionäre“ Perspektive, die zu einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Eigenem und Fremden, (europäischer) Hochkultur und (außereuropäischen) „Hottentotten“, Klassenstandpunkt und Abenteuerexotik führte.
2 .1 Di e Erz ie hung d e r Gefühle – Niko la j B u c h a r i n s A u f r u f f ür ei nen „k o mmunis tis chen Pinke r to n “ 6 „Wir haben vergessen, dass man die Gefühle der Jugend erziehen muss, und betrachten sie wie ein Kopfmaschinchen. Doch mit solchen Methoden werden wir nicht in der Lage sein, große Teile der Jugend zu erreichen.“ Nikolaj Bucharin (1921)6
Ein knappes Jahrzehnt nach Čukovskijs Polemik und ein ganzes Jahr nach der Oktoberrevolution musste das „Organ der Moskauer zentralen Arbeiterkooperative“ Rabočij mir (Die Welt des Arbeiters) ernüchtert über Werke im Stile der Pinkertonovščina feststellen: „Niemand verbreitet sie eigens, niemand wirbt für sie viel, doch sie verkaufen sich und verkaufen sich. Ganze Verlage entstehen, die die Pinkertonovščina zu Hunderttausenden fabrizieren, die Kioske der Hauptstadt und der Provinz füllen sich mit den Büchlein. Keine politischen und keine ökonomischen Stürme verringern die Nachfrage nach so einem Büchlein; neben ihnen tauchen am Kiosk die ‚sensationellen Enthüllungen‘ über Griška Rasputin auf, verwaist verbleicht die ‚populärpolitische‘ Broschüre, aber Nat Pinkerton erhöht unterdessen seinen Preis von einem bescheidenen Fünfer auf 50–60 Kopeken und ist, wie es aussieht, überhaupt nicht geneigt seine sicher erkämpfte Position kampflos aufzugeben.“7 6
„Мы забыли о том, что нужно воспитывать чувство молодежи, и рассматриваем ее, как головную машинку. А такими методами захватить широкие круги молодежи мы не будем в состоянии.“ Bucha-
rin, Nikolaj: Naučimsja vlijat’ na molodeži (1921), in: Ders.: Kommunističeskie vospitanie molodeži (Biblioteka komsomol’ca), Moskva, Leningrad 1925, S. 7-13, 12. Hervorhebung so im Original. 7 „Никто их специально не рапространяет, никто широко не рекламирует, а они покупаются и
покупаются. Возникают целые издательства, фабрикующие пинкертоновщину сотнями тысяч, наполняются книжками киоски столицы и провинции. Ни политические, ни экономические бури не
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Denn was diese Literatur dem „exaltierten Heranwachsenden“ (экзальтированному подростку)8 biete, sei vor allem Romantik und Heldentum. So sei der Held jeder Broschüre, egal ob es sich um einen Detektiv, Verbrecher oder Don Juan handele, immer elegant, geschickt, schlau und gut erzogen, er kenne keine Grenzen, egal ob es sich um ein Diplomatenkabinett, das Erdinnere oder ferne Planeten handele, kaltblütig, weltläufig und ausgestattet mit den neuesten Erfindungen der Technik kämpfe er furchtlos für die Gerechtigkeit und riskiere gegen die Schurken dieser Welt sein Leben, auch wenn er sich am Ende jedes Mal selbst aus den hoffnungslosesten Situationen zu retten wisse. Gerade aber eine solche Literatur „voll Hoffnungen und Zuversicht“ (полна надежд и бодрости)9 fordere die Jugend: „Die Jugend ist heldenhaft – und das fordert sie auch von der Literatur./ Deshalb war auch der Kampf mit der Pinkertonovščina ungenügend. Wir haben dem Heranwachsenden eine populäre Broschüre über Geografie, Naturwissenschaft und Astronomie gegeben, wir haben ihm eine belletristische Erzählung von Korolenko über Lichtschimmer gegeben, eine Erzählung, wo die schwere Lage der Arbeiter und Bauern beschrieben wird./ Eine andere Literatur konnten wir auch nicht geben, denn unsere Literatur hat immer genau unsere Wirklichkeit gespiegelt, wo sollte sie da die Romantik und das Heldentum her nehmen?“10
Wie aber konnte eine Literatur aussehen, die ihren aufklärerischen Zwecken und realistischen Ansprüchen genügte, und gleichzeitig dem Bedürfnis nach Romantik und Heldentum entsprach? Die ersten Jahre nach der Revolution hatten die Kulturfunktionäre der Bolschewiki angesichts des andauernden Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus andere Probleme als die Suche nach einer Antwort auf diese Frage. Wenn sie sich doch mit Literaturpolitik befassten, beschäftigten sie sich vornehmlich mit den führenden literarischen Vertretern und Gruppierungen der damaligen Zeit. Zumindest finden sich in den Reden und Schriften von Vladimir Lenin, Nikolaj Bucharin, Anatolij Lunačarskij oder Lev Trockij kaum Einlassungen zum Pinker-
уменьшают спроса на такую книжку; появляются рядом с ней в киоске ‚сенсационные разоблачения‘ o Гришке Распутине, сиротливо блекнет ‚популярно-политическая‘ брошюра, а Нат Пинкертон, между тем, увеличивается в цене от скромного пятачка до 50 – 60 коп. и, видимо, совсем не склонен сдавать без боя твердо завоеванных позиций.“ Kubikov, Ivan [K., I.]: Nat Pinkerton – korol’ syščikov,
in: Rabočij mir 11 (1918), S. 40–42, 40. 8
Ebd., S. 41.
9 Ebd. 10 „ Юность героична, – того же она требует и от литературы./ Вот поэтому-то борьба с
пинкертоновщиной и была недостаточной. Мы давали подростку популярную брошюру по географии, естествознанию, астрономии, давали художественный рассказ Короленко об огоньках, давали рассказ, где описывалось тяжелое положение рабочего и крестьянина./ Других произведений мы и не могли дать, ибо наша литература всегда точно отражалa нашу действительность, а откуда ей было взять романтичность и героичность?“ Ebd.
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tontum und zur populären Unterhaltungsliteratur.11 Die staatliche und parteipolitische Intervention in die Literaturpolitik war vor allem auf die konkurrierenden avantgardistischen, proletarischen oder eher traditionell orientierten Strömungen wie den Proletkul’t und die Futuristen, die Smenovechovcy oder Serapionsbrüder ausgerichtet, die letztlich alle in der Kontinuität anspruchsvoller Belletristik standen. Man suchte, wie schon in der zitierten Polemik Trockijs gegen Čukovskij zum Ausdruck kam, lieber den Shakespeare der neuen Zeit als sich mit den niederen Ebenen des Pinkertontums auseinanderzusetzen und stritt darüber, ob der neue Sänger der Revolution auch eine grundlegend erneuerte Dichtung schaffen müsse (wie es der Proletkul’t proklamierte) oder an das Erbe klassischer Hochkultur anknüpfen werde (wie Voronskij behauptete).12 Entsprechend wird auch in den Stellungnahmen maßgeblicher Kritiker und Literaturhistoriker jener Jahre die „Pinkertonovščina“ meistens überhaupt nicht erwähnt.13 Die Erkenntnis, dass es nicht einfach damit getan war, die gewünschten Literaturrichtungen staatlich zu fördern und politisch zu protegieren, sondern dass diese Literatur auch Interesse bei den Lesern wecken müsse, um auf deren Bewusstsein wirken zu können, setzte sich erst langsam durch. Damit geriet aber auch das Erfolgsbeispiel der Pinkertonovščina vereinzelt in den Fokus der Aufmerksamkeit, die genau dieses Problem der mangelnden Leserschaft nicht kannte. Allerdings dominierte weiterhin die alte Ansicht, dass diese Literatur einen schädlichen und verderblichen Einfluss auf die Jugend habe. Während Čukovskij jedoch noch die Pinkertonovščina als einen Angriff auf alle ästhetischen Standards der bürgerlichen Hochkultur verdammt hatte, galt sie jetzt umgekehrt als Machtmittel des Bürgertums, seine Herrschaft über das Bewusstsein der ausgebeuteten Klassen zu zementieren.14 Auch als man mit der Ausrufung der Neuen Ökonomischen Politik 1921 begann sich in der RKP(b) ausführlicher mit der Jugenderziehung zu befassen, änderte sich diese Haltung nicht grundlegend. Erst der Pravda-Redakteur Nikolaj Ivanovič Bucharin (1888–1938) machte darauf aufmerksam, dass es mit einer einfachen Verdammung dieser Literatur als ideologisch schädlicher Schund oder mit einer groben Vernachlässigung dieses Feldes als ein Übergangsphänomen noch unkultivierter Gesellschaftsmilieus – wie es 1914 von Trockij charakterisiert wurde – nicht 11
Vgl. bspw. die Analyse und Dokumenation von Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932.
12
Vgl. Eimermacher, Karl: Einleitung, S. 27–138, S. 27ff.
13
Vgl. zum Beispiel Trockij, Lev: Literatura i revoljucija (1923), Moskva 1991; Voronskij, Aleksandr: Literaturnye zapisi, Moskva 1926; Ležnev, A.: Voprosy literatury i kritiki, Moskva/Leningrad 1924; Ders.: Literaturnye budni, Moskva 1929; Ders.; Gorbov, D.: Literatura revoljucionnogo desjatiletija. 1917–1927, Charkov 1929.
14
So schreibt Nikolaj Bucharin 1921 in der Pravda: „Aber wir erinnern uns, wie die Bourgeoisie handelte. Sie hatte spannende Romane, Erzählungen, sogar spezielle ‚Straßen‘-Ausgaben in der Art der Abenteuer von Nat Pinkerton und übrigen. [...] Die Bourgeoisie verstand es, die Jugend zu bearbeiten, und benutzte hierfür verschiedene Waffenarten.“ („ А вспомним, как действовала буржуазия. У нее были увлекательные романы, рассказы, даже специальные ‚уличные‘ издания, в роде приключения Ната Пинкертона и прочее. [...] Буржуазия умела обрабатывать молодежь и пользоваться для этого разными родами оружия.“) Vgl. Bucharin: Naučimsja vlijat’ na molodež’, S. 11.
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getan sei, da die anhaltende Popularität der Pinkertonovščina augenscheinlich tiefer liegende Ursachen habe. So hatte er schon 1921 in einem Pravda-Artikel zur „kommunistischen Erziehung“ darauf verwiesen, dass man die Jugend nur erreichen könne, wenn man auch deren Gefühle anspreche, und genau diese Gefühle bedienten Romane im Stile Pinkertons. In einer programmatischen Rede auf der 5. Sitzung der Russländischen Kommunistischen Jugendorganisation (RKSM) im Oktober 1922 formulierte der Kandidat des Politbüros der RKP/b dann knapp eineinhalb Jahre später das erste Mal die Forderung an die Schriftsteller, eine neue Abenteuerliteratur für die Jugend, einen „kommunistischen Pinkerton“ zu schaffen.15 In der gegenwärtigen Situation des Kampfes zwischen Privat- und Staatswirtschaft gelte es das kulturelle Niveau der Jugend zu heben und eigene Kader für Kommandoposten im Apparat zu gewinnen. Die Jugendlichen zu erreichen sei aber im Moment äußerst schwer, da ein gewisser Erschöpfungszustand nach den Entbehrungen des Bürgerkriegs eingetreten sei, ohne dass eine materielle Verbesserung erreicht werden könne. Zudem habe die junge Arbeitergeneration den Kapitalismus nicht mehr in eigener Erfahrung erlebt, was die ideologische Desorientierung noch verstärke.16 Gleichzeitig seien die alten Ideale und Rituale zerstört worden, so dass allgemein eine Anarchie der Sitten herrsche, bei der Trunkenheit nur ein Symptom unter vielen sei. Generell lasse sich die heutige Jugend in drei Gruppen einteilen: Erstens die „nihilistisch-revolutionäre“ Strömung, die die NÖP nicht annehme und ein halbrowdyhaftes (полухулиганский) revolutionäres Verhältnis zu allem in der Welt habe. Der zweite Typ stelle den „echten Trunkenbold“ (форменный забулдыга) dar, der alles Negative noch in potenzierter Form zum Ausdruck bringe. Der dritte Typ von Jugendlichen sei hingegen jener Büchermensch, der mit so großem Enthusiasmus lese, dass er manchmal von nichts anderem in der Welt etwas wissen wolle, und genau dieses „gesündeste Glied“ der Jugend gelte es für die eigene Arbeit als Basis zu gewinnen.17 Dies könne aber nur gelingen, wenn man aufhöre Jugendliche wie Erwachsene zu behandeln, die man rein rational über den Verstand anspricht: „Man muss unbedingt die psychophysiologische Konstruktion der Jugend berücksichtigen, man muss unbedingt dem Bereich der Gefühle und emotionalen Erziehung sehr viel mehr Zeit widmen als man es bei der Erziehung
15
Vgl. Bucharin, Nikolaj: Kommunističeskoe vospitanie molodeži v uslovijach Nėp’а (5-j Vser. s’’ezd R.K.S.M Doklad t. Bucharina. Utrenee zasedanie 13-go oktjabrja), in: Pravda 232 (14.10.1922), S. 2. Diese Rede ist in der Sekundärliteratur bislang fast durchgängig irrtümlich ein Jahr später auf den Herbst 1923 datiert worden. Dieser Irrtum geht zurück auf Äußerungen von Marietta Šaginjan, die in verschiedenen Kontexten behauptet hat, sie hätte das erste Mal von Bucharins Forderung nach einem „roten Pinkerton“ aus einem Zeitungsartikel erfahren, den sie im Herbst 1923 auf ihrem Küchentisch gefunden habe. Vgl. hierzu Šaginjan, Mariėtta: Kak ja pisala „Mess-Mend“ (1926), in: Dies.: Sobranie sočinenij 1905–1933, Bd. 3, Moskva 1935, S. 375–382, S. 376f; so auch: Russell: Red Pinkertonism, S. 392; Mierau: Ein roter Pinkerton, S. 10; Avins, Carol: Border Crossings. The West and Russian Identity in Soviet Literature 1917–1934, Berkeley 1983, S. 55.
16
Bucharin: Kommunističeskoe vospitanie molodeži, S. 2.
17 Ebd.
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der Erwachsenen macht.“18 Genau für dieses Feld der Gefühle und der emotionalen Erziehung brauche man aber den „kommunistischen Pinkerton“: „Ich hatte vor eineinhalb Jahren die Gelegenheit mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit zu treten, einen kommunistischen Pinkerton zu schaffen, und ich stehe auch jetzt noch auf demselben Standpunkt. Ich behaupte, dass die Bourgeoisie gerade deshalb, weil sie nicht dumm ist, den Pinkerton der Jugend darbringt. Pinkerton hat ungeheuren Erfolg. [...] Doch woran liegt das? Es liegt daran, dass der Verstand eine leichte, amüsante, interessante Fabel und Entfaltung der Ereignisse braucht, und für die Jugend braucht es das noch zehnmal mehr als für Erwachsene. Darum steht die Frage nach jeder Art von Revolutionsromanen, einer Verwendung des Materials aus dem Bereich der Kriegskämpfe, Abenteuer, aus dem Bereich unserer Untergrundarbeit, aus dem Bereich des Bürgerkriegs, aus dem Bereich der VČK, aus dem Bereich unterschiedlicher Abenteuer u.a. unserer Arbeiter, als unsere Arbeiter von einer Front an die andere geworfen wurden, aus dem Bereich der Roten Armee und der Roten Garde, – wir haben enorm viel Material, – darum eben steht diese Frage vor uns.“19 18 „Необходимо считаться с психо-физиологической конструкцией молодежи, необходимо на область
чувств и эмоционального воспитания отвести гораздо больше времени, чем отводится при воспитании взрослых.“ Ebd.
19 „Я имел случай года полтора назад выступать с предложением создания коммунистического
Пинкертона, я и сейчас стою на той же точке зрения. Я утверждаю, что буржуазия именно поэтому, что она не глупа, преподносит Пинкертона молодежи. Пинкертон ползуется громадным успехом. [...] В чем же тут дело? Дело в том, что для ума требуется легкая, занятная, интересная фабула и развертывание событий, а для молодежи в десять раз больше, чем для взрослых. Вот почему вопрос о всяких революционных романах, об использовании материала из области военных сражений, приключений, из области нашей подпольной работы, из области гражданской войны, из области деятельности ВЧК, из области различных похождений и пр. наших рабочих, когда наши рабочие бросались с одного фронта на другой, из области деятельности Красной армии и Красной гвардии, – материал у нас громадный, – вот почему этот вопрос встает перед нами.“ Ebd. Der Verweis auf seinen
Auftritt vor eineinhalb Jahren bezieht sich wahrscheinlich auf einen Pravda-Artikel zu dieser Zeit, in der er teils ähnliche Thesen formuliert, allerdings noch nicht einen „kommunistischen Pinkerton“ fordert. Ob er mündlich diese Forderung schon zuvor aufgestellt hat, ließ sich bislang nicht rekonstruieren. Vgl. Ders. Naučimsja vlijat’ na molodeži; In der Buchfassung seines Vortrages von Oktober 1922 hob er die riesigen Möglichkeiten noch einmal zusätzlich hervor, die eine Nutzung dieses Materials im Sinne eines „kommunistischen Pinkertons“ mit sich bringe: „Wie vollendete Dummköpfe vermögen wir es nicht dieses Material zu nutzen, und dabei ist es klar, dass wir jeden Pinkerton von der spannenden Fabel her, von den unterhaltsamen Ereignissen her usw. überbieten könnten. Wenn man nur eine konkrete Lebensbeschreibung irgendeines von unseren „revolutionären Abenteurern“ im guten Sinne des Wortes nimmt, dann wird das tausendmal interessanter sein als alle Pinkertons.“ („Этот материал мы, как совершенные дураки, использовать не умеем, а между тем ясно, что мы могли бы перещеголять всякого Пинкертона по увлекательности фабулы, по занимательности событий и т.д. Если дать одно конкретное описание жизни какого-нибудь из наших „революционных авантюристов“ в хорошем смысле слова, то это будет в тысячу раз интереснее всяких Пинкертонов.“) Vgl. Bucharin, Nikolaj: Kommunističeskoe
vospitanie molodeži, in: Ders.: Kommunističeskie vospitanie molodeži (Biblioteka komsomol’ca), Moskva, Leningrad 1925, S. 21–90, 73. VČK ist die Abkürzung für „Всероссийская чрезвычайная комиссия по борьбе с контрреволюцией и саботажем“ (dt. Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung
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In der Aussprache über Bucharins Vortrag und in dessen Schlusswort wird dieses riesige Material aus der Zeit des Bürgerkriegs und des Klassenkampfes noch um zwei weitere thematische Linien ergänzt, auf die sich die „rote Romantik“ (красная романтика) bzw. „revolutionäre Romantik“ (революционная романтика) richten könne: auf den Kampf des Menschen mit der Natur sowie die „Romantik der zukünftigen Gesellschaft“ (романтика будущего общества).20 Bucharin leistete mit dieser Rede eine weitgehende Rehabilitierung der Pinkertonovščina. Aus einer „barbarischen“ Literatur, die in ihrer Geschmack- und Niveaulosigkeit die bürgerliche Hochkultur zu verderben drohe, war bei ihm nicht einfach nur ein schädliches Herrschaftsmittel geworden, um die Arbeiterjugend zu manipulieren und zu verderben, sondern ein psycho-physiologisch wirksames Umerziehungsinstrument, das in den richtigen Händen als „kommunistischer Pinkerton“ und „rote Romantik“ sogar zur „Erziehung der Gefühle“ tauge. Damit formulierte Bucharin aber auch eine prinzipielle Gegenposition zu Čukovskijs Polemik gegen die „Hottentotten“ der neuen Zeit. Denn wo Čukovskij in einem sozialdarwinistischen Paradigma nur gesellschaftspolitischen Niedergang, intellektuellen Verfall und eine emotionale Degeneration hin zu einer Gesellschaft unzivilisierter „Wilder“ sah, bei denen einzig noch das Gesetz der Faust und physische Gewalt gelte, sprach Bucharin von einer „psycho-physiologischen Konstruktion“ junger Menschen, die genau auf solche Emotionen reagiere. Beide legen ihrer Argumentation ein anthropologisches Paradigma zugrunde, das eine Entwicklung vom Emotional-Unbewussten zum Rational-Bewussten beim Menschen konstatiert. Während Čukovskij auf dieser Skala die Pinkertonovščina als einen menschheitsgeschichtlichen Rückschritt hin zu niederen Zivilisationsstufen verortet, sieht Bucharin sie als unumgängliche ontogenetische Entwicklungsphase der Adoleszenz, wobei es einzig darauf ankomme, sie mit den klassenpolitisch richtigen Inhalten zu füllen, damit die Arbeiterjugend über die „rote Romantik“ zum richtigen Klassenbewusstsein komme.21 von Konterrevolution und Sabotage), die im Dezember 1917 als neue Staatssicherheitsorganisation unter der Leitung von Feliks Dzeržinskij gegründet worden ist. 20
So ein Genosse Kasimenko auf der Aussprache über den Vortrag. Vgl. [Anon.]: Prenija po dokladu tovBucharina (5-j Vser. s’’ezd R.K.S.M. Večernee zasedanie 13 oktjabrja), in: Pravda 233 (15.10.1922), S. 3; Bucharin geht auf dessen Vorschlag in seinem Schlusswort ein: „Gen. Kasimenko hat meiner Meinung nach eine Reihe äußerst wertvoller Ergänzungen zu meinem Vortrag gemacht, als er über die revolutionäre Romantik gesprochen hat. Er hat den Kampf des Menschen mit der Natur und die Zukunftsdarstellung der Gesellschaft hervorgehoben als eine der Linien, auf die die revolutionäre Romantik gerichtet sein soll. Das zukünftige Leben habe ich in meinem Vortrag erwähnt, aber eben den Kampf mit der Natur habe ich ausgelassen, daher stellt die Ergänzung von Gen. Kasimenko ein sehr nützliches Material dar.“ („Тов. Касименко, по моему, сделал целый ряд весьма ценных пополнений к моему докладу, когда говорил о революционной романтике. Он выставил борьбу человека с природой и изображение будущего общества, как одну из линий, на которой должна быть направлена революционная романтика. На счет будущей жизни я в своем докладе упоминал, но вот борьбу с природой я упустил, так что дополнение тов. Касименко представляет очень деловой материал.“) Vgl. Bucharin, Nikolaj:
Zaklučitel’noe slovo tov. Bucharina (5-j Vser. s’’ezd R.K.S.M), in: Pravda 233 (15.10.1922), S. 3. 21
Auf die wissenschaftstheoretischen Implikationen einer psycho-physiologischen Konstruktion des Menschen wird in dem Abschnitt zur „Elektrifizierung der Gedanken“ näher eingegangen werden, die deutlich
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Als eine „Literatur der starken Gefühle“, die ohne psychologischen Tiefgang und anspruchsvolle avantgardistische Formversuche auskam, bekam die populäre Unterhaltungsliteratur damit von einem der führenden Bolschewiki der 1920er Jahre erstmals eine gesellschaftspolitische Funktion zugesprochen, die nicht nur half ihre fast uneingeschränkte Fortexistenz in den Kiosken der Hauptstadt und der Provinz zu legitimieren, sondern sie erstmals nach dem Verdikt von Čukovskij auch für intellektuelle künstlerische Kreise hoffähig machte. Autoren wie Mariėtta Šaginjan, Viktor Šklovskij, Aleksej N. Tolstoj oder Valentin Kataev begannen einige Abenteuerromane im Pinkerton-Stil zu schreiben. Die spätere Forschung hat die „roten Pinkertons“ vor allem auf diese avantgardistische Rezeption bezogen, die allerdings in ihrer überwiegend parodistischen Intention – auf die ich später näher eingehen werde – keineswegs jene Massenliteratur repräsentierten, die Bucharin mit seinen Einlassungen eigentlich im Auge hatte. Bucharin ging es um eine „ernsthafte“ Adaption der „leichten, unterhaltsamen, interessanten Fabel“, die sich anhand des reichhaltigen Materials der revolutionären Vergangenheit (Untergrundkampf vor 1914), unlängst vergangenen Gegenwart (Krieg, Revolution, Bürgerkrieg) und Zukunft (Kampf gegen die Natur, Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft) entwickeln sollte.
2 .2 Rot e Teufelche n – Pav e l B lja chin s u n d L e o n i d O str o u mo vs Bürger kr iegs held e n 2 2 „Die abenteuerlich-regionalkundliche Literatur [...] verbleibt im Rahmen der spannend-belletristischen Lektüre – für Erwachsene genauso wie für die Jugend.“ Zemlja i fabrika (1927)22
Rund eineinhalb Jahre nach Bucharins Aufruf zu einem „kommunistischen Pinkerton“ schloss sich der nach dem Tod Lenins und vor der Festigung von Stalins Position Mitte 1924 vielleicht mächtigste Mann in der bolschewistischen Partei, Grigorij Zinov’ev, dieser Forderung zwar an. Doch aus dem Appell an die Jugend, Lenins politische Arbeit fortzusetzen, der auf der Titelseite des Zentralorgans des Komsomol, der Zweiwochenzeitschrift der Arbeiterjugend Smena (Der Nachwuchs), abgedruckt wurde, ließ sich auch eine gewisse Skepsis herauslesen: auf die Forschungen von Bechterev und seiner „kollektiven Physiologie“ rekurrieren. Vgl. Abschnitt 4.2 dieses Buches. 22 „Приключенческо-краеведческая литература […] остается в рамках увлекательного художественного
чтения – для взрослых, равно как и для юношества.“ Akcionernoe izdatel’skoe obščestvo chu-do
žestvennoj literatury ‘Zemlja i fabrika’ (Hg.): Zemlja i fabrika. Pol’nyj ukazatel’ izdanij (1922-1927), Moskva 1927, S. 5.
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„Man sagt jetzt, dass wir rote Pinktertons brauchen. Ich habe nichts dagegen. Warum soll man in der Freizeit nicht auch mal Pinkerton lesen, wenn er talentvoll geschrieben ist? Aber man muss das Leben der roten ‚Heiligen‘ studieren, natürlich nicht der Heiligen der Popen, sondern derjenigen, die Jahr für Jahr in verzweifelter Lage für unsere Sache gekämpft haben.“23
Als Freizeitlektüre ist die Pinkertonliteratur zwar weiterhin zu dulden, doch Priorität habe die politische Erziehungsprogrammatik und die „rote“ Hagiographie. Diese Skepsis gegenüber Bucharins Anregungen zu einer „Erziehung der Gefühle“ schien weit verbreitet zu sein, worauf auch die ansonsten raren Stellungnahmen einflussreicher Literaturpolitiker deuten. Gleichwohl signalisierte Zinov’evs Äußerung eine Kompromissbereitschaft. Eine talentierte, und das hieß mit bolschewistischem Geist geschriebene, Pinkterton-Literatur ist weiterhin erlaubt, wenn die alten Heiligen gegen neue, „rote“ Helden ausgetauscht werden. Alles Weitere überließ man den zuständigen Institutionen, verantwortlichen Redakteuren und schreibenden Autoren. Und diese orientierten sich vornehmlich am Publikum, das genauso wenig wie der Vorsitzende des Leningrader Stadt-Sowjets und gleichzeitige Vorsitzende der Komintern, Zinov’ev, etwas gegen einen talentvoll geschriebenen Pinkerton einzuwenden hatte. Im Gegenteil, diese wenigen Einlassungen prominenter Parteipolitiker schienen auf eine relativ große Resonanz zu stoßen, gaben sie doch auf lokaler Ebene den Beteiligten zumindest einige Hinweise, wie sie der grassierenden Popularität der „Ausbeutermärchen“ der Pinkertonovščina begegnen konnten. So versprach man sich von dem „sowjetischen Pinkertontum“, dass man es auch zur kommunistischen Agitation einsetzen könne, um das „verschlossene Herz der unvollendeten Genossen“ zu erreichen: „[...] Das Dorf, erzogen mit den Ausbeutermärchen, reißt sich so kummervoll von ihnen los wie das Kind von der Brust der Mutter. In erster Linie würde es sich, wie unser Lehrer Lenin sagte, über eine gute sowjetische Pinkertonovščina freuen. [...] Jede Nachricht Politik muss man in der ersten Zeit versuchen durch solche Art Poesie im Dorf durchzusetzen, wobei man aufpassen muss, nicht zu sehr die Grenzen der Vorsicht zu verlassen, damit man nicht das verschlossene Herz des noch nicht vervollkommneten Genossen verletzt.“24
23 „Теперь говорят, что нам нужны красные Пинкертоны. Я не против этого. Отчего не почитать на
досуге и Пинкертона, если талантливо написано? Но нужно изучать жития красных ‚святых‘, конечно, не поповских святых, а тех людей, которые годами и годами при отчаянной обстановке боролись за наше дело.“ Zinov’ev, Grigorij: Leninskoj smene, in: Smena 9 (25.05.1924), S. 1.
24 „[...] деревня, воспитываясь на эксплоататорских сказках, так же печально оторвется от них, как и
ребенок от грудей матери. В первую очередь она рада будет, как говорил учитель наш Ленин, хорошей советской пинкертонщине. [...] Каждую веcточку политики в первое время нужно стараться проводить в деревню подобным родом поэзии и не особенно резко выделяясь из рамки осторожности, дабы не задеть за скрытое сердце несовершенствованного товарища.“ So ein bei Sluchovskij zitierter
Bericht aus dem Saratower Gouvernement, vgl. Sluchovskij: Kniga i derevnja, S. 110.
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Und so wurde nicht nur in der informellen Rezeption an der ländlichen Peripherie aus dem „kommunistischen Pinkerton“ ein „sowjetisches Pinkertontum“ und aus Bucharin „unser Lehrer Lenin“, sondern es entstand parallel zum Import westlicher Abenteuergeschichten in den 1920er Jahren auch eine kaum überschaubare Anzahl sowjetischer Varianten des Pinkerton-Genres. Als „Klassiker“25 für solche Adaptionen galten schon 1929 zwei Romane, die beide explizit ihre westlichen Vorbilder benannten.26 Dabei handelte es sich zum einen um den schon vor Bucharins Aufruf zu einem „kommunistischen Pinkerton“ erschienenen Roman Die roten Teufelchen (Красные дьяволята, 1922) von Pavel Andreevič Bljachin (1886–1961), zum anderen um Makar der Pfadfinder (Mакар-следопыт, 1925–1926) von Lev Evgen’evič Ostroumov (1892– 1955). Beide Werke handelten von jugendlichen Helden zur Zeit des Bürgerkriegs, die als begeisterte Leser westlicher Abenteuerliteratur aus den dort vorgegebenen Rollenmodellen ihre eigenen Verhaltensweisen, Kommunikationscodes und Heldentaten ableiten. Programmatisch heißt es dazu in Bljachins Roman: „Das sind die ewigen Romane und Erzählungen von Fenimore Cooper, Gustave Aimard, Mayne Reid und andere halbmärchenhafte Werke, die vornehmlich den blutigen Kampf der rothäutigen Indianer Amerikas mit den ‚bleichgesichtigen Hunden‘, den Europäern, beschreiben, die im Namen der bourgeoisen Kultur und des Raubs gnadenlos die unglücklichen wilden Stämme ausgerottet haben./ Das ist der Grund, warum im Bewusstsein der Jungs alle aktuellen Ereignisse und Personen so mit den Bücherhelden durcheinander gingen, dass sie manchmal selber nicht wussten, wo Wundermärchen und Dichtung aufhören und wo das wirkliche harte Leben anfängt./ Unmerklich, im persönlichen Gespräch und in Kinderträumen, schufen sie sich sogar ihren eigenen Jargon, der nur ihnen selber und den Eingeweihten verständlich war.“27
Bljachins und Ostroumovs Helden stellten genau jene Büchermenschen dar, die Bucharin zuerst als neue Kader für den Komsomol und die Parteiarbeit gewinnen wollte. Bljachin selber war Bolschewik der ersten Stunde und schon 1903 der Partei beigetreten, er hatte an den Revolutionen 1905 und 1917 und auch am anschließenden Bürgerkrieg aktiv teilgenommen, ehe er in den 1920er Jahren begann, neben seiner politischen Tätigkeit als Schriftsteller
25
Rykačev, Jakov: Naši Majn-Ridy i Žjul’ Verny, in: Molodaja gvardija 3 (1929), S. 87–91, 88.
26
Zur Popularität der Roten Teufelchen in den 1920er Jahren vgl. auch Taratuta: Po sledam „Ovoda“, S. 5.
27
„Это – бесконечные романы и рассказы Фенимора Купера, Густава Эмара, Майн-Рида и прочие полусказочные сочинения, описывающие по преимуществу кровавую борьбу краснокожих индейцев Америки с ‚бледнолицыми собаками’-европейцами, которые во имя буржуазной культуры и грабежа беспощадно истребляли несчастные дикие племена./ Вот почему в сознании юнцов все современные события и лица так перепутались с книжными героями, что порой они сами не знали, где кончается чудесная сказка и вымысел, а где начинается действительно суровая жизнь./ Незаметно, в частых разговорах и детских мечтах, они создали даже своеобразный жаргон, понятный только им одним и посвященным.“ Bljachin, Pavel: Krasnye d’javoljata. Povest’, Moskva, Leningrad 1928, S. 18. Die Ausgabe
enthält sowohl den ersten Teil des Romans von 1922 als auch die 1926 geschriebene Fortsetzungsgeschichte.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 93
und Drehbuchautor zu arbeiten.28 Sein Buch war zwar schon vor Bucharins Aufruf erschienen, der eigentliche Erfolg kam aber erst mit der gleichnamigen Verfilmung von Ivan Nikolaevič Perestiani (1870–1959) aus dem Jahr 1923, für die Bljachin zusammen mit dem Regisseur das Drehbuch geschrieben hatte. Ab 1925 arbeitete er im Leningrader Filmstudio Sovkino in verschiedenen Abteilungen, veröffentlichte aber bis auf einige Drehbücher und Theaterstücke und seine späte autobiografische Trilogie Vor Tagesanbruch (На рассвете, 1950), Moskau im Feuer (Москва в огне, 1956) und Tage des Aufstands (Дни мятежные, 1959) keine weiteren Prosawerke mehr.29 Bljachins Roman handelt von den beiden Zwillingen Dunja und Miša Nedolja, die in einem kleinen ukrainischen Dorf in einer armen Bauernfamilie aufgewachsen sind und während des Bürgerkriegs sich zu der Armee Budennyjs durchschlagen und ihr durch zahlreiche Heldentaten im Kampf gegen die „Banden“ der Machno-Bewegung behilflich sind. Schon während des Ersten Weltkriegs hatten sie zwei Leidenschaften entwickelt: den Kampf für die Freiheit und die Liebe zu den Büchern.30 Und so legen sich die beiden Geschwister nach dem Vorbild ihrer Lieblingshelden Spitznamen zu und beschreiben auch die übrige Welt mit den Namen und Ausdrücken vornehmlich des Wilden Westens. Dunja nennt sich Stechfliege31 nach dem gleichnamigen Roman von Voynich, während Mišas Spitzname Pfadfinder nach Coopers Romanhelden lautet. Rotarmisten sind die „rothäutigen Kämpfer“, die Weißen entsprechend „bleichgesichtige Hunde“ (бледнолицые собаки), Nestor Machno trägt den Rufnamen des von den „Weißen“ korrumpierten Apachen „Blaufüchsin“ (Голубая Лисица), der weiße General Petr Wrangel’ heißt „Schwarzer Schakal“ (Черный Шакал), Semen Budennyj ist der „Rothirsch“ (Красный Олень) und Lev Trockij „Jaguar, der Große Führer der Rothäutigen“ (Великий Вождь краснокожих – Ягуар).32
28 Bljachin
war in der Abteilung für Presse beim ZK der Bolschewiki unter anderem für Propagandaarbeit unter den Bauern zuständig und schrieb bis Ende der 1920er Jahre vor allem antikirchliche Pamphlete wie Nieder mit den Teufeln, nieder mit den Göttern! Hinweg mit den Mönchen und Popen! (Долой чертей, долой богов! Долой монахов и попов!, 1920) oder Wie die Popen das Volk betäuben (Как попы дурманят народ, 1920) und Szenarien wie Im Namen Gottes (Во имя бога, 1925 von Abbas Mirza Šarif-Zade verfilmt), Der Bolschewik Mamed (Большевик Мамед, 1925) oder Judas (Иуда, 1930 verfilmt von Evgenij A. IvanovBarkov). Vgl. Pridorogin, A.: P. Bljachin. – Bol’ševik Mamed, in: Knigonoša 38 (1925), S. 22; Bljachin, Pavel: Reč’ tov. Bljachina na črezvyčajnoj konferencii VAPP’a, in: Oktjabr’ 3 (1926), S. 137–139; V’jugin, V. Ju: Bljachin Pavel Andreevič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Biobibliografičeskij slovar’ v 3 tomach. Bd. 1, Moskva 2005, S. 234–236, S. 234f.
29
Vgl. ebd.; [Anon.]: Bljachin Pavel Andreevič, in: Bol’šaja Sovetskaja ėnciklopedija v 30 t., Tom 3, Moskva 1970, S. 435; Bljachina-Toporovskaja, Chana Solomonovna: Avtor „Krasnych djavoljat“ (Žizn’ tvoich zemljakov), Volgograd 1978.
30 Bljachin:
Krasnye d’javoljata, S. 18.
31 Wobei
Gadfly (auf Deutsch wörtlich übersetzt „Viehbremse“) in der russischen Übersetzung Ovod (wörtlich im Deutschen „Pferdebremse“) maskulinen Geschlechts ist. „Stechfliege“ ist der etablierte Titel der deutschen Übersetzung. Vgl. Voynich, Ethel Lilian: Die Stechfliege. Roman (Dt. Susanne Lepsius), Reinbek bei Hamburg 1980.
32 Bljachin:
Krasnye d’javoljata, S. 18.
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Als daher nach einem Überfall von Machnos Banden ihr älterer Bruder zu Tode gefoltert worden ist und sie nach einer schweren Verletzung ihres Vaters im Bürgerkrieg von ihm nichts mehr hören, beschließen die beiden Zwillinge selber als „Rote Teufelchen“ – wie sie schon bei Schlägereien mit Kulakenkindern geschimpft wurden33 – aktiv am Kampf teilzunehmen. Mit Teufelsmasken erschrecken sie abergläubische Bauern zu Tode und nehmen diesen die Waffen ab, werben mit Bartmasken als alte Kämpfer kostümiert bei Budennyj an, der sie als guter „Roter Hirsch“ auch aufnimmt, und befreien einen von Dorfjungen gequälten Chinesen mit Namen Ju-Ju, der schon länger in den Reihen Budennyjs kämpft.34 Von nun an arbeiten die drei Helden „Miška, Stechfliege und Ju-Ju“35 in unterschiedlichen Verkleidungen und Konstellationen als Spione und Aufklärer, geraten in Schießereien, Gefechte und Verfolgungsjagden, werden mit Verrat, Gefangenschaft und Flucht konfrontiert, bewähren sich im Duell, in Intrigen und listigen Überraschungscoups. Ju-Ju verliebt sich währenddessen in Dunja, wohingegen Miša von einer schönen Müllerstochter bezaubert ist, der auch der „Kulaken-Napoleon Machno“ (кулацкий Наполеон Махно)36 nachstellt, bis die drei Teufelchen den Anführer der Machno-Bande in einer fast schon karnevalesken Schlussszene mit Hilfe eines Mehlsacks fangen können und ihn zur Belustigung der Rotarmisten auf einer öffentlichen Versammlung dem „Land der Sowjets“ als Geschenk überreichen.37 Betrachtet man den Roman in Hinsicht auf eine Neuausrichtung der Abenteuerliteratur und vergleicht ihn mit seinen explizit genannten Vorbildern Mayne Reid, Cooper und Voynich, dann lassen sich mehrere wesentliche Verschiebungen erkennen. Das betrifft zum einen eine Verjüngung der Heldenfiguren, was die „revolutionäre“ Semantik des Aufbruchs und des Neuanfangs zusätzlich betont.38 Zum anderen werden die „kolonialen“ Grenzziehungen zwischen Ethnien, Geschlechtern und Konfliktparteien auf die Realien der unmittelbaren Vergangenheit umkodiert. Während der Roman die Roten – also die ausgebeuteten Klassen – eindeutig mit den „Rothäutigen“ identifiziert, wird die Figur des „weißen“ Pfadfinders politisiert, der nicht mehr wie bei Cooper ein ambivalenter Grenzgänger zwischen den Welten der kolonialen Siedler und indigenen Einwohner ist, sondern eindeutig Position bezieht. Miša in der Gestalt des Pfadfinders kämpft kompromisslos gegen die „Weißen“, zusammen mit seinen „roten“ Freunden, deren Stelle nun ein Chinese und ein emanzipiertes Mädchen einnehmen. 33
„Nicht ohne Grund hassten die Kinder der dörflichen Kulaken und Krösusse diese roten Fantasten und neckten sie als Bolschewiken, Gottlose und Teufelchen.“ („Недаром дети деревенских кулаков и
богатеев ненавидели этих красных фантазеров и часто дразнили их большевиками, безбожниками и дьяволятами.“) Ebd., S. 19. 34
Ebd., S. 26ff.
35
Ebd., S. 28.
36
Ebd., S. 113.
37
Ebd., S. 97–101.
38
Zwar gibt es auch in der kolonialen Abenteuerliteratur des Westens jugendliche Helden, doch diese sind wie bei Kipling oder Stevenson – fast immer weiß und fast ausschließlich männlich. Vgl. Bristow: Empire Boys.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 95
Gleichzeitig ist bei dieser eindeutigen ideologischen und gesellschaftspolitischen Festlegung der jugendlichen Helden auffällig, dass ihre zentralen Initiationserlebnisse erst durch unterschiedliche Formen der Maskierung und Verkleidung möglich werden. Diese Maskierungen der eigenen Identität sind zwar ein typischer Topos aller Abenteuergeschichten, bauen diese Romane ihre Spannung doch auf einer ständigen Abfolge von Tarnung und Enttarnung, Geheimnis, Täuschung, Betrug und deren Aufdeckung auf, bekommen hier aber gewissermaßen noch eine metadiegetische Ebene durch die explizite intertextuelle Referenz auf ihre literarischen Vorläufer: Erst indem sich die „roten Teufelchen“ als Stechfliege und Pfadfinder imaginieren, können sie am „Wunderland“ des Bürgerkriegs teilnehmen. Und diese Teilnahme besteht wiederum vor allem in der Adaption weiterer Rollenmodelle mit dem Ziel der Spionage. So tritt Dunja in ihrer Rolle als Stechfliege (auf Russisch ein maskulines Substantiv „Ovod“) im Roman größtenteils grammatikalisch im maskulinen Genus auf (nur wenn sie explizit in ihrer Frauenrolle agiert, wechselt auch der Erzähler ins Femininum) und feiert verkleidet als Junge auch ihre größten Erfolge als Spionin.39 Diese Adaptionen unterschiedlicher Rollen (dämonische Wesen, alte Männer, wechselndes Geschlecht, weiße Kollaborateure u.a.) stellen aber bei Bljachin keine ambivalenten Übergangsriten zur Wiederherstellung einer beschädigten imperialen Identität dar, sondern sind im Gegenteil Ausdruck einer „geglückten“ Identifizierung literarischer Vorlagen mit der politischen Welt des Bürgerkriegs (Bolschewiki als Rothäutige). Dieses „geglückte“ Maskenspiel der positiven Haupthelden ist zugleich aber auch als eines des Teufels gekennzeichnet, was schon im Titel des Romans vorgegeben ist: Immer wieder werden die drei Helden als „böse Geister“ („нэчиста сыла“), „rotblonder Satan“ (рыжий сатана) oder „verfluchtes Mädchen“ (проклятая девчонка)40 bezeichnet, wobei Bljachin gewissermaßen einen Gegenentwurf zu Nikolaj Gogol’s romantischem Kosakenmythos und Ukrainebild zeichnet. Wo bei Gogol’ in seinen Geschichten aus den Abenden auf dem Fuhrwerk Dikanka (Вечера на хуторе близ Диканьки, 1831/32) und insbesondere im Taras Bulba (1835/1842)41 der Glaube an böse Geister und Teufel noch als ein zwar exotischer, aber auch sympathischer Zug eines Grenzlandes dargestellt wird, in der russisch-orthodoxer Glaube und rationale Weltbilder nur eingeschränkte Gültigkeit haben,42 werden bei Bljachin diese Vorstellungen als ungebildeter 39
Umgekehrt wird Machnos Schwäche und emotionale Degeneration schon durch seinen Spitznamen „Rotfüchsin“ signalisiert, der in Neuauflagen des Romans sogar in die Untertitel aufgenommen wurde, die Die Jagd nach der Blaufüchsin (Охота за Голубой Лисицей, Izdatel’stvo Proletarij) oder Die Verfolgung der Blaufüchsin (Погоня за Голубой Лисицей, Харьков 1927) lauteten, Vgl. V’jugin: Bljachin, S. 235; Lupanova, Irina P.: Polveka. Sovetskaja detskaja literatura 1917–1967. Očerki, Moskva 1969, S. 45.
40
Die meisten Kosaken und Bauern sprechen in dem Roman Ukrainisch bzw. einen lokalen Akzent. Vgl. Bljachin: Krasnye d’javoljata, S. 11f., 60f., 98, 210.
41
Vgl. Gogol’, Nikolaj: Večera na chutore bliz Dikan’ki. Mirgorod (Biblioteka otečestvennoj klassičeskoj chudožestvennoj literatury), Moskva 2006.
42
Zu diesem romantischen Ukraine- und Kosakenbild, vgl. Kornblatt: The Cossack Hero in Russian Literature, S. 39–60; Marszałek, Magdalena; Schwartz, Matthias: Imaginierte Ukraine. Zur kulturellen Topographie der Ukraine in der polnischen und russischen Literatur, in: Osteuropa 11 (2004), S. 75–86.
96 | Kommunistische Pinkertons
Abb 4
Titelbilder; Links: Lev Ostroumov: Makar-sledopyt. Povest’. Čast’ tret’ja, Moskva, Leningrad 1926; Rechts: Titelblatt der Heftreihe Bibliotečka revolutionnych priključenij, Nr. 13 (1925).
Aberglaube rückständiger und reaktionärer Kosaken und Kulaken diskreditiert, den die „roten Teufelchen“ zum Teil bewusst zu ihrem Nutzen zu instrumentalisieren wissen. Machno und seine Kosaken sind hier keine romantischen Träumer, sondern die korrumpierten Apachen, die sich aus Habgier und Dummheit von den weißen Kolonisatoren instrumentalisieren lassen.43
43
Diese Revision romantischer Topoi und Heldenfiguren vollzieht Bljachin auch im zweiten Teil des Romans von 1926, wenn er beispielsweise die Weißgardisten um den Baron Wrangel kurz vor dem Fall von Perekop (deren Landenge die einzige Verbindung der Krim zum ukrainischen Festland darstellt) in Sewastopol einen rauschenden Maskenball (Бал-маскерад) feiern lässt, auf dem ein Unbekannter mit schwarzer Maske und in vollkommen rotem Kostüm auftaucht, der als „stummer Clown“ (немой паяц) die Ballgesellschaft erschreckt und fasziniert, ehe er nach dem Fall von Pereskop eine Bombe direkt vor Wrangel und Gefolge explodieren lässt. Die Inszenierung dieses Balls und seines Ausgangs stellt eine deutliche intertextuelle Replik auf Edgar Allan Poes The Masque of the Red Death (1842) dar: doch der Vermummte in der „Urgestalt des Roten Todes“ bringt hier als „namenloses Grauen“ nicht die Pest zu Fürst Prospero und den Seinen, sondern eine Handgranate zu General Wrangel und seinen Offizieren; nicht eine tödliche Infektionskrankheit, sondern das nicht weniger tödliche bolschewistische Gift der Revolution rafft hier die überkommene Adelsgesellschaft hinweg. Vgl. Poe, Edgar Allan: Die Maske des Roten Todes, in: Ders.: Gesammelte Werke in 5 Bänden. Bd. 2. Der Fall des Hauses Ascher (dt. Arno Schmidt, Hans Wollschläger), Zürich 1994, S. 376–384; Bljachin: Krasnye d’javoljata, S. 191–196.
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Damit findet in der Adaption westlicher Wildwesttexte eine doppelte Verschiebung statt: Zum einen werden die kolonialen Fiktionen entfernter Welten in die kulturhistorisch gesehen seit ihrer Eroberung nicht weniger exotischen Grenzgebiete des eigenen ukrainischen Herrschaftsgebiet übertragen.44 Zum anderen inszeniert der Roman in der Maskierung der Protagonisten als verfeindete Indianerstämme und in der diabolischen Instrumentalisierung religiöser Vorstellungen dieses „Zaubermärchen“ als Erfolgsrezept für das „harte Leben“ des revolutionären Kampfes. Gleichzeitig wird in dieser kolonialen und diabolischen Maskerade aber noch ein dritter Diskursstrang neben der (anti-)imperialen und (anti-)religiösen Ausrichtung deutlich – nämlich derjenige einer Dekonstruktion biologistischer Konzeptualisierungen des Menschenbildes, indem gängige Festschreibungen der „Rassen“- (Rot- und Weißhäutige) und Geschlechtszugehörigkeit politisch umgeschrieben werden. Nicht biologische Herkunft, das soziale Milieu, religiöse Gewissheiten oder angeborene Geschlechterrollen, sondern der Klassenstandpunkt determinieren die Handlungen und Gefühle der Protagonisten. Am deutlichsten ist dieser marxistische Determinismus in der Figur des Chinesen Ju-Ju angelegt, von dem es heißt, er habe vor dem Bürgerkrieg als Zirkusakrobat und Zauberkünstler gearbeitet, womit er ganz der typischen Großstadtexotik der Pinkertongeschichten entspricht, die zwischen Völkerschauen, Zirkusattraktionen und urbaner Straßenfolklore den kolonialen Blick und orientalistische Diskurse reproduziert.45 In Bljachins Roman hingegen heißt es von Ju-Ju, er befinde sich schon „seit langem“ in Budennyjs Armee: „Aber der Bürgerkrieg erweckte in ihm das leidenschaftliche Verlangen seine langweilige Hungerarbeit zu verlassen und sich in das Feuer der blutigen Ereignisse zu stürzen. Er verstand sehr vage, dass der Kampf der russischen Bauern und Arbeiter für die Sowjetmacht eine Sache aller Unterdrückten ist, und schloss sich spontan den Roten an, unter den Bannern der Freiheit und der Revolution.“46
Der koloniale Diskurs schreibt sich also transformativ in einer Rekodierung des Exotischen fort, da dem Chinesen höchstens ein naturwüchsiges, intuitives Gespür für die richtige Sache, aber kein rationaler Zugang zur kommunistischen Idee zugesprochen wird. Nun entspricht dieses „leidenschaftliche Begehren“, sich aus einem „dumpfen“ Verstehen und „spontanen“ Bestreben heraus ins „Feuer blutiger Ereignisse“ zu stürzen, aber genau dem 44
Vgl. Shkandrij, Myroslav: Russia and Ukraine. Literature and the Discourse of Empire from Napoleonic to Postcolonial Times, Montreal 2001.
45 Bljachin:
Krasnye d’javoljata, S. 28; Zum kolonialen Blick und rassistischen Kontruktion des Anderen in der Moderne vgl. MacClintock, Anne: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York u.a. 1995, S. 36–71.
46 „Но гражданская война побудила в нем страстное желание покинуть свою скучную голодную работу
и броситься в огонь кровавых событий. Он очень смутно понимал, что борьба русских крестьян и рабочих за Советскую власть есть дело всех угнетенных, и стихийно потянулся к красным, под знамена свободы и революции.“ Bljachin: Krasnye d’javoljata, S. 28
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von Čukovskij so scharf attackierten Aufbauprinzip der Pinkertongeschichten, in denen eine unendliche Folge physischer Faust- und Wettkämpfe lediglich die „allerprimitivsten Leidenschaften“ und „starken seelischen Emotionen“ der einfachen Leser – der „weltweiten Hottentotten“ – bediene. Was in der Pinkertonovščina aber noch als Merkmal einer kolonialen und hochkulturellen Differenz des Anderen und Exotischen extrapoliert und orientalisiert wurde in der Gestalt der barbarischen Wilden, wird hier im Sinne von Bucharins „Erziehung der Gefühle“ als eigentliche Motivation jeglicher Abenteuerhandlung vorgeführt: All die dumpfen und spontanen Emotionen sind durch ein einziges Ziel determiniert: Die Weltrevolution. Wo sowohl Coopers Pfadfinder wie auch Voynichs Stechfliege erst über die Desillusionierung und das Scheitern ihrer Jugendträume ihren Weg finden, während die naive Spontaneität der indigenen Bevölkerung zwangsweise in den Untergang und die Versklavung führt, ist sie hier die eigentliche Triebkraft der Geschichte. Doch im Unterschied zu späteren Heldenkonzeptionen des Sozialistischen Realismus, der immer eine Entwicklung der Helden vom Primitiv-Spontanen zum RationalBewussten proklamieren sollte, stürmen Bljachins Rote Teufelchen von einem Abenteuer zum nächsten und von einer Maskerade zur anderen ohne nennenswerte retardierende Momente der Reflexion. In der gleichnamigen Verfilmung des Romans durch die Kinosektion des Volkskommissariats für Bildung in Georgien, die im April 1923 in Tiflis und im November des gleichen Jahres in Moskau ihre Premiere hatte, wird diese Akzentsetzung noch verstärkt.47 In Ivan Perestianis Filmadaption gibt der Todesschwur des von den Machno-Banden erschossenen Vaters den Bücherwürmern Miša (gespielt von Pavel Esikovskij, 1900–1961) und Dunjaša (gespielt von Sofija Žoseffi, 1906–1982) den Anstoß in den Bürgerkrieg zu ziehen, wobei ihnen als dritter Mann der ehemalige Matrose und Straßenakrobat, der „Neger Tom Jackson“ (Tom Džekson, dargestellt von Kador Ben-Salim) zur Seite steht. Den von drei Zirkusartisten gespielten Roten Teufelchen wird auf der Leinwand die Welt der weißen Offiziere, Kosaken und Kulaken gegenübergestellt, die noch sehr viel stärker als im Roman im Stile des Slapstick als eine groteske Welt der degenerierten Säufer, brutalen Mörder und skrupellosen Spekulanten gezeichnet ist.48 So wird der Bürgerkrieg im Roman und noch deutlicher im Film auch als ein Drama der Affektkontrolle inszeniert, bei dem die zielstrebigen revolutionären Gefühle über eine emotionale Dekadenz obsiegen, die sich letztlich durch ihre ungebremste Habgier, körperliche Zügellosigkeit und ausschweifende Maßlosigkeit selber zugrunde richtet. Damit inszenieren Roman und Film aber eine Verkehrung der kolonialen Abenteuermuster, verhalten sich doch die „weißhäutigen“ Imperialisten entsprechend dem stereotypen Bild der „Hottentotten“, deren Betragen hier nicht als animalische Rückständigkeit, sondern als degenerierte Verfallserscheinung präsentiert wird.
47
Vgl. [Anon.]: Krasnye d’javoljata [133], in: Mačeret, Aleksandr V. (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my. Annotirovannyj katalog. Nemye fil’my (1918–1935), Bd. 1, Moskva 1961, S. 42–43; Lebedev, Nikolaj: Očerki istorii kino SSSR. Nemoe kino. 1918–1934, Moskva ²1965, S. 166–170.
48
Vgl. Krasnye d’javoljata. Reg. Ivan Perestiani. Kinosekcija Narkomprosa Gruzii, SSSR 1923.
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Der Film wurde nicht nur von der bolschewistischen Führung und Kritik begeistert als erster geglückter sowjetischer Revolutionsfilm gefeiert49, sondern entwickelte sich zum erfolgreichsten sowjetischen Werk der Stummfilmzeit jener Jahre, das bis zu deren Ende ununterbrochen in den Kinos lief und aufgrund seiner Beliebtheit während des Zweiten Weltkriegs 1943 mit einer Tonspur versehen sogar erneut in die Kinos kam.50 Der Erfolg des Films führte dazu, dass Bljachin 1926 noch einen zweiten Teil der Roten Teufelchen als „Kinokurzroman“ (киноповесть) veröffentlichte, der von der Verfolgung des geflohenen Machno und dem Sturz Wrangel’s auf der Krim mit Hilfe der drei Teufelchen erzählt.51 Gleichzeitig drehte Perestiani mit dem Georgischen Kinostudio und denselben Schauspielern als Heldentrio gleich vier Fortsetzungsfolgen, von denen nur die erste (Das Grab Savur, russ. Савур-могила, 1926) noch lose an die Romanvorlage anknüpft und von weiteren Bürgerkriegsabenteuern handelt. Die nächsten zwei Folgen drehen sich um russische Emigranten, die mit Hilfe einer chemischen Wunderwaffe in den Ölraffinerien von Baku am Kaspischen Meer antisowjetische Sabotageakte planen (Das Verbrechen der Fürstentochter Širvanskaja, Преступление княжны Ширванской und Die Bestrafung der Fürstentochter Širvanskaja, Наказание княжны Ширванской, beide 1926), und um einen hinterlistigen Haremsbesitzer, dem die Roten Teufelchen ebenfalls auf die Spur kommen (Illan Dilli, Иллан Дилли, 1926).52 Allerdings konnten diese Fortsetzungen nicht an den Erfolg des Erstlings anknüpfen. Der Roman hingegen erlebte nach dem Ende der Stalinzeit insbesondere aufgrund der Neuverfilmung von Ėdmond Keosajan (1936–1994) unter dem Titel Die
49
Vgl. die zitierten Rezensionen bei Lebedev: Očerki istorii kino SSSR. Nemoe kino, S. 169f.; Chersonskij, Ch.: „Krasnye djavoljata“ (Teatr i iskusstvo), in: Izvestija 270 (25.11.1923), S. 5; Bljachina-Toporovskaja: Avtor „Krasnych d’javoljat, S. 43ff.
50
So schreibt Lebedev über den Film: „Kein sowjetischer Film weder Jahre davor noch danach ist von solch einer begeisterten Reaktion der Zuschauer, besonders der Jugend, begleitet worden wie die ‚Roten Teufelchen‘. Man hat den Film mehrere Male hintereinander angeschaut. Er hat sich die ganze Stummfilmperiode über in den Kinos gehalten. [...] Die ‚Roten Teufelchen‘ haben den ausländischen ‚Detektiv- und Cowboyfilmen einen empfindlichen Schlag versetzt.“ („Ни один советский фильм ни до, ни в течение
ряда лет после нее не сопровождался такой восторженной реакцией зрителей, особенно молодежи, как ‚Красные дьяволята’. Фильм смотрели по нескольку раз подряд. Он продержался в репертуаре в течение всего периода нимого кино. [...] ‚Красные дьяволята‘ нанесли чувствительный удар по зарубежным ‚детективам‘ и ковбойским фильмам.“) Ebd., S. 170. 51
Der zweite Teil erschien ab 1927 zusammen mit dem ersten Teil als ein „Kurzroman“ in einem Buch. Vgl. Bljachin: Krasnye d’javoljata, hier S. 121–211; V’jugin: Bljachin, S. 236; Als mit der Wiederentdeckung 1960 die zweite Erfolgswelle des Romans beginnt, wird nur noch der erste Teil des Romans in einer stark überarbeiteten Fassung (erstmals im Verlag Sverdlovskoe knižnoe izdatel’stvo) aufgelegt, in der beispielsweise Trockij durch Lenin ersetzt, die antikirchliche Stoßrichtung abgemildert und der „kinematographische“ Stil der Pinkertonovščina dem Stil sozialistisch-realistischer Jugendliteratur angepasst worden sind, vgl. Bljachin, Pavel: Krasnye d’javoljata. Povest’, Saratov 1968.
52
Vgl. [Anon.]: Illan Dilli [Lemma 353]; Nakazanie knjažny Širvanskoj [374]; Prestuplenie knjažny Širvanskoj [391]; Savur-Mogila [396], in: Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 139– 140, 151–152, 161–162, 164–165.
100 | Kommunistische Pinkertons
nicht zu fangenden Rächer (Неуловимые мстители, 1966, dt. Verleihtitel Die geheimnisvollen Rächer) eine Wiederentdeckung, der zusammen mit zwei Fortsetzungen zu einem der populärsten Jugendfilme der späten Sowjetzeit wurde.53 Diese hier das erste Mal praktizierte enge mediale Verschränkung von Roman und Verfilmung sollte aber in jenen Jahren ein für die Neuausrichtung des Abenteuergenres typisches Phänomen werden. Dabei kamen bezeichnenderweise die entscheidenden Impulse nicht aus der Kinematographie, sondern umgekehrt von den beim Publikum erfolgreichen sowjetischen Pinkertonadaptionen, die Kinoregisseure dazu inspirierten, das Abenteuergenre auch im Film neu zu inszenieren: Das galt für die Roten Teufelchen genauso wie in den Folgejahren für die Verfilmungen von Aėlita, Strahlen des Todes oder Mess Mend.54 Der zweite große Abenteuerroman über den Bürgerkrieg war Lev Ostroumovs Kurzroman trilogie Makar der Pfadfinder, die im Staatsverlag Gosizdat 1925 und 1926 erstmals in Buchform erschien.55 Ostroumov arbeitete nach einem Studium der Romanistik und Germanistik vor allem als Übersetzer römischer und lateinischer Dichtung, war aber seit 1921 auch in der Kommission zur Schaffung eines neuen Kinderbuches im Verlag Gosizdat tätig und veröffentlichte hier in der zweiten Hälfte der 1920er mehr als ein Dutzend Bücher mit Gedichten für Kinder, 1925 einen Lev Tolstoj gewidmeten Roman sowie 1931 mit Die Fabrik der Gespräche (Фабрика разговоров) einen Produktionsroman über das Sozialleben und die gesellschaftspolitische Bedeutung des zentralen Fernmeldeamtes vor und während der Revolution. Im Jahr 1930 folgte noch eine Fortsetzung seines Bestsellers unter dem Titel Der schwarze Schwan. Neue Abenteuer von Makar dem Pfadfinder (Черный лебедь. Новые приключения Макара следопыта), die aber schon aufgrund des vollkommen veränderten literaturpolitischen Umfelds scharfer Kritik ausgesetzt war.56 53
Dem Film ging eine noch von Bljachin mitverfasste Dramatisierung des Romans am Moskauer Dramatischen Gogol’-Theater 1960 voraus, die anschließend noch landesweit auf mehreren Theaterbühnen erfolgreich aufgeführt wurde. Vgl. Bljachina-Toporovskaja: Avtor „Krasnych d’javoljat“, S. 66f.; Aufgrund des großen Erfolgs der Verfilmung von 1966 folgen 1968 der Film Neue Abenteuer der Nichtzufangenden (Новые приключения неуловымых, Verleihtitel: Neue Abenteuer der Geheimnisvollen) und 1971 Die Krone des russländischen Imperiums oder erneut die Nichtzufangenden (Корона Коссийской империи, или cнова неуловимые). Allerdings nehmen diese Filme keinerlei Kenntnis mehr von der diskursiven und ideologischen Einbindung ihrer Vorlagen in die Neuausrichtung einer sowjetischen Abenteuerliteratur: Die „teuflische“ antireligiöse Stoßrichtung fehlt ihnen vollkommen. Stattdessen findet eine Reexotisierung der ukrainischen Kosakenwelt statt und auch die antikolonialen Bezüge in Gestalt von Tom Jackson werden zugunsten eines lustigen „Zigeunerjungen“ genauso gestrichen wie die vielschichtigen Bezugnahmen auf Cooper, Mayne Reid und Voynich.
54
Vgl. zu diesem Aspekt genauer Abschnitt 4.1 dieses Buches.
55
Ostroumov, Lev: Makar-sledopyt. Povest’. Kniga pervaja, Moskva, Leningrad 1925; Ders.: Makar-sledopyt. Povest’. Kniga vtoraja, Moskva, Leningrad 1925; Ders.: Makar-sledopyt. Povest’. Čast’ tret’ja, Moskva, Leningrad 1926.
56
Vgl. Ostroumov, Lev: Černyj lebed’. Novye priključenija Makara-sledopyta, Moskva 1930; Gerzon, Sergej: O tom, kak ne sleduet pisat’ dlja podrostkov, in: Kniga i revoljucija 6 (1930), S. 17–19.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 101
Ostroumovs Kurzromane über Makar nehmen zentrale Elemente aus Bljachins Roten Teufeln wieder auf, variieren und akzentuieren sie aber teilweise etwas anders. Auch hier spielt die Handlung im ukrainischen Grenzland zwischen den Fronten des Bürgerkriegs, sie konzentriert sich vor allem auf einen kleinen Jungen, der sich als Vollwaise und gesellschaftlicher Außenseiter mit Hilfe westlicher Abenteuerliteratur nach der Oktoberrevolution zu einem Bürgerkriegshelden emanzipiert. Körperlich klein, „extrem schwarz und stämmig“ („ больно черен и коренаст“), wird er anfangs als „Makarchen der Käfer“ („Макарка Жук“) verspottet,57 doch dank der Lektüre von Abenteuerliteratur über Indianer und Weißgesichter und seines großen Vorbildes, Coopers „altem Jäger“ Pfadfinder, genannt Adlerauge, kann er sich gegen die andern Kinder im Dorf und dann auch im Bürgerkrieg behaupten, indem er sich imaginär über sein unmittelbares Umfeld erhebt.58 „Die Sonne wurde zu einem großen roten Ball und sank schnell hinter die taubenblauen Wolken, die den Himmel entlang stürmenden Armeen rothäutiger Indianer mit flatternden Federn auf den Köpfen ähnelten; ein richtiger Kampf wurde oben, im purpurroten Feuerschein des Sonnenuntergangs ausgetragen./ Makar verlor sich unwillkürlich in Träumereien, den Kopf in den Nacken geworfen: schön wäre es jetzt dort zu sein, in der roten Flamme! Wahrscheinlich fliegen dort die Pfeile der Indianer, blitzen die Tomahawk-Hämmer, man ficht eine heiße Schlacht.“59
Die Romanhandlung beschreibt des Weiteren, wie Makar infolge der Oktoberrevolution diese imaginär-himmlische Welt der Wolkenträume mehr und mehr auf der Erde, im eigenen Leben verwirklichen kann. Nachdem sein Dorf nach den Deutschen, Petljura und den Roten erneut von den Weißgardisten eingenommen wird, wagt er im Unterschied zu den anderen feigen und demütigen ukrainischen Bauern als einziger Widerspruch, muss mit seinem treuen Hund Družok fliehen, gerät zwischen die Fronten, trifft auf einen alten Bandolaspieler (бандурист), der wie ein Hausgeist (домовой) und Teufel (черт) aus „Omas Märchen“ (бабьи сказки)60 aussieht, sich aber als verkleideter Bolschewik enttarnt.61 Beide geraten in die Hände der Weißgardisten, können fliehen, verkleiden sich als Pope und kleines Mädchen, Makar wird von den Rotarmisten als Kundschafter engagiert, lernt bei den deutschen Kolonisten mit Telefon, Mähdrescher, Motorrad und Auto die neueste Technik schätzen, wird verraten, gefangen genommen, flieht erneut im Auto eines Machno-Anhängers, bis dieses explodiert, sorgt als weißer Offizier 57
Ostroumov: Makar-sledopyt. Kniga pervaja, S. 7.
58
Ebd., S. 6.
59 „Солнце стало большим красным шаром и быстро садилось за сизые тучи, похожие на бегущие по
небу армии краснокожих индейцев с развевающимися перьями на головах; целое сраженье шло наверху, в пурпурном зареве заката./ Макар невольно замечтался, задрав голову: хорошо бы сейчас туда, в это красное пламя! Вероятно, там летают стрелы индейцев, сверкают топоры-томогавки, идет жаркая битва.“ Ebd., S. 78.
60
Ebd., S. 36.
61
Ebd., S. 50.
102 | Kommunistische Pinkertons
getarnt entscheidend für deren Niederlage, ehe er von Roten gefangen genommen wird, die ihn als „käufliches Teufelchen“ und feindlichen Spion erschießen wollen,62 bevor dank seines Hundes seine richtige Identität als „Pfadfinder“ offenbart wird. Ähnlich wie in den Roten Teufelchen sind es auch bei Ostroumov vor allem die Techniken der Verstellung und Maskerade, aber auch der genauen Beobachtung und Imitation des Gegners, die Makar zum Pfadfinder und damit zum erfolgreichen Spurenleser und Kundschafter werden lassen. Dies unterscheidet ihn nicht nur von den ukrainischen Dorfjungen und analphabetischen Bauern, die noch ganz in ihrer von religiösem Aberglauben und Unwissen geprägten Umgebung gefangen bleiben, sondern auch fundamental von seinen literarischen Vorläufern, wie sie in Makar Devuškin in Fedor Dostoevskijs Armen Leuten (Бедные люди, 1845), Vladimir Korolenkos Makars Traum (Сон Макара, 1855) oder Maksim Gor’kijs Makar Čudra (Макар Чудра, 1892) angelegt sind: Wo diese in ihren elenden sozialen Verhältnissen gefangen bleiben und eine Befreiung nur im Traum möglich ist, kann Ostroumovs Makar sich dank der Identifizierung mit dem Pfadfinder aus seiner Unmündigkeit im Diesseits emanzipieren.63 Neben dem „Bücherwissen“ Coopers und dem Vorbild der Bolschewiki weist zudem die Beherrschung neuester Technik über die Welt der Pfeile und Tomahawks hinaus. Denn während die Machnisten und Weißgardisten ihre motorisierten Fahrzeuge nur als Luxusgüter aus Bequemlichkeit benutzen, weiß Makar das Automobil als Fluchtmittel erfolgreich taktisch einzusetzen, und erst indem er die Möglichkeit der Stimmenimitation (er schlüpft in die Rolle eines erschossenen weißgardistischen Offiziers) per Telefon erkennt, kann er dem Kampfgeschehen durch Irreleitung des Gegners eine entscheidende Wendung geben.64 Zusammenfassend lassen sich für Bljachins Rote Teufelchen und Ostroumovs Makar den Pfadfinder damit folgende entscheidende Verschiebungen der Abenteuerliteratur festhalten. Beide Werke ermöglichen im Sinne von Bucharin eine Konstituierung der jugendlichen „Bücherwürmer“ als bolschewistische Kundschafter, indem sie sich mit Vorbildfiguren aus westlichen Abenteuerromanen identifizieren. Deren Initiation gelingt, indem die fiktionale Welt des 62 63
„Diese käuflichen Teufelchen kennen wir! An die Wand, An die Wand den Spion!“ („Знаем мы этих
продажных чертенков! К стенке, к стенке шпиона!“) Ebd., S. 142.
So heißt es schon ganz am Anfang über seine Identifizierung mit Coopers Pfadfinder: „So kam es dass er sich Pfadfinder nannte und die andern kleinen Jungs auch dazu anhielt ihn so zu rufen. Doch die Jungs hatten keine Bücher gelesen und wollten von dem Spitznamen nichts wissen.“ („Так себя и прозвал Следопытом и мальчишкам велел себя этак кликать. Но мальчики книжек не читали и знать не хотели этого прозвища.“) Ebd., S. 7. Andrej Platonovs spätere Erzählung Makar im Zweifel (Усомнившийся Макар, 1929) schreibt hingegen die vorrevolutionäre Makar-Figur von Dostoevskij bis Gor’kij fort und
lässt sich auch als Gegenthese zu Ostroumovs Romanfigur lesen, handelt sie doch von einem infantilen Helden, dessen intuitive Fähigkeiten in einer bürokratisierten sowjetischen Wirklichkeit keinen Platz mehr finden (bis Platonovs Protagonisten zum satirisch-fantastischen Ende hin selber diese Wirklichkeit außer Kraft setzen). Vgl. Platonov, Andrej: Usomnivšijsja Makar, in: Ders.: Usomnivšijsja Makar. Rasskazy 1920-ch godov. Stichotvorenija (Sobranie sočinenij, Bd. 1), Moskva 2009, S. 216–234. 64
Ebd., S. 136ff.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 103
Jungen Italien und des Wilden Westens in das in der russischen Kulturgeschichte immer schon als prekärer Grenzraum imaginierte Gebiet des ukrainischen Kernlandes verlegt wird.65 Diese Welt ist aufgrund ihrer Rückständigkeit, des Analphabetismus und Aberglaubens extrem anfällig für die als skrupellos und degeneriert beschriebenen Banditen und Offiziere der Machnisten und Weißgardisten, die ähnlich wie die weißhäutigen Siedler (Cooper) und katholischen Grundbesitzer (Voynich) die naive und korrumpierte „rothäutige“ indigene Bevölkerung ausbeuten und unterdrücken. Die Romane vollziehen damit gewissermaßen eine sekundäre Exotisierung des ukrainischen Bürgerkriegsgebietes mit Hilfe der Figuren und Motive westlicher Abenteuerliteratur, jedoch nicht um es als ein ambivalentes Grenzland imperialer Herrschaft zusätzlich zu mystifizieren, sondern im Gegenteil, um in der Identifizierung der Gogol’schen Folklore der Dikanka-Geschichten mit der tragischen Welt der Cooperschen Indianer die Hinfälligkeit und Ungerechtigkeit dieser Kosaken- und Weißgardistenregime kenntlich zu machen. Dabei arbeiten Bljachin und Ostroumov nicht mit einer vordergründigen Metaphorik und Topik der Entblößung und Entlarvung, sondern unterlaufen die als „verkehrt“ erkannte Ordnung exzessiv durch Handlungsmuster der Verkleidung und Verstellung, Täuschung und Tarnung, die die Beschränktheit und Brüchigkeit dieser im Sinne der Oktoberrevolution anachronistischen Welt vorführen. Diese Körper- und Maskierungstechniken sind, ohne dass es in den hier vorgeführten Romanen explizit thematisiert wird, natürlich auch diejenigen des kinematographischen Slapsticks, worauf noch weiter unten eingegangen wird. Bljachin und Ostroumov legten in ihren Werken die entscheidenden Grundlagen für eine Neuausrichtung der Abenteuerliteratur im Sinne von Bucharins „Erziehung der Gefühle“, die in den Folgejahren auch für andere Sujets und Weltgegenden vielfach imitiert und weiterentwickelt wurden.
65
Im zweiten Teil von Makar dem Pfadfinder wird die Handlung dann in das ostukrainische Gebiet des Donezkbeckens verlegt, im dritten Teil gegen Ende des Bürgerkriegs verschlägt es Makar und seine Freunde ans Schwarze Meer im Kampf gegen Denikin und die letzten Weißgardisten, wo Makar zeitweise die Rolle des Pfadfinders in die des Wildtöters (Coopers letzten, fünften Lederstrumpf-Roman) tauschen muss. Vgl. Ostroumov: Makar-sledopyt. Kniga vtoraja; Ders.: Makar-sledopyt. Kniga tret’ja.
104 | Kommunistische Pinkertons
2 .3 W elt w eite Pfa d finder – Die fik ti o n a le R e ko n str u kti o n d e s Ex ot i sc hen 6 6 „Wir haben noch keinen ‚kommunistischen Pinkerton‘, oder genauer, kein sozial-revolutionäres Genre. Daher erwächst die Aufgabe: Ein gnadenloser Kampf gegen das pseudo-revolutionäre Abenteurertum und die Schaffung einer sowjetischen Abenteuerliteratur.“ Sergej Dinamov (1925)66
Einen der ersten Versuche, die bisherigen Resultate der Schaffung eines „kommunistischen Pinkertons“ zu bewerten und diese neue „Abenteuerliteratur“ (авантюрная литература) literaturhistorisch einzuordnen, unternahm der junge Literaturwissenschaftler und spätere Shakespeareforscher Sergej Sergeevič Dinamov (1901–1939) Ende 1925 in der Zeitschrift Krasnoe studenčestvo (Rote Studentenschaft).67 Demnach habe diese Art von Literatur bislang drei Entwicklungsstufen durchlaufen. Die erste Stufe (12. bis 17. Jahrhundert) stellte der Ritterroman mit seiner Idealisierung der feudalen Ordnung dar, auf den ab dem 18. Jahrhundert als zweite Stufe die Abenteuerliteratur mit dem „Geschäftsmann“ (деловой человек) als Haupthelden folgte, dessen Beginn Daniel Defoes Robinson Crusoe als Repräsentant der aufsteigenden bürgerlichen Klasse markierte. Ähnlich wie seinerzeit der späte Ritterroman habe dann in der „demokratischen Periode“ der Bourgeoisie die Abenteuerliteratur eine „bestimmte ‚konservative‘ soziale Funktion“ („определeнную ‚охранную‘ социальную функцию“) erhalten,68 deren Helden entweder in den „Abenteuern zu Land und zu Wasser“ („приключения на суше и на море“) in engem Zusammenhang mit der Kolonialpolitik
66 „Мы еще не имеем ‚коммунистического Пинкертона’ или, вернее, социально-революционного жанра.
Отсюда – задачи: беспощадная борьба с псевдо-революционной приключенщиной и создание советской авантюрной литературы.“ Dinamov, Sergej: Avantjurnaja literatura našich dnej, in: Krasnoe
studenčestvo 6–7 (1925), S. 109–112, 112. 67
Ebd. Der Artikel stellte eine Kurzfassung seines Beitrags für die erste Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie dar. Vgl. Ders.: Avantjurnyj roman, in: Šmidt, Otto Ju. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Bd. 1, Moskva 1926, S. 120–122; Dinamov arbeitete als Parteimitglied in jener Zeit noch offiziell als Litograph in der Roten Armee (1918–1926), veröffentlichte aber schon seit 1924 regelmäßig Rezensionen zu westlicher und Abenteuerliteratur, Vgl. Ders.: Sovetskij avantjurnyj roman; Als Experte für zeitgenössische Literatur aus dem Westen stieg er über verschiedene Stufen in den dreißiger Jahren zum Direktor der zentralen Kaderschmiede für Literaturpolitiker – des Literaturinstituts der Roten Professur (Литературный институт красной профессуры) – auf und wurde 1937 Chefredakteur der Zeitschrift Internacional’naja literatura (dt. Internationale Literatur), ehe er 1939 während der Säuberungen als Konterrevolutionär erschossen wurde. Vgl. [Anon.]: Dinanov, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t., Bd. 3, Moskva 1930, S. 310; Bljum, Arlen V.: „Internacional’naja literatura“. Podcenzurnoe prošloe, in: Inostrannaja literatura 10 (2005), http://magazines.russ.ru/inostran/2005/10/bl21.html (01.03.2007).
68
Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 109f.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 105
einen starken „militärischen Charakter“ („милитаристский характер“) entwickelten69 oder in Gestalt der „Spitzel-Spürhunde“ („ищейки-сыщики“) „in der Detektiv-Kriminalliteratur“ („в детективно-криминальной литературе“) als wahre Bewahrer der kapitalistischen Ordnung auftreten würden.70 Parallel zu dieser bürgerlichen Abenteuerliteratur habe mit der Oktoberrevolution eine dritte Entwicklungsstufe des „sozial-revolutionären Abenteuergenres“ ( социальнореволюционного авантюрного жанра)71 begonnen, das Bucharin als „kommunistischen Pinkerton“ bezeichnet habe: „Das Wesen der letzteren besteht darin, dass ihren ‚positiven Held‘ die Klasse des Proletariats darstellt, den ‚negativen‘ aber die kapitalistische Klasse.“72 Diesem Anspruch genügten nach Dinamov jedoch nur die wenigsten Werke. Selbst Ostroumovs und Bljachins Bürgerkriegsgeschichten entwickelten zwar eine klare politische Position, der „Klasse des Proletariats“ gehörten ihre jugendlichen Dorfhelden aber nicht an. Hinzu käme erschwerend, dass in der unüberschaubaren Flut an Publikationen seit 1923/1924 kaum eine eindeutige Tendenz im Sinne der proklamierten dritten Entwicklungsstufe zu erkennen sei: „Der Andrang nach [Abenteuerliteratur] bedeutender Schichten der lesenden Jugend führt dazu, dass man entweder direkte Makulatur auf den Buchmarkt wirft oder aber für weite Kreise völlig unzugängliche und unverständliche ‚exklusive‘ Literatur.“73 So konnte der Rezensent nur „erste Schwalben“ (первые ласточки) eines kommunistischen Pinkertontums erkennen,74 für die er als einzig positives Beispiel Aleksandr Ignat‘evič Tarasov-Rodionovs (1885–1938) Kurzroman Linev (Линев, 1924) gelten ließ, der von den Heldentaten des im Bürgerkrieg gefallenen „sibirischen Lenin“ Linev im Uralgebiet erzählt.75 Nun steht der spätere Shakespeareforscher Dinamov mit dieser Degradierung des Großteils der postrevolutionären Abenteuerliteratur zu „echter Makulatur“ (прямая макулатура) noch weitgehend in der Traditionslinie von Čukovskijs und auch Trockijs Einlassungen zum Thema, die beide der Pinkertonovščina eine ästhetische und auch moralisch-sittliche Eigenwertigkeit absprachen.76 Und doch lässt sich gerade auch in der auf den Buchmarkt geworfenen „Makula69
Dinamov: Avantjurnyj roman, S. 121.
70
Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 109f.
71
Dinamov: Avantjurnyj roman, S. 122.
72 „Сущность последнего в том, что его ‚положительным героем‘ является класс пролетариата, а
‚отрицательным’ – класс капиталистический.“ Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 110. Mit dieser „exklusiven“ (изысканная) Literatur meinte der Rezensent die parodistischen Adaptionen der
Pinkertonovščina, auf die in Kapitel 3 näher eingegangen wird. 73
„Тяга к [приключенческой литературе] значительных слоев читательского молодняка приводит к
74
Ebd.; Dinamov: Avantjurnyj roman, S. 122.
75
Tarasov-Rodionov, Aleksandr I.: Linev, in: Oktjabr’ 1 (1924), S. 54–142. Zu weiteren Bürgerkriegabenteuern, die infolge von Bljachins Roten Teufelchen geschrieben wurden, vgl. Lupanova: Polveka, S. 46ff.
76
Während Čukovskij auf der prinzipiell nicht zu überwindenden Differenz zwischen Hoch- und Massenliteratur beharrtte, historisiert Trockij diese Differenz als eine Entwicklungsgeschichte, in der Pinkerton
тому, что на книжный рынок выбрасывается или прямая макулатура, или же совершенно недоступная и непонятная широким кругам ‚изысканная‘ литература.“ Ebd., S. 112.
106 | Kommunistische Pinkertons
tur“ jener Jahre der von Dinamov proklamierte Perspektivwechsel feststellen. Selbst in den Werken, in denen von Lenin und Trockij inspirierte Bürgerkriegshelden oder andere „große Pfadfinder“ der Revolution keine Rolle spielen und das „neue Schema“77 des Klassenkampfes nicht direkt zur Anwendung kommt, kam es zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Abenteuerliteratur. Dies betraf vor allem die kolonial geprägten „Abenteuer zu Land und zu Wasser“, für die sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zwei neue „sozial-revolutionäre“ Spielarten abzeichneten. Die eine Spielart, welche vor allem in Zeitschriften wie dem Weltweiten Pfadfinder anzutreffen war, richtete sich auf eine Dekolonisierung der imperialen Geographie, die man durch einen Export der Revolution in ferne Länder und eine Entdeckung „fremder“ indigener Bevölkerungen als revolutionäre Subjekte zu erreichen suchte. Die andere sich etablierende Richtung einer postrevolutionären Abenteuerliteratur zielte auf eine „Exotisierung“ des sowjetischen Raumes, indem man bislang unbekannte indigene Einwohner, ungeahnte Rohstoffressourcen und rätselhafte Naturphänomene als geheimnisvolle Objekte der Romanintrige entdeckte oder im Zarismus politisch Verfolgten und Verbannten, den Bauernrebellen und Untergrundkämpfern als eine „subalterne“ Opposition eine neue „klassenkämpferische“ Stimme gab. Auf diese Weise aber erfand man die sowjetische Peripherie als ein der imperialen Geographie gefahrvoller Ozeane und unerschlossener Weltgegenden vergleichbares abenteuerliches Grenzland neu. Die Dekolonisierung der imperialen Geographie hatte sich programmatisch schon mit ihrem Titel die illustrierte Monatszeitschrift für Reisen, Abenteuer und Wissenschaftliche Fantastik Vsemirnyj sledopyt zu eigen gemacht, die ab Frühjahr 1925 herausgegeben von Vladimir Popov in Sytins Verlag Gudok erschien.78 Entsprechend dem Untertitel behandelten die Kurzromane und Geschichten der ersten Nummern zukünftige Kriegsszenarien in Westeuropa und Nordamerika,79 Abenteuer der Beduinen in Nordafrika,80 die Lebensweise der Gorillas in den
den Anfang einer Entwicklung hin zu einem „proletarischen“ Shakespeare markiert. Dinamov fordert hingegen entsprechend der politischen Revolution einen qualitativen Sprung zu einer postrevolutionären Hochliteratur sofort zu vollziehen, ohne eine längere Übergangsphase einzuräumen. 77
Dinamov: Avantjurnyj roman, S. 122.
78 Popovs
Zeitschrift gilt in der poststalinistischen und postsowjetischen Retrospektive auch als Paradebeispiel für die Blüte einer Unterhaltungsliteratur, die durch das Verbot Mitte 1932 brutal beendet wurde. Das Verbot habe dem Genre der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik in der Sowjetunion nicht nur einen unwiederbringlichen Verlust beschert, sondern auch die Karriere des „russischen Campbell“ Popov abrupt beendet, der in der Vergessenheit verschwunden sei, anstatt wie der nordamerikanische Verleger und Publizist John R. Campbell als Herausgeber kommerziell erfolgreicher Pulp-Zeitschriften und Popularisator des Begriffs Science Fiction in die Analen populärer Literatur eingegangen zu sein. Vgl. Krutskich, K.: Russkij Kėmpbell, in: Uralskij sledopyt 8 (2000), S. 5–8.
79
Grigor’ev, Sergej: Trojka Or-Dim-Stach. Radio-rasskaz buduščego, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 1–16.
80
ĖNVĖ: Ženščina iz plemeni Gafarov. Rasskaz is žizni nubijskich plemen Severnoj Afriki, in: Ebd., S. 42–51.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 107
Urwäldern Zentralafrikas81 oder den harten Alltag amerikanischer Matrosen im Stillen Ozean.82 Ethnografische Skizzen berichteten über die Karibikinsel Bonacca, Bauernaufstände in Mexiko oder das norwegische Spitzbergen,83 Tiefseeforschung und mögliche Mondflüge.84 Besonderes Augenmerk galt dabei jenen Weltregionen, in denen die Kolonialordnung am brüchigsten war, so waren die politischen Unruhen in China Mitte der 1920er Jahre nicht nur Gegenstand von Skizzen und Berichten, sondern wurden fast umgehend auch zum Gegenstand fiktionaler Geschichten.85 Während die populär geschriebenen Skizzen die sozialen Umstände und tiefer liegenden gesellschaftlichen Widersprüche beschrieben, lieferte die Abenteuerliteratur die subjektiven Motive und konkreten Konfliktszenarien, die zum Aufstand und zur Revolution führten beziehungsweise in naher Zukunft führen könnten. Einer der erfolgreichsten Abenteuerautoren im Bereich der Dekolonisierung der imperialen Geographie war in jenen Jahren Sergej Abramovič Auslender (1888–1943). Er hatte schon vor der Revolution Erzählungen und Theaterstücke geschrieben,86 geriet während des Ersten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft, migrierte durch verschiedene Länder und Regionen Westeuropas und Russlands, bis er in Sibirien landete und beim Aufbau von Kinderheimen half, ehe er 1920 nach Moskau zurückkehrte, im Kindertheater arbeitete und ab 1924 in der Sektion für künstlerische Erziehung im Pädagogischen Staatsrat (Gosudarstvennyj Učennyj Sovet, GUS) mitarbeitete und begann Abenteuergeschichten zu schreiben, die unter anderem bei Gosizdat verlegt wurden.87 Von 1924 bis 1928 schrieb er eine Reihe an Abenteuerromanen, bekam in den 1930er Jahren zunehmend Probleme, wurde 1937 im Zuge der Säuberungen verhaftet und starb 1943 in Gefangenschaft.88 In seinen Abenteuergeschichten kämpfen meistens jugendliche Hel81
Rosny aîné, Joseph Henri [Roni Staršij]: Sredi poluljudej Afriki. Neobyčajnye priključenija francuzskogo naturalista Man’e, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 61–69.
82
[Osborn]: Belyj Kanak. Priključenija amerikanskogo matrosa na tichookeanskich ostrovach, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 3–15.
83
{Anon]: Sovremennye Robinzony, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 79; Reed, John [Rid, Džon]: Pod solncev Meksiki. Očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 5 (1925), S. 32–42; Šorygin, A.: Na drevnem Rumante. Putevye očerki poezdki na Špicbergen, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 28–38.
84
[Anon.]: Raskrytie tajn morskich glubin. Okeanografičeskij očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S.75– 76; [Anon.]: Osada neba. K voprosu o mežduplanetnych soobščenijach, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925, S. 73–76.
85
Vgl. [Anon.]: Kitajskaja gramota. Očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 6 (1925); Seroševskij: Syny neba. Trudovye priključenija dvuch kitajskich kuli, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 40–41.
86
Vgl. Bragova, Alla M.: Peterburgskoe čarodejstvie (Proza Sergeja Auslendera 1905–1917), in: Auslender, Sergej: Peterburgskie apokrify, S-Peterburg 2005, S. 5–40.
87
Seine Arbeit in Kinderheimen mit obdachlosen Kindern (russ. Bezprizorniki) verarbeitete er auch literarisch, vgl. Bor, V.: Sergej Auslender. „Bud’ gotov“, in: Knigonoša 1 (1925), S. 23.
88
Biographische Angaben zu Auslender, vgl. Peres, B.: Za pjat’ let, in: Auslender, Sergej: Za volju narodnuju. Istoričeskaja povest’ (Sobranie sočinenij, Bd. 1), Moskva 1928, S. 7–18; Auslender, Sergej: Avtobiografija (Aprel’ 1927), in: Ebd., S. 19–21; Bystrov, V. N.: Auslender Sergej Abramovič, in: Skatov, Nikolaj N.
108 | Kommunistische Pinkertons
den gegen koloniale und kapitalistische Gesellschaftsordnungen. Sei es an der Seite der Volkstümler im zaristischen Russland in Für den Volkswillen (За волю народную, 1925), bei der ersten russischen Revolution 1905 in Erste Gewitter (Первые грозы, 1926) oder beim Bürgerkrieg in Viel steht bevor (Много впереди), sei es, dass er die Handlung ins revolutionäre China in Li-Sjao (Ли-Сяо) verlegt.89 Prototypisch formuliert Auslender die neue Perspektive auf die Kolonialexotik in seinem Kurzroman Der schwarze Führer. Ein Negerkurzroman (Черный вождь. Негритянская повесть, 1924), der aus der Perspektive des kleinen Jungen Jakanele die Kolonialherrschaft beschreibt.90 Dieser wächst im Landesinneren irgendwo in Afrika zunächst noch in einer fast ungestörten Welt traditioneller Jungen- und Mädchenrituale auf, in der er und ein fast gleich kräftiges Mädchen Jassiginadže vor allem durch ihre Willensstärke und Egozentrik auffallen.91 Die Weißen kommen anfangs nur als Spott- und Mythenfiguren vor, mit denen man bislang nur durch die jährlichen Tributzahlungen konfrontiert gewesen ist, ehe das Dorf von Kolonialtruppen auf der Suche nach neuen Sklaven heimgesucht wird. Widerstand durch Flucht in den Dschungel erweist sich für die Dorfbevölkerung als so gefährlich, dass sie nach einer Weile wieder den Urwald verlassen müssen und den weißen Kolonisatoren in einer brutalen Treibjagd in die Hände fallen.92 Detailliert wird die grausame Erfahrung der Gefangenschaft in Erwartung des Abtransports zur weiteren Versklavung beschrieben, die den intelligenten Jungen nach und nach dazu bringt, einen Ausbruch und Widerstand der umliegenden Stämme zu organisieren, so dass sie in einem Aufstand am Ende die weißen Kolonisatoren vertreiben können und Jakanele zum Führer des Widerstands aufsteigt, während seine Freundin Jassiginadže getötet wird.93 Zum Schluss des Kurzromans wird Jakanele auf eine Sitzung der Komintern nach Moskau eingeladen, auf der er erkennt, dass er in seinem Befreiungskampf nicht alleine dasteht, sondern Teil einer weltweiten Bewegung ist.94 Der Kurzroman erzählt nicht nur eine sowjetische, antikoloniale Robin-Hood-Geschichte, sondern in dem Haupthelden Jakele lässt sich auch unschwer ein Gegenentwurf zu Burroughs
(Hg.): Russkaja literatura XX veka. Biobibliografičeskij slovar’ v 3 tomach. Bd. 1, Moskva 2005, S. 127–128. 89 Auslender
publizierte seine Werke zuerst im Staatsverlag Gosizdat und bekam 1928 im Verlag Moskovskoe tovarišestvo pisatelej eine siebenbändige Werksausgabe. Vgl. Auslender, Sergej: Za volju narodnuju. Istoričeskaja povest’ v 4 častjach, Moskva 1925; (Sobranie sočinenij, t. 1), Moskva ²1928; Pervye grozy. Povest’ iz ėpochi 1905 goda, Moskva 1926; Ders.: Malen’kij Cho, in: Ders.: Olja. Povest’ (Sobranie sočinenij, t. 7), Moskva 1928.
90
Auslender, Sergej: Černyj vožd’. Negritjanskja povest’ (1924), in: Ders.: Černyj vožd’. Dni boevye (Sobranie sočinenij, t. 2), Moskva 1928, S. 2–101.
91
Vgl. ebd., S. 6ff.
92
Ebd., S. 42ff.
93
Ebd., S. 79ff.
94
Ebd., S. 96ff.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 109
Tarzan-Figur erkennen. Allerdings besteht die neue „sozial-revolutionäre“ Stufe der Abenteuerliteratur in diesem Werk nicht einfach in einer Substitution des kolonialen Paradigmas durch ein „klassenkämpferisches“, sondern in einer Rekodierung etablierter Topoi. So beschreibt Auslender beispielsweise den Dschungel nicht – wie in Burroughs Tarzan oder Kiplings Dschungelbuch – als exotischen Rückzugsort eines zwar rauen, aber letztlich zyklisch-harmonischen natürlichen Lebens. Vielmehr stellt sich die Wildnis als erbarmungsloser Kampf zwischen Naturelementen, Tieren und Menschen dar, dem die Kolonialordnung in ihrer raubtierhaften Monstrosität gleicht. Diese „darwinistische“ Entzauberung kolonialer Naturexotik vollzieht der Roman auch in Bezug auf deren Bewohner: In dieser „biologistischen“ Perspektive erscheinen die afrikanischen Dorfbewohner als unfähig, ihre Emotionen zu kontrollieren. Sie reagieren nur instinktiv auf Gefahren und sind aufbrausend-unkontrolliert ihren Affekten ausgeliefert, also im sowjetischen Sinne noch keine bewussten, disziplinierten, zivilisierten Menschen geworden. Demgegenüber zeichnen sich die weißen Kolonialherren umgekehrt durch eine ins Bestialische degenerierte Gefühlskälte und rassistische Brutalität aus, die jegliche Humanität verloren hat. Die fiktionale Dekolonisierung der kolonialen Geographie besteht hier nicht in einer Negierung der Differenz zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, sondern in einer Umkodierung der Exotik: Was im Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts noch anthropologisch als ein Kontrast von Zivilisation und Barbarei, Kultur und Wildnis, Fortschritt und Rückständigkeit festgeschrieben wurde, die sich zwar durchdringen und gegenseitig infiltrieren können, aber doch grundlegend unterschiedliche Welten markierten, wird hier relativiert, indem man zum einen die Differenz als historisch entstandenes Machtverhältnis „sozial-revolutionär“ infrage stellt und zum anderen durch die Perspektivierung aus Sicht der Unterdrückten auch den Status der weißen Kolonialherren „darwinistisch“ diskreditiert.95 Sinnbild für diese Degeneration des Menschlichen ins Tierisch-Unmenschliche ist die Gattin des grausamen Kommandanten, deren zarte weiße Haut und bezauberndes Lachen Jakele zu der Überzeugung bringt, sie müsse auch ein gutes Herz haben. Doch als sie mit ihrem Mann eines Tages zum Baden an den Fluss geht, sucht sie sich zum Amüsement das kleinste schwarze Mädchen aus, lässt es von ihrem Mann auf ein Brett binden und den Fluss herunter zu den Krokodilen treiben, die es zu ihrer Belustigung verspeisen.96 Die Kinderlosigkeit des weißen Kolonialehepaars wird hier in der Vernichtung des Babys durch ein Flusstier metaphorisch in ihrer ganzen sozial-darwinistischen Dekadenz als vollkommene Zukunftslosigkeit der Kolonialordnung gekennzeichnet. Anders formuliert kann 95
In Sinne dieser Neu-Perspektivierung der Kolonialgeschichte führte der Vsemirnyj sledopyt beispielsweise 1928 eine Rubrik „Galerie der Völker der UDSSR“ ein, die 1929 durch eine „Galerie der Kolonialvölker der Welt“ erweitert wurde, die kurze Porträts lieferten. Im Unterschied zur nationalistischen Völkergeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts betonten die Texte vor allem die machtpolitisch in Klassenkämpfen hergestellte und historisch-evolutionär bedingte Differenz, die sich in die lokalen Sitten und Traditionen einschreibt.
96
Vgl. Auslender: Černyj vožd’, S. 72ff. Die Szene ist gleichzeitig natürlich auch eine direkte Anspielung auf die biblische Erzählung von der Aussetzung Mose am Ufer des Nil (Ex 2,1–10), wodurch die negative Wertung der Kolonialherrschaft noch zusätzlich unterstrichen wird.
110 | Kommunistische Pinkertons
man bei dieser Dekolonisierung der imperialen Geographie nicht von einer kritischen „postkolonialen“ Perspektive sprechen, sondern eher von einer Umkodierung etablierter biologistischer Narrative, die jetzt die „sozial-revolutionäre“ Sichtweise metaphorisch begründen: Durch das Recht der Stärkeren werden die Unterdrückten gewinnen, da die degenerierten Kolonialherren ähnlich wie die „weißhäutigen“ Imperialisten im Bürgerkrieg längst zu den Schwächeren im Kampf ums Dasein geworden sind. Haben aber die Unterdrückten noch nicht aus eigener Kraft das Selbstbewusstsein und die Stärke des „Schwarzen Führers“ Jakenele erreicht, ist es der Funke der Oktoberrevolution, der ihnen zu Hilfe kommt. Sei es in Afrika, Asien, der Antarktis oder in Nordamerika, überall bekommen die Herrschenden die neue Weltlage zu spüren und finden sich sowjetische „Pfad finder“, die den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu neuem Kampfeswillen verhelfen, wenn sie nicht selber schon diesen Weg gehen. So erzählt beispielsweise Lev Nikulins „kinematographischen Roman“ Keinerlei Zufälle (Diplomatisches Geheimnis) (Никаких случайностей [Дипломатическая тайна], 1924)97 vom Schicksal der Provinzhauptstadt Mirat im Norden von Britisch-Indien, in der ein korruptes einheimisches Königtum, die britische Kolonialverwaltung und zwielichtige Unternehmer und Agenten um Einfluss auf die Kupferschätze im nahegelegenen Siwalikgebirge kämpfen, für deren Erschließung auch die junge Sowjetunion ein attraktives Angebot gemacht hat.98 Dabei werden ausführlich das indische Alltagsleben, religiöse Praktiken als „Opium für das Volk“ und der dekadente Luxus der westlichen Kolonisatoren und einheimischen Elite dargestellt, vor deren Hintergrund Verfolgungsjagden, Verrat, Erotik, Eifersucht, Eitelkeit, Geheimdiplomatie und skrupellose Morde in schneller Folge wechseln. Den politisch aktiven Arbeitern gelingt der Umsturz gegen diese anachronistische Kolonialmonarchie allerdings erst, als am Ende neueste sowjetische Technik in Gestalt von Bombern Unterstützung bringt.99 Wie in Auslenders Schwarzem Führer geht auch hier mit dem politischen Zusammenbruch der Kolonialordnung der psychisch-physische Verfall von deren Protagonisten einher: Ein britischer Abenteurer, der als knallharter Geschäftsmann und eleganter Gentleman die örtlichen Eliten gefügig machen sollte, steht am Ende als psychisches Wrack da, während eine schöne Irländerin als Doppelagentin und unwiderstehliche Femme fatale Selbstmord begeht.100 Eine Dekolonisierung der imperialen Geografien insbesondere Afrikas und Asiens, so lässt sich zusammenfassend festhalten, geschieht in den „sozial-revolutionären“ Abenteuerromanen der zwanziger Jahre, indem sie fast alle Topoi ihrer westlichen Vorläufer aufnehmen, diese aber aus einer antikolonialen Perspektive erzählen, ohne dass die Geschlechter- und Kolonialstereotypen ganz außer Kraft gesetzt werden: Genauso wie die indigene Bevölkerung in ihrem emotional-unreflektierten Verhalten dem rassistischen Klischee imperialer Völkerkunde entspricht, ist auch die verführerische 97
Vgl. Nikulin, Lev: Nikakich slučajnostej (Diplomatičeskaja tajna). Kinematografičeskij roman, Moskva, Petrograd 1924. Zum Aspekt des Kinematographischen in dem Roman vgl. Abschnitt 4.1 dieses Buches.
98
Vgl. ebd., S. 1–26.
99
Ebd., S. 193ff.
100
Vgl. ebd., S. 14f., 200ff.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 111
weiße Frau vor kolonialem Hintergrund ein bis heute im Unterhaltungsfilm gültiges Stereotyp, das die Romane reproduzieren. Doch indem die femme fatale zu einer suizidalen Doppelagentin (anstelle einer im Liebestod gestorbenen Romantikerin in Keinerlei Zufälle) oder brutalen Sadistin (statt einer weißen Lebensretterin schwarzer Sklavenkinder in Der schwarze Führer) gemacht wird, „verdüstern“ die sowjetischen Narrationen gleichzeitig auch diese Bilder: Aus exotisierender Kolonialromantik wird eine morbide Schauerromantik des Verfalls und Untergangs, der die „weltweiten Pfadfinder“ die sozial-revolutionäre Hoffnung des Revolutionsexports entgegensetzen. Ein dem entgegengesetztes Verfahren verwendete die Abenteuerliteratur der zwanziger Jahre, wenn ihre Handlung innerhalb der sowjetischen Machtsphäre oder an deren unmittelbarer Peripherie spielte, gab es doch hier kaum populäre Stereotypen und Konfliktszenarien aus den westlichen Prätexten, die man brechen konnte. In der russischen (Hoch-)Literatur existierte zwar für den Kaukasus und die Krim ein spätestens seit der Romantik etablierter „orientalistischer“ Diskurs,101 an den man kritisch anknüpfen könnte, die Kolonisierung Sibiriens hatte hingegen ungeachtet einer Vielzahl wissenschaftlicher Reiseberichte seit dem 18. Jahrhundert lediglich als imaginäre Geographie der Verbannung größere Aufmerksamkeit in der russischen Literatur erregt. Eine mit dem „Western“ der nordamerikanischen Abenteuerliteratur vergleichbare populäre „koloniale“ Inszenierung der indigenen Bevölkerung des Fernen Ostens hatte auch die aufkommende Massenliteratur um die Jahrhundertwende nicht hervorgebracht. 102 So musste es eher umgekehrt darum gehen, durch eine „Exotisierung“ des sowjetischen Raumes dieses Gebiet für fiktionale Imaginationen überhaupt erst interessant zu machen. Diese Exotisierung hing eng zusammen mit der politischen Expansion der Sowjetunion in die zentralasiatischen Gebiete und der „anti-imperialistischen“ Nationalitätenpolitik zur Förderung unterdrückter „Nationen“ und nationaler Minderheiten seit Anfang der zwanziger Jahre.103 Im Sinne von Edward Saids Definition des „Orientalismus“ hatte – so meine These – vor allem die Abenteuerliteratur jener Jahre zentralen Anteil an der massenkulturellen Verbreitung eines entsprechenden „geopolitischen Bewusstseins“, an der Ausarbeitung kultureller Distinktionsmerkmale und eines fundamentalen Interesses „to understand, in some cases to control, manipulate, even to incorporate; what is a manifestly different (or alternative and novel) world“.104 Sie formulierte die kulturellen Distinktionsmerkmale aus, die dann auch in Filmen wie Vsevolod Pudovkins Der Nachkomme Tschingis-Khans (1928) oder Dziga Vertovs Drei Lieder über Lenin (1934) ihre visuelle Repräsentation fanden. 101
Zum orientalistischen Diskurs in der russischen Literatur vgl. Greenleaf, Monika: Pushkin and Romantic Fashion. Fragment, Elegy, Orient, Irony, Stanford 1994; Thompson, Ewa M.: Imperial Knowledge. Russian Literature and Colonialism, Westport, CT, 2000.
102
Zur Kolonisierung Sibiriens, vgl. Stephan, John J.: The Russian Far East. A History, Stanford 1994; Kotkin, Stephen; Wolff, David (Hg.): Rediscovering Russia in Asia. Siberia and the Russian Far East, Armonk 1995.
103
Vgl. ausführlich hierzu: Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, London 2001.
104
Said, Edward: Orientalism, London 2003, S. 12.
112 | Kommunistische Pinkertons
Abb 5
Anzeige für den neuen Roman von Michail Zuev-Ordynec Skazanie o grade Novo-Kiteže in der bei Zemlja i fabrika erscheinenden Vokrug sveta, Nr. 21 (1930), S. 336.
Diese Exotisierung richtete sich sowohl auf die zentralasiatischen Sowjetrepubliken als auch die sibirischen und transkaukasischen Gebiete Russlands, in die sich Forschungsexpeditionen und junge Pfadfinder auf der Suche nach Abenteuern und Entdeckungen begaben. So wurden die Abenteuergeschichten in den Zeitschriften begleitet von Berichten über sensationelle archäologische Funde in Zentralasien105, über die arktische Wrangelinsel als „Grabstätte vieler kühner 105
Vgl. Lebedev, N. K.: Russkij issledovatel’ central’noj Azii (Po povodu poslednich otkrytij P. K. Kozlova). Očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 54–60.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 113
Forscher“,106 den „Aufstand“ des Aralsees107 oder einen Mammutfriedhof der sibirischen Jakuten.108 Für die mittelasiatischen Gebiete ging es hierbei ähnlich wie bei den Abenteuergeschichten zu Afrika und Asien primär um eine Rekodierung des Exotischen, wie es das russische Orientbild spätestens seit den literarischen Adaptionen von Aleksandr Bestužev-Marlinskij und Puškin bestimmt hatte.109 So erschienen beispielsweise unter dem programmatischen Doppelnamen A. Sytin-Turkestanskij im Vsemirnyj sledopyt regelmäßig Erzählungen, die das ganze Plateau vermeintlich „orientalischer“ Idyllen in Mittelasien entfalteten, um gleichzeitig zu zeigen, dass diese für den bolschewistischen „Bewohner des Nordens“ (северянин) nur eine trügerische Kulisse darstellen, hinter deren Oberfläche sich skrupelloser Verrat, tödliche Infektionen und gefährliche Hinterhalte der Basmatschi verbergen.110 106
So leitet die Redaktion den Beitrag mit den Worten ein: „Bis letztes Jahr hatte kaum jemand von der Wrangel-Insel gehört. [...] Daher halten wir es für nötig alles, was bislang über dieses Land bekannt ist mitzuteilen, das schon das Grab für viele mutige Forscher geworden ist.“ („До прошлого года мало кто слышал про остров Врангеля. [...] Поэтому мы считаем своевременным дать все, что известно до сих пор об этой земле, уже послужившей могилой для многих отважных исследователей.“) Vgl.
[Anon.]: Ostrov Vrangelja. Istoriko-geografičeskij očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 16–27. 107
Vgl. S., A.: Bunt morja. Rasskaz o novdnenii Aral’skogo morja, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 51–57.
108
Auch hier gehen Exotisierung der fremden „wilden“ indigenen Bevölkerung und „sozial-revolutionäre“ Entzauberung einher, vgl. die Einleitung durch die Redaktion zu der Erzählung: „Die dicke Rinde des alten Alltags, voll von dunklem Aberglauben, der sich über Generationen bei den Jakuten unter dem Einfluss bedrohlicher und unverständlicher Phänomene und der Naturkräfte gebildet hatte, beginnt schon zu knacken und zu zerbrechen durch den neuen frischen Wind der sozialistischen Staatlichkeit, der in alle Lebensporen der nationalen Minderheiten unserer Union eindringt.“ („Толстая кора старого быта, полного темных суеверий, создавшихся у ряда поколений якутов под влиянием грозных и непонятных явлений и сил природы, начинает трещать и рушиться от нового свежего веяния социалистической госyдарственности, проникающей во все поры жизни национальных меньшинств нашего Союза.“)
Siehe Gumilevskij, Lev: Kladbišče mamontov. Rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 4 (1925), S. 3–23. 109
Vgl. Greenleaf: Pushkin and Romantic Fashion; Bagby, Lewis: Alexander Bestuzhev-Marlinsky and Russian Byronism, University Park, PA 1995.
110
So eröffnet Sytin-Turkestanskij eine Erzählung mit der Beschreibung der Ankunft einer Rotarmisten-Abteilung in einer mittelasiatischen Festungsstadt: „[...] Im Herzen Mittelasiens, wo die Eisenbahn endet, stieg die zusammengesetzte Staffel ab. [...] Die krummen engen Straßen, Häuser ohne Fenster mit rissig werdenden Lehmduwalen sahen wie unbewohnt aus. Die Stille lud zum Ausruhen ein, doch die Haufen würziger Weintrauben und duftender süßer Melonen lagen auf den weißen Filzmatten über den ganzen Basar verteilt./ In den weit geöffneten kühlen Teestuben saßen im Schneidersitz die Menschen und, nachdem sie durch ein langes Schilfrohr den himmelblauen Rauch der gluckernden Wassernuss in die Lungen gesogen hatten, spülten den Zug mit einem Schluck Tee aus einer kleinen Trinkschale herunter, die reihum ging. [...] Niemand warnte die ermüdeten Rotarmisten, dass der Feind nur mit Verrat kämpft, dass für einen hungrigen, ermüdeten Bewohner des Nordens eine Melone aus Schagan und sogar aus Tschardschou Gift ist, und so zerstreuten sie sich über den Basar./ Genau so musste es sein.“ („[...] В сердце Средней Азии, где кончается железная дорога, высадился сводный эшелон. [...] Кривые узкие улицы, дома без окон с растрескавшимися глиняными дувалами казались необитаемыми. Тишина звала к отдыху, а
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Ein typisches Beispiel für die Rekodierung des exotischen „Orients“ an der zentralasiatischen Peripherie stellt der aus einer wissenschaftlichen Expedition hervorgegangene Abenteuerroman Abdžéd chvéz chjuttí (Абджéд хвéз хютти) der Dichterin Adelina Efimovna Adalis (1900–1969) und ihres Ehemannes, des Geographen Ivan Vladimirovič Sergeev (1903–1964), aus dem Jahr 1926 dar, der von den Abenteuern zweier Freunde aus Leningrad in den Hoch gebirgen des Pamir im Grenzgebiet zu Britisch-Indien und Afghanistan während der Sommerferien berichtet.111 Anfangs stoßen die beiden jugendlichen Haupthelden auf der Suche nach Abwechslung und Spannung nur auf die bekannte Kolonialexotik des Kaukasus und des „kinematographischen Ostens“.112 Erst als sie den Bereich des russischen Kolonialerbes verlassen, erfüllt sich ihre Sehnsucht: „Und als sie aus Schachrisabs einige Werst raus gefahren waren, verstanden sie, dass die Kultur dort aufhört, wo das Pfeifen der Dampfloks erstirbt; und jetzt konnte man kategorisch alles erwarten: Tiger, Basmatschi und Erdbeben.“113 Tatsächlich treffen die Helden kurz darauf nicht nur wilde Tiere, hinterhältige Räuber und lebensgefährliche Naturphänomene an, sondern erfahren auch von erotischen Mythen, fantastischen Legenden und einer urzeitlichen Zivilisation in den Bergschluchten des Kara-Kul’.114 Nach einer Reihe dramatischer Intrigen und unerwarteter Wendungen können sich die Helden zwar noch vor einem alles verschüttenden Erdbeben aus dieser Welt unbekannter Rohstoffquellen, korrupter Einheimischer, flüchtiger Weißgardisten und britischer Spione zurück in die so-
груды пряного винограда и пахнущих сладких дынь были раложены на белых кошмах по всему базару./ В широко раскрытых прохладных чайханах, поджав ноги, неподвижно сидели люди и, затянувшись через длинную камышевую трубку голубым дымом булькающего чилима, запивали затяжку глотком чая из маленькой пиалы, ходившей по кругу. [...] Никто не предупреждал уставших красноармейцев, что враг борется только предательством, что для голодного, уставшего северянина шаганская и даже чарджуйская дыня – яд, и красноармейцы разбрелись по базару./ Только этого и надо было.“) Sytin-Turkestanskij, A.: Iskuplenie viny. Rasskaz iz istorii bor’by c basmačestvom, in: Vsemirnyj
sledopyt 1 (1925), S. 52–60, S. 52. „Basmatschi“ ist eine Bezeichnung russischer Kolonialbeamter für eine mittelasiatische Aufstandsbewegung, die sich noch 1916 gegen den Zarismus formierte und anfangs zusammen mit den Bolschewiki für nationale Selbstbestimmung kämpfte, ehe sie im Bürgerkrieg zu einem erbitterten Feind des sozial-revolutionären Programms der Sowjets wurde. Weitere Erzählungen aus dem „Herzen Mittelasiens“ von Sytin-Turkestanskij, vgl. Ders.: Karavanbaš Abdurazak. Rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 36–41; Ders.: Krasnaja roza zakjatči. Rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 3–15; Ders.: Velikij Iog. Rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 5 (1925), S. 14–19. 111
Adalis, Adelina; Sergeev, Ivan: Abdžéd chvéz chjuttí. Roman priključenij, in: Molodaja gvardija 6 (1926), S. 69–99; 7 (1926), S. 41–58; Dies.: Abdžéd chvéz chjuttí. Roman priključenij, Moskva, Leningrad 1927. Hier zitiert nach der Buchausgabe. Zum Roman vgl. auch Skorino: Mariėtta Šaginjan, S. 129.
112
Adalis; Sergeev: Abdžéd chvéz chjuttí, S. 12.
113 „И когда отъехали от Шахрисябза несколько верст, они поняли, что культура кончается там, где
замирают гудки паровозов; и сейчас можно было ожидать решительно всего: тигров, басмачей, землетрясений.“ Ebd.
114
Der titelgebende Ausspruch „Abdžéd chvéz chjuttí“ stellt nach der Weissagung einer indigenen Hellseherin den von Allah gegebenen Schlüssel zu unbegrenztem Glück, Reichtum und Jungfrauen dar. Vgl. Ebd, S. 24.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 115
wjetische Zivilisation retten, ohne aber je nachweisen zu können, dass es das Erlebte wirklich gegeben hat.115 Was bleibt ist die Rekodierung des „Orientalischen“, das als eine feindliche und bedrohliche Welt exotisiert wird, die irgendwo in unerschlossenen Wüsten- oder Berggegenden ihren eigenen „kulturlosen“, archaischen und animistischen Ritualen folgt und noch auf ihre sozial-revolutionäre Aneignung durch sowjetische Pfadfinder wartet. Bei dieser Rekodierung des Orientalischen wird ähnlich wie bei den im ukrainischen „Grenzland“ spielenden Bürgerkriegsgeschichten das vorhandene exotisierende Repertoire russischer „Kolonial“-Geschichten mit den Erzählmustern westlicher Abenteuerliteratur kombiniert und im Sinne des „neuen Schemas“ des Klassenkampfes umgedeutet. Der wesentliche Unterschied zu den Bürgerkriegsromanen besteht aber darin, dass das „sozial-revolutionäre“ Moment in diesen Geschichten deutlich gegenüber der Faszination für exotische Welten jenseits der Eisenbahnlinien und Rotarmisten zurücktritt: Es geht gerade um aufregende Ferienabenteuer jenseits des politisierten Alltags des sowjetischen Aufbaus. Etwas anders funktionierte die Exotisierung des sowjetischen Raumes in Sibirien und im Fernen Osten. Eines der aufsehenerregendsten Ereignisse diesbezüglich stellten in der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt die Forschungsreisen des Mineralogen und Meteoritenforschers Leonid Alekseevič Kulik (1883–1942) dar, der mit Unterstützung der Akademiemitglieder Vladimir Ivanovič Vernadskij (1863–1945) und Aleksandr Fersman 1921 die erste, noch wenig beachtete wissenschaftliche Expedition nach Sibirien auf der Suche nach dem von ihm so genannten „Tungusker Wunder“ unternahm. Seismische und barometrische Messungen hatten seinerzeit in Zentralsibirien am 20. Juni 1908 eine Explosion gigantischen Ausmaßes registriert, von der es aber bis auf einige kurze Meldungen in der Lokalpresse bislang keinerlei gesicherte Kenntnisse oder Ortsangaben gab.116 Kulik sammelte nun Zeitzeugenberichte und Legenden von den in dem vermuteten Gebiet siedelnden Eweken, ortete den Ursprung der Explosion in der Nähe des Flusses Tunguska, von der aus noch in mehr als 30 Kilometern Entfernung die Bäume entwurzelt worden waren, ohne irgendwelche Überreste eines Detonationszentrums ausfindig machen zu können.117 Zu einem Presseereignis wurden diese von Kulik gewonnenen Erkenntnisse aber erst bei der dritten, im Herbst 1928 gestarteten Forschungsreise, als Berichte die Redaktion erreichten, dass Kulik vollkommen allein in der sibirischen Taiga zurückgeblieben sei, da seine gesamte Expeditionsmannschaft an Skorbut erkrankt sei.118 Daraufhin organisierte der Vsemirnyj
115
Vgl. ebd., S. 200–224. Dieses Ende entspricht ganz den Konventionen des westlichen Abenteuerromans von Haggard (King Solomon’s Mines), Conan-Doyle (Lost World) oder Benois (L’Atlantide), bei denen immer letztlich die sensationelle Entdeckung durch eine Naturkatastrophe verschüttet wird.
116
Der Legende nach ist Kulik zufällig auf das Ereignis bei der Lektüre eines alten Abreißkalenders des Jahres 1910 aus der Region darauf aufmerksam geworden, der das Ereignis erwähnte. Vgl. Smirnov, Aleksandr: Za tungusskim divom, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1929), S. 58–60, 59; Zur späteren Rezeption des „Tungusker Wunders“ in der Tauwetterzeit vgl. Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 98–101.
117
Vgl. Kulik, Leonid: Za tungusskim divom. Vmesto fel’etona, Krasnjarsk 1927.
118
[Anon.]: „Sledopyt“ na pomošč’ L. A. Kuliku, in: Vsemirnyj sledopyt 10 (1928), S. 782.
116 | Kommunistische Pinkertons
sledopyt eine Rettungsexpedition, die Mitte November auf den ausgehungerten Forscher traf und der Leserschaft exklusiv in Telegrammen die erfolgreiche Rettung meldete. 119 Von nun an berichtete der eigene Korrespondent monatlich in fesselnden Reportagen von lebensgefährlichen Abenteuern, exotischen Ureinwohnern und furchteinflößenden Legenden aus der „terra incognita“ des sibirischen Nordens.120 Die wohl bekannteste Figur der Exotisierung des Fernen Ostens in jenen Jahren stellt Vladimir Klavdievič Arsen’evs (1872–1930) Tajgajäger Dersu Urzala dar.121 Der ehemalige zaristische Offizier und Geograph Arsen’ev veröffentlichte die Bücher über seine ersten drei Expeditionen in die chinesisch-russischen Grenzgebiete 1902, 1906 und 1907 erstmals nach der Revolution unter den Titeln Durch die Ussuri-Region (Dersu Uzala). Reise ins Berggebiet des Sichote-Alin (По Уссурийскому краю (Дерсу Узала). Путешествие в горную область Сихотэ-Алинь, 1921) und Dersu Usala. Aus den Erinnerungen an eine Reise durch die Ussuri-Region im Jahr 1907 (Дерсу Узала. Из воспоминаний о путешествии по Уссурийскому Краю в 1907 г., 1923), die 1926 in einer gekürzten einbändigen Fassung unter dem Titel Im Waldesdickicht der Ussuri-Region (В дебрях уссурийского края) auch unionsweite Beachtung fanden.122 Das „ethnographische“ Werk ist in der Charakteristik seiner Hauptfigur Dersu Uzala, der den „russischen Fenimore Cooper“123 Arsen’ev auf den Forschungsexpeditionen begleitet, ein-
119
Vgl. [Anon.]: „Sledopyt na pomošč’ L. A. Kuliku, in: Vsemirnyj sledopyt 11–12 (1928), S. 868–871, 947.
120
Smirnov: Za tungusskim divom, in: Vsemirnyj sledopyt 1–4 (1929), S. 58–60, 113–129, 215–230, 259– 272. Schon in einer der ersten Reportagen positionierte Smirnov den sibirischen „Norden“ als eine „romantische” Welt voller ungewöhnlicher Gefahren und fantastischer Abenteuer, vgl. ebd., S. 113f. Selbst eine bislang unbekannte Berghöhe wurde zu Ehren der Zeitschrift „Berg des Pfadfinders“ benannt. Vgl. ebd., S. 267f.; Parallel druckte man auch fiktive Erzählungen über das Leben der Tungusen ab, vgl. Makarov, Ivan I.: Na povorote. Tungusskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1929), S. 196–204.
121
Zur Biographie von Arsen’ev, vgl.: Kuz’mičev, I. S.: Arsen’ev Vladimir Klavdievič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Biobibliografičeskij slovar’ v 3 tomach. Bd. 1, Moskva 2005, S. 108–110.
122 Arsen’ev
hatte sowohl im Fernen Osten als auch in Moskau und Leningrad erhebliche Probleme durch seine Position als zaristischer Offizier, wurde immer wieder der Spionage verdächtigt und in den 1930er Jahren posthum aufgrund seiner „chauvinistischen“ Ansichten verurteilt. Bis zu seinem Tod erschienen Arsen’evs Werke daher ausschließlich in Wladiwostoker Verlagen, wurden aber schon seit 1924 unter anderem ins Deutsche übersetzt. Unmittelbar nach seinem Tod beginnen auch Moskauer und Leningrader Verlage ihn zu publizieren, seine Hauptwerke über die Expeditionen mit Dersu Uzala teils in mehreren Auflagen jährlich. 1937 erscheint posthum erstmals das dritte Buch seiner geplanten Trilogie über das Waldesdickicht der Ussuri-Region In den Bergen von Sichote-Alin (В горах Сихотэ-Алиня) bei Molodaja gvardija, das sich auf Expeditionen der 1920er Jahre bezieht. Das zweite Buch über den Tajgajäger erlebte von 1934 bis 1984 allein 71 Auflagen. Hier zitiert nach Arsen’ev, Vladimir: Dersu Uzala, Moskva 1960; Ders.: V debrjach Ussurijskogo kraja, Moskva 1960; Deutsche Übersetzung, soweit dem Russischen entsprechend, zitiert nach der bearbeiteten Fassung in Arsenjew, Wladimir: Der Tajgajäger Dersu Usala, Zürich 2003.
123
Vgl. Poljanovskij, Maks: Russkij Fenimor Kuper. Očerk, in: Vokrug sveta [izd. ZIF] 25–26 (1930), S. 397.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 117
deutig vom Bild des Edlen Wilden124 inspiriert, der in einer unentfremdeten, animistischen Einheit mit der ihn umgebenden Umwelt fühlt, spricht und handelt: er redet alle Tiere und Dinge als „Leute, Menschen“ („люди“) an,125 weiß die unscheinbarsten Vorzeichen kommender Gefahren zu deuten und kann noch die spärlichsten Spuren im Waldesdickicht richtig interpretieren.126 Dersu Uzala verkörpert nach dem Muster von Coopers „letztem Mohikaner“ ein verloren gehendes Wissen über die Geheimnisse der Natur, das noch nicht von den Lastern der Zivilisation verdorben worden ist, sondern dieser sogar in ihrer kindlichen Naivität überlegen zu sein scheint: „Je näher ich diesen Mann kennen lernte, desto mehr gefiel er mir. Jeden Tag entdeckte ich neue Werte. Früher hatte ich geglaubt, der Egoismus sei eine Grundeigenschaft des wilden Menschen, während das Gefühl der Humanität, Nächstenliebe und Rücksicht auf fremde Interessen nur den Europäern eigen sei. Hatte ich mich da nicht geirrt?“127
Da aber eine solche den Europäern überlegene Humanität angesichts der sozial-revolutionären Versprechen der Oktoberrevolution anachronistisch und utopisch bleiben muss, wird der „ursprüngliche Mensch“ am Ende genauso wie sein literarischer Prototyp – der letzte Mohikaner Uncas – hinterhältig ermordet.128 Diese „ausgezeichnete“ Adaption von Coopers Indianer-Figuren aus dem Wilden Westen als „Edler Wilder“ des Fernen Ostens, der – so Maksim Gor’kij – eine „lebendigere Gestalt als der „Pfadfinder“, künstlerisch vollendeter“ („более живая фигура,
124
Zum Bild des Edlen Wilden in der europäischen Kultur, vgl. Nippel, Wilfried: Griechen, Barbaren und „Wilde“. Sozialanthropologie und Alte Geschichte, Frankfurt a. M. 1990.
125
So berichtet der Erzähler von einem Abend am Lagerfeuer: „Da sang der Teekessel in hohen Tönen./ ‚Wie dieser schreit!‘, rief Dersu, ‚Schlimmer Kerl!‘ Er sprang auf und goss das heiße Wasser auf die Erde./ ‚Welchen Kerl meinst du denn?‘, fragte ich erstaunt./ ‚Wasser‘, antwortete er nur. ‚Kann schreien, weinen und auch spielen.‘/ Noch lange erzählte mir dieser urspüngliche Mensch von seiner Weltanschauung. Er sah im Wasser die lebendige Kraft, sah sein stilles Strömen und hört sein Brüllen während der Überschwemmungen.“ Arsenjew: Der Tajgajäger Dersu Usula, S. 35 („Тогда чайник запел тоненьким голоском. – Как его кричи! – сказал Дерсу. – Худой люди! – Он вскочил и вылил горячую воду на землю./ – Как ‚люди‘? – спросил я его в недоумении./ – Вода, – отвечал он просто. – Ему могу кричи, могу плакать, могу тоже играй./ Долго мне говорил этот первобытный человек о своем мировоззрении. Он видел живую силу в воде, видел ее тихое течение и слышал ее рев во время наводнений./ – Посмотри, – сказал Дерсу, указывая на огонь, – его тоже все равно люди.“ Arsen’ev:
V debrjach Ussurijskogo kraja, S. 31). 126
Vgl. Arsen’ev: V debrjach Ussurijskogo kraja, S. 244. Der Tajgajäger Dersu Usula, S. 31; „Чем ближе я присматривался к этому человеку, тем больше он мне нравился. С каждым днем я открывал в нем новые достоинства. Раньше я думал, что эгоизм особенно свойствен дикому человеку, а чувство гуманности, человеколюбия и внимания к чужому интересу присуще только европейцам. Не ошибся ли я?“Arsen’ev: V debrjach Ussurijskogo
127 Arsenjew:
kraja, S. 26. 128
Vgl. ebd., S. 305–313.
118 | Kommunistische Pinkertons
чем „Следопыт“, более художественен“) darstelle,129 sollte insbesondere seit den dreißiger Jah-
ren das Sibirienbild indigener Bevölkerungen entscheidend mitprägen.130 Ein anderer Geograph und Sibirienforscher, der ebenfalls in den 1920er Jahren begann populärwissenschaftliche Bücher zu schreiben, war der Professor der Moskauer Bergbau-Universität, Vladimir Afanas’evič Obručev (1863–1956). Obručev, der noch ganz in der Tradition vorsowjetischer Reiseliteratur stand, orientierte sich bei seiner Exotisierung der sowjetischen Geographie allerdings nicht an Cooper, sondern an Jules Verne und Edgar Allan Poe, als er 1924 die „ungewöhnliche Reise ins Innere der Erde“ Plutonien (Плутония. Необычайное путешествие в недра земли) und zwei Jahre später Sannikovland oder Die letzten Onkilonen (Земля Санникова, или Последние онкилоны, 1926) veröffentlichte.131 Der erste Roman handelt von einer wissenschaftlichen Exkursion Richtung Nordpol, die auf der Suche nach bislang unbekannten Inseln im Eismeer einen Eingang ins Erdinnere findet. Hier stoßen russische Forscher auf eine entsprechend der Hohlwelttheorie gestaltete Landschaft, die sich geologisch noch in unterschiedlichen urzeitlichen Stadien der Erdzeitgeschichte befindet, so dass die Forscher auf ihrer Reise Dinosaurier, Flugsaurier und ähnliche vorsintflutliche Wesen antreffen.132 Im Sannikovland stoßen die 129
Vgl. Gor’kij, Maksim: Pis’mo A. M. Gor’kogo k V. K. Arsen’evu (24.01.1928), vgl.: Kuz’mičev: Arsen’ev Vladimir Klavdievič, S. 208ff.
130
So beginnt auch Aleksandr Fadeev Ende der 1920er Jahren einen unvollendet gebliebenen Romanzyklus über den Fernen Osten, dessen erster Band Der Letzte der Udėge (Последный из Удэге) 1929 erstmals in der Zeitschrift Oktjabr’ erscheint und deutlich an Cooper und Arsen’ev anknüpft. Sergej Tret’jakov erklärt zur Begründung, warum es sich bei Arsen’evs „lebendem ‚lebenden‘ Menschen“ um eine „Literatur des Fakts“ handele, dass ja auch Coopers Darstellung der Indianer urspünglich eine Literatur des Fakts gewesen sei, die erst später die Gestalt belletristischer Schemen angenommen habe, vgl. Tret’jakov, Sergej: Živoj „živoj“ čelovek, in: Čužak, Nikolaj F.: Literatura fakta. Pervyj sbornik materialov rabotnikov Lefa (1929), Moskva 2000, S. 252–255, S. 252f.; In der späteren Rezeption von Arsen’evs Berichten über Dersu Usala wird dieser deutliche Bezug auf Coopers „Edle Wilde“ kaum noch beachtet und man belässt es seit den 1930er Jahren auch in der offiziellen Propaganda dabei, die authentische Darstellung der indigenen Bevölkerung im Fernen Osten hervorzuheben. Diese Sichtweise wurde durch die mit einem Oscar ausgezeichnete Verfilmung des Stoffes von Akira Kurosawa (Dersu Uzala, dt. Verleihtitel Uzala, der Kirgise) im Jahr 1975 noch verstärkt. Selbst in der westlichen Forschung wird häufig Arsen’evs „realistische und relativ konsistente“ Darstellung des Edlen Wilden hervorgehoben, wohingegen spätere Adaptionen des Stoffes zu einer „virtual parody of the inarticulate, irrational Other“ degeneriert seien: „The character remains indigenous Siberian, elderly but vigorous, without descendants, and solitary by choice.“ Vgl Nichols, Johanna: Stereotyping Interethnic Communication. The Siberian Native in Soviet Literature, in: Diment, Galya; Slezkine, Yuri (Hg.): Between Heaven and Hell. The Myth of Siberia in Russian Culture, New York 1993, S. 185–214, S. 211.
131 Obručevs
Werke sind hier zitiert nach Obručev, Vladimir: Plutonija, in: Ders.: Plutonija. Zemlja Sannikova, Leningrad 1977, S. 5–307; Ders.: Zemlja Sannikova, in: Ebd., S. 308–588; Deutsche Übersetzung nach: Obrutschew, Wladimir: Plutonien, Berlin 1958; Ders.: Sannikowland, Berlin 1953; Biographische Angaben, vgl.: Murzaev, Ėduard M.; Obručev, Vladimir V.; Rjabuchin, Georgij E.: Vladimir Afanas’evič Obručev. 1863–1956, Moskva ²1986.
132
Vgl. Obručev: Plutonija.
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur | 119
Expeditionsteilnehmer hingegen in der Arktis auf eine vom Golfstrom erwärmte und hinter Eisbergen versteckte Klimaoase, deren archaische Bewohner – die verfeindeten „Stämme“ der Onkilonen und Vampu – noch auf der Entwicklungsstufe der Altsteinzeit (Paläolithikum) stehen.133 Anstelle des Wilden Westens sind es hier Vernes außergewöhnliche Reisen ins nördliche Eis (Un hivernage dans le glaces, 1855; Les aventures du Capitaine Hatteras, 1866) und zum Erdinnern (Voyage au centre de la terre, 1864) sowie die Seefahrtfiktionen von einer „vergessenen Welt“ (Conan Doyle) inmitten der Antarktis, wie sie Poe in The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838) und Verne in Le Sphinx des glaces (1897) erstmals entworfen haben, die in den geographischen Norden der Sowjetunion übertragen werden.134 Allerdings sind Obručevs Indigene keine „edlen Wilde“, sondern – wie in vielen Romanen Vernes auch – im Sinne kolonialer Völkerkunde seltenen Tieren vergleichbare Studienobjekte, die einzig als exotische Geliebte von persönlichem Interesse sind, ansonsten aber ohne große Empathie nur als dumm, abergläubisch und dreckig beschrieben werden.135 Zwar wurde Plutonija auch als „wirklich erster, vollkommen geglückter wissenschaftlich-fantastischer Roman“ gefeiert,136 doch erfuhren Obručevs Werke erst wieder in den dreißiger Jahren eine Neuauflage, als man versuchte sie zur Wissenschaftspopularisierung zu reaktivieren.137 Die Exotisierung des sowjetischen Raumes blieb jedoch nicht auf die Peripherie beschränkt, sondern konnte durchaus auch das imaginäre Zentrum der Sowjetunion erfassen, wenn bei133
Vgl. Ders.: Zemlja Sannikova.
134
Nach Auskunft von Obručev war es zudem die Übersetzung von Karel Hlouchas fantastischem Roman Zakletá země (Verzaubertes Land, 1910) ins Russische im Staatsverlag 1923 (Заколдованная земля), die ihn zum Land Sannikovs inspiriert hat. Vgl. Murzaev, Ėduard M.; Obručev, Vladimir V.; Rjabuchin, Georgij E.: Vladimir Afanas’evič Obručev. 1863–1956, Moskva ²1986.
135
So heißt es nach der Gefangenname eines Angehörigen der Vampu: „Nun konnten sie sich an ihm satt sehen. [...] Die Expeditionsteilnehmer beschlossen, die Prozedur des Abnehmens der Maße schnell an ihm auszuführen, ihn zu photographieren, um danach den Führer zu bitten, ihn wieder laufen zu lassen./ Der Gefangene war, wie alle Urmenschen, muskulös; er war noch jung. Das Abnehmen der Schädelmaße stieß selbstverständlich durch den verfilzten und schmutzstarrenden Haarschopf auf Schwierigkeiten; Gorjunow beschloss ihm die Haare abzuschneiden. Als er mit der glänzenden Schere an den Wampu herantrat, dachte dieser, dass nun sein letztes Stündchen geschlagen habe – er fing an, wie am Spieß zu schreien.“ Obrutschew: Das Sannikowland, S. 248f. („Теперь они могли вволю насмотреться на живого вампу. [...] Путешественники решили поторопиться сделать все измерения, котороые их интересовали, снять фотографии, а затем попросить вождя отпустить вампу./ Пленник был еще молодой, мускулистый, как все эти первобытные люди. Измерениям черепа, конечно, мешала спутанаая грива волос, наполненных многолетней грязью, и Горюнов решил остричь его. Когда он подошел к вампу с блестящими ножницами, последний подумал, что его собираются зарезать, и испустил дикий вопль.“ Obručev: Zemlja Sannikova, S. 508).
136 „[книга] у нас является действительно, первым, вполне удачным, научно-фантастическим романом.“
M.: V. A. Obručev. Plutonija, in: Knigonoša 7 (1925), S. 22–23. 137
Vgl. hierzu Abschnitt 7.2 dieses Buches.
120 | Kommunistische Pinkertons
spielsweise Henry Haggards Schatz des Salomon bei Gleb Vasil’evič Alekseev (1892–1938) als Schatz Ivan des Schrecklichen mit einem Mal im Unterirdischen Moskau (Подземная Москва, 1925) gefunden wird.138 Solche auf die eigene Vergangenheit bezogenen Abenteuergeschichten beschäftigten sich jedoch nicht nur mit vergessenen Schätzen, seltenen Bodenschätzen, steinzeitlichen Ureinwohnern oder anderen geheimnisvollen Relikten, sondern richteten sich oft auch auf die verfolgten und unterdrückten „subalternen“ Subjekte der vorrevolutionären Vergangenheit. Neben dem schon genannten Sergej Auslender war es vor allem ein Autor, der in historischen Erzählungen und Romanen eine fiktionale Rekodierung der russischen Vergangenheit im Sinne des sozial-revolutionären Klassenkampfes betrieb: Michail Efimovič Zuev-Ordynec (1900–1967). Zuev-Ordynec, Sohn eines Schusters, der selber im Bürgerkrieg eine Batterie befehligte und später als Hauptmann der Gebietspolizei arbeitete, machte sich seit 1927 mit Erzählungen, Reiseskizzen und Abenteuerromanen einen Namen, die unter anderem in Popovs Zeitschriften Vsemirnyj sledopyt und Vokrug sveta bei Zemlja i fabrika erstveröffentlicht wurden. Für diese Werke unternahm er teils längere Recherchereisen in die entlegenen Gebiete der Sowjetunion, die sowohl aktuelle als auch historische Themen behandelten. Die Gegenwartsgeschichten erzählten vom Schmuggel und von Diversionsarbeit über das Schwarze Meer139 oder von den politischen Untergrundbewegungen im indochinesischen Sajgon,140 die historischen Abenteuerromane behandelten den Pugačevaufstand im Uralgebiet im 18. Jahrhundert141 oder das Leben der Indianer und Goldsucher in Alaska im 19. Jahrhundert.142 Nach dem endgültigen Verbot der Abenteuerliteratur 1934 erscheinen ein Vierteljahrhundert keine Werke mehr von Zuev-Ordynec, 1937 wurde er im Zuge der Säuberungen verhaftet, verbrachte 14 Jahre in verschiedenen Lagern Sibiriens, ehe er mit dem kulturpolitischen Tauwetter ab 1959 bis Ende der sechziger 138
In dem anfangs in Berlin, dann in der sowjetischen Hauptstadt spielenden Abenteuerroman liefern sich ausländische Kapitalisten, die eine Konzession zum Bau der Moskauer Metro erworben haben, ein Nachfahre des italienischen Kremlbaumeisters und ein vagabundierender Schurke mit einem Moskauer Archäologen und sowjetischen Bergarbeitern einen unterirdischen Wettkampf um diesen Nachlass, der am Ende auch gefunden wird. Der Roman erschien nach einem Vorabdruck im Vsemirnyj sledopyt im gleichen Jahr noch in Buchform bei Zemlja i fabrika, Vgl. Alekseev, Gleb: Podzemnaja Moskva. Otryvok iz romana togo že nazvanija, in. Vsemirnyj sledopyt 6 (1925), S. 3–13; Ders.: Podzemnaja Mozkva (Biblioteka priključenij), Moskva, Leningrad 1925.
139
So kämpfen in der Geschichte Das Ende von Mavropulo ein ehemaliger Bürgerkriegsheld als junger Grenzschützer zur See gegen den mit allen Wassern gewaschenen alten Seemann und Schmuggler Kapitän Mavropulo. Vgl. Zuev-Ordynec, Michail: Konec Mavropulo. Rasskaz, in: Vokrug sveta 1 (1927), S. 16–20.
140
Zuev-Ordynec, Michail: Želtyyj tajfun. Povest’, in: Ders.: Želtyj tajfun. Povest’, Leningrad 1928, S. 3–43.
141
Der Kurzroman stellt die Umstände des Verkaufs Alaskas an die USA aus der Perspektive der indigenen Bevölkerung und eines russsichen Trappers dar, der am Ende durch die weißhäutigen Kolonisatoren ermordet wird. Zuev-Ordynec, Michail: Na slom!. Istoriko-revoljucionnaja povest’, in: Vsemirnyj sledopyt 5–7 (1928) S. 324–340, 424–433, 505–521.
142
Zuev-Ordynec: Zlaja zemlja. Istoriko-priključenčeskij roman, in: Vsemirnyj sledopyt 8–12 (1929), S. 563– 581, 643–661, 739–764, 821–845, 893–916.
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Jahre noch einmal neu anfangen konnte und auch sein Frühwerk teils erheblich überarbeitet neu herausbrachte.143 Die „exotisierende“ Verknüpfung von westlicher Abenteuerromantik und wissenschaftlicher Neugierde mit politischen Oppositionsbewegungen und mythischen Legenden beschrieb ZuevOrdynec so eindringlich wie in keinem anderen Werk in dem Roman Die Legende über die Stadt Neu-Kitež (Сказание о граде Ново-Китеже), der 1930 sowohl in Fortsetzungen im Vsemirnyj sledopyt als auch als Buch publiziert wurde.144 Er handelt von drei Bürgerkriegskämpfern, die sich zufällig im sibirischen Irkutsk in der sowjetischen Gegenwart der späten 1920er Jahre begegnen. Einer von ihnen arbeitet beim Geheimdienst OGPU und verfolgt die religiöse Sekte „Die Waldadeligen“ (Лесные дворяне), die unter dem Deckmantel der Religion konterrevolutionäre Aktivitäten entfalten. Als der Geheimdienstler kurzfristig zu einem Kampfeinsatz gegen die Sekte an den Baikalsee gerufen wird, lässt er sich von einem der Gefährten – ein professioneller Fliegerpilot – dorthin bringen, während der andere – ein einfacher Techniker – als blinder Passagier heimlich mitfliegt. Das Flugzeug gerät in ein Gewitter, wird weit in den Südosten abgetrieben und kann erst jenseits der Chabar-Daban-Gebirgskette in den unzugänglichen Hochebenen der Mongolei notgelandet werden. Im „grünen Labyrinth“145 der Gebirgstaiga verirren sich die sowjetischen Flieger und werden von mittelalterlich gekleideten Jägern gefangen genommen, die sie über ein kaum passierbares Moor in ihre Siedlung, die Stadt „Novo-Kitež“ entführen. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Nachkommen der Altgläubigen, die hier fast vollkommen abgeschnitten von jeder Zivilisation ihre Kirchenordnung, Lebensweise, Baustil und Kleidung des 17. Jahrhunderts konserviert haben. Da aufgrund des sie umgebenden Moorgebiets, das nur für Eingeweihte zugänglich ist, eine Flucht unmöglich scheint, können sich die drei Sowjetbürger in der mittelalterlichen Stadt frei bewegen, in der sie sich vorkommen, als seien sie mit Wells’ Zeitmaschine in die Lost World eines Conan-Doyle gereist.146 In den folgenden Episoden werden die gefangenen „Weltlichen“ (Мирские) mit der Alltagswelt und Gesellschaftsordnung des 17. Jahrhunderts, der einst progressiven Orientierung der Altgläubigen und der Problematik abgeschlossener Welten ohne Außenkontakt konfrontiert, die innerhalb der Stadt zu einer politischen Auseinandersetzung zwischen Isolationisten (Бездырники, wörtlich „Ungelöcherte“) und Anti-Isolationisten (Дырники, Gelöcherte) geführt hat.147 Ihre Isolation versuchen sie aufzubrechen, indem sie durch Verschärfung der Klassenkonflikte einen Aufstand provozieren. Die Mithilfe eines alkoholabhängigen Popen, eine Liebesaf143 Zu
den biographischen Angaben vgl.: Mamraeva, D. T.: Letopis’ narodnoj tragedii (gody repressij). Metodiko-bibliografičeskie materialy, Karaganda 2001, S. 8–10.
144
Zuev-Ordynec, Michail: Skazanie o grade Novo-Kiteže, Leningrad 1930; Ders: Skazanie o grade NovoKiteže. Roman, in: Vsemirnyj sledopyt 8–11 (1930), S. 563–583, 643–655, 707–739, 835–859. Vgl. auch die Anzeige in Vokrug sveta 21 (1930), S. 336.
145
Zuev-Ordynec: Skazane o grade Novo-Kiteže, S. 59.
146
Ebd., S. 96.
147
Ebd., S. 140ff, 147f.
122 | Kommunistische Pinkertons
färe des Piloten mit der Hauptmannstochter, die Eifersucht und der Verrat eines Andrej Rublev ähnelnden Ikonenmalers,148 die Entdeckung, dass einer der „Waldadeligen“ in Novo-Kitež untergetaucht ist, sowie die unhaltbaren Arbeitsbedingungen der Feldarbeiter und Handwerker führen letztlich auch zur Eskalation des Klassenkonflikts und zur Stürmung des Rathauses, durch die sich den Bürgerkriegshelden ein unterirdischer Fluchtweg eröffnet. Am Ende des Romans wird die ganz aus Holz gebaute Stadt durch einen Waldbrand vollkommen vernichtet, so dass nur noch die auf Berichten der überlebenden Kitež-Bewohner basierenden Sensationsmeldungen sowjetischer Lokalzeitungen ihre Existenz bezeugen können.149 Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur vollzieht Zuev-Ordynec hier in nahezu prototypischer Weise. So verwendet er explizit Sujetelemente und Motive nicht nur von Conan-Doyle und Wells, sondern auch von Benoit, Dumas, Gogol’, London, Poe, Puškin und Twain150, grenzt sich gleichzeitig aber von deren Darstellungsformen ab, wobei es ihm insbesondere um eine Rekodierung des Exotischen geht. Das geschieht durch eine explizite Distanzierung von aller Mittelalterromantik und Altertumsnostalgie: „Mir scheint, dass jeder, selbst der passionierteste Anhänger des Altertums sich bitter über die hiesigen Alltagsumstände und den Lebenskomfort beklagen würde. Das ist verständlich! Das Zeitalter der Samtkaftane, krummen Säbel und der Schnapsgläser voll schäumendem Honigwein ist nur schön auf der Bühne, auf der Leinwand oder auf Romanseiten...“151
Diese Entzauberung der Mittelalterexotik westlicher Unterhaltungsfilme und -romane geht einher mit einer „Säkularisierung“ der altgläubigen und in der russischen Moderne wieder populär gewordenen Legenden von der Stadt Kitež als einer idealen russischorthodoxen Metropole, die durch die Tataren zerstört worden ist, aber dank göttlicher Intervention am Tag des Jüngsten Gerichts für die Seeligen wieder auferstehen wird.152 Bei Zuev-Ordynec wird diese Zukunftsvi148
Ebd., S. 150.
149
Ebd., S. 275ff.
150
Manche Autoren werden explizit genannt, auf andere wird deutlich angespielt, ohne sie und die entsprechenden Werke namentlich zu nennen, wie in der Johannisnacht-Szene auf Gogol’s Dikan’ka-Geschichten, in der Liebesgeschichte auf Puškins Hauptmannstochter und in der Lösung des Kryptogramms der Waldadligen auf Poes Gold-Bug. Vgl. ebd., S. 13, 55, 166, 185, 189ff., 244.
151 „Мне кажется, что любой, даже самый заядлый поклонник старины взвыл бы волком от здешних
бытовых условий и жизненных удобств. Это понятно! Век бархатных кафтанов, кривых сабель, да чарок меда пенного хорош только на сцене, на экране или на страницах романов...“ Ebd., S. 143.
152 Zuev-Ordynec’
Roman enthält intertextuelle Anspielungen auf eine Vielzahl von Prätexten, neben der Legende selber sind dies deren Adaptionen in Pavel I. Mel’nikovs (1818–1883) unter dem Pseudonym Andrej Pečerskij veröffentlichten Roman In den Wäldern (В лесах, 1875), Korolenkos Erzählung Svetlojar (Светлояр, 1890), Michail M. Prišvins (1873–1954) Erzählung Der lichte See (Светлое озеро, 1910) oder die bei Maksim Gor’kij in dem Kurzroman Unter Menschen (В людях, 1915–1916) zitierten Verse seiner Mutter zu Kitež. Vgl. die Textauswahl in: Kalmykov, S. (Hg.): Večnoe solnce. Russkaja social’naja utopija i
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sion aus dem Jenseits ins gegenwärtige Diesseits der sowjetisch-mongolischen Grenzgebiete verlegt und als eine hierarchisch organisierte, repressive und anachronistische Gesellschaftsform als utopisches Modell verworfen. Eine Distanzierung wird jedoch nicht nur durch ethnographische, politik- und alltagsgeschichtliche Erörterungen erreicht, sondern vor allem durch die erlebte Abenteuergeschichte der drei Gegenwartshelden, die ständig damit konfrontiert sind, dass diese anachronistische und rückständige Welt ihnen grundsätzlich fremd ist. Ihren Höhepunkt erreicht die Fremdheitserfahrung in der Liebesgeschichte zwischen dem Fliegerpiloten und der Hauptmannstochter, die sich bei einem missglückten Festritual zur Johannisnacht153 näher kommen, später verloben und ewige Treue versprechen, aber am Ende feststellen müssen, dass die kulturelle Differenz unüberwindbar ist: „ – Da hast du wahr gesprochen, Anfisa: Gleich ist unsere Liebe, aber nicht gleich sind unsere Sitten. Und ich kann nach euren Sitten nicht leben, leb wohl!...“154 Das romantische Versprechen, die Liebe könne alle Standesgrenzen und Kulturunterschiede überwinden, das von Puškins Hauptmannstochter bis zu kolonialen Varianten der Liebesaffäre zwischen der schönen Wilden und dem weißen Prinzen reicht und auch in den populären Filmen und Romanzen der zwanziger Jahre ständig kolportiert wird, wird hier aus der sowjetischen – „exotisierenden“ – Perspektive verworfen: Bestimmte, Jahrhunderte umfassende zivilisatorische Differenzen können nicht in einer einfachen Zeitreise aufgehoben werden. Dieses auf dem linearen Fortschrittsverständnis der jungen Sowjetunion basierende temporale Differenzmerkmal wird neben dem Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft, mythischer und rationaler Weltsicht aber auch an der spatialen Konstruktion der antagonistischen Kulturtraditionen festgemacht. So wird das sowjetische Kulturmodell als ein globales, dynamisches, internationalistisches in mehrfacher Hinsicht der isolationistischen, statischen, sesshaften Welt der Altgläubigen entgegengenstellt. Denn Neu-Kitež ist in dem Roman nicht nur einfach eine mittelalterliche, altgläubige Modellstadt, sondern vor allem auch ein Sinnbild für die fatalen Folgen der gesellschaftspolitischen Isolation: So bremst die Absonderung nicht nur allen gesellschaftlichen Fortschritt, auch genetisch führt die Inzucht bei den Kitež-Bewohnern zu sich häufenden Erbkrankheiten und Degeneration, die nur durch das Aufgreifen von aus sibirischen Straflagern geflohenen Gefangenen oder die Entführung mongolischer Frauen zeitweise ge-
naučnaja fantastika (vtoraja polovina XIX – načalo XX veka, Moskva 1979, S. 187–218; Generell zu den Adaptionen in den 1910er und 20er Jahren vgl. Schwartz, Matthias: Atlantis oder Der Untergang der russischen Seele. Überlegungen zu den Erzählungen Aelitas von Aleksej Tolstoj, in: Goller, Miriam; Strätling, Susanne (Hg.): Schriften – Dinge – Phantasmen. Literatur und Kultur der russischen Moderne I, (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 56),München 2002, S. 159–202, S. 195ff. 153
Die Johannisnacht (ночь Ивана Купала) als eine Zeit liminaler Grenzübertritte und heidnischer Rituale bildete in der russischen Literatur insbesondere durch Nikolaj Gogol’s gleichnamige Erzählung ein festes Topos, auf die Zuev-Ordynec in manchen Szenen explizit anspielt. Vgl. ebd., S. 166., 182
154 „– Верно ты сказала, Анфиса: Равна наша любовь да не равны обычаи. А мне по вашим обычаям не
жить, Прощай!...“ Zuev-Ordynec, Michail: Skazane o grade Novo-Kiteže, Leningrad 1930, S. 268.
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stoppt werden kann.155 Das Ideal des glücklichen Lebens richtet sich in diesem abgeschotteten Mikrokosmos letztlich auf so spießbürgerliche Werte wie Heimat, Familie und eigenes Heim. Als daher die drei Abenteuerhelden am Schluss des Romans sich noch einmal in Irkutsk treffen, sich an ihre Hoffnungen und Wünsche in der Neu-Kitežer Gefangenschaft erinnern und ihre weiteren Lebenspläne besprechen, ruft mit einem Mal der aus der Ukraine kommende Techniker Fedor Ptucha mit Zustimmung der anderen beiden Kampfgefährten aus: „Erinnerst du dich, damals in der Taiga hatte ich Sehnsucht – fuhr Ptucha fort, – als ob das Herz mir erfroren sei, zur heimatlichen Ukraine zog’s mich hin. Ach, was für eine Unsinnigkeit! Auf der Hauptwache, in der Freiheit, hab ich drüber nachgedacht, wie sich am besten ins Leben einschrauben. Sei du verflucht, warmer Ofen, und sanftes Weib, und heiße Piroggen! – rief Fedor plötzlich erbittert aus. – Bei so einem Leben gehst du ein! – In unserer Zeit darf man nicht an den Ofen denken! Auf die Expedition, in die Taiga fahre ich! Für einen Seemann, mit geteerter Ferse, sind nur zwei Gräber schön: das Meer und die Taiga. Genau!“156
In diesem Zitat wird aber auch deutlich, wie sehr die neue sowjetische Abenteuerliteratur der zwanziger Jahre ungeachtet ihrer „sozial-revolutionären“ Tendenz und ihrer Umkodierung des Exotischen noch in der Tradition ihrer britischen, nordamerikanischen und französischen literarischen Vorbilder stand. In ihrer Privilegierung des Abenteuers und ihrer Verweigerung jeglicher Bindung an Ehefrau, Herkunftsort und Heimatland zugunsten der Expedition in andere Welten folgte sie ganz den westlichen Genretraditionen. Die zentrale Umkodierung, die hier stattfindet, ist die Parallelisierung des offenen Meeres mit der wilden Taiga, in der genauso einsame Inseln vergangener Welten und Zeitreisen in andere Zivilisationen möglich sind wie auf hoher See. Nun ist diese Konzeptualisierung Sibiriens als ein russisches Pedant zu den Seefahrergeschichten der Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zwar auch schon ein Konstrukt der russischen Romantik, als Topos und Sujet unterhaltsamer Abenteuerliteratur gelingt ihr aber erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Durchbruch.157 Die Taiga oder das Meer als Orte, an denen ein weltweiter Pfadfinder sterben möchte, akzentuieren jedoch noch einen weiteren charakteristischen Zug dieser Abenteuerliteratur, der bei
155
Ebd., S. 135ff.
156 „Помнишь, тогда в тайге затосковал я, – продолжал Птуха, – сердце вроде озябло, до Вкраине
ридной захотелось. Э, ерундистика! На гапвахте, на свободе, раздумался я, как лучше в жизньввинтиться. Будь ты проклята, печка теплая, да баба мягкая, да пироги горячие! – озлобленно крикнул вдруг Федор. – От такой жизни зачичвереешь! – В наше время о печке думать нельзя! С экспедицией я, в тайгу поеду! Для моряка, смоленой пятки, только две могилы хороши: море да тайга. Вот!“ Ebd., S. 282.
157
Zur spätromantischen Aneignung Sibiriens in Senkovskijs Reise zur Bäreninsel, vgl. zum Beispiel Polianski, Igor J.; Schwartz, Matthias: Petersburg als Unterwasserstadt. Geologie, Katastrophe und der Homo diluvii testis. Diskursive Ausgrabungen bei Senkovskij, Puškin und Odoevskij, in: Wiener Slawistischer Almanach 53 (2004), S. 5–42.
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Zuev-Ordynec auch in der Erörterung der progressiven gesellschaftlichen Funktion der Altgläubigen anklingt: und zwar deren Anti-Etatismus. Demnach waren die altgläubigen „Raskol’niki“ seinerzeit deswegen eine progressive Bewegung, weil sie sich gegen die volksfeindlichen Reformen Peters I. und des Patriarchen Nikon auflehnten, aber die falsche Strategie wählten: „Das war nicht nur Opposition gegen die herrschende Kirche, sondern in ihrer Gestalt hauptsächlich auch eine deutliche Opposition gegen die staatliche weltliche Macht. [...] Natürlich war die Spaltung keine Revolution im Geist von Cromwells Aufstand in England. [...] Die ganze Tragik der russischen ‚Häretiker‘ besteht darin, dass sie mit dem damaligen Moskauer Staat nicht durch Angriff, sondern durch Flucht gekämpft haben, so wie die antiken römischen Christen auch in die Katakomben geflüchtet sind.“158
Auch wenn sich die drei Bürgerkriegshelden explizit von dieser Staatsfeindlichkeit im Namen der bolschewistischen Sache distanzieren,159 ist in ihrem Voluntarismus und Abenteuertum160 doch ein ähnlicher Impuls zu erkennen, der dem Leninschen Diktum folgt, dass das Ziel der Oktoberrevolution letztlich die Überwindung jeglicher Staatlichkeit sein müsse. Diese fast anarchistisch anmutende Staatsfeindlichkeit ist jedoch kein spezifisches Charakteristikum von Zuev-Ordynec’ Prosa, sondern tendenziell aller Abenteuerliteratur eigen, deren Helden immer einen Ausstieg aus den gegebenen Verhältnissen proben, egal ob sie sich in einem imperialen und kolonialen Kontext oder im Auftrag der Revolution als weltweite Pfadfinder positionieren. Zwar verschwindet die politische Ambivalenz gegenüber dem eigenen Staat bei der Neuausrichtung der Abenteuerliteratur in den 1920er Jahren vollkommen, ohne dass aber die staatsfernen, alle machtpolitischen und territorialen Grenzziehungen ignorierenden und überwindenden Narrationsmuster aufgehoben werden. Genauso wie das eigentliche Abenteuer der sowjetischen Geheimdienstler im Kampf gegen konterrevolutionäre Diversanten erst dann beginnt, als sie durch ein Unwetter über die sowjetische Grenze hinaus in die Mongolei katapultiert werden, stellen auch die Taiga und die unerschlossenen sibirischen Weiten für den Abenteuertext kein sowjetisches Hoheitsgebiet dar, sondern im Gegenteil ein mit den internationalen Gewässern des Ozeans vergleichbares Grenzland, dessen exotische Seiten man in den 1920er Jahren neu erfand. 158 „Это была оппозиция не только господствующей церкви, но в лице ее главным образом яростная
оппозиция государственной светской власти. [...] Конечно раскол не был революцией в духе Кромвельского восстания в Англии. [...] Весь трагизм русских ‚еретиков‘ в том, что они боролись с торгашеским московским государством не нападая, а убегая, как убегали в катакомбы и древние римские христиане.“ Ebd., S. 25, 26f.
159
Genau diese antistaatliche Richtung vertreten die altgläubigen Sekten Sibiriens auch noch heute, nur dass sie jetzt nicht mehr einen Fortschritt fürs Volk darstellten, sondern konterrevolutionär gegen die bolschewistischen Gottlosen gerichtet seien. Vgl. ebd., S. 24, 30.
160
So sprechen sie in Bezug auf die Raskol’niki explizit von einem „religiösen Abenteuer“ (религиозная авантюра), das von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Vgl. ebd., S. 30.
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So lässt sich zusammenfassend für die Haupttendenzen der sowjetischen Abenteuerliteratur der Jahre 1923/4 bis 1929/30 festhalten, dass diese vor allem um die Neuauslotung des Eigenen und des Anderen entlang des proklamierten Gegensatzes zwischen Proletarischem und Kapitalistischem changierten, indem man das Andere nicht mehr als ein fernes Exotisches und fundamental Fremdes der eigenen Identitätskonstruktion postulierte, sondern es als ein sozial und historisch Gemachtes diskursiv und fiktional versuchte in die eigene postrevolutionäre Wirklichkeit einzubinden. Dies geschah in zwei Richtungen. Erstens durch eine Umkodierung der eigenen vor- und postrevolutionären Wirklichkeit, indem man analog zu den Roten Teufelchen „klassische“ Szenarien und Konfliktsituationen zwischen kolonialen Eroberern und indigener Bevölkerung auf das eigene Territorium und Grenzland übertrug, und so eine Exotisierung der sowjetischen Geographie erzielte. Hier waren es zum einen die „weißen Flecken“ der imaginären Landkarte, die man mit geheimnisvollen Objekten, vergessenen Zivilisationen und urzeitlichen Lebewesen füllte, aber auch der politische Untergrund und illegale Widerstandskampf der Zarenzeit, gescheiterte Rebellen und religiös Verfolgte, die man zu subalternen Subjekten umschrieb. Zweitens betrieb man eine Umkodierung der westlichen Abenteuernarrative selber, indem man die imperialen Perspektiven im Sinne des antikolonialen Befreiungskampfes und der angestrebten Weltrevolution aus der Sicht der Unterdrückten neu akzentuierte. Die Dekolonisierung der imperialen Geographie stellte nicht so sehr eine „Entexotisierung“ der Differenz zwischen westlichen Kolonialherren und subalternen Kolonisierten dar, sondern eher eine Umkodierung des Exotischen selber, das als historisch, sozial und letztlich auch als „sozialdarwinistisch“ hergestelltes Herrschaftsverhältnis kenntlich gemacht wurde. Damit ergab sich sowohl hinsichtlich der sowjetischen als auch hinsichtlich der (außersowjetischen) „imperialen“ Geographie eine doppelte Stoßrichtung: In Bezug auf die Vergangenheit wollte „sozial-revolutionäre“ Abenteuerliteratur analog zur allgemeinen Neubewertung der Menschheitsgeschichte im Sinne des Marxismus die Kolonialexotik revidieren, in Bezug auf die Gegenwart und nahe Zukunft aber auch eine emanzipatorische Perspektive im Sinne des weltweiten Klassenkampfes eröffnen. Diese emanzipatorische, anti-isolationistische, tendenziell „kosmopolitische“ Ausrichtung der sowjetischen Abenteuerliteratur im Stil der kommunistischen Pinkertons war aber ein weiterer Grund für die massiven Probleme, die das Genre mit dem „Großen Umbruch“ und der Proklamation des Sozialismus in einem Land bekommen sollte (vgl. Kapitel 5). War die Option der Weltrevolution doch seit ihrem Neubeginn Anfang der 1920er Jahre letztlich schon obsolet geworden, was die „avancierteren“ (Sergej Dinamov) Adaptionen des Genres auch immer wieder parodistisch und ernsthaft thematisierten, wie im nächsten Kapitel dargestellt wird.
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3. M as k e n d e r W e l t r e v o l u t io n – A d a p t io ne n und P ar od i e n d e r P i n k e r t o n o všcˇ ina 1 „Aber wie oft – gib es nur zu, du aufgeklärter Aktivist und glatzköpfiger Verehrer ‚seriöser‘ Werke –, wie oft hast du voller Sehnsucht an die zerlesenen Bändchen von Dumas gedacht, der dir, gesetzt wie du bist, verboten ist. Und mit welchem Genuss hast du ihn in der Eisenbahn wiedergelesen und den Umschlag versteckt, damit dein Nachbar, ein solider Aktivist wie du, nicht verächtlich lächeln würde, wenn er sähe, dass du statt Černyševskij das Boulevardzeug liest.“ (Lev Lunc, 1922)1
Nachdem man die ersten dramatischen Jahre des Bürgerkriegs hinter sich gelassen hatte, signalisierte das bolschewistische Regime mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik seit März 1921 eine relative Entspannung auch im kulturellen Bereich. Für das literarische Leben der jungen, sich Ende 1922 gründenden Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ergab sich aus der Kehrtwende der Leninschen Doktrin kurzzeitig ein größerer Spielraum für konzeptionelle Alternativen und pragmatische Fragestellungen jenseits der ideologischen Manifeste und viel versprechenden Proklamationen. Der Proletkul’t um Aleksandr Bogdanov und Aleksej Gastev hatte sich als „erste“ literaturpolitische Strömung der Revolution positioniert, dessen „Definitionshoheit“ über die „richtige“ „proletarische“ Literatur aber weder von konkurrierenden Gruppen wie den Futuristen noch von maßgeblichen Ideologen wie Lenin oder Trockij große Anerkennung bekam. Ende 1922 formierte sich die Linke Front der Künste (Левый фронт искусств, Abk. LĖF) in Moskau, 1923 sollte Trockij dann in seinem anfangs wenig beachteten Buch Literatur und Revolution (Литература и революция) den Begriff der „Mitläufer“ (попутчики) für alle diejenigen prägen, die in einer gewissen Distanz zur neuen Republik und ihren politischen Zielen standen, aber nicht offen gegen sie arbeiteten, und ihnen damit eine begrenzte Autonomie innerhalb des literarischen Feldes gewähren.2 Das Ergebnis dieser ersten literaturpolitischen Positionierungen war jedoch aus Sicht der neuen kulturpolitischen Eliten ernüchternd bis erschütternd: musste man doch feststellen, dass 1
Lunc: Nach Westen!, S. 268 („Но как часто – сознайся ты, просвещенный общественник, ты, лысый поклонник ‚серьезных’ творений, – как часто ты с грустью мечтал о затасканных книжках Дюма, который тебе, при твоей солидности, запрещен! И с каким наслаждением ты перечитывал его, сидя в вагоне и пряча обложку, чтобы сосед твой, тоже солидный общественник, не улыбнулся презрительно, увидя, что вместо Чернышевского, ты читаешь бульварную чепуху.“ Lunc: Na zapad!, S. 205f.).
2
Zur Debatte um die neuen Prosaformen in jenen Jahren ausführlicher vgl. Wegner, Michael; Hiller, arbara u.a. (Hg.): Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion 1917–1941, B Berlin 1988; Kaverin, Veniamin A.; Mjacnikov, A. S.: Kommentarii ot sostavitelej, in: Tynjanov, Jurij: Literaturnoe segodnja (1924), in: Ders.: Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskva 1977, S. 397–572, S. 463ff.
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nach dem geglückten politischen Umsturz der literarische Umschwung keineswegs automatisch gelingt. Vielmehr waren bislang alle Versuche gescheitert, eine „revolutionäre“ oder auch „avantgardistische“ Literatur erfolgreich zu etablieren, die auch von den proletarischen Massen gelesen wird.3 Zwar produzierten die Futuristen oder die Imaginisten, ja auch die Proletkul’t-Dichter durchaus viel gelobte und innovative neue Werke und Programmatiken, doch die Mehrzahl der Arbeiter und Bauern erreichten sie nicht, ja noch nicht einmal bei der städtischen Intelligenz, den Heranwachsenden oder den Arbeiteraktivisten fanden sie nennenswerten Zuspruch. So stellte auch Jurij Tynjanov in seiner Zwischenbilanz zur Lage des Literarischen Heute (Литературное сегодня) Anfang 1924 fest: „Der Leser zeichnet sich im Moment gerade dadurch aus, dass er nicht liest. Schadenfroh nimmt er jedes neue Buch in die Hand und fragt: und was kommt weiter? Und wenn man ihm dieses ‚Weiter‘ gibt, bestätigt er, dass es das schon gegeben habe. Als Ergebnis dieses Bockspringens seitens des Lesers scheidet der Verleger aus dem Spiel aus. Er verlegt Tarzan, Tarzans Sohn, Tarzans Ehefrau, seine Ochsen und seine Esel – und mit Hilfe von Ėrenburg hat er den Leser schon zur Hälfte überzeugt, dass eben gerade Tarzan eigentlich russische Literatur sei.“4
Mit anderen Worten: Der von Lunc in dem einleitenden Zitat apostrophierte „aufgeklärte Aktivist“ (просвещенный общественник) las weiterhin das „Boulevardzeug“ (бульварная чепуха). Die pragmatische Konsequenz aus dieser Erkenntnis war, dass man sich darüber Gedanken machen musste, wie man eine Literatur der Revolution schaffen könne, die auch von einer breiteren Leserschaft angenommen wird. Einen der wenigen Vorschläge in diese Richtung stellten Nikolaj Bucharins Überlegungen im Oktober 1922 zu einer „Erziehung der Gefühle“ mit Hilfe des „kommunistischen Pinkerton“ dar. Keine zwei Monate später machte Lev Natanovič Lunc (1901–1924) ebenfalls in Petrograd auf einer Sitzung der Serapionsbrüder den in eine ähnliche
3
Vgl. zum Beispiel Meščerjakovs Kritik an den „proletarischen Schriftstellern“, der feststellt, dass deren Werke nur die Lager des Staatsverlags füllten, da nach ihnen nicht die geringste Nachfrage bestehe, in Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932, S. 293f.
4 „Читатель сейчас отличается именно тем, что он не читает. Он злорадно подходит к каждой новой
книге и спрашивает: а что же дальше? А когда ему дают это ‚дальше’, он утверждает, что это уже было. В результате этой читательской чехарды из игры выбыл издатель. Он издает Тарзана, сына Тарзана, жену Тарзана, вола его и осла его — и с помощью Эренбурга уже наполовину уверил читателя, что Тарзан это и есть, собственно, русская литература.“ Tynjanov, Jurij: Literaturnoe segod-
nja (1924), in: Ders.: Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskva 1977, S. 150–167, 150. Der Beitrag ist erstmals leicht gekürzt erschienen im Literaturnyj sovremennik 1 (1924), S. 292–306. Der Verweis auf Ilja Ėrenburg spielt auf dessen frühe Romane Die ungewöhnlichen Erlebnisse des Julio Jurenito und seiner Jünger (Необычайные похождения Хулио Хуренито и его учеников, 1922) und Trust D. E. (Die Geschichte vom Untergang Europas) (Трест Д. Е [История гибели Европы], 1923) an, die Tynjanov beide ähnlich negativ bewertet, vgl. Kaverin; Mjacnikov: Kommentarii ot sostavitelej, S. 466.
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Richtung zielenden Vorschlag, dass man eine wirklich „volkstümliche Literatur“ nur schaffen könne, wenn man sich an der westlichen Abenteuerliteratur orientiere.5 „Boulevardzeug und kindliches Vergnügen nannten wir das, was im Westen als klassisch gilt. Die Fabel! Die Fähigkeit, mit einer komplizierten Intrige umzugehen, Knoten zu schürzen und zu lösen, zu verflechten und zu entflechten, lässt sich nur durch langjährige, sorgfältige Arbeit erwerben und kann nur bei stetiger und guter Pflege gedeihen./ Und wir Russen, wir verstehen nicht, mit der Fabel umzugehen, wir ignorieren sie, und deshalb verachten wir sie. [...] Aber diese Verachtung ist die Verachtung von Provinzlern. Wir sind Provinzler. Und wir sind stolz darauf. Wir haben keinen Grund, darauf stolz zu sein.“6
Diese Geringschätzung der Fabel entspringe aber nicht nur einem ungebildeten Provinzialismus, sondern habe auch dazu geführt, dass die Abenteuerliteratur bislang lediglich im literarischen „Untergrund“ des Boulevards existieren konnte: „Die Tradition des Abenteuerromans hat sich im Untergrund versteckt. Dostoevskijs brillanter Versuch, den Boulevardroman von dort wieder hervorzuholen, ist ein Einzelfall geblieben. [...] So gibt es keinen einzigen guten Abenteuerroman. Und deshalb, nur deshalb haben wir statt eines Dumas einen Breško-Breškovskij, statt eines Stevenson – Pervuchin, statt eines Cooper – die Čarskaja, statt eines Conan Doyle nur Straßen-Nat-Pinkertons.“7 5
Biographische Angaben zu Lunc vgl. Kukuškina, T. A.: Lunc Lev Natanovič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 2, Moskva 2005, S. 483–486.
6
Lunc: Nach Westen!, S. 268 („Бульварной чепухой и детской забавой называли мы то, что на Западе считается классическим. Фабулу! Уменье обращаться со сложной интригой, завязывать и развязывать узлы, сплетать и расплетать, это добыто многолетней кропотливой работой, создано преемственной и прекрасной культурой./ А мы, русские, с фабулой обращаться не умеем, фабулы не знаем, и поэтому фабулу презираем. [...] Но презренье это – презренье провинциалов. Мы – провинциалы. И гордимся этим. Гордиться нечего.“ Lunc: Na zapad!, S. 206).
7
Lunc: Nach Westen!, S. 270f. („Традиция авантюрного романа скрылась в подполье. Блестящая попытка Достоевского извлечь оттуда бульварную повесть осталась единичной. [...] И нет ни одного хорошего романа приключений. И поэтому-то, только поэтому, вместо Дюма мы имеем БрешкоБрешковского, вместо Стивенсона – Первухина, вместо Купера – Чарскую, вместо Конан-Дойля – уличных Нат-Пинкертонов.“ Lunc: Na zapad!, S. 208); Nikolaj Nikolaevič Breško-Breškovskij (1874– 1943) war ein Bestsellerautor der Vorkriegszeit, der sich unter anderem durch Abenteuer- und historische Romane einen Namen machte, 1920 zuerst nach Warschau emigrierte und dann in Paris lebte, ehe er im Dritten Reich in Goebbels Propagandaministerium Karriere machte. Michail Konstaninovič Pervuchin (1870–1928) war vor der Revolution Zeitungsredakteur auf der Krim, schrieb einige erfolgreiche fantastische Abenteuerromane, gilt mit seinem Werk Das zweite Leben Napoleons (Вторая жизнь Наполеона, 1917) als Begründer der „Alternativen Geschichte“ in Russland, emigrierte dann erst nach Rumänien, später nach Italien. Lidija Alekseevna Čarskaja (1875–1937) war Schauspielerin und Schrifstellerin, die von 1901 bis 1917 mehr als 40 Bücher, vor allem Unterhaltungsromane über Mädcheninternate, historische Sujets und Liebesromanzen veröffentlichte Vgl. Lepechin, M. P.; Rejtblat, A. I.: Breško-Breškovskij,
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Um die „Krise“ der sowjetischen Literatur zu beheben, sei daher die erste Erfordernis, vom „Westen“ zu lernen, was überhaupt eine Fabel sei, denn nur so sei man in der Lage, die Qualität eines Conan-Doyle, Cooper oder Dumas von den „Straßen-Nat-Pinkertons“ und Romanen Boussenards zu unterscheiden.8 Wenn man dies gelernt habe, gebühre ein „großes revolutionäres Verdienst“ demjenigen, der „dem Proletariat einen russischen Stevenson“ schenke.9 Mit diesem Vorschlag, die spannend komponierte Fabel und unterhaltsame Intrige den sozialkritischen und psychologisch tiefsinnigen Romanen vorzuziehen, lag Lunc einerseits ganz auf der Linie von Bucharin, dem es ebenfalls um die Aneignung populärer Erzählformen für die Revolution ging. Andererseits begnügte sich Bucharins Forderung nach einem „kommunistischem Pinkerton“ damit, schlicht den Inhalt an die neuen postrevolutionären Verhältnisse anzupassen, während Lunc mit dem „russischen Stevenson“ auch ausdrücklich einen Qualitätsanspruch formulierte. Gerade aber diese Hervorhebung einer qualitativen Differenz, die die „Klassiker“ der Abenteuerliteratur in den Rang eines Dostoevskij hob und deutlich von den „Straßen-Nat-Pinkertons“ (уличные Нат-Пинкертоны) abgrenzte, machte den Kern von Lunc’ polemischer Provokation aus, hatte er doch damit die zentralen Genrebestimmungen der Abenteuerliteratur (Fabel, Unterhaltsamkeit) in das hochliterarische Wertesystem erheben und integrieren wollen. Wo Čukovskij noch fast eineinhalb Jahrzehnte zuvor jede Art von spannender Abenteuerliteratur als Pinkertonovščina generell verdammt hatte, erklärte Lunc deren Verfahren zur Herstellung von „Unterhaltsamkeit, Intrige und Fabel“ (занимательность, интрига, фабула) zu einem wesentlichen Qualitätsmerkmal, mit dessen Hilfe man eine Erneuerung der russischen Prosaformen erreichen könne.10 Lev Lunc löste mit seiner Forderung Nach Westen! eine heftige Diskussion nicht nur unter den Petrograder Serapionsbrüdern aus, er traf mit seiner Polemik auch den Nerv der Zeit.11 Denn fast zeitgleich erschien in der von Aleksandr Voronskij geleiteten und in intellektuellen Kreisen geachteten Literaturzeitschrift Kransja Nov’ (Rotes Neuland, 1921–1942) Ende 1922, Anfang 1923 ein neuer Roman von Aleksej N. Tolstoj mit dem Titel Aėlita. Der Untergang des Mars (Аэелита. Закат Марса).12 Damit legte einer der prominenteren Autoren der russischen Emigration, der bislang eher mit „anspruchsvollen“, sozialkritisch-symbolistischen Werken von sich in: Nikolaev, Petr A. (Hg.): Russkie pisateli 1800–1917. Biografičeeskij slovar’ (Bd. 1, A-G), Moskva 1989, S. 327; Charitonov, Evgenij: Glavnejšij iz vsech voprosov... Ob odnom iz pionerov žanra „al’ternativnaja istorija“, zabytom russkom pisatele M. K. Pervuchine, in: Esli 10 (2000), S. 239–241; Strelkova, Irina: Tajna Lidii Čarskoj, in: Čarskaja, Lidija: Sibiročka. Zapiski malen’koj gimnazistki, Moskva 2004, S. 5–10. 8
Lunc: Na zapad!, S. 206.
9 „Великая революционная заслуга будет принадлежать тому, кто [...] даст пролетариату русского
Стивенсона.“ Ebd., S. 214.
10 Ebd. 11
Vgl. Fedin, Konstantin: Gor’kij sredi nas. Kartiny literaturnoj žizni, Moskva 1967, S. 72f.; Vajnštejn, M: Primečanija, in: Lunc: Vne zakona, S. 233–236, S. 236.
12
Tolstoj, Aleksej N.: Aėlita (Zakat Marsa). Roman, in: Krasnaja Nov’ 6 (1922), S. 104–149; 1 (1923), 52–91; 2 (1923), 36–57. Zu Aleksandr Voronskijs Zeitschrift und deren literaturpolitischer Ausrichtung siehe Maguire: Red Virgin Soil.
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reden gemacht hatte, auf einmal einen Roman im Stile Benoits und Boussenards vor. Dieser „erste derartige fantastische Roman“ in der russischen Literatur13 sorgte unter Kritikern und Schriftstellerkollegen für einiges Aufsehen, adaptierte er doch populäre Erzählformen (spannende Abenteuerfabel) und Stoffe (Mars- und Atlantisgeschichten) zur Parodie „ernsthafter“ politischer und kulturphilosophischer Fragestellungen.14 Dieses zeitliche Zusammentreffen von Bucharins Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“, Lunc’ Aufruf, sich „nach Westen“ zu orientieren, und Tolstojs in Berlin geschriebenem, parodistischem Marsroman trug wesentlich dazu bei, dass sich in den folgenden Jahren eine Reihe an avantgardistischen und experimentierfreudigen Prosaschriftstellern auch an den populären Literaturformen der Pinkertonovščina und des „klassischen“ imperialen Abenteuerromans versuchte. Serapionsbrüder wie Viktor Šklovskij und Vsevolod Ivanov, aber auch andere junge Autorinnen und Autoren wie Marietta Šaginjan, Valentin Kataev und der von Tynjanov genannte Ilja Ėrenburg laborierten mit dem Genre. Il’ja Grigor’evič Ėrenburg (1891–1961) hatte schon 1921 den viel beachteten Roman Die ungewöhnlichen Erlebnisse des Julio Jurenito und seiner Jünger (Необычайные похождения Хулио Хуренито и его учеников) geschrieben, der Anfang 1922 beim Verlag Gelikon in Berlin veröffentlicht wurde. Der Import dieser Ausgabe wurde allerdings im selben Jahr noch verboten, und erst dank der Intervention und eines Vorworts von Bucharin erlebte der Roman von 1923 bis 1927 bei Gosizdat noch drei Neuauflagen.15 1923 folgte dann Ėrenburgs Abenteuerroman Trust D. E. (Die Geschichte vom Untergang Europas) (Трест Д. Е [История гибели Европы]), der neben einer Berliner Ausgabe bei Gelikon in der Sowjetunion von 1923 bis 1928 vier Auflagen erfuhr.16 Valentin Petrovič Kataev (1897–1986) machte 1924 gleich zwei Versuche in dem Genre mit dem Abenteuer13
In einem Brief an Aleksandr Samojlovič Ėliasberg (1878–1924) schrieb Tolstoj im September 1922: „В русской литературе – это первый такого рода фантастический роман.“ Vgl. Tolstoj, Aleksandr N: Pis’mo A. S. Ėliasbergu, in: Krjukova, Alisa (Hg.): Perepiska A. N. Tolstogo v dvuch tomach, Bd. 1, Moskva 1989, S. 334.
14
Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 162f.
15
Der volle Titel des Romans lautete: Die ungewöhnlichen Erlebnisse des Julio Jurenito und seiner Jünger Monsieur Delahaye, Karl Schmidt, Mister Cool, Aleksej Tišin, Ercole Bambucci, Il’ja Ėrenburg und des Negers Ayscha in den Tagen des Friedens, des Krieges und der Revolution, in Paris, Mexiko, Rom, Senegal, Kineschma, Moskau und anderwärts, ebenso wie verschiedene Urteile des Meisters über Pfeifen, den Tod, die Liebe, die Freiheit, das Schachspiel, das Volk der Juden, Konstruktionsfragen und vieles andere (Необычайные похождения Хулио Хуренито и его учеников mousieur Дэле, Карла Шмидта, мистера Куля, Алексея Тишина, Эрколе Бамбучи, Ильи Эренбурга и негра Айши, в дни мира, войны и революции в Париже, Мексике, в Риме, в Сенегале, в Кинешме, в Москве и других местах, а также различные суждения Учителя о трубках, о смерти, о любви, о свободе, об игре в шахматы, об иудейском племени, о конструкции и многом ином). Vgl. zu den Publikationsschwierigkeiten Frezinskij, Boris: Il’ja Ėrenburg i
Nikolaj Bucharin (Vzaimootnošenija, perepiska, memuary, kommentarii), in: Voprosy literatury 1 (1999), http://magazines.russ.ru/voplit/1999/1/frez.html, 01.03.2009. 16
Danach konnte der Roman genauso wie Julio Jurenito erst wieder 1962 im Rahmen einer neunbändigen Werksausgabe Ėrenburgs erscheinen. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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roman (авантюрный роман) Der Beherrscher des Stahls (Повелитель железа) sowie dem Ėrenburgs Trust D. E. parodierenden „Roman mit Abenteuern“ (роман с приключениями) Die Insel „Ėrendorf“ (Остров „Эрендорф“).17 1925 verfasste der inzwischen aus der Emigration zurückgekehrte Aleksej Tolstoj dann einen reinen Abenteuerroman mit Der Hyperbolid des Ingenieur Garin (Гиперболид инженера Гарина, 1925), und Viktor Borisovič Šklovskij (1893–1984) publizierte zusammen mit Vsevolod Vjačeslavovič Ivanov (1895–1963) in neun Fortsetzungsheften den Abenteuerroman Yperit (Иприт, 1925).18 Den bekanntesten Versuch einer Adaption der Pinkertonovščina stellte aber der 1924 in zehn Fortsetzungsheften publizierte Roman Mess-Mend oder die Yankees in Petrograd (Месс-Менд, или Янки в Петрограде) von Mariėtta Sergeevna Šaginjan (1888–1982) dar, den sie unter dem Pseudonym Jim Dollar (Джим Доллар) veröffentlichte. Schon 1925 folgten der zweite Band der Mess-Mend-Serie Lori Lėn, der Metallarbeiter (Лори Лен, металлист) sowie eine dritte Serie mit dem Titel Der internationale Waggon (Международный вагон). Damit entstand zeitgleich oder teilweise sogar noch vor den ersten – im vorigen Kapitel analysierten – populär und kommerziell orientierten Ansätzen zur Neuausrichtung der Abenteuerliteratur eine zwar sehr überschaubare, aber dafür in der Kritik und Publizistik umso mehr beachtete „avancierte“ Form der Pinkertonovščina, von der Sergej Dinamov bereits 1925 feststellte, dass sie dem breiten Publikum „vollkommen unzugänglich und unverständlich“ sei.19 Zu deren prominentestem Theoretiker wurde Viktor Šklovskij mit seinen Ausführungen zum „Roman der Geheimnisse“, auch wenn sich seine in jenen Jahren veröffentlichten Überlegungen nicht explizit mit den zeitgenössischen Adaptionen beschäftigten.20 Šklovskij lieferte mit seiner formalistischen Analyse der Konstruktionsformen des Sujets im Abenteuerroman gewissermaßen die theoretische Basis zu Lunc’ Polemik, indem er die zur Schablone „heruntergekommenen“ Formen der „Straßen-Pinkertons“ von den innovativen und produktiven Verfahren zur Weiterentwicklung des Genres trennte. Dabei beharrte er – im Unterschied zu Bucharin – auf der „formalistischen“ These, dass die Evolution des Genres sich in ihrer Genese und auch in Zukunft unabhängig von sozialen Konstellationen und Veränderungen vollziehe (Abschnitt 3.1. Der Roman der Geheimnisse). Den bekanntesten Versuch, die im westlichen Abenteuerroman angelegten Verfahren des „Romans der Geheimnisse“ im Sinne eines „kommunistischen Pinkerton“ umzusetzen, stellten 17
Auch Konstantin Fedins Städte und Jahre (Города и годы, 1924) und Il’ja Ėrenburg Die Liebe der Jeanne Ney (Любовь Жанны Ней, 1924) attestierten einige Kritiker Erzählverfahren der Abenteuerliteratur, vgl. Ležnev, A.: O priključenčeskoj literature, in: Kransnaja molodež’ 3–4 (1925), S. 198–200, 200.
18
Vgl. Skorino: Mariėtta Šaginjan, S. 129; Britikov: Detektivnaja povest’ v kontekste priključenčeskich žanrov, S. 429.
19
„ [...] совершенно недоступная и непонятная широким кругам ‚изысканная‘ литература.“ Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 112.
20
Und doch standen Šklovskijs Ausführungen wie die Formalisten generell deutlich in der Tradition russischer Kritiker und Schriftsteller, die wie Čukovskij – wie Neil Cornwell und Faith Wigzell schreiben – eine wahre „Obsession“ entwickelten, „distinguishing between ‚genuine‘ literature and ‚trash‘, and considered that the former was distinguished by originality of expression.“ Vgl. Cornwell; Wigzell: Literaturnost’. Literature and the Market-place, S. 47.
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die von Marietta Šaginjan verfassten Mess-Mend-Serien dar. Diese in der sowjetischen und westlichen Rezeption seit der stark überarbeiteten Neuauflage des ersten Teils im Jahr 1956 ausschließlich als Genreparodie rezipierte Heftserie21 verfolgte ursprünglich eher das gegenteilige Ziel, und zwar die dem Genre inhärenten Verfahren der lustvollen Maskierung und parodistischen Enttarnung, der rasanten Perspektiv- und Szenenwechsel produktiv zu machen, um nicht nur das kapitalistische Amerika als ein Land der dämonischen Verschwörer zu diskreditieren, sondern gleichzeitig auch die vermeintlich objektiven Erkenntnisse medizinischer Wissenschaften als Manipulationstechniken degenerierter Subjekte zu enttarnen. Das bloßzulegende Geheimnis der Dinge liegt auch in den folgenden beiden Mess-Mend-Serien darin, dass die niedergehende kapitalistische Kolonial- und Wirtschaftsordnung nur noch mit Hilfe wissenschaftlicher Sensationen und todbringender Wunderwaffen, durch hinterhältige Verbrechen und konspirative Geheimbündnisse aufrechtzuerhalten ist. Erst angesichts einer Reihe weiterer Genreadaptionen vornehmlich aus dem Kreis der Serapionsbrüder, die den Abenteuerroman vor allem zur Entblößung der vorhersehbaren Klischeehaftigkeit und karnevalesken Absurdität gängiger Erzählmuster parodistisch nutzten, distanzierte sich Šaginjan 1926 von ihren Adaptionen und legte ihr Pseudonym offen (Abschnitt 3.2. Das Geheimnis der Dinge). Doch die avantgardistische Pinkerton-Rezeption Mitte der 1920er Jahre zielte nicht nur auf eine Genreparodie, sondern auch auf eine Entlarvung der in der sozial-revolutionären Abenteuerliteratur „weltweiter Pfadfinder“ proklamierten naiven Hoffnung auf eine baldige Weltrevolution, die in einem letzten entscheidenden Kampf der Welten den endgültigen Sieg davon tragen werde.22 Den Anfang für diese gesellschaftspolitischen Parodien machte Tolstoj mit seinem Marsroman Aėlita, einem Roman, der in der sowjetischen Kritik der Nachstalinzeit später als Beginn einer eigenständigen sowjetischen Science Fiction gefeiert worden ist. Allerdings bezog sich diese Kanonisierung auf eine Mitte der 1930er Jahre von Tolstoj für den KinderliteraturVerlag stark überarbeitete Fassung.23 Die Urfassung stellte hingegen vornehmlich eine Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers monumentaler geschichtsphilosophischer Studie zum Untergang des Abendlandes dar, dessen politische und gesellschaftliche Katastrophenszenarien des europäischen Okzidents Tolstoj auf den Mars extrapolierte. Dieses Thema des Untergangs variierten auch die übrigen avancierten Pinkerton-Adaptionen, die den ausgebliebenen gesellschaftspolitischen Umsturz in der westlichen Welt mit umso radikaleren apokalyptischen Szenarien fiktional beantworteten und sich daher auch als eine fantastische Verarbeitung des Scheiterns eines Revolutionsexportes im Sinne der „weltweiten Pfadfinder“ deuten lassen. Die Vernichtung Europas – wie in Ėrenburgs Trust D. E. – oder gar der ganzen Welt – wie in Kataevs 21
Dabei zitieren fast alle Autoren durchweg die stark überarbeitete Fassung von 1956. Selbst Carol Avins, die etwas ausführlicher auf den Roman eingeht und wörtliche Zitate nach der Werksausgabe von 1935 aufführt, stützt sich in der Inhaltswiedergabe auf die revidierte Version und hebt fast ausschließlich die humoristische Seite hervor („all this is clearly the staff of humor“). Vgl. Avins: Border Crossings, S. 56–60, S. 59.
22
Vgl. zur „naiven“ Abenteuerliteratur die Beispiele in Abschnitt 2.3 dieses Buches.
23
Vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 160f.
134 | Kommunistische Pinkertons
Insel „Ėrendorf“ – transformierte die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in eine apokalyptische Vision der nahen Zukunft der Erde (Abschnitt 3.3. Der Kampf der Welten). All diese Adaptionen brachten aber in der Wahrnehmung der damaligen Literaturkritik nicht die von Lunc erhoffte Erneuerung der Prosaformen und die Neubegründung eines Genres. Während man sich in der „seriösen“ Publizistik noch kritisch an den wenigen Werken „wirklicher“ Schriftsteller abmühte, wuchs zeitgleich im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik der kommerzielle Markt für „kommunistische Pinkertons“ weiter, der sich um keine intellektuellen Begründungen kümmerte. Bis Ende der zwanziger Jahre entwickelte er kaum beachtet von der literarischen Kritik zum Teil seine eigenen intermedialen und intertextuellen Formen der Parodie und der Intensivierung der Wahrnehmung (worauf in Kapitel 4 eingegangen wird). In Unkenntnis und auch Geringschätzung dieser populären Adaptionen erklärte Tynjanov schon 1924 die Versuche der Genreerneuerung mit Hilfe des Abenteuerromans für gescheitert, ein Urteil, dem sich auch Boris Ėjchenbaum 1925 anschloss.24 Der schematisierte Roman der Geheimnisse nach westlichem Muster und die experimentellen Prosaformen der „provinziellen“ Avantgarde gingen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre daher erneut getrennte Wege.
3 .1 Der Rom an d e r Gehe imnis s e – Vi kto r Š klo vski js Überlegungen zum Abenteue rro ma n 2526 „Man muss unbedingt die Massenliteratur studieren und die Gründe ihres Erfolgs.“ Viktor Šklovskij (1924)25 „Zu gleicher Zeit gibt es allerdings Versuche, einige Formen des Abenteuer- und ‚Detektiv‘-Romans zu erneuern. Diese Versuche haben jedoch zum größeren Teil einen allzu ‚theoretischen‘ Charakter und sind von dem Wunsch oder der Hoffnung geleitet, den Leser zu gewinnen, der von der russischen Literatur enttäuscht ist, und den ‚Westen‘ zu schlagen.“ Boris Ėjchenbaum (1925)26
Viktor Borisovič Šklovskij (1893–1984) befasste sich in seinen Schriften von Beginn an mit populären Erzählformen, wobei er sich vor allem auf Märchentexte, aber auch auf Liederfolklore, 24
Vgl. Tynjanov: Literaturnoe segodnja (1924), S. 150–167; Ėjchenbaum: Leskov i sovremennaja proza, S. 423.
25 „Необходимо изучение массовой литературы и причин ее успеха.“ 26
Šklovskij: Tarzan, S. 253.
Ėjchenbaum, Boris: Leskov und die moderne Prosa (1925), in: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994, S. 211–243, 239
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Mythen und Abenteuerromane bezog. Während es ihm anfangs vornehmlich darum ging theoretisch nachzuweisen, wie automatisierte Prosaformen zum Absterben ganzer Literaturgattungen wie dem Abenteuerroman führen können, experimentierte er später unter dem Eindruck der einleitend beschriebenen literaturpolitischen Interventionen – zusammen mit Vsevolod Ivanov – selber mit dem Genre, um eine „Wiederbelebung“ der vermeintlich abgestorbenen „Boulevardliteratur“ mit Hilfe des Verfahrens der Parodie zu versuchen. Anfangs interessierten Šklovskij Märchentexte aber vor allem deshalb, weil an deren Genese sich zeigen ließ, dass der Inhalt nicht durch eine äußere Wirklichkeit, das heißt die Lebensweisen und religiösen Vorstellungen ihrer Träger motiviert sei, sondern einzig durch die Erneuerung der Erzählform.27 Unter diesem Gesichtspunkt ging er schon 1919 in seinem Aufsatz Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetführung und den allgemeinen Stilverfahren (Связь приемов сюжетосложения с общими приемами стиля) näher auf den Abenteuerroman ein, der das Verfahren der Verlangsamung ganz ähnlich wie das Märchen motiviere. So wie andere Verfahren der Sujetführung sei auch diese Kunstform auf einen fiktionalen „Tanz, ein Gehen“ ausgerichtet, „das man empfindet, genauer, eine Bewegung, die nur darauf angelegt ist, dass man empfinde.“28 Im Fall des Abenteuerromans werde dieser retardierende Effekt genau wie im „Märchenritus“ durch eine „gestufte Aufarbeitung“ erreicht, die meist durch die Aneinanderreihung von drei zu überwindenden Aufgaben oder Hindernissen realisiert werde: „Höchst interessant sind die Aufgaben selbst: Sie sind Motivation für die Schaffung von Bedingungen, die eine Klärung einer scheinbar unlösbaren Situation schaffen. Hier wird das Aufgeben von Rätseln als einfachstes Mittel zur Schaffung einer ausweglosen Lage gewählt [...] Hier geht der Aufbau vom Schluss aus, die Erzählung wird geschaffen zur Motivierung der Unerlässlichkeit einer zutreffenden Lösung.“29
(„Рядом с этим, правда, делаются попытки возродить разные формы авантюрного и ‚детективного’ романа. Однако попытки эти большею частью имеют какой-то череcчур ‚теоретический’ характер и подсказаны желанием или надеждой завоевать читателя, разочаровавшегося в русской литературе, победить ‚Запад’.“ Ėjchenbaum: Leskov i sovremennaja proza, in: Ders.: O literature. Raboty raznych let,
Moskva 1987, S. 409-427, S. 423). 27
Anhand der Märchentexte ging es ihm vor allem darum, die Lesart der so genannten Ethnographischen Schule Aleksandr N. Veselovskijs (1838–1906) zu widerlegen, wonach man aus Märcheninhalten etwas über die Wirklichkeit, das heißt die Lebensformen oder religiösen Vorstellungen ihrer Übermittler erfahren könnte. Vgl.: Šklovskij, Viktor: Svjaz priemov sjužetosloženija s obščimi priemami stilja (1919), in: Ders.: O teorii prozy, Moskva ²1929, S. 24–67.
28 „[...] танец-ходьба, которая ощущается, точнее – движение, построенное только для того, чтобы оно
ощущалось.“ Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 33; Ders.: Der Zusammenhang zwischen den
Verfahren der Sujetführung und den allgemeinen Stilfragen, in: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994, S. 37–121, S. 55 29
Šklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren, S. 81 („Весьма интересны сами задачи: они являются мотивацией для создания условий, требующих раъяснения, казалось бы, неразрешимого
136 | Kommunistische Pinkertons
Um aus ihrer scheinbar ausweglosen Lage herauszukommen, blieben den Helden im Märchen „dem technischen Verfahren nach“ zwei Typen einer Lösung: „die Lösung mit Hilfe des Erratens und die Lösung durch Verwendung eines magischen oder nichtmagischen Hilfsmittels, z.B. hilfreiche Tiere [...]“.30 Diese Verfahren umfassten ein ganzes „Reservoir von Märcheninstrumenten“ („набор сказочных инструментов“) und Motiven, in einer scheinbar unlösbaren Situation unerwartet das Schicksal der Helden zu verändern, die auch im Abenteuerroman zur Anwendung kämen: „Einige Motive wurden deshalb besonders beliebt, z.B. das Motiv des Schiffbruchs oder der Entführung der Helden in Abenteuerromanen. [...] Episode folgt auf Episode, sie unterscheiden sich nur unbedeutend voneinander und spielen in Abenteuerromanen dieselbe Rolle der Verzögerung wie Aufgaben oder Märchenriten oder Parallelismus und Verlangsamung von Liedern. Schiffbruch, Entführung durch Piraten usw. wurden nicht aufgrund realer, sondern aufgrund künstlerisch-technischer Umstände für das Romansujet ausgewählt. Milieu ist darin nicht mehr enthalten als indisches Milieu im König des Schachspiels. Der Abenteuerroman schlägt sich bis heute [...] mit den vom Märchen ererbten Schemata und Methoden durch.“31
Schon anhand dieser kursorischen Ausführungen zum Abenteuerroman formuliert Šklovskij einige zentrale Thesen zum Genre, die er mit Verweis auf Romane von Jules Verne und Mark Twains Abenteuer des Huckleberry Finn illustriert. Demnach übernimmt erstens der Abenteuerroman seine Erzählverfahren und Motive direkt vom Märchen, wobei – so lässt sich hinzufügen – er diese aus der imaginären Welt des Märchens in die vermeintlich diesseitige Welt der Abenteuer transformiert, die allerdings für den Leser nie erreichbar sein wird.32 Dabei sei es je-
положения. Тут загадывание загадок взято как наиболее простой способ создать безвыходное положение. [...] Здесь построение идет с конца, создается рассказ для мотивации необходимости удачного разрешения.“ Ders.: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 46). 30 „Можно различать
[...] в качестве технического приема, два типа разрешения: разрешение при помощи догадки и решение путем пользования каким-либо волшебным или неволшебным подсобным предметом. Например, помощные звери [...].“ Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 46; Ders.: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren, S. 81f.
31
Šklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren, S. 83f. („Некоторые мотивы благодаря этому сделались особенно излюбленными, напр., мотив кораблекрушения или похищения героев в романах приключений. [...] Эпизод, следующший за эпизодом, незначительно отличаются друг от друга и играют в авантюрных романах ту же роль задержки, как задача или сказочные обрядности в сказках, или параллелизм и замедление в песнях. Выбирались в сюжет романа кораблекрушение, похищение пиратами и т. д. Не по бытовым, а по художественно-техническим обстоятельствам. Быта здесь не более, чем индийского быта в шахматном короле. Авантюрный роман до сих пор перебивается [...] унаследованными от сказки схемами и методами.“ Ders.: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 47f.).
32
Diesen Gedanken, dass die Attraktivität der Abenteuerliteratur gerade in ihrer Lokalisierung außerhalb des eigenen „Milieus“ (быт) liege, konkretisiert Šklovskij 1924 noch einmal in einer Replik zur populären Rezeption von Burrouhgs Tarzan-Romanen, vgl. Šklovskij: Tarzan, S. 254.
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doch genauso wie im Märchen zweitens nicht das „Milieu“ (быт), die äußere Wirklichkeit, sondern einzig die Forderung des Sujets, die den Aufbau der Abenteuerromane bestimme. Dieses Sujet werde drittens vom Ende her konstruiert durch die Konstituierung einer unlösbaren Situation oder eines geheimnisvollen Rätsels, das der Held über zahlreiche Hindernisse zu erreichen suche, weswegen Šklovskij den Abenteuerroman auch den „Typ des gewundenen Weges“ („тип кривой дороги“) nennt.33 In seiner Polemik gegen die seiner Ansicht nach falsche Annahme, Abenteuerromane oder Märchen spiegelten auch reale Sachverhalte aus dem Leben der Menschen wieder, formuliert er aber auch noch eine vierte These zur Genese des Genres, die sich aus seiner allgemeinen Konzeption zur Automatisierung der Wahrnehmung und zur Funktion der Verfremdung ableitet. Demnach habe die automatische Übernahme der Schemata und Methoden aus dem Märchen, ohne dass die Erzählverfahren erneuert wurden, letztlich in vielen Fällen zur „Degeneration“ der Abenteuerliteratur geführt, wie er am Beispiel des Sujets der Entführung ausführt. Gleichzeitig sei dieses Sujet neben seiner Degeneration zu einem „abgenutzten Verfahren“, das in die Kinderliteratur „abgesunken“ sei, noch einmal als „Parodie“ wiederaufgelebt.34 Gerade aber auch gegen eine solche Geringschätzung des Abenteuersujets als ein zu Kinderliteratur herabgesunkenes Genre richtete sich Lunc’ Aufruf Nach Westen! und letztlich auch Bucharins Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“. Und so griff Šklovskij im direkten Anschluss an diese Ausführungen im Frühjahr 1923 seine ersten Überlegungen zu einer Bestimmung der Abenteuerliteratur noch einmal auf, allerdings diesmal nicht in Bezug auf die Verfahren der Sujetführung im Abenteuerroman, sondern in seinen Definitionsversuchen des „Romans der Geheimnisse“ (Роман тайн/ Новелла тайн).35 Nun war der Begriff „Roman der Geheimnisse“ letztlich in jener Zeit genauso wenig definiert wie derjenige des Abenteuerromans, so dass Šklovskij ihn nach seinem Bedarf prägen konnte. Formal gesehen handelt es sich um eine direkte Übersetzung der englischen Mystery Novel (Роман тайн) bzw. Mystery story (Новелла тайн), mit der vor allem Kriminalgeschichten bezeichnet wurden, wie sie seit den 1840er Jahren von Edgar Allan Poe, Wilkie Collins, Arthur Conan Doyle oder Charles Dickens verfasst worden waren. Deren Geschichten standen im 19. Jahrhundert ähnlich wie die Fantastik (Fantasy Novel) in der Tradition der Schauerliteratur (Gothic Novel), deren Begriff insbesondere durch das Werk von Ann Radcliffe (1764–1823) geprägt worden war. Diese Literatur ist vor allem durch das „Moment des Geheimnisvollen“
33
Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 48; Ders.: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren, S. 85.
34
Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 51.
35
Šklovskij, Viktor: Technika romana tajn, in: Lef 4 (1923), S. 125–155; Ders.: Novella tajn, in: Ders.: O teorii prozy (1925), Moskva ²1929, S. 125–142. Ein Teil dieser Überlegungen fand sich auch in seinem in Berlin herausgegeben Büchleich Literatur und Kinematograph wieder, vgl. Šklovskij, Viktor: Literatura i kinematograf (Vseobščaja biblioteka, Bd. 51), Berlin 1923, S. 26ff., 38ff.
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charakterisiert: „Unheimlich ist die geheimnisvolle Gefahr, gegen die man sich nicht wehren und vor der man nicht fliehen kann. Von wem diese Gefahr ausgeht, ist zweitrangig.“36 In der Mystery Novel, insbesondere aber in der aus ihr entwickelten Detective Novel, die sich ebenfalls ab Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich etabliert, wird die Verunsicherung durch die geheimnisvolle Gefahr am Ende zumeist vollkommen aufgeklärt und damit gebannt, während die Fantasy Novel demgegenüber die Verunsicherung bestehen lässt. Die Übergänge der einzelnen Begriffsbestimmungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch noch recht fließend, so dass die heutige gängige Übersetzung der Mystery Novel als Kriminalroman im Deutschen den Begriff sehr viel stärker eingrenzt, als er noch bei Šklovskij gebraucht wird, die Detective Novel im Russischen hingegen meist als Detektivliteratur (детектив), manchmal auch als „Spitzelroman“ (Сыщицкая новелла) übersetzt wurde.37 Ausgangspunkt für Šklovskijs Überlegungen ist die schon in seinen Ausführungen zur Sujetführung im Abenteuerroman angesprochene Funktion, dass ein (geheimnisvolles) „Rätsel“ solange mehrere Lösungs- bzw. Erklärungsmöglichkeiten eröffne, wie es nicht endgültig entschlüsselt sei. Daher sei ein Rätsel auch nicht einfach ein Parallelismus, der aus einem Rätsel und einer passenden (parallelen) Lösung bestehe, sondern ein „Spiel mit der Möglichkeit, mehrere Parallelen anzuführen.“38 Dieses Spiel werde im Sujetaufbau der Folklore wie auch der Belletristik auf verschiedene Weise entfaltet. Hierbei sei grundsätzlich der Roman oder die „Novelle der Fehler“ (новелла ошибок) beziehungsweise die „Novelle der Geheimnisse“ (новелла тайн) von der Novelle oder dem „Roman mit Parallelismus“ (новелла с параллелизмом) zu unterscheiden. Letzterer beruhe auf einem (rätselhaften) „ungewöhnlichen“ Vergleich (unähnlicher) Dinge oder Personen, der im Roman „hartnäckig“ entfaltet wird, so dass man deren Gemeinsamkeit am Ende „fühlen“ könne (die Lösung).39 Im Roman der Geheimnisse und in der Novelle der Fehler hingegen bestehe der Ausgangspunkt der Handlung in einem Rätsel, das auf einer „Verwechslung des Ähnlichen“ (der ähnlichen Dinge) – sei es durch Fehler, Irrtum, Betrug, Vortäuschung oder auch nur einen (falsch verstandenen) Kalauer – beruhe.40 Die Handlung werde hier nicht durch einen Vergleich des Ähnlichen (wie im Roman mit Parallelismus), sondern umge-
36
So G. Zacharias Langhans zitiert nach Zondergeld, Rein A.; Wiedenstried, Holger E.: Lexikon der phantastischen Literatur, Stuttgart u.a. 1998, S. 413.
37
Vgl. Zondergeld; Wiedenstried: Lexikon der phantastischen Literatur, S. 399f, 413–415 (Stichwort: Kriminalroman und Phantastik; Schauerroman); Hügel, Hans-Otto: Detektiv, in: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussion, Stuttgart, Weimar 2003, S. 153–159; Braudy, Leo: Horror, in: Ebd., S. 248–255. Auch Ėjchenbaum setzt den ungebräuchlichen Begriff 1925 noch in Anführungszeichen, vgl. Ėjchenbaum, Boris: Leskov i sovremennaja proza, S. 423: Zur Begriffsgenese im Russischen vgl. Lann, E: Detektivnyj roman, in: Brodskij, Dmitrij D.; Lavreckij, A. u.a. (Hg.): Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov, Moskva/Leningrad 1925, Bd. 1, S. 191–194
38 „[...]игра, с возможностью провести несколько параллелей.“ 39
Ebd., S. 130f.
40
Ebd., S. 131.
Šklovskij: Technika romana tajn, S. 125.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 139
kehrt durch die Verdrängung des einen Dinges (das Rätsel) durch ein anderes (die Lösung) und das heißt durch die Manifestation einer Differenz entfaltet: „Auf diese Weise sehen wir, dass eine falsche Lösung ein sehr gewöhnliches Element einer Erzählung oder eines ‚Romans des Geheimnisses‘ ist. Eine falsche Lösung ist die richtige Lösung und bringt die Technik der Organisation des Geheimnisses in Gang, der Moment des Übergangs von einer Lösung zur nächsten ist der Moment der Lösung.“41
Dabei lasse sich in der Entwicklung der Novelle zum Roman beobachten, dass das Moment des Rätsels mehr und mehr an Bedeutung verliere: „Die Geschichte des Romans der Geheimnisse besteht darin, dass die ‚Lösung‘ ihre Bedeutung verliert, unbeholfen, wenig bemerkt, überflüssig wird.“42 Die einfachste Form dieser „Novelle der Fehler“ sei die stufenweise Entfaltung, die meist einem zirkulären Aufbau folge, wie er sich im Abenteuerroman findet. Das anfangs rätselhafte Geheimnis führe die Protagonisten bei ihrer Suche nach einer Lösung über mehrere zufällige, qualitativ und quantitativ unterschiedliche Stufen auf eine zirkuläre Abenteuerreise, bringe sie aber am Ende zumeist wieder an den Ausgangspunkt zurück (wie es beispielhaft an Jules Vernes Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer zu beobachten sei). Hier könne der Leser die Entwicklung der Handlung sukzessive ohne große Auslassungen nachvollziehen. In komplizierteren Erzählformen fände sich das Geheimnis hingegen häufig nicht nur auf der Ebene des Sujets, sondern werde auch durch zeitliche Umstellungen (Inversionen) realisiert, wodurch das Geschehen unverständlich und geheimnisvoll werde. Eine andere Möglichkeit sei die Auslassung von Informationen: „Beim Abenteuerroman, der mehrere Parallellinien der Narration aufweist, wird der Überraschungseffekt dadurch erzielt, dass in dem Moment, wo die Handlung in der einen Sujetlinie fortgesetzt wird, sie in der anderen mit dem gleichen oder einem schnelleren Tempo verläuft, wobei wir in die andere Linie wechseln, aber das Tempo der ersten beibehalten, d.h. auf die Folgen uns unbekannter Ursachen stoßen.“43
41 „Таким образом, мы видим, что ложная разгадка – очень обычный элемент рассказа или ‚романа
тайн’. Ложная разгадка – истинная разгадка и поставляет технику организации тайны; момент перехода от одной разгадки к другой есть момент развязки.“ Ebd., S. 133.
42 „История романа тайн состоит в том, что ‚развязка‘ теряет свое значение, становится неуклюжей,
мало заметной, ненужной.“ Šklovskij: Technika romana tajn, S. 131.
43 „При авантюрном романе, имеющем несколько параллельных линий повествования, эффекты
неожиданности достигаются тем, что в то время, когда действие в одной сюжетной линии продолжается, в другой оно может итти тем же, или еще более быстрым темпом, при чем мы переходим в другую линию, сохраняя время первой, т.е. попадаем на следствия незнакомых нам причин.“ Šklovskij: Novella tajn, S. 125.
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In der Mystery Novel sei auch häufig das Verfahren der Verzögerung oder der „falschen“ unwürdigen Lösungen zu finden, um die Spannung zu steigern. Fantastische Lösungen würden hingegen nur selten offeriert: „Wenn Fantastik eingesetzt wird, dann ganz am Ende bei der Lösung des Knotens. Das Fantastische wird als Strafe, als Grund der Handlung, aber sehr selten während der Handlung hinzugefügt. Und wenn es hinzugefügt wird, dann in einer besonderen Form, wie zum Beispiel in Gestalt des Vorgefühls, der Prophezeiung, die dazu dient, dass sich der Roman schon nach einer entsprechenden Notwendigkeit fortentwickelt.“44
Unmittelbarer Nachfolger der Mystery Novel sei der Spitzelroman (engl. Detective Novel), in dem der Spitzel nichts anderes als ein professioneller Rätsellöser sei: „Es wird ein Geheimnis gegeben – ein Verbrechen, dann kommt die falsche Lösung – die Ermittlung der Polizei, dann wird das wirkliche Bild des Mordes rekonstruiert. In einem solchen Werktyp muss es unbedingt eine Inversion geben, wobei sie manchmal in der komplizierten Form der Auslassung einiger Elemente gegeben wird.“45
Diese „Technik des Geheimnisses“ sowohl auf der Ebene des Sujets als auch derjenigen der Komposition, sei schon heute bei vielen Gegenwartsautoren zu finden und werde nach Ansicht Šklovskijs „aller Wahrscheinlichkeit nach [...] in Zukunft im Roman eine herausragende Stellung einnehmen, da sie schon jetzt in Werke gebaut nach dem Prinzip des Parallelismus“ eindringe.46 Als Beispielmaterial stützt sich Šklovskij wie auch in seinen sonstigen Arbeiten vornehmlich auf Materialien der Folklore – Märchen, Spottverse, Lieder, insbesondere erotische Volksdichtung – sowie auf Belletristik von Arthur Conan Doyle, Charles Dickens, Fedor Dostoevskij, Jules Verne, Alexandre Dumas, Ann Radcliffe und anderen, wobei er immer wieder ausdrücklich darauf hinweist, dass es im formalen Aufbau zwischen den folkloristischen und belletristischen Texten keinen prinzipiellen Unterschied gäbe. Wie schon in seinen Ausführungen zum Abenteuerroman betont er, dass auch die Gestaltung der Figuren auf der Ebene des Sujets nicht durch außerliterarische Faktoren begründet werden könne. Vielmehr verwirft er ausgerechnet
44 „Если фантастика вводится, то в самом конце уже в узле развязки. Фантастическое дается как кара,
как причина действия, но очень редко во время действия. А если и дается, то в особом виде, как например в виде предчувствия, предсказания, служащего для того, чтобы роман развивался на фоне уже данной необходимости.“ Ders.: Technika romana tajn; S. 149.
45 „Дается тайна – преступление, потом обычно ложная разгадка – следствие полиции, затем
восстанавливается истинная картина убийства. В произведении такого типа инверсия обязательна, при чем иногда она дается в сложном виде пропуска отдельных элементов.“ Ebd., S. 134.
46
Ebd., S. 148.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 141
am Beispiel der Figur des Spitzels die von einem Kritiker vorgebrachte Erklärung, dessen Aufkommen sei sozialökonomisch herzuleiten: „Einer der Kritiker erklärte den ständigen Misserfolg des staatlichen Spitzels, den ewigen Triumph des Privatspitzels bei Conan Doyle damit, dass sich hierin der Gegensatz zwischen Privatkapital und Staat äußere./ Ich weiß nicht, ob Conan Doyle Gründe gehabt hat den englischen, seiner Klassenzugehörigkeit nach rein bourgeoisen Staat der ebenfalls englischen Bourgeoisie entgegenzustellen, doch ich denke, wenn diese Novellen irgendein Mensch in einem proletarischen Staat geschaffen hätte, der selber ein proletarischer Schriftsteller wäre, würde es den erfolglosen Spitzel trotzdem geben. Wahrscheinlich wäre der Staatsspitzel dann erfolgreich, während der private sich vergeblich bemühte. Dabei würde herauskommen, dass Sherlock Holmes sich im Staatsdienst befände, Lestrade aber selbständig arbeitete, der Aufbau der Novelle jedoch (und das ist die Frage, die uns jetzt beschäftigt) bliebe unverändert.“47
Der Gedanke der völligen Austauschbarkeit der Figuren des Privatdetektivs Holmes und des staatlichen Inspektors Lestrade, solange sich der Aufbau der Novelle des Geheimnisses auch bei einem „proletarischen Schriftsteller“ nicht ändere, dient zwar bei Šklovskij zuvorderst der polemischen Zuspitzung seines Kerngedankens, dass soziale Faktoren keine Rolle für die Genreentwicklung spielen. In einem kurzen Feuilleton zum Erfolg von Burroughs Tarzan-Romanen in Russland hebt er aber auch hervor, dass diese Austauschbarkeit für die Leserrezeption nur solange gelte, wie die Figuren nichts mit dem eigenen Milieu zu tun haben: „Der Leser nimmt die Grafen, Generäle, Herzöge, Lords, französischen Polizisten und afrikanischen Affen alle gleich auf als außerhalb seines Alltags liegend, wie die violetten Marsianer./ Der Leser liebt Tarzan deshalb, weil er sich außerhalb des Alltags befindet. [...] Wenn man einen russischen Tarzan schreiben würde [...], dann hätte der wahrscheinlich keinen Erfolg.“48
47 „Один из критиков объяснил постоянную неудачу казенного следствия, вечное торжество частного
сыщика у Конан-Дойля тем, что здесь сказалось противопоставление частного капитала государству./ Не знаю, были ли основания у Конан-Дойля противопоставлять английское, чисто буржуазное по своему классовому признаку, государство, английской же буржуазии, но думаю, если бы эти новеллы создавал какой-нибудь человек в пролетарском государстве, будучи сам пролетарским писателем, то неудачный сыщик все равно был бы. Вероятно удачлив был бы сыщик государственный, а частный путался бы зря. Получилось бы то, что Шерлок Холмс оказался на государственной службе, а Лестрад добровольцем, но строение новеллы (вопрос, занимающий нас сейчас) не изменилось бы.“Šklovskij: Novella tajn, S. 136. Inspektor Lestrade von Scotland Yard taucht in mehreren Sherlock
Holmes-Geschichten auf, der als Vertreter der staatlichen Polizei gegenüber dem Privatdetektiv einen eher unvorteilhaften Eindruck macht. 48 „Для читателя графы, генералы, герцоги, лорды, французские полицейские и африканские обезьяны –
все воспринимаюстя вне быта, как фиолетовые марсиане./ Читатель любит Тарзана за то, что он вне его быта. [...] Если написать русского Тарзана [...], то он вероятно успеха иметь не будет.“ Šklovskij:
Tarzan, S. 254. Mit den „violetten Marsianer“ spielt Šklovskij auf Burroughs Barsoom-Serie an.
142 | Kommunistische Pinkertons
Dieser Aspekt des fehlenden Realitäts- und Alltagsbezugs gewann in der Polemik um das Abenteuergenre in den folgenden Jahrzehnten bis in die Nachkriegszeit zunehmend an Bedeutung und wurde auch von Šklovskij immer wieder in die Diskussion eingebracht.49 Mitte der 1920er Jahre spielten Šklovskijs Überlegungen zum Abenteuerroman beziehungsweise zum Roman der Geheimnisse für die experimentelle Beschäftigung der Avantgardeliteratur mit der Pinkertonovščina eine vergleichbare Rolle wie Bucharins Appell für die ideologische Ausrichtung der „Straßen-Nat-Pinkertons“. Beide Konzeptualisierungen ergänzten sich gewissermaßen. Während es Bucharin aber letztlich um die politische Implementierung einer – in Šklovskijs Terminologie – „degenerierten“, herabgesunkenen Form des Abenteuers als Jugendroman ging, der eine automatisierte Lektüre zur Erregung der Gefühle ermöglichte („erforderlich ist eine leichte, spannende, intensive Fabel, Entfaltung der Ereignisse“),50 zielte Šklovskij eher auf eine ästhetische Wiederbelebung des „abgenutzten Verfahrens“ (изношенный прием) als Parodie.51 Seine Ausführungen zur „Technik des Geheimnisses“ boten für Autoren wie Ėrenburg, Kataev oder Šaginjan die Gelegenheit, populäre Prosaformen der Pinkertonovščina parodistisch zu adaptieren und gleichzeitig die eigene ideologische Konformität zu den neuen Machthabern in Russland zu demonstrieren. Das galt auch für Šklovskij selber, der 1924 noch berichtet hatte, er habe in der Emigration ein lettisches Angebot abgelehnt, eine Fortsetzung der Tarzan-Reihe zu schreiben. Ein Jahr später verfasste er aber dann doch zusammen mit Vsevolod Ivanov den Fortsetzungsroman Yperit über einen russischen Tarzan, der zusammen mit seinem Freund, dem Bären Rocambole, in einen europäischen Kampf der Welten verwickelt wird. Gerade aber diese „formalistische“ Spielart des Abenteuer- und Detektiv-Romans war es, auf die Ėjchenbaum in dem Eingangszitat anspielte und der er konstatierte, sie sei über den äußerst „theoretischen“ Charakter eines ästhetischen Experiments nie hinausgekommen.52 Anfangs jedoch stellten die avancierten Genreexperimente neben der schon behandelten „sozial-revolutionären“ Form der „kommunistischen Pinkertons“ ein durchaus viel versprechendes Unterfangen für neue Prosaformen dar, das insbesondere durch Mariėtta Šaginjans MessMend‑Romane eine auch politisch opportune Umsetzung erfahren hatte.
49
Vgl. Abschnitt 11.2 dieses Buches.
50
Bucharin: Kommunističeskoe vospitanie molodeži, S. 2.
51
Vgl. Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 51.
52
Ėjchenbaum: Leskov i sovremennaja proza, S. 423.
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3. 2 Das Ge heimnis der Ding e – Ma r i e˙ tta Š a g i n ja n s Mess Me nd-Trilogie 5 3 5 4 „Die großen Auflagen der ‚Lori Lėns‘ stellen eine genauso traurige Erscheinung dar wie die nicht geringeren Auflagen der ‚Tarzans‘ und ‚Antlantis‘-Romane und noch früher der ‚Pinkertons‘. Gegen die ‚Mess-Mendovščina‘ muss man endlich einen ernsthaften Kampf führen.“ G. Lelevič (1925)53 „Vergessen Sie nicht, dass das eine Parodie ist. ‚Mess-Mend‘ parodiert die westeuropäische Form des Abenteuerromans, sie parodiert sie und ahmt sie nicht nach, wie einige Kritiker fälschlicherweise denken.“ Mariėtta Šaginjan (1926)54
Neben Pfadfinder und Stechfliege, John Carter (aus Burroughs Marsromanen), Professor Challenger (aus Conan Doyles fantastischen Erzählungen), Tarzan und André de Saint-Avit (aus Benoits Atlantis-Roman) gab es in den NÖP-Jahren noch einen weiteren Abenteuerhelden aus dem Westen, der in der literarischen Kritik für Aufsehen sorgte: Michail Tingsmaster [Thingsmaster] aus der Mess-Mend-Serie, geschrieben von dem bislang völlig unbekannten New Yorker Arbeiterschriftsteller Džim Dollar [Jim Dollar].55 Anfang 1924 erschien die erste Serie unter dem Titel Mess Mend oder die Yankees in Petrograd (Месс-менд или Янки в Петрограде) in zehn wöchentlich erscheinenden Heftfolgen mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren im Moskauer Staatsverlag Gosizdat, deren Umschläge von Aleksandr Rodčernko gestaltet worden waren.56 Im
53 „Большие тиражи ‚Лори Лэнов’ – столь же печальное явление, как не меньшие тиражи ‚Тарзанов’ и
‚Атлантид’, а еще раньше ‚Пинкертонов’. С ‚месс-мендовщиной’ пора повести серьезную борьбу.“
Lelevič, G.: Džim Dollar. „Lori Lėn, metallist“, in: Oktjabr’ 8 (1925), S. 157-158. Lelevič (Pseudonym für Labori Gilelevič Kalmansón, 1901-1945) war als Redakteur der Literaturzeitschrift Na postu (Auf dem Posten) einer der Hauptkritiker der VAPP, der sich vor allem mit scharfer Polemik gegen die Linie von Krasnaja Nov und gegen „Mitläufer“ wie Šaginjan hervortat. 54 „Не забудьте, что это пародия. ‚Месс-Менд’ пародирует западноевропейскую форму авантюрного
романа, пародирует, а не подражает ей, как ошибочно думают некоторые критики.“ Šaginjan,
Mariėtta: Kak ja pisala „Mess-Mend“ (1926), in: Dies.: Sobranie sočinenij 1905–1933, Bd. 3, Moskva 1935, S. 375–382. 55
Soweit es sich in dem Roman um eindeutige Anglizismen handelt, wird hier die englische Schreibweise bei erstmaliger Nennung in eckigen Klammern widergegeben.
56
Dollar, Džim: Mess-Mend, ili Janki v Petrograde. Roman [Vyp. 1–10], Moskva, Leningrad 1925. Hier zitiert nach der vom Text her identischen Ausgabe Šaginjan, Mariėtta: [Dollar, Džim:] Mess-Mend. Roman- trilogija. Čast’ I. Janki v Petrograde, in: Dies.: Sobranie sočinenij 1905–1933, Bd. 3, Moskva 1935, S. 105–374.
144 | Kommunistische Pinkertons
nächsten Jahr folgten zuerst bei Gosizdat vom selben Autor in gleicher Aufmachung mit einem anderen Illustrator in neun Heften die zweite Serie Lori Lėn, der Metallarbeiter (Лори Лен, металлист, 1925)57 und dann Ende desselben Jahres als Fortsetzungsgeschichte der täglichen Abendausgabe der zentralen Leningrader Roten Zeitung (Krasnaja gazeta) die dritte Serie Der internationale Waggon (Международный вагон).58 Erst als ein knappes Jahr später im Herbst 1926 die Verfilmung des ersten Teils der Romanserie durch das Filmstudio „Mežrabpom-Rus’“ massive Probleme mit der Zensur bekam und der Filmstreifen unter dem Titel Miss Mend nur unter starken Auflagen bei gleichzeitigem Exportverbot in die Kinos kommen durfte, lüftete die Autorin des Romans, Mariėtta Šaginjan, ihr Pseudonym, das schon seit langem ein offenes Geheimnis darstellte.59 Noch vor dem offiziellen Filmstart publizierte Šaginjan die kleine Buchbroschüre Wie ich „Mess-Mend“ schrieb (Как я писала „Месс-Менд“), deren Text von nun an allen Neuauflagen des Romans als Nachwort beigefügt wurde.60 Neben einer deutlichen Distanzierung von der Verfilmung beinhaltete dieser Text vor allem eine grundlegende Umdeutung der ursprünglichen Romanintention: Demnach
57
Dollar, Džim: Lori Lėn, metallist. Roman [Vyp. 1–9], Moskva, Leningrad 1925. Hier zitiert nach der identischen Buchausgabe Šaginjan, Mariėtta [Dollar, Džim]: Lori Lėn, metallist, Leningrad 1927.
58
Abendzeitungen sollten sich laut Bucharin stärker kulturell orientieren als die politisch ausgerichteten Tageszeitungen, so dass es in ihnen seit 1925 sogar wieder möglich war, wie in der Vorkriegszeit auch Belletristik in Fortsetzungen zu publizieren. So druckte die von der Krasnaja gazeta herausgegebene Večernaja Krasnaja Gazeta im November und Dezember 1925 den dritten Teil der Mess-Mend-Serie von Džim Dollar ab. Vgl. Os’kin, Boris: Krasnaja „Večerka“, in: Večernyj Peterburg 120 (06.07.2007), http:// base.pl.spb.ru/FullText/spbiblio/digest_spb/V_P070706.pdf; Da dieser dritte Teil außerhalb der Leserschaft der Leningrader Abendzeitung keine Verbreitung fand, publizierte Šaginjan ihn in Anschluss an die gleichzeitig erscheinende Ausgabe ihrer Gesammelten Werke, die alle drei Folgen beinhaltete, noch einmal Ende 1935 in der Zeitschrift Molodaja gvardija unter dem Titel Der Weg nach Bagdad (Дорога в Багдад). Vgl. Šaginjan, Mariėtta (Dollar, Džim): Doroga v Bagdad. Tret’ja kniga serii „Mess Mend“, in: Molodaja gvardija 12 (1935), S. 18–110; Skorino, Ljudmila: Primečanija, in: Šaginjan, Mariėtta: Sobranie sočinenij v 6 tomach, Bd. 2, Moskva 1956, S. 685–689, 686; Mierau, Fritz: Ein roter Pinkerton, in: Šaginjan, Mariėtta [Schaginjan, Marietta]: Mess Mend oder die Yankees in Leningrad. Roman, Gießen 1987, S. 7–16.
59
So schreibt Lelevič in seiner Rezension bereits im Oktober 1925: „ни для кого не секрет, что под псевдонимом ‚Джим Доллар‘ выступает ‚попутчица‘ Мариэтта Шагинян“(„es ist für niemanden ein Geheimnis, dass sich hinter dem Pseudonym ‚Džim Dollar‘ die ‚Mitläuferin‘ Mariėtta Šaginjan verbirgt.“), vgl. Lelevič: „Lori Lėn, metallist“, S. 157.
60
Am 6. September 1926 bekommt das Filmstudio den Bescheid der zuständigen Zensurbehörde Glavrepertkom (auch GRK genannt, Abk. für „Главный репeртуарный комитет, Hauptrepertoirekomitee), dass der „unnötige und stümperhafte“ Film nur aufgrund der schon investierten hohen Produktionskosten eine Zulassung unter einer Reihe von Auflagen bekomme: „Der Film sollte als überflüssiges und stümperhaftes Werk nicht auf den sowjetischen Leinwänden erscheinen, doch angesichts der Tatsache, dass für diese 3-teilige Serie schon riesige Ausgaben getätigt worden sind, hält es das GRK für notwendig den Film nach einer Überarbeitung zur Vorführung in der RSFSR zuzulassen, einen Export ins Ausland aber zu verbieten.“ („Картина как ненужная и халтурная не должна была бы появляться на советском экране, но поставленный перед фактом громадных произведений по этой 3-серийной картине затрат,
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sei die Serie aus einer zufälligen Laune, ohne ernsthafte Absicht und jegliche Stringenz als reine Parodie, niemals aber als ernst gemeinte Genreaneignung geschrieben worden.61 Schaut man sich aber die Umstände und Stellungnahmen zu der Romanserie 1924 und 1925 genauer an, erweist sich diese Distanzierung als eine abermalige Mystifikation der Autorin. Denn ungeachtet aller unverkennbar parodistischen Elemente des Romans, stellte er zuvorderst den letzten Versuch dar, der „offiziellen“ Literaturpolitik zu entsprechen und Bucharins mehr als ein Jahr zurückliegende Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“ doch noch produktiv umzusetzen. Nicht zufällig schrieb zur ersten Folge der Romanserie Yankees in Petrograd niemand anderes als der einflussreiche Bildungspolitiker und Leiter des Staatsverlags, Nikolaj Leonidovič Meščerjakov (1865–1942), persönlich das Vorwort, in dem er diesen „kinematographischen Roman“ (кинематографический роман) zum kommunistischen „Roman unserer Zeit“ erklärte: „[...] Die ‚Yankees‘ sind ein Roman unserer Zeit, in dem die größten Ereignisse aufeinander in einem schier kinematographischem Tempo folgen. Ein zeitgenössischer Roman muss mit Handlung angefüllt sein [...]. Der Charakter der Helden muss durch ihre Handlungen gezeichnet werden. [...] Die ‚Yankees in Petrograd‘ stellen eine Nachahmung der ‚Pinkertonovščina‘ oder, genauer gesagt, der ‚Rocamboleščina‘ dar. Doch schon seit langem hat Gen. Bucharin sehr treffsicher gesagt, dass eine gute kommunistische ‚Pinkertonovščina‘ für unsere Zeit äußerst nützlich ist. Und von diesem Standpunkt aus sind die ‚Yankees‘ ein Literaturwerk der Revolutionsperiode.“62 ГРК находит необходимым после переделки разрешить фильму к демонстрированию в РСФСР, запретив ее в вывозу за границу.“) Vgl. [Anon.]: 1926 god v kino, in: RuData.ru. Ėnciklopedija kinematografa, http://www.rudata.ru/wiki/1926_год_в_кино (18.07.2009). Šaginjan datiert ihren Text auf den
29. September 1926, der im Oktober als eigenständige Publikation bei Kinopečat’ erscheint und in Aus zügen in veränderter Form gleichzeitig im Sovetskij ėkran vorabgedruckt wird. Der Kinostart erfolgte am 26. Oktober desselben Jahres: Vgl. Šaginjan: „Kak ja pisala Mess-Mend“, S. 382; Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 149–151, S. 149. 61
So schreibt Šaginjan in der gekürzten und abgeänderten Fassung von Wie ich „Mess-Mend“ schrieb, die sie im Sovetskij ėkran veröffentlichte, unter der Überschrift „Was bringt Mežrabpom-Rus’ auf die Leinwand?“ („Что ставит Межрабпом-Русь на экране?“): „In meinem Vertrag mit ihnen steht: Alle Hinzufügungen im Text werden vom Autor redigiert. Aber ich habe nicht eine einzige Hinzufügung redigiert aufgrund der einfachen Tatsache, dass man mir das Drehbuch nicht gezeigt hat und die Verfilmung vor mir vollkommen geheim gehalten hat.“ („В моем договоре с ними сказано: все добавления к тексту редактируются автором. Но я не редактировала ни одного добавления просто потому, что мне не показали сценария и постановку Месс-Менда держали от меня в сплошной тайне.“) Für den Hinweis und die Bereitstel-
lung der Kopie aus Sovetskij ėkran danke ich Fritz Mierau. 62
„[...] ‚Янки’ – роман нашего времени, когда крупнейшие события сменяют друг друга с чисто кинематографической быстротой. Современный роман должен быть насыщен действием [...]. Характер героев должен обрисовываться их действиями. [...] ‚Янки в Петрограде’ – подражание ‚пинкертоновщине‘ или, вернее сказать, ‚рокамболевщине’. Но уже давно т. Бухарин очень метко сказал, что хорошая коммунистическая ‚пинкертоновщина‘ крайне полезна для нашего времени. И с этой точки зрения ‚Янки‘ – произведение литературы революционного периода.“ Meščerjakov, Niko-
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Dass der Autor Džim Dollar offensichtlich niemals in Russland gewesen sei und es nur aus Erzählungen kenne, führe zwar dazu, dass seine Beschreibungen nicht der revolutionären Wirklichkeit entsprächen, aber gerade das sei sogar eine Stärke des Werkes, stellten die „kuriosen Fehler“ (курьезные ошибки) doch ein Element seines „romantischen Anflugs“ (романтического налета) dar. Einen ähnlichen Effekt hätten auch die fantastischen Elemente des Romans, jene „unwahrscheinlichen, unmöglich auszuführenden Handlungen“ (неправдоподобные, невозможные для выполнения поступки), die „vollkommen dem Geschmack der Leser“ entsprächen (вполне отвечает вкусам читателя),63 auch wenn sie geschmacklos seien: „Ungeachtet ihrer bewusst geschmacklosen Form, die teilweise bis zur Groteske führt, stellen die ‚Yankees‘ ein großes, originelles und äußerst interessantes Werk (ich würde sagen das erste Werk) auf dem Gebiet der Revolutionsromantik dar.“64
Und so schließt Meščerjakov sein Vorwort mit dem Hinweis, dass Genosse Bucharin sich gar nicht von der Lektüre habe losreißen können und andere den Roman in einer Nacht verschlungen hätten.65 Betrachtet man dieses „erste große Werk“ der revolutionären Romantik, bei dem es sich vorgeblich auch noch um eine Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch handelt, genauer, dann lassen sich vor allem drei Diskurslinien feststellen, die der Abenteuerroman bis zur Groteske verzerrt. Das zentrale künstlerische Verfahren der Verzerrung nennt die Serie schon programmatisch in ihrem Titel Mess Mend, der soviel wie eine „in Ordnung gebrachte Flickstelle“ signalisiert, das heißt verspricht, verdeckte Brüche oder Widersprüche in etablierten Diskursen und ideologischen Proklamationen fiktional aufzudecken.66 Erstens inszeniert die politisch motivierte Romanintrige den Konflikt zwischen reaktionären Yankees und revolutionärem Petrolaj L.: Predislovie k pervomu izdaniju (1923), in: Šaginjan, Mariėtta: Sobranie sočinenij 1905–1933, Bd. 3, Moskva 1935, S. 107–108, S. 107. Diese Lesart propagierte er auch in der Leningrader Kulturzeitschrift Žizn’ iskusstva (Das Kunstleben), vgl. Ders.: „Janki v Petrograde“, in: Žizn’ iskusstva 7 (12.02.1924), S. 14. 63
Meščerjakov: Predislovie k pervomu idzaniju, S. 107.
64 „Несмотря на свою умышленно аляповатую форму, доходящую временами до гротеска, ‚Янки‘
представляет крупное, оригинальное и глубоко интересное произведение (я сказал бы первое крупное произведение) из области революционной романтики.“ Ebd., S. 108.
65 Ebd. 66
Der Romantitel bezieht sich auf der Ebene des Sujets auf die geheime Erkennungsparole der amerikanischen Arbeiter, die ein geflüstertes „Mend-Mess!“ mit einem „Mess-Mend“ erwidern: das „ausgebesserte Durcheinander“ wird mit einer „in Unordnung gebrachten Flickstelle“ beantwortet. Das Verb „to mend“ im Englischen bedeutet: „to remove a fault from; to repair: to make better: to correct: to improve: to improve upon: to supplement“, Substantiv: „a repair: a repaired place: an act of mending (in pl.) amends“; das Substantiv „mess“ bedeutet neben Mahlzeit (veraltet) oder Offiziersmesse (milit.): „[...] a mixture disagreeable to the sight or taste: a medley: disorder: confusion: embarrassment: bungle“, das Verb: „to supply with a mess: to make a mess of (usu. with up): to muddle: to befoul“. Aufgrund der ähnlichen Phonetik kann das Russische „месс“ aber auch mit „mass“ ins Englische rückübersetzt werden, also auch
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 147
grad, zwischen Faschisten und Bolschewiki als eine karnevaleske Maskerade der Personen und Dinge, als Verschwörung und Gegenverschwörung im Kampf zweier Welten; zweitens gibt Šaginjan dieser Maskerade in der grotesken Überzeichnung eine symbolische Dimension, die sie nicht nur als eine Parodie auf die westlichen Abenteuer lesbar macht, sondern auch als eine ironische Verfremdung sowjetischer Fortschrittsutopien, die die junge Sowjetunion als ein unmittelbar bevorstehendes fantastisches „Land der Wunder“ imaginieren; und drittens scheint in dieser karnevalesken Überzeichnung der sowjetischen Zukunftssemantik noch eine parodistische Adaption populärwissenschaftlicher Konzepte eines Neuen Menschen auf, wie sie insbesondere in Vladimir Bechterevs medizinischen Studien zur kollektiven Psychologie oder in sozialdarwinistisch inspirierten Degenerationsszenarien aufscheinen. Analysiert man die erste Mess-Mend‑Serie in Hinsicht auf diese drei Diskurslinien, fällt zuerst in Hinsicht auf die politische Dimension der Maskerade auf, dass im Vergleich zu den von Meščerjakov genannten Vorlagen der Hauptunterschied dieser „gesunden, revolutionären Fantastik“ (здоровая, революционная фантастика)67 ähnlich wie bei den Roten Teufelchen oder Makar dem Pfadfinder in einer Neubesetzung der positiven Helden besteht. So tritt in diesem Fall an die Stelle des Meisterdetektivs Pinkerton oder des Räuberhauptmanns Rocambole der amerikanische Arbeiterführer Tingsmaster. Gemäß diesem „revolutionären“ Rollentausch ändert sich auch – in der Terminologie Šklovskijs – das Wesen des Geheimnisses. Während im klassischen Abenteuer- und Kriminalroman immer ein verlorenes Ding (ein geraubter Schatz, ein verschwundener Gegenstand, eine ermordete, jemandem nahe stehende Person, eine „vergessene Welt“) im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, dessen rätselhaften Verlust der Abenteurer oder der Detektiv aufzuklären sucht, geben in der ersten Mess-Mend‑Serie die Dinge selber Rätsel auf, indem sie „geheimnisvolle“ Subjekte der Handlung werden. Denn der Arbeiterführer Michail T[h]ingsmaster – der „Meister der Dinge“ (повелитель вещей)68 – hat in den Vereinigten Staaten eine gewerkschaftlich organisierte Geheimorganisation namens „Mess Mend“ gegründet, die in allen Fabriken und Produktionsstätten des Landes den hergestellten Waren neben ihrer offiziellen, „kapitalistischen“ Funktion noch eine zweite, versteckte Funktion verleiht: „So ist’s, Jungs! Wir müssen die Dinge mit der Magie des Widerstands beleben. Ihr meint, es sei schwer? Keineswegs! Die besten, spitzfindigsten Schlösser sind unsere Erzeugnisse, der leichteste Druck unserer Hände genügt, um sie zu lösen. Mögen die Türen horchen und uns alles vermelden, mögen die Spiegel sich alles fest einprägen; Tapeten verhüllen Geheimgänge; das Parkett sinkt in
Masse oder Messe bedeuten. Vgl. Die entsprechenden Lemmata in Chambers English Dictionary (7th ed., Cambridge 1990), S. 877, 890, 894. 67
Šaginjan: Mess-Mend, S. 107.
68
Ebd., S. 377.
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die Tiefe, die Decken stürzen zusammen, die Mauern verschieben sich. Der Herr der Dinge ist der, der sie macht; der Sklave der Dinge ist jener, der von ihnen Gebrauch macht!“69
An die Stelle mysteriöser Unikate oder seltener Relikte, die als Besitzobjekte und Herrschaftssymbole fungieren, treten hier Gebrauchs- und Alltagsgegenstände, denen die Arbeiter eine „Magie des Widerstands“ verleihen, so dass sie von willenlosen Objekten des Handels zu verschwörerischen Subjekten der Handlung werden. Nun folgt dieses Erzählmuster der geheimen Subversion für selbstverständlich hingenommener Dinge dem klassischen Erzählmuster des politischen Komplotts. Wo jedoch moderne Verschwörungstheorien hinter der Herrschaft des Geldes und des modernen Kapitalismus einen aus einer kleinen Clique von Freimaurern, Juden oder Großkapitalisten bestehenden „Überbau“ vermuten, die die Welt hinterlistig ausbeuten,70 dreht Šaginjan das Muster einfach um und verortet die eigentliche weltgeschichtliche Macht im Marxistischen Sinne wieder an der Basis der materiellen Güterproduktion selber, die aber nicht zum Ausgangspunkt des offenen Klassenkampfes wird, sondern als Zelle der Gegenverschwörung sich in den hergestellten Dingen selber verbirgt.71 Der avantgardistische „Aufstand der Dinge“ gegen die Menschen wird hier als ingenieurstechnisches Zauberkunststück ähnlich einem Filmtrick inszeniert, der erst die proletarische Intervention ins Geschehen ermöglicht.72 Entsprechend entfaltet sich auch die Handlung des Romans, dessen erste drei Folgen in New York und Umgebung spielen, das vierte Heft beginnt mit der Überfahrt nach Russland auf See, und die letzten fünf Hefte beschreiben Episoden teils in Amerika, aber vornehmlich im Petrograd der nahen Zukunft. In Amerika kämpft auf der einen Seite das „Komitee der Faschisten“, das aus desorientierten adligen russischen Emigranten, dekadenten amerikanischen Großkapitalisten und einem dämonischen italienischstämmigen Vorsitzenden Georgij Čiče besteht und eine geheime Verschwörung innerhalb Russlands plant, um durch Bombenanschläge die
69
Schaginjan: Mess Mend, S. 27 („– Да, ребята. Одушевите-ка вещи магией сопротивления. Трудно? Ни-
70
Vgl. Tanner, Jakob: The Conspiracy of the Invisible Hand. Anonymous Market Mechanisms and Dark Powers, in: New German Critique 103 (2008), S. 51–64.
71
Diese Dinge tragen dann irgendwo auf der Oberfläche versteckt die winzig kleinen Initialien „MM“.
72
Zu den „Dingen“ als Motiv, Fetischobjekt und ästhetischem Gegenstand in der Avantgarde generell vgl. Grimminger, Rolf: Aufstand der Dinge und der Schreibweisen. Über Literatur und Kultur der Moderne, in: Ders.; Murašov, Jurij; Stückrath, Jörn (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 12–40; Witte, Georg: Die Verletzlichkeit der Dinge. Am Beispiel russischer Erzählungen der 1920er und 1930er Jahre, in: Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 71 (2008), S. 51–86; Hennig, Anke: Die Vergegenwärtigung der Dinge (Arbeitspapiere des OsteuropaInstituts der Freien Universität Berlin. Abteilung Kultur 2/2009), Berlin 2009.
чуть не бывало! Замки, самые крепкие, хитрые, наши изделия, размыкайтесь от одного нашего нажима. Двери пусть слушают и передают, зеркала запоминают, обои скрывают тайные ходы, полы проваливаются, потолки обрушиваются, стены сдвигаются. Хозяин вещей – тот, кто их делает, а раб вещей – тот, кто ими пользуется!“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 117).
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Arbeitermacht zu stürzen. Auf der anderen Seite stehen Tingsmaster und seine Arbeiter, die sich mit Hilfe des Codeworts „Mess Mend“ in Sekundenschnelle über Telegraphenleitungen, verborgene Rohrleitungen, Schächte und Tunnelsysteme, geheime U-Bahnabteile und doppelte Wände durch ganz New York und Umgebung bewegen können und überall Überwachungskameras und Abhörgeräte installiert haben, um die faschistische Verschwörung aufzudecken. Der Gebrauch der Dinge zu Zwecken der Zerstörung (bei den Faschisten) steht hier gegen die Verwendung der Dinge als Spionage- und Überwachungsmedien (bei den Arbeitern), Terrorwerkzeuge gegen Kontrollgeräte, wobei bis zum Ende offen bleibt, ob Tingsmaster wirklich seinem Namen gerecht werden kann. Anders formuliert geht es bei Mess-Mend immer auch um das (karnevalesk verzerrte) Sichtbarmachen der politischen Implikationen, die ein bestimmter „futuristischer“ Gebrauch von Waren und Dingen mit sich bringt. Aus den teilweisen Affinitäten von Mussolinis Faschisten und Marinettis Faschisten werden hier die Charakteristika des Komitees der Faschisten und ihres Führers konstruiert:73 Der Duce mit seinen Schwarzhemden wird zur fiktionalen Gestalt des Čiče in schwarzen Handschuhen, dem der amerikanische Arbeiterführer ausgestattet mit an die russischen Futuristen erinnernden Ding-Konzeptionen gegenübersteht.74 Die amerikanischen Arbeiter beantworten die antisowjetische Ausbeutung der Dinge durch eine „rauschhafte Kultur der Geschwindigkeit“,75 indem sie in einer vollkommen technisierten Welt die „Verschwörung der Dinge“76 nicht als Bedrohung wahrnehmen, sondern als manipulative Waffe im Kampf einsetzen: In diesem Sinne lässt sich der Roman auch als eine verfremdete Adaption der künstlerischen Programmatiken des (ersten und zweiten) Futurismus in Italien und Russland lesen, die hier als antagonistische Handlungsoptionen im Umgang mit Technik und Dingen inszeniert werden. Zwischen diesen beiden antagonistischen Organisationen und „Ding-Konzeptionen“ bewegt sich in der Romanserie eine Reihe von typisierten Protagonisten, die unmittelbar oder mittelbar von den Intrigen und Komplottabsichten des faschistischen Komitees betroffen sind, wie Setto aus Armenien, unglücklicher Besitzer eines Hotels, das nur adlige Gäste aufnimmt, der naive amerikanische Kommunist russischer Herkunft Vasilov, dessen größte Dummheit es war zu heiraten, der Techniker Sorrou [Sorrow], der niemals sitzt, die rachsüchtige Miss Orton, 73
Wobei die politische Zuordnung der italienischen Futuristen in Russland Anfang der 1920er Jahre keineswegs eindeutig war, so soll Lunačarskij noch 1920 Filippo Tommaso Marinetti als den einzigen intellektuellen Revolutionär in Italien positiv hervorgehoben haben. Erst im Oktober 1922 mit Mussolinis Marsch auf Rom änderte sich diese Haltung. Vgl. Tisdall, Caroline; Bozzola, Angelo: Futurism, London 1985, S. 200ff.
74
Die im Roman als ständiges Attribut von Čiče fungierende „schwarze Hand“ hat ihr historisches Vorbild in der serbischen Verschwörerorganisation Crna ruka, deren Mitglieder mit dem Attentat von Sarajewo zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrugen. Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 184ff., 260ff.
75
Günther, Hans: Befreite Worte und Sternensprache. Der italienische und der russische Futurismus, in: Grimminger, Rolf; Murašov, Jurij; Stückrath, Jörn (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 284–313.
76
Šaginjan: Mess-Mend, S. 304.
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Abb 6
Von Aleksandr Rodčenko gestaltetes Titelblatt der 10. Folge der Heftserie Mess Mend, die Mariėtta Šaginjan unter dem Pseudonym Džim Dollar publizierte (Moskau 1924). Rechts erkennt man Vladimir Bechterev, in dessen Körperschatten Vladimir Lenin wahrscheinlich mit dem Rat der Volkskommissare an einem Tisch zu sehen ist.
die den Mord an ihrer Mutter durch den Großkapitalisten Eremija Rokfeller [Jeremia Rockefeller] vergelten möchte, dessen emotionsgesteuerter Sohn Artur [Arthur] Rokfeller, der wiederum die angebliche Ermordung seines Vaters durch die Bolschewiki rächen möchte, eine Reihe weiterer Figuren, die teils nur in wenigen Episoden auftauchen, teils erst im zweiten oder dritten Buch eine größere Rolle spielen, sowie der berühmte Arzt Dr. Lepsius, der rätselhafte medizinische Versuche an Menschen unternimmt. Analog zur Verschiebung des offenen Klassenkampfes in die geheime Gegenverschwörung stellt sich der „Roman der Geheimnisse“ auch nicht als ein Konflikt zwischen Betrug und Aufklärung, Täuschung und Enttarnung, Rätsel und Lösung dar, sondern als eine Konkurrenz unterschiedlicher Maskierungs- und Spionagetechniken, und zwar nicht nur zwischen den Hauptantagonisten der verfeindeten Geheimbünde, sondern auch für die einzelnen Personen. So beginnt Vivian Orton schon in der ersten Heftfolge Die Maske der Rache (Маска мести) ihren Rachefeldzug, indem sie sich als maskierte Maitresse des Bankiers Vestingaus [Westinghaus] sowie als buckelige, humpelnde hässliche Klavierlehrerin der Tochter des Senators Notėbit [Notebeat] verkleidet, um in die höheren Gesellschaftskreise einzudringen.77 Im Weiteren überlebt sie einen Mordanschlag, offenbart sich Michail Tingsmaster, wird anstelle der ermordeten Ehe-
77
Šaginjan: Mess-Mend, S. 139–148.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 151
frau des Kommunisten Vasilov verkleidet als dessen Gattin auf dem Dampfer Amelie nach Petrograd geschickt, wo sie allerdings auf den als Vasilov (der inzwischen ebenfalls ermordet worden ist) verkleideten Artur Rokfeller trifft, also auf denjenigen, an dem sie eigentlich den Mord ihrer Mutter rächen möchte, der sich aber in einer Reihe weiterer Intrigen und Verkleidungsszenen in sie verliebt.78 Nun entfalten sich all diese Maskenspiele teils in mehreren Parallelhandlungen, teils ist der Leser von Anfang an in sie mit einbezogen. Manche Maskierungen fallen aber erst zum Romanende, andere vervielfältigen sich, so dass sich beispielsweise ab der sechsten Folge nicht nur die im Untergrund operierenden acht faschistischen „Yankees“ alle als Arthur Rockefeller (alias Vasilov) verkleidet durch Petrograd bewegen, sondern auch die amerikanischen Arbeiter diese Tarnung zur Subversion von deren Sabotage-Absichten benutzen.79 Unschwer ist in diesen wechselnden Verkleidungen eine unmittelbare Adaption der Slapstickszenen aus den frühen Stummfilmkomödien eines Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Stan Laurel zu erkennen, deren „Trickster“-Figuren hier mit der politischen Semantik der antisowjetischen Verschwörung und kommunistischen Gegenverschwörung kodiert werden. Während nämlich die amerikanischen Arbeiter und kleinen Leute (wie Vivian Orton) ihre Rollenspiele lustvoll und mit karnevaleskem Humor inszenieren, dienen sie bei den „Faschisten“ als hinterlistige Tarnung ihrer wahren Identität und Absichten. Bezieht man den Roman auf die zwei Typen der Maskierung, die Sheila Fitzpatrick als allgemein charakteristisch für den sowjetischen Identitätsdiskurs vor 1941 bezeichnet, dann verkörpern Čiče und seine Verschwörergruppe den Typus des „politischen Betrugs“. Dieser maskiert sich, um sein wahres politisches und soziales Gesicht als „Wolf im Schafsfell“ gegenüber der Partei zu verbergen, wohingegen beim Typ des „kriminellen Betrugs“ ein Ganove unter einer falschen Identität versucht, andere zu übervorteilen.80 Während der letztere Typ – so Fitzpatrick – ein allgemein präsentes, politisch nicht rundweg geächtetes Phänomen gewesen sei und in Il’ja Il’f und Evgenij Petrovs Die zwölf Stühle (Двенадцать стульев, 1928) und Das goldene Kalb (Золотой теленок, 1931) mit der Figur Ostap Bender auch eine überaus populäre literarische Verkörperung gefunden habe,81 sei der „politische Betrug“ von Anfang an durchweg negativ konnotiert gewesen, – eine Identifizierung mit diesem Typ konnte für den Betroffenen häufig tödlich enden.82 Genau diesen „politischen Betrug“ aber inszeniert Šaginjan als karnevaleske Maskerade italienisch-amerikanischer Faschisten.83 Was Il’f und Petrov wenige Jahre später äußerst erfolgreich 78
Vgl. ebd., S. 158–161, 165–171, 190–194, 226–229, 237–242, 255–260, 275–287, 292–299.
79
Vgl. ebd., S. 296f., 303ff.
80
Fitzpatrick, Sheila: Tear off the Masks! Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton, Oxford 2005, S. 19–21.
81
Vgl. ebd., S. 20f., 265–281.
82
Ebd., 19f.
83
Wobei diese sich allerdings vor der Partei nicht verbergen, um Teil des sowjetischen Kollektivs werden zu können, sondern im Gegenteil die Absicht verfolgen, es zu zerstören.
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in Bezug auf den kriminellen Gauner und Hochstapler Bender in satirischer Form umgesetzt haben, versuchte Šaginjan in der Mess-Mend-Serie bereits 1924 in Bezug auf den politischen Verschwörer und Agenten zu realisieren.84 Betrachtet man diesen Diskursstrang des Romans in Hinblick auf Bucharins Forderung, dass der „kommunistische Pinkerton“ die Gefühle erziehen solle, dann lässt sich die Romanfolge Yankees in Petrograd dahingehend interpretieren, dass die karnevaleske Maskerade politischer Schurkenfiguren und Ding-Programmatiken in ihr als künstlerisches Mittel zur Erzeugung ideologischer Antipathien eingesetzt wird.85 Diese Erziehung der „negativen“ Gefühle gegenüber den feindlichen „Invasoren“ mit Hilfe grotesker Mittel kontrastiert mit der zweiten, dominanten Diskurslinie der Heftserie, die umgekehrt die sowjetische Wirklichkeit als eine „unwahrscheinliche“, fantastische Filmkulisse erscheinen lässt. So erscheint Petrograd den Amerikanern bei ihrer Ankunft als eine „Radio-Stadt“ (Радио-город) in einem „Wunderland“ (страна чудес).86 In Šaginjans Utopie sind technischwissenschaftliche Fortschritte bis ins Groteske überzeichnet, wenn beispielsweise in Petrograd die Menschen dank spezieller Gehhilfen, die nach dem Prinzip von Einsteins Relativitätstheorie gebaut sind, im rasanten Tempo durch die Straßen laufen, oder überall „seltsame Pyramiden“ stehen, deren Spitzen mit einem „endlosen Netz von endlosen Drähten über die ganze Stadt hin“87 verbunden sind: „Dank diesen Empfängern sind wir imstande, den ganzen Luftraum über der Stadt bis über tausend Meter Höhe in einem Augenblick zu elektrisieren, wodurch wir für eine feindliche Luftflotte unangreifbar werden.“88
84
Während es für den Typ des Kriminellen jedoch selbst noch in der Stalinzeit eine literarische und publizistische Öffentlichkeit gab, in der Ostap Bender seine Popularität entfalten konnte, blieb die Figur des politischen Intigranten als unterhaltsames Topos jenseits des höchst politisierten Feldes der Schauprozesse und Spionage weitgehend tabuisiert, was wesentlich zur Rezeptionsgeschichte der Mess Mend-Serie beigetragen haben mag.
85
Vgl. hierzu auch die bei Sluchovskij zitierte Aussage, dass man für die politische Agitation auf dem Lande unbedingt sowjetische Pinkerton-Romane brauche, die im Stile der ersten Mess-Mend-Serie geschrieben seien: „А потому – мое мнение: все произведения, подобные ‚Янки в Петрограде‘, но с деревенским жанром (подчеркнуть), очень кстати будут советской деревне для вступления к общеполитическохудожественным произведениям.“ („Und darum ist meine Meinung: Alle Werke, die den ‚Yankees in
Petrograd‘ ähneln, aber mit einem dörflichen Genre (unterstreichen), kommen dem sowjetischen Dorf sehr gelegen um sich mit allgemeinpolitisch-künstlerischen Werken bekannt zu machen.“) Sluchovskij: Kniga i derevnja, S. 110. 86
Šaginjan: Mess-Mend, S. 236, 245.
87 „[...] странные пирамиды
[...] над всем городом пртягивалась сеть бесконечных проволок.“ Ebd.,
S. 236. Mess Mend, S. 177 („Благодаря этим приемникам, мы можем в одно мгновение наэлектризовать все пространство над городом на высоте более чем тысяча метров, что делает нас недоступными для неприятельского воздушного флота.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 236).
88 Schaginjan:
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Der falsche „Mister Vasilov im Wunderland“ (Мистер Василов в стране чудес) wird damit konfrontiert, dass wichtige Persönlichkeiten im Auto für einfache Arbeiter auf der Straße anhalten, sich alte Greise verjüngen, indem sie noch einmal freiwillig die Schulbank drücken, während Aristokraten als Bettler an den Häuserecken herumlungern.89 Neben der Referenz auf Alice’s Adventures in Wonderland (1865) von Lewis Carroll sind in dieser Zeitreise in die nahe Zukunft auch unschwer intertextuelle Parallelen zu Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1889) zu erkennen, der von einer Zeitreise und dem Import von moderner Technik ins Mittelalter handelt.90 Bei Šaginjan hingegen geraten die Yankees aus der futuristischfaschistischen Vergangenheit in eine technisch-fantastische Zukunft. In der kulissenhaften Charakterisierung des zukünftigen Petrograd referierten die Heftfolgen Yankees in Petrograd aber noch auf ein weiteres Diskursfeld, und zwar das der populärwissenschaftlichen Utopien, die eine grundlegende Umgestaltung des postrevolutionären Alltags mit Hilfe ingenieurstechnischer Innovationen versprachen.91 Außerhalb Petrograds befindet sich eine in drei Kreisen symmetrisch angelegte mustergültige Fabriksiedlung, die nach dem Prinzip der „einheitlichen Wirtschaftsmethode“ vom Agrarsektor und der Rohstoffgewinnung bis zur Endfabrikation alle Wirtschaftszweige in einem Produktionskreislauf in sich vereinigt: „Tausende von Arbeitern waren mit der Ausbeute von Kohle, Salz, Torf, Lehm beschäftigt. Die Räder der Windmotore drehten sich unausgesetzt, Sägewerke gaben ein durchdringendes Geräusch von sich, Axtschläge fielen. Und alle Arbeiter, die ihnen entgegenkamen, nickten ihnen freundschaftlich zu, – Wassilow sah lauter frische, muntere Gesichter. Es gab keinen einzigen, der nicht gelächelt hätte. Das Glück leuchtete aus allen Blicken. [...]. Mit anderen Worten, mein Freund: Wir haben unsere Produktion nach dem System eines Orchesters organisiert. Alle Musikanten – von der Trommel bis zur Geige – führen ihre Partitur in der Gesamtsinfonie aus: Aber ein jeder hört eben diese Gesamtsinfonie und nicht nur seine Partitur.“92
In dieser harmonischen Perfektionsästhetik, die wie ein Musikstück komponiert ist, lässt sich unschwer eine Polemik gegen die mechanistische Perfektion der Bewegungsabläufe der Tayloris-
89
Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 245–248.
90
Vgl. zu Twains Roman Düker, Ronald: Als ob sich die Welt in Amerika gerundet hätte. Zur historischen Genese des US-Imperialismus aus dem Geist der Frontier (Diss.), Berlin 2008, S. 51–65.
91
Vgl. hierzu Stites: Revolutionary Dreams, S. 145–164, 205–224.
92
Schagninjan: Mess Mend, S. 196f. („Тысячи рабочих копошились, добывая уголь, соль, торф, глину.
Вертелись мельничные крылья, беспрерывно свистела лесопильня, стучали топоры. И все встреченные рабочие, дружески кивая им, поворачивали к Василову веселые, счастливые лица. Не было ни единого, кто бы не улыбался. Счастье светилось в каждом взгляде. [...] – Иными словами, мой друг, мы рассадили наше производство по системе оркестра. От барабанщика и до скрипы – каждый выполняет свою партитуру в общей симфонии; но каждый слышит именно эту общую симфонию, а не свою партитуру.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 253f.).
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tischen Modelle, aber auch gegen Gastevs Überlegungen zur Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (Научная организация труда, Abk. NOT) und Bogdanovs Tektologie erkennen.93 Gerade da in diesem internationalen Arbeiterparadies94 keine karnevalesken Verkleidungsszenen stattfinden, sondern nur ehrfürchtiges Staunen seitens der Yankees erlaubt ist,95 mutet diese realisierte „Utopie“ wie eine ironische Adaption von Zamjatins Wir (Мы, 1920) an, das ja ebenfalls als eine Parodie der Gastevschen Gesellschaftsvision angelegt war, in der sich die zu Nummern gemachten Menschen ohne individuelle Bedürfnisse freiwillig glücklich ins Arbeitskollektiv fügen.96 Was aber bei Zamjatin letztlich nur durch staatlichen Zwang mechanistisch zu realisieren ist, wird hier als ein modernes Märchen ungezwungener Harmonie vorgeführt. Mehr noch, durch die expliziten intertextuellen Referenzen auf Carroll’s Alice‘s Adventures in Wonderland und Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court werden die Abenteuer der Yankees in Petrograd als eine Reise in ein fantastisches Reich gekennzeichnet, dem keinerlei unmittelbare Wirklichkeitsreferenz zugesprochen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser ironisch-fantastischen Verfremdung und Umkehrung ingenieurstechnisch-arbeitswissenschaftlicher Utopien im Stile des Proletkul’t breitet sich nun aber noch eine dritte Diskurslinie aus, die den eigentlichen medizinisch-physiologischen Konflikt des ersten Mess Mend-Buches ausmacht. Diese „psycho-pathologische“ Intrige treibt stärker noch als das politische Motiv des Klassenkampfes die Handlung des Romans von Anfang an voran, ohne dass der Leser eine genauere Vorstellung davon bekommt, worum es eigentlich geht: Sie stellt das eigentlich „fantastische“ Element des Romans im Sinne Todorovs dar, insofern bis zur Schlussszene offen bleibt, ob es sich bei diesem medizinisch-physiologischen Moment um etwas Wissenschaftlich-Wunderbares oder Märchenhaft-Übersinnliches handelt.97
93
Vgl. Johansson, Kurt: Aleksej Gastev. Proletarian Bard of the Machine Age, Stockholm 1983; Graham, Loren R.: Bogdanov’s Inner Message, in: Bogdanov, Alexander: Red Star. The First Bolshevik Utopia, Bloomington 1984, S. 241–253.
94
So heißt es beispielsweise über die Arbeit im Argrarsektor: „Kleine Menschen arbeiteten auf jedem der Felder, – es gab hier gelbe, schwarze, rote Menschen, Lappländer in Fellhosen, nackte Chinesen, die bis zu den Knien im Wasser standen, halbnackte Neger in Strohhüten.“ Schagninjan: Mess Mend, S. 195; „Маленькие человечки работали на каждом поле, причем тут были люди желтые, красные и черные, тут были самоеды в теплых штанах, голые китайцы по колено в воде, полуголые негры с соломенными шляпами.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 252.
95
Wie in diesen „utopischen“ Szenen sind im ganzen Roman die Sowjetbürger meistens nur Objekt der Beobachtung durch die Yankees, nur manchmal treten sie als Reiseführer oder Gästebetreuer auf, die den Ausländern das „Land der Wunder“ erklären und ihnen den richtigen Weg weisen. Šaginjan: Mess-Mend, S. 245ff.
96
Auch bei Zamjatin ist es im Übrigen die Musik, die als Vorbild für die harmonische Orchestrierung der Maschinen und Menschen herhalten muss, vgl. Zamjatin, Evgenij: My. Roman (1920), in: Ders.: My. Roman, povesti, rasskazy, p’esy, stat’i i vospominanija, Kišinev 1989, S. 10–143, S. 11ff.
97
Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 365–370.
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Denn der Italiener Čiče als Führer der Faschisten ist in dem Roman nicht nur ein Wiedergänger Mussolinis, sondern er ist auch ein Menschen-Verführer, der „Meister der Menschen“ schlechthin. So präsentiert ihn der Erzähler als „einen Menschen“, „für den ich, gelinde gesagt, keine sonderlichen Sympathien habe“ (человек, к которому я не питаю симпатии, чтобы не сказать больше“).98 Ein Mitglied des faschistischen Komitees stellt über ihn fest: „Ein sonderbarer Mann ist dieser Cice! [...] er kommt und verschwindet wie ein Zauberer und hat noch nie einen wichtigen Augenblick verpasst. Er legt niemand Rechenschaft ab, macht mit dem Komitee und mit jedem von uns, was er will, und wir wissen nur das eine: dass wir ohne ihn nichts machen können.“99
Čiče macht mit den Menschen, was er will, keiner kann sich seiner hypnotisch-telepathischen Ausstrahlung entziehen, er benutzt diejenigen, die er für seine Verschwörung braucht, skrupellos, während diejenigen, die er bekämpft, kaltblütig ermordet oder von seinem suggestiven Blick außer Gefecht gesetzt werden: Sobald seine Feinde ihn sehen, verschleiern sich ihre Sinne, sie verlieren ihr Selbstbewusstsein, vergessen, dass sie ihm begegnet sind, selbst die technischen Reproduktionsmedien wie geheime Filmaufnahmen von ihm versagen angesichts seiner Gestalt.100 Und genauso wie in seiner Figur neben Mussolini noch andere historische Führergestalten angelegt sind,101 nimmt er in dem Roman auch unterschiedliche Rollen an: mal ist er der heimtückische Kapitän Gregoire des Atlantikdampfers, mal ein hoffnungsloser Trunkenbold,102 mal der renommierte Medizin-Professor Chizerton [Heatherton], zumeist aber bekommen Leser und Figuren nur seine „schwarze Hand“ zu sehen, die der Handlung eine fatale Wandlung gibt. Zum Ende des Romans wird dieser „größte Verbrecher der Epoche“ (величайший преступник эпохи) gar zum Sinnbild des Bösen in der Welt überhaupt erklärt: „Er heißt Prinz Gregorio Cice. Aber er hat noch viele andere Hüllen. [...] ER ist überall! In den Kontoren, Banken, Armeen, in der Kirche, in der besten Gesellschaft und in den letzten Schenken. Seine magnetische Kraft ist unbeschreiblich. Seine Erfindungen sind zahllos. Er hält die europäi-
98
Šaginjan: Mess-Mend, S. 135; Schaginjan: Mess Mend, S. 51.
99
Schaginjan: Mess Mend, S. 52 („Странный человек этот Чиче! [...] Уезжает и возвращается, как
100
Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 154.
101
Auch die Figur Marinettis (der nach einer engen Zusammenarbeit mit dem Duce sich allerdings seit 1920 zunehmend von ihm entfernte, so dass Lunačarskij ihn 1921 sogar als „einzigen revolutionären Intellektuellen Italiens“ bezeichnen konnte) mit seinem Programm der radikalen Zerstörung aller Dinge klingt in ihm an, sein Geburtsort ist wie derjenige Napoleons Korsika. Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 136; Schaginjan: Mess Mend, S. 52.
102
Schaginjan: Mess Mend, S. 223.
волшебник, ни разу не пропустив важной минуты. Никому не отдает отчета, вертит комитетом и каждым из нас как хочет, мы знаем только одно,– что без него ничего не выйдет.“ Šaginjan: Mess-
Mend, S. 136).
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schen Faschisten in seiner Hand, sie gehorchen ihm blind, ohne zu wissen, was er ist und wer er ist. Es lässt sich schwer sagen, ob er sich von irgendeinem Ziele leiten lässt. Man kann nur das eine sagen: Er ist das Böse und die Frucht seiner Tätigkeit ist die Vernichtung. Der schlimmste Mörder auf Erden ist menschlicher als er“.103
In seiner teuflischen Verwandlungskunst und erfinderischen Allmacht stellt er aber vor allem eine Wiedergeburt des italienischen Abenteurers Giuseppe Balsamo alias Graf Cagliostro dar, der in Alexandre Dumas’ vierbändiger Romanserie Memoiren eines Arztes (Mémoires d’un médecin, 1846–1855) mit Hilfe okkulter Wissenschaften letztlich auch die Französische Revolution mit verursacht.104 Doch im 20. Jahrhundert scheitert dieser teuflische „Meister der Menschen“ und „große Organisator“ des 18. Jahrhunderts an dem „Meister der Dinge“ und dem Organisator der Oktoberrevolution selber, die eine noch größere Suggestionskraft als er ausüben: Als der von Čiče hypnotisierte falsche Vasilov zum Jahrestag der Oktoberrevolution vor dem Petrograder Sowjet eine Festrede im Namen der amerikanischen Arbeiter halten soll, beginnt dieser plötzlich zu stocken: „Er stockte... zitterte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Gerade gegenüber sah er einen durchdringenden starken Blick auf sich gerichtet: Es waren Lenins Augen, die in die letzten Tiefen seiner Seele zu blicken schienen.“105 Während der „flammende“ Blick Lenins nicht nur die Hypnose lösen kann, sondern auch in den Tiefen der Seele zu lesen vermag, versagt die als Gastgeschenk getarnte Bombe, die den ganzen Sowjet in die Luft sprengen sollte, da Tingsmasters Leute den Zündmechanismus entschärft haben. So vereiteln der amerikanische (Tingsmaster) und russische Arbeiterführer (Lenin) die Verschwörung auf magische Weise: durch mechanische und telepathische Manipulation der Dinge (Entschärfung der Bombe) und Menschen (Erschütterung des hypnotisierten Vasilov). Mit diesem ersten Auftritt Lenins bekommt ein zentrales fantastisch-wunderbares Moment des Romans – die magisch-okkulte Macht Čičes über die Menschen – aber eine neue, populärwissenschaftliche Wirklichkeitsreferenz, und zwar eine Referenz auf die physiologischen und
103
Ebd., S. 343 („Его зовут принц Грегорио Чиче. Но у него есть множество оболочек. [...] Он – всюду!
104
In der überarbeiteten Fassung des Romans, in der Šaginjan die Figuren und deren Motivation grundlegend verändert hat, ist Čiče selber zur Marionette geworden, der von den Kapitalisten gelenkt und bezahlt wird, wobei sie ihn jetzt aber explizit mit seinem literarischen Vorläufer Cagliostro vergleicht, vgl. Šaginjan, Mariėtta: Mess-Mend, ili Janki v Petrograde. Roman-skazka, Moskva 1979, S. 93, 272.
В конторах, банках, армии, церкви, в лучших кварталах и последних кабачках. Его магнетическая сила неописуема. Его изобретения неисчислимы. Он вертит, как марионетками, европейскими фашистами, которые слепо ему повинуются, не зная ни кто он, ни что он. Трудно сказать, руководится ли он какой-нибудь целью. Можно сказать только одно: он есть зло и плоды его есть зло. Последний убийца на земле человечней, чем он!“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 368).
Mess Mend, S. 329 („Он остановился... вздрогнул, провел рукой по лицу. Прямо против него, в упор устремив на него огненные глаза, казалось – читавшие до глубины его души, сидел Ленин.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 355).
105 Schaginjan:
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psychiatrischen Debatten über die Existenz von Gedankenlesen, Hypnose und Massensuggestion, die in jenen Jahren als elektromagnetisch messbare Gehirnströme und Mikrowellen experimentelle und wissenschaftstheoretische Aktualität gewannen.106 Wie Vieles in den ersten Jahren nach der Revolution, als noch nicht klar war, wie weit man mit der „alten Wissenschaft“ auch bestimmte wissenschaftstheoretische Hypothesen und experimentelle Methoden vom Dampfer der Zeitgenossenschaft stoßen müsse, waren gerade die Wissenschaft von der menschlichen „Seele“, die soziale oder biologische Bedingtheit des Denkens, die materialistische Grundlage von Gehirnströmen und Gedankenübertragungen ein äußerst kontrovers diskutiertes Gebiet.107 Und diesbezüglich gab es im Petrograd der ersten Nachkriegsjahre nur eine unbestrittene Autorität, und zwar Vladimir Michajlovič Bechterev (1857–1927), von dem Gerüchte sagten, neben Gott sei er der einzige, der wisse, was im menschlichen Gehirn vor sich gehe.108 Bechterev hatte nach einigen Auslandsaufenthalten als Professor in Kazan (1885–1893) ein eigenes experimentalpsychologisches Labor gegründet, ehe er nach Petersburg ging und hier 1907 das erste Psychoneuronale Institut des Landes eröffnete, eine medizinische Hochschule mit mehr als 150 Professoren und Dozenten, mehreren Fakultäten, Forschungslaboratorien und Graduiertenschulen, deren Absolventen abgesehen von Moskau in ganz Russland die physiologische und psychiatrische Forschung maßgeblich prägen sollten.109 Aufgrund seiner Distanz zur zaristischen Administration konnte er nach der Revolution seinen wissenschaftspolitischen Einfluss noch ausbauen, initiierte mehrere Fachzeitschriften und leitete bei seinem Tod 1927 ein halbes Dutzend Forschungsinstitute in ganz Russland – unter anderem das legendäre Institut für Gehirnforschung.110 Medizinisch tat er sich vor allem durch die Integration von Hypnose in therapeutische Heilungsmethoden hervor, wobei seine Versuche, Alkoholismus hypnotisch zu kurieren am meisten öffentliche Aufmerksamkeit bekommen haben. Wissenschaftlich stand er vor allem für die „kollektive Reflexologie“, die im Sinne des Behaviorismus alle menschlichen Handlungen von elementaren Gesten bis zur Sprache auf unbewusste, „assoziative Reflexe“ auf die Umwelt zurückführen wollte, die es galt objektiv durch systematische Beobachtung, klinische Methoden, Fragebögen und reflexologische Studien im engeren Sinne zu bestimmen.111 Demnach würden Meinungen, Glaubensinhalte und Ideologien ähnlich wie ansteckende Krankheiten das menschliche Denken jenseits der Kontrolle des Bewusstseins über Worte, Gesten oder Schriften
106
Vgl. Schwartz: Diktatur als Drogentrip, S. 263ff. Siehe auch Abschnitt 4.2 dieses Buches.
107
Vgl. Joravsky, David: Russian Psychology. A Critical History, Cambridge, Mass. 1989, S. 203–237; Beer, Daniel: Blueprints for Change. The Human Sciences and the Coercive Transformation of Deviants in Russia, 1890–1930, in: Osiris 22 (2007), S. 26–47.
108
Kozulin, Alex: Psychology in Utopia. Toward a Social History of Soviet Psychology, Cambridge, Mass. 1984, S. 50.
109
Zu den biographischen Angaben vgl. Nikiforov, Anatolij: Bechterev (Žizn’ zamečatel’nych ljudej, Bd. 664), Moskva 1986; Joravsky: Russian Psychology, S. 271–281.
110
Vgl. ebd., S. 53–55.
111
Ebd., S. 57.
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infizieren:112: „Psychische ‚Mikroben‘ sind allerorts und unter allen Verhältnissen entwicklungsfähig, und wo immer wir uns befinden mögen, ist die Gefahr einer psychischen Infektion vorhanden.“113 Dieser sich auch gegen individuellen Widerstand und unter Ausschaltung des Bewusstseins durchsetzende „psychische ‚Bazillus‘ der Suggestion“ könne aber wie physische Mikroben auch „je nach seiner Natur wohltätige oder schädliche und verheerende Wirkungen entfalten“, wobei „keine Übertreibung in der Annahme“ liege, „dass kaum irgend eines der großen historischen Weltereignisse ohne bestimmte Beteiligung von Suggestion oder Autosuggestion sich vollzogen haben möchte“, da es Menschen gebe, die diese Kräfte einsetzen können.114 Vielmehr seien „historische Persönlichkeiten, die die Regungen und den Willen der Massen in sich zu verkörpern gewusst haben“, bei dem „mehr oder weniger blinden Glauben des Volkes an ihren Genius von einem Nimbus umgeben, der häufig mit suggestiver Gewalt auf die Umgebung wirkte“ und „mit magischem Zwange“ die ihnen „kraft ihrer geistigen Überlegenheit verliehene historische Mission unterstützte und förderte.“115 Genau diesen „magischen Zwang“ als eine „psychologische Krankheit“ übt in dem Roman aber die „schädliche und verheerende“ negative Figur Čiče aus, dessen physische Präsenz – in deutlicher Anspielung auf Bechterevs Antialkoholismus-Kampagne – wiederholt als diejenige eines Alkoholikers beschrieben wird, während Lenin die positive Suggestivkraft politischer Ideologien und geistiger Führerschaft repräsentiert. Und so ist es auch kein Zufall, dass nicht die Sitzung des Petrograder Sowjets zur Feier der Revolution die Klimax und die „Lösung des Geheimnisses“ in Yankees in Petrogad bildet, sondern lediglich das Vorspiel zum anschließenden Entscheidungskampf auf dem parallel stattfinden internationalen Psychiatrischen Kongress, der zeitgleich eröffnet wird mit zwei Eröffnungsvorträgen: dem Referat von Professor Bechterev und dem von Professor Chizerton. Da alle Hauptprotagonisten inklusive Lenin die Sitzung des Sowjets bis zu deren Abbruch aufgrund des versuchten Bombenanschlags besucht haben, betreten sie die „Sitzung der Psychiater“ erst, als Bechterev schon unter „donnerndem Applaus“ seine Rede beendet, ehe Chizerton „mit stiller, ein wenig greisenhafter Stimme“ sein Referat beginnt.
112
„Wie die physischen Ansteckungskeime gern Massenwirkungen entfalten und über den Einzelnen hinaus ganzen Bevölkerungsgruppen verderblich werden können, so erscheinen auch psychische Kontagien überallhin wirksam und geneigt, durch Worte oder Gesten übertragen, durch Bücher oder Zeitungen verbreitet zu werden.“ Bechterew, Wladimir: Die Bedeutung der Suggestion im sozialen Leben, Wiesbaden 1905, S. 1; Zur Bestimmung seines Suggestionsbegriffs vgl. ebd., S. 10–15; Vgl. auch Kozulin: Psychology in Utopia, S. 52; Generell zum ästhetischen Diskurs der Ansteckung im russischen Kontext um die Jahrhunderwende bei Lev Tolstoj und anderen vgl. Sasse, Sylvia: Moralische Infektion. Lev Tolstojs Theorie der Ansteckung und die Symptome der Leser, in: Schaub, Mirjam; Suthor, Nicola; Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 275–293, S. 281ff.
113 Bechterew:
Die Bedeutung der Suggestion, S. 1.
114
Ebd., S. 141.
115
Ebd., S. 142.
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„Aber in diesem Augenblick schlug in der Regierungsloge die Tür. Einer nach dem anderen erschienen die Sowjetkommissare und nahmen ihre Plätze ein. Alle Blicke richteten sich auf die Loge. Als eine Sekunde später diese Blicke sich wieder auf die Estrade richteten, wurde es klar, dass dort inzwischen etwas geschehen war. Die Pupillen des Professors Hyserton richteten sich starr auf die Loge, seine Hände zuckten krampfhaft zum Gesicht – im nächsten Augenblick saß Professor Hyserton nicht auf dem Podium: In tiefer Ohnmacht lag er auf dem Boden.“116
Damit scheitert Georgij Čiče als Professor Chizerton ein zweites Mal an der „suggestiven Gewalt“, die von Lenin und seinem Politbüro unbewusst als positive Infektion auf das Böse in der Gesellschaft übertragen werden. Es sind die „machtvollen Wirkungen der wechselseitigen Suggestion in den Volksmassen“, die hier als „alle einende Idee“ das sowjetische Kollektiv im Sinne Bechterevs „zu ungeahnter Stärke entfacht“,117 gegenüber der die hypnotisch-okkulten Praktiken des Alchimisten machtlos bleiben. Was Šaginjan in dieser Schlussszene beschreibt, ist eine deutliche Überzeichnung von Bechterevs „kollektiver Reflexologie“, indem ihre massenpsychologischen Implikationen mit Hilfe historischer (Lenin) und fiktiver Persönlichkeiten (Čiče) als „geheimnisvoller“ apokalyptischer Kampf zwischen Gut und Böse inszeniert werden. Ähnlich wie bei der karnevalesken Maskerade politischer Verbrecherfiguren und ästhetischer Ding-Konzeptionen besteht auch hier die „Erziehung der Gefühle“ im Sinne Bucharins eher in einer negativen, „verfremdenden“ Bezugnahme auf die „abenteuerlichen“ Implikationen von Bechterevs Erklärungsmodellen. Das gilt auch für den zweiten populärwissenschaftlichen Diskursstrang jener Jahre, den Šaginjan in dem Roman fiktional als mysteriöses „Geheimnis des Dr. Lepsius“ inszeniert, dessen Auflösung durch den Arzt den Schlusspunkt des Romans setzt: und zwar durch die Demonstration sozialdarwinistischer Konzepte von Evolution und Degeneration. Denn Dr. Lepsius verkörpert gewissermaßen jenen aufgeklärten Mediziner, der in der Figur des Dr. Livsey (in Stevensons Treasure Island) oder Dr. Watson (in Conan-Doyles Sherlock Holmes) ihren literarischen Prototyp gefunden hat und durch seine nüchternen und etwas biederen Kommentare von der ersten Szene der Abenteuerhandlung an präsent ist. Doch im Unterschied zu seinen Vorgängern greift Lepsius von Anfang an in die Romanhandlung ein, macht dies allerdings – wie alle Protagonisten – im Verborgenen seines eigenen Forschungslabors nicht durch praktische Interventionen ins Geschehen, sondern durch experimentelle Forschung, wobei er – ohne dass der Leser weiß warum – mehr und mehr davon besessen ist, hinter die wahre Identität des Prof. Chizerton als seinem offensichtlich schärfsten wissenschaftlichen Opponenten zu kommen. Mess Mend, S. 336 („Но в этy минуту в правительственной ложе напротив хлопнула дверь. Один за другим туда вошли все советские комиссары и уселись, на мгновение притянув к себе взгляды всего зала. Когда же, спустя секунду, эти взгляды снова направились на эстраду, стало ясно, что там нечто произошло. Зрачки профессора Хизертона, расширившись, остановились на ложе. Руки профессора Хизертона судорожно вздернулись к его лицу – миг, и профессор Хизертон уже не сидел на эстраде, он лежал на полу, он упал в обморок.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 362).
116 Schaginjan:
117
Vgl. Bechterew: Die Bedeutung der Suggestion, S. 133.
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In dieser geheimen Konkurrenz des Dr. Lepsius und Prof. Chizerton sind die beiden Romanfiguren aber unschwer auch als Wiedergänger von Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) zu erkennen. Dr. Lepsius’ New Yorker Quartier hat, wie auch das altertümliche Londoner Haus von Dr. Jekyll, hinter einem kleinen Hof noch einen Anbau, den dieser wie jener als ein geheimes Laboratorium für Menschenversuche benutzt.118 Doch Lepsius macht keine Selbstexperimente, sondern studiert anhand der dort gefangen gehaltenen „Seiner Majestät Bugas XIII.“, eines tätowierten nordamerikanischen Indianers aus einem uralten Königsgeschlecht, wie sich dessen „verhängnisvolle Entartung der Wirbelsäule Schritt für Schritt“ weiterentwickelt:119 „Die kleine Erhöhung verwandelte sich in eine Verdickung des Knochens. Die Schultern meines Patienten senkten sich mit jedem Jahre immer tiefer. Sein Kopf nahm nur mit der größten Unlust eine vertikale Stellung ein, die verführerischsten Dinge konnten ihn nicht dazu bewegen, nach oben zu sehen. Zu gleicher Zeit, Ladies und Gentlemen, begannen sich seine Hände auffallend zu verwandeln. Anfangs waren sie nur auffallend gichtisch in den Gelenken. Dann bemerkte ich, dass die Verdickung das übliche Maße wesentlich zu überschreiten begann.“120
Was Dr. Lepsius hier aber als eine seltsame Verdickung des Knochens zwischen der dritten und vierten Rippe der Wirbelsäule beschreibt, die zu einer Verkrümmung des Rückgrats führe, und als „vertebra media sine bestialia“121 klassifiziert, entspricht ziemlich genau jenem Krankheitsbild, das Vladimir Bechterev 1892 erstmals vollständig als „Spondylitis ankylosans“ (griech. „versteifende Wirbelentzündung“) dargestellt hat und das daher als „Morbus Bechterew“ in die Medizingeschichte eingegangen ist.122 Während Bechterev es aber bei einer strikt medizinischen 118
Vgl. Stevenson, Robert: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886), in: Ders.: Dr. Jekyll and Mr. Hyde. The Merry Men and Other Stories, Ware 1993, S. 1–62, S. 22.
119
Dass dieser Indianerkönig zwar nicht die andere Seite des eigenen Selbst ist – wie bei Stevenson – aber doch gewissermaßen dessen imaginärer Doppelgänger, signalisiert die Zwischenüberschrift, in der Bugas vorgestellt wird, die „Doktor Lepsius allein mit sich selber“ („Доктор Лепсиус наедине с самим собой“) lautet. Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 122. Mess Mend, S. 339. („Бугорок превратился в утолщение кости, темное пятнышко – в круглую выбоину. Плечи Бугаса с каждым годом опускались все ниже. Голова его с величайшей неохотой занимала вертикальное положение, и я не мог никакими соблазнами заставить его глядеть вверх. В то же время, лэди и джентльмены, руки моего пациента стали резко видоизменяться. Сперва они были только сильно подагрическими в суставах. Потом я заметил, что утолщения начинают превышать обычную человеческую норму.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 364).
120 Schaginjan:
121
Šaginjan: Mess-Mend, S. 363.
122
In seinem in der Moskauer Zeitschrift Vrač (Der Arzt) erstmals veröffentlichten Aufsatz Steifigkeit der Wirbelsäule und ihre Verkrümmung als besondere Erkrankungsform (Одеревенелость позвоночника с искривлением его как особая форма заболевания), hier zitiert nach der deutschen Publikation in Neurologisches Centralblatt 12 (1893), S. 426–434. Vgl: Nikiforov: Bechterev, S. 111. Auch in der Biographie weist Dr. Lepsius Ähnlichkeiten mit Bechterev auf, insofern bei beiden die Entdeckung der Krankheit in
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Diagnose beließ und nur hypothetisch neben einer Entzündung auch die Vererblichkeit (наследственность) als Krankheitsursache vermutete, bringen die auffälligen Veränderungen an Wirbelsäule und Händen Šaginjans Dr. Lepsius zu sehr viel weiter reichenden Schlüssen: „Ich sah mich schließlich gezwungen, zwei Schlüsse aus dieser Erscheinung zu ziehen: erstens, dass diese Symptome ausschließlich unter den Nachkommen alter Geschlechter aufzutreten pflegen, und zweitens, dass sie eine äußerst seltene Form der Degeneration bilden.“123 So taucht Bechterev hier ein zweites Mal in Gestalt der „Morbus Bechterew“ auf, deren Vererblichkeit aber Lepsius auf ein Privileg alter aristokratischer Geschlechter eingrenzt und als Symptom für deren Degeneration deutet. Damit wird die Morbus Bechterew hier sowohl mit zyklischen Kulturmodellen vom Aufstieg und Fall ganzer Geschlechter und Nationen (angefangen von Herder bis Spengler) als auch mit dem sozialdarwinistischen Degenerationsdiskurs verknüpft, wie er um die Jahrhundertwende en vogue war: Die russischen adligen Emigranten repräsentieren für Dr. Lepsius genauso wie die Indianer Nordamerikas die „letzten Mohikaner“ aussterbender Geschlechter. Diese diskursive Verschränkung von individuellem körperlichem Verfall mit dem Niedergang einer ganzen Gesellschaftsklasse – der Aristokratie – präsentiert Dr. Lepsius bei seinem Auftritt auf dem Internationalen Psychiatrischen Kongress in Petrograd. Denn genau in dem Moment, als Prof. Chizerton angesichts der versammelten Sowjetkommissare ohnmächtig zusammenbricht, stürmt Lepsius das Podium, um den Augenblick zu nutzen, auf den er sein Leben lang gewartet habe, seine Entdeckung „vor einer Versammlung der Wissenschaft und der Macht“ an einem „lebenden Objekt“ zu demonstrieren, und zwar an Professor Chizerton höchstpersönlich.124 Die Demonstration seiner Entdeckung wird als eine sukzessive Entkleidung des Objektes inszeniert, die als ein Spektakel des Entsetzens mit der langsamen Entblößung der Hand in den schwarzen Handschuhen beginnt: „Er streichelte sie mit einer freundschaftlichen Geste, hob sie hoch und begann den Handschuh abzuziehen. Einen Finger, einen zweiten, einen dritten Finger... Über das Podium ragte jetzt etwas Seltsames, das eine menschliche Hand bedeuten sollte. [...] Ein entsetztes Geflüster raschelte durch den Saal. [...] Der Beamte auf dem Podium war vor Grauen wie erstarrt und sagte kein Wort. Einige erhoben sich von ihren Plätzen. Frauen waren einem hysterischen Anfall nahe. [...] Es trat ihre Jugendzeit in der europäischen bzw. russischen Provinz fällt. Denn während Bechterev als junger Arzt in Kazan durch seine Patientenbeobachtungen in örtlichen Krankenhäusern seinen Weltruf begründet hat, heißt es von Dr. Lepsius, er habe „als ein noch junger Arzt“ (еще молодым вращом) in einem „aristokratischen europäischen Kurort“ (аристократический европейский курорт) seine ersten Patientenbeobachtungen zur Verkrümmung des Rückrats gemacht. Vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 363. Mess Mend, S. 338 („Мне пришлось, наконец, сделать два вывода: что означенные явления встречаются исключительно среди потомков древнейших родов и что они являются редчайшей формой дегенерации.“ Šaginjan: Mess-Mend, S. 363).
123 Schanginjan:
124
Šaginjan: Mess-Mend, S. 363.
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eine unheimliche Stille ein./ ‚Ich bitte die Damen, sich zu entfernen!‘ rief Lepsius, ‚Milizionäre, kommt, kleidet ihn aus!‘ [...] ‚Zum Teufel, was ist denn das?‘/ ‚Ich weiß nicht, Sir‘, murmelte der Dolmetscher, der neben den vor Angst zitternden Milizsoldaten stand [...]. In derselben Sekunde brach ein erschütterndes Geheul aus tausend Kehlen durch den Saal. [...] Während mehrerer Minuten vermochte niemand weder zu sprechen noch sich zu rühren.“125
Was sich dem entsetzten Publikum aber nach und nach zeigt, ist nicht nur eine vollkommen degenerierte Hand, ein Gesicht mit blutleeren Lippen und funkelnden Augen, sondern auch eine nahezu in die Horizontale gekrümmte Wirbelsäule, die nur durch ein eisernes Korsett aufrecht gehalten wird, nach dessen Entfernung sich das Rückgrat wie bei einer Katze krümmt, und Čiče als wildes Raubtier auf allen Vieren mit großen Sprüngen den erstarrten Saal verlässt, bis Tingsmaster mit ruhiger Stimme ausruft: „Jener, den sogar ein Tier nicht anrühren mochte, mag den menschlichen Händen entgehen. Genossen! Keine Justiz der Welt vermag ihn mehr zu bestrafen, als er hier bestraft worden ist.“126 Das Animalische im Menschen ist hier nicht mehr die verdrängte, heimliche andere dämonische Seite des eigenen Ich, wie bei Stevensons Mr. Hyde, der die verborgenen Instinkte von Dr. Jekyll auslebt, sondern Symptom seines Niedergangs, seiner Degeneration zur Bestie am Ende des Lebenszyklus’ seines Geschlechts, das Strafe und Schicksal zugleich darstellt. Dieses Geheimnis des Doktor Lepsius als Kulminationspunkt des Romans gleicht dabei einer Teufelsaustreibung, wie sie auch Professor van Helsing in Bram Stokers Dracula vollzogen hat.127 Wo dieser jedoch auf anti-aufklärerische Praktiken okkulten Wissens zurückgreifen musste, um das aristokratische Tier-Wesen Graf Dracula endgültig zu töten, verwandelt erst Dr. Lepsius’ Anamnese den unheimlichen Graf Čiče in einen animalischen Körper. Die sozialdarwinistische Psychopathografie und Degenerationslehre wird in dem Roman als Metamorphose des Menschen in ein Tierwesen inszeniert. Vladimir Bechterevs wissenschaftliche Erörterungen zur Krümmung des Rückgrats und zur infektiösen Suggestionskraft des Menschen werden in Šaginjans erster MessMess Mend, S. 339–442 („Он дружески похлопал по ней, подняв ее кверху, и стал стягивать с нее перчатку. Один, другой, третий палец... Над публикой с эстрады вознесено нечто странное, долженствующее означать человеческую руку. [...] В зале пронесся шепот ужаса. [...] Распорядитель, окаменев от ужаса, не произнес ни слова. Кое-кто в зале встал с места. Женщины были близки к истерике. [...] Наступила жуткая тишина./ – Дамы, удалитесь! – потребовал Лепсиус. – Милиционеры, разденьте его. [...] – Черт побери, да что это такое?/ – Не знаю, сэр, – пробормотал переводчик, стоявший возле милиционеров, трясущихся от страха [...]. В ту же секунду потрясающий вопль вырвался из тысячи уст. [...] Никто в течение нескольких минут не был в состоянии ни говорить, ни сдвинуться с места.“ Šaginjan: Mess-Mend., S. 365–367).
125 Schaginjan:
126 Schaginjan: Mess Mend, S. 342 („Тот, до кого побрезгал дотронуться зверь, пусть минует человеческих
рук. Товарищи! Ни одно правосудие в мире не в силах наказать его больше, чем он уже наказан!“
Šaginjan: Mess-Mend, S. 367). 127
Die okkulten Mittel zur Bekämpfung lebender Toter werden in dem Roman mehrmals diskutiert, anhand der toten Lucy und am Ende gegen Dracula dann auch angewandt, vgl. Stoker, Bram: Dracula (1897), Ware 1993, S. 180ff., 330ff.
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Mend-Serie als fiktionale Abenteuerelemente genutzt, um anhand von ihnen die Unangemessenheit bestimmter sozialpolitischer Erklärungsansätze vorzuführen. Zusammenfassend lässt sich damit in Bezug auf Yankees in Petrograd festhalten, dass Mariėtta Šaginjan alias Džim Dollar in allen drei Diskurssträngen die „Technik des Geheimnisses“ dazu nutzt, um bestimmte ästhetische, politische und wissenschaftliche Positionen zu parodieren. Die karnevaleske Maskerade der Dinge und Menschen führt anhand des konspirativen Kampfes der amerikanischen Arbeiter gegen die antisowjetischen Faschisten die Lächerlichkeit entsprechender Diskurse vor, indem sie futuristische Ding-Konzeptionen mit politischen Verschwörungstheorien parallelisiert; die ironische Verfremdung sowjetischer Fortschrittsdiskurse entblößt das Illusionär-Utopische bestimmter populärwissenschaftlicher Zukunftsprognosen als ein fantastisches Wunderland; und die parodistische Adaption psycho-pathologischer Konzepte zeigt anhand von Bechterevs Überlegungen zur Massensuggestion und biologistischen Degenerationskonzepten die Absurdität entsprechender Menschenbilder. Während der Roman formal all die Erzählverfahren der Pinkertonovščina imitiert, formuliert er auf inhaltlicher Ebene gewissermaßen eine revolutionäre „Anti-Romantik“: Das „Geheimnis der Dinge“ liegt nicht in noch zu entdeckenden Rätseln der menschlichen oder dinglichen Natur, sondern umgekehrt in der Hybris solcher Erklärungsansätze, die sich anmaßen, einen wissenschaftlich, politisch oder ästhetisch begründeten Umsturz unseres bisherigen Gesellschafts- und Weltbildes einzuleiten. Ähnliche Verfahren wendet Šaginjan auch in den folgenden beiden Mess-Mend‑Serien an. Die Handlung von Lori Lėn, der Metallarbeiter spielt vornehmlich in einem idyllischen Provinzort am Mittelrhein in Deutschland sowie in einem abgelegenen Bergbaugebiet in Armenien, wo erneut westliche Kapitalisten und Adlige gegen die Arbeiter der Mess-Mend-Organisation konspirativ tätig sind.128 Diesmal geht es um einen chemischen Wunderstoff, der als Droge und Giftgas gegen die Sowjetunion in einem neuen Weltkrieg eingesetzt werden soll, dessen Verwendung letztlich aber mit der Revolution in Westeuropa endet.129 Dabei richtet sich die karnevaleske Maskerade 128
Dabei sind einige Figuren, die in der ersten Serie eher eine Nebenrolle hatten, wie der Bankier Vestingaus [Westinghaus] und dessen Tochter Grės [Grace], der Vicomte Lui de-Monmoransi [Louis de Montmorency] oder der Arbeiter Sorrou [Sorrow], jetzt ins Zentrum der Handlung gerückt, vgl. Šaginjan: Lori Lėn, metallist, S. 8–27, 78ff.
129
Ebd., S. 195ff., 207ff. Šaginjan bezieht sich mit dem Rekurs auf den in Deutschland produzierten chemischen Wunderstoff explizit auf die aktuelle politische und populärwissenschaftliche Debatte um die deutsche Chemieindustrie, die schon während des Ersten Weltkriegs durch die Herstellung chemischer Kampfstoffe, Sprengstoff und Giftgas hervorgetreten war und sich 1917 zur Interessengemeinschaft der deutschen Teerfarbenfabriken zusammengeschlossen hatte, die nach dem Krieg zu einem der führenden Chemiewaffenproduzenten weltweit aufstieg und sich Ende 1925 zur Interessen-Gemeinschaft Farbenindustrie AG (I. G. Farben) vergrößerte. Vgl. Pavlovič, Michail P.: Chimičeskaja vojna, in: Krasnaja nov’ 2 (1924), S. 168–182; 3 (1924), S. 187–201; 4 (1924), S. 154–175. Pavlovičs Beitrag erschien 1925 gleich in zwei Auflagen als Buch (Chimičeskaja vojna i chimičeskaja promyšlennost’) im Verlag Moskovskij rabocij. Allgemein erschien in den 1920er eine ganze Reihe an Büchern zu dem Thema Chemieindustrie und Chemischer Krieg, vgl. die bibliographischen Angaben bei: De-Lazari, Aleksandr N.: Chimičeskoe oružie na frontach Mirovoj vojny 1914–1918, Moskva 1935.
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diesmal vornehmlich auf mehrere Meisterdetektive und Polizeispitzel, die vergeblich versuchen die diversen Intrigen um den deutschen Chemiker Dr. Gnejs und dessen Entdeckung der wunderwirkenden Substanz „Lėnij“ zu entwirren.130 So sind es diesmal nicht psychische Suggestions- und Hypnosetechniken, sondern der Enthusiasmus für chemische Superwaffen und bewusstseinsverändernde Stoffe, auf den sich die parodistische Adaption richtet. Die ironische Verfremdung gilt hingegen nicht dem Petrograd der Zukunft, sondern dem „Geheimnis der Loreley“ (Тайна Лорелей)131 als Inbegriff deutscher Spießigkeit und romantischer Liebe, hinter deren bezaubernder Sirenenstimme erneut das absolut Böse auftaucht, diesmal in Gestalt der deutschen Chemieindustrie, personifiziert durch die Tochter von Georgij Čiče, Klėr Wesson [Claire Wasson].132 Clemens Brentanos und Heinrich Heines unwiderstehliche Nixe Lore Ley findet in dem der chemischen Substanz Lėnij verfallenen Metallarbeiter Lori Lėn ihren Wiedergänger, der zum Ende der Serie aber von der Droge loskommt und noch leicht berauscht ausrufen kann: „Brüder! Gebt mir doch einen o-o-ordentlichen Klaps! Denn es hat nicht Lėnij, sondern Lenin gesiegt!“ („ Братцы! Дайте-ка мне хо-о-рошенький подзатыльник! Ведь победил-то не лэний, а Ленин!“)133
130
Ein deutscher Privatdetektiv Karl Kramer und dessen amerikanischer Gegenpart Bob Druk sowie der deutsche Polizeispitzel Dubindus und dessen eigensinniger Gehilfe Durke sind von den ersten Seiten der Serie an dabei, sich gegenseitig nachzuspionieren, zu behindern und zu hintergehen, ohne dabei nennenswerte Ermittlungserfolge aufweisen zu können, vgl. ebd., S. 11ff. Der „Dr. der Chemie, wissenschaftliches Mitglied des Instituts für Mineralogie und Kristallographie in Zuzel’, korrespondierendes Mitglied der Londoner Physischen Gesellschaft, der Internationalen Liga der Chemiker, der Sorbonne, von Salamanca und des Bostoner Technikums Rudolf Gneis“ – der seinen Nachnamen wahrscheinlich dem gleichnamigem Metamorphit verdankt – stellt hingegen den typischen weltfremden Wissenschaftler von Jules Verne da, der politisch naiv mit Hilfe des wissenschaftlichen Fortschritts hofft, der Menschheit zu dienen, aber letztlich das Gegenteil erreicht, vgl. ebd., S. 57.
131
Ebd., S. 181. Auch dieses „Geheimnis der Loreley“ referiert auf einen populärwissenschaftlichen Prätext, und zwar Victor Lefebures 1923 in New York erschienenes Buch The Riddle of the Rhine. Chemical Strategy in Peace and War über die deutsche Chemieindustrie, das noch im selben Jahr vom Verlag Voennyj vestnik ins Russische übersetzt wurde unter dem gleichen Titel (Zagadka Rejna. Chimičeskaja strategija v mirnoe vremja i vo vremja vojny), vgl. Pavlovič: Chimičeskaja vojna, S. 181f.
132
Auch Klėr Wesson taucht bereits in der ersten Serie in einer kurzen Episode als Tochter der zweiten Frau von Rokfeller auf, wo sie sich mit ihrer Freundin Grės Vestingauz über den neuesten Klatsch austauscht, vgl. Šaginjan: Mess-Mend, S. 141–143; In der zweiten Serie tritt sie in verschiedenen Verkleidungen auf und verursacht eine Reihe ungeklärter Morde und unerklärlicher Ereignisse, ehe der „Loreley der Rheinwasser“ (Лорелею Рейнских вод) verkleidet als italienischer Bildhauer Apollino aus Mantua nach der sozialistischen Revolution in Deutschland durch ein Kriegsgericht unter Anwesenheit aller Kriegskommissare der Prozess gemacht wird, vor dem sich dieses „Kind eines Degeneraten, Wahnsinnigen und Scharlatans“ (Дитя дегенерата, безумца и шарлатана) dann selbst enttarnt, ohne dass der Leser erfährt, wie der Prozess letztlich ausgeht, vgl. Šaginjan: Lori Lėn, S. 212–216.
133
Ebd., S. 225; Nach Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine ... aus dem Roman Godwin oder Das steinerne Bild der Mutter (1801) war es vor allem Heines Gedicht Die Lore-Ley (1824), das die Legende von der schönen Nixe, die auf dem gleichnamigen Felsen die Rheinschiffer in den Tod lockt, weltberühmt machte.
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Die dritte Folge der Mess-Mend-Serie Der internationale Waggon (Der Weg nach Bagdad) richtet seine parodistische Intention dann gegen die gängigen sowjetischen Konzeptionen vom Internationalismus als höchstem Stadium des Kapitalismus, von Religion als Opium für das Volk und von der Befreiung der Frauen vom Patriarchat sowie unterdrückter Völker vom Kolonialismus. Ausgehend von London als Herz des Imperialismus und einem mysteriösen Mord im Expresszug von Hamburg nach Konstantinopel spielt die Handlung mal auf englischen Herrensitzen im Stile der Gothic Novel, mal im Unterweltmilieu von London und Wien, mal in den östlichen Gebieten des zerfallenden Osmanischen Reiches oder im britischen Protektorat Kuwait am Persischen Golf. Während britische Imperialisten versuchen, ihre Kolonialherrschaft zu stabilisieren, indem sie eine neue Richtung des Islam zur Staatsreligion des Vereinigten Königsreichs erklären mit Port Kuwait als neuer Pilgerstätte, die an die Stelle von Mekka, Medina und Jerusalem treten soll, versucht der amerikanische Textiltrust American Garn die orientalischen Märkte zu erobern, indem er sich als neues Firmenlogo Hammer und Sichel verpasst. Er inszeniert mit großem Aufwand eine Werbekampagne in den britischen Kolonien, die die „farbigen Stämme und Völker“ (Цветные племена и народы) dazu aufruft, am „Kap des Hl. Makar“ (на мысе св. Макара) eine „Einheitsfront gegen die Vergewaltiger, Räuber und Banditen des Imperialismus“ (единого фронта против насильников, грабителей и хищников империализма) zu bilden.134 Hinzu kommt eine ganze Reihe weiterer Gestalten und Institutionen, die alle zur Eskalation des Konflikts in „Port Kuwait“ beitragen.135 Im Unterschied zu den populären Adaptionen der „revolutionären Romantik“, die wie dargestellt von der Kritik wenn überhaupt nur sehr selektiv wahrgenommen und meist pauschal verworfen wurden, fand dieser „erste ‚solide‘ Versuch, den Vorschlag von Gen. Bucharin zu einem ‚Roten Pinkerton‘ zu verwirklichen“136 mehr Beachtung. Die Rezeption des „angeblich amerikanischen Arbeiterschriftstellers“137 Dollar fand entsprechend der literaturpolitischen Konfliktlinien
134
Šaginjan: Doroga v Bagdad, S. 58; „Das Kap des Hl. Makar“ stellt sich am Ende als Netz von Verkaufsfilialen heraus, an dem die neue Produktserie mit Hammer und Sichel verkauft wird. Allerdings starten die kolonisierten „Stämme und Völker“ am Ende der Serie tatsächlich eine Revolution und eignen sich die neuen Produkte kostenlos an, vgl. ebd., S. 110. Auch dieser Roman ist reich an intertextuellen Anspielungen auf Klassiker des Abenteuergenres, aber auch zeitgenössische sowjetische Adaptionen, so dass die Benennung des Kaps als „Heiliger Makar“ durchaus auch als Anspielung auf die Popularisierung jugendlicher Bürgerkriegshelden in Romanen wie Makar der Pfadfinder gelesen werden kann.
135
Neben einigen schon bekannten Figuren der Mess-Mend-Organisation treten als positive Heldinnen eine Gruppe in London festgesetzter Prostituierter auf, die nach Port Kuwait verschleppt werden und sich unterwegs zu überzeugten Klassenkämpferinnen entwickeln. Als Wiedergänger von Graf Čiče und seiner Tochter taucht in dieser Folge Major Kavendiš (Cavendish, alte britische Adelsfamilie seit dem 14. Jahrhundert) alias Pastor Martin Adrju [Andrew] auf, der allerdings keineswegs die skrupellose Bösartigkeit seiner Vorgänger aufbringt. Vgl. ebd.
136 „Первая ‚солидная‘ попытка осуществить мысль тов. Бухарина о ‚Красном Пинкертоне ‘
Lelevič, G. [L., G.]: Džim Dollar. „Mess-Mend“, in: Oktjabr’ 2 (1924), S. 204–205, S. 204. 137
„[...] якобы американский рабочий-писатель.“ Ebd., S. 204.
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[...].“
Mitte der 1920er Jahre statt.138 Während die den „Mitläufern“ und Serapionsbrüdern nahe stehenden Kritiker dem Roman „mit vollem Recht den Titel ‚revolutionäre Pinkertonovščina‘“ zusprachen139, begegneten die dem Umfeld von Proletkul’t und seinen Nachfolgeorganisationen nahe stehenden Vertreter diesem „missglückten Versuch“ eines „der Revolution fremden Schriftstellers“ mit wachsender Ablehnung und scharfer Polemik.140 Schon nach der zweiten Serie stellte einer der führenden Kritiker der „Napostovcy“, G. Lelevič, angesichts der Übersetzung der ersten Folge ins Deutsche und Tschechoslowakische kategorisch fest: „Die ‚Mess-Mendovščina‘, dieser antirevolutionäre Boulevardschund, nimmt bedrohliche Ausmaße an.“141 Als dann gleichzeitig 1924 und 1925 eine ganze Reihe weiterer „avancierter“ Adaptionen der Pinkertonovščina publiziert wurde, nahm die Kritik an der „antirevolutionären“ MessMendovščina noch zu, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Hinzu kam, dass mit der seit Frühjahr 1925 von Bucharin vorbereiteten Resolution zur „Politik der Partei im Bereich der Belletristik“ Ende Juni desselben Jahres sich eine kulturpolitische Neuorientierung abzeichnete, die zwar weiterhin eine „wirklich auf den Massenleser“ berechnete schöne Literatur forderte, aber in Hinsicht auf die Form betonte, dass diese „allen technischen Errungenschaften der alten Meister“ zu entsprechen habe, also gerade nicht eine Imitation billiger Unterhaltungslektüre darstellen solle.142 Als sich zudem abzeichnete, dass die im Stile von Kulešovs Komödie Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiki und dem Abenteuerfilm Der Todesstrahl gehaltene Verfilmung Miss Mend. Die Abenteuer dreier Reporter – an der Šaginjan nicht beteiligt war – schon mit der Vorzensur Probleme bekam, führte dies wahrscheinlich dazu, dass Mariėtta Šaginjan ihr Pseudonym offiziell lüftete und ihre anfangs von Meščerjakov so sehr gelobte „gesunde, revolutionäre Fantastik“ (здоровая, революционная фантастика)143 zu einer belanglosen Pinkerton-Parodie ohne literaturpolitischen Anspruch herabstufte.
138
Zu den Konfliktlinien vgl. Maguire: Red Virgin Soil, S. 148–187.
139 „[...] этому роману с полным основанием присвоено название ‚революционной пинкертоновщины’“.
Vgl. K.: Džim Dollar, S. 287. 140 „[...] это – произведение чуждого революции писателя.“
Vgl. L.: Džim Dollar, S. 204; Vgl. auch die eher reservierte Rezension von Fiš, Genadij: Džim Dollar. Mess-Mend. Janki v Petrograde, in: Zvezda 3 (1924), S. 314.
141 „,Месс-мендовщина‘, эта антиреволюционная бульварная стряпня, принимает угрожающие
размеры.“ Lelevič: Džim Dollar. „Lori Lėn, metallist“, S. 157; Zur deutschen Übersetzung, vgl. Mierau:
Ein roter Pinkerton. 142 Eimermacher: 143
Sowjetische Literaturpolitik, S. 68ff., S. 510; Maguire: Red Virgin Soil, S. 168ff.
Meščerjakov: Predislovie k pervomu izdaniju, S. 107.
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3. 3 Der Kamp f d e r Welten – Ale kse j To lsto js A e˙ li ta u n d d e r Unt ergang des Abend land e s 1 44 „Wenn nicht der Westen – dann Fantastik. Das Allerfantastischste ist bekanntlich der Mars. Der Mars ist langweilig, wie das Marsfeld. [...] Es lohnt nicht, Marsromane zu schreiben.“ (Jurij Tynjanov, 1924)
Der im Fernrohr rotbräunlich schimmernde vierte Planet des irdischen Sonnensystems gewann für die populärwissenschaftliche Beschäftigung in dem Moment an Attraktivität, als der Mailänder Astronom Giovanni Virginio Schiaparelli (1835–1910) im Jahr 1877 verkündete, er habe auf dem Himmelskörper linienförmige Strukturen entdeckt, die er „canali“ (ital. für „Rinnen, Gräben, Furchen“) nannte. Als bei der Marsopposition 1879 andere Astronomen diese Beobachtung bestätigten, machten die populären Phantasien aus den „canali“ bald künstlich hergestellte „Kanäle“ beziehungsweise „Channels“ nach dem Vorbild des 1869 fertiggestellten Suezkanals, und man begann sich eingehender mit dem Aussehen und der Gesellschaftsform ihrer Erbauer zu befassen. Neben dem französischen Astronomen und Erfolgsautor populärwissenschaftlicher Bücher, Nicolas Camille Flammarion (1842–1925), der bereits 1861 in Die Mehrheit der bewohnten Welten die Möglichkeit von intelligentem Leben auf anderen Planeten erörtert hatte,145 war es vor allem der amerikanische Hobbyastronom und Wissenschaftspopularisator Percival Lowell (1855–1916), der zu der Vorstellung beitrug, es könne sich um künstlich angelegte Bewässerungskanäle der ausgetrockneten Planetenoberfläche handeln.146 Diese Faszination für den Roten Planeten ging einher mit einer generellen Raumfahrtbegeisterung Ende des 19. Jahrhunderts, als die populärwissenschaftliche Aufklärungsarbeit gleichzeitig als neue, moderne Weltanschauung in Konkurrenz mit den bisherigen Weltdeutungsmonopolen der Religion und der humanistischen Bildung trat. Planetarien und Sternwarten wurden 144 „Если не Запад – то фантастика. Самое фантастическое – это, как известно, Марс. […] Марс скучен,
как Марсово поле. […] Не стоит писать марсианских романов.“ Tynjanov, Literaturnoe segodnja. S.
155, 156. 145
Dieses Werk erschien 1876 in russischer Übersetzung (Жители обитаемых миров). Schon 1873 stellte Flammarion aufgrund der rötlichen Marsoberfläche die These auf, es handele sich hierbei um eine Vegetation. In seiner zweibändigen populärwissenchaftlichen Schrift La Planète Mars (Der Planet Mars, Bd. 1 1892; Bd. 2 1909) legte er dann ausführlich dar, weswegen es sich bei den Marskanälen um die künstlichen Bauten einer hochentwickelten Zivilisation handeln müsse. Vgl. Eisfeld, Rainer; Jeschke, Wolfgang: Marsfieber. Aufbruch zum roten Planeten – Phantasie und Wirklichkeit, München 2003, S. 39ff. Zu den fiktionalen Aneignungen des Mars vgl. Fetscher, Justus; Stockhammer, Robert (Hg.): Marsmenschen. Wie die Außerirdischen gesucht und erfunden wurden, Leipzig 1997.
146
Der wohlhabende Hobbyastronom Lowell trug durch die Gründung seines eigenen Observatoriums 1894 in Arizona und die Förderung der Planetenbeobachtung wesentlich zur Popularisierung des Themas bei.
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zu den Tempelbauten des über die neuesten industriellen und technischen Entwicklungen informierten „progressiven“ Bürgertums und später auch der Arbeiterschaft. Zwar verlief in Russland eine mit Westeuropa vergleichbare Entwicklung in sehr viel bescheidenerem Maße, doch die Faszination für den Kosmos als einen Raum weltlicher Wunder und übermenschlicher Katastrophen ergriff auch hier um die Jahrhundertwende dank der sich rasch verbreitenden kommerziellen Presse- und Buchkultur immer weitere Gesellschaftskreise.147 Privatgelehrte wie Nikolaj Fedorov und Konstantin Ciolkovskij begeisterten sich für den Weltraum und verknüpften ihn mit ihren philosophischen Welterklärungsmodellen148, zur Jahrhundertwende erwartete man das Ende der Welt aufgrund von Meteoritenströmen und Kometeneinschlägen149 und träumte von interplanetaren Reisen.150 In diesem Kontext entwickelten sich der Mars und seine Bewohner seit den 1890er Jahren zu einer populärwissenschaftlichen und fiktionalen Imaginationsfläche, auf die sowohl ideale Gesellschaftsformen als auch apokalyptische Untergangsszenarien projiziert werden konnten. Angesichts der wachsenden Spannungen in den Kolonien der großen Imperialstaaten sind es zum Jahrhundertende vor allem Invasionsgeschichten hoch entwickelter Zivilisationen, die mit friedlichen – wie in Kurd Lasswitz Auf zwei Planeten (1897) – oder kriegerischen Absichten – wie in Herbert G. Wells War of the Worlds (ebenfalls 1897) – vom Mars aus die rückständige Erde unterwerfen.151 In Russland erscheint 1908 mit dem Roman Der rote Stern (Красная звезда) von Aleksandr Aleksandrovič Bogdanov (Pseudonym für Malinovskij, 1873–1928) erstmals eine klassische Utopie, die die Färbung des Planeten nicht nur geologisch, sondern auch politisch interpretiert als Ort einer idealen sozialdemokratischen Gesellschaftsform. Diese zwar innerhalb der Bolschewiki umstrittene, aber in der Tendenz befürwortete „Romanutopie“ (Роман-утопия) übte im postrevolutionären Russland erheblichen Einfluss auf die Semantik des Mars aus. 152 147
Vgl. Bradley, Joseph: Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism, and Civil Society, Cambridge, Mass./London 2009, S. 1ff., 27ff.; Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben: Bazarovs Erben. Ästhetische Aneignungen von Wissenschaft und Technik in Russland und der Sowjetunion, in: Dies. (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 9–36.
148
Vgl. Hagemeister, Michael: Die Eroberung des Raums und die Beherrschung der Zeit, S. 260ff, 275ff.
149
So war die apokalyptische Endzeitstimmung zur Jahrhundertwende in Russland nicht weniger weit verbreitet wie in Westeuropa, und auch hier fand beispielsweise Flammarions „astronomischer Roman“ Das Ende der Welt (Конец мира. Астрономический роман, russ. 1895) sein Publikum.
150
Vgl. Perel’man, Jakov: Mežplanetnye putešestvija. Polety v mirovoe prostranstvo i dostiženie nebesnych svetil, Petrograd 1915.
151
Vgl. Eisfeld; Jeschke: Marsfieber, S. 78ff. Lasswitz’ Roman wurde erstmals 1903 ins Russische übersetzt (На двух планетах), ehe 1925 bei Gosizdat noch eine gekürzte Neuauflage erschien..
152
Zur Rezeption von Bogdanovs Roman vgl. Adams, Mark B.: „Red Star“. Another Look at Aleksandr Bogdanov, in: Slavic Review 48:1 (1989), S. 1–15; Mit dem Untertitel „Romanutopie“ erschien das Werk in der Zeit von 1918 bis 1929 in knapp einem Dutzend Auflagen, auch der Fortsetzungsroman Ingenieur Menni (Инженер Мэнни, 1912), der vor allem eine Popularisierung von Bogdanovs „tektologischen“
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Einer solchen utopischen Vision stand die mythologische Bedeutung des Mars als Gott des Krieges gegenüber, die vor allem Burroughs in seiner von Lowells Theorien inspirierten, schon erwähnten Barsoom-Serie ausmalte, die den Mars als ein Schlachtfeld verfeindeter und degenerierter Stämme und Nationen beschrieb, gegenüber denen sich der irdische Held John Carter als furchtloser Krieger, Feldherr, Götterbote, Liebhaber, Ehemann und Familienvater bewähren konnte. Der Weiße Mann kann in A Princess of Mars (1912/1917), The Gods of Mars (1913/1918) oder The Warlord of Mars (1913–14/1919) zwar keinen Frieden stiften, aber doch immer wieder die schlimmsten Auswüchse dieser niedergehenden Zivilisation bekämpfen.153 Als sich Aleksej N. Tolstoj im Sommer 1922 daran machte einen Marsroman zu schreiben, reizte ihn vor allem diese symbolische Überkodierung des Roten Planeten, der wie kein anderer Himmelskörper die populären Fantasien der letzten Jahrzehnte beschäftigt hatte. 154 Dabei imitiert er bewusst die Haupthelden von Bogdanov und Burroughs, macht aber aus dem politisch engagierten Wissenschaftler Leonid (bei Bogdanov) den verträumten Ingenieur Los’ und aus dem amerikanischen Bürgerkriegsveteranen Carter (bei Burroughs) den draufgängerischen Rotarmisten Gusev.155 Beide Helden fliehen aus dem postrevolutionären Petrograd, das für sie keine Handlungsperspektiven mehr zu bieten scheint. Auf dem Mars treffen sie auf eine technischwissenschaftlich hoch entwickelte Klassengesellschaft, deren Führer Tuskub die Großstadt Soazera zerstören möchte, da diese Zivilisation unaufhaltsam auf ihren Untergang zusteuere. Nur durch die Vernichtung des städtischen Lebens könnten deren Übel und Laster ein Ende bereitet sowie aufrührerische Revolten und Anarchie verhindert werden, so dass zumindest für die kleine Oberschicht noch ein „Goldenes Zeitalter“ ruhigen Landlebens bliebe, ehe auch diese aussterben müsse – so Tuskub, der Herrscher über den Mars. Während Los’, für den der Flug zum Mars eine Flucht vor dem Kummer um seine verstorbene Ehefrau darstellte, sich hier in Aėlita – die Tochter des Herrschers – verliebt, stachelt Gusev den dortigen, eher „sozialdemokratisch“ auf Verhandlungen mit Tuskubs Regierung eingestellten Arbeiterführer Gor zu einem Aufstand gegen die beabsichtigte Zerstörung von Soazera an, der aber blutig niedergeschlagen wird, so dass den beiden „Söhnen des Himmels“ – wie sie von den Marsianern genannt werden – nur knapp durch ein unterirdisches Labyrinth die Flucht und die Rückkehr zur Erde gelingt. Gusev reüssiert dann – zurück in der Heimat – mit Geschichten von seinen Weltrauma-
Ideen zu einer wissenschaftlichen Ordnung der Gesellschaft darstellte, erlebte im gleichen Zeitraum noch fünf Neuauflagen. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki. 153
Vgl. Eisfeld; Jeschke: Marsfieber, S. 121ff.
154
Vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 159ff.
155
Zu Gusev als ironisch-parodistischer Figur siehe auch Skobelev, V.: Priključenčeskaja proza A. N. Tolstogo 20-ch godov: žanrovoe sovoeobrazie i problema parodirovanija. In: Vorob’eva, N. / Voroncova, G. u.a. (Hg.): A. N. Tolstoj. Novye materialy i issledovanija, Moskva 1995, 77ff. Zu Gusev und Los’ als symbolistische Charaktere siehe Stephan, Halina: Aleksej Tolstoi’s Aelita and the Inauguration of Soviet Science Fiction. In: Canadian American Slavic Studies 18 (1984), Nr. 1–2, 63–75.
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benteuern, wohingegen Los’ Kummer kosmische Dimensionen annimmt: Er träumt beim Blick ins All von Aėlitas „Stimme der Liebe“, die nach dem „Sohn des Himmels“ ruft.156 Das Sujet ist nach dem Schema eines klassischen „kolonialen“ Expeditionsromans konstruiert, das den Aufbruch zweier Helden aus der eigenen Welt in eine unbekannte, fremde Gegend voller unerwarteter Hindernisse und exotischer Begegnungen beschreibt, an dessen Ende die Helden verändert ins Herz des eigenen Imperiums zurückkehren. Dieses Schema wird auf den Mars übertragen, wo die beiden Abenteurer aber nicht auf eine „rückständige“ Gesellschaftsform treffen, sondern auf eine technisch höherentwickelte Zivilisation, in der die nach dem marxistischen Verständnis längst überfällige Revolution noch nicht stattgefunden hat und auch mit Unterstützung des russischen Rotarmisten misslingt. Schon dieses Sujet offenbart die parodistische Intention des Romans: Zum einen lässt sich die Figur Gusevs als eine Karikatur auf die naiven weltrevolutionären Hoffnungen der russischen Bolschewiki lesen, die insbesondere in Bezug auf die Klassenkämpfe in Deutschland massiv enttäuscht wurden.157 Zum anderen stellt die gesellschaftspolitische Verfasstheit des Roten Planeten selber schon eine Parodie dar, wie der Untertitel von Tolstojs Roman – Der Untergang des Mars – andeutet: Verwies er doch ausdrücklich auf Oswald Spenglers monumentales Werk Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, dessen erster Band Gestalt und Wirklichkeit 1919, dessen zweiter Band Welthistorische Perspektiven 1922 erschienen war.158 Damit verortete Tolstoj den Roman aber auch in einem Diskurs geschichtsphilosophischer und kulturhistorischer Welterklärungsmodelle, die nicht nur unter der russischen Emigration zur Legitimation ihrer Gegnerschaft des Bolschewismus verwendet wurden, sondern allgemeine Verbreitung fanden.159
156
Vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 165.
157
Der Vertrag von Rapallo im April 1922 stellte sowohl für die Weimarer Republik als auch die Russische Sowjetrepublik einen Durchbruch dar, war es doch für die sowjetische Seite die erste diplomatische Anerkennung von westlicher Seite als Staat, während Deutschland damit den Handelsboykott seitens der Alliierten nach dem Versailler Vertrag durchbrechen konnte; außenpolitisch signalisierte er aber vor allem den Abschied von dem Ziel, möglichst schnell auch in den westeuropäischen Staaten und insbesondere in Deutschland revolutionäre sozialistische Umstürze zu organisieren, vgl. Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 358ff.
158
Vgl. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band. Gestalt und Wirklichkeit. München 71920; Ders.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Zweiter Band. Welthistorische Perspektiven, München 161922
159
Wie weit u.a. die von Spengler vertretenen Thesen verbreitet waren, zeigt z.B. ein schon 1922 von Nikolaj Berdjaev, Fedor Stepun, Semen Frank u.a. verfasster Sammelband unter dem Titel Osval’d Špengler i Zakat Evropy (Oswald Spengler und der Untergang Europas). Siehe hierzu: Time, G.: Gete na „Zakate“ Evropy (O. Špengler i russkaja mysl’ načala 1920-ch godov). In: Russkaja Literatura 3 (1999), 58–71. Ilja Ėrenburg erinnert sich hingegen in seinen Memoiren: „Kaum jemand hatte die Arbeiten Spenglers gelesen, aber alle kannten den Titel eines seiner Bücher – „Der Untergang des Abendlandes“ (auf Russisch wurde es „Der Untergang Europas“ übersetzt), in dem er den Tod der ihm nahen Kultur beweinte. Auf Spengler beriefen sich sowohl skrupellose Spekulanten als auch Mörder und verwegene Zeitungsleute, – wenn die Zeit zu
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Die von Tuskub vertretene These vom unausweichlichen Untergang der Marszivilisation reflektiert teilweise wortwörtlich Spenglers „vergleichende Morphologie der Weltgeschichte“, die sich dezidiert von jeglicher, sei es rationalistisch, darwinistisch oder marxistisch begründeten, Fortschrittsideologie absetzt und dagegen ein Modell der Menschheitsgeschichte entwirft, das alle Zeiten und Kulturkreise bis in die einzelnen „Morpheme“ der kulturellen, sozialen und politischen Erscheinungsformen in „Geistes-, Kunst- und politische Epochen“ einteilt. Entsprechend den Jahreszeiten oder anderen zyklischen Abläufen der Natur machten diese Epochen nach Spengler immer die gleichen Stufen von Aufstieg, Blüte und Niedergang durch. Auf eine „Vorzeit“ folge die „Kultur“, nach deren „Früh- und Spätzeit“ die „Zivilisation“ als letzte Stufe den etappenweisen Untergang markiere.160 Die abendländische Kultur sei mit der „Modernität“ seit dem 19. und 20. Jahrhundert erst am Anfang ihrer „Zivilisation“, für deren letzte Stadien die Großstädte symptomatisch seien, die alles Leben in sich versammeln und von sittlichem und kulturellem Verfall gekennzeichnet sind. Liest man die Vorgänge auf dem Mars als eine fiktionale Verarbeitung von Spenglers Geschichtstheorie, dann liegt deren parodistisches Moment nicht in einer Widerlegung der Untergangsthese – indem beispielsweise der Revolutionsexport als möglich dargestellt wird –, sondern in der Art und Weise, wie dieses Niedergangsszenarium als ein politisch opportunes Herrschaftsinstrument zur Machtsicherung einer kleinen Oberschicht gezeichnet wird. Dieses Thema des Niedergangs verstärkt Tolstoj noch durch zwei Binnenerzählungen des Romans, in denen die Titelheldin Aėlita die Vorgeschichte der Marszivilisation erzählt, die sie als Nachkommen der seit Platon legendären Bewohner von Atlantis ausweist, die schon damals Fluggeräte entwickelt hätten, mit denen sie sich von ihrem untergehenden Kontinent auf den Roten Planeten gerettet haben.161 Damit verknüpfte Tolstoj nicht nur einen weiteren populärwissenschaftli-
sterben gekommen war, dann galt es keine Umstände zu machen; es gab sogar Parfüms der Marke „Untergang des Westens.“ („Мало кто читал труды Шпенглера, но все знали название одной из его книг – ‚Закат Западного мира’ (по-русски перевели ‚Закат Европы‘), в которой он оплакивал гибель близкой
ему культуры. На Шпенглера ссылались и беззастенчивые спекулянты, и убийцы, и лихие газетчики, – если пришло время умирать, то незачем церемониться; появились даже духи ‚Закат Запада‘.“) Ders.:
Bd. 1 (¹1961). Moskva ³1990, S. 386. 160
Für einen „morphologischen“ Vergleich zieht Spengler bspw. die ägyptischen, antiken, arabischen und abendländischen Kunstepochen hinzu, von denen die ersten beiden schon untergegangen seien, wohingegen sich die arabische seit der Mongolenzeit im letzten Stadium ihres Niedergangs befinde.
161
Atlantis als Thema fantastischer Abenteuerliteratur hatte Jules Verne 1870 mit Vingt mille lieues sous les mers populär gemacht, André Laurie folgte 1895 mit dem Abenteuerroman Atlantis (russ. Атланитида, 1900), Davic MacLean Parrys (1852–1915) fantastischer Roman The Scarlet Empire (1906, russ. Багровое царство 1908) spielte ebenfalls in Atlantis, ehe Benoit mit seinem L’Atlantide 1920 einen Bestseller landete, der den antiken Mythos endgültig zu einem allgemein bekannten Topos populärer Literatur machte. Ausführlich zur Atlantisgeschichte und deren Adaption in Tolstojs Aėlita, vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 159–202.
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chen Mythos – die Legende von Atlantis – mit demjenigen der Marszivilisation, sondern verstärkte die Akzentuierung des Romans auf das Untergangsthema zusätzlich.162 Doch in der Auswahl des Planeten Mars zielt Tolstoj nicht nur auf eine Parodie des abendländischen Kulturpessimismus hinsichtlich urbaner Zivilisationen, sondern noch auf einen weiteren Diskurs, und zwar auf den russischen Kosmosdiskurs der Vorrevolutionszeit eines Nikolaj Fedorov, Konstantin Ciolkovskij oder Jakov Perel’man. Auch dieser Diskurs stellte eine kulturphilosophische und weltanschauliche Reaktion auf die industrielle Moderne dar, beschäftigte sich aber nicht mit der revolutionären Umgestaltung oder dem dekadenten Niedergang des irdischen Diesseits, sondern sah die Zukunft einer neuen Menschheit in der Emigration und Expansion ins kosmische Jenseits.163 Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten einige ihrer Vertreter – wie die Biokosmisten – mit ihren Forderungen nach Immortalismus und Interplanetarismus von sich reden gemacht, die mit Hilfe einer Beherrschung von Raum und Zeit einen neuen gottähnlichen Menschen schaffen wollten, der selbst bei Trockij und Gor’kij in manchen Zitaten als ein kosmischer gedacht wurde.164 So ist das Scheitern der Marsexpedition auch eine A bsage an solche und ähnliche kosmistische Kolonisierungs- und Expansionsträume. Die Atlantiden als interplanetare Robinsons, die Marsianer als untergehende Hochzivilisation und die russischen Pfadfinder als gescheiterte Revolutionäre: In seinen vielfältigen intertextuellen Bezügen zielte Tolstojs Mars-Roman vornehmlich auf eine Parodie jeglicher Expansionsfantasien, seien es nun utopische Projektionen im Stile von Bogdanov, imperiale Abenteuerfantasien im Stile von Burroughs oder die kosmistischen Visionen der russischen Weltraumpioniere. Das „Geheimnis“ im Sinne Šklovskijs besteht bei Tolstoj in der narrativen und motivischen Verknüpfung divergenter intertextueller kulturphilosophischer Moden und Theorien seiner Zeit, von denen aber am Ende des Marsabenteuers nichts weiter bleibt als eine vollkommene Desillusionierung ihrer Relevanz und Erklärungsmächtigkeit. Sie taugen nur noch für Liebesträume beim Sternenglanz (Los’) oder unterhaltsame Revolutionsfolklore (Gusev). In dieser Perspektive erscheint selbst die in der Kritik immer wieder hervorgehobene „glaubwürdige“ Darstellung von Gusevs „nationalem Typ“ nicht als „authentische“ Figurenbeschreibung
162
Gleichzeitig ist in der Figur Aėlitas auch eine implizite Polemik gegen Burroughs Princess of Mars angelegt, repräsentiert sie bei Tolstoj doch nicht die schöne und edle Wilde, die an der Seite des weißen Abenteurers gegen den Untergang des eigenen Geschlechts kämpft, sondern die vom eigenen Vater gefangen genommene Königstochter, die den Mythos von Atlantis als identitätsstiftende Herrschaftsideologie ihres Vaters reproduziert.
163
So entspricht die eiförmige Marsrakete des Ingenieurs Los’ nicht nur den Fluggeräten aus Rudolf Steiners Akasha-Chronik, sondern bis in die Details auch Ciolkovskijs Skizzen zukünftiger Weltraumfahrzeuge, vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 172, Fußnote 31.
164
Vgl. hierzu Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“, S. 25ff.; Richers, Julia: Himmelssturm, Raumfahrt und „kosmische“ Symbolik in der visuellen Kultur der Sowjetunion, in: Polianski, Igor J.; Schwartz, Matthias (Hg.): Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 181–209, S. 187ff.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 173
inmitten einer „fantastischen“ Umwelt,165 sondern eher als typisierter Gegenpol zu Los’ naiv-unreflektiertem Weltverständnis. Tolstoj geht es nicht um „realistische“ Szenarien, die „wahre Helden“ an möglicherweise vorhandenen schwarzen Orten oder weißen Flecken imperialer Ordnungen zeigen, sondern er braucht den Mars als eine fantastische Projektionsfläche, um die Wirklichkeitsfremdheit und Weltenferne des Dargestellten hervorzuheben: gerade das von Tynjanov beanstandete Langweilige166 des Marsfelds dient als Brechtsche Theaterbühne, um dem Leser eine kritische Distanz zum Beschriebenen zu geben, indem das seltsam Unbekannte mit allzu Bekanntem, als selbstverständlich Genommenem vermischt wird. Die Entautomatisierung der Wahrnehmung im formalistischen Sinne geschieht hier, indem kulturphilosophisch „anspruchsvolle“ Theorien durch die kurzweilige Form des fantastischen Abenteuerromans gebrochen werden. Es war aber gerade diese Kombination von klischeehaften Marsfantasien und mangelndem Realitätsbezug, typisierter Abenteuerromantik und pauschalisierter Kulturkritik, die bei den Kritikern Ratlosigkeit auslöste, lehnten sie doch das Fantastische durchweg als misslungen ab, während sie Gusev als den einzigen „glaubwürdigen“ Charakter gelten ließen. An dessen Funktion im Roman aber schieden sich die Geister. Die einen Kritiker – wie Kornej Čukovskij – sahen in Gusev die Darstellung des „nationalen Typs“ der russischen Revolution167, andere – wie Georgij Gorbačev – im Gegenteil eine grobe Verfälschung des kommunistischen Proletariers, der hier als nationalistischer Kleinbürger und „typischer Anarchist“ gezeichnet werde.168 Und selbst diejenigen, die – wie Jurij Tynjanov – die parodistische Funktion der Figur in Bezug auf den „fantastischen“ Planeten Mars erkannten, wussten damit nichts anzufangen „Der Mars – das ist sozusagen die registrierte Fantastik. In diesem Sinne stellt die Wahl des Mars für einen fantastischen Roman einen gewissenhaften Schritt dar. [...] Hier eröffnete sich ein verführerisch leichter Übergang zur Parodie: die russischen Helden, die auf das Marsfeld geflogen sind, – zerstörten leicht und fröhlich die ‚fantastischen‘ Dekorationen. [...] Aus dem Zusammenstoß von Gusev mit dem Mars entstand so von selbst eine Parodie. [...] Doch – eine gewissenhafte Fantastik verpflichtet. Zu ernsthaft geraten bei Tolstoj all diese ‚Flügel mit Flughäuten‘ und ‚flachen, scharfen Schnäbel’. [...] Und das einzig Lebendige in dem ganzen Roman – Gusev – macht den Eindruck eines lebendigen Schauspielers, der seinen Kopf in die Leinwand eines Kinematographen gesteckt hat.“169
165
Čukovskij, Kornej: Portrety sovremennych pisatelej. Aleksej Tolstoj, in: Russkij sovremmenik 1 (1924), S. 253–271, S. 269.
166
Tynjanov: Literaturnoe segodnja, S. 155.
167
Čukovskij: Portrety sovremennych pisatelej, S. 269.
168
Gorbačev, Georgij: Smenovechovskaja ideologija v chudožestvennoj literature (I. Ėrenburg i A. N. Tolstoj), in: Ders.: Očerki sovremennoj russkoj literatury, Leningrad 1924, S. 32–54, S 53f.
169 „Марс – это, так сказать, зарегистрированная фантастика. В этом смысле выбор Марса для
фантастического романа – добросовестный шаг. [...] Здесь открывался соблазнительно легкий переход к пародии: русские герои, залетевшие на это Марсово поле, – легко и весело разрушали ‚фантастические‘ декорации. [...] Из столкновения Гусева с Марсом уже рождалась сама собой пародия. [...] Но – добросовестная фантастика обязывает. Очень серьезны у Толстого все эти
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Gerade diese Kritik Tynjanovs zeigt aber, dass es sich nicht einfach nur um ein Verkennen der offensichtlich parodistischen Elemente des Romans handelt, sondern der generelle Vorbehalt gegen jegliche Adaption populärer Erzählformen die kritische Rezeption dominierte. Diese Ablehnung der „registrierten Fantastik“ im Stile eines Burroughs, die selbst wenn sie sich offensichtlich als „Dekoration“ und Kinokulisse zu erkennen gibt, immer noch als „langweilig“ und fantasielos verworfen wird, unterscheidet sich aber nicht grundlegend von der Geringschätzung, die seinerzeit schon Čukovskij gegenüber der Pinkertonovščina zum Ausdruck gebracht hat. Und so ist es kein Zufall, dass auch bei Tynjanov der Kinematograph als Sinnbild „lebloser“ Marsszenerien herhalten muss.170 Nun stand Tolstoj mit seiner fiktionalen Bearbeitung des Themas vom Untergang des Abendlandes nicht alleine da. Doch was er noch in der Tradition von Wells’ War of the Worlds als interplanetaren Kampf der Welten (wie der russische Übersetzungstitel lautete) inszenierte, behandelten andere Pinkerton-Adaptionen als irdische Entscheidungsschlacht des – nach Lenins Diktum – zum Untergang verdammten Monopolkapitalismus. So bekam das allgemein in der modernistischen Literatur der Nachkriegszeit verbreitete Thema der Menschheitsdämmerung171 im russischen Kontext eine spezifische Akzentuierung, stellte sie doch vornehmlich eine auf die westliche Zivilisation bezogene Alteritätsfiktion dar. Neben Tolstoj war es vor allem Il’ja Ėrenburg, der sich das Untergangsthema in seinen frühen, in der Emigration geschriebenen Romanen zu eigen machte und häufig in einem Atemzug mit Tolstoj genannt wurde, da auch er sich in parodistischer Absicht ausführlich populärer Erzählformen bediente, allerdings im Unterschied zu Tolstoj in der Emigration und im Ausland großen Erfolg hatte – seine Romane wurden fast umgehend ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt.172 Während Julio Jurenito noch vornehmlich den Stil des satirischen Feuilletons adaptierte,173 imitierte Ėrenburgs zweiter, nicht weniger erfolgreicher Roman Trust D.E. (Die Geschichte vom Untergang Europas) die Erzählmuster des Abenteuerromans: In diesem Werk ist es ein junger Abenteurer namens Ens Boot ‚перепончатые крылья‘ и ‚плоские, зубастые клювы’. [...] и единственное живое во всем романе – Гусев – производит впечатление живого актера, всунувшего голову в полотно кинематографа.“ Tyn-
janov: Literaturnoe segodnja, S. 155f. 170
Den „Kinematographen“ als Sinnbild für missglückte Literatur verwendet Tynjanov im selben Aufsatz auch in seiner Kritik an Ėrenburgs Romanen, vgl. ebd., S. 155.
171
So der programmatische Titel der von Kurt Pinthus erstmals 1919 herausgegebenen Textsammlung des deutschen Expressionismus, die innerhalb weniger Jahre mehrere Neuauflagen erlebte. Zur russischen Rezeption expressionistischer Lyrik vgl. Belentschikow, Valentin: Die russische expressionistische Lyrik 1919–1922, Frankfurt a. M. 1996.
172
Vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 225ff.
173
Vgl. Ėrenburg, Il’ja: Neobyčajnye pochoždenija Chulio Churenito i ego učenikov, Moskva 1923; Šaginjan, Mariėtta: Il’ja Ėrenburg. Chuljo Churenito (1922), in: Dies. Sobranie sočinenij v 9 tomach, Bd. 2, Moskva 1986, S. 740–744; vgl. zum Stil von Ėrenburgs satirischem Feuilleton Hetényj, Zsuzsa: Ėnciklopedija otricanija. „Chulio Churenito“ Il’ja Ėrenburga, in: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 45 (2000), S. 317–323.
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[Jens Boot], der aus frustrierter Liebe mit Hilfe nordamerikanischer Kapitalisten, die in Zollund Handelsstreitigkeiten mit Europa liegen, eine Firma zur Zerstörung Europas – „Trust for the Destruction of Europe“ – gründet.174 Dank eines weit reichenden Netzwerkes politischer Spione und wissenschaftlich-technischer Geheimlabore löst Boot in den europäischen Staaten nach und nach grausame Kriege, soziale Unruhen und gesellschaftliche Verwerfungen aus, die diese mit Hilfe biologischer, chemischer oder konventioneller Waffen (Seuchen, Giftgas, Bombenwerfer) in den Untergang treiben, bis Europa eine einzige verseuchte Wüstenlandschaft geworden ist, in der nur noch wenige wahnsinnige und verwilderte Menschen hausen.175 Trust D.E. (Die Geschichte vom Untergang Europas) stellt damit gewissermaßen die polemische Antithese zu Aėlita (Der Untergang des Mars) dar. Wo Tolstoj noch die Heimatliebe als positive Konsequenz der gescheiterten Expansionspläne propagiert und den Niedergang des Kriegsgottes Mars als ein zivilisationsinternes Problem der spenglerianischen Oberschicht naturalisiert, geht Ėrenburg den umgekehrten Weg: Ens Boot vereinigt Charakterzüge der beiden Hauphelden Tolstojs, von Gusev und Los‘, in sich und repräsentiert zugleich deren „imperialistischen“ Gegenentwurf: Aus gekränkter Eitelkeit vergeht sich der holländische Migrant an seiner Geliebten Europa, indem er ungleich Zeus176 grausame Rache an ihr übt und sie ihrem vorherbestimmten Ende zuführt: „Jens Boot tat nur eins – er veranlasste die degenerierten Europäer, das zu tun, was sie ohnehin hundert Jahre später gemacht hätten. Er beschleunigte die Agonie Europas. Nicht er hatte die Giftgase erfunden, nicht er die Werfer Zentrifuge Divoire Excelsior konstruiert. Er öffnete nur die Riegel des Irrenhauses. Das übrige besorgten die Irren selber.“177
Wo Gusev und Los’ als vermeintliche positive Helden den planetaren Untergang („zakat“ im Russischen bezeichnet primär das Sinken eines Himmelskörpers am Horizont) gegen ihre Intention nicht aufhalten können, forciert der negative Held Boot den physischen Tod („gibel’“ im Russischen bezeichnet das Sterben von Lebewesen) des eigenen Kontinents. Beide verweisen dabei auf einen biologistischen Degenerationsdiskurs kombiniert mit einem radikalen Alteritätsdiskurs: Was bei Tolstoj das exotische Äußere der Marsianer darstellt, ist bei Ėrenburg das verwil174
Vgl. Ėrenburg, Il’ja: Trest D.E. Istorija gibeli Evropy, Char’kov 1923, S. 13,
175
Ebd., S. 80–200. Zum Antiutopischen in Ėrenburgs Roman vgl. Reißner, Eberhard: Zwischen Utopie und Katastrophenphantasie. Ilja Ehrenburgs Roman „Trust D.E.“, in: Kasack, Wolfgang: Science-Fictionin Osteuropa, Berlin 1984, S. 49–60.
176
Vgl. ebd., S. 205–208.
177
Ehrenburg, Ilja: Trust D.E. oder die Geschichte vom Untergang Europas, in: Ders.: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger; Trust D.E. oder die Geschichte vom Untergang Europas. Romane, Berlin 1975, S. 275–439, S. 351 („Енс Боот только надоумил дряхлых европейцев сделать то, что они все равно сделали бы через сто лет. Он укоротил агонию Европы. Не он изобрел ядовитые газы, не он построил центрифуги ‚Дивуар Эксцельзиор’. Он только открыл камеры сумасшедшего дома. Остальное было делом самых умалишенных.“ Ėrenburg: Trest D.E, S. 100).
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derte und irrsinnig gewordene Innere der Europäer. Bezogen auf den hinter diesen Diskursen stehenden „kolonialen Blick“ auf vermeintlich barbarische und brutale Wilde formulieren sowohl Tolstoj als auch Ėrenburg eine fiktionale Antithese, indem sie solche stereotypen Alteritätsmuster auf fantastische oder satirische Weise zurück auf ihre imperialen Urheber projizieren. Dieser kulturkritische Impetus der in der Emigration geschriebenen Untergangsgeschichten Tolstojs und Ėrenburgs fehlte den von den Serapionsbrüdern Kataev, Ivanov und Šklovskij geschriebenen Pinkertonadaptionen weitgehend, bewegten sich ihre Genreparodien doch fast ausschließlich im literarischen Feld der ironischen Zitate und spielerischen Verweise, ohne dass eine gesellschaftspolitische Positionierung zu erkennen war. Valentin Kataevs Roman Die Insel Erendorf lässt sich einerseits von Stil und Sujet her noch am ehesten als klassischer Abenteuertext lesen. Andererseits signalisierte er schon durch seinen Titel nicht nur eine Parodie von Julio Jurenito und Trust D. E., sondern karikierte auch Tolstojs Aėlita sowie weitere Adaptionen und Klassiker des Genres.178 Zentrales Objekt des satirischen Blicks ist auch hier das Thema des Untergangs, das diesmal in Gestalt des berühmten Geologen Professor Grant auftritt, der zweifelsfrei berechnet habe, dass innerhalb eines Monats die komplette Erdoberfläche bis auf eine einsame Pazifikinsel in einer neuen Sintflut, ausgelöst durch massive Erdbeben, versinken werde. Auch hier wissen der „König der Könige“ der Truste und andere reiche Kapitalisten sich die Idee anzueignen, indem sie den Professor mit Hilfe von Hypnose außer Gefecht setzen und unter Anleitung von „Mister Ėrendorf“179 im Eiltempo unter strengster Geheimhaltung auf der besagten Pazifikinsel die ideale kapitalistische Gesellschaft nach ihrem Bilde im Miniaturformat aufbauen, während weltweit überall revolutionäre Umstürze stattfinden. Doch eine romantische Liebesaffäre der ebenfalls hypnotisierten Tochter von Professor Grant bringt den Plan der Kapitalisten ans Licht, worauf eine proletarische Streitmacht aus aller Welt die Insel belagert. Allerdings sind die Weltrevolutionäre gegen deren Verteidigungswaffen und die „Maschine negativen Stroms“ (машина обратного тока), die alles Eisen magnetisiert, machtlos. Erst als in Erwartung des allgemeinen Weltuntergangs in einer feierlichen Festzeremonie die Insel den Namen Ėrendorfs zum Ruhme ihres Erbauers erhält, wird sie von einem Erdbeben erfasst und versinkt im Ozean.180 Es stellt sich heraus, dass die Herstellerfirma des „Ariphmometers“, das Professor 178
Beispielsweise gibt es deutliche Anspielungen auf Jules Vernes Romane Die Insel des Verderbens und Kinder des Kapitän Grant. Auch Conan Doyles Sherlock Holmes taucht bei Kataev auf, der sich als alter Mann in New York niedergelassen hat und bemüht ist, weitgehend unbegabte Nachahmer zu seinen Nachfolgern auszubilden. Vgl. Kataev, Valentin: Ostrov Ėrendorf (1924), in: Ders.: Sobranie sočinenij v desjati tomach, Bd. 2, Moskva 1983, S. 129–240, S. 129ff., 143ff., 198ff., 222ff.
179
Mister Ėrendorf ist ein erfolgreicher Bestsellerautor, der sich an der Küste von Nizza mit schönen Frauen umgibt, ebenda ein Luxushotel mit Namen Julio Jurenito besitzt und Bestseller wie Der Untergang Afrikas (Гибель Африки) und ähnliche Werke am laufenden Band schreibt, vgl. ebd., S. 162f., 169f.
180
Auch dies ist natürlich ein klassisches Topos der Abenteuerliteratur – die Insel, die nach dem fantastischen Abenteuer untertaucht – und in diesem Fall nicht zuletzt eine weitere Anspielung auf den Atlantismythos und damit auf Tolstoj, bei dem die Herrscher von Atlantis statt Superwaffen zu bauen allerdings kosmistische Raumschiffe konstruierten, vgl. ebd., S. 231ff.
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Grant zur Berechnung des weltweiten Erdbebens verwandte, an einer Stelle ein Minus mit einem Plus vertauscht hatte, so dass das gegenteilige Ergebnis (die Insel, nicht die Welt geht unter) sich als richtig herausstellt.181 Zu einer „Entfaltung des Abenteuersujets auf der Ebene des Nonsens“182 brachten es Vsevolod Ivanov und Viktor Šklovskij dann in dem Fortsetzungsroman Yperit, der 1925 in neun Folgen im Staatsverlag Gosizdat erschien.183 Zwar hatte Šklovskij in einer Vorbemerkung zu einem Vorabdruck des Romans erklärt, dass es ihnen im Unterschied zu Šaginjan, Kataev und anderen um eine „Ausfüllung des Abenteuerschemas nicht mit bedingtem literarischen Material [...], sondern mit Beschreibungen von faktischem Charakter“184 gehe, denn nur so könne die „Krise des Genres“ (кризис жанра) überwunden werden.185 Gleichzeitig aber betonte er: „Das Genre des Abenteuerromans wird von uns jetzt als Stilisierung verwendet. Man macht das in Form eines Spiels mit Schablonen und einer imitierten Übersetzung./ Das ästhetische Moment ist zweitrangig und erscheint als ein Ergebnis der nachfolgenden Überlegung.“186
Tatsächlich beschränkten sich Šklovskij und Ivanov ausschließlich auf „parodistisch-ironisches Material“ (пародийно иронический материал),187 dessen Stilisierung und spielerische Verfremdung vornehmlich auf eine Bloßlegung von Genreklischees zielen. Ein russischer Matrose gerät als „Tarzan“ zusammen mit seinem Bären Rocambole in London von einem „ungewöhnlichen Abenteuer“ in das nächste, während ein Chemieprofessor mit einem neuen Wunderstoff den englischen Arbeitern den Schlaf raubt und den Imperialisten in Form von Senfgas (Yperit) eine
181
Auch Kataevs zweiter „Abenteuerroman mit einem Prolog und einem Epilog“ Der Beherrscher des Stahls (Повелитель железа, 1925) stellt eine Parodie dar, diesmal des Topos der „Todesstrahlen“, der Indienmystik und der „kommunistischen Pinkertons“. Dafür verlegt Kataev seine Handlung nach Asien, wo ein verrückter Erfinder im Hochgebirge des Tibet die besagten Todesstrahlen erfindet, die alles Metall der Erde zu magnetisieren vermögen, während ein Arbeiterführer einen anfangs erfolgreichen Aufstand in Indien leitet, ein Neffe von Sherlock Holmes diesen zu fangen versucht, ein Moskauer Skandalreporter sensationelle Nachrichten vorfindet und verzweifelte englische Kolonialherren und Kapitalisten um ihre Macht kämpfen, vgl. Kataev, Valentin: Povelitel´ železa. Avantjurnyj roman s prologom i ėpilogom, Mysl´, Moskva 1925.
182 „‚Иприт’ – развертывание авантюрного сюжета в плоскости бессмыслицы.“
D.: V. Ivanov i V.
Šklovskij. Iprit, in: Knigonoša 26 (1925), S. 17. 183
Hier zitiert nach der Neuauflage der unveränderten 2. Auflage von 1929, vgl. Ivanov, Vsevolod; Šklovskij, Viktor: Iprit. Roman (²1929), S-Peterburg 2005.
184
„[...] заполненье авантюрной схемы не условным материалом [...], а описаньями фактического характера.“ Šklovskij, Viktor: Iperit (Otryvok iz romana), in: Lef 3 (1925), S. 70–76, 70.
185
Ebd.
186 „Жанр авантюрного романа сейчас берется нами, как стилизация. Происходит игра штампами и
подделка перевода./ Эстетический момент вторичен и является результатом последующего осмысливания.“ Ebd.
187 Ebd.
178 | Kommunistische Pinkertons
schlagkräftige Waffe gegen die Sowjetunion liefert. Unzählige „durch nichts miteinander verbundene“ („ничем между собою не связанных“)188 Parallelhandlungen und Digressionen, anekdotische Episoden und metatextuelle Einschübe verfremden und parodieren dieses Sujet so weit, dass am Ende – ganz im Sinne von Šklovskijs These zur Entwicklung des „Romans der Geheimnisse“ – das „Rätsel“ vollkommen an Bedeutung verliert, „plump, wenig bemerkt, unnötig wird“ („становится неуклюжей, мало заметной, ненужной“).189 Allerdings misslang Ivanov und Šklovskij mit Yperit letztlich eine Erneuerung des absterbenden Genres in Form einer Parodie, löste ihre „rein theoretische“ (Tynjanov) Pinkerton-Adaption doch bei den Kritikern über alle literaturpolitischen Gegensätze hinweg lediglich Ratlosigkeit und Ablehnung aus.190 Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die avancierten Adaptionen der Abenteuerprosa festhalten: Dass man erstens das Genre im Fall von Tolstoj und Ėrenburg vornehmlich als Parodie benutzte, um anhand des Kampfes der Welten bestimmte gesellschaftspolitische und kulturphilosophische Diskurse der Lächerlichkeit preiszugeben. Die ohnehin schon als primitiv und belanglos eingestufte kinematographische Form (schnelle Ereignisfolgen, kurze Sätze, viele Gewaltszenen, keine Psychologisierung, kulissenhafte Szenerien) verwendete man, um das Burleske und Groteske des Beschriebenen zu unterstreichen oder aus sowjetischer Perspektive „anachronistische“ Positionen bloßzustellen. Zweitens fokussierten die Texte dabei fast durchweg das Thema des gesellschaftlichen Untergangs, das mal einen ganzen Planeten (Mars), mal einen Kontinent (Europa), mal eine einsame Insel (Ėrendorf ) betrifft, wobei auch die utopische Dimension einer Weltrevolution mehr oder weniger direkt als absurdes Myserium Buffo verworfen wird.191 Drittens formulieren die Parodien eine maximale Distanz zu den populärwissenschaftlichen Hoffnungen, mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen zur Schaffung einer neuen, besseren Gesellschaft beitragen zu können. Technisch-wissenschaftliche Innovationen und naturwissenschaftliche Entdeckungen werden in den Texten durchweg als militärische Waffen und destruktive Kräfte imaginiert, die eine als negativ konnotierte Degeneration, Barbarisierung und Animalisierung des Menschen befördern. Der „rote Planet“ Erde ist genauso wie sein imaginäres Gegenbild Mars von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Šklovskijs Roman der Geheimnisse stellt damit aber im Sinne Tynjanovs von Anfang an eine tote Form dar.192 Abgesehen von Mariėtta Šaginjan, die sich aber seit 1926 deutlich von den anfänglichen Intentionen der Mess-Mend-Serie distanzierte, versuchte keiner der Autoren ernsthaft im Sinne von Lunc das spannende Sujet zur Vermittlung „lebendiger“ Personen oder intensivierter Wahrnehmungen zu benutzen. Man verwandte das Genre als ein „kulissenhaftes“ Gebilde fantastischer Filmszenarien und karikaturhafter Darstellungen im Stile von ROSTA-Fens188
D.: V. Ivanov i V. Šklovskij. Iprit, S. 17.
189
Šklovskij: Technika romana tajn, S. 131.
190
Vgl. Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 111.
191
Mysterium Buffo (Мистерия-буфф, 1918/1921) ist der Titel einer populären Opera buffo von Vladimir Majakovskij, die vor allem auf eine Parodie westlicher Prominenter und typisierter Gestalten zielte.
192
Vgl. Tynjanov: Literaturnoe segodnja, S. 150ff.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 179
tern. Das Geheimnis der Dinge, das seit den Gothic Novels zum zentralen Spannungsmoment jeglicher Abenteuerliteratur geworden war, ist in den avantgardistischen Adaptionen zu einer nachgemachten Übersetzung (подделка перевода) – wie bei Šaginjan – oder zu einem „Spiel mit Schablonen“ (игра штампами) – wie bei Ivanov und Šklovskij – geworden. Diese „verflachten“ Formen der Pinkertonovščina benutzte man, um anhand ihrer künstlerischen Primitivität den Niedergang der gesamten westlichen Welt zu diagnostizieren, wobei sich die Auflösung des Rätsels am Ende häufig – wie bei Kataev – auf die Vertauschung von Plus-/Minus-Zeichen reduziert. Dem Kampf der Welten gilt nicht das Pathos eines „revolutionären Enthusiasmus“, sondern ein Experimentieren mit schablonenhaften Darstellungsformen, das die extraordinären Abenteuer, die exotischen Fremden und wissenschaftlichen Sensationen als bloßes Maskenspiel der Weltrevolution und billigen Filmtrick vorführt. Dass gerade das überschaubare Formenrepertoire und die begrenzten Handlungsmuster für viele Leser und Leserinnen geradezu die Voraussetzung dafür darstellten, an diesen imaginären Welten zu partizipieren, spielte in den avantgardistischen Adaptionen des Genres keine Rolle. Doch es war nicht nur die seit Čukovskijs Polemik gegen die Pinkertonovščina unter Schriftstellern weit verbreitete Geringschätzung massenkultureller Erzählformen, die eine Erneuerung „hochkultureller“, avancierter Prosaformen scheitern ließ. Auch die literarische Kritik hatte einen maßgeblichen Anteil hieran, die diese „in keinerlei Hinsicht sowjetischen“193 Parodien fast einstimmig als „Verhöhnung des Lesers“194 verwarf, deren endlose, aneinander gereihte „Dummheiten“195 und „prinzipieller Zynismus“ nichts mit dem Proletariat zu tun hätten.196 So verlor man bald das Interesse an den „kommunistischen Pinkertons“ und verabschiedete sich in 193
So heißt es über Kataevs Insel Ėrendorf in einer Kritik: „ни в малейшей степени не советский роман“ („ein in keinerlei Hinsicht sowjetischer Roman“), vgl. Modzalevskij, I.: V. Kataev. „Ostrov Ėrendorf“. Roman s priključenijami, in: Knigonoša 3 (1925), S. 16.
194 „издевательства над читателям“,
vgl. ebd.
195
So heißt es über Ivanovs und Šklovskijs Yperit in einer Kritik: „Глупость за глупостью. До бесконечности.“ („Dummheit auf Dummheit. Ohne Ende.“) Vgl. D.: V. Ivanov i V. Šklovskij. Iprit, S. 17.
196
So heißt es über Ėrenburgs Trust D.E. in einer Kritik: „das Proletariat hat nichts gemeinsam mit dem Skeptizismus des prinzipiellen Zynismus“ („пролетариат имеет ничего общего со скепсисом принципиального цинизма“). Vgl. Aksenov, I. A.: Il’ja Ėrenburg. Istorija gibeli Evropy, in: Pečat’ i revoljucija 3 (1924), S. 261–262, S. 262. In der sowjetischen Wiederentdeckung dieser Parodien der zwanziger Jahre seit den Sechzigern wurde diese zeitgenössische Rezeption hingegen vollkommen ausgeblendet. Stattdessen wurde das literarische „Spiel mit den Schablonen“ des Abenteuergenres als kulturpolitischer Abwehrkampf gegen die niveaulose Unterhaltungslektüre aus dem Ausland interpretiert. So schreibt beispielsweise Vitalij Bugrov über die Flut an Übersetzungen: „Bei dem allgemein niedrigen Niveau dieser Schmöker konnte ein naturgemäßer Protest von Leuten nicht ausbleiben, die die Klassiker kannten. Und so protestierten unsere Autoren gegen die Übermacht an minderwertigen, bewusst stümperhaften Büchern, indem sie den westlichen Abenteuerroman parodierten.“ („Общий низкий уровень этого чтива
не мог не вызвать ествественного протеста у людей, знакомых с классикой. И вот, пародируя западный приключенчекский роман, наши авторы тем самым протестовали против засилья книг низкопробных, заведомо халтурных...“) Vgl. Bugrov: 1000 likov mečty, S. 164.
180 | Kommunistische Pinkertons
manchen avantgardistischen Gruppierungen und Strömungen einige Jahre später gleich vollständig von sujethaften Prosaformen auf der Suche nach einer neuen „Literatur des Faktes“. Dass sowohl die kinematographischen Prosaformen (siehe Abschnitt 4.1) als auch die populärwissenschaftlichen Technikutopien (siehe Abschnitt 4.2) sowie die an sie geknüpften „geheimnisvollen“ Untergangssujets (siehe Abschnitt 4.3) durchaus ein innovatives poetisches Potenzial für eine sowjetische Abenteuerliteratur bargen, zeigte sich weitgehend unbemerkt von der Literaturkritik in der zweiten Hälfe der 1920er Jahre anhand von Autoren und Werken, die sich an der Flut westlicher Übersetzungen orientierten und an dem expandierenden Markt für spannende Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik partizipierten.
Adaptionen und Parodien der Pinkertonyšcˇina | 181
4. E x per i m e n t e a m N e u e n Me nsche n – M edi e n f i k t i o n e n u n d Te chnikfa nt a sie n 1 „Eine nie da gewesene Erfindung! Das Geheimnis der Weltherrschaft! [...] Endlich ist eine Verbindung gefunden worden, die ihren Ausbeutern eine unbegrenzte Herrschaft über die Menschheit sichert. Das Wesen der Erfindung: Eine Kombination chemischer Stoffe gibt Strahlungen von sich, die auf das menschliche Gehirn wirken.“ D. Tumannyj (1924)1
Die Neuausrichtung der Abenteuerliteratur hatte einen Typus des sowjetischen Pfadfinders hervorgebracht, der progressiv und international auf dem ganzen Globus zuhause war und dessen Wissbegierde und Neugierde sich auf die Spuren der bevorstehenden weltweiten Revolution richtete. Er machte den Leserinnen und Lesern das Angebot, sich über die „revolutionäre Romantik“ durch eine „Erziehung der Gefühle“ – wie es Bucharin formulierte – mit der jungen Sowjetunion zu identifizieren (Kapitel 2). Doch diese Revolutionsromantik wirkte angesichts des Scheiterns aller Versuche der Komintern, in Deutschland einen Umsturz zu befördern, von Anfang an utopisch und wurde – wie im vorigen Kapitel gezeigt – häufig selber zum Gegenstand literarischer Parodien. Diese parodistischen Genreadaptionen machten aber auch gleichzeitig auf eine weitere Funktion aufmerksam, welche die Abenteuerliteratur seit ihrem Aufkommen im 19. Jahrhundert ausgezeichnet hat: Sie wandelte die Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen, technischer Innovationen, kriegerischer Konflikte und industrieller Umbrüche in unterhaltsame Geschichten um, die gleichzeitig den im Einzelnen teils fatalen und schrecklichen Modernisierungsfolgen einen für die breite Leserschaft erträglichen Sinnzusammenhang gaben. Die „staatstragende“ Funktion, die beim kommunistischen Aufbau zu bewältigenden Herausforderungen als spannende Pinkertonovščina aufzubereiten, bildete ein wesentliches Merkmal dieser Literatur. Das zentrale Phantasma der direkt oder mittelbar auf den postrevolutionären Alltag bezogenen Geschichten kreiste dabei um die von vielen maßgeblichen kultur- und wissenschaftspolitischen Aktivisten aufgestellte Forderung, dass nach dem gesellschaftspolitischen Umsturz nun auch eine wissenschaftliche Revolution folgen müsse, die eine gänzlich neue Konzeption des Menschen hervorbringen werde und keine ewigen Naturgesetze mehr anerkenne. 2 Die avantgardistischen Visionen eines fundamentalen Neuanfangs in den Natur- und Gesellschaftswissen1 „Небывалое изобретение! Секрет мирового господства! […] Найдено, наконец, соединение,
обеспечивающее его эксплоататорам безграничное господство над человечеством. Суть изобретения: комбинация химических веществ дает излучения, действующие на человеческий мозг.“ Tumannyj,
D.: Porošok ideologii. Rasskaz, in: Bibliotečka revoljucionnych priključenij 2 (1924), S. 44-64, S. 44. 2
Vgl. Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 71ff.
182 | Kommunistische Pinkertons
schaften bezogen ihr revolutionäres Pathos vor allem aus den Konsequenzen, die neue technische Medien, naturwissenschaftliche Entdeckungen und ingenieurstechnische Erfindungen für das menschliche Individuum mit sich brachten.3 Dieser Wissenschaftsenthusiasmus einer radikalen Neudefinition des Menschen erfasste auch führende Bolschewiki wie Lev Trockij, der ihn 1923 mit unverhohlenem Pathos auf den Punkt brachte: „Das Leben, selbst das rein physiologische, wird kollektiv-experimentell werden. Die menschliche Gattung, der erstarrte Homo sapiens, wird abermals eine radikale Revision durchlaufen und – unter den eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der Auslese und des psychophysiologischen Trainings werden.“4
Diese utopisch-wissenschaftsenthusiastische Dimension der Künste und Publizistik der Nachrevolutionszeit ist in der Forschung sehr viel mehr rezipiert worden als die übrige Abenteuerliteratur: Man hat sich den Revolutionary Dreams oder dem Laboratory of Dreams gewidmet,5 den Konzepten vom Neuen Menschen und den biopolitischen und kosmistischen Utopien jener Jahre, wobei Aleksandr Bogdanov, Aleksej Gastev, Ivan Pavlov oder Konstantin Ciolkovskij die am häufigsten genannten Gewährsleute darstellen.6 Vor diesem Hintergrund hat man Evgenij Zamjatins Dystopie Wir (Mы, 1920) und Michail Bulgakovs satirische Erzählung Hundeherz
3
Vgl. zu den utopischen Entwürfen eines Neuen Menschen in den 1920er Jahren ausführlich Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein.“, S. 19–67; Ders.: Die Eroberung des Raums und die Beherrschung der Zeit. Utopische, apokalyptische und magisch-okkulte Elemente in den Zukunftsentwürfen der Sowjetzeit, in: Murasov, Jurij; Witte, Georg (Hg.): Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003, 257–284; Šušpanov: Literaturnoe tvorčestvo A. A. Bogdanova, S. 138– 218; Pomorska, Krystyna: The Utopian Future of the Russian Avant-Garde, in: Debreczeny, Paul (Hg.): American Contributions to the Ninth International Congress of Slavists, Kiev, September 1983, Bd. 2, Columbus Ohio 1983, S. 371–386.
4
Trockij, Lev: Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst, in: Groys, Boris; Hagemeister, Michael (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005, S. 414–421, S. 419 („Жизнь, даже чисто физиологическая, станет коллективноэкспериментальной. Человеческий род, застывший homo sapiens, снова поступит в радикальную переработку и станет – под собственными пальцами – объектом сложнейших методов искусственного отбора и психофизической тренировки.“ Trockij: Literatura i revoljucija, S. 196).
5
Vgl. Stites, Richard: Revolutionary Dreams; Bowlt; Matich: Laboratory of Dreams.
6
Vgl. Groys; Hagemeister: Die Neue Menschheit; Stites, Richard: Fantasy and Revolution. Alexander Bogdanov and the Origins of Bolshevik Science Fiction, in: Bogdanov, Alexander: Red Star. The First Bolshevik Utopia, Bloomington 1984, S. 1–16; Hellebust, Rolf: Aleksei Gastev and the Metallization of the Revolutionary Body, in: Slavic Review 56:3 (1997), S. 500–518; Rüting, Torsten: Pavlov und der neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, Oldenburg 2002; Andrews, James T.: Red Cosmos. K. E. Tsiolkovskii, Grandfather of Soviet Rocketry, College Station 2009.
Medienfiktionen und Technikfantasien | 183
(Собачье сердце, 1925) als frühe Kritik solcher Experimente an einem Neuen Menschen gelesen, die deswegen auch in der Sowjetunion nicht publiziert werden konnten.7 Schaut man sich jedoch die auf Technik und Wissenschaft bezogene Abenteuerliteratur jener Jahre an, dann fällt auf, dass sie gerade nicht von diesen avantgardistischen Träumen und utopischen Gesellschaftsvisionen handelte.8 Sie erzählte kaum von genialen Wissenschaftspionieren und bahnbrechenden Erfindungen auf den Baustellen des Kommunismus, von enthusiastisch im Kollektiv arbeitenden Proletariern in wissenschaftlich organisierten Fabriken oder von einem rosigen Morgen, sondern berichtete vornehmlich von verrückten Gelehrten und machtgierigen Schurken, die sich nicht weniger international als die weltweiten Pfadfinder um den ganzen Globus bewegten, immer mit den Bauplänen für eine neue Superwaffe im Gepäck als Vorboten des unvermeidlichen Kampfes der Welten. Wissenschaftlicher Fortschritt und technische Erfindungen waren in der Abenteuerliteratur fast durchweg angstbesetzt und wurden als bedrohlich dargestellt. Die fiktionale Ausgestaltung dieser Bedrohung kreiste dabei immer um die Frage, wie mediale und technische Innovationen auch das menschliche Individuum gegen dessen Willen verändern könnten. Die Abenteuerliteratur knüpfte damit an jene populären „Medienfantasien“ (Carolyn Marvin) über den Körper durchleuchtende Röntgenstrahlen, kinematographische Manipulationen der Gefühle und mediale Konditionierungen der Gedanken an, die schon in der Vorrevolutionszeit das breite Publikum fasziniert und gleichzeitig in Schrecken versetzt hatten.9 7
Vgl. Kern, Gary (Hg.): Zamyatin’s We. A Collection of Critical Essay, Ann Arbor 1988; Striedter, Jurij: Three Postrevolutionary Russian Utopian Novels, in: Garrard, John (Hg.): The Russian Novel from Pushkin to Pasternak, New Haven u.a. 1993, S. 177–201; Parrinder, Patrick: Shadows of the Future. H. G. Wells, Science Fiction, and Prophecy, New York 1995, S. 115–126; Zu einer differenzierteren Lesart von Hundeherz im Kontext der zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten, vgl. Howell: Eugenics, Rejuvenation, and Bulgakov’s Journey into the Heart of Dogness, S. 544–562.
8
Es gab nur sehr wenige dezidierte Zukunftsutopien, wobei diese größtenteils die kommende kommunistische Zukunft erst ganz am Ende der Geschichte als einen eher schematischen Ausblick darstellten, während die eigentliche Handlung noch ganz im kapitalistischen Diesseits spielte. So handelt auch der immer wieder in diesem Zusammenhang zitierte utopische Roman Die kommende Welt (Грядущий мир, 1923) von Jakov Markovič Okunev (1882–1932) erst im zweiten Teil von einer vollkommen synthetischen kommunistischen Zukunftswelt des 22. Jahrhunderts, in der dank kollektiver Telepathie alle sich gegenseitig kontrollieren und es keine Geheimnisse und Verbrechen mehr gibt, während die in einer Zeitreise hierher versetzten Helden sich wie Los’ in Tolstojs Aėlita mit Liebeskummer plagen. Vgl. Okunev, Jakov: Grjaduščij mir. Utopičeskij roman, Petrograd 1923. Vadim Dmitrievič Nikol’skijs (1886–1941) wissenschaftlich-fantastischer Roman In tausend Jahren (Через тысячу лет, 1927) stellt hingegen eher eine Zeitreise durch ganz unterschiedliche utopische Gesellschaftsmodelle dar, die alle ihre gravierenden Nachteile haben, ehe man das gelobte Land doch noch erreicht. Vgl. Nikol’skij, Vadim: Čerez tysjaču let. Naučno-fantastičeskij roman, Moskva 1927. Ähnliches gilt auch für andere häufig genannte Autoren wie Vivian Itin, Jan Larri oder Aleksandr Beljaev (siehe zu ihm Abschnitt 4.3 dieses Buches), vgl. Stites: Revolutionary Dreams, S. 168–184.
9
Diese Medienfantasien gründeten wiederum auf der „modernen“ Erfahrung der Jahrhundertwende von der großen gesellschaftspolitischen Wirkungsmacht, die die forcierte Industrialisierung der Arbeit und expandierende Massenmedien wie Boulevardpresse und Kino entfalteten. Vgl. hierzu Marvin, Carolyn: When Old Technologies were New. Thinking about Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York
184 | Kommunistische Pinkertons
Diese modernen Angstphantasmen wurden in der postrevolutionären Abenteuerliteratur als Imaginationen von elektromagnetisch-telepathischen Fernwirkungen, biologisch-technischen Infiltrationen oder chemisch-stofflichen Injektionen aktualisiert. So prägte in der Vorrevolutionszeit – wie auch in Kornej Čukovskijs Pinkerton-Polemik 1908 deutlich wurde – insbesondere das Kino die Angstnarrative über ein die Massen infizierendes und auf gefährliche Abwege führendes Medium. Čukovskijs Identifizierung von Kinematographie und Abenteuerliteratur verwies aber auch auf eine Medienkonkurrenz, waren es doch vor allem Abenteuergeschichten, die neben der Komödie das frühe Filmtheater entscheidend mitprägten. In der Nachrevolutionszeit hatte man sich an dieses Medium zwar schon längst gewöhnt, so dass das Kino kaum noch angstbesetzt war; eine Medienkonkurrenz bestand aber vor allem durch die explizite Kritik am „kinematographischen“ Abenteuergenre in Publizistik und Filmtheorie fort und wirkte so auch auf das literarische Feld zurück. Abenteuergeschichten reagierten auf diese Kritik sowohl stilistisch als auch motivisch mit einer besonderen Form des „kinematographischen“ Schreibens (Abschnitt 4.1. Poetik der Kinematographie).10 Während der Kinematograph damit gewissermaßen zu einem ungefährlichen, stilistisch und motivisch gebändigten Medium wurde, waren andere Medien und Techniken narrativ noch sehr viel stärker angstbesetzt. Dies galt insbesondere für ein zentrales Phantasma der Jahrhundertwende, und zwar dasjenige der Elektrizität, deren mesmeristische, galvanistische, spiritualistische und telepathische Konzeptionen magischer Bewusstseinserweiterungen und den Körper durchleuchtender Röntgenstrahlen die Abenteuerliteratur in das postrevolutionäre Zeitalter der Elektrifizierung und des Radios übertrug.11 Abenteuergeschichten narrativierten die Bedrohung des Menschen durch wissenschaftliche Experimente mit elektromagnetischen Strahlen sowohl in Bezug auf einzelne Individuen als auch auf ganze Gesellschaftsklassen oder gar die Menschheit als Ganzes. Weniger die Zukunftsversprechen der Bolschewiki als die Erfahrungen des vergangenen Ersten Weltkriegs schienen diese Medienfantasien von größenwahnsinnigen Kapitalisten und verrückten Gelehrten zu prägen, die mit Hilfe von Psychomaschinen und Todesstrahlen Angst und Schrecken verbreiten (Abschnitt 4.2. Die Elektrifizierung der Gedanken).12 u.a. 1988; Tsivian, Yuri: Media Fantasies and Penetrating Vision, Some Links Between X-Rays, the Microscope, and Film, in: Bowlt, John E.; Matich, Olga (Hg.): Laboratory of Dreams. The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment, Stanford 1990, S. 81–99, S. 82ff. Zu fantastischen Adaptionen der Elektrizität in der englischen „Science fiction“ der Jahrhundertwende, vgl. Luckhorst: Science Fiction, S. 25ff. 10
Generell zu diesem Zusammenhang im Abenteuerroman der zwanziger Jahre schreibt Marija Černjak, die allerdings sehr stark die Sichtweise der Formalisten übernimmt und in ihrer Zitation häufig – wie einleitend angedeutet – recht ungenau ist, vgl. Černjak: Fenomen massovoj literatury XX veka, S. 107–116.
11
Vgl. Tsivian: Media Fantasies and Penetrating Vision; Banerjee, Anindita: Electricity. Science Fiction and Modernity in Early Twentieth Century Russia, in: Science Fiction Studies 30 (2003), S. 49–71.
12
Hierin ähnelten sie noch weitgehend Adaptionen der westlichen und russischen Vorbilder, die die in der Tradition der Gothic novels stehende Mischung aus Technikfaszination und Zerstörungsfantasien für die sowjetischen Leser umschrieben. Vgl. Cornwell, Neil (Hg.): The Gothic-Fantastic in Nineteenth-Century Russian Literature, Amsterdam 1999.
Medienfiktionen und Technikfantasien | 185
Diese medialen und technisch-wissenschaftlichen Kriegs- und Kampfszenarien um die zukünftige Ausgestaltung des Menschen hatten aber immer auch eine metaphorische und allegorische Bedeutungsebene in Bezug auf das bolschewistische Gesellschaftsexperiment als solches. Derjenige Autor, der nicht nur die ambivalenten Auswirkungen von wissenschaftlichem Fortschritt und einer medialen Globalisierung auf das Menschenbild beschrieb, sondern sie auch am prägnantesten allegorisch mit aktuellen Trends und Moden der sowjetischen Gesellschaft verknüpfte, war Aleksandr Beljaev. Beljaev ist – vielleicht abgesehen von Aleksej Tolstoj und Pavel Bljachin – auch der einzige der hier behandelten Autoren, der in der Stalinzeit nicht in Vergessenheit geriet, sondern vielmehr in der Tauwetterzeit als der „sowjetische Jules Verne“ wieder entdeckt wurde und bis heute zu einem der meist gelesenen Jugendautoren und Science Fiction-Schriftsteller Russlands zählt. Liest man ihn im Kontext seiner Zeit, verkörpert er eher das Gegenteil seines französischen Vorbildes, dessen Schreibstil und Kompositionstechniken er weitgehend imitiert hat: Während Vernes leicht verrückte, schrullige, seltsame Wissenschaftler voller Optimismus in die menschliche Zukunft schauen, handelt es sich bei Beljaev durchweg um Gelehrte, die ihr gesellschaftliches Umfeld in den Größenwahn oder in die Verzweiflung treibt und deren Baupläne für einen Neuen Menschen Einblick in die Alpträume der sowjetischen Moderne gewähren (Abschnitt 4.3. Träumer am Machtpol). In ihrer Skepsis gegenüber der „kollektiv-experimentellen“, „radikalen Revision“ des Homo sapiens (Trockij) aber artikulierte die in diesem Kapitel behandelte Abenteuerliteratur nicht nur einfach ein Unbehagen gegenüber naturwissenschaftlichen Technikfantasien und Medienfiktionen, das generell für die fantastische Literatur der Moderne charakteristisch ist, sondern auch ein von vielen führenden Bolschewiki geteiltes Misstrauen gegenüber einem die Grenzen von Gesellschaft und Labor, Wissenschaft und Kunst, Experiment und Leben zunehmend verwischenden gottesstürmerischen Enthusiasmus, von dem Lenin bereits 1909 in seiner Polemik gegen entsprechende Thesen Aleksandr Bogdanovs schrieb: „Und dieser unaussprechliche Unsinn wird für Marxismus ausgegeben! Lässt sich etwas denken, was im stärkeren Maße steril, tot, scholastisch wäre als diese Aneinanderreihung von biologischen und energetischen Schlagworten, die auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften absolut nichts geben und nichts geben können?“13 Die Aneinanderreihung von Unsinn kann aber durchaus eine unterhaltsame literarische Form bilden, wie im Folgenden gezeigt wird.
13
Lenin, Vladimir I. [Lenin, W. I.]: Materialismus und Empiriokritizismus (1909), Peking 1973, S. 442.
186 | Kommunistische Pinkertons
4 .1 Poet i k der Kinema togra p hie – Me d i a le M o d i f i ka ti o n e n des Aben teue rgenres Die ansteckende Wirkung der Leinwand, die die Gefühle des Publikums unmittelbar aufrüttelt und ihm gleichzeitig die Verhaltensweisen vorgibt, nach denen es zu handeln vermag, ließ das Kino seit seinen Anfängen faszinierend und bedrohlich zugleich erscheinen.14 Faszinierend war eine solche Publikumsreaktion im sowjetischen Kontext insoweit, als es genau diese suggestive Wirkung war, die man sich von der „wichtigsten aller Künste“ (Vladimir Lenin) beim propagandistischen Einsatz für die Sache der Revolution erhoffte. Bedrohlich hingegen erschien sie deshalb zu sein, weil es nicht die feinen Sinne der Liebhaber der Hochkultur und des differenzierten Geschmacks waren, die hier aktiviert wurden, sondern die vermeintlich archaischen, „barbarischen“ Emotionen der entfesselten Leidenschaft und der „explodierenden“ Gewalt, die schon Kornej Čukovskij mit Abscheu als ein Kennzeichen der vom Kino inspirierten Pinkertonovščina diagnostiziert hatte. Wo aber Čukovskij technisches Medium und primitive Gewalt als identische Verfallssymptome beklagte, hofften die Bolschewiki nichtsdestotrotz, durch das moderne Medium auch eine Erziehung des „neuen Menschen“ im Sinne der revolutionären Sache zu erreichen. In diesem Zusammenhang diskutierte man in der Kinokritik genauso wie im Bereich der Literatur die Frage, ob das Abenteuergenre für die sowjetische Kinoproduktion adaptiert werden könne oder ob seine ideologischen Implikationen und künstlerischen Kompositionsprinzipien einer solchen Adaption entgegenständen. Denn anfangs übernahm man inspiriert durch die entsprechenden literarischen Vorlagen erfolgreich die Muster amerikanischer Abenteuerfilme für die Darstellung des Bürgerkriegs. Diesen Versuchen, einen eigenen sowjetischen Abenteuerfilm nach dem Muster von Perestianis Verfilmung der Roten Teufelchen (1923) zu schaffen, standen aber von Anfang an auch parodistische oder kritische Werke gegenüber, die das Genre lediglich noch als zu entblößendes, anachronistisches Erzählmuster gelten ließen. Eine solche Haltung schlug sich auch in der formalistischen Kritik nieder, die die intermediale Konkurrenz zwischen Film und Buch vor allem als ein Verhältnis der medialen Sukzession vom Roman- zum Kinogenre bewertete und das Abenteuergenre mit der Entwicklung der Montagetechnik auch in diesem Medium für anachronistisch erklärte. Die Folge dieser weitgehenden Ablehnung sowohl unter den Filmschaffenden als auch unter den Kritikern und Theoretikern war, dass das „kinematographische“ Abenteuergenre im Film keine der kommunistischen Pinkertonovščina in der kommerziellen Massenliteratur der NÖPPeriode vergleichbare Entwicklung durchmachen konnte. Stattdessen aber erfuhr es in einer Rückübertragung filmischer Konstruktionsprinzipien in die Literatur als der so genannte „kinematographische Roman“ ein sekundäres Fortleben, das die Medienkonkurrenz explizit als ein poetisches Verfahren der Abenteuerliteratur herausarbeitete. Dieses Zusammenspiel von sowjetischen Abenteuerfilmen, formalistischer Kritik und „kinematographischen Romanen“ soll hier im Weiteren etwas genauer dargestellt werden. 14
Vgl. Tsivian, Yuri: Early Cinema in Russia and its Cultural Reception, London u.a. 1994, S. 3ff.
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Der sowjetische Abenteuerfilm verdankte sein Entstehen sicherlich auch dem Interesse der teilweise kommerziell arbeitenden einheimischen Filmstudios, am die ganzen zwanziger Jahre über anhaltenden Erfolg westlicher Melodramen und Abenteuerfilme an den Kinokassen zu partizipieren.15 So begann man ab 1923 Abenteuerfilme zu drehen, 1924 bis 1929 kamen jährlich bis zu einem Dutzend Neuproduktionen in die Kinos, ehe ab 1930 das Genre weitgehend unterdrückt wurde.16 Diese heutzutage bis auf wenige Ausnahmen verschollenen Filme entstanden nicht nur in den zentralen Studios Moskaus und Petrograds bzw. Leningrads, sondern mehr als die Hälfte auch in Baku, Odessa, Jalta oder Tiflis.17 So kam auch der einzige Abenteuerfilm, der „die amerikanischen Kassenschlager um viele Längen“ überrundende,18 Perestianis Verfilmung von Die roten Teufelchen, 1923 aus Georgien. Ähnlich wie im Bereich der Unterhaltungsliteratur handelten die Filmstreifen, die man dem Genre zuordnen konnte, fast durchweg von Begebenheiten zur Zeit des Bürgerkriegs. Während die Kinokritik diesen Genreadaptionen im Anschluss an den Erfolg der Roten Teufelchen anfangs noch durchaus wohlwollend gegenüberstand,19 begann man schon 1925 „bestimmte schablonenhafte Formen“ (установленные штампованные формы) bei der Darstellung des Kampfes zwischen den Roten und Weißen zu bemängeln.20 Gegen Ende des Jahrzehnts nahm dann die Kritik an den „schlechten“ Adaptionen westlicher 15
So stellt die Zeitung Izvestija noch Ende 1929 ernüchtert über die einheimischen Filmproduktionen fest: „[...] fast alle Filme halten sich nicht länger als eine Woche im Hauptkinosaal, wohingegen die ausländischen Streifen [...], ungeachtet der offensichtlichen Schundhaftigkeit ihrer Sujets, wochenlang nicht aus den Programmen der Kinotheater verschwinden.“ („[...] почти все картины едва выдерживают на первом экране неделю, в то время как иностранные ленты [...], несмотря на очевидную бульварность своих сюжетов, не сходит неделями с программы кинотеатров.“) Volkov, N.: Sovetskie kinofil’my (Kinoobzor), in: Izvestija (18.11.1929), S. 5.
16
Vgl. allgemein zu einigen Abenteuerfilmen jener Jahre Youngblood, Denise J.: Movies for the Masses. Popular Cinema and Soviet Society in the 1920s, Cambridge 1992, S. 76–80; sehr wertend ohne Berücksichtigung des zeitgenössischen Horizonts vgl. auch Belova, L. I.: Osobennosti razvitija sovetskogo priključenčeskogo fil’ma (Uroki istorii), in: Trošin, A. S. (Hg.): Priključenčeskij fil’m. Puti i poiski, Moskva 1980, S. 5–15.
17
Vgl. die Einträge in Mačeret: Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1.
18 Toeplitz:
Geschichte des Films. Band 1, S. 197f., 205.
19
Vgl. die Rezensionen von Aleksandr Razumnyjs Film Die Bande Vater Knyšs (Банда батьки Кныша, 1924) und Česlav Sabinskijs Film Der Wind (Ветер, 1926) G., B.: „Banda bat’ki Knyša“ (Kino), in: Pravda (04.06.1924), S. 7; Ermolinskij, C.: „Veter“ („Ošibka Vasilija Guljavina“) (Teatr i kino), in: Pravda (04.11.1926), S. 6; Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 51–52, 127–128; Film Banda bat’ki Knyša. Reg. Aleksandr Razumnyj. Goskino (1-ja f-ka), SSSR 1924.
20
Diese „Schablonen“ beschreibt die Pravda in einer Rezension von Boris Čajkovskijs verschollenem Film Im Hinterland der Weißen (В тылу у белых, 1925) folgendermaßen: „[...] der Kampf des Häufchens Untergrundkämpfer wird erschwert durch den unausweichlichen Zyklus an Abenteuern, Misserfolgen, Verfolgungen, Überfällen, Fluchten usw. usf.“ („[...] борьба кучки подпольщиков, осложненная неизбежным циклом приключений, провалов, преследований, налетов, побегов и пр., и пр.“) [Anon.]: „V tylu u belych“ (Kino), in: Pravda (18.02.1925), S. 8; [Anon.]: Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 83–84.
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Abenteuermuster massiv zu, die auf Kosten der sozial-politischen Glaubwürdigkeit21 nur den falschen und vulgären Geschmack des Spießbürgers bedienten.22 Die Vorbehalte gegenüber dem vulgären Geschmack des Spießbürgers bestanden jedoch nicht nur in der Filmkritik, sondern prägten von Anfang an auch das Selbstverständnis der verantwortlichen Kulturpolitiker und prominenter Filmemacher, denen es um eine eigenständige „avantgardistische“ Entwicklung des sowjetischen Kinos ging, das sich deutlich von den niederen Boulevardformen ausländischer Produktionen abgrenzen sollte. So war es kein Zufall, dass gleich zwei Filme, die nach dem für die Filmpolitik zentralen XIII. Parteitag der RKP(b)23 im Sommer und Herbst 1924 in die sowjetischen Kinotheater kamen, sich vor allem durch eine Parodie beziehungsweise Polemik gegen das Abenteuergenre auszeichneten: Lev Vladimirovič Kulešovs (1899–1970) Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiki (Необычайные приключения мистера Веста в стране большевиков) und Jakov Aleksandrovič Protazanovs (1881–1945) Aėlita. Kulešovs satirische Komödie, mit der sich der Vordenker der Montage auch als Regisseur einen Namen machte, spielt mit den populären Vorstellungen und Stereotypen, die sich der Westen von der jungen Sowjetunion machte, aber auch mit den umgekehrten Klischees, die in Russland von den kapitalistischen Vereinigten Staaten existierten.24 In dem Film besucht der Präsident des YMCA, Mr. West, mit Sternenbanner, Pelzmantel und reichlich Dollarscheinen bestückt und von Cowboy Džeddi [Jeddy] bewacht das Land der vermeintlichen „Barbaren“, wo er in die Hände einer Betrügerbande fällt, die jedes Klischee zu ihrem Vorteil auszunutzen weiß. Die in dem Film aufgerufenen Stereotype, deren Instrumentalisierung und Brechung komische Effekte erzielen, beruhen aber auf typischen Narrativen der Abenteuerliteratur über den aufgeklärten Weißen Mann, der in eine rückständige Weltgegend gelangt und dank seiner materiellen und intellektuellen Überlegenheit sich auch gegen hinterhältige und verschlagene „Barbaren“ durchsetzen kann.25 Mr. West im Land der Bolschewiki erlebt eine in diesem Sinne „verkehrte“ Welt – sein in illustrierten Zeitschriften gewonnenes „koloniales Wissen“ stellt sich 21
Vgl. die Rezensionen zu Aksel’ Lundins P.K.P. (Piłsudski kaufte Petljura) (П.К.П. [Пилсудский купил Петлюру], 1926), Georgij Stabovojs Der Waldmensch (Лесной человек, 1928) und Leonid Molčanovs Die Kiefern rauschen (Сосны шумят, 1929), Volkov, N.: Po Moskovskim ėkranam (Kinoobzor), in: Izvestija (25.01.1929), S. 3; Ders.: Po Moskovskim ėkranam (Kinoobzor), in: Izvestija (03.08.1929), S. 5; Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 157, 207, 344–345.
22
Vgl. die Rezensionen zu Sergej Komarovs Film Die Millionen-Puppe (Кукла с миллионами, 1928) und Kulešovs Der glückliche Kanarienvogel (Веселая канарейка, 1929), I., L.: „Kukla s millionami“ (Mežrabpom-fil’m), in: Izvestija (06.01.1929), S. 4; Barančikov, P.: Po kinoėkranam (Teatr – muzyka – kino), in: Izvestija (24.03.1929), S. 5; Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 1, S. 271–272, 317.
23
Vgl. Hierzu Youngblood: Movies for the Masses, S. 16f.
24
Vgl. den Film Neobyčajnye priključenija mistera Vesta v strane bol’ševikov. Reg. Lev Kulešov. Goskino, SSSR 1924.
25
Ein „Abenteurer“ (авантюрист) mit dem auf exzessiven Alkoholkonsum verweisenden Rufnamen „Die Kanne“ (Жбан), ein einäugiger Bandit und eine „Gräfin“ als sexuell verführerische Femme fatale figurie-
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als reine Propaganda heraus, das von reaktionären und skrupellosen Banditen missbraucht wird. Das am Ende des Films gezeigte „wirkliche“ Sowjetrussland entbehrt hingegen jeder Exotik und Ironie und triumphiert ausgerechnet durch das zweite große Propaganda- und Aufklärungsmedium der Sowjetunion neben dem Film – durch das Radio.26 Die Kompositionsprinzipien des (kolonialen) Abenteuerromans im Stile von Jules Vernes Voyages Extraordinaires werden hingegen als ein anachronistisches Unterfangen vorgeführt, das nur noch zur Parodie taugt. Eine ähnliche Intention verfolgte auch Protazanovs mit großer Spannung erwartete Verfilmung von Tolstojs Marsroman, handelte es sich doch um das erste Werk eines der prominentesten Filmregisseure der Vorkriegszeit, das dieser nach seiner Rückkehr aus der Emigration 1923 drehte.27 Zudem hatte der Film schon ein halbes Jahr vor seiner Premiere durch Zeitungsanzeigen von sich Reden gemacht, die den Film als „ersten russischen Streifen“ anpriesen, „der nicht hinter den besten ausländischen Inszenierungen“ zurückbleibe,28 und unter dem seltsamen Kryptogramm „Anta... Odeli...Uta“ die Nachricht verbreiteten: „Seit einiger Zeit empfangen die Radiostationen der Welt unverständliche Signale...“.29 Entsprechend nimmt die Filmhandlung am 4. Dezember 1921 um 18:27 Uhr mitteleuropäischer Zeit ihren Anfang, als zeitgleich von Militärfunkern in einem asiatischen Land, von weißen Kolonialherren in der arabischen Wüste und von Moskauer Funkern die „seltsame Botschaft“ empfangen wird.30 Doch bis auf den frisch verheirateten Hobbyraketenbauer und im Moskauer Telegraphenamt beschäftigten Ingenieur Los’ (gespielt von Nikolaj Ceretelli) beachtet niemand den Funkspruch. Geplagt von Eifersucht auf seine Ehefrau Nataša, beginnt Los’ davon zu träumen, dass die unverständliche Botschaft von einer „Herrscherin des Mars“ mit Namen
ren in dem Film als genau solche „Barbaren“, die mit den Kapitalisten aus dem Westen ihr Narrenspiel treiben und so die koloniale Ordnung auf den Kopf stellen. 26
Am Ende wird der vorurteilsbeladene Westler von einem wahren Bolschewiken befreit, der ihm als Errungenschaften der Revolution das urbane Moskau mit Bolschoi-Theater, Fest-Paraden und einer neuen Radiostation präsentiert.
27
Gleichzeitig stellte Aėlita die erste Produktion des als staatlich-private Aktiengesellschaft neu gegründeten Filmstudios „Mežrabpom-Rus’“ dar, das ausländisches Kapital für das sowjetische Kino akquirieren und gleichzeitig außerhalb des Landes Propaganda für die Sowjetunion machen sollte. Ausführlich zu dem Film und seiner Rezeption siehe die mit einem Einstellungsprotokoll versehene Monographie von Huber, Katja: „Aėlita“ – als morgen gestern heute war. Die Zukunftsmodellierung in Jakov Protazanovs Film, München 1998. Vgl. auch Christie, Ian: Down to Earth. Aelita relocated, Taylor, Richard; Christie, Ian (Hg.): Inside the Film Factory. New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London, New York 1991, S. 80–102; Horton, Andrew J.: Science Fiction of the Domestic. Iakov Protazanov’s Aelita, in: Central Europe Review 2:1 (2000), http://www.ce-review.org/00/1/kinoeye1_horton.html (30.10.2009).
28 „Первая русская лента, не уступающая лучшим заграничным постановким.“
Anzeige in Novyj zritel’,
39 (1924), S. 16. 29 „С некоторого времени радио-станции всего мира стали получать непонятные сигналы...“
vom September 1924, vgl. Christie: Down to Earth, S. 83. 30
Vgl. den Film Aėlita. Reg. Jakov Protazanov. Mežrabpom-Rus’, SSSR 1924.
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Aėlita an ihn gerichtet sein könnte.31 Während die im kubo-futuristischen Dekor gehaltenen Marsszenen diese Träumereien zu einer Parallelhandlung entfalten, beschreibt der irdische Handlungsstrang gerade das Scheitern solcher romantischen Liebesabenteuer in „exotischen“ Welten. Nicht nur das durch westliche Melodramen (Nataša) und Abenteuergeschichten (Los’) ideologisch fehlgeleitete Ehepaar scheitert bei der Rückkehr in ein geordnetes Alltagsleben nach dem Ende des Bürgerkriegs, auch der schwärmerische Bürgerkriegsheld und Rotarmist Gusev, der skrupellose Betrüger Ėrlich und der als ehrgeiziger Pinkerton-Nachahmer auftretende Privatdetektiv Kravcov (gespielt von Igor’ Il’inskij) repräsentieren in diesem Sinne den missglückten Versuch, westliche Abenteuerhelden für die sowjetische Wirklichkeit zu adaptieren. 32 Erst nach dem fehlgeschlagenen Eifersuchtsmord an Nataša kommt der weltfremde Ingenieur zur Besinnung und verbrennt seine Raketenpläne mit den an seine wieder gefundene Ehefrau gerichteten Worten: „Genug geträumt – auf uns alle wartet eine andere, wirkliche Arbeit.“33 Doch während Kulešovs Komödie im Sommer noch weitgehend positiv rezensiert worden war, fiel das Urteil bei Protazanovs Genreparodie im Spätherbst desselben Jahres schon sehr viel zwiespältiger aus, die man eher als missglückten Adaptionsversuch interpretierte. „Der ‚auf amerikanische Weise‘ erdachte Trick hat eine sehr sehr russische, gewollte Auflösung bekommen./ Entsprechend ist auch der ganze Film. Die durch gute Reklame und die thematische Verbindung zu dem populären Roman angeheizten großen Erwartungen haben sich nicht erfüllt. „Aėlita“ ist ein vollkommen gewöhnlicher spießbürgerlicher Kinofilm geworden.“34
31
Im Roman ist Los’ hingegen ein junger Witwer aus Petrograd, der sich nach neuer Liebe sehnt: Wo bei Tolstoj der reale Marsflug eine erfolgreiche Trauerarbeit des Helden darstellt, flüchtet sich in Protazanovs Film Los’ aus seinen Eheproblemen in eine marsianische Fantasiewelt.
32
Da ist zum einen Nataša (gespielt von Valentina Kuindži), die anfangs in einer Moskauer Sammelstelle für Rückkehrer aus dem Bürgerkrieg, später in einem Kinderheim arbeitet und abends häufig vergeblich auf ihren Mann wartet, der sich lieber seinen Raketen- und Marsträumen hingibt. Dann gibt es den Betrüger Ėrlich (gespielt von Pavel Pol’) und seine Ehefrau (N. M. Tret’jakovoa), die mit Charme und krimineller Energie sich auch in der neuen Zeit bestens arrangieren. Als Ėrlich (der sich als Schwester seiner Frau ausgibt) bei Los’ und Nataša in der Wohnung einquartiert wird, beginnt er offensiv Nataša zu umwerben. Demgegenüber repräsentiert der verletzte Rotarmist Gusev (gespielt von Nikolaj Batalov) einen Revolutionshelden, der als Liebling der Frauen Akkordeonlieder über die Liebe und den Krieg singt, aber nach einer spontanen Heirat mit der Krankenschwester Maša (gespielt von Vera Orlova) Schwierigkeiten hat, sich im Zivilleben zu Recht zu finden. Vgl. Film Aėlita.
33 „Довольно мечтать – всех нас ждет другая, настоящая работа.“ Vgl. 34
Huber: Aėlita, S. 117.
„‚По-американски‘ задуманный трюк получил очень и очень российское, коекакское, разрешение. Та-
кова и вся фильма. Взвинченные хорошей рекламой и тематической связью с популярным романом большие ожидания не оправдались. ‚Аэлита‘ оказалась обыкновеннейшей о б ы в а т е л ь с к о й кинокартиной.“ [Anon.]: „Anta... odĖLI... uTA“ (Ėkran po kino-fil’man), in: Novyj zritel’ 39 (1924), S. 15.
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Selbst die parodistische Vermischung von Melodrama und Abenteuer lehnte man als eine „verschimmelte spießbürgerliche Romantik gemischt mit einer äußerst ungezügelten Fantastik“ aus ideologischen Gründen ab.35 Vor allem aber vermisste die Kritik den „ideologischen Gehalt“, der nicht nur eine Abgrenzung vom Alten thematisiert, sondern auch eine positive Perspektive für die Zuschauer zeichnet.36 Die Folge war, dass der Film aufgrund der politischen Vorbehalte ein Exportverbot bekam und bald als misslungene Romanadaption in den Kinoarchiven verschwand.37 Als daher Kulešov ein Jahr später mit dem schon erwähnten Todesstrahl (Луч смерти, 1925) einen Abenteuerfilm im Stile der „revolutionären Romantik“ drehte, in der eine Wunderwaffe die bislang gescheiterte Revolution auch im kapitalistischen Ausland befördert, hatte dieses Werk zwar großen Erfolg beim Publikum, stieß aber in der Kritik auf einhellige Ablehnung.38 Das gleiche gilt für die im Stile von Kulešovs Ungewöhnliche Abenteuer des Mr. West gedrehte Abenteuerkomödie Miss Mend. Die Abenteuer dreier Reporter (Мисс Менд. Приключения трех репортеров, Reg. Fedor Ocep und Boris Barnet, 1926), die ungeachtet der Distanzierung von Mariėtta Šaginjan und negativer Kritiken zum kommerziell erfolgreichsten Film des Studios Mežrabpom-Rus’ bis zu dessen Auflösung 1936 wurde.39 Diese vor allem ideologisch begründeten Kritiken in der zentralen Presse an den Versuchen, den „kommunistischen Pinkerton“ für das sowjetische Kino in unterschiedlichen Formen zu adaptierten, ergänzten sich mit den Vorbehalten gegen das Genre, die von Seiten formalistischer Film- und Literaturtheoretiker in ihren Fachorganen erhoben wurden. Aus deren Sicht stellten solche Adaptionsversuche ein vergebliches Unterfangen dar. Galt das Abenteuergenre doch – wie auch von Šklovskij in seinen Ausführungen zum Roman der Geheimnisse (Abschnitt 3.1) angesprochen – als eine absterbende Literaturgattung, die heutzutage nur noch automatisierte,
35 „Заплесневелая обывательская романтика перемешена с самой необузданной фантастикой.“ Tal’vin,
B.: Aėlita (Rabočie teatry i kluby), in: Žizn’ i iskusstvo 48 (1924), S. 13. Anfangs gab es auch Überlegungen, diese parodistischen Züge des Films noch durch Zeichentrickszenen zu unterstreichen, was Protazanov aber ablehnte. Aus den Skizzen ist dann der erste sowjetische Science-Fiction-Zeichentrickkurzfilm Die Interplanetare Revolution (Межпланетная революция) entstanden, der einen Monat vor Aėlita seine Premiere hatte. Vgl. Fevral’skij, A.: „Mežplanetnaja revoljucija“ (Novye fil’my), in: Pravda (12.08.1924), S. 7; Lewis, Cathleen S.: From the Cradle to the Grave. Cosmonaut Nostalgia in Soviet and Post-Soviet Film, in: Dick, Steven J. (Hg.): Remembering the Space Age: Proceedings of the 50th Anniversary Conference. Proceedings on the 50th Anniversary Conference, Washington DC 2008, S. 253–270, S. 259f. 36
G., B.: Aėlita (‚Rus’’) (Teatr i kino), in: Pravda (01.12.1924), S. 5.
37
Vgl. Christie: Down to Earth, S. 80ff.
38
Vgl. den Film Luč smerti. Reg. Lev Kulešov. 1-ja fabrika Goskino, SSSR 1925; Grabar’, Leonid: Luč smerti, stačka i udivitel’noe vraščenie tov. Nikolaja Lebedeva, in: Oktjabr’ 5 (1925), S. 139–145.
39
Vgl. Gusman, Boris: „Miss Mend“ (Kino), in: Pravda (12.11.1926), S. 8; [Anon.]: 1926 god v kino; Turovskaya, Maya: The 1930s and 1940s. Cinema in Context, in: Taylor, Richard; Spring, Derek (Hg.): Stalinism and Soviet Cinema, London 1993, S. 34–53, S. 45.
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„abgelebte Boulevardmuster“40 repräsentiere.41 Zwar schrieb man dem Abenteuerroman das Verdienst zu, anfangs wesentlich zur Entwicklung einer eigenständigen Filmsprache, eines „ursprünglichen Filmgenres“ beigetragen zu haben, entsprachen doch die dynamische Fabel und „das Zusammenstoßen einiger weniger, klar umrissener, stabiler Maskenfiguren ganz den Möglichkeiten des Films“, wie Adrian Ivanovič Piotrovskij (1898–1937) 1927 schrieb.42 Durch diesen Medienwechsel habe das Kino dem Abenteuergenre nicht nur eine Wiedergeburt ermöglicht,43 die gattungsspezifischen Kompositionsprinzipien seien vielmehr auch „unbestreitbar“ von „gewaltiger historischer Bedeutung“ für die Filmentwicklung gewesen, alleine deshalb, „weil gerade diese Gattung den Grundstein für eine originelle Komposition des Filmmaterials legte.“44 Die mediale Besonderheit aber „dieser scharf abgegrenzten Gattung definierte sich in erster Linie durch die Originalität der ständig neuen akrobatischen Kunststücke, der Montageteile von Aufnahmen äußerlicher Bewegung“,45 die laut Piotrovskij dem „grundlegenden Kompositionsfaktor“ von „Katastrophe / Verfolgung / Rettung“ folgte.46 Aus diesem Medienwechsel von der Literatur in das Kino im frühen Stummfilm zogen formalistische Filmtheoretiker zwei Konsequenzen. Erstens erklärten sie, dass der Film in den für das Genre typischen Konstruktionsprinzipen der Literatur prinzipiell überlegen sei, weswegen eine sowjetische Erneuerung des Abenteuergenres im Medium der Schrift ausgeschlossen sei. So 40
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148 („[...] обветшавшим и бульварным образцам [...].“ Ders.: K teorii kino-žanrov, S. 162).
41
Allerdings hatte Šklovskij dieses Absterben des Abenteuergenres noch 1923 lediglich für das Medium der Literatur diagnostiziert, nicht für das „außerhalb der Kunst“ stehende Kino, vgl. Šklovskij: Literatura i kinematograf, S. 25ff.
42
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148 („Между тем развитие фабулы на сцеплении внешне-динамических кусках, на сталкивании немногих отчетливо очерченных и устойчивых масок вполне отвечало возможностям кинматографии [...].“ Ders.: K teorii kino-žanrov, S. 161f.).
43
So schreibt auch Boris Ėjchenbaum 1926 zum Verhältnis von Literatur und Film: „Der Abenteuerroman schlechthin wurde nicht in der Literatur wiedergeboren, wie das manche Leute sich erhofft hatten, sondern auf der Leinwand [...]“ („Авантюрный роман в целом возродился не в литературе, как надеялись многие, а на экране [...]“), Ėjchenbaum, Boris: Literatura i kino (1926), in: Ders.: Literatura. Teorija, Kritika, Polemika, Leningrad 1927, S. 296–301, S. 298 (Ders.: Literatur und Film (1926), in: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 179–185, S. 182). Zur Theorie der Filmgattungen, S. 149 („Огромное историческе значение авантюрной фильмы [...] бесспорно [...] уже по одному тому, что именно этот жанр положил начало своебразной композиции кино-материала.“ Piotrovskij: K teorii kino-žanrov, S. 163).
44 Piotrovskij:
45
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148 („Своеобразие [...] этого резко отграниченного жанра определялось в первую и последнюю очередь оригинальностью беспрерывно обновляемых акробатических трюков, монтажных кусков внешнего движения [...].“ Piotrovskij: K teorii kinožanrov, S. 162).
46
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 150 („[...] эта смысловая группа – ‚катастрофа – погоня – спасение‘ и стала основным [...] композиционным фактором“. Piotrovskij: K teorii kino-žanrov, S. 164).
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hatte man sich bereits im Januar 1924 auf einer Diskussion des „Komitees zur Erforschung der zeitgenössischen Literatur“ (комитет по изучению современной литературы) mit dem Genre auseinandergesetzt, an der unter anderem Aleksej N. Tolstoj, Jurij Tynjanov, Il’ja Ėrenburg und Viktor Šklovskij teilnahmen.47 Auf ihr erklärten sowohl der Literaturkritiker Il’ja Aleksandrovič Gruzdev (1892–1960) als auch der Schriftsteller Veniamin Aleksandrovič Kaverin (1902–1989) in ihren Eröffnungsvorträgen dezidiert eine Erneuerung der zeitgenössischen Literatur mit Hilfe des Abenteuerromans für unmöglich, wie sie in den Adaptionen und Parodien des „kommunistischen Pinkertons“ versucht wurden.48 Im Anschluss an die Debatte erklärte Boris Ėjchenbaum dann Anfang desselben Jahres in seinem Grundsatzaufsatz Auf der Suche nach einem Genre (В поисках жанра, 1924) diese Versuche für endgültig gescheitert und forderte, man solle sich gerade denjenigen Genres zuwenden, „wo das Wort nicht durch den Kinematographen zu ersetzen“ sei („где слово не заменить кинематографом“)49: „Unlängst schien es noch, dass alles daran läge, einen Abenteuerroman zu schaffen, den die russische Literatur bisher noch nicht kannte. Auf diesen Gedanken kam man insbesondere aufgrund der massenhaften Begeisterung für den Kinematographen und für übersetzte Romane vom Abenteuertyp. [...] Was jedoch das Kino anbelangt, stellt sich eine Konkurrenz als hoffnungslos dar. Es hat das Genre des Abenteuerromans offensichtlich endgültig der Literatur entrissen, und es bleibt nur, diese Art des Romans auch offiziell dem Kino zur Verfügung zu stellen.“50
Nachdem man so das Genre „offiziell“ dem Medium Film übergeben hatte, zog man dann eine zweite Konsequenz aus der Filmentwicklung der letzten Jahre, und zwar, dass das Abenteuergenre auch für dieses Medium zu einer automatisierten und absterbenden Form geworden sei. So schrieb Adrian Piotrovskij in dem von Boris Ėjchenbaum 1927 herausgegebenen programmatischen Sammelband zur sowjetischen Kinoästhetik Poetik des Kinos (Поэтика кино) in Bezug auf eine Theorie der Kinogenres:
47
Vgl. G., A.: Diskussii o sovremennoj literature, in: Russkij sovremennik 2 (1924), S. 273–278.
48 Gruzdev argumentierte, dass dessen Sujet „auf einem Maximum an Handlung und einer extremen Verein-
fachung der Motivierung“ („На максимуме действия и на крайнем упрощении мотировки) beruhe, was nicht nur zweifelsohne eine Konkurrenz mit dem Kino bedeute, sondern auch dazu führe, dass dieser „kinematographische Roman“ das „Sujet als eine spezifische Eigenschaft“ kultiviere („ Кинематографический роман культивирует сюжет как специфическое свойство“), vgl. ebd., S. 274.
49
Ėjchenbaum: V poiskach žanra, S. 231.
50 „Недавно казалось, что все дело – в создании авантюрного романа, которого до сих пор русская
литература почти не имела. На мысль об этом особенно наводило массовое увлечение кинематографом и переводными романами авантюрного типа. [...] Что же касается кино, то соперничество с ним безнадежно. Жанр авантюрного романа, повидимому, окончательно вырван им из литературы – остается официально передать в его ведение этот вид романа.“ Ėjchenbaum: V pois-
kach žanra, S. 229.
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„Die schrittweise Erschöpfung der Tricks, die Dechiffrierung der ‚Geheimnisse‘ des Kinematographen, die den an der Spitze des Uhrzeigers hängenden Abenteurern [...] allmählich den Kredit entzog, [...] mussten zu einer Automatisierung dieser einst blühenden Gattung führen.“51
Mit der „Verschiebung des Films auf die innere Dynamik der Montage“52, wie sie Sergej Ėjzenštejn mit seinem Panzerkreuzer Potemkin (Броненосец Потемкин, 1925) erfolgreich realisierte, habe der unwiederbringliche „Verfall der Abenteuergattung“ begonnen: „Es ist kein Zufall, dass diese Gattungen auch im sowjetischen Film, bei seinem scheinbar unerschöpflichen Reichtum an Material für heroische Abenteuer und seiner bewussten Orientierung auf den Abenteuerfilm nichts hervorbrachten außer LUČ SMERTI (Der Todesstrahl), der völlig epigonal war, und KRASNYE D’JAVOLJATA (Die roten Teufelchen), der ungeachtet seines großen Erfolges keine Gattung zu schaffen vermochte [...].“53
Neben den eingangs zitierten ideologischen Vorbehalten waren es aber vor allem solche filmund literaturtheoretisch begründeten Urteile, die auch bei den Filmschaffenden auf Resonanz trafen, hatte man doch den Anspruch, eine eigenständige, gegen den amerikanischen Boulevard und die kapitalistische Unterhaltungsindustrie gerichtete Kinoästhetik zu schaffen.54 Während das Abenteuergenre im Kino so innerhalb weniger Jahre schon lange vor der kulturpolitischen Wende Ende der 1920er Jahre sowohl von seiner ideologischen Ausrichtung her als aus ästhetischen Gründen von den meisten Kritikern als bourgeois und anachronistisch verworfen wurde, erlebte es in den weniger stark im Fokus der Kritik stehenden Printmedien eine neue Blüte (vgl. Kapitel 2). In der Belletristik sollte ihm eine ähnlich scharfe Ablehnung erst ein paar Jahre später bevorstehen. Bis dahin strafte die Literaturkritik es weitgehend mit Missachtung und erklärte es – wie die Theoretiker des Formalismus – für ein künstlerisch „degenerier51
52
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148 („Постепенное исчерпание трюковых возможностей, дешифровка ‚тайн кинематографии‘, лишавшая мало-по-малу кредита авантюристок, подвешенных на кончике часовой стрелки [...] должны были привести к автоматизации этот цветущий некогда жанр.“ Piotrovskij: K teorii kino-žanrov, S. 162). Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148; „[...] передвижка кино к внутренней динамике
монтажа [...]“, Piotrovskij: K teorii kino-žanrov, S. 162
53
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148 („Не случайно и то, что и в советском кино, при неисчерпаемом, казалось бы, богатстве материала героических приключений, и при сознательной установке на авантюрную фильму, жанр этот не дал ничего, кроме вполне подражательного ‚Луча смерти‘ и большой кинематографической удачи ‚Красных дьяволят‘, при всей этой удаче, и несмотря на нее, не сумевших создать жанра [...].“ Piotrovskij: K teorii kino-žanrov, S. 163).
54
So hatte die generelle Geringschätzung des Genres auch damit zu tun, dass in den ersten Jahren nach der Revolution vor allem jüngere, aus dem Theater kommende Regisseure und Akteure die Filmproduktion in Moskau und Petrograd dominierten, denen es gerade um eine experimentelle und kinematographische Fortentwicklung des rein auf äußere Effekte und eine oberflächliche Belustigung zielenden amerikanischen Kinos ging. Vgl. ebd., S. 198ff.
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tes“ Boulevardmuster, das sogar als Selbst-Parodie sich schon überlebt habe (vgl. Kapitel 3). Nur wenige Kritiker glaubten in der „Wiedergeburt“ des Genres durch die Kinematographie auch einen produktiven „Nebeneffekt“ für die „kommunistischen Pinkertons“ zu erkennen. So hob einer der ersten Rezensenten von Jim Dollars Mess-Mend-Serie die dort angewandten „kinematographischen“ Verfahren als gelungenes Merkmal dieser „Literatur der Revolutionsperiode“ hervor: „Seinerzeit wurden die Verfahren der Detektiv- und Abenteuernovelle von den Meistern des Kinos übernommen [...] Heute gibt es ein umgekehrtes Phänomen: Die Technik des Filmszenariums beginnt die alte Tradition der Novelle der ‚Welt der Abenteuer‘ oder der Fünfkopekenausgaben Pinkertons zu beeinflussen. Und das Interessanteste an dieser umgekehrten Beeinflussung ist die Tatsache, dass die vom Umfang her kurze ‚Pinkerton‘-Novelle, indem sie sich am Film orientiert (sechs Serien, vierzig Teile!), sich zu einem Roman mit einer komplizierten Knüpfung der einzelnen Motive und Situationen ausgewachsen hat.“55
Tatsächlich war Šaginjan alias Džim Dollar nicht die Einzige, die die auf dynamische Handlung und schnelle Szenenwechsel angelegte „kinematographische“ „Technik des Filmszenariums“ mit einer „komplizierten Verknüpfung einzelner Motive und Situationen“ verband. Allerdings waren diese in anderen Werken wie beispielsweise denen von Zuev-Ordynec, Auslender oder Bljachin von der Kritik nicht als solche, auf intermediale Rezeptionsprozesse zurückgehende Erzählverfahren identifiziert worden. Auch ist es fragwürdig, ob solche zeitgenössischen Reflexionen sich bei genauerem Hinsehen bestätigen lassen. Die vermeintlich „kinematographischen“ Verfahren sind vermutlich weniger auf den reziproken Einfluss des Kinos zurückzuführen als auf die der Abenteuerliteratur immer schon eigenen Erzähltechniken. Schaut man sich die medialen Spezifika an, bestand für die Literatur die Herausforderung eher darin, wie sie mit der „Originalität der ständig neuen akrobatischen Kunststücke“56 umgehen sollte, die vor allem dank Schnitttechnik und Kameraeinstellungen den Zuschauern Aktionen sichtbar machte und Perspektiven eröffnete, die nach menschlichem Ermessen unmöglich waren und mit dem bloßen Auge niemals so gesehen werden konnten. Zwar konnte die Literatur solche spektakulären Trickeffekte noch beschreibend nachvollziehen, aber niemals den Überwältigungseffekt von „echten“ Bewegungsbildern errei55 „В свое время приемы детективной и авантюрной новеллы были усвоены мастерами кинематографа
[...]. Ныне происходит обратное явление: техника фильмового сценария начинает влиять на старую
традицию новелл ‚Мира приключений‘ или пятикопеечных выпусков Пинкертона. И любопытнее всего в этом обратном влиянии тот факт, что небольшая по размерам ‚Пинкертоновская‘ новелла, ориентируясь на фильму (шесть серий, сорок частей!), выросла в роман со сложным сплетением отдельных мотивов и положений.“ K., N.: Džim Dollar. – Mess Mend ili Janki v Petrograde, in: Russkij
sovremennik 2 (1924), S. 286–287. Der Verweis auf „sechs Serien, vierzig Teile!“ bezieht sich auf die ersten sechs Hefte, die immer sechs bis sieben Unterkapitel beinhalteten. Es folgten noch drei weitere Hefte. 56
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 148.
196 | Kommunistische Pinkertons
chen.57 Das für die Leseimagination zentrale Moment unglaublicher Ferne eines Erfahrungshorizonts, der gerade außerhalb der eigenen Alltags- und Vorstellungswelt liegt, wird dem Zuschauer im Kino unmittelbar vor Augen gebracht, das Ungewöhnliche wird visualisiert, ist „geheimnisvoll“ höchstens noch von der technischen Seite des Filmtricks her.58 Indem der Zuschauer aber die Tricks und „Geheimnisse“ des Kinematographen mehr und mehr durchschaute, wie Piotrovskij schreibt, konnte dies in der Rezeption eine gewisse „komödiantische“ Entzauberung des Genres und damit des Fantastischen bewirken.59 So stellte der Medienwechsel keine schlichte Übertragung des Genres dar, sondern bewirkte auch eine Verschiebung in der „kulturellen Rezeption“, und zwar sowohl beim Zuschauer als auch beim Leser. Im Kino trat an die Stelle von einer „naiven“ unmittelbaren Überwältigung und Infizierung durch die Bilder ein eher reflektiert-distanziertes Konsumverhalten. In der Literatur hingegen bewirkte die Medienkonkurrenz, dass an die Stelle von einer bloßen, im Sinne der Formalisten „hoffnungslosen“ Imitation schneller Schnittfolgen und dynamischer Actionbilder durch eine motivationsarme, beschleunigte Handlungsführung immer häufiger eine gewissen Reflexion des Kinomediums trat. Die von der Kritik und auch in der Sekundärliteratur60 als typisch „kinematographische“ Verfahren identifizierten Erzähltechniken der Abenteuerhandlung erhielten eine ironische Doppelbödigkeit und signalisierten dadurch dem Leser eine gewisse Distanz zum Erzählten. So zeichneten sich gerade dezidiert „kinematographische Romane“ wie Keinerlei Zufälle (Ein diplomatisches Geheimnis) (Никаких случайностей (Дипломатическая тайна). Кинематог рафический роман, 1924) von Lev Veniaminovič Nikulin (Pseud. von Lev Vladimirovič
57
Denn alles Wunderbare und Fantastische war ja seit je her sprachlich darstellbar, funktionierte aber über die Leserimagination, nicht über Bildrepräsentation. Zur medialen Spezifik dieses Überwältigungseffekts der bewegten Schwarzweiß-Bilder und der zeitbedingten „kulturellen Rezeption“ des frühen russischen Kinos, vgl. Tsivian: Early Cinema in Russia and its Cultural Reception, S. 1ff..
58
Möchte man die mediale Differenz zwischen Kino und Literatur in der Terminologie von Tzvetan Todorov beschreiben, lässt sich beispielsweise in Bezug auf Jules Verne und H.G. Wells festhalten, dass die Attraktivität ihrer extraordinären Reisen und wunderbaren Erfindungen dadurch erzielt wurde, dass sie diese mit Hilfe von Erzählhaltungen, die „wissenschaftliche“ Argumentationsmuster imitierten, für den Leser „glaubhaft“ zu einem Sujet verknüpften. Im Film hingegen lag die Überzeugungskraft nicht in Narrationen, die das Wunderbare oder Unheimliche „rationalisierten“, sondern umgekehrt in überwältigenden „irrationalen“ Bildern, die das „technizistische Wunderbare“ (Simon Spiegel) vertraut machten. Vgl. zu Todorovs Definitionen des Fantastisch-Wunderbaren und Fantastisch-Unheimlichen, Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur (1968), Frankfurt a. M. 1992; zur medialen Differenz zwischen Kino und Film im Umgang mit Technik und dem Fantastisch-Wunderbaren ausführlich vgl. Spiegel, Simon: Wege der Weltdarstellung. Zu einer Theorie wunderbarer Filmgenres, in: Quarber Merkur 97/98 (2003), S. 225–278.
59
Piotrovskij: Zur Theorie der Filmgattungen, S. 149.
60
Vgl. Černjak: Fenomen massovoj literatury XX veka, S. 111–116.
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Ol’konickij, 1891–1967)61 oder Sergej Pavlovič Bobrovs (1889–1971) „Prosroman beschleunigten Typs“ Die Erfinder des Iditol (Изобретатели Идитола, 1923)62 nicht einfach durch eine bloße „Kultivierung“ des Sujets aus, sondern versuchten vielmehr eine dezidiert anti-kinematographische Neuausrichtung der Abenteuerliteratur. Denn der Einsatz kinematographisch wirkender Erzähltechniken hatte im Kontext der in Kapitel 2 analysierten Rekodierung des Exotischen vor allem die Funktion, den Konstruktionscharakter der dargestellten Alterität freizulegen. Oder anders formuliert, wenn etwas „wie im Kino“ aussah, dann signalisierte es, dass ein (ideologisch) verzerrtes Bild zu entlarven sei.63 „Kinematographisches Schreiben“ hieß unter diesen Wahrnehmungsbedingungen, die „automatisierten“ Kinobilder des Ostens zu entblößen. So beschreibt Nikulin in seinem Roman das dekadente Leben der Kolonialherren in Britisch-Indien beispielsweise wie folgt: „In den Bergen, dort, wo die Wege stellenweise mit Steinen aus Erdrutschen versperrt sind, küsst er die gezeichneten Lippen der Ausländerin einige Male, und plötzlich wirft er das Automobil zur Seite, um einem hinter einer Kurve auftauchenden Stein auszuweichen. So küssen sie sich, – mit einer Hand umarmt er sie, während seine andere Hand das Auto nach rechts und links wirft, den Steinen ausweichend. Als ob der Rolls-Royce betrunken ist von den Zärtlichkeiten der Küssenden. Dort, wo der Weg in einem Erdsturz endet, wendet er das Auto geschickt am Abhang entlang und sie kehren zurück in die Stadt, als die Nacht den goldenen Tag ohne Dämmerung ablöst.“64
61
Nikulin, Lev N.: Nikakich slučajnostej (Diplomatičeskaja tajna). Kinematografičeskij roman, Moskva, Petrograd 1924.
62
Der Roman erschien erstmals in der Wochenzeitschrift Krasnaja Niva (Die rote Flur) in Fortsetzungen, ehe er noch im gleichen Jahr als Die Spezifizierung des Idotol (Спецификация идотола) mit dem Untertitel „Prosroman beschleunigten Typs“ (Прозроман ускоренного типа) in Berlin bei Gelikon erschien. Vgl. Bobrov, Sergej: Izobretateli Idotola. Roman, in: Krasnaja Niva 35 (1923), S. 2–6; 36, S. 14–16; 37, S. 10– 11, 14–15; 38, S. 10–11, 14; 39, S. 11, 14–15; 40, S. 6–7, 10–11; 41, S. 14–15, 18; 42, S. 7, 10–12; 43, S. 10– 13; 44, S. 7, 10–15; Ders.: Specifikacija Iditola. Prozroman uskorennogo tipa, Berlin 1923. Zur Biographie Bobrovs vgl. Karacupa, Vitalij: Bobrov Sergej Pavlovič, in: Archiv fantastiki, http://archivsf.narod.ru/persona/bobrov_s.htm, 11.08.2006.
63
So heißt es beispielsweise in Adalis’ und Sergeevs Abenteuerroman zu dem ersten trügerischen Eindrücken vom „kolonialen“ Aussehen Taškents: „Die glutrot erhitzten Basare mit den lässigen Kaufleuten und listigen Käufern erinnerten an den kinematographischen Osten.“ („Раскаленные до-красна базары с небрежными купцами и хитрыми покупателями напоминали кинематографический Восток.“) Adalis; Sergeev: Abdžéd chvéz chjuttí, S. 12.
64 „В горах, там, где дорогу местами загромождают камни горных обвалов, он целует нарисованные
губы иностранки несколько раз, и вдруг автомобиль бросает в стoрону от вынырнувшего за поворотом дороги камня. Так они целуются, – одной рукой он обнимает ее, тогда как другая его рука бросает машину вправо и влево, объезжая камни. Рол-Ройс точно пьян от ласк любовников. Там, где дорога пропадает в обвале, он искусно поворачивает машину на обрыве, и они возвращаются в город, когда ночь сменяет золотой день без сумерек.“ Nikulin: Nikakich slučajnostej, S. 6.
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„Kinematographisch“ sind an dieser Szene die Motivik und der Erzählstil, insofern sie wie der Filmtrick die Kausalität außer Kraft setzen durch die Knüpfung unmöglicher Bildfolgen (von Küssen „betrunkene“ Autofahrt) und die Hervorhebung der literarischen „Gemachtheit der Figuren“ („gezeichnete Lippen“, rhetorische Wiederholungen). Kinematographisch ist aber auch die dargestellte Szenerie aus romantischer Landschaftskulisse, leidenschaftlichen Küssen und lebensgefährlicher Autojagd selber, in der Luxus (Rolls-Royce), Exotik (sonniger Berghang) und Liebesromantik vereint sind. Ganz ähnlich ist es auch mit dem von Meščerjakov in seinem Vorwort hervorgehobenen „Kinematographischen“ von Šaginjans Mess-Mend-Serie bestellt: Die Adaptionen „futuristischer“ Ding-Ästhetiken und karnevalesker Maskeraden sollen beim Lesen – wie in Abschnitt 3.2 dargestellt – eher „entautomatisierende“ Antipathien als identifikatorische Empathien bewirken. Genau wie in Keinerlei Zufälle soll das „falsche Leben“ entblößt werden, indem es fiktional „wie im Kino“ inszeniert wird.65 Geschichten oder Szenen, bei denen eine Identifikation des Lesers im Sinne einer affirmativen „Erziehung der Gefühle“ intendiert sind, zeichnen sich hingegen eher durch „retardierende“, die Imagination anregende Darstellungen bedrohlicher oder Furcht einflößender Situationen aus, wie es in der Entkleidungsszene zum Ende der ersten Mess MendSerie der Fall ist. So sind die filmähnlichen Verfahren im sowjetischen Abenteuerroman der zwanziger Jahre häufig kaum durch die Intrige oder Handlung motiviert, sondern vielmehr Mittel, um eine Distanz des Erzählers zu dem erzählten Geschehen zu markieren, das damit entweder als verwerflich (Handlungen der herrschenden Klasse), trügerisch (Exotik fremder Länder und Traditionen) oder utopisch (fantastische Begebenheiten) gekennzeichnet wird.66 In der literarischen Imitation ihrer Verfahren betreibt die Abenteuerliteratur eine Delegitimation und Entzauberung der Kinematographie, die als Manipulations- und Konditionierungstechnik menschlicher Gedanken lächerlich gemacht werden soll.67 65
Den „kolonialen Blick“ in Bezug auf Exotik, Autofahrten und Filmbilder problematisiert Michail Rozenfel’d noch einmal explizit 1929, allerdings schon in einem anderen diskursiven Umfeld, in dem es nicht mehr um die Rekonstruktion, sondern die völlige Eliminierung des Exotischen ging. Vgl. Rozenfeld’d, Michail: Ėkzotika 1929 goda. Očerk, in: 30 dnej 9 (1929), S. 56–62.
66
So heißt es in Viktor Gončarevs „Mikrobiologischem Scherz“ über eine Reise in die Mikrowelt an einer Stelle über die Abenteuer der Helden: „Wenn das alles in der Welt der großen Größen geschehen würde, in der normalen Welt, würde es ihren Köpfen von solchen ‚amerikanischen‘ Tricks schlecht ergehen, – selbst dem Kopf des allerbesten Kinotrickkünstlers...“ („Если бы все это происходило в миру больших величин, в нормальном миру, то от таких ‚американских‘ трюков не сдобровать любой голове, – пускай даже голове наипремированного кинематографического трюкиста...“) Vgl. Gončarov, Viktor:
Priključenija doktora Skal’pelja i fabzavuka Nikolki v mire malych veličin. Mikrobiologičeskaja šutka, Moskva u.a. 1924, S. 117. 67
Die gleiche Intention verfolgt auch die Publikation der „Kinoparodie“ Dead Men‘s Gold (1923) des kanadischen Humoristen Stephen Leacock (1869–1944) im Vsemirnyj sledopyt 1925, dem die Redaktion die Anmerkung voranstellt, dies sei eine „scharfe Satire auf die zeitgenössische amerikanische Kinematographie, die in der Jagd nach Sensation und Außergewöhnlichem nicht selten zu vollständigem Nonsens
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Zusammenfassend kann man festhalten, dass im Fall des Abenteuergenres keineswegs von einer „enthusiastischen“ oder unkritischen Aufnahme des neuen Mediums Kino durch die Literatur die Rede sein kann. Vielmehr haben die amerikanischen Filmadaptionen des Abenteuers und deren enormer Erfolg bei den Zuschauern in der Kinokritik die Vorbehalte gegen das Genre noch verstärkt. Die ideologische Ablehnung von Seiten der Filmschaffenden und Kritiker ergänzte sich dabei mit ästhetischen Vorbehalten seitens der Formalisten, was auch in der Genreliteratur ihren Niederschlag fand in einer spezifischen literarischen Aneignung des „Kinematographischen“. Dieses wurde häufig als ein durch das Kino stilistisch und motivisch abgenutztes Klischee gekennzeichnet, das für die Manipulation und Täuschung des Zuschauers aus dem Geist des Imperialismus mit Hilfe von Luxus, Exotik und Liebesromantik stand. Allgemeiner formuliert könnte man hinsichtlich der einleitend genannten Faszination für die manipulativen Kräfte des Kinos festhalten, dass das Medium der Schrift diese versuchte zu bändigen, indem man sie motivisch mit „automatisierten“ Vorstellungsbildern und stilistisch mit „abgestorbenen“ Erzählmustern verknüpfte und dadurch delegitimierte. Damit fand im Bereich der Abenteuerliteratur gewissermaßen eine gegenteilige Entwicklung statt zu der, wie sie Jurij Murašov – allerdings für eine etwas spätere Phase – in Hinsicht auf die Medienkonkurrenz zwischen Radio und Literatur beschreibt.68 Anstelle des Ideals einer Transmedialität, das „alle formal-ästhetischen und medialen Referenzen systematisch unterdrückt“ und „eine Tendenz zur Sujetfixierung befördert“,69 bewirkt im Falle der Abenteuerliteratur die Medienkonkurrenz eine reflexive Medialisierung bestimmter „klischeehafter“ Erzählverfahren. Diese reflexive „Verfremdung“ durch eine explizite Ausstellung der Medienproblematik zeichnete im Übrigen auch den Umgang der Abenteuerliteratur mit dem zweiten großen Massenmedium der zwanziger Jahre – dem Radio – aus. Auch hier geht es nicht um eine „magische“, „unmittelbar-orale“ „Teilhabe an der Welt“ oder eine „jegliche mediale Vermitteltheit und Repräsentation“ disqualifizierende Adaption des „elektrifizierten, widerstandfrei strömenden“ Worts,70 sondern um das genaue Gegenteil: Die buchstäbliche technische und physiologische Gemachtheit der elektrifizierten Gedanken und Worte entwickelte die auf Wissenschaft und Technik bezogene Abenteuerliteratur zu einem ihrer zentralen Themenfelder, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird.
führt“ („[...] острой сатирой на современную американскую кинематографию, которая в погоне за сенсацией и необычайностью доходит нередко до полной нелепости.“) Vgl. Leacock, Stephen [Likok, Stefan]: Zoloto mertveca. Kino-parodija [Dead Men’s Gold, 1923], in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 58– 65, 58. 68
Vgl. Murašov, Jurij: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre, in: Ders.; Witte, Georg (Hg.): Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, München 2003, S. 81–112.
69
Ebd., S. 100.
70
Ebd., S. 90, 111.
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4 .2 Di e El ektrifizierung der Ge d a nk e n – P sy c h o ma sc h i n e n und Tode s s tra hle n 7 1 7 2 „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Vladimir Lenin (1920)71 „Mein Gehirn hat sich bereits an die Elektrisierung gewöhnt wie an eine Droge.“ Aleksandr Beljaev (1938)72
Schaut man sich die populärwissenschaftlichen Zeitschriften der 1920er Jahre an, dann schrieben sie noch weitgehend die moderne und auch „koloniale“ Narration der menschlichen Unterwerfung und Bändigung der wilden und unzivilisierten Natur mit Hilfe wissenschaftlicher Innovationen und ingenieurstechnischer Erfindungen fort. Berichte über die ersten Wasserkraftwerke zur Elektrifizierung des Landes, neue industrielle Produktionsanlagen und jugendliche Fliegerhelden standen neben Fragen nach dem Ursprung der Menschheit oder Meldungen über kuriose Geschehnisse in fernen Weltgegenden.73 Vergleicht man diejenigen Abenteuergeschichten, die explizit technisch-wissenschaftliche Themen zum Gegenstand des Romans der Geheimnisse machten, mit diesen Darstellungen, dann fällt auf, dass sie die sowjetischen Leitnarrative des Fortschritts kaum behandelten. Wie schon weiter oben festgestellt, bildeten die „Revolutionary Dreams“ im politischen und ingenieurstechnischen Sinne zwar die ideologische Folie, vor deren Hintergrund diese Geschichten geschrieben wurden, nicht aber deren eigentlichen Kern. Vielmehr handelten auf Wissenschaft und Technik bezogene Abenteuergeschichten wie schon in der Vorrevolutionszeit vor allem von den Ängsten und Gefahren, die der gesellschaftliche Fortschritt mit sich brachte, und von den „para-wissenschaftlichen“ Phantasmen, die an diesen geknüpft wurden. Thematisch richteten sich diese Befürchtungen nach Jahren des „Imperialistischen Krieges“ und des Bürgerkrieges vor allem auf den nächsten Weltkrieg, der auch in der Tagespresse als ideologisch und politisch täglich akutes Bedrohungsszenarium präsent blieb. 71
Lenin, Wladimir: Bericht des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare über die Außen- und Innenpolitik (22. Dezember 1920), in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Berlin 1984, S. 5-42, S. 42.
72 „Мой мозг уже привык к электризации, как к наркотику.“
Beljaev, Aleksandr: Laboratorija Dubl’vė (1938), in: Ders.: Laboratorija Dubl’vė (Serija “Poveliteli priključenij”), Moskva 2001, S. 81–164, S. 140f.
73
Vgl. Aleksov: „Vsemirnyj sledopyt“, S. 48–51; Andrews, James A.: Science for the Masses. The Bolshevik State, Public Science, and the Popular Imagination in Soviet Russia. 1917–1934 (Eastern European Studies, Bd. 24), College Station, Texas 2003; Gestwa, Klaus: Das Besitzergreifen von Natur und Gesellschaft im Stalinismus. Enthusiastischer Umgestaltungswille und katastrophischer Fortschritt, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 56 (2005), S. 105–138, S. 108ff.
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Bei den belletristischen Wissenschaftsphantasmen aber waren es nicht „konventionelle“ Waffengattungen, die dabei im Vordergrund standen, sondern vor allem die in der Publizistik nur im Kleingedruckten oder in verstreuten Randmeldungen auftauchenden Spekulationen über neue Wunderwaffen. Eine zentrale Rolle kam dabei elektromagnetischen Strahlen- und Sendetechniken zu, von denen man behauptete, sie wären in der Lage, direkt das menschliche Bewusstsein und die Gedanken zu manipulieren.74 Die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Konzepte zu Hypnose, Telepathie und Massensuggestion mit ihrem berüchtigten „Nervenfluidum“ wurden aktualisiert als „materialistische“ Theorien zu „psychischen Energien“, „Gehirnradios“ (Bernard Kažinskij) oder „kollektiven Psychologien“ (Vladimir Bechterev) und in den „psychotechnischen“ Forschungslaboratorien Leningrads und Moskaus erforscht.75 Abenteuergeschichten nehmen also eine zweifache Verschiebung gegenüber populärwissenschaftlicher Publizistik vor: Anstelle des Aufbaus der neuen Gesellschaft treten die kontingenten, furchterregenden Aspekte in den Vordergrund, und diese werden nicht anhand tagespolitischer Presseszenarien durchgespielt, sondern mit Hilfe „fantastischer“ bio-physikalischer oder auch chemischer Kampfstoffe, die in einem „zukünftigen Krieg“76 zum Einsatz kommen.77 74
Vgl. zu diesem energetischen und psychophysiologischen Diskurs der 1920er Jahre ausführlich: Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“, S. 22ff.
75
Mögliche Verbindungen der menschlichen Gedanken mit modernen Sendetechniken wurden schon im späten 19. Jahrhundert aufgestellt. So entwickelte auch der schon genannte Psychologe Vladimir Bechterev seine „Kollektivpsychologie“ in Anschluss an Studien zu Massenbesessenheiten. Bernard Bernadovič Kažinskij (1890–1962) stellte sein Konzept eines „Gehirnradios“ (Mозговое радио) 1923 in der Broschüre Gedankenübertragung. Faktoren, die die Möglichkeit zum Auftreten von elektromagnetischen Schwingungen im Nervensystem hervorbringen, die nach außen strahlen (Передача мыслей. Факторы, создающие возможность возникновения в нервной системе электромагнитных колебаний, излучающихся наружу) einer breiteren Öffentlichkeit vor. Als 1924 der deutsche Neurologe Hans Berger (1873–1941)
mit dem experimentellen Nachweis aufwartete, das Gehirn sei elektronisch aktiv, schien man endlich die gesuchte Verbindung zwischen den elektromagnetischen Wellen des Radios und den Aktivitäten menschlicher Gedanken gefunden zu haben, was eine weitere Welle experimenteller Forschungen in dem Bereich „para-psychischer“ Phänomene nach sich zog. Vgl. ausführlich hierzu Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Siehe auch Holl, Kino, Trance und Kybernetik, S. 250ff.; Velminski, Wladimir: Krieg der Gedanken. Experimentelle Lesesysteme im Dienste der Telepathie, in: Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 393–413. 76
[Anon.]: Buduščaja vojna, in: Vokrug sveta 1 (1927), S. 1.
77
Chemische Kampfstoffe stellten generell einen populären Topos in den 1920er Jahren dar, der auch in den sowjetischen Abenteuergeschichten auftauchte, allerdings im Vergleich zu den „Todesstrahlen“ sehr viel seltener. Neben der schon genannten zweiten Mess Mend-Folge Lori Lėn, der Metallarbeiter von Šaginjan behandelte der junge Nikolaj Nikolaevič Španov (1896–1961) das Thema in seiner ersten überhaupt veröffentlichten Erzählung Die geheimnisvolle Explosion (Тайнственный взрыв, 1925), die von einer gigantischen Explosion im Kaunas der Gegenwart berichtet, für die die Bolschewiki verantwortlich gemacht werden, ehe sich herausstellt, dass es sich um einen Unfall in einem geheimen Waffenlager deutscher Generäle handelte, das neue chemische Superbomben lagerte, die für den Abwurf über Moskau vorgesehen
202 | Kommunistische Pinkertons
Dabei thematisieren die Geschichten vornehmlich elektronische Psychowaffen und „Todesstrahlen“, die direkt auf das menschliche Gehirn wirken.78 Agenten dieses Treibens sind entsprechend keine positiven Helden, sondern verrückte größenwahnsinnige oder verzweifelte Gelehrte, deren Menschenexperimente in der Katastrophe enden.79 Diese Kriegsphantasmen fiktionalisierten unter anderem Autoren wie Viktor Gončarov mit der Psycho-Maschine (Психо-машина, 1924), Aleksej Tolstoj in seinem Roman Der Hyperbolid des Ingenieur Garin (Гиперболид инженера Гарина, 1925), Vladimir Orlovskij in Die Schreckensmaschine (Машина ужаса, 1925), Michail Gireli in dem Verbrechen des Professor Zvezdočetov (Преступление профессора Звездочетова, 1924), Sergej Beljaev in Radiogehirn (Радиомозг, 1927) oder Aleksandr Beljaev in dem fantastischen Roman Der Beherrscher der Welt (Властелин мира, 1929).80 Vergleicht man diese Werke mit den im vorigen Kapitel (Abschnitt 3.3. Kampf der Welten) vorgestellten avantgardistischen Pinkerton-Parodien, unterscheiden sie sich vor allem in der Erzählhaltung. Während bei Ėrenburg, Ivanov, Šklovskij oder Kataev die parodistische Distanz waren. Vgl. Španov, Nikolaj N.: Tainstvennyj vzryv. Fantastičeskij avio-rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 8 (1925), S. 7–16. Španov sollte dann dieses populäre Thema des unter deutscher Führung initiierten imperialistischen Krieges gegen die Sowjetunion in seinem Bestseller der Stalinzeit Der Erstschlag. Kurzroman über den zukünftigen Krieg (Первый удар. Повесть о будущей войне) wieder aufnehmen, der neben einer Zeitschriftenfassung 1939 in gleich fünf Buchausgaben erschien, ehe der Hitler-Stalin-Pakt weitere Neuauflagen verhinderte. Vgl. Španov, Nikolaj N.: Pervyj udar. Povest’ o buduščej vojne, in: Znamja 1 (1939), S. 14–122; Velčinskij: Bibliografii fantastiki; Zur generellen Popularität solcher Kriegsszenarien in Europa vgl. Schütz, Erhard: Wahn-Europa. Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit, in: Preußer, Heinz-Peter (Hg.): Krieg in den Medien (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, 57), Amsterdam 2005, S. 127–148. 78
Einer der ersten, der sich nach der Revolution dieses Themas der repressiven Bewusstseinsmanipulation annahm, war Evgenij Zamjatins Roman Wir (My, 1920). Allerdings ist bei ihm das Radio noch ein relativ harmloses Medium, das über das Gehör die physiologisch schon gleich geschalteten Individuen bei Laune hält. Vgl. Schwartz: Diktatur als Drogentrip, S. 263f.
79
Damit kontrastieren sie teils mit ihren westlichen Vorläufern, wie H. G. Wells In the Days of a Comet (1906) oder Jack Londons Erzählung Goliah (1908), in denen durch chemische (Gas) oder physikalische (Strahlen) Interventionen die Menschen auf den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gezwungen werden. Auch die Figur des „Mad scientist“ war natürlich keineswegs eine sowjetische Erfindung, sondern hatte eine lange literarische Tradition, die hier in Bezug auf den globalen Kampf der Welten zwischen Kapitalismus und Kommunismus modifiziert wurde. Vgl. zu dieser literarischen Figur Benedict, Barbara: The Mad Scientist. The Creation of a Literary Stereotype, in: Leitz, Robert C.; Cope, Kevin L. (Hg.): Imagining the Sciences. Expression of New Knowledge in the “Long” Eighteenth Century, New York 2004, S. 59–107.
80
Siehe hierzu Palej, Sovetskaja naučno-fantastičeskaja literatura, S. 63–68; Britikov, Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 153ff.; Nudelman, Soviet Science Fiction and the Ideology of Soviet Society, S. 45; Auch Caroline Schramm geht ausführlich dieser Strahlenmetaphorik nach, wobei sie von den hier genannten Werken einzig Tolstojs Roman (deutscher Übersetzungstitel Die geheimnisvollen Strahlen) als literarisches Beispiel hinzuzieht, vgl. Schramm, Caroline: Telemor und Hyperboloid. Strahlen, Geheimwissen und Phantastik in der postrevolutionären Literatur, in: Frank, Susi; Greber, Erika; Schahadat, Schamma; Smirnov, Igor‘ P. (Hg.): Phantasma und Gedächtnis. Festschrift für Renate Lachmann zum 65. Geburtstag, München 2001, S. 319–339.
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gegenüber dem (westlichen) Abenteuergenre sowie jeglicher politisch-ideologischen Instrumentalisierung des Genres im Dienste einer baldigen Weltrevolution im Vordergrund der künstlerischen Auseinandersetzung steht, wird in den weiter unten vorgestellten Texten gerade diese Distanz produktiv genutzt, um mit Hilfe schablonenhafter Figurendarstellungen und „kinematographischer“ Erzählformen die verhandelten Themen und Ideen möglichst kontrastreich zu schildern. Dabei fixieren sie vor allem die Gefahrenpotenziale, die neue wissenschaftliche Erfindungen für die Menschheit bergen, die entweder gemäß der Genrekonvention am Ende in einer Katastrophe wieder negiert werden oder im Stile eines Märchens erst nach der Bezwingung aller übermenschlichen Gefahren einen Ausblick in eine utopische Zukunft gewähren. Einer der populärsten und produktivsten Autoren in diesem Bereich ist Viktor Alekseevič Gončarov, der in den Jahren 1924 bis 1927 gleich sieben Kurzromane und Romane in den Leningrader und Moskauer Verlagen Molodaja gvardija, Priboj und Zemlja i fabrika veröffentlicht hat.81 Neben einem dreiteiligen Zyklus über die ungewöhnlichen Abenteuer des gelehrten Mediziners Doktor Skalpell und seines Schülers, des Fabriklehrlings Nikolka, der sie in die „mikrobiologische“ Welt der infektiösen Bakterien und Mikroben (1924), in die vorzeitliche Lost World des Urmenschen (1925) sowie in die „fast märchenhafte“ Welt von Jules Vernes Australien (1926) führt,82 machten ihn vor allem seine „fantastischen“ Romane über kosmische Abenteuer Die Psycho-Maschine (Психо-машина, 1924) und Der Interplanetare Reisende (Межпланетный путешественник, 1924) bekannt.83 81
Von Gončarov sind noch nicht einmal die Geburts- und Todesdaten bekannt, einzig dass er in Tiflis gelebt und publiziert hat, ehe er nach Moskau kam, ist überliefert. Vgl. Chalymbadža, Igor’ G.: Gončarov Viktor Alekseevič, in: Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 172–173; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
82
Vgl. Gončarov, Viktor: Priključenija doktora Skal’pelja i fabzavuka Nikolki v mire malych veličin (Mikrobiologičeskaja šutka), Moskva u.a. 1924. Vgl. Schwartz, Matthias: Im Land der undurchdringlichen Gräser. Die sowjetische Wissenschaftliche Fantastik zwischen Wissenschaftspopularisierung und experimenteller Fantasie, in: Ders; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960. Frankfurt am Main 2008, S. 415–456, S. 431f.; Gončarov, Viktor: Vek gigantov. Istorija pro to kak fabzavuk Nikolka iz-za fokusov učenogo medika Skal’pelja popal v gosti k pervobytnomu čeloveka (Biblioteka priključenij), Moskva u.a. 1925; Ders.: Pod solncem tropikov. Počti skazočnye priključenija pionerov v Avstralii. Povest’, Moskva u.a. 1926. Vgl. Ognev, S.: V. Gončarov. Vek gigantov [1925], in: Knigonoša 33–34 (1925), S. 24.
83
Gončarov, Viktor: Mežplanetnyj putešestvennik, Moskva u.a. 1924; Ders.: Psicho-mašina. Fantastičeskij roman, Moskva u.a. 1924. Vgl. Žukov, L.: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, in: Molodaja gvardija 8/1938, S. 170–178., S. 173. Ein Jahr später schrieb er noch ein „weiteres Werk über die schablonenhaften ‚Todesstrahlen‘ mit der gewöhnlichen Portion an Tricks, Geheimnissen, Verschwörungen und Verfolgungen“ („очередное произведение о трафафетных ‚лучах смерти‘, с обычной порцией трюков, тайн, заговоров и преследований“), Das Todestal. Die Detrjuitsucher (Долина смерти. Искатели детрюита). Es handelt von dem chemischen Supersprengstoff Detrjuit, mit dem ein Student, ein Tschekist und ausländische Konterrevolutionäre die Unterwelt Moskaus unsicher machen, vgl. Dinamov, Sergej [D., S.]: Viktor Gončarov. Dolina smerti [1925], in: Knigonoša 27 (1925), S. 17; Britikov: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 76f., 80–82.
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Abb 7
Titelblätter; Links: Umschlagbild von Mir priključenij, Nr. 2 (1928); Mitte: Buchumschlag von Viktor Gončarovs fantastischem Roman Psicho-mašina (Moskau 1924); Rechts: Titel von Vsemirnyj sledopyt, Nr. 6 (1927).
Gončarovs Psycho-Maschine erzählt beispielsweise von dem jungen Kommunisten Andrej aus Leningrad, der einen Kurzurlaub in der ukrainischen Provinz verbringt und hier den sympathischen Professor Arkadij Veprev und dessen Assistenten Naum Šarikov kennen lernt, die im Keller ihres Vorwerks (хутор) ein riesiges Laboratorium versteckt haben. Andrej lernt von dem Professor, wie man nach dem Vorbild der indischen Yogi durch höchste innere Konzentration die Gedanken anderer Menschen lesen, sie hypnotisieren oder auch Gegenstände bewegen, bremsen oder beschleunigen kann, wenn man nur die richtige elektromagnetische Wellenlänge trifft.84 In ihrem Keller haben die Gelehrten eine so genannte „Psycho-Maschine“ installiert, die ihre Energiezufuhr durch Abfangen der diversen Kurz- und Langwellen in der Luft sichert und etwa mit Hilfe solcher genau auf das Objekt dosierten „Psychowellen“ zielgerichtet landwirtschaftliche Schädlinge vernichten kann.85 Als im Dorf aber eines Tages eine „Teufelei“ geschieht und zuerst alle Hunde, dann alle Kommunisten tot aufgefunden werden, erfährt Andrej von einem anderen Genossen, Nikodim, dass es sich bei den beiden zurückgezogen lebenden Wissenschaftlern nicht etwa um verrückte Gelehrte, sondern um heimtückische Konterrevolutionäre handelt.86 Nun beginnt eine rasante Verfolgungsjagd mit zwei im Vorwerk bislang versteckt gehaltenen hochtechnischen Fluggeräten in Form einer Zigarre, die ebenfalls psychisch gesteuert werden können.87 84
Gončarov: Psicho-mašina, S. 9ff.
85
Ebd., S. 16ff.
86
Ebd., S. 23ff.
87
Ebd., S. 30ff.
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Nach einer Zwischenlandung in einer Wüstenoase fliehen die beiden Schurken auf den Mond, wo die Verfolger auf die hochintelligenten Mondbewohner treffen, die wie Wells’ Seleniten in The First Men in the Moon (1901) unterirdisch leben. Diese sind aber kleinwüchsig im Vergleich zu den Menschen, haben ein von einer rüsselförmigen Nase dominiertes Gesicht und verkörpern keine kommunistische Idealgemeinschaft (wie bei Wells), sondern stellen eine erbarmungslose Klassengesellschaft dar, in der die degenerierten „Vezy“ über die unterdrückten „Nevezy“88 herrschen.89 Die Nevezy hatten einst schon in einer Revolution gesiegt, aber aufgrund der fehlenden Achtsamkeit und dank der Erfindung der Psycho-Maschine war die Konterrevolution der Vezy erfolgreich. Den Kraftstoff der lunaren Psycho-Maschinen stellt „psychische Energie“ dar, die den Bewohnern der Erde gestohlen wird, was zur Folge hat, dass hier die gesetzmäßig anstehende Weltrevolution aufgrund der psychoenergetischen Schwäche der Menschen bislang gescheitert ist.90 Da aber ungeachtet einer solchen Schwächung des Menschen die sowjetische Revolution erfolgreich war, überlassen die Vezy den irdischen Flüchtlingen Veprev und Šarikov ihre Technik, um eine antisowjetische Konterrevolution zu initiieren. Doch die Bolschewiki Andrej und Nikodim kommen dem zuvor und gewinnen stattdessen die Unterstützung der Nevezy auf dem Mond, können eine zweite lunare Revolution anstoßen und die beiden irdischen Konterrevolutionäre töten, ehe sie zur Erde zurückkehren.91 Schon diese sehr verkürzte Zusammenfassung zeigt, wie der Roman ein klassisches Abenteuersujet mit den populärwissenschaftlichen Diskursen über „Psychoenergien“ verknüpft. Einerseits verortet die Ausgangsszenerie mit einem Urlaubsort in der ukrainischen Provinz den Roman in der Tradition Gogol’s in einem ambivalenten Grenzraum, der wie bei Bljachins und Ostroumovs Bürgerkriegsromanen als Schauplatz der Konterrevolution und fantastischer „Teufeleien“ präsentiert wird.92 Andererseits verknüpft er diese fantastische Rahmung dann mit 88
Die beiden Substantive sind Neologismen, die sich vom Verb „vezti“ (везти) und dessen negierter Form (не везти) ableiten, das neben der primären Bedeutung „fahren, führen“ auch „Glück haben“ bedeutet (ему везет, dt. „er hat Glück“, ему не везет, dt. „er hat Pech“), die hier konnotiert wird. So ist ihre Semantik in Bezug auf die gescheiterte Revolution am ehesten mit Glückspilze (vezy) und Pechvögel (nevezy) zu übersetzen. Aber auch die erste Bedeutung wird in der Tatsache aufgerufen, dass ausschließlich die „Vezy“ Kontrolle über die Flugobjekte mit den Psychomaschinen haben, worauf sich ihre Macht stützt, während die „Nevezy“ sie nicht fliegen dürfen. Der heute vergessene Roman hat offenbar als Vorlage für Nikolaj Nosovs bekannten Kinderroman Nimmerklug auf dem Mond (Незнайка на луне, 1965) gedient.
89
Gončarov: Psicho-mašina, S. 41ff.
90
Ebd., S. 67ff.
91
Ebd., S. 79ff., 92ff.
92
Ob sich Michail Bulgakov bei der Namensgebung des Hunde-Menschen Šarikov in seinem Anfang 1925 geschriebenen und dann verbotenen Kurzroman Hundeherz (Собачье сердце) von Gončarovs Roman inspirieren lassen hat, ist unbekannt. Einige ähnliche Konstellationen lassen dies vermuten. Wo bei Gončarov Professor und der Assistent Šarikov psychoenergetische Angriffe gegen Hunde und Kommunisten starten, am Ende aber in der dystopischen Mond-Welt Šarikov zuerst seiner beiden Beine beraubt und dann vom Professor tatsächlich ermordet wird, radikalisiert Bulgakov die Figurengewichtung, indem Šarikov selber zum animalischen Studienobjekt degradiert wird, das durch operative Eingriffe zum Men-
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hyperbolischen Darstellungen populärer Vorstellungen von außerirdischen utopischen oder dystopischen Zivilisationen93 sowie von psychoenergetisch wirkenden Radiowellen. Die eigentliche Faszination macht aber die titelgebende Psycho-Maschine selber aus, die hier ein Manipulationsinstrument zur Verhinderung der Weltrevolution und Unterdrückung der Massen repräsentiert. Indem ihre Wirkungsmächtigkeit zudem in interplanetare Ausmaße gesteigert wird, verarbeitet der Roman recht deutlich die „biokosmistischen“ und „kosmistischen“ Ideen einer interplanetaren Expansion der Menschheit, die unter anderem eine Verlängerung des Lebens und Überwindung des Todes mit Hilfe „kosmischer Energien“ versprechen.94 Andere Geschichten operieren nicht nur mit der Drohung des Einsatzes dieser psychischen Wunderwaffen, sondern stellen deren Wirkungsweise auch ausführlich dar. In einer klassischen Szenerie des medizinischen Privatlabors ist Michail Girelis (Pseud. von Michail Osipovič Pergament, 1893-?) Roman Das Verbrechen des Professors Zvezdočetov (Преступление профессора Звездочетова, 1926) lokalisiert, bei dem die Parodie „materialistischer“ Konzeptionen der Psyche mit Hilfe „kosmistischer“ Ideen noch deutlicher als in Gončarovs Psycho-Maschine zu
schen mutiert. Vgl. Bulgakov, Michail: Sobač’e serdce (1925), in: Ders.: Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 2, Moskva 1989, S. 119–208. 93
Während das Äußere der Mondbewohner eher an Wells Mondgeschichte erinnert, klingt in der Mondhandlung eine Persiflage von Tolstojs Aėlita-Geschichte an.
94
Die bekanntesten Namen diesbezüglich sind heutzutage Nikolaj Fedorov und Konstantin Ciolkovskij, inwieweit sie aber in der zeitgenössischen Rezeption jenseits der intellektuellen Kreise Moskaus und Petrograds/Leningrads auch schon einem größeren Publikum bekannt waren, ist meines Wissens bislang noch nicht hinreichend erforscht worden. Immerhin konnte Ciolkovskij bereits 1918 den ersten Teil seines Romans Außerhalb der Erde (Вне Земли) in Sojkins Zeitschrift Priroda i ljudi veröffentlichen, ehe diese eingestellt wurde. Und noch 1922 konnte ein „Kreatorium der Russländischen und Moskauer Anarchisten-Biokosmisten“ ein Manifest für „Immortalismus und Interplanetarismus“ in der Moskauer Regierungszeitung Izvestija unterbringen, das eindeutig Fedorovsche Einflüsse aufweist. Auch diese Ideen sind natürlich kein exklusiv russisches Phänomen, sondern europaweit gibt es ähnliche Strömungen, die bereits 1906 H. G. Wells zu seinem Roman In the Days of a Comet inspiriert haben, in dem ein von einem Kometen verströmtes „grünes Gas“ die Menschheit erleuchtet. Zur vorrevolutionären Zeit in Russland vgl. Masing-Delic, Irene: The Transfiguration of Cannibals. Fedorov and the Avant-Garde, in: Bowlt, John E.; Matich, Olga (Hg.): Laboratory of Dreams. The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment, Stanford 1990, S. 17-.36; Holquist, Miachel: Tsiolkovsky as Moment in the Prehistory of the AvantGarde, in: Ebd., S. 100–117; Zur nachrevolutionären Zeit vgl. Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“, S. 25ff.; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki. Der stark von diesen Ideen beeinflusste Ingenieur Andrej Platonov publizierte im Übrigen im Vsemirnyj sledopyt 1926 ebenfalls eine „wissenschaftlich-fantastische Erzählung“, die vom Flug des Ingenieurs Peter Krejckopf zum Mond erzählt, der im Landeanflug entdeckt, dass es sich bei der Mondkugel um ein lebendes Wesen handelt, ein „Gehirn“ (мозг), das elektromagnetische Strahlung abgibt, welches das Gehirn des Menschen zu erregen und zu beeinflussen vermag. Vgl. Platonov, Andrej: Lunnaja bomba. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 12 (1926), S. 3–15. Hier zitiert nach Ders.: Lunnye izyskanija, in: Ders.: Usomnivšijsja Makar. Rasskazy 1920-ch godov. Stichotvorenija (Sobranie sočinenij, Bd. 1), Moskva 2009, S. 113–138, S. 137.
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erkennen ist.95 Ebenfalls mit Hilfe indischer Yoga-Praktiken sowie optischer und chemo-physikalischer Apparate versucht der „Astrologe“ (звездочет) die „kosmische Energie“ des menschlichen Ursprungs zu ergründen, wofür er zuerst psychisch in die Seele seiner Assistentin Sofija, dann in die seiner Ehefrau Ol’ga eindringt, was ihm zwar ein stark erotisch kodiertes Vergnügen bereitet, diesen aber den Tod bringt, weswegen er am Ende der Geschichte als zweifacher Mörder beim Prokurator landet.96 Vladimir Orlovskij (Pseud. von Vladimir Evgen’evič Grušvinckij, 1889–1942) schrieb 1925 bis 1929 eine Reihe von „fantastischen“ Geschichten, die alle von atomaren oder physikalischen Vernichtungswaffen handeln.97 Orlovskijs bekanntester Roman Die Schreckensmaschine (Машина ужаса, 1925) erzählt ebenfalls von einem größenwahnsinnigen Wissenschaftler, der sich auf einer Pazifikinsel eine elektromagnetisch mit Hilfe von Sonnenenergie arbeitende, in gigantischen Pyramidenbauten versteckte Waffe gebaut hat.98 Diese kann nicht nur zielgerichtet „Massenepidemien“ unter der Bevölkerung auslösen, indem sie die Menschen in „tierische“ Angst und Panik stürzt,99 sondern auch sämtliche entzündlichen Stoffe zur Explosion bringen. Der Bösewicht erpresst auf diese Weise mit einzelnen Angriffen die Regierung der USA, sich seiner Macht zu ergeben. Anfangs widersetzt sich der Kongress allerdings seinem Ansinnen. Doch sämtliche militärischen Gegenangriffe seitens der USA scheitern und ganze Städte werden unregierbar, da die Menschen in Panik aufs Land und ins Ausland fliehen, worauf der Kongress die gesamte wissenschaftliche Welt um Hilfe ruft. Daraufhin kommen sowjetische Wissenschaftler ins Land, die inzwischen wiederum mit Hilfe indischer Yogatechniken und eigener Forschungen eine Erklä95
Vgl. Gireli, Michail: Prestuplenie professora Zvezdočetova, Moskva 1926. Der Name des Professors ist von „zvezdočet“, russ. „Astrologe“, abgeleitet.
96
Ebd.; Auch in seinem zweiten Roman Eozoon. Das Morgenrot des Lebens (Eozoon. Заря жизни, 1929) verfolgte er diese Idee des psychoenergetischen Gedankenlesens weiter, vgl. Gireli, Michail I.: Eozoon. Zarja žizni. Roman, Leningrad 1929; Zur Person Girelis vgl. Chalymbadža, Igor’: Gireli Michail Osipovič, in: Gakov, Vladimir (Hg.): Ėnciklopedija fantastiki. Kto est’ kto, Minsk 1995, S. 167.
97
So erzählt die Erzählung Aufstand der Atome (Бунт атомов, 1927), die er 1928 zu einem wissenschaftlichfantastischen Roman erweiterte, von einer deutschen Wunderwaffe, deren atomare Kettenreaktion aber außer Kontrolle gerät und einen Atmosphärenbrand auslöst, der als Feuerball über Europa rollt und neben einer Spur der Vernichtung auch revolutionäre Aufstände hinterlässt, vgl. Orlovskij, Vladimir: Bunt atomov, in: Mir priključenij 3 (1927), S. 1–27; Ders.: Bunt atomov. Fantastičeskij roman, Leningrad 1928. Zur Person vgl. Chalymbadža, Igor’: Orlovskij Vladimir Evgen’evič, in: Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 430–431.
98
Orlovskij, Vladimir: Mašina užasa. Naučno-fantastičeskaja povest’ (1925), Leningrad ²1927. Zu dieser Lektüre von „hoher Qualität“ (вполне доброкачественное чтение) vgl. auch Dinamov, Sergej [Din, S.]: Vl. Orlovskij. Mašina užasa, in: Knigonoša 39–40 (1925), S. 23.
99
Diese Auslösung von Massenepidemien durch ein Individuum lässt deutlich den Einfluss von Bechterevs Überlegungen zur Massensuggestion erkennen, allerdings liefern bei ihm noch biologische Metaphern infektiöser Mikroben die Erklärung für eine solche Wirkungsweise, während hier physikalische Modelle elektromagnetischer Strahlung genau den gleichen Effekt entfalten. Siehe die Ausführungen zu Bechterev in Abschnitt 3.2 und vgl. Bechterew: Die Bedeutung der Suggestion im sozialen Leben.
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rung für die Phänomene gefunden und Schutzanzüge sowie chemische Verbindungen entwickelt haben, die die elektromagnetischen Radioangriffe zu neutralisieren vermögen.100 Nach einer detaillierten Darstellung der Massenpanik und Verwüstungen in den USA begeben sich die sowjetischen Helden auf die Insel, neutralisieren die Angriffe des Bösewichts, wobei seine Schreckensmaschine mit all ihrer fantastischen Technik vernichtet wird, während sich gleichzeitig in den USA die Revolution ausbreitet. Denn, so die Erklärung, der größenwahnsinnige Gelehrte habe im chemischen Sinne als „Katalysator“ funktioniert, der eine Beschleunigung dialektisch-historisch determinierter Prozesse bewirkt, die später sowieso stattgefunden hätten. In diesem Fall liefert die Chemie den Sowjets nicht nur die Verteidigungsmittel, die physiologisch-physikalischen Waffen des Gegners zu neutralisieren, sondern auch in den „Katalysatoren“ ein Symbol, welches das Spannungsverhältnis von Kontingenz und Gesetzmäßigkeit historischer Prozesse bildlich fasst und das Ausbleiben der Weltrevolution mit der marxistischen Zuversicht wieder versöhnt.101 Größenwahnsinnige und verrückte Gelehrte, die um des Ruhmes und der Macht willen zu allem fähig sind, waren jedoch nicht nur die tatsächlichen oder potenziellen Auslöser kommender Weltkriege und anschließender Weltrevolutionen, sondern auch die medialen Agenten, die Invasionen von Aliens und andere Katastrophen provozierten. So erzählt Vladimir Orlovskij in einer anderen Geschichte, die 1927 in einem Wettbewerb der Zeitschrift Mir priključenij den ersten Preis gewann, von einem in einer Provinzstadt am Meer forschenden Physiologen, dem es mit Hilfe physikalischer Experimente gelingt, Kontakt mit zweibeinigen Wesen aus anderen Welten aufzunehmen. Diese Wesen sind jedoch so angsteinflößend, dass er und seine junge, äußerst intelligente Praktikantin nahezu dem Wahnsinn verfallen, bis ihn das junge Mädchen eines Tages in seinem vollkommen verwüsteten Labor mit zur Unkenntlichkeit verzerrtem Gesicht auffindet, dessen letzte Worte lauten: „Oh, wenn Sie gesehen hätten... Was für ein Grauen... Laufen Sie weg von hier. Sie kommen wieder... [...] Laufen Sie, vernichten Sie alles...“102 Eine ganz ähnliche Rolle hatte die Figur des „Mad scientist“ schon in Nikolaj Aleksandrovič Karpovs (1887–1945) „fantastischem Roman“ Die Todesstrahlen (Лучи смерти, 1924), eingenommen, wobei hier als „weibliches Opfer“ die rebellische Tochter des einzig auf seinen persönlichen Wohlstand bedachten Professors Mongomeri [Montgomery] auftritt. Dieser hat eine Waffe erfunden, die die Großindustriellen seines Landes zur vollständigen Eliminierung der aufständischen Arbeiterstadt Blėkvil’ [Blackville] einsetzen, in der sich unglücklicherweise in diesem Moment gerade die in einen Proletarier verliebte Professorentochter aufhält. Daraufhin landet der verzweifelte Professor in der Psychiatrie und fantasiert im Wahnsinn von einer bevor
100
Vgl. Orlovskij: Mašina užasa.
101 Ebd. 102 „О, если бы вы видели... Это такой ужас... Бегите отсюда. Они опять придут... [...] Бегите, уничтожьте
все...“ Orlovskij, Vladimir: Iz drugogo mira. Rasskaz, in: Mir priključenij 9 (1927), S. 34–50, 50.
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stehenden Revolution.103 Bei Sergej Michajlovič Beljaevs (1883–1953) Radiogehirn (Радиомозг, 1926)104 ist der verrückte Professor hingegen ein machtgieriger Bösewicht, der seine Tochter gefangen hält und zuerst im Pariser und Moskauer Umland und dann versteckt in den kaukasischen Bergen seine antisowjetischen Subversionspläne mit Hilfe einer Schreckensmaschine verfolgt, ehe ihm das Handwerk gelegt werden kann.105 Elektromagnetische Sendetechniken sind in den Geschichten jedoch nicht ausschließlich als Todesstrahlen und cerebrale Invasionsinstrumente angstbesetzt, sondern können auch als friedlich nutzbare Kommunikationsmedien narrativiert werden, wobei auffällt, dass sie dann meist nicht direkt mit dem Gehirn verknüpft sind, sondern lediglich als technische Hilfsmittel dienen. So in der Eröffnungsgeschichte der 1925 neu gegründeten Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt, die ihre erste Nummer auf Seite 1 mit einer „Radio-Erzählung der Zukunft“ (Радио-рассказ будущего) von Sergej Grigor’ev (Pseud. von Sergej Timofeevič Patraškin, 1875–1953) unter dem Titel Die Trojka Or-Dim-Stach (Tройка Ор-Дим-Стах) startete.106 Dieser gewissermaßen programmatisch ein zentrales Themenfeld der Zeitschrift absteckenden Geschichte stellte die Redaktion folgende Vorbemerkung voran: „Der Krieg der Zukunft, dessen Unausweichlichkeit niemand verneint, erhält ein vollkommen anderes Gesicht als die vorangegangenen Kriege. Die Erfolge der Luftfahrt, des Radios und der Vertilgerchemie (die Anwendung von Giftgasen) versorgen die Kontrahenten mit neuen, mächtigen Mitteln der Aufklärung für den Krieg der Zukunft. Die Erfolge bei den Chemiewaffen, bei der Übertragung von Energie auf Entfernung ohne Leitungen (Radio) und im Flugwesen sind so zielstrebig, dass sie Anlass und Raum geben für die ungezügeltsten Träumereien. Im Unterschied zu ähnlichen, verantwortungslosen Fantasien, stützt sich der Autor [...] auf den tatsächlichen Stand
103
Vgl. Karpov, Nikolaj A.: Luči smerti. Fantastičeskij roman, in: Bibliotečka revoljucionnych priključenij 1 (1924), S. 3–46; 2, 3–43; 3, 3–50. Der Roman ist 1925 dann bei Zemlja i fabrika nochmals als Buch erschienen. In der Kritik wurde der Roman als ein „hilfloser Versuch“ (беспомощная попытка) einer Vulgarisierung der Wirklichkeit gewertet, vgl. Dinamov: Avantjurnaja literatura našich dnej, S. 110; Berežnoj; Borisov: Bibliografija.ru.
104
Der Roman ist erstmals 1926 in Fortsetzungen in der Zeitung Rabočaja gazeta (Рабочая газета, dt. „Arbeiterzeitung“) erschienen, ehe Molodaja gvardija 1928 auch eine Buchausgabe verlegte. Vgl. Beljaev, Sergej: Radiomozg. Roman, Moskva u.a. 1928.
105
Auch hier funktioniert jene die menschlichen Gedanken paralysierende Maschine des Radiogehirns dank der Entdeckung, dass die Chemie der Radiowellen mit der Physiologie der Gehirnwellen zusammenwirkt. Vgl. Beljaev: Radiomozg. Zu biographischen Angaben vgl. [Anon.]: Beljaev Sergej Michajlovič, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 t., Bd. 1, S. 729; Chalymbadža, Igor’ G.: Beljaev Sergej Michajlovič, in: Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 66.
106
Die Erzählung ist noch im gleichen Jahr beim Verlag der Staatlichen Werkstatt des Pädagogischen Theaters der Glavsocvoz (Abk. für „Hauptverwaltung zur sozialen Erziehung und polytechnischen Bildung“, seit 1921 eine Abteilung des Volkskommissariats für Bildung) als Broschüre erschienen, vgl. Šolok.: Sergej Grigor’ev. Trojka OR-DIM-STACH [1925], in: Knigonoša 27 (1925), S. 17.
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der Kriegstechnik und die Haupttendenzen ihrer Entwicklung in Westeuropa und Nordamerika. Die Erzählung enthält nichts Utopisches.“107
Diese „keineswegs utopische“, auf dem „wirklichen Stand der Kriegstechnik“ geschriebene Erzählung berichtet vom Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen der „Union“ der Sowjets und der „Nördlichen Union“ USA und Großbritannien.108 Letztere starten ihre „Radio- und Luftangriffe“ auf die zentralen Industrie- und Militärstützpunkte der Sowjetunion, die sie mit Hilfe neuester Funktechnik orten können und mit dem tödlichen Giftgas „Ortrit“ bombardieren, das aber zuerst wie harmloses Lachgas wirkt und die in eine sorglos-ausgelassene Stimmung verfallenden Sowjetbürger untauglich zur Landesverteidigung macht. Zur Abwehr hat man allerdings ein stationäres (mit Hilfe unter- und überirdischer Funkstationen) und mobiles (mit Hilfe diverser Flugapparate) Radionetz eingerichtet, das so genannte „Radio zur Verteidigung der Union“ (Радио обороны Союза), dessen militärstrategische Möglichkeiten und Funktionsweisen die spätere Radartechnik antizipieren und ausführlich, auch in grafischen Darstellungen, beschrieben werden.109 Dieses Radiofunknetz ermöglicht es nicht nur feindliche Fliegerangriffe rechtzeitig zu erkennen, sondern auch strategisch wichtige Industriezentren kurzfristig vom Stromnetz zu nehmen oder mit chemisch produziertem Nebel zu tarnen, so dass sie für den Gegner nicht mehr zu orten sind. Zentral für die Abwehrschlacht ist die ständige Kommunikation und Koordination der Verteidigung mit Hilfe von so genannten „Imagographen“ (имажографы), die Bilder und Briefe unmittelbar vom Sender zum Adressaten übertragen können.110 So gelingt es, den feindlichen Angriff abzuwehren, da man aufgrund der permanenten Kommunikation per Imagograph schnell ausgefallene Verteidigungsstellungen und Kampfflieger ersetzen kann.111 107 „Война будущего, неизбежность которой никто не отрицает, получит совершенно иной облик по
сравнению с войнами прошлого. Успехи авиации, радио и истребительной химии (применение ядовитых газов) дают в руки враждующих новые могучие средства разведки в войне будущего. Успехи химического оружия, передачи энергии на расстояние без проводов (радио) и воздухлета столь стремительны, что дают почву и простор для самых необузданных мечтаний. В отличие от подобных безответственных фантазий, автор [...] основывается на действительном состоянии военной техники и основных уклонах ее развития в Западной Европе и Сев. Америке. В рассказе нет ничего утопического.“ [Red.]: „Vojna buduščego...“, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 1.
108
Grigor’ev, Sergej: Trojka Or-Dim-Stach. Radio-rasskaz buduščego, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 1–16.
109
Ebd., S. 3., 8.
110
S. 3.
111
Ebd., S. 3ff., 15f. Grigor’ev baut seine in Die Trojka Or-Dim-Stach angelegte Idee eines Weltkriegs mit neuen Superwaffen 1926 in dem Roman Der Tod Britanniens (Гибель Британии) weiter aus, der aus der Perspektive eines amerikanischen Journalisten und britischen Gewerkschafters berichtet, wie in der Sowjetunion gigantische Umgestaltungspläne der Erde umgesetzt werden, in der nichts Altes mehr bestehen bleibt. Man sprengt ganze Bergmassive, deren Detonationen weltweit so starke Erdbeben auslösen, dass sie alle Baudenkmäler von New York, Paris, London und Rom zerstören. Daraufhin erklärt Großbritannien der Sowjetunion den Krieg, doch biotechnische Verteidigungswaffen vernichten die gesamte Luftflotte des
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Was sich zusammenfassend an dieser Erzählung festhalten lässt und auch generell für die hier vorgestellten Abenteuergeschichten über wissenschaftlich-technische Innovationen als charakteristisch gelten kann, sind drei Aspekte. Erstens zeichnen sich diese Geschichten häufig durch eine verfremdende Perspektivverschiebung und Medialisierung neuer Wahrnehmungstechniken aus, die in diesem Fall durch das zentrale Kommunikationsmittel – den Imagographen – begründet werden, aber auch in anderen Erzählungen als „verrückte“ Perspektiven absonderlicher Wissenschaftler (wie in der Schreckensmaschine und Aus einer anderen Welt) oder marsianische Begebenheiten (wie in der Psycho-Maschine) zu finden sind. Gerade in der Beschreibung der Kriegsereignisse kann diese auf neue technische Medien bezogene Perspektivverschiebung auch als das im vorigen Abschnitt behandelte „kinematographische“ Schreiben bezeichnet werden, insofern sie eine deutliche Distanz zum skizzierten Geschehen markiert. Während die im vorigen Abschnitt (4.1) diskutierten „kinematographischen Romane“ meist die Kinobilder exotischer Abenteuer an der kolonialen Peripherie betrafen, sind es hier eher die Genrekonventionen eines Kampfes der Welten innerhalb der imperialen (und im Fall der Sowjetunion „antiimperialen“) Zentren, der als „verrückt“ und damit unglaubwürdig perspektiviert wird. So kontrastiert Grigor’evs „Radio-Erzählung“ nicht nur mit der redaktionellen Vorbemerkung, die geradezu beschwörend deren ernsthaften, nicht-fantastischen Charakter hervorhebt, sondern unterläuft das beschriebene Szenario auch selber, wenn sie als schrecklichste Waffe des Feindes ausgerechnet Lachgas darstellt, das eine heroische Landesverteidigung in eine beinahe karnevaleske Farce verwandelt. Bezieht man diese im „kinematographischen“ Stil geschriebenen Narrative zur medialen „Elektrifizierung“ menschlicher Gedanken auf den unmittelbaren kulturgeschichtlichen Kontext, in dem sie in den zwanziger Jahren zumeist in Leningrad und Moskau geschrieben wurden, dann markieren die Geschichten zweitens ein doppeltes Spannungsverhältnis. Zum einen bedienten sie sich deutlich bei den im Umfeld der künstlerischen und (para-)wissenschaftlichen Avantgarde und ihrer experimentellen Forschungslaboratorien kursierenden Ideen und Moden zu energetischen Äquivalenz- und Wechselbeziehungen zwischen Materie und Geist (telepathische Radiogehirne, infektiöse Massenhysterien, indisches Yoga und andere telekinetische Techniken), für die die Namen Vladimir Bechterev, Aleksandr Bogdanov, Konstantin Ciolkovskij, Vladimir Durov, Aleksej Gastev oder Bernard Kažinskij stehen.112 Indem die Abenteuergeschichten zum anderem diese Ideen destruktiv als Schreckensmaschine oder Vernichtungswaffe zu-
Westens. Biotechnisch hergestellte, in rasantem Tempo wachsende organische Fangnetze legen die Kriegsflotte Großbritanniens lahm, so dass die Insel, ohne ihre Waffen einsetzen zu können, kapitulieren muss und eine überfällige Revolution endlich auch einen sozialen Umbruch auf der Insel einleitet. Der Tod Britanniens wurde erstmals im Vsemirnyj sledopyt in Form von drei „Erzählungen“ Anfang 1926 publiziert, die dann 1926 im Verlag Zemlja i fabrika auch als Buch erschienen. Vgl. Grigor’ev, Sergej: Gibel’ Britanii. Povest’, Moskva/Leningrad 1926; Palej: Technika i naučno-chudožestvennaja fantastika, S. 21. 112
Zentral für die Erforschung solcher Phänomene war Bechterevs Institut des Gehirns, siehe ausführlich hierzu Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik, S. 26ff., 131ff.
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meist in feindliche oder fremde Welten, oft aber auch in provinzielle Privatlabore verbannen, verstärkten sie die stilistische Distanznahme noch durch eine intertextuell kontaminierte, fantastisch-hyperbolische Überzeichnung des Geschehens. Insofern funktionierten sie zwar auch als Popularisatoren esoterischer Wissenschaftsdiskurse und Experimentalpraktiken, signalisierten gleichzeitig aber auch die Fragwürdigkeit solcher Gedankenspiele und ihrer gesellschaftspolitischen Implikationen.113 Betrachtet man diese Faszination für elektromagnetische Strahlen und Sendetechniken in einem noch größeren Zusammenhang der kulturpolitischen Diskurse der 1920er Jahre, dann lassen sich die Geschichten drittens auch als fiktionale Negativfolie zur bolschewistischen Bewusstseinsdiktatur interpretieren.114 Verstand sich die Sowjetunion ihrer Konzeption nach doch als eine säkulare Erziehungsdiktatur, die dem Narrativ der Aufklärung folgend das verdunkelte und benebelte Bewusstsein der Bevölkerung reinigen wollte und die ungetrübte Wahrheit der Revolution ans Licht bringen müsse.115 Um dieses Ziel der Umgestaltung des menschlichen Bewusstseins zu erreichen, galt neben der „Glühlampe Il’ičs“ (лампочка Ильича), die als Leselampe die Kerze ablöste, und dem Kino das Radio als wichtigstes Medium, um insbesondere die kaum alphabetisierte ländliche Bevölkerung direkt zu erreichen.116 Gleichzeitig stand das Radio mit seiner drahtlosen Nachrichtenübertragung ebenso wie die Elektrizität für den technischen Fortschritt, den die neue Zeit bringen sollte.117 Zusätzlich lag eine besondere Attraktivität des Mediums darin, dass seine „körperlose“ Stimme sowohl in der Wahrnehmung der Bevölkerung als auch in der offiziellen Propaganda den religiösen Mythos von der Stimme des Herrn als wissenschaftlich-technisches Wunder wahr machte.118 Damit sah man sich aber dem eigenen 113
Sie stehen damit im dezidierten Gegegensatz zu H. G. Wells’ „realistischer“ Darstellungsweise des War of the Worlds, von dem Sluchovskij in seiner Studie zum dörflichen Leseverhalten berichtet, dass sie von manchen als eine historische Tatsachenbeschreibung rezipiert worden sei. Vgl. Sluchovskij: Kniga i derevnja, S. 110ff.
114
Vgl. hierzu ausführlich Schwartz: Diktatur als Drogentrip, S. 255ff.
115
Siehe hierzu bspw. Graham, Science in Russia and the Soviet Union, S. 99ff.
116
Wobei das Radio bis zur Einführung einer strengeren Sendekontrolle im Oktober 1925 auch als Medium zur Verbreitung von sensationellen Entdeckung- und Enthüllungsgeschichten diente, wie Sendetitel wie „Das Leben der Menschen vor der Geburt und nach dem Tod“ („Жизнь человека до рождения и после смерти“), „Suggestion und Hypnose in der Welt des Verbrechens“ („Внушение и гипноз в мире преступности“) oder „Ist eine Kreuzung von Mensch und Affen möglich“ („Возможно ли скрещивание между человеком и обьезяной“) andeuten, vgl. Andreevskij, Georgij: Povsednevnaja žizn’ Moskvy v stalinskuju ėpochu (20–30-e gody), Mosvka 2003, S. 334.
117
In diesem Sinne waren Technologien zur Beeinflussung des Bewusstseins, wie audiovisuelle Medien auch terrestrische, hypnotische oder telepathische Sendetechniken, nicht von Anfang an negativ konnotiert. Im Gegenteil, diesbezügliche wissenschaftliche Innovationen spielten in der Sowjetunion von Anfang an eine hervorgehobene Rolle bei den Plänen zum Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung.
118
Moderne Sendetechniken, die die neue Wahrheit direkt aus dem Zentrum Moskau in die ganze Sowjetunion trugen, wurden ausdrücklich einer „berauschenden“ religiösen Indoktrination gegenübergestellt. Zur Rolle des Radios und zur Metaphorik der Strahlen in der Kultur der Nachrevolutionszeit vgl.
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Selbstverständnis nach auch im fundamentalen Gegensatz zur kapitalistischen Welt, die gerade in den hoch entwickelten Staaten mögliche gesellschaftspolitische Umstürze und Revolutionen durch eine massive Manipulation des Bewusstseins mit Hilfe moderner Massenmedien verhindere. Die auch in Westeuropa literarisch und filmisch vermittelten kollektiven Technik- und Wissenschaftsängste erhielten damit eine eindeutige politische Richtung und Kodierung.119 Genau aber diese manipulative und propagandistische Wirkungsmächtigkeit neuer technischer Medien verhandelten die in diesem Abschnitt vorgestellten Abenteuergeschichten, indem sie unterschiedliche Formen der drahtlosen Nachrichtenübertragung als technisch-wissenschaftliche Beeinflussung des menschlichen Bewusstseins experimentell in fremden Gegenwelten durchspielen. Dabei wirken die Radiosignale und Elektrostrahlen nicht nur mittelbar über das Gehör, sondern direkt auf die „psychische Energie“ des Gehirns. Nicht die besseren Argumente, sondern einzig die stärkeren Waffen zur Elektrifizierung der Gedanken zählen in diesem imaginären Kampf der Psychomaschinen und Todesstrahlen. Anders formuliert, verlegten Abenteuergeschichten die politisch-propagandistische Programmatik zum Aufbau einer neuen Gesellschaft gänzlich in den Bereich technisch-medialer Machbarkeit, die vor allem als militärische Experimente zur Manipulation und Kontrolle des Menschen narrativiert wurden. Damit griffen diese Abenteuergeschichten, so könnte man zusammenfassend festhalten, zwar oberflächlich politikkonform Lenins vielleicht bekanntestes Diktum „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ in der Mad Scientist-Tradition auf, um zu zeigen, welche fatalen Folgen eine Elektrifizierung minus Sowjetmacht haben könnte. In der literarischen Reflexion auf die technisch-medialen Verfahren zur Kontrolle und Manipulation der Gedanken zeigte sich aber auch ein tieferliegendes, generelles Unbehagen an diesen vorgeblichen Aufklärungsmedien, die auch als Narkotikum einsetzbar waren. Gerade diese Technikfantasien aber sollten dann gegen Ende des Jahrzehnts in den Definitionsbemühungen einer „Wissenschaftlichen Fantastik“ als positive Beispiele dienen, um sie von der großen Masse der Abenteuerliteratur abzugrenzen. Dabei verwarf man sowohl ihre kriegerischen Sujets als auch ihren „kinematographischen“ Stil als bourgeoise Relikte westlicher Abenteuer- und Pinkertonromane – wie in Kapitel 5 gezeigt wird. Derjenige Autor, der bei diesen Eingrenzungsversuchen eines neuen, dezidiert sowjetischen Genres wissenschaftlich-fantastischer Literatur aber am häufigsten als positives Beispiel hervorgehoben wurde, war der wohl produktivste Autor der späten zwanziger Jahre, Aleksandr Beljaev, der auch am deutlichsten die hier angesprochenen kulturpolitischen Ambivalenzen moderner Technikfantasien und Medienfiktionen im sowjetischen Kontext erzählerisch gestaltete. Murašov: Das elektrifizierte Wort, S. 81–112; Plaggenborg, Revolutionskultur, S. 145–162; Gorjajewa: Unterwerfung und Gleichschaltung des Rundfunks in der UdSSR, S. 197–218; Schramm: Telemor und Hyperboloid, S. 319–339; Tsivian: Media Fantasies and Penetrating Vision, S. 81–99. 119
Insbesondere die Boulevardpresse und die Kinematographie galten als modernes Opium für das Volk, das mit Sensationsmeldungen und Skandalgeschichten politisch befriedet wurde und sich über das Elend des eigenen materiellen Seins mit Hilfe von Slapstick-Komödien und Abenteuerfilmen trösten konnte.
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4 .3 Tr äum er am Machtp o l – Die v e rrü c kte n G e le h r te n d e s Al eksandr B e lja e v 1 2 0 „Es gibt wahrscheinlich in der Geschichte keinen einzigen Menschen, der fest auf dem Grund der richtig bewerteten realen Möglichkeiten geblieben wäre, wenn er unbegrenzte Macht gehabt hätte. Jeder Despot ist seinem Wesen nach in mehr oder weniger großem Maße ein Verrückter. Die Macht über die Massen, die von ihnen unabhängig ist, zwingt den Menschen sein Gleichgewicht zu verlieren, berauscht ihn, verdreht die Perspektiven, macht ihn anormal auf jedem Gebiet seines geistigen Lebens.“ Vladimir Orlovskij (1925)120
Seit der Französischen Revolution hat es kaum einen Versuch eines revolutionären Umbruchs und politischen Neuanfangs gegeben, dem nicht unterstellt wurde, er beruhe auf dem Traum von einer idealen Diktatur im Stile von Thomas Morus’ Utopia (1516). Auch wenn Lenin und die Bolschewiki sich immer gegen den Vorwurf verwahrt haben, die Oktoberrevolution stelle ein utopisches Projekt dar, wurde ihre Diktatur des Proletariats von vielen Zeitgenossen als ein solches rezipiert. Auch als H.G. Wells im Herbst 1920 bei seinem zweiten Russlandbesuch Lenin persönlich in Moskau besuchte, beschrieb er ihn als genau so einen „Dreamer in the Kremlin“, der seiner „Utopia of the electricians“ erlegen sei:121 „I cannot see anything of the sort happening in this dark crystal of Russia, but this little man at the Kremlin can; he sees the decaying railways replaced by new electric transport, sees new roadways spreading throughout the land, sees a new and happier Communist industrialism arising again. While I talked to him he almost persuaded me to share his vision.”122
Es ist genau diese Verführung der absoluten Macht, den „dunklen Kristall“ einer Gesellschaft wie ein Magier gemäß der eigenen Vision umgestalten zu können, die von jeher die Künste 120 „Вероятно, не было в истории ни одного человека, который устоял бы твердо на почве правильно
оцениваемых реальных возможностей, обладая неограниченой властью. Каждый деспот по существу – в большей или меньшей мере сумасшедший. Власть над массами, от них независимая, заставляет человека терять равновесие, опьяняет, искажает перспективы, делает его ненормальным во всех областях духовной жизни.“ Orlovskij: Mašina užasa, S. 106.
121
Vgl. Wells, H.G.: Russia in the Shadows, New York 1921, S. 160f. Fast unmittelbar nach Wells’ Reise im September und Oktober 1920 veröffentlichte er im britischen Sunday Express eine Artikelserie, die noch im selben Jahr als Buch und 1921 in Sofia erstmals in russischer Übersetzung erschien, ehe auch der Ukrainische Staatsverlag in Charkow eine russische Übersetzung publizierte, die bereits 1922 eine zweite Auflage erfuhr. In die unzähligen Moskauer und Leningrader Werksausgaben fand das Reportagebuch hingegen keinen Eingang. Vgl. Kalmyk: Wells.
122
Ebd., S. 161f.
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fasziniert hat. Und jener Verführung – so Boris Groys – sei auch das utopische Projekt der künstlerischen Avantgarden in Russland gefolgt mit ihren revolutionären Träumen, Kunst und Leben zu vereinigen, die man dann seit den 1930er Jahren im Sozialistischen Realismus als ein „Gesamtkunstwerk Stalin“ tatsächlich Wirklichkeit werden ließ.123 Doch diese Anziehungskraft des „Machtpols“, der Künstler schon immer leicht erlegen sind, wie Klaus Theweleit in seiner Studie zu Orpheus am Machtpol gezeigt hat, ging meist einher mit dem Aufkommen neuer technischer Medien wie den „Radiowellen“.124 Gerade aber von diesem Zusammenhang von politischer Macht, künstlerischer Avantgarde und medialer oder allgemeiner wissenschaftlicher Innovation handelten auch die Technikfantasien und Medienfiktionen der Abenteuerliteratur, die im vorigen Abschnitt vorgestellt worden sind. Man könnte auch sagen, es ging um eine Technifizierung oder Medialisierung des Politischen, die in fast allen Geschichten verhandelt wurde. Nicht die herkömmlichen Mittel der Massenmobilisierung – agitatorische Aufklärung oder propagandistische Demagogie – mit ihren ideologischen Inhalten standen im Zentrum des Interesses, sondern die rein technisch-mediale Seite der Machtsicherung. Auch die von der Macht besessenen oder umgekehrt instrumentalisierten Wissenschaftlerfiguren verfolgten keine gesellschaftspolitische Agenda, sondern sind einzig von der technischen Vision beseelt, mit Hilfe ihrer Psychomaschinen und Todesstrahlen andere Menschen nach ihrem Duktus manipulieren und umgestalten zu können. Als „Träumer am Machtpol“ sind sie gewissermaßen das Gegenbild zum „Träumer im Kreml“: Wo es Lenin bei der Elektrifizierung des Landes gerade um eine gesellschaftspolitische Vision ging, hatten jene wissenschaftlichen Träumer der Abenteuerliteratur aufgrund ihrer Fixierung auf die technisch-wissenschaftliche Umsetzung die gesellschaftliche Wirklichkeit aus den Augen verloren.125 Diese explizite gesellschaftspolitische „Delegitimierung“ wissenschaftlicher Träumer und verrückter Gelehrter am Machtpol aber beherrschte wahrscheinlich kein anderer Autor der 1920er und 30er Jahre so 123
Vgl. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München 1988. Auch Wells ist dieser Vision der absoluten Macht ein Jahrzehnt später erlegen, als er bei seinem nächsten Besuch in Russland in einem umgehend in der Pravda und allen großen Sprachen der Welt veröffentlichten persönlichen Gespräch mit Iosif Stalin 1935 seinen Irrtum hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Sowjetunion öffentlich eingestand. Vgl. Stalin, Iosif V.: Unterredung mit dem englischen Schriftsteller H. G. Wells. 23 Juli 1934, Moskau 1936.
124
Vgl. Theweleit, Klaus: Buch der Könige. Band 2x. Orpheus am Machtpol, Basel u.a. 1998, S. 113. „Nicht einfach ‚das WORT‘, heißt das, sondern Wortbedeutungen besetzen die Gottfunktion in historisch jeweils neu erscheinenden Medien: Druckerpresse (Lutherbibel) im Verlauf des 16., Radio & redenhaltende Bilder (sinnstiftende politische Diktaturen) im Verlauf des 20. Jahrhunderts.“ Ebd., S. 114f. Genau diese Faszination für die Macht des Wortes, dem das neue Medium verspricht seine ganze Suggestivkraft zu entfalten, wie Theweleit anhand von Künstlern wie Gottfried Benn zeigt, die ihre Radio-Stimme dem Nationalsozialismus liehen, lässt sich aber auch in den Radiodiskursen Anfang der dreißiger Jahre in der Sowjetunion finden. Vgl. Murašov: Das elektrifizierte Wort, S. 81–112.
125
Auch weltpolitisch artikulierten die Geschichten diese Skepsis, indem sie im Sinne der internationalistischen Hoffnungen einer „revolutionären Romantik“ zeigten, dass nicht die neuen Wunderwaffen, sondern einzig soziale Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe am Ende den Umbruch bringen.
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perfekt wie Aleksandr Beljaev, der vielleicht gerade deswegen auch die größten Erfolge nicht nur in der Anzahl der Publikationen, sondern auch bei den Lesern zu verzeichnen hatte. Aleksandr Romanovič Beljaev (1884–1942) kommt aus einer Priesterfamilie in Smolensk, absolvierte ebendort ein Priesterseminar und eine juristische Ausbildung, ist seit 1906 als Rechtsanwalt tätig, ehe er nach einer Europareise 1913 beginnt als Publizist ebenfalls in Smolensk zu arbeiten.126 Nach einer schweren Knochenmarktuberkulose 1915 verbringt er die Revolutionsund Bürgerkriegszeit 1917 bis 1921 in Jalta, in einer Heilklinik ans Bett gefesselt, davon drei Jahre lang in Gips. Nach der Rekonvaleszenz arbeitet er 1922 zunächst als Erzieher in einem Kinderheim und als Inspektor bei der Miliz, ehe er 1923 nach Moskau übersiedelt und als Rechtsberater im Volkskommissariat für Post- und Telegraphenwesen tätig ist. Nachdem er schon zuvor einige lyrische und dramatische Versuche unternommen hatte, konzentriert er sich ab 1925 ausschließlich aufs Schreiben, verfasst bis zu seinem Tod allein 23 Romane und Kurzromane, die er häufig gekürzt in Zeitungen wie der Moskauer Rabočaja gazeta (Arbeiterzeitung), der Leningrader Komsomolzeitung Smena oder der Eisenbahnerzeitung Gudok vorabdruckte, ehe sie in Abenteuerzeitschriften wie Vokrug sveta, Vsemirnyj sledopyt oder Znanie – sila und anschließend als Buch erschienen.127 Seine Werke sind formal eindeutig an den Abenteuergeschichten Jules Vernes orientiert. Ihre Handlung spielt fast ausschließlich in der unmittelbaren Gegenwart oder nahen Zukunft und ist abgesehen von wenigen Ausnahmen in westlichen kapitalistischen Ländern lokalisiert. Im Zentrum fast aller Geschichten steht bei Beljaev ein Wissenschaftler, der eine ungewöhnliche fantastische Entdeckung gemacht hat, die in der Intrige in Hinsicht auf ihre Konsequenzen für einzelne Menschen oder die Gesellschaft als Ganzes entfaltet wird, wobei philosophische, anthropologische und soziale Fragen zur Disposition stehen. Wissenschaftlich-technische Innovationen führen in den kapitalistischen Gesellschaften stets zu fatalen Konsequenzen, wohingegen sie in der Sowjetunion neue Chancen und Horizonte eröffnen. Bei den Ideen zu den Erfindungen und oft auch in manchen Sujetlinien bedient Beljaew sich ausführlich des aktuellen populärwissenschaftlichen Diskurses und westlicher Abenteuerwerke, wobei zumeist explizit die realen und fiktionalen Prototypen markiert sind. So knüpft er mit seinen Romanen Der Weltbeherrscher (Властелин мира, 1926) und Kampf im Äther (Борьба в эфире, 1928) an einen schon etablierten literarischen Diskurs zur Elektrifizierung der Gedan126
Zu den biographischen Angaben vgl. Ljapunov, Boris: Aleksandr Beljaev. Kritiko-biografičeskij očerk, Moskva 1967; V’jugin, V. Ju.: Beljaev Aleksandr Romanovič, in: Skatov: Russkaja literatura XX veka, Bd. 1, S. 201–203; Beljaeva, Svetlana: Vospomoninanija ob otce (Progulki po gorodu Puškinu), S-Peterburg 2009; Bar-Sella, Zeev: Aleksandr Beljaev, Moskva 2013.
127
Von Beljaevs Werken sind zu Lebzeiten 17 Buchausgaben auf Russisch in den Verlagen Zemlja i fabrika, Krasnaja gazeta, Molodaja gvardija, Sovetskij pisatel’ und Detizdat erschienen. Bis auf wenige späte Texte wie den Kurzroman Der Himmelsgast (Небесный гость, 1937–38, veröffentlicht 1963 erstmals auf Ukrainisch) und einige Erzählungen und Skizzen hat er sämtliche Werke auch in den 1930er Jahren noch in Zeitschriften unterbringen können, nur 1933 ist von ihm kein einziger Prosatext erschienen. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki; Berežnoj: Bibliografija.ru.
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ken an, den er wie seine literarischen westlichen und sowjetischen Vorläufer auch in einen Kampf der Welten zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Westen einbaut, fokussiert aber sehr viel stärker die psychologische und anthropologische Dimension des Konflikts.128 Auch Der letzte Mensch von Atlantis (Последний человек из Атлантиды, 1925)129 oder seine etwas späteren Raumfahrtromane Der Sprung ins Nichts (Прыжок в ничто, 1933) und Der Stern KĖC (Звезда КЭЦ, 1936) nehmen gängige Sujets der 1920er Jahre und prominente Wissenschaftler als Vorlagen, um bestimmte, das Menschen- und Gesellschaftsbild betreffende, Konflikte dramatisch zuzuspitzen.130 128
So wird im Weltbeherrscher, dessen Titel im Übrigen auf einen gleichnamigen Roman von Jules Verne (Le Maître du monde, 1904) zurückgeht, beschrieben, wie der Deutsche Ludvig Stirner mit Hilfe einer Psychomaschine die Gedanken Einzelner und ganzer Massen zu manipulieren sucht. Stirner geht davon aus, dass jede Art von moralischem Handeln nichts anderes als ein bedingter Reflex sei, den man beliebig im eigenen Machtinteresse umkodieren könne. Nach dem Scheitern seiner Weltherrscherpläne exerziert er diesen Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz durch, indem er seine eigene Identität elektromagnetisch neu konditioniert, so dass er selber nicht mehr weiß, wer er ist, was aber wiederum schief geht, da er nicht bedacht hat, dass andere Menschen – sein gesellschaftliches Umfeld – ihn ja doch aufgrund seines Aussehens wiedererkennen können. Die Radiostadt Moskau hingegen ist eine vollkommen schweigende Stadt, da alle nur noch telepathisch per elektromagnetischer Gedankenübertragung arbeiten, auch Radio und Film, vgl. Beljaev, Aleksandr: Vlastelin mira (1926), in: Ders.: Izbrannye naučno-fantastičeskie proizvedenija v 3 tomach, Bd. 3, Moskva 1957, S. 3–226. Auch in dem Zukunftsroman Das Laboratorium Dubl’ė [W] wird die Elektrifizierung der Gedanken noch einmal behandelt, die aber 1938 als ein schon eindeutig anachronistisches Verfahren gekennzeichnet ist. Die Geschichte handelt von der Konkurrenz zweier Wissenschaftler im Institut für experimentelle Medizin, die darum streiten, wie man am besten das menschliche Leben verlängern solle. Während der eine (Sugubov) eine Lebensverlängerung mit Hilfe einer Optimierung der Umweltbedingungen und Ernährungsmethoden zu erreichen versucht, arbeitet der andere Professor (Lavrov) in seinen Laboratorien, in denen es stiller ist als in Pavlovs „Turm des Schweigens“, daran, mit Hilfe elektromagnetischer Strahlen die Gene von den Schlacken des Kapitalismus zu reinigen und gleichzeitig die Gehirnaktivitäten zu stimulieren, wobei er allerdings in Selbstversuchen drogenabhängig wird. Neben dieser fiktionalen Diskreditierung der Bestrahlungstechniken stellte der Roman aber auch recht deutlich eine fiktionale Verarbeitung der Diadochenkämpfe um das wissenschaftliche „Vermächtnis“ des 1936 verstorbenen Ivan Pavlov dar, vgl. Beljaev: Laboratorija Dubl’vė; Rüting: Pavlov und der Neue Mensch, S. 225ff. Zu den westlichen Vorläufern vgl. Schütz: Wahn-Europa, S. 127–148.
129
Vgl. Beljaev, Aleksandr: Poslednij čelovek iz Atlantidy (1925), in: Ders.: Izbrannye naučno-fantastičeskie proizvedenija v 3 tomach, Bd. 3, Moskva 1957, S. 227–346; Zu den literarischen Konjunkturen des Atlantis-Mythos bis in die 1920er Jahre, vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 174ff.
130 Während
Der Sprung ins Nichts dem sowjetischen Raumfahrtpionier und Raketenbauer Fridrich Arturovič Cander (1887–1933) gewidmet ist, der als Schüler Ciolkovskijs gilt und in dem Roman als Leo Cander die Hauptrolle spielt, stellt Der Stern KĖC eine unmittelbare posthume Hommage an Konstantin Ėduardovič Ciolkovskij dar, dessen Initialen nicht nur den Romantitel bilden, sondern dessen Ideen und Skizzen auch die Materialgrundlage für das Sujet bilden. Vgl. Beljaev, Aleksandr: Pryžok v ničto (1933), Leningrad ²1935; Ders.: Zvezda KĖC (1936), in: Ders.: Izbrannye naučno-fantastičeskie proizvedenija v 3 tomach, Bd. 2, Moskva 1957, S. 161–328.
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Dabei fokussieren die Geschichten nicht auf geglückte Experimente zur Schaffung des „Neuen Menschen“, sondern zeigen im Gegenteil, dass der „alte Mensch“ auch mit Hilfe der wunderbarsten Innovationen und Psychomaschinen nicht seine anthropologischen, psychologischen und sozialen Grenzen überschreiten kann. Das Streben nach Macht, Liebe und Anerkennung und andere Leidenschaften stellen bei Beljaev anthropologische Konstanten dar, die nur um den Preis des Menschseins überwunden werden können. Tauchen doch einmal „Neue Menschen“ der Zukunft auf, bleiben ihre Darstellungen eher schematisch skizzenhaft, wie beispielsweise in den kommunistischen Visionen eines Moskaus als „Radiostadt“ (in Der Weltbeherrscher) oder „Radiopolis“ (so der ursprüngliche Titel von Kampf im Äther).131 Künstlich perfektionierte „neue Menschen“ der kolonialen Peripherie in Südamerika oder Indien, wie der Held seines erfolgreichsten Werks der zwanziger Jahre, Der Amphibienmensch (Человек-амфибия, 1928),132 oder der fliegende Protagonist seines letzten Romans Ariel (Ариэель, 1941), fungieren hingegen als Sinnbilder eines tragischen Scheiterns angesichts der konservativen und reaktionären Gesellschaftsordnung der alten Welt.133 Während Beljaevs frühe Werke in der Presse noch kaum beachtet wurden und erst für die Diskussionen um die Schaffung eines neuen Genres der „Wissenschaftlichen Fantastik“ eine gewisse Rolle spielten – wie im folgenden Kapitel gezeigt wird –, stand er in den 1930er Jahren im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um eine Fortführung des Genres, ehe ab seinem Tod 15 Jahre lang bis auf eine Ausnahme kein einziger Text mehr von ihm erscheinen konnte. Mit seiner Wiederentdeckung 1956 wird er dann aber als Science-Fiction-Autor zu einem der meistgedruckten Jugendautoren der Sowjetunion überhaupt, bekommt mehrere Werksausgaben und wird als „sowjetischer Jules Verne“ und „Gründer der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik“ gefeiert.134 Diese extrem selektive und den literaturgeschichtlichen Kontext weitgehend ausblendende Rezeption fokussierte anfangs vor allem auf seinen vermeintlich prophetischen Ideenreichtum und die wissenschaftliche Exaktheit in der Beschreibung technisch-wissenschaftli131
Zur ambivalenten Semantik der Radiostadt, vgl. Schwartz: Diktatur als Drogentrip, S. 265–267. Etwas ausführlicher hat Beljaev die kommunistische Zukunft im Laboratorium Dubl’vė (Лаборатория Дубльвэ, 1938) dargestellt, das in der Sowjetunion Ende des 20. Jahrhunderts spielt. Vgl. Beljaev: Laboratorija Dubl’vė.
132
Der Roman, der erstmals 1928 in Fortsetzungen in der Monatsbeilage für Abenteuer und Reisen Vokrug sveta der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt, erlebte noch 1928 zwei und 1929 eine dritte Buchauflage bei Zemlja i fabrika. 1930 ergab eine Leserumfrage des Vsemirnyj sledopyt, dass der Roman eindeutig das beliebteste Werk gewesen sei, das in den letzten fünf Jahren in der Zeitschrift und ihren Beilagen erschienen war. Vgl. Beljaev, Aleksandr: Čelovek-amfibija (1928), in: Ders.: Izbrannye naučno-fantastičeskie proizvedenija v 3 tomach, Bd. 1, Moskva 1956, S. 21–202; Ljapunov, Boris: Predislovie, in: Ebd., S. 3–20, S. 5f.; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
133
Vgl. Beljaev, Aleksandr: Ariėl’ (1941), in: Der.: Izbrannye naučno-fantastičeskie proizvedenija v 3 tomach, Bd. 3, Moskva 1957, S. 347–548. Zum Traum vom Fliegen in der sowjetischen Kultur der 1920er und 30er Jahre vgl. Kluge, Robert: Der sowjetische Traum vom Fliegen. Analyseversuch eines gesellschaftlichen Phänomens (Slavistische Beiträge, Bd. 345), München 1997, S. 70–99.
134 Vgl.
Ljapunov: Predislovie, S. 4; Ders.: V mire fantastiki, S. 51; Geller: Vselennaja za predelom dogmy, S. 72.
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cher Erfindungen, entdeckte dann den „wissenschaftlich-fantastischen“ Unterhaltungsautor von Weltformat, ehe man in der späten sowjetischen und postsowjetischen Rezeption wieder seine Originalität als russischer Science-Fiction-Pionier hervorhob, der ungeachtet schwerer privater Schicksalsschläge auch in der Stalinzeit das Genre weiterentwickelte.135 Schaut man sich jedoch seine Werke im literaturgeschichtlichen Kontext der späten 1920er Jahre genauer an, wirkt er weder gattungsbegründend noch zeichnet er sich durch eine besondere thematische oder genrespezifische Originalität aus. Was seine Werke einzig auszeichnet ist die Art und Weise, wie er bestimmte populärwissenschaftliche Themen mit gesellschaftspolitischen Fragen zu allegorischen Gesellschaftsporträts kombiniert. Das wird schon an seiner ersten Erzählung Der Kopf des Professor Douėl’ (Голова профессора Доуэля, 1925) deutlich, die von der Kritik durchgängig als noch recht unbeholfene Adaption westlicher Genremuster verworfen wird.136 Die Handlung ist irgendwo in einer englischsprachigen kapitalistischen Großstadt der Gegenwart, vornehmlich in der Privatvilla eines Professor Kern, angesiedelt. Dieser möchte sich die Entdeckung seines wissenschaftlichen Lehrers, Professor Douėl’ [Dowell], zur Organtransplantation und Wiederbelebung der Toten aneignen, indem er den asthmakranken Gelehrten heimlich durch eine Überdosis Morphium vergiftet und dessen Kopf auf einem Podest mit Hilfe künstlicher Apparate am Leben hält. Den abgeschnittenen Kopf kann er nach Belieben durch die Regulierung der Sauerstoffzufuhr in Anabiose versetzen oder wieder animieren, um mit dessen Unterstützung die noch nicht fertig gestellten medizinischen Forschungen und Berechnungen abschließen zu können.137 Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der jungen Assistentin Miss Adams, die bei ihren nächtlichen medizinischen Kontrollen zum Zustand des Kopfes entgegen dem ausdrücklichen Verbot von Kern diesen wiederbelebt und von ihm alle Geheimnisse des Wissenschaftsverbrechens erfährt. Ohne jede Möglichkeit, sich gegen Kern zu wehren und gleichzeitig besessen davon, seine Entdeckung zum Wohle der Menschheit zu Ende zu bringen, teilt Douėl’ der jungen Assistentin seine Qualen eines rein geistigen, körperlosen Lebens mit, in dem es keine sinnliche Erfüllung mehr gibt.138 Nachdem noch weitere Versuchsköpfe zweier Unfalltoter im Laboratorium wiederbelebt werden, für die ihr Zustand eine noch größere Seelenqual darstellt als für Douėl’s Kopf, da sie intellektuell noch nicht einmal ansatzweise in der Lage sind, ihr körperloses Dasein zu sublimieren, bricht die von Gewissensqualen gemarterte Miss Adams ihr Schweigegelübde. Als Kern die lebenden Köpfe als seinen persönlichen wissenschaftlichen
135
Vgl. Meščerjakova: Russkaja fantastika XX veka, S. 23ff.; Pervuchin: Kosmonavty Stalina, S. 328ff.
136
Die Erzählung erschien erstmals im Frühjahr 1925 in der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt, ehe sie im Juni 1925 auch in der Rabočaja gazeta in Fortsetzungen abgedruckt wurde und 1926 leicht erweitert auch in Beljaevs erster Buchpublikation titelgebend erschien. Vgl. Beljaev, Aleksandr: Golova professora Douėlja. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 16–27; 4 (1925), 24–31; Ders.: Golova professora Douėlja, in: Ders.: Golova professora Douėlja. Rasskazy, Moskva 1926, S. 5–76. Zitiert nach der Fassung von 1926.
137
Vgl. Beljaev: Golova professora Douėlja [1926].
138
Ebd., S. 19ff.
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Abb 8
Titelblatt des Bandes mit Erzählungen von Aleksandr Beljaev, Golova professora Douėlja (Der Kopf von Professor Douėl’, Moskau 1926).
„Triumph“ dem „Ehrenpräsidium der größten Vertreter der Wissenschaftswelt“ („почетный президиум из наиболее крупных представителей ученого мира“) präsentiert, bezeichnet sie ihn öffentlich als einen Lügner und Mörder, der sich die Entdeckung von Douėl’ zu eigen ge-
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macht habe und die Betroffenen als wiederbelebte Köpfe in seinem Haus gefangen halte. 139 Daraufhin wird sie als Verrückte (cумаcшедшая) in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, woraus sie aber der Sohn von Douėl’ – Artur – befreit. Bedroht von Kerns Helfershelfern, gelingt es Artur und Miss Adams am Ende mit Unterstützung der Ermittlungsbehörden bei einer Hausdurchsuchung den chirurgisch entstellten Kopf Douėl’s aufzufinden. Während der sterbende Kopf einen „letzten Abschied“ von seinem Sohn nehmen kann, begeht Professor Kern im Nebenzimmer Selbstmord.140 Vordergründig schreibt sich die Geschichte ganz in den im letzten Abschnitt beschriebenen Diskurs der fiktionalen Wissenschaftsphantasmen ein, wonach der Missbrauch wissenschaftlicher Erfindungen durch machtgierige Gelehrte im kapitalistischen Westen fatale gesellschaftliche Konsequenzen hat. Auch bedient sich die Erzählung der gängigen populärwissenschaftlichen Topoi zur Organtransplantation und Wiederbelebung der Toten, die in einem Vorwort zur Zeitschriftenfassung 1925 explizit als aktueller Stand der Wissenschaften apostrophiert werden.141 Wie in den Geschichten zur Elektrifizierung der Gedanken wird hier mit chemischen und biomedizinischen Mitteln versucht, das Bewusstsein anderer zu manipulieren. Allerdings ist es nicht der geniale Wissenschaftler, der seinen Weltherrschaftsträumen nachgeht, sondern umgekehrt dessen Schüler, der seinen Lehrer kontrolliert, und zwar nicht durch Bewusstseinsmanipulation, sondern durch Isolierung des reinen, körperlosen Bewusstseins, das in einem abgetrennten Kopf konserviert wird. Genau dieser medizinische Eingriff in den menschlichen Körper als zentrales Ausgangsmoment der Erzählung eröffnet jedoch eine Vielzahl an metaphorischen Lesarten, angefangen von der hier explizit anhand des menschlichen Demiurgen, der die biblische Schöpfungsgeschichte revidiert, angesprochenen Konkurrenz religiöser und naturwissenschaftlicher Weltbilder.142 Daran anknüpfend aktualisiert sie zweitens in den Gesprächen von Miss Adams mit den körperlosen Köpfen die alte Geist-Körper-Dichotomie und die Frage nach der Seele des Menschen. Drittens rekurriert die Geschichte aber auch auf den zeitgenössischen biopolitischen Diskurs um „geniale Gehirne“ prominenter Politiker, Künstler und Wissenschaftler. Und viertens reflektiert die Geschichte die diesem Diskurs innewohnenden Dispositive repressiver Disziplinierungsmechanismen. Die erste Ebene der Geschichte, die Ebene der demiurgischen Konkurrenz ist als eine dämonische Allmachtfantasie gekennzeichnet, in der ein mephistophelischer Gelehrter sich in der Nachfolge Frankensteins an den „unerschütterlichen Gesetzen“ („незыблемые законы“) der 139
Ebd., S. 54ff.
140
Ebd., S. 72ff.
141
[Red.]: Ot redakcii (Golova professora Douėlja), in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 16–17.
142
Auch die Dekapitation selber stellt einen vielfach mythologisch und symbolisch tradierten Topos dar, angefangen mit der griechischen Medusa und den biblischen Enthauptungen von Johannes dem Täufer und Holofernes bis zu zeitgenössischen Deutungen des abgetrennten Kopfes wie in Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung (Приглашение на казнь, 1936), vgl. hierzu ausführlich Mergenthaler, Volker: Medusa meets Holofernes. Poetologische, semiologische und intertextuelle Diskursivierung von Enthauptung, Bern 1997.
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göttlichen Schöpfung vergeht143 und den „jahrtausendealten Traum der Menschheit“ der Wiedererweckung der Toten erfüllt:144 „Fröhlich pfeifend wusch Professor Kern sich die Hände, rauchte eine Zigarre und schaute sich selbstzufrieden die vor ihm stehenden Köpfe an./ – He-he! Auf den Teller ist nicht nur das Haupt von Johannes gefallen, sondern auch das von Salome selbst. Das wird kein übles Zusammentreffen! Man muss nur noch die Hähne aufdrehen, – und... die Toten erwachen! Wir beginnen schließlich nicht zum Spaß mit dem Herrgott zu konkurrieren!“145
Ähnlich wie Herodes vermag der Gelehrte als Imperator nicht nur seine weltlichen (die verführerische Tänzerin Salome) und religiösen Untertanen (Johannes den Täufer) zu köpfen, sondern kann sie sogar wiederauferstehen lassen. Gleichzeitig wird diese wissenschaftliche Allmachtfantasie als fantastische Schauernovelle inszeniert: Alle Attribute von Kerns Privathaus verweisen auf die alchimistischen Laboratorien abgelegener Villen oder Schlösser, in denen im ständigen Halbdunkel mechanische Automaten und archaische Relikte den Leser in Angst und Schrecken versetzen.146 Dabei wird Professor Kern selber als eine lebende Apparatur beschrieben, die an ein kubistisches Kunstwerk erinnert: „Die große Brille aus Schildplatt erinnerte an zwei Zifferblätter einer Uhr. Wie Pendel bewegten sich seine grau-stahlfarbenen Pupillen, auf den Zeilen des Briefes hin und her wandernd. Eine rechtwinklige Nase, ein gerader Zuschnitt des Mundes und ein quadratisches, hervorstehendes Kinn gaben dem Gesicht das Aussehen einer stilisierten dekorierten Maske, modelliert von einem kubistischen Bildhauer./ Den Kamin müsste man mit so einer Maske schmücken, und nicht den Schreibtisch, – dachte Miss Adams.“147 143
So sagt Kern: „Wir, die Wissenschaftler, dringen so in die ‚unerschütterlichen Gesetze‘ der Natur ein, fordern selbst den Tod heraus und nehmen den Wundertätern und selbst der Gottheit das Brot.“ („Мы, ученые и так вторгаемся в ‚незыблемые законы‘ природы, бросаем вызов самой смерти и отбиваем хлеб у чудотворцев и самого божества.“) Beljaev: Golova professora Douėlja [1926], S. 10.
144
So Kern über Douėl’: „[...] ich habe seinen Körper erhalten. Mir gelang es nicht nur sein Herz wieder zu beleben, sondern auch sein Bewusstsein wieder auferstehen zu lassen, seine ‚Seele‘, um es mit den Worten der Menge zu sagen. Und war nicht die Auferstehung der Toten ein jahrtausendealter Traum der Menschheit?“ („[...] я получил его тело. Мне удалось не только оживить его сердце, но и воскресить его сознание, воскресить ‚душу‘, говоря языком толпы. Что же тут ужасного? Люди считали ужасной до сих пор смерть. Разве воскресение из мёртвых не было тысячелетней мечтой человечества?“) Ebd, S. 10f.
145 „Весело насвистывая, профессор Керн умыл руки, закурил сигару и самодовольно посмотрел на
стоящие перед ним головы./ – Хе-хе! На блюдо попала голова не только Иоанна, но и самой Саломеи! Недурная будет встреча! Остается только открыть краны, – и... мертвые оживут! А ведь мы не на шутку начинаем конкурировать с господом богом!“ Ebd., S. 39.
146
Muireann Maguire widmet den gotischen Elementen in Beljaevs Erzählung ein eigenes Unterkapitel, beschäftigt sich hier aber einzig mit der Trope der Wiederkehr der Toten aus dem Grab, vgl. Maguire: Stalin’s Ghosts, S. 180–185.
147 „Большие очки в черепаховой оправе напоминали два циферблата часов. Как маятники, двигались
его зрачки серо-стального цвета, переходя со стороны на сторону письма. Прямоугольный нос,
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Professor Kern bekommt in dieser ersten Charakterisierung von Miss Adams die Züge eines künstlichen Menschen, so dass die Differenz zwischen Frankenstein und seiner Kreatur sich schon in der Ausgangsszenerie verwischt. Gleichzeitig klingt das Vampirmotiv immer wieder an, wobei nicht nur Kern, sondern auch sein Lehrer Douėl’ Züge eines Grafen Dracula tragen, der die moderne Großstadt des Westens unsicher macht. So sind die Gespräche zwischen Douėl’ und Miss Adams von Anfang an erotisch kodiert und erreichen ihren Höhepunkt in seinem „wahnsinnigen Wunsch“ („безумное желание“) sie zu küssen, der mit einem leidenschaftlichen Vampirbiss in ihre Lippen endet:148 „Nach einer langen Pause stand sie langsam auf, ging zu dem Kopf... küsste ihn... und stieß plötzlich einen kurzen Schrei aus und sprang zurück./ Der Kopf hatte sie in die Lippe gebissen./ Miss Adams war so frappiert, erschreckt und aufgeregt, dass sie sich fast kraftlos auf den Stuhl fallen ließ. Die Augen des Kopfs aber sahen sie traurig und ernsthaft an./ – Ich danke Ihnen... ich danke! Denken Sie nicht, ich sei verrückt geworden... Das ist kein Ausbruch von Wahnsinn. Oh weh! Ich habe lange darüber nachgedacht, bevor ich es tat.“149 прямой разрез рта и квадратный, выдающийся вперед, подбородок придавали лицу вид стилизованной декоративной маски, вылепленной скульптором кубистом./ Камин украшать такой маской, а не письменный стол, – подумала мисс Адамс.“ Beljaev: Golova professora Douėlja [1926], S. 6. 148
Dass dieser Kuss nicht nur einer aus überbordender Leidenschaft ist, sondern wie bei den blutsaugenden Vampiren vor allem Leben spenden soll, wird dabei ausführlich von Professor Douėl’ erläutert: „ – Mich verfolgt ein Wunsch... Ein verrückter Wunsch... dass Sie mich küssen!../.. Sie haben so einen... Verehrer nicht erwartet? Beruhigen Sie sich!.. Es ist nicht das... nicht das, was Sie denken!.. Ich weiß, dass ich nur Widerwillen erregen kann. Der wiederbelebte Kopf eines Toten!.. Mein Körper liegt längst im Grab... [...] Überlegen Sie, wer Sie für mich sind! Sie sind jung, schön. Man wird Sie lieben und Sie werden ihrem Geliebten ihre Küsse geben. Doch niemandem in der Welt können Sie mit ihrem Kuss das geben, was Sie mir geben werden! Für mich sind Sie – nicht einfach eine Frau. Für mich sind Sie – das Leben, das ganze Leben in all seiner Breite. Indem ich Sie küsse, berühre ich das Leben, all das, das Ihnen zugänglich ist, all das, nach dem ich mich nur vergeblich sehnen kann. [...] Lassen Sie mich nicht bis ganz zu Ende fühlen, dass ich lediglich eine Leiche bin!.. Erbarmen Sie sich meiner!.. Küssen Sie mich!..“ („ – Меня преследует
одно желанье... Безумное желанье... чтобы вы поцеловали меня!../.. Вы не ожидали такого... поклонника? Успокойтесь!.. Это не то... не то, что вы думаете!.. Я знаю, что я могу возбудить только отвращенье. Ожившая голова мертвеца!.. Моё тело давно в могиле... [...] Поймите, что такое вы для меня! Вы молоды, прекрасны. Вас полюбят и вы будете дарить любимому свои поцелуи. Но никому в мире вы не можете дать своим поцелуем того, что дадите мне! Для меня вы – не только женщина. Для меня вы – жизнь, вся жизнь во всей её широте. Целуя вас, я прикоснусь к жизни, ко всему тому, что доступно вам, ко всему, о чём я могу только безнадёжно тосковать. [...] Не дайте мне до конца почувствовать, что я только труп!.. Сжальтесь надо мной!.. Поцелуйте меня!..“) Ebd., S. 30. 149 „После долгой паузы она медленно встала, подошла к голове... поцеловала... и вдруг коротко
вскрикнула и отскочила./ Голова укусила её в губу./ Мисс Адамс была так поражена, испугана и возмущена, что почти без сил опустилась на стул. А глаза головы смотрели на неё печально и серьёзно./ – Благодарю вас... благодарю!.. Не думайте, что я сошёл с ума... Это не порыв безумия. Увы! Я долго думал об этом, прежде чем сделал.“ Ebd., S. 31f.; Maguire geht auf diese Stellen nicht
ein, da sie mit der zum Roman überarbeiteten Fassung der Erzählung von 1937 arbeitet, in der alle eroti-
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Auch wenn Douėl’ in der Begründung des Bisses die Vampirlogik wieder umkehrt, bleibt die sexuelle Kodierung des Motivs der Wiederbelebung der Toten auch an anderen Stellen manifest,150 die gleichzeitig nicht nur eine Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod, sondern auch von Tier und Mensch markiert. So erfährt man am Ende, dass Kern sich ein lockenköpfiges „Raffaelsches Engelchen“ („рафаэлевский ангелочек“) erschaffen habe, aus dem bislang aber nur eine Kaulquappe geworden sei.151 Diese semantische Verknüpfung des menschlichen „Gotterbauertums“ mit dem sexuellen Begehren, wissenschaftlicher Neugierde mit körperlichen Übergriffen, genialer Ideen mit animalischen Trieben verweist auf die zweite Bedeutungsebene des Geist-Körper-Dualismus, der in der Klage der abgetrennten Köpfe über ihre „körperlose Existenz“ angesprochen wird: „Jetzt führe ich die Existenz eines fast körperlosen Geistes. Und als wie lächerlich, wie ungeschickt erscheint mir jetzt der Traum von einer körperlosen Existenz! Wir – sind die Söhne der Erde, aus Fleisch und Blut. Und wir können nur mit unserer lieben Erde und auf der Erde glücklich sein. Wissen Sie, was es bedeutet ohne Körper, allein mit dem Bewusstsein zu leben?/ Mich quälen nicht nur die Träume meiner trügerischen Realität. Im Wachzustand quälen mich Sinnestäuschungen.“152
schen Szenen und vampiristischen Anspielungen konsequent gestrichen worden sind, vgl. Maguire: Stalin’s Ghosts, S. 181ff. 150
So erläutert Duėl’ seinen Biss folgendermaßen: „Sehen Sie...[...] ich wollte in dieser Welt eine kleine Spur hinterlassen... eine Spur meines Willens... und das konnte ich nur so, wie ich es getan habe... Ich werde daran denken, wie Sie mit diesem Mal nach Hause, über die lauten Straßen, inmitten der Menschen gehen werden. Vielleicht bemerkt jemand diese Spur in dieser mir fernen Welt, – eine Spur, gemacht von mir... er denkt daran, dass irgendwer...“ („Видите ли... [...] я хотел оставить в этом мире маленький след... след моей воли... и сделать это я мог только так как сделал... Я буду думать, как с этим знаком вы уйдёте домой, будете идти по шумным улицам, среди людей. Может-быть, кто-нибудь заметит этот след в том далёком от меня мире, – след, сделанный мной... он подумает о том, что кто-то...“)
Beljaev: Golova professora Douėlja [1926], S. 32. Beljaev spielt hier ganz offen mit der ambivalenten Struktur des vampirischen Begehrens, einerseits der Gefahr entdeckt zu werden durch Geheimhaltung zu begegnen, andererseits aber auch öffentlich seine erotische Lust zur Schau zu stellen, wie sie in Bram Stokers Dracula in dessen Verführung von Lucy Westenra und Mina Harker dargestellt wird. Vgl. zur Erotik des Vampirs auch Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors, S. 141ff. 151
„[...] der Kopf des Jungen, gelockt wie ein Engelchen von Rafael. Doch vom Nacken dieses Köpfchens lief das Rückenmark in Form eines Schwanzes herab in ein Gefäß mit Flüssigkeit. Das gab dem Kopf das Aussehen einer abscheulichen Kaulquappe. Offensichtlich setzte Kern seine wissenschaftlichen Experimente fort.“ („[...] голова мальчика, кудрявого, как рафаэлевский ангелочек. Но от затылка этой
головки вниз спускался в сосуд с жидкостью, в виде хвоста, спинной мозг. Это придавало голове вид какого-то чудовищного головастика. Очевидно, Керн продолжал свои научные опыты.“) Auch Kern ist als solch ein Tiermensch gekennzeichnet, wenn Miss Adams sein „Brillengestell aus Schildpatt“ („ очки в черепаховой оправе“) als erstes bemerkt. Vgl. ebd., S. 71.
152 „Сейчас я веду существование почти бесплотного духа. И какой смешной, нелепой кажется мне
мечта об этом бесплотном существовании! Мы – сыны земли, из плоти и крови. И мы можем быть счастливы только с нашей милой землей и на земле. Знаете ли вы, что значит жить без тела, одним
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Immer wieder kommt Douėl’ in seinen Dialogen mit Miss Adams auf den Verlust des Körpers zurück, der einen Verlust des Lebens bedeute.153 Noch schwerer trifft es die beiden neu hinzugekommenen Versuchsobjekte, die Köpfe der einfachen Dorfbewohner Tom Beggins und der ehemaligen Tänzerin Miss Uotson [Watson], denen mit ihren „primitiven Bedürfnissen und Empfindungen“ („с примитивными потребностями и ощущениями“) der Sinn des Lebens verloren gegangen sei.154 So trösten sich die beiden mit Whisky und Gesprächen über die Unsterblichkeit der Seele, die der „Materialist“ und „Atheist“ Beggins mit den Worten beendet: „– Nein, – sagte er schon ernsthaft, – wir sind wie eine Maschine. Wenn sie Dampf rein lassen – arbeitet sie wieder. Doch wenn sie in Stücke geht – dann hilft auch kein Dampf mehr.../ Und jeder vertiefte sich in seine Gedanken...“155 Mit dem Hinweis, jeder vertiefe sich in „seine Gedanken“, widerlegt der Erzähler aber umgehend dieses mechanistische Urteil Beggins, dem er gewissermaßen einen anthropologischen Monismus entgegenhält, der den ganzen Text durchzieht.156
сознанием?/ Меня не только мучат сны своей обманчивой реальностью. Наяву меня мучат обманы чувств.“ Ebd., S. 21. 153
„Seltsam, im Leben schien es mir, als ob ich nur von Verstandesarbeit lebte. Ich habe wirklich meinen Körper irgendwie nicht gemerkt, ganz in die wissenschaftliche Arbeit vertieft. Und erst nachdem ich meinen Körper verloren habe, fühlte ich, was mir fehlte... Die Welt des Körpergefühls! Wie viel Lustempfinden gibt es dabei! [...] Indem ich den Körper verlor, habe ich die Welt verloren, – [...] Oh, wie gerne gäbe ich meine ganze Schimärenexistenz für die einzige Freude her in meiner Hand das Gewicht eines einfachen Pflastersteins zu fühlen! Ich beneide den Lastenträger, der erschöpft ist vom Gewicht der Last auf seinem Rücken... Ich habe erst jetzt verstanden, dass selbst physischer Schmerz einen Anteil Lust enthält. Schmerz – das ist der Schrei des lebenden Körpers!.. Ja... am Mangel an spürbaren Empfindungen leide ich am meisten.“ („Странно, при жизни мне казалось, что я жил одной работой мысли. Я, право, как-то не замечал своего тела, весь погруженный в научные занятия. И только потеряв тело, я почувствовал, чего я лишился... Мир ощущений тела! Сколько здесь наслаждения! [...] Утратив тело, я утратил мир, – [...] О, я бы охотно отдал все это химерическое существование за одну радость почувствовать в своей руке тяжесть простого булыжника! Я завидую грузчику, который изнемогает под тяжестью груза на своей спине... Я только теперь понял, что даже в физической боли есть доля наслаждения. Боль – это крик живого тела!.. Да... от недостатка осязательных ощущений я страдаю больше всего.“) Ebd., S. 22f.
154
Ebd., S. 37ff., S. 45. Weder Kinovorführungen mit Charlie Chaplin noch Radiokonzerte vermögen sie zu unterhalten, da alle weltlichen Ablenkungen ihnen nur ihre physische Unvollständigkeit bewusst machen. Ebd., S. 46ff.
155 „– Нет, – говорил он уже серьёзно, – мы – как машина. Пустили пар – опять заработала. А разбилась
вдребезги – никакой пар не поможет.../ И каждый погружался в свои думы...“ Ebd., S. 49.
156
Diese philosophisch-anthropologische Dimension der Frage nach der Unsterblichkeit und der GeistKörper-Problematik wird als Konflikt zwischen einem humanistisch-transzendenten und einem materialistisch-atheistischen Menschenbild dann zur zentralen Sujetlinie der späteren Verfilmung Das Vermächtnis des Professor Douėl’ durch Leonid Menaker, die 1984 schon zu einer religiösen Fundierung des Menschlichen tendiert, während alle anderen Bedeutungsebenen weitgehend ausgeblendet bleiben. Vgl. Zaveščanie professora Douėlja, Reg. Leonid Menaker. Lenfil’m, SSSR 1984.
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Diese monistische Aufwertung der Leiblichkeit zielt aber letztlich auch auf das alte aufklärerische Menschenbild, das in einer Privilegierung des Verstandes, des Geistes, der „maskulinen“ Rationalität gegenüber den primitiven, archaischen, unkontrollierbaren „femininen“ Bereichen des Gefühls und des Instinkts, des Physischen und Animalischen bestand. Diese diskreditierte Körperlichkeit kehrt in dem Text in Fiktionen des Horrors und Ekels vor physischen Übergriffen wieder, sei es in Form eines Kusses oder eines harmlosen Käfers, so wie es fantastische Texte seit ihrem Aufkommen im späten 18. Jahrhundert immer getan haben.157 Dieser diskursive Gegenwartsbezug wird jedoch noch deutlicher, wenn man als dritte Bedeutungsebene den zeitgenössischen Diskurs über „geniale Gehirne“ hinzuzieht, in dem Physiologen und Neurologen, Mediziner und Biologen „materialistisch“ den cerebralen Sitz der Genialität zu bestimmen versuchten. Auf der einen Seite wurde die Genialität in den 1920er Jahren im Diskurs der so genannten Heuropathologie (европатология) in die Nähe der Krankheit ge157 Beljaev weiß von diesem Horror und Ekel des rein Physischen, Animalischen, Instinktiven und illustriert
diesen anhand eines „einfachen Falls“, den Douėl’ im Laboratorium erlebt hat: „Ich erzähle ihnen einen Vorfall, der zu jener Zeit geschah. Es kam irgendwie, dass ich im Laboratorium alleine war. Plötzlich flog durchs Fenster ein großer schwarzer Käfer mit Scheren am Kopf. Wie konnte er ins Zentrum der riesigen Stadt gelangen? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat ein Auto ihn nach einem Landausflug mitgebracht. Der Käfer kreiste unter mir und setzte sich auf die Glasplatte meines Tischchens, neben mich. Mit den Augen schielend folgte ich diesem ekligen Insekt, ohne Möglichkeit es zu verscheuchen. Die Beinchen des Käfers glitten über das Glas, und raschelnd näherte er sich langsam meinem Kopf. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen... Ich fühlte immer einen gewissen außergewöhnlichen Abscheu, ein Ekelempfinden gegenüber diesen Insekten. Ich konnte mich nie zwingen sie mit den Fingern zu berühren. Und jetzt war ich machtlos gegenüber dem winzigen Feind. Aber für ihn war mein Kopf bloß ein bequemer Ort für den Abflug. Und er kam weiter langsam näher, mit den Beinchen übers Glas raschelnd. Nach einigen Anstrengungen gelang es ihm sich an den Barthaaren festzuklammern. Er strampelte lange in den zersausten Haaren, doch kletterte er zielstrebig höher. So glitt er über die zusammengekniffenen Lippen, die linke Nasenseite, über das linke geschlossene Auge, bis er endlich die Stirn erreicht hatte, doch aufs Glas, und von dort auf den Boden fiel./ Ein unbedeutender Vorfall! Doch in dem Zustand, in dem ich mich befand, hat er auf mich einen erschütternden Eindruck gemacht.“ („ – Я расскажу вам один случай, произошедший в то время. Как-то я был в лаборатории один. Вдруг в окно влетел большой черный жук с клешнями у головы. Откуда он мог появиться в центре громадного города? Не знаю. Может быть, его завез авто, возвращавшийся из загородной поездки. Жук покружился подо мной и сел на стеклянную доску моего столика, рядом со мной. Я, скосив глаза, следил за этим отвратительным насекомым, не имея возможности сбросить его. Лапки жука скользили по стеклу, и он шурша, медленно приближался к моей голове. Не знаю, поймете ли вы меня... я чувствовал всегда какую-то необычайную брезгливость, чувство отвращения к таким насекомым. Я никогда не мог заставить себя дотронуться до них пальцем. И вот, я был бессилен перед этим ничтожным врагом. А для него моя голова была только удобным местом для взлета. И он продолжал медленно приближаться шурша ножками по стеклу. После некоторых усилий, ему удалось зацепиться за волосы бороды. Он долго барахтался запутавшись в волосах, но упорно поднимался все выше. Так он прополз по сжатым губам, по левой стороне носа, через прикрытый левый глаз, пока, наконец, добравшись до лба, не упал на стекло, а оттуда на пол./ Пустой случай! Но в том настроении, в котором я находился, он произвел на меня потрясающее впечатление.“) Ebd., S. 28f.
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rückt, bei der die extraordinäre Leistungsfähigkeit des Geistes nur um den Preis körperlichsinnlicher Defizite zu haben war. Auf der anderen Seite hat es die Vision gegeben, genetisch und operativ eine Optimierung des „geistigen“ Menschen zu erreichen. Ein zentrales Faszinationsobjekt für diese Debatten war das Gehirn Lenins, zu dessen Erforschung bereits 1924 ein eigenes Laboratorium unter der Leitung des deutschen Neurologen und Direktors des Berliner Instituts für Hirnforschung, Oskar Vogt (1870–1959), gegründet wurde.158 Neben dieser „Verwissenschaftlichung“ von Lenins Zerebrum stand die gleichzeitige ideologische Sakralisierung des Parteiführers zu einer unsterblichen Ratio, die für den „Triumph des reinen Verstandes, der keinerlei Mystik akzeptiert“, für den „ewigen Enthusiasmus für Wissenschaft und Technik“, ein „Symbol der Elektrifizierung“, das „Leiden für eine Idee“ stand, wie die Pravda zum 6. Jahrestag der Revolution 1923 schrieb.159 Nimmt man aber diese medizinische und ideologische Mythifizierung der Genialität Lenins als diskursiven Prätext für den Kopf Professor Douėl’s, dann lässt sich die gewaltsame Appropriation von dessen wissenschaftlichem Erbe durch Professor Kern auch als eine Geschichte über Erbfolgekriege im politischen Feld lesen. Der im Privatlabor des „Königsmörders“ Kern versteckte Professorenkopf, dessen geistiges Erbe sich der begabte, aber rein mechanisch denkende, „kubistische“ Automatenmensch ohne Inspiration aneignen möchte, wäre dann auch eine Allegorie auf die Sowjetunion nach Lenins Tod, eine fantastische Aneignung des damaligen Slogans „Lenin lebt!“.160 Damit ist als vierte Bedeutungsebene die der totalen Kontrolle und Disziplinierung angesprochen, die sich besonders plastisch aus der Perspektive der Arzthelferin Adams erschließt. 158
Der schon mehrmals genannte Vladimir Bechterev entwickelte daraus 1927 die Idee, zum 10. Jahrestag der Revolution ein „Pantheon der Gehirne“ einzurichten, in dem berühmte Bolschewiki, Künstler und Wissenschaftler ausgestellt werden sollten. Ausführlich hierzu vgl. Spivak, Monika: Posmertnaja diagnostika genial’nosti. Eduard Bagrickij, Andrej Belyj, Vladimir Majakovskij v kollekcii Instiuta mozga, Moskva 2001; Hagner, Michael: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004, S. 235ff., 249ff.
159 „Lenin – das ist eine Feier des reinen Verstandes, der keinerlei Mystik anerkennt [...] – das ist die unend-
liche Begeisterung für Wissenschaft und Technik... das Symbol der Elektrifizierung [...] das ist das Leiden für die Idee [...].“ („Ленин – это торжество чистого разума, не признающeго никакой мистики [...] – это бесконечное увлечение наукой и техникой... символ электрификации [...] – это страдание за идею [...].“) Zitiert nach Tumarkin, Nina: Lenin živ! Kul’t Lenina v Sovetskoj Rossii, S-Peterburg 1997, S. 124. 160
Diese Appropriation von „Douėl’s Vermächtnis“ – des großen „Wohltäters“ scheitert jedoch am Ende: Douėl’ (als wissenschaftlicher Inspirator des Experiments) startet einen „Aufstand des Kopfes“ („ бунт головы“), Beggins Kopf (als Sinnbild für den bäuerlichen Arbeiter) erkrankt und stirbt ein zweites Mal, während Miss Uotson (als amputierte Künstlerin) in ihrer Eitelkeit und Originalitätssucht immer hysterischer wird. Vgl. Beljaev: Golova professora Douėlja [1926], S. 27, 50, 51ff. Der Name Douėl’ lässt sich Englisch geschrieben auch als Do-well, to do well, im Sinne von Gutes tun, ein Wohltäter sein, deuten. In der Romanfassung von 1937 wird diese Bedeutung des Wohltäters (Добродетель) auch explizit angesprochen, vgl. Beljaev: Golova professora Douėlja [1937], S. 45.
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Schon ihre Einstellung geschieht nur unter der Androhung „äußerst unangenehmer Folgen“ für sie, falls sie nicht ihrer Schweigepflicht nachkomme.161 Dann wird sie in die bedrohliche Atmosphäre des Labors eingewiesen, ehe ihr ein Schockerlebnis nach dem nächsten widerfährt, die sie immer weiter nervlich zerrütten. Als sie dann Kerns Geheimnis öffentlich gemacht hat, wird sie zur Strafe als „Geisteskranke“ (душевнoбольная) in die Psychiatrie eingeliefert.162Auch Douėl’s Kopf ist ein Gefangener Kerns und dessen Willkür ausgesetzt: Als er sich weigert, weiter zu kooperieren, quält Kern ihn erst mit physischer Folter, ehe er ihn mit psychologischen Tricks zur Mitarbeit zwingt.163 Dass dieses Bild des allmächtigen Kern, der zwar keine genialen Ideen hat, aber weiß, wie man Angst und Schrecken verbreitet, auch als Allegorie für die Diktatur des Proletariats taugt, die mit Verweis auf das Leninsche Vermächtnis ihr Gesellschaftsexperiment immer gewaltsamer fortsetzte, scheint Aleksandr Beljaev gewusst zu haben, wählte er doch ausgerechnet diese frühe Erzählung aus, um sie zeitgleich zum Großen Terror um mehr als das Dreifache zu einem Roman zu erweitern und 1937 direkt im Anschluss an den zweiten Schauprozess (vom 23. bis 30. Januar) in Fortsetzungen in der Leningrader Komsomolzeitung Smena (vom 1. Februar bis zum 11. März) zu veröffentlichen, ehe der Roman (von Juni bis Oktober desselben Jahres) auch in der Zeitschrift Vokrug sveta und 1938 beim Verlag Sovetskij pisatel’ als Buch erschien.164 In dieser Romanfassung legt Beljaev gewissermaßen seine Verfahren der allegorischen Verschlüsselung offen, indem er die Charakteristika des Träumers am Machtpol noch deutlicher zeichnet. Um trotzdem politisch unangreifbar zu bleiben und keine direkten Assoziationen zu Stalin zu wecken, verlegt er die Handlung nach Paris165 und bezeichnet Kern als „echten Inquisitor“, der in seinen Folter- und Verhörmethoden vor nichts mehr zurückschreckt:
161
„Ich muss Sie warnen: Das Nichterfüllen dieser Bedingung zieht für Sie äußerst unangenehme Konsequenzen nach sich. Äußerst unangenehme!“ („Должен предупредить: неисполнение этого условия повлечет за собой крайне неприятные для вас последствия. Крайне неприятные!“), Ebd., S. 7.
162
Ebd., S. 60ff. Vor dem Hintergrund dieser destruktiven Kontroll- und Disziplinierungsmethoden lässt sich auch „Miss Adams“ Name als Wiedergängerin des ersten Menschen Adam deuten, die ihren eigenen Schöpfungsprozess aus Lehm als Albtraum noch einmal durchlebt.
163
„Er ging zu ziemlich harten Maßnahmen über. Er befestigte an meine Schläfen die Enden elektrischer Kabel und stellte den Strom an, wobei er ihn mehr verstärkte. Es schien, als ob man mein Gehirn mit einem erhitzten Bohrer durchbohrt. [...] Dann begann er mir Gefäße mit Nährstoffen zuzuführen, die in meinem Kopf neue, quälende Schmerzen auslösten.“ („Он прибег к довольно жестоким мерам. Прижимая к моим вискам концы электрических проводов, он пускал ток, все усиливая его. Казалось, мой мозг просверливают раскаленным буравом. [...] Тогда он начал пускать в питающие меня баллоны вещества, которые вызывали в моей голове новые мучительные боли.“) Ebd., S. 29.
164
Vgl. Ljapunov: Aleksandr Beljaev, S. 103ff.; Troegubov: Aleksandr Romanovič Beljaev.
165
Entsprechend haben sich einige Namen verändert: Miss Adams heißt jetzt Mari Loran, Tom Beggins jetzt Toma Buš und Miss Uotson wird Brike genannt.
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„Er stand mit vor der Brust gekreuzten Armen und sprach in äußerst zärtlichem, weichem Tonfall, wie ein wirklicher Inquisitor. ‚Lieber Kollege, – fing er an. – Wir sind hier alleine, unter vier Augen, hinter dicken Steinwänden. Im Übrigen, selbst wenn sie dünner wären, ändert das nichts an der Sache, da Sie nicht schreien können. Sie sind vollkommen in meiner Macht. Ich kann ihnen die allerschrecklichsten Foltern zufügen und bleibe unbestraft. Aber wozu Foltern?’“166
Auch gegenüber seiner Assistentin, die jetzt Mari Loran [Marie Laurent]167 heißt, ist er sehr viel wachsamer geworden. Er enttarnt ihre konspirativen Gespräche mit Professor Douėl’ und lässt sie, nachdem sie in seinen Verhören keine Reue zeigt, direkt in die psychiatrische Klinik von „Dr. Ravino“ einweisen, der über seine Patientin sämtliche Informationen bis zu den „allerschrecklichsten Geheimnissen“ (самые ужасные тайны)168 hat und sich an die systematische „Bearbeitung der Psyche“ („обработку психики“) und „Zerstörung der moralischen Werte“ („разрушение моральных ценностей“)169 Lorans mit Hilfe psychischen Terrors macht: „In seinem Arsenal befanden sich ganz unterschiedliche Beeinflussungsmittel – von einnehmender Ehrlichkeit, Freundlichkeit und bezaubernder Aufmerksamkeit bis zu Grobheit und zynischer Offenheit. Er versuchte, was es auch koste, Loran aus dem Gleichgewicht zu bringen [...].“170
Dies gelingt Dr. Ravino beinahe auch durch Schlafentzug, Dauerbeschallung mit Musik und indem er ihr ausschließlich Kontakt mit Verrückten gewährt, ehe sie mit schon völlig zerrütteten Nerven unter den Patienten eines Tages einem „Neuling“ begegnet, der sich ihr mit den Worten in den Weg stellt: „ – Denen geht es gut, die das Unbekannte nicht kennen. Das ist alles natür166 „Он стоял, скрестив руки на груди, и говорил очень ласковым, мягким тоном, как настоящий
инквизитор. ‚Дорогой коллега, – начал он. – Мы здесь одни, с глазу на глаз, за толстыми каменными стенами. Впрочем, если бы они были и тоньше, это не меняет дела, так как вы не можете кричать. Вы вполне в моей власти. Я могу причинить вам самые ужасные пытки и останусь безнаказанным. Но зачем пытки?“ Beljaev: Golova professora Douėl’ja (1938), in: Ders: Izbrannye naučno-fantastičeskie
proizdvedenija v trech tomach, Bd. 2, Moskva 1957, S. 3–160, S. 24. Anschließend werden ausführlich Kerns tagelange Verhör- und Foltermethoden wiedergegeben, wobei er angesichts des beharrlichen Widerstands Douėl’s zunehmend außer sich gerät, ehe er seine Taktik ändert, vgl. ebd., S. 24f. 167
Marie Laurent (1826–1910) ist der Mädchenname der Ehefrau des berühmten französischen Chemikers und Bakteriologen Louis Pasteur, die mit ihm fünf Kinder hatte, von denen zwei an Typhus und eines an Hirntumor im Kindesalter starben, was Pasteur zu seinen Forschungen zur Heilung von Krankheiten wie Typhus inspiriert haben soll. Mit dieser Namensnennung wird, wie bei fast allen Bezügen zu realen historischen Persönlichkeiten in Beljaevs Werk, ein extrem positiv kodierter Wissenschaftsbezug hergestellt, der allerdings auffällig mit der Romanhandlung kontrastiert.
168
Beljaev: Golova professora Douėl’ja (1938), S. 118.
169
Ebd., S. 112, 116.
170 „ В его арсенале имелись самые разнообразные средства воздействия
– от подкупающей искренности, вежливости и обаятельной внимательности до грубости и циничной откровенности. Он решил во что бы то ни стало вывести Лоран из равновесия [...].“ Ebd., S. 116.
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lich Sentimentalität.“171 Es ist Douėl’s Sohn Artur, der seine Verrücktheit simuliert, um Loran zu befreien, was ihm auch gelingt, obwohl der „große Inquisitor“ („великий инквизитор“)172 ihn von Anfang an durchschaut hat. Zur Strafe setzt der Psychiater Artur schwerster physischer und psychischer Folter aus, über deren Folgen er keinen Zweifel lässt: „ – Ich habe schon andere Grünschnäbel als Sie zerstört. Sich bei der Macht beklagen? Das hilft nicht, mein Freund. Im Übrigen können sie einfach verschwinden, ehe die Macht unverhofft auftaucht. Keine Spur wird von Ihnen bleiben [...]/ Als guter Psychologe war ihm sofort klar, mit wem er es hier zu tun hatte und versuchte erst gar nicht seine Inquisitionstalente anzuwenden./ Artur Douėl’ konnte man nicht mit Psychologie bekämpfen, sondern nur durch entschiedene Maßnahmen.“173
Auch über den Charakter der für Versuchszwecke in Kerns Laboratorium eingelieferten „Opfer der großen Stadt“ (жертвы большого города) gibt es in der Romanfassung keinen Zweifel mehr. Überall wimmelt es von Agenten des Professor Kern, so dass einer aus seinem Labor ausgebrochenen Heldin nur die umgehende Flucht an die französische Mittelmeerküste und das Leben im Pariser Untergrund bleibt. Diese offensichtlichen außerliterarischen Bezüge auf die politischen Säuberungen im Moskau der dreißiger Jahre werden in dem Roman ausführlich entfaltet, gleichzeitig aber immer wieder als Spezifika des westlichen Pariser Lebens attribuiert. Ähnlich verfährt Beljaev auch mit den „wissenschaftlichen“ Experimenten zur Schaffung des Neuen Menschen, die durch weitere chirurgische Eingriffe und Handlungslinien ergänzt werden, wodurch die schon in der Erzählung angelegte Semantik des Gefängnisses und des Disziplinarlabors noch verstärkt wird.174 Er kreiert damit eine metaphorische Form der Rede, in der das „Fantastische“ für all den Schrecken und Horror steht, den die „wissenschaftlichen“ Gesellschaftsexperimente hervorgebracht haben, wie er in dem in der Zeitung Smena publizierten Vorwort zum Roman 1937 schreibt: „Vor dreizehn Jahren habe ich die Erzählung ‚Der Kopf des Professor Douėl’“ über das Thema der Wiederbelebung des menschlichen Kopfes, der vom Körper abgetrennt ist, geschrieben.../ Für die damalige Zeit war die Erzählung in der Fassung, in der sie gedruckt wurde, ziemlich mutig, und
171 „ – Те хороши, которые не знают о неведомом. Все это, конечно, сентиментальность.“ 172
Ebd., S. 120.
Ebd., S. 122.
173 „ – Я ломал не таких молокососов, как вы. Жаловаться властям? Не поможет, мой друг. Притом вы
можете исчезнуть прежде, чем нагрянут власти. От вас не останется следа. [...]/ Хороший психолог, он сразу разгадал, с кем имеет дело, и даже не пытался применять свои инквизиторские таланты./ С Артуром Доуэлем приходилось бороться не психологией, не словами, а только решительными действиями.“ Ebd., S. 127.
174
In der Romanfassung gelingt es, die wiederbelebten Menschenköpfe in einem zweiten Schritt chirurgisch mit einem anderen, unversehrten Körper zu verbinden, so dass tatsächlich perfektionierte „hybride“ Menschen operativ hergestellt werden können, vgl. ebd., S. 54ff.
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dem Autor konnte man eine unwissenschaftliche Herangehensweise an das Thema vorwerfen./ Seitdem hat sich die Lage geändert. Im Bereich der Chirurgie hat es riesige Fortschritte gegeben. Daher habe ich mich entschlossen, die Erzählung in einen Roman umzuarbeiten, indem ich sie, ohne mich von der wissenschaftlichen Grundlage zu entfernen, noch fantastischer machte.“175
Beljaev provoziert in dieser Begründung seiner Fantastik geradezu eine metaphorische Lesart des „chirurgischen“ Bereichs, in dem ein abgeschlagener Kopf 1926 wissenschaftlich gesehen noch eine „ziemlich mutige“ und realitätsfern anmutende Prognose gewesen sei, wohingegen man 1937 diesbezüglich „enorme Erfolge“ vorzuweisen habe. Zusammenfassend lässt sich die hier anhand des Kopfes von Professor Douėl’ etwas näher skizzierte Poetik Beljaevs wie folgt charakterisieren: Symbolisch verortet Beljaev seine Geschichten in etablierten Diskursen und Topoi der Abenteuerliteratur und Kulturgeschichte (Privatgelehrter im Labor, Frankenstein-Mythos, Dekapitations-Motiv, Geist-Seele-Problematik, westliche Großstadt und andere), die in der Erzählung eindeutig in sowjetischer Perspektive negativ gewertet werden: Auf dieser Ebene vollzieht sein Werk eine gelungene Adaption und Rekodierung westlicher Abenteuermuster im Sinne der „kommunistischen Pinkertonovščina“. Imaginär beziehen seine Geschichten sich auf wissenschaftliche Experimente und Hypothesen, deren aktuelle Forschungsrelevanz häufig in Vorbemerkungen oder Vorworten zusätzlich betont wird. Dabei werden zwar positivistisch die diesen Experimentalanordnungen zugrunde liegenden medizinischen und physiologischen Prämissen „popularisiert“ (Gewebetransplantation, Wiederbelebung der Toten, Verlängerung des Lebens, geniale Gehirne), in der Entfaltung der Narration aber richtet sich das Interesse einzig auf die an den Laborexperimenten beteiligten Protagonisten und auf deren meist aus antagonistischen Motiven gespeiste Handlungen (Machtgier, Ruhmsucht, Eifersucht, Liebe, Angst, Rache, Gewissen, Moral) . Die so geschürten und eskalierenden Konflikte bringen letztlich die menschenfeindlichen Laborexperimente zum Scheitern (oder transformieren sie manchmal, wie oben erwähnt, in eine utopisch-märchenhafte Zukunftswelt). Auch diese Ebene liegt noch auf der Linie einer Neukonstituierung der sowjetischen Abenteuerliteratur, zeigt sich doch anhand der naturwissenschaftlichen Expertisen, dass die Schaffung des Neuen Menschen gelingen kann, wenn auch das gesellschaftliche Umfeld im marxistischen Verständnis dies ermöglicht. Gleichzeitig aber werden durch diese symbolisch und imaginär mehrfach kodierten Narrative auch „reale“ Subtexte außerliterarischer Wirklichkeiten allegorisch und metaphorisch in der Geschichte lesbar (Menschenversuche, biopolitische Disziplinierung, Verhör- und Foltermethoden, Gefangennahme, Flucht und Verfolgung).
175 „Тринадцать лет тому назад я написал рассказ ‚Голова профессора Доуэля‘ на тему об оживлении
человеческой головы, отсеченной от тела.../ Для того времени рассказ в том виде, в каком он был напечатан, являлся достаточно смелым, и автора могли упрекнуть в ненаучом подходе к теме./ С тех пор положение изменилось. В области хирургии достигнуты огромные успехи. И я решил переработать свой рассках в роман, сделав его, не отрываясь от научной основы, еще более фантастичным.“ Zitiert nach Ljapunov: Aleksandr Beljaev, S. 106.
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Legt man dieses poetische Prinzip einer allegorischen Verschlüsselung etablierter kulturgeschichtlicher und populärwissenschaftlicher Diskurse dem Schaffen Beljaevs zugrunde, bekommen seine Werke eine gesellschaftspolitische Dimension, die bislang von der Forschung nicht beachtet wurde.176 Beljaevs Abenteuergeschichten über Medienfiktionen und Technikfantasien verbinden die sowjetische Abenteuerliteratur auf diese Weise so deutlich wie bei keinem anderen Autor jener Jahre mit einer Dimension des Schauerlichen und Unheimlichen, das seit Mary Shelleys Frankenstein ein entscheidendes Charakteristikum des auf wissenschaftliche Innovationen bezogenen Fantastischen gewesen ist. Diese Definition des Fantastischen als verworfene, verdrängte Schattenseite der Aufklärung und Moderne scheint Beljaev von Anfang an seiner Poetik bewusst zugrunde gelegt zu haben, wobei diese angstbesetzten „Schattenseiten“ in seinen Werken auch noch die Funktion einer politischen Allegorie erhalten haben. In der Sowjetunion war Beljaev einer der ersten Schriftsteller, der seine Erzählungen und Romane bereits seit 1925 oft mit dem Attribut „wissenschaftlich-fantastisch“ belegt hat, und zwar gerade in diesem auf den Schauerroman zurückgehenden Sinne, lange bevor es eine etablierte Genrebezeichnung geworden war oder in der Kritik irgendeine Definition dieses Begriffs gegeben hat. Als man aber gegen Ende der 1920er Jahre dann tatsächlich begann, sich mit einer genaueren Bestimmung dessen zu beschäftigen, was „wissenschaftlich-fantastische“ (Abenteuer)Literatur sein könnte, war es genau dieses Beljaevsche Verständnis des Fantastischen als Unheimliches, das man mit allen Mitteln bekämpfte, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird.
176
Vgl. zuletzt Maguire: Stalin’s Ghosts, S. 112ff., 180ff. Man hat gerade den Kopf des Professor Douėl’ häufig autobiographisch gelesen, vgl. zum Beispiel: Bugrov: 1000 likov mečty, S. 175f.
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5. W i s s e n s c h a f t l i c h e F a n ta st ik – D ie Et a b lie rung n eu er G e n r e g r e n z e n 1 „Die Jugend hat einen kolossales Bedürfnis nach Abenteuerromanen, nach Literatur über Reisen und Entdeckungen usw. [...] Man kann beobachten, wie manchmal altertümliche, zerrissene Boulevardbüchlein N. Pinkertons, Nik Karters bei 14–16 jährigen Pionieren einen reißenden Absatz finden und sich eine überaus lange Schlange für ihre Lektüre bildet.“ (G. Aleksov, 1929)1
Wie in den vorigen Kapiteln gezeigt, entwickelte sich nach dem Ende des Bürgerkrieges in der Sowjetunion ein Markt populärer Abenteuerliteratur, der zwar wesentlich immer noch aus Übersetzungen bestand, aber auch mehr und mehr sowjetische Werke hervorbrachte. Angesichts des „kolossalen Bedürfnisses nach Abenteuerromanen“ wurden diese nicht nur massenweise von kommerziell orientierten Verlegern wie Sytin und Sojkin, sondern zunehmend auch von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen publiziert. Auch wenn diese prosperierende „Boulevardliteratur“ von den zentralen literaturpolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen der NÖP-Jahre nur sehr mittelbar betroffen war, reagierte sie doch auf die Impulse der Neuen Zeit, so dass sich schon ab 1922/1923 erste Tendenzen einer spezifisch sowjetischen Abenteuerliteratur herausbildeten. Diese resultierten zum einen aus dem politischen Impuls, der von Bucharins Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“ ausging und eine radikale ideologische Neuausrichtung des Genres bewirkte. So revidierte man die exotisierenden und kolonialen Dispositive eines Wilden Westens oder „dunklen Kontinents“ Afrika aus den westeuropäischen und nordamerikanischen Prätexten und adaptierte sie für die sowjetischen Verhältnisse: Das „orientalische“ Mittelasien und die sibirischen Weiten, die politischen Untergrundbewegungen im Zarenreich und die Kämpfe während der Revolution und im Bürgerkrieg halfen bei der Konstruktion eines neuen „Wilden Ostens“ (Kapitel 2). Zum zweiten gab es den ästhetischen Impuls, der zwar unmittelbar nur von avancierteren Schriftstellern „ernsthafter“ Belletristik als Genreparodie versuchsweise für kurze Zeit getragen wurde (Kapitel 3), aber indirekt über die Auseinandersetzungen mit medialen Neuerungen wie der Adaption des Abenteuergenres durch das Kino auch die „vulgarisierten“ Schreibweisen der Massenliteratur berührte. Erzählerische Verfahren der Verfremdung, parodistischen Distanzierung und experimentelle Imitationen „kinematographischer“ oder medialer Narrationsformen ließen sich auch des Öfteren in illustrierten Zeitschriften und Abenteuerheftfolgen beobachten 1 „У молодежи имеется колоссальная тяга к приключенческим романам, к литературе о путешествиях,
открытиях и т. д. […] Приходится наблюдать, как иногда старинные, потрепанные, бульварные книжонки Н. Пинкертона, Ника Картера брались 14-16 летними пионерами нарасхват и устраивалась длиннейшая очередь на их чтение.“ Aleksov: „Vsemirnyj sledopyt”, S. 48.
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(Abschnitt 4.1). Und zum dritten spielte der wissenschaftliche Impuls für die mit technisch-fantastischen Innovationen befasste Abenteuerliteratur eine wesentliche Rolle, der versprach, eine neue Gesellschaft und neue Menschen mit Hilfe neuester Erkenntnisse aus den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, der Physiologie und Psychologie, durch Radio, Elektrizität und Ingenieurstechnik aufbauen zu können. Dieser Impuls machte das im eigentlichen Sinne fantastische Potenzial dieser neuen Literatur aus, das stärker noch als andere Bereiche des Genres den aus den gesellschaftspolitischen Erschütterungen des Umbruchs und der NÖP-Zeit erwachsenden irrationalen Ängsten und hypertrophen Wahnideen fiktionale Gestalt verlieh (Abschnitt 4.2). Allen diesen Aspekten einer „sowjetischen“ Neuausrichtung der Abenteuerliteratur aber gemeinsam war, dass sie die auch in den westlichen Vorbildern des „imperialen weißen Mannes“, der sein Glück in der kolonialen Fremde sucht, angelegte Ambivalenz zwischen Eigenem und Fremdem trotz oder gerade vermöge einer eindeutigen ideologischen Positionierung der Helden eher noch „spielerisch“ verstärkte. Dies zeigte sich schon in den Maskenspielen der „roten Teufelchen“ des Bürgerkriegs (Abschnitt 2.2) oder bei den indigenen oder altgläubigen „letzten Mohikanern“ Sibiriens von Arsen’ev und Zuev-Ordynec (Abschnitt 2.3), wurde explizit in den Genreadaptionen und -parodien der „Masken der Weltrevolution“ bei „formalistisch“ inspirierten Schriftstellern thematisiert (Kapitel 3) und entwickelte sich dann in den auf technische und wissenschaftliche Innovationen bezogenen Abenteuergeschichten insbesondere bei Beljaev zu einem zentralem Kompositionsmoment (Abschnitt 4.3). Man fand hier kaum die später für den Sozialistischen Realismus so kennzeichnende Homogenität zwischen Figur, Sujet und Erzähler, was die ästhetische und ideologische Tendenz anbelangt, sondern überall das für den „Roman der Geheimnisse“ (Abschnitt 3.1) so konstitutive Moment der Verstörung, das die weltweiten Pfadfinder, revolutionären Romantiker und verrückten Gelehrten zu ihren abenteuerlichen Expeditionen in immer wieder andere Welten verleitete. Eine solche Literatur war zwar, wie in der Juni-Resolution des ZK der RKP (b) 1925 gefordert, „wirklich auf den Massenleser“ berechnet und in einer den „Millionen verständlichen“ Form geschrieben, musste aber angesichts der zunehmenden literaturpolitischen Hegemonie der Proletkul’t-Bewegung Ende der 1920er Jahre zunehmend anachronistisch werden.2 Und tatsächlich änderte sich die Lage für Abenteuerliteratur 1928/1929 dramatisch, wozu verschiedene Faktoren beitrugen. Vor allem hatte sich der allgemeine gesellschaftspolitische Kontext grundlegend gewandelt. Mit der auf dem XV. Parteitag der RKP (b) im Dezember 1927 eingeleiteten forcierten Industrialisierung und gewaltsamen Kollektivierung des Landes ging auch eine bildungspolitische „Revolution von oben“ einher, die neue technisch-wissenschaftliche Kader für den Aufbau des Sozialismus rekrutieren sollte. Der 1929 proklamierte „Kulturfeldzug“ (культурный поход) bedeutete vor allem auch eine Ausweitung der Wissenschaftspopularisierung, die die Jugend für den „Großen Umbruch“ („Великий перелом“, Stalin) begeistern sollte.3 Allerdings stellte die öffent2
Vgl. Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932, S. 74ff., 510.
3
Vgl. Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, S. 367ff.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 235
liche Beschäftigung mit Wissenschaften und Technik in den 1920er Jahren noch ein durchaus disparates Feld dar, das von der in der aufklärerischen Tradition des 19. Jahrhunderts stehenden „unterhaltsamen“ Popularisierung eines Niolaj Rubakin oder Jakov Perel’man bis zu den bioutopischen Projekten avantgardistischer Experimentatoren reichte. So bedeutete die Ausweitung auch eine weltanschauliche Neuausrichtung des „populärwissenschaftlichen Projekts“ (Igor J. Polianski). Für die Jugendliteratur hingegen konnte man die 1924 und 1925 von Samuil Maršak geleitete Kinderzeitschrift Novyj Robinzon (Der neue Robinson) als Modell nehmen, die sich schon früh mit dem wissenschaftlich begründeten Aufbau einer neuen Welt beschäftigt hatte. (Abschnitt 5.1. Das Laboratorium des Neuen Robinson) Diese Veränderungen im Feld der Wissenschaftspopularisierung und Jugendliteratur bildeten gewissermaßen die diskursiven Rahmenbedingungen, unter denen auch eine Neuorientierung der Abenteuerliteratur entsprechend der im ersten Fünfjahresplan (1928–1933) vorgegebenen Themenstellungen und Forschungsfragen stattzufinden hatte. Erstmals geriet so das Genre dezidiert in den Fokus ideologischer und ästhetischer Kritik. Da man um das „kolossale Bedürnis nach Abenteuerliteratur“ wusste, versuchte man dabei das Kompositum Wissenschaftliche Fantastik (Научная фантастика) für auf Technik und Wissenschaft bezogene Geschichten von der übrigen „Boulevardliteratur“ abzugrenzen. Eine literaturgeschichtliche Rekonstruktion der Genese dieses Begriffs, der in der westlichen Literatur fast durchweg als Synonym für Science Ficton gebraucht wird, ist bislang von der Forschung noch nicht geleistet worden. Als Gattungsbezeichnung ist er bereits ein Jahr bevor Hugo Gernsback (1884–1967) im April 1926 im Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Amazing Stories seine Definition der „Scientifiction“ gegeben hatte,4 von der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt eingeführt worden, hatte aber noch keine nähere Definition erfahren. Das geschah erst, als man ihn zur Schaffung einer neuen didaktischpädagogischen Jugendliteratur rekonstruierte und versuchte, den Terminus von einer lediglich auf spannende Unterhaltung und revolutionäre Romantik zielenden Abenteuerliteratur zu isolieren. Allerdings blieb eine solche Eingrenzung des Begriffs des „Fantastischen“ und der Ausschluss all dessen, was den „kommunistischen Pinkerton“ ausgemacht hatte, nicht unumstritten. Schuf sie doch eine „Abenteuerliteratur ohne Abenteuer“, die weder von den Autoren noch von den Lesern gewollt wurde (Abschnitt 5.2. Unsere Mayne Reids und Jules Vernes). Ungeachtet dessen verschärften sich in den Jahren der literaturpolitischen Hegemonie der RAPP-Aktivisten 1930 und 1931 die Polemiken gegen das Abenteuergenre noch, die seine Existenzberechtigung nicht nur auf formaler und ideologischer Ebene, sondern strukturell und administrativ infrage stellten. So konnte im Zuge der gewaltsamen Modernisierung der Sowjetunion und des proklamierten Aufbaus des Sozialismus erstmals eine Konzeption der „Wissenschaftlichen Fantastik“ durchgesetzt werden, in der nicht nur alle Elemente des „kommunistische Pinkertons“, sondern die konstitutiven Motive, Themenfelder und Narrationsmuster des Abenteuerromans diskreditiert waren. Dieses von Literaturfunktionären und „Bürokraten“ durchgesetzte Konzept eines „sowjetischen Robinson“ hatte bloß einen Nachteil: es löste kein 4
Vgl. Westfahl, Gary: Hugo Gernsback and the Century of Science Fiction, Jefferson, NC/London 2007, S. 20.
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„kolossales Bedürfnis“ aus und verlängerte nur die ohnehin schon „überaus langen Schlangen“ vor den „altertümlichen, zerrissenen Boulevardbüchlein“ der Vorrevolutionszeit (Abschnitt 5.3. Wie Robinson entstanden ist).
5 .1 Das L abo rato rium des Ne uen Rob i n so n – D i e A u swe i tu n g der W issens chafts p o p ula ris ie run g 5 „Nun, und unser ganzes heutiges Leben? Ist es nicht in Wirklichkeit eine Robinsonade? Natürlich ist es ein Robinsonleben. Die russischen Arbeiter und Bauern machen jetzt das, was bisher noch niemals jemand gemacht hat.“ (Novyj Robinzon, 1924)5
Als nach dem Ende des Bürgerkriegs der noch recht unbekannte Übersetzer schottischer und irischer Dichtung, Kinderbuchautor und Organisator von Kinderheimen, Samuil Jakovlevič Maršak (1887–1964), im Jahr 1922 nach Petrograd kam, begann er sofort mit dem Volkskommissariat für Bildung sich aktiv in der Jugend- und Kinderliteraturpolitik zu engagieren. Unter anderem leitete er ab 1923 eine von ihm gegründete Kinderzeitschrift, die sich zuerst Vorobej (Der Sperling), 1924–1925 Novyj Robinson (Der neue Robinson) nannte. Diese Zeitschrift war so erfolgreich, dass Maršak nach deren Auflösung zum Leiter der in Leningrad ansässigen Abteilung für Kinderliteratur des Staatsverlags Gosizdat (Государственное издательство, russ. Abk. „Госиздат“) ernannt wurde, aus der später der zentrale Staatsverlag für Kinderliteratur, Detizdat, hervorgehen sollte. In enger Zusammenarbeit mit Maksim Gor’kij stieg Maršak so zu einem der einflussreichsten Kulturpolitiker im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur auf, ehe er seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zum erfolgreichsten Kinderbuchautor der Sowjetunion wurde, der zwischen 1942 und 1951 allein vier Stalinpreise bekam.6 Der Novyj Robinzon stellte nur eine kurze Episode in der Frühzeit von Maršaks Karriere dar, und doch lässt sich diese Kinderzeitschrift als symptomatischer Ausgangspunkt für eine Neuorientierung in der Kinder- und Jugendliteratur nehmen, die für die Entwicklung der Abenteuerliteratur Anfang der 1920er Jahre zwar noch keine Relevanz hatte, Anfang der 30er Jahre aber dramatische Folgen zeitigen sollte. Anders formuliert kann man den Neuen Robinson als Labora5 „Ну, а вся наша теперешняя жизнь? Разве она не Робинзонская? Конечно, она – Робинзонская.
Русские рабочие и крестьяне сейчас делают то, что до них еще никогда и никто не делал.“ So die
Begründung der Redaktion für den Titel ihrer Kinderzeitschrift Novyj Robinzon (Der neue Robinson) im August 1924. Zitiert nach Eggeling: Die Prosa sowjetischer Kinderzeitschriften, S. 63. 6
Vgl. zur Biographie Maršaks Gejzer, Matvej: Maršak (Žizn’ zamečatel’nych ljudej, Bd. 989), Moskva 2006.
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torium für die Umstrukturierungen zu Ende des Jahrzehnts deuten, zeichnete sich die Kinderzeitschrift doch unter anderem durch eine starke Ausrichtung auf Wissenschaftspopularisierung aus. An ihr beteiligten sich neben Samuil Maršaks jüngerem Bruder Ilja Jakovlevič Maršak (1896–1953) als Redakteure Boris Stepanovič Žitkov (1882–1938), Evgenij L’vovič Švarc (1896– 1958) und Vitalij Valentinovič Bianki (1894–1973), die alle später als renommierte Kinderbuchautoren Karriere machen sollten.7 Insbesondere Ilja Maršak, der unter seinem Pseudonym Michail Il’in zu dem vielleicht wichtigsten Wissenschaftspopularisatoren der Stalinzeit werden sollte, publizierte hier seit 1924 nicht nur seine ersten populärwissenschaftlichen Aufsätze, sondern leitete auch die Rubrik „Das Laboratorium des Neuen Robinson“ (Лаборатория Нового Робинзона).8 Deutet man dieses Laboratorium als Experimentierfeld für eine neue populärwissenschaftliche Kinderliteratur, dann bestand das Neue dieses Robinsons darin, dass er den impliziten gesellschaftspolitischen Anspruch seines literarischen Vorläufers explizit machte. Die Zeitschrift verknüpfte Wissenspopularisierung mit der ideologischen Aufgabe, eine neue Generation von Sowjetbürgern naturwissenschaftlich und gleichzeitig politisch zu bilden.9 Vor allem aber repräsentiert Robinson Crusoe, wenn man diesen Zeitschriftentitel programmatisch nimmt, gewissermaßen das Gegenbild zur Figur des Pfadfinders oder der Stechmücke: Er ist kein Spurensucher in einer anderen Welt, deren fremde Ordnung es zu enträtseln gilt, und auch kein Untergrundkämpfer, der eine als ungerecht empfundene Weltordnung stürzen möchte, sondern ein protestantischer Arbeiter in einer feindlichen Umgebung, die es gemäß der eigenen Ratio und Ethik zu unterwerfen gilt. Insbesondere Robinson Crusoe, so Stefan Zweig in seiner Studie zur archaischen Figur des Abenteurers, „undermine[s] the ideal of adventure, as does the enlightenment, with its belief in natural law and in man’s perfect sociability.“10 7
Der ausgebildete Physiker und Mathematiker Bianki leitete beispielsweise seine populäre Rubrik „Die Waldzeitung“ („Лесная газета“), die ab 1928 als Einzelbuch unzählige Neuauflagen erlebte, und der ehemalige Seefahrer, Ichthologe, Zimmermann und Physiklehrer Žitkov die Abteilungen „Der streunende Fotograf“ (Бродячий фотограф) und „Der Fabrikarbeiter“ (Мастеровой). Als Autoren schrieben für die Zeitschrift unter anderem Nikolaj Tichonov, Viktor Šklovskij, Veniamin Kaverin, Osip Mandel’štam, Boris Pasternak und Konstantin Fedin. Vgl. Maršak, Samuil: Poėzija nauki (1961), in: Il’in, Michail: Izbrannye proizvedenija v trech tomach, Bd. 3, Moskva 1962, http://lib.ru/TALES/ILIN_M/rov.txt (01.08.2006); Eggeling: Die Prosa sowjetischer Kinderzeitschriften, S. 62.
8
Vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 5, l. 13 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury: Delo No 4); Göpfert, Frank: Die wissenschaftlich-künstlerische und populärwissenschaftliche Literatur, in: Ludwig, Nadeshda; Bussewitz, Wolfgang (Hg.): Sowjetische Kinder- und Jugendliteratur. In Überblicken und Einzeldarstellungen, Berlin 1981, S. 241–254. Zu den Lebensdaten von Ilja Maršak (Michail Il’in) vgl. Ljapunov, Boris: M. Il’in. Kritiko-biografičeskij očerk, Moskva 1955; Gejzer: Maršak, S. 37–39.
9
Vgl. Eggeling: Die Prosa sowjetischer Kinderzeitschriften, S. 63; Volotova, N.: Kak sozdavalsja „Robinzon“, in: Galanov, B.; Maršak, I.; Petrovskij, M. (Hg.): Žizn’ i tvorčestvo Samuila Jakovleviča Maršaka, Moskva 1975, S. 141–149.
10
Zweig: The Adventurer, S. 17.
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Auch der hier noch im Zeitschriftenlabor konzeptualisierte Neue Robinson widersprach der Figur des Abenteurers, doch ging es ihm nicht um den Glauben an Naturgesetze und eine angeborene Gesellschaftsfähigkeit, die in die Fremde exportiert wurden, sondern um das genaue Gegenteil: Der sowjetische Robinson glaubte daran, zukünftig die Naturgesetze unterwerfen und die perfekte Gesellschaft im eigenen Land herstellen zu können. Robinson stellte in der Jugendliteratur gewissermaßen den „rationalen“ Gegenentwurf zur „romantischen“ Abenteuerliteratur dar, der nicht an einer Rekodierung imperialer Exotik und kolonialer Alteritätsfantasien interessiert war, sondern an deren wissenschaftlicher Eliminierung. Und genau dieses utopische Versprechen wird Anfang der 1930er Jahre zum zentralen ideologischen Argument, um die Roten Teufelchen und Weltweiten Pfadfinder mehr und mehr durch den „Unadventurous Hero“ Robinson zu ersetzen, wodurch eine „adventure novel without adventure“ entsteht.11 Ehe diese allmähliche Eliminierung des Abenteuers im Abenteuerroman diskursiv propagiert werden konnte, musste aber erst einmal ein entsprechendes populärwissenschaftliches Dispositiv geschaffen werden. Denn die populärwissenschaftliche Publizistik stellte in den 1920er Jahren noch ein recht disparates Feld dar, das seine Anfänge in den positivistischen Reformbewegungen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte. Wie überall in Europa war die Wissenschaftspopularisierung eng mit dem Aufkommen einer modernen Öffentlichkeit, mechanistischen Weltanschauung und positivistischen Gesellschaftskonzeption verbunden. Von der Schulung der ungebildeten Laien und einer „wissenschaftlichen“ Reform des Staates versprachen sich deren Aktivisten eine Heilung der „Krankheiten“ des alten Regimes und einen „Schlüssel zur modernen Welt“.12 Auch wenn im Russischen Zarenreich die Verbreitung der Populärwissenschaften in geringerem Ausmaße stattfand und etwas später einsetzte als im Britischen Imperium oder im Deutschen Reich, bildete sich doch Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe an Institutionen, Verlagen und Gesellschaften, die sich dieser „öffentlichen Bildungsbewegung“ widmeten. Zielpublikum war ein meist erwachsenes Laienpublikum, das sich für neueste wissenschaftlich-technische Entwicklungen interessierte.13
11
Ebd., S. 113.
12
Vgl. Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 1998; Schwarz, Angela: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Grossbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914), Stuttgart 1999; Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Danneberg, Lutz; Vollhardt, Friedrich (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380.
13
McReynolds, Louise; Popkin, Cathy: The Objective Eye and the Common Good, in: Kelly, Catriona; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880–1940, Oxford 1998, S. 57–105, S. 66; Allgemein vgl. auch Lazarevič: S vekom naravne; Hachten, Elizabeth A.: In Service of Science and Society. Scientists and the Public in Late Nineteenth-Century Russia, in: Osiris 17 (2002), S. 171– 209; Bradley, Joseph: Voluntary Associations in Tsarist Russia. Science, Patriotism, and Civil Society, Cambridge, Mass. 2009.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 239
Populärwissenschaftliches Schreiben bedeutete jedoch nicht nur Wissensvermittlung, sondern hatte immer auch einen „weltanschaulichen“ Anspruch, durch die Popularisierung zu höheren Wahrheiten über das Leben und die Gesellschaft als Ganzes vorzudringen.14 Gerade dieser gesellschaftspolitische Anspruch war im Kontext des späten Zarenreichs brisant, bildete er doch nicht nur häufig ein Substitut für die stark reglementierte politische Auseinandersetzung, sondern trat auch in direkte Konkurrenz zum traditionellen religiösen Deutungsmonopol der Kirche sowie zu den humanistischen Anschauungen der kulturellen „Intelligenzija“. 15 Angesichts der Etablierung einer breiteren modernen Medienlandschaft und Massenkultur bei gleichzeitig zunehmender politischer Polarisierung um die Jahrhundertwende gab es zwar insbesondere nach der gescheiterten Revolution von 1905 auch innerhalb der Wissenschaftspopularisierung erhebliche ideologische und weltanschauliche Differenzierungen, doch der in den großen kommerziellen Verlagen eines Sojkin oder Sytin publizierte Mainstream blieb ungeachtet aller Kritik „staatstragend“.16 Das änderte sich auch nach der Oktoberrevolution bei aller Skepsis gegenüber dem bolschewistischen Gesellschaftsexperiment nicht grundsätzlich, und so konnte die große Mehrheit der Wissenschaftspopularisatoren auch nach 1917 ihre „Zivilisierungsmission“ ungebrochen fortführen.17 Ging es doch deren Protagonisten vor allem um das Wohl der „imaginierten Gemeinschaft“ der Nation insgesamt, weswegen sie sich immer wieder den jeweiligen politischen Gegebenheiten anpassten. Für diese Kontinuität stehen nicht nur die großen Verleger und Herausgeber populärwissenschaftlicher Publikationsorgane, sondern auch Namen wie Fersman, Perel’man oder Rubakin, die schon vor der Revolution zu Bestsellerautoren geworden waren und nach der Revolution ungeachtet aller teils scharfer Kritik bis in die Stalinzeit unbeschadet „am Machtpol“ präsent blieben. 14
Vgl. Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 38ff., 71ff; Thomé: Weltanschauungsliteratur.
15
Vgl. Vucinich, Alexander: Darwin in Russian Thought, Berkeley 1988; Todes, Daniel P.: Darwin without Malthus. The Struggle for Existence in Russian Evolutionary Thought, New York u.a. 1989; Frieden, Nancy Mandelker: Russian Physicians in Era of Reform and Revolution. 1856–1905, Princeton 1981; Beer, Daniel: „Microbes of the Mind“. Moral Contagion in Late Imperial Russian, in: Journal of Modern History 79 (2007), S. 531–571; Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben: Bazarovs Erben. Ästhetische Aneignungen von Wissenschaft und Technik in Russland und der Sowjetunion, in: Dies. (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960. Frankfurt am Main 2008, S. 9–36.
16
Zwar machte sich innerhalb der liberal-konservativen Kreise eine zunehmende Desillusionierung angesichts der vermeintlichen Reformunfähigkeiten des zaristischen Systems breit, welche der Gesellschaft einen Zustand fortgeschrittener physischer, psychischer und moralischer „Degeneration“ diagnostizierten, die in der „traumatischen Epidemie“ der revolutionären Unruhen von 1905 ihren ersten symptomatischen Ausdruck gefunden zu haben schien. Gleichzeitig hielten diese Kreise aber weiterhin an ihrem Enthusiasmus für die exakten Wissenschaften als jenes utopische Allheilmittel fest, das eine Neugestaltung der Gesellschaft bewirken sollte. Vgl. Beer: „Microbes of the Mind“, S. 538f., 564ff.; Hachten: In Service of Science and Society, S. 182.
17
Kelly, Catriona: New Boundaries for the Common Good. Science, Philanthropy, and Objectivity in Soviet Russia, in: Dies.; Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution. 1880– 1940, Oxford 1998, S. 238–255, S. 238; Vgl. auch Andrews: Science for the Masses.
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Der Bibliograph und Schriftsteller Nikolaj Aleksandrovič Rubakin (1862–1946) galt beispielsweise als ein Pionier der Wissenschaftspopularisierung im zaristischen Russland, siedelte 1907 in die Schweiz über, bezog seit 1930 aber eine Rente aus der UdSSR und wurde 1948 in Moskau beerdigt. Schon vor der Revolution war er in diversen Komitees zur Bekämpfung des Analphabetismus aktiv und publizierte Hunderte von Pamphleten, Artikeln und Kalendern zur Volksbildung.18 Mit Titeln wie Aus der Welt der Wissenschaft und der Ideengeschichte (Из мира науки и из истории мысли, 1896), Väterchen Zeit (Дедушка Время, 1904), Wie, wann und warum die Menschen auf der Erde auftauchten (Как, когда и почему появились люди на земле, 1909), Inmitten von Geheimnissen und Wundern (Среди тайн и чудес, 1909), Wie die Menschen fliegen lernten und in der Luft fliegen (Как люди научились летать и летают по воздуху, 1913) oder Auf schwimmenden Eisschollen durch das Eismeer (На плавающих льдинах по Ледовитому океану, 1919) erreichte er eine Gesamtauflage von 15 Millionen Büchern.19 Ein anderer, ebenfalls schon vor der Revolution bekannter Popularisator war der ausgebildete Forstwirt Jakov Isidorovič Perel’man (1882–1942), der 1901 noch während seines Studiums begann in der schon erwähnten populärwissenschaftlichen Zeitschrift Priroda i ljudi (Natur und Menschen, 1890–1918) mitzuarbeiten.20 Er popularisierte erstmals Ciolkovskijs weltanschauliche Ideen zur Raumfahrt, die er 1915 bei Sojkin auch in dem Büchlein Interplanetare Reisen (Межпланетные путешествия) einem größeren Publikum zugänglich machte, das in der Folgezeit noch zehn weitere Auflagen erlebte.21 Bereits 1919 gründete er dann das erste sowjetische populärwissenschaftliche Journal V masterskoj prirody (In der Werkstatt der Natur, 1919–1929), das regelmäßig technischwissenschaftliche Abenteuergeschichten druckte, und arbeitete in den 1920er Jahren im Volkskommissariat an der sowjetischen Schulreform mit.22 Zum Erfolgsautoren wurde er mit seinem 1913 erstmals erschienenen Buch Unterhaltsame Physik (Занимательная физика), dem er nach einem zweiten Band 191623 seit Mitte der 1920er Jahre zehn weitere ähnlich aufgebaute Bände wie 18
Andrews: Science for the Masses, S. 61.
19
Vgl. ebd., S. 123–127; Göpfert: Die wissenschaftlich-künstlerische und populärwissenschaftliche Literatur, S. 242.
20
Vgl. Miškevič, Grigorij I.: Doktor zanimatel’nych nauk. Žizn’ i tvorčestvo Jakova Isidoroviča Perel’mana, Moskva 1986; Andrews : Science for the Masses, S. 60f.
21
Vgl. Ljapunov, Boris: [Posleslovie „Zavtrak v nevesomoj kuchne“], in: Iskatel’ 3 (1962), S. 157. Perel’man sorgte auch dafür, dass Ciolkovskijs Kurzroman Außerhalb der Erde (Vne Zemli) 1918 in der Zeitschrift Priroda i ljudi in Fortsetzungen abgedruckt wurde, was den Autor erstmals jenseits eines kleinen Kreises von Raketen- und Raumfahrtenthusiasten bekannt machte. Allerdings blieb die Veröffentlichung unvollständig, da die Zeitschrift ihre Existenz einstellen musste. Der Kurzroman erschien dann erstmals vollständig im Kaluger Selbstverlag mit einer kaum beachteten Auflage von 300 Exemplaren. Über Perel’mans Verdienste bei der Popularisierung Ciolkovskijs vgl. Andrews: Red Cosmos, S. 52–56.
22
Vgl. Ljapunov: V mire fantastiki, S. 50.
23
Die zweibändige Unterhaltsame Physik erlebte allein bis 1929 neun immer wieder überarbeitete Auflagen, vgl. Perel’man, Jakov: Zanimatel’naja fizika. Paradoksy, golovolomki, zadači, opyty, zamyslovatye voprosy i rasskazy iz oblasti fiziki, 2 Bde., Leningrad 1929.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 241
die Unterhaltsame Geometrie (Занимательная геометрия, 1925), Unterhaltsame Mathematik ( Занимательная математика, 1927) oder Unterhaltsame Astronomie ( Занимательная астрономия, 1929) folgen ließ. Insgesamt publizierte Perel’man mehr als 80 populärwissenschaftliche Bücher mit einer Gesamtauflage von zwölf Millionen Exemplaren auf Russisch.24 Auch der Geochemiker und Mineraloge Aleksandr Evgen’evič Fersman (1883–1945) verkörperte die Kontinuität dieser „unterhaltsamen“ Wissenschaftspopularisierung, der als Schüler von Vernadskij bereits 1912 Professor an der Moskauer Universität und Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaft wurde und neben unzähligen Exkursionen25 und wissenschaftspolitischen Aktivitäten bis zu seinem Tod über 1500 Artikel und Bücher nicht nur zu Mineralogie und Geochemie, sondern auch zu Fragen der Astronomie, Kunst, Philosophie, Archäologie, Geographie und anderen Themen verfasste. 1928 erschien seine Unterhaltsame Mineralogie (Занимательная минералогия), die ihm ein Jahr später den Leninpreis einbrachte und allein bis 1953 24 Neuauflagen erlebte.26 Diese vor allem in großen illustrierten Journalen und Tageszeitungen, populär geschriebenen Broschüren und allgemeinbildenden Sachbüchern präsente Form der Wissenschaftspopularisierung versuchte ihre Leser dadurch zu erreichen, dass sie in historischen Exkursen, kuriosen Geschichten, überraschenden Vergleichen, logischen Paradoxa, Rätseln, Witzen und humorigen Illustrationen die wissenschaftlichen Experimente und Thesen anschaulicher und vor allem leichter zugänglich machte.27 Die „leichte und spannende“ („легкое и увлекательное“) Darstellungsform sollte „durch das Feuer des Wanderns und Umherschweifens, durch einen Ausbruch des wissenschaftlichen Forschens unsere ermüdete Jugend“ entzünden, wie Fersman 1924 in einem Vorwort schrieb.28 Dabei bediente man sich gerne belletristischer und mythologischer 24
Vgl. Ljapunov: V mire fantastiki, S. 49f.; Andrews: Science for the Masses, S. 86f.
25
Vgl. Fersman, Aleksandr: Moi putešestvija, Moskva 1949; Ščerbakov, Dmitrij I.: A. E. Fersman i ego putešestvija, Moskva 1953.
26
Vgl. Fersman, Aleksandr: Zanimatel’naja mineralogija (1928), Leningrad 1929; Lazarevič, Ėleonora A.: Iskusstvo populjarizacii. Akademiki S. I. Vavilov, V. A. Obručev, A. E. Fersman – Populjarizatory nauki, Moskva 1960, S. 20ff., 65ff.; Andrews: Science for the Masses, S. 90ff.
27
Ensprechend lautete der Untertitel von Perel’mans Unterhaltsamer Physik „Paradoxe, Rätsel, Aufgaben, Experimente, Denkfragen und Erzählungen aus dem Gebiete der Physik“, vgl. Perel’man: Zanimatel’naja fizika, S. 1; Allgemein zu dieser „unterhaltsamen“ Popularisierungsform, vgl. Lazarevič: Iskusstvo populjarizacii, S. 62–109.
28
Zitiert nach Kruber, A.: Akademik A. E. Fersman. Tri goda za poljarnym krugom [1923], in: Pečat’ i revoljucija 3 (1924), S. 222–223, S. 222. Ensprechend schreibt auch Perel’man in seiner Einleitung zur Unterhaltsamen Physik 1929: „Der Verfasser bemühte sich so gut er konnte dem Dargelegten eine äußerlich-interessante Form zu geben, spannend von dem Gegenstand zu erzählen [...]. Das Hauptziel [...] ist – den Leser zum wissenschaftlichen Nachdenken anzuregen, ihn zu befähigen physikalisch zu denken [...].“ („Составитель старался, насколько умел, придавать изложению внешне-интересную форму, сообщить привлекательность предмету [...]. Главная цель [...] – возбудить деятельность научного воображения, приучить читателя мыслить в духе физической науки [...].“) Ders.: Zanimatel’naja fizika, S. 3f. Sperrung im Original.
242 | Kommunistische Pinkertons
Vorlagen und überschritt immer wieder die Grenze zwischen den „Fantasien der Romanschriftsteller“ („фантазии романистов“) und den „nüchternen Geistern der Ingenieure“ („трезвые умы инженеров“).29 Doch egal, ob diese Fantasien als fiktives Gedankenspiel sich in die Mikrowelt der Jahrmillionen alten Steine oder in die Makrowelt interplanetarer Reisen zu anderen Zivilisationen begaben, immer waren sie von dem optimistischen Fortschrittsgeist des 19. Jahrhunderts durchdrungen, der am Ideal einer durch wissenschaftliche Vernunft geleiteten kontinuierlichen und objektiven Fortentwicklung der Gesellschaft festhielt.30 Gegenüber diesem „positivistischen“ Mainstream der Wissenschaftspopularisierung formierten sich aber nach 1917 zunehmend jene radikalen Erneuerungsbewegungen, die der politischen Revolution auch eine „wissenschaftliche“ folgen lassen wollten und sich vor allem aus dem „überschaubaren Milieu der Intelligenzija“ (Igor J. Polianski) rekrutierten.31 Diesen Bewegungen ging es nicht primär um eine Popularisierung von etabliertem Expertenwissen, sondern eher um ein „antiszientistisches“ Aufbrechen traditioneller Denksysteme. In den neu gegründeten kommunistischen Instituten und Universitäten propagierten die bolschewistischen Wissenschaftsaktivisten einen „materialistischen“ Wissenschaftsbegriff, der sämtliche bisherige Gewissheiten als bourgeoise und idealistische Pseudowissenschaft verwarf.32 Gleichzeitig etablierten sich aber in den 1920er Jahren auch jene radikalen utopisch-avantgardistischen Ansätze, die aus den apokalyptischen Erneuerungsbewegungen des Fin de Siecle kamen und aus einem nietzscheanischen, prometheischen und wissenschaftsutopischen Impuls heraus versprachen, einen Neuen Menschen schaffen zu können, der sich die Natur und die Naturgesetze zu unterwerfen vermochte.33 Zu jener Strömung gehörten die so genannten „Gotterbauer“ um Gor’kij und den späterem Volkskommissar für Volksbildung, Anatolij
29
Michajlov, D.: Ja. I. Fersman. Mežplanetnye putešestvija [41923], in: Pečat’ i revoljucija 3 (1924), S. 223. Auch Perel’man schreibt in diesem Sinne 1929: „Das Material [der wissenschaftlich-fantastischen Belletristik] hat der Verfasser besonders ausführlich genutzt, weil er es für die Ziele des Bandes am passendsten hielt: es sind Abschnitte aus den allgemeinbekannten Romanen und Erzählungen Jules Vernes, Wells, Mark Twains u.a. hinzugezogen worden.“ („Материалом [научно-фантастической беллетристики]
составитель пользовался особенно широко, считая его наиболее соответствующим целям сборника: привлечены отрывки из общеизвестных романов и рассказов Жюля Верна, Уэллза, Марка Твэна и др.“) Perel’man: Zanimatel’naja fizika, S. 3. 30
Prototypisch für diesen „fantastischen“ Wissenschaftsoptimismus sind die Interplanetaren Mitteilungen (Межпланетные сообщения, 1928–1932) des Wissenschaftspopularisators Nikolaj Alekseevič Rynin (1877–1942), die eine direkte Verbindung von den Legenden und Mythen übers Fliegen zur Raketentechnik und Ciolkovskijs Träumen von einer Besiedelung des Weltraums ziehen. Vgl. Rynin, Nikolaj A.: Mežplanetnye soobščenija. Mečty, legendy i pervye fantazii (T. 1, vyp. 1), Leningrad 1928; Ders.: Mežplanetnye soobščenija. Lučistaja ėnergija v fantazijach romanistov i v proektach učenych, Leningrad 1930.
31
Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 79.
32
Vgl. ebd.
33
Vgl. Günther, Hans: Der sozialistische Übermensch. Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart 1993.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 243
Lunačarskij,34 aber auch all die psychotechnischen Laboratorien und Institute, in denen nach der Oktoberrevolution avantgardistische Wissenschafts- und Kunstpioniere wie Bechterev, Gastev oder Bogdanov an einer „revolutionären“ Neubegründung des Menschen und der Gesellschaft experimentierten. Auch wenn die kommunistischen Ideologen der „roten Universitäten“ und die avantgardistischen Experimentatoren am „neuen Menschen“ inhaltlich wenig gemeinsam hatten, teilten sie doch die konstruktivistische Utopie einer totalen Umgestaltung der Gesellschaft mit Hilfe technisch-wissenschaftlicher Mittel.35 Als daher Ende 1927 mit dem Beschlüssen des XV. Parteitags der KPdSU (b) diese konstruktivistische Utopie einer totalen Umgestaltung durch die gewaltsame Industrialisierung und Kollektivierung der Sowjetunion politisches Programm wurde, war es gerade dieser radikale Gestus, der sich innerhalb kurzer Zeit in der Publizistik rhetorisch zu einem „alternativlosen Utopiegefüge“ formierte.36 Insbesondere die avantgardistische Vision einer Aufhebung der „bürgerlichen“ Trennung von Arbeit und Leben, Fabrik und Freizeit, Privatem und Öffentlichem, Wissenschaften und Gesellschaft wurde jetzt zum Teil der Neudefinition des „populärwissenschaftlichen Projekts.“37 Erst indem man – wie Michail Il’in formulierte – das eigene wissenschaftliche und künstlerische Laboratorium als Teil einer riesigen Werkstatt des eigenen Landes erkannte, konnte man die Welt auch in Richtung Sozialismus verändern.38 Die etablierte unterhaltsame Wissenschaftspopularisierung geriet dadurch ideologisch massiv unter Druck, unterstellte man ihr doch, dass sie ein „idealistisches“ Wissenschaftsverständnis vertrat, das von der harten Realität des ersten Fünfjahresplans ablenke, statt auf die mit ihr verbundenen großen Aufgaben vorzubereiten.39 Die massive Politisierung der Wissenschaftspropaganda zielte dabei vor allem auf die Rekrutierung einer neuen „technischen Intelligenz“. Um dies aber zu erreichen, musste die Wissenschaftspropaganda insbesondere auch auf den Bereich 34
Vgl. ebd., S. 84ff.
35
Vgl. hierzu Groys: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 19–38; Gasparov, Boris: Development or Rebuilding. Views of Academician T. D: Lysenko in the Context of the Late Avant-Garde, in: Bowlt, John E.; Matich, Olga (Hg.): Laboratory of Dreams. The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment, Stanford 1990, S. 133–150.
36
Vgl. Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 41, 92.
37
Ebd.
38
Vgl. Il’in, Michail: Gory i ljudi. Rasskazy o perestrojke prirody, Leningrad 1935, S. 8.
39
Vgl. Andrews: Science for the Masses, S. 123ff. Auch epistemologisch popagierte man einen radikalen Bruch mit den „bürgerlichen“ Wissenschaften, indem man insbesondere mit Verweis auf Friedrich Engels posthum 1925 erstmals in Moskau verlegte unvollendete, äußerst fragmentarisch gebliebene Schrift Dialektik der Natur eine deutliche Trennlinie zog zwischen einem dialektischen Materialismus, dem alle belebte Materie bis zu den höheren Nerventätigkeiten unterworfen sei, und dem historischen Materialismus, der alle sozialen Prozesse der Menschheitsgeschichte erklären sollte. Vgl. hierzu ausführlich Graham, Loren R.: Science, Philosophy, and Human Behaviour in the Soviet Union, New York 1987, S. 24ff.; Ders.: Science in Russia and the Soviet Union. A Short History, Cambridge 1993, S. 99ff.
244 | Kommunistische Pinkertons
der Kinder- und Jugendliteratur ausgeweitet werden, was unmittelbar auch die populären Zeitschriften und Buchreihen für Abenteuer und Reisen betraf. Als man daher seitens der Partei ab Mitte 1928 begann, den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur als zentrales Medium zur Aufklärung und Propaganda grundsätzlich neu zu organi sieren, waren es gerade die einleitend in diesem Abschnitt erwähnten Autoren aus dem Kreis um Maršak und Gor’kij, die hierbei eine zentrale Rolle spielten.40 Die auf Technik und Wissenschaft bezogene Kinder- und Jugendliteratur sollte wie die Wissenschaftspopularisierung generell utilitaristisch auf die industrielle Produktion ausgerichtet werden, während „fantasievolle“ oder gar experimentell-spekulative wissenschaftliche Themen mehr und mehr ausgegrenzt wurden.41 Diese Ausweitung der Wissenschaftspopularisierung betraf zentral auch die Abenteuer literatur, die man versuchte mit allen publizistischen und dann institutionellen Mitteln zu vereinnahmen.
5 .2 Unser e Mayne R e ids und Jules Ve r n e s – D i e E i n g r e n z u n g der „ W isse ns cha ftliche n Fantas ti k“ 42 „In unserer Mitte leben unerfahrene Grünschnäbel. Nachts träumen sie von den vergangenen romantischen und schrecklichen Jahren, von dem schweren Getrampel der Feldmärsche, von dem Kampfgewieher der Pferde, vom Klang der Hufen und Säbel./ – Das waren noch Zeiten! – seufzen traurig die unerfahrenen Enthusiasten, – das war noch ein Leben!“ Jan Larri (1929)42
Als Nikolaj Bucharin im Herbst 1922 seine Forderung nach einem „kommunistischen Pinkerton“ aufstellte, hatte er gerade jenes „gesündeste Glied“ der Jugend vor Augen, das all seine Empathie aus der enthusiastischen Lektüre von Abenteuerliteratur beziehe. Die Gefühle dieser Jugend galt es für die kommunistische Sache zu gewinnen, indem man ihr spannende und unterhaltsame Geschichten über den Bürgerkrieg und die Weltrevolution offerierte, die klare ideo40
Vgl. Fateev, Andrej V.: Stalinism i detskaja literatura v politike nomenklatury SSSR (1930-e – 950-e gg.), Moskva 2007, S. 44ff.
41
Vgl. Andrews: Science for the Masses, S. 175.
42 „В нашей среде живут зеленые, безусые. В ночную пору они мечтают о прошлых романтических и
страшных годах, о тяжелых топотах походных маршей, о боевом ржаньи коней, о звоне подков и сабель./ – Вот было время! – вздыхают печально безусые энтузиасты, – вот была жизнь!“ Larri, Jan:
Okno v buduščee, Leningrad 1929, S. 3.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 245
logische Identifikationsangebote machten (vgl. Abschnitt 2.1). 1929 erklärte der noch weitgehend unbekannte Biologe und Publizist Jan Leopol’dovič Larri (1900–1977) in einem 90-seitigen Propagandatraktat Das Fenster in die Zukunft (окно в будущее) diese Revolutionsromantik angesichts der „Millionenmassen“, die die Aufgaben des Fünfjahresplans erfüllen und übererfüllen zu Nachtstücken von „Grünschnäbeln“, die mitten unter uns leben.43 Die „wirkliche Romantik“, deklarierte er, beginne erst heute mit dem „großen sozialistischen Feldzug“: „Die U-de-Es-Esserija hat auf Hochspannungsstrom umgeschaltet. Schwer hat sie sich von der Stelle bewegt.“44 Wohin dieser Ende 1927 unter Hochspannung eingeschlagene Weg führen werde, wusste auch 1929 noch niemand so recht. Und das ist auch den Auseinandersetzungen um die Abenteuerliteratur anzumerken. Einerseits proklamierte man eine massive Politisierung und Ausweitung der Wissenschaftspopularisierung, andererseits waren es gerade die zentralen Publikationsorgane eskapistischer Abenteuerliteratur wie der Vsemirnyj sledopyt, die in jenen Jahren bis 1932 ihren höchsten Verbreitungsgrad erreichten, und zwar gerade weil sie sich den neuen Zeitgeist auf die Fahnen schrieben (vgl. Abschnitt 1.3). Gleichzeitig aber publizierten die bis 1930 verbliebenen Printmedien weiter im wachsenden Umfang Werke westlicher Autoren, wie die letzten „wissenschaftlich-fantastischen“ Geschichten des überzeugten Spiritisten und Okkultisten Arthur Conan Doyle, die ganz eindeutig nicht zu dem proklamierten Ziel des sozialistischen Aufbaus passten.45 Die verantwortlichen Redakteure, beteiligten Kritiker und schreibenden Autoren schienen sich dieser Widersprüche teils bewusst zu sein, hatten aber auch keine wirklich attraktiven Alternativen zur Hand. Diese Inkonsequenz zeigt sich auch in der Art und Weise, wie man versuchte den Neologismus der „Wissenschaftlichen Fantastik“ für die neue Situation produktiv zu machen. Auf der einen Seite wollte man an den Erzählmustern eines Mayne Reid und Verne festhalten, auf der anderen Seite passten diese absolut nicht zum Modell des Neuen Robinson, wie es den Wissenschaftspopularisatoren aus der gleichnamigen Zeitschrift vorschwebte. Zudem machte sich jetzt – das heißt 1928/1929 – bemerkbar, dass man sich bis dahin in der Literaturkritik kaum um das Abenteuergenre gekümmert hatte. Es gab zwar vereinzelte Rezensionen und Artikel zum „kommunistischen Pinkerton“, aber wie man die Begriffe Abenteuerliteratur, Fantastik und Wissenschaftliche Fantastik ideologisch genauer fassen solle, darüber herrschten noch recht unterschiedliche Vorstellungen. Dass sich Literaturkritiker und Redakteure trotzdem nicht nur polemisch mit ihr beschäftigten, lag vor allem an der Beliebtheit, der sich dieser Bereich der Belletristik insbesondere unter der gebildeteren, studentischen Jugend erfreute, also bei denjenigen, die man für die Industrialisierungsprojekte des Landes begeistern wollte. So konstatierte die Monatszeitschrift Krasnaja molodež’ (Красная молодежь, dt. „Rote Jugend“) der „proletarischen Studentenschaft“ schon 1925: „Das ist jetzt die am besten gehende
43
Ebd.
44 „Эс-эс-сэрия переключилась в токи высокого напряжения. Грузно сдвинулась с места.“ 45
Vgl. Kalmyk: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk.
246 | Kommunistische Pinkertons
Ebd., S. 4.
Literatur. [...] Man muss annehmen, dass der größte Teil dieses Erfolges der Jugend zu verdanken ist – und nicht zuletzt der Jugend, die in den Hochschulen lernt.“46 Wie man diese Literatur genauer didaktisch fassen könne, darüber bestand Mitte der zwanziger Jahre noch keine Einigkeit. Als beispielsweise der Theoretiker der Pereval-Strömung A. Ležnev (Pseudonym von Abram Zacharovič Gorelik, 1893–1938)47 Anfang 1925 versuchte eine Definition von Abenteuerliteratur zu geben, musste er feststellen, dass man zwar von einem „Abenteuerelement“ (приключенческий элемент) sprechen könne, dieses sich aber in ganz verschiedenen „Formen“ wiederfinde: „Die Formen können ganz unterschiedlich sein: Zaubermärchen wie ‚Tausendundeine Nacht‘ und Ritterromane, fantastische Kurzromane und utopische Novellen, Detektivgeschichten, Abenteuer in wilden Ländern, unterhaltsame Abenteuer, eingehüllt in ein pseudohistorisches Gewand usw., – doch das Wesen bleibt dasselbe: das Streben nach dem Ungewöhnlichen, Wunderbaren, nach irgendetwas Grellerem als die gewöhnliche Wirklichkeit.“48
Das „Streben nach dem Ungewöhnlichen, Wunderbaren, nach irgendetwas Grellerem“ ist demnach ein Kriterium, das für Zaubermärchen, Ritterromane, fantastische, utopische sowie pseudo-historische und Kriminalromane gleichermaßen gelte. Dmitrij Dmitrievič Blagoj (1893–1984) definiert den „Abenteuerroman“ (авантюрный роман) in einer ebenfalls 1925 erschienen zweibändigen Literaturenzyklopädie als „einzige poetische Gattung, die sich vornehmlich auf europäischem Grund“ („Единственный поэтический вид, развивавшийся преимущественно на европейской почве“) seit der Antike entwickelte, in deren Zentrum „Liebe, eine mystische Idee oder eine Frage der Ehre“ („любовь, мистическая идея или делo чести“) stehe, die sich im Mittelalter als „Roman der Abenteuer“ (роман приключений) etabliert habe.49 Auch Dinamov spricht mit deutlichen Bezügen auf Blagoj in 46 „Это самая ходкая сейчас литература. [...] Надо думать, что большей части этого успеха они обязаны
молодежи – и не в последнем счете той молодежи, что обучается в Вузах.“ Ležnev, A.: O
priključenčeskoj literature, in: Kransnaja molodež’ 3–4 (1925), S. 198–200, 198. 47
Zum Kritiker Ležnev vgl. Bočačer, M: Ležnev, in: Literaturnaja ėnciklopediaja, Bd. 11, Moskva 1932, S. 145–147.
48 „Формы могут быть самыми разнообразными: волшебные сказки ‚Тысячи и одной ночи‘ и рыцарские
романы, фантастическая повесть и утопический роман, детектив, приключения в диких странах, занимательные приключения, облеченные в псевдо-историчский наряд, и т.д., − но сущность остается одна и та же: стремление к необычайному, чудесному, к чему-то более яркому, чем обычная действительность.“ Ležnev: O priključenčeskoj literature, S. 199.
49
Blagoj: Avantjurnyj roman, S. 3. Angefangen mit der hellenistischen Dichtung zählt er dann alle möglichen Formen und Unterformen dieser Gattung auf, wobei die „wissenschaftlich-utopischen“ („научноутопические“) Romane eines Verne und Wells neben den okkulten, pikaresken und revolutionären Abenteuerromanen als Unterform der „Abenteuer zu Wasser und Land“ aufgeführt werden, zu denen er auch Ėrenburgs Chulio Churenito zählt. Ebd., S. 10. Auch Einträge zu anderen Lemmata führen nicht weiter. Der Boulevardroman wird von Blagoj zum „kriminal-abenteuerlichen Typ“ (уголовно-авантюрный тип)
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dem schon zitierten Beitrag für den ersten Band der Großen Sowjetenzyklopädie 1926 von einer „besonderen Romangattung“, deren Fabel sich durch die Ungewöhnlichkeit ständig wechselnder Abenteuer auszeichne, wobei es vor allem um den äußeren Effekt gehe und die positiven Helden oft idealisiert würden.50 Wollte man aber dieses Streben nach dem Ungewöhnlichen und nach äußeren Effekten didaktisch für die Jugenderziehung und Wissenschaftspopularisierung produktiv machen, galt es dessen Funktionsmechanismen genauer zu bestimmen und jene Elemente auszuschließen, die als „schädlich“ eingestuft wurden. Ležnev hatte in dieser Hinsicht bereits einen Versuch gemacht, indem er am Beispiel der Tarzan-Romane ausführte, dass hier deutlich eine bourgeoise Ideologie vermittelt werde, die unter dem Deckmantel des Exotischen und Ungewöhnlichen einen Affen-Menschen zeige, dem nichts wichtiger sei als ein gepflegter englischer Gentleman zu werden.51 Ungeachtet dieser konterrevolutionären Ideologie bedienten die Tarzanromane aber auch ein Grundbedürfnis des Menschen, was erkläre, warum sie selbst unter Fabrikarbeitern und in der Sowjetunion eine solche Popularität besitzen. Dieses Bedürfnis bestehe nämlich in dem „Forschungsdrang“, dem Begehren „Neues zu sehen“ und „Kampferfahrungen zu durchleben“: „Mit einem Wort, das große Interesse an Abenteuerliteratur beruht auf einer äußerst wertvollen Grundlage, sozusagen auf den dynamischen Eigenschaften der Leserpsychologie, und mit ihm, diesem großen Interesse, soll man überhaupt nicht kämpfen, man muss es nur in die richtige Richtung lenken.“52
gerechnet, während der Detektivroman von E. Lann zur „Gattung des Romans mit Abenteuern“ gezählt wird. Vgl. ebd., S. 9.; Ders.: Bul’varnyj roman, in: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 1, S. 108–109, S. 109; Lann, E: Detektivnyj roman, in: Ebd., Bd. 1, S. 191–194, S. 193. 50
Dinamov: Avantjurnyj roman, S. 120. Neben den kolonialen Abenteuern zu Land und zu Wasser, dem bourgeoisen Detektiv-Kriminalroman und dem sozial-revolutionären Kommunistischen Pinkerton hebt Dinamov als eine „besondere Gattung“ (особый вид) des Abenteuerromans den „abenteuerlich-technischen Roman“ (авантюрно-технический роман) von Verne und Wells hervor, in dem normalerweise dargestellt werde, „wie in Verbindung mit grandiosen technischen Erfindungen sich der Charakter des umliegenden Lebens und der menschlichen Psyche verändert“ („[...] как в связи с грандиозными техническими изобретeниями, меняется характер окружающей жизни и психика человека)“. Ebd., S. 122.
51
So werde den Lesern in ihrem „grauen Leben“ und harten Alltag zum einen unterhaltsame Ablenkung und kurzweilige Entspannung geboten, gleichzeitig aber würden ihnen die Werte des „herrschenden Kapitalismus“ als unvergängliche Naturgesetze auch anhand der ungewöhnlichen Welten vermittelt. Vgl. Ležnev: O priključenčeskoj literature, S. 199.
52 „Словом, в основе увлечения приключенческой литературой лежат очень ценные, так сказать,
динамические свойства читательской психологии, и с ним, с увлечением этим, не следует вовсе бороться, а надо только его направить в нужную сторону.“ Ebd.
248 | Kommunistische Pinkertons
Anstelle des „völlig nutzlosen“ Tarzan solle man die Leser in „so genannten utopischen Romanen“ auf den Geschmack der Wissenschaft, der Technik, des Erfindertums, der Initiative und des Wagemuts bringen.53 Genau um eine solche Neuausrichtung des Genres sollte es ein paar Jahre später ab 1928 gehen, wofür sich vor allem ein Neologismus anbot, der in letzter Zeit eine gewisse Verbreitung gefunden hatte: derjenige der Wissenschaftlichen Fantastik. Als der Terminus im Jahr 1925 vermehrt auftauchte, handelte es sich anfangs nur um ein modisches Schlagwort der Verlage, ohne dass es genauere Definitionen davon gab, was mit ihr eigentlich gemeint sei. Als zusammengesetztes Attribut war er auch schon zuvor im Bereich der Abenteuerliteratur, die sich auf technisch-wissenschaftliche Sachverhalte bezieht, gelegentlich gebraucht worden. Jakov Perel’man hatte beispielsweise ein von ihm verfasstes „fehlendes Kapitel“ zu Vernes Roman De la Terre à la Lune (1865) 1915 als „wissenschaftlich-fantastische Erzählung“ bezeichnet.54 Zamjatin unterschied in seiner erstmals 1922 veröffentlichten Studie zu Herbert Wells (Герберт Уэллс) zwischen dessen „sozial-fantastischen“ und „wissenschaftlich-fantastischen“ Romanen, die er wie folgt definiert: „Wissenschaftliche Fantastik konnte sich natürlich erst im Laufe der letzten Jahrzehnte im Gebiet der schönen Literatur entwickeln, als sich der Wissenschaft und der Technik wirklich fantastische Möglichkeiten aufgetan haben.“55
53 Ebd. 54
Das Fragment nannte er Frühstück in einer schwerelosen Küche, vgl. Perel’man, Jakov: Zavtrak v nevesomoj kuchne. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Priroda i ljudi 24 (1914), S. 381–382. Nachdruck in: Iskatel’ 3 (1962), S. 152–156. Auf diese einmalige frühe Verwendung des Begriffs verweisen zeitgenössische russische Kritiker und Publizisten durchweg, um davon das sehr viel frühere Aufkommen eines Genres in Russland als in den USA abzuleiten, wo Gernsback erst 1926 den Neologismus Scientifiction bzw. Science-fiction geschaffen hat. Dass Perel’mans Gebrauch des Attributkompositums mehr als eine Gelegenheitsbenennung gewesen ist, mit der auch eine begriffliche Konzeptualisierung verbunden gewesen sein könnte oder die gleichlautende Attribuierung bei ähnlichen Texten nach sich gezogen hätte, dafür gibt es bislang keine Quellen. Vgl. Charitonov: Apokrify Zazerkal’ja, S. 661–692; Charitonov: Nauka o fantastičeskom, S. 184. Auch Aleksandr Kuprin hatte in einem Aufsatz über R. Kipling. Mutige Seefahrer (Р. Киплинг. Смелые морепплаватели) die literarischen Vorläufer von H. G. Wells 1903 als „Autoren fantastisch wissenschaftlicher Reisen und Abenteuer“ („авторов фантастически научных путешествий и приключений“) bezeichnet.
55 „Научная фантастика, естественно, могла войти в область художественной литературы только в
течение последних десятилетий, когда перед наукой и техникой действительно открылись возможности фантастические.“ Zamjatin, Evgenij: Genealogičeskoe derevo Uėllsa (1924), in: Ders.: My.
Roman, povesti, rasskazy, p’esy, stat’i i vospominanija, Kišinev 1989, S. 603–608, S. 606. Der Essay erschien erstmals 1922 zusammen mit einem zweiten unter dem gleichnamigen Titel Herbert Wells im Petrograder Verlag Ėpocha, ehe beide in leicht überarbeiteter Form als Vorwort zu der von Zamjatin herausgegebenen Ausgabe der Gesammelten Werke von Wells 1924 nochmals publiziert wurden. Hier nach der überarbeiteten Fassung zitiert.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 249
Insofern könne als erstes „Muster“ (образец) wissenschaftlicher Fantastik Francis Bacons Nova Atlantis (1627) bezeichnet werden, doch eine „echte wissenschaftliche Fantastik, gegossen in eine künstlerische Form, finden wir erst am Ende des 19. Jahrhunderts“ („подлинную научную фантастику, облеченную в художественную форму, мы найдем только в конце 19-го века“).56 Denn erst jetzt habe „ein und dieselbe Wissenschaft, ein und dieselbe Logik der Wissenschaft“ („oдна и та же наука, одна и та же логика науки“) eine allgemeine Quelle der Inspiration bilden können, die dann in die in der angelsächsischen Literatur so beliebte „Form der Robinsonade, des Abenteuerromans“ gefasst worden sei.57 Diese ersten Begriffsverwendungen blieben aber ohne nachhaltigen Einfluss, denn in den schon zitierten Lexikonbeiträgen von Blagoj und Dinamov taucht der Terminus noch nicht auf. Wells’ und Vernes Romane werden bei Blagoj unter dem Stichwort Abenteuerroman lediglich als „wissenschaftlich-utopisch“ (научно-утопический) bezeichnet.58 Und Dinamov spricht mit Bezug auf Verne von „abenteuerlich-utopischen“ Werken.59 Eine weiterreichende Akzeptanz scheint der Neologismus erst bekommen zu haben, als die im Frühjahr 1925 neugegründete Illustrierte Monatszeitschrift Vsemirnyj sledopyt in ihrer ersten Ausgabe mit dem Untertitel „Reisen, Abenteuer und Wissenschaftliche Fantastik“ (журнал путешествий, приключений и научной фантастики) aufwartete, womit sie die Wissenschaftliche Fantastik gleichberechtigt neben Reise- und Abenteuerliteratur stellte.60 In der von der Redaktion formulierten Programmatik der Zeitschrift, die das Fantastische dem Realistischen gegenüberstellt, taucht zwar die Begriffsunterscheidung von Zamjatin zwischen „wissenschaftlicher und sozialer Fantastik“ auf.61 Allerdings ist der einzige Text, der in der ersten Nummer mit dem Zusatz „Wissenschaftliche Fantastik“ versehen wird, kein belletristisches Werk, sondern ein vom Chefredakteur der Zeitschrift, Vladimir A. Popov, geschriebenes fiktives Gedankenspiel 56 Ebd. 57 „[... формa] Робинзонады, типического авантюрного романа, столь излюбленного в англо-саксонской
литературе.“ Ebd., S. 607. Damit leistet Zamjatin die erste mir bekannte theoretische Konzeptualisie-
rung des Kompositums „wissenschaftliche Fantastik“. Dass er mit dieser Definition nicht in die Literaturgeschichtsschreibung der russischen Wissenschaftlichen Fantastik eingegangen ist, liegt vermutlich auch ganz einfach daran, dass er zwar kein gänzlich verfemter Autor in der Sowjetunion gewesen ist, aber gerade sein „wissenschaftlich-fantastischer“ anti-utopischer Roman Wir bis 1988 nicht in der Sowjetunion erscheinen konnte. Die westliche Forschung hat sich, wie einleitend dargestellt, hingegen bislang für die Begriffsgenese nicht sehr interessiert. 58
Vgl. Blagoj, Dmitrij D.: Avantjurnyj roman, in: Brodskij; Lavreckij: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 1, S. 3–10, S. 10.
59
Vgl. Dinamov: Avantjurnyj roman, in: Bol’saja sovetskaja ėnciklopedija, Bd. 1, S. 120.
60 Vgl.
Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 1 Umschlag, S. 1. Ab der zweiten Nummer stehen auf der ersten Seite im Titelkopf der Zeitschrift Abenteuer und Reisen auf der linken Seite des Titels, während Wissenschaftliche Fantastik rechts positioniert wird, wodurch rein visuell der Terminus noch einmal aufgewertet wird. Vgl. Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 1.
61
[Red.]: Vsemirnyj sledopyt. Programma žurnala, S. 2 Umschlag.
250 | Kommunistische Pinkertons
darüber, wie weit ein menschliches Herz von der Größe einer Faust als Perpetuum mobile reisen könnte, wenn es seine ganze Kraft darauf verwenden würde, sich selbst in die Luft zu heben.62 Das heißt, die Redaktion hatte den Terminus anfangs eher für publizistische Texte vorgesehen, die in spannender und plastischer Weise „wissenschaftliche“ Zusammenhänge und Hypothesen popularisieren sollten, womit sich der Begriff ganz im Bedeutungsfeld der im vorigen Abschnitt beschriebenen „unterhaltsamen“ Wissenschaftspopularisierung bewegte.63 Erst als in der dritten Nummer des Vsemirnyj sledopyt Beljaevs Kopf des Professor Duėl’ explizit als „wissenschaftlich-fantastische Erzählung“ abgedruckt wurde, schien man sich für eine anders gelagerte Semantik entschieden zu haben, wie auch aus der Vorbemerkung der Redaktion hervorgeht: „Bislang ist das nur ‚Wissenschaftliche Fantastik‘. Das ist ein mutiger Sprung ins ‚Morgen‘. Doch diese Fantastik steht an der Grenze zu wissenschaftlichen Entdeckungen des heutigen Tages. Sie erscheint nur als logische Vollendung eines Weges, zu dem die schon abgeschlossenen Experimente in diesem Gebiet führen.“64
Mit dieser Definition ist eindeutig kein rein fiktives Gedankenexperiment mehr gemeint, sondern – wie in Zamjatins Erörterungen zu dem Terminus auch – ein fiktionales Möglichkeitsszenarium, das in Zukunft logisch gesehen Wirklichkeit werden könnte.65 Gleichzeitig taucht der Terminus auch nach und nach bei anderen Verlagen als Gattungsbezeichnung auf,66 wobei nicht nur Prosastücke basierend auf in die Zukunft gerichteten wissen62
Wobei der Autor des Textes Die Reise des menschlichen Herzens um die Welt (Путешествие человеческого сердца вокруг света) die These aufstellt, dass ein in der Straße Unter den Linden in Berlin gestartetes Herz bei einem 60-jährigen Leben 76 mal die Erde umkreisen werde, ehe es in der Wüste Gobi zu einem Herzstillstand kommen müsse. Vgl. Popov, Vladimir A.: Putešestvie čelovečeskogo serdca vokrug sveta (Naučnaja fantastika), in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1925), S. 73–74.
63
Dafür spricht auch, dass die schon zitierte Eröffnungsgeschichte Die Trojka Or-Dim-Stach von Grigor’ev weder im Untertitel noch in der Vorbemerkung der Redaktion als wissenschaftlich-fantastisch, sondern als „Radio-Erzählung der Zukunft“ bezeichnet wurde. Vgl. Grigor’ev: Trojka Or-Dim-Stach, S. 1; Auch Španovs ebenfalls schon zitierte Geheimnisvolle Explosion wird in der 8. Nummer lediglich als „fantastische Avio-Erzählung“, nicht als wissenschaftlich-fantastische publiziert. Vgl. Španov: Tainstvennyj vzryv, S. 7. Zu beiden Erzählungen vgl. Abschnitt 4.2 dieses Buches.
64 „Пока это только ‚научная фантастика’. Это – смелый прыжок в ‚завтра’. Но эта фантастика стоит на
линии научных открытий сегоднящнего дня. Она является лишь как бы логическим завершением того пути, куда ведут уже проделанные опыты в этой области.“ [Red.]: Ot redakcii (Golova professora
Douėlja), S. 17. 65
Entsprechend dieser Redefinition erscheinen von nun an auch Vladimir Popovs populärwissenschaftliche Spekulationen nicht mehr als „Wissenschaftliche Fantastik“, sondern als Skizze (очерк), vgl. Popov, Vladimir A.: Istoirja ostrova Robinzona. Istoriko-geografičeskij očerk, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 70–76.
66
Vgl. die als „wissenschaftlich-fantastischer Roman“ im Leningrader Verlag Priboj erschienene Schreckensmaschine von Orlovskij, Orlovskij: Mašina užasa, S. 3.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 251
schaftlichen Hypothesen,67 sondern auch fiktionale Gedankenexperimente68 oder Geschichten über „Vergessene Welten“ im Sinne von Conan-Doyles gleichnamigem Roman als „wissenschaftlich-fantastisch“ angepriesen werden.69 Auch die Literaturkritik greift den Neologismus schnell auf, ein anonymer Rezensent preist den ersten Roman des Akademiemitgliedes Vladimir Obručev als den „ersten, wirklich geglückten wissenschaftlich-fantastischen Roman“.70 Allerdings werden bis 1928 noch die meisten auf Technik und Wissenschaften bezogenen Abenteuerwerke, die keiner realistischen Ästhetik folgen, weiterhin schlicht als „fantastisch“ gekennzeichnet.71 Fragt man nun aber nach der Semantik dieses Fantastischen, dann bleibt der Begriff in den Kritiken und redaktionellen Anmerkungen seltsam unbestimmt, sieht man von dem etablierten Gegensatz zur „realistischen“ Darstellungsweise ab. Das ist umso auffälliger, als es durchaus auch andere Termini gab, das „Irreale“ der Fiktionen hervorzuheben, wie die des Utopischen (technisch-utopisch, wissenschaftlich-utopisch) oder des Ungewöhnlichen (ungewöhnliche Reisen, ungewöhnliche Abenteuer). Die Privilegierung des Fantastischen zur Bezeichnung auf Wissenschaft und Technik bezogener Abenteuergeschichten scheint vielmehr deswegen so attraktiv gewesen zu sein, weil in der Begriffssemantik neben dem Nicht-Realistischen immer auch die „unheimliche“ Lust am Schrecklichen und Katastrophalen mitschwang, die seit den Gothic novels über E.T.A. Hoffmann, Nikolaj Gogol’ bis Edgar Allan Poe dieser Schauerliteratur eigen war.72 So auch bei Iosif Romanovič Ėjges (1887–1953), der Mitte der 1920er Jahre einen der 67
Vgl. Okston, I.: Mežplanetnye Kolumby. Naučno-fantastičeskij rasskaz konca veka, in: Vsemirnyj sledopyt 9 (1926), S. 3–12.
68
Vgl. Lancev, V.: Putešestvie vnutri atoma. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Vokrug sveta [priloženie k Vsemirnomu sledopytu] 9 (1927), S. 87–89.
69
So der im Moskauer Verlag Pučina 1926 erschienene zweite Roman von Obručev (vgl. Abschnitt 2.3), Obručev, Vladimir: Zemlja Sannikova, ili Poslednie onkilony. Naučno-fantastičeskij roman, Moskva 1926.
70 „[...] первым, вполне удачным, научно-фантастическим романом.“
M.: V. A. Obručev. „Plutonija“ [1924], in: Knigonoša 7 (1925), S. 22–23, S. 23. Ognev schreibt über Gončarovs Zeitalter der Gedanken, das sei nicht das erste wissenschaftlich-fantastische Werk des Autors, vgl. Ognev: V. Gončarov [1925], S. 24. Michail Gireli spricht im Vorwort zu seinem Roman Das Verbrechen des Professors Zvezdočetov (Преступление профессора Звездочетова, 1926) von „so genannten wissenschaftlich-fantastischen Romanen“ („так называемых научно-фантастических романов“), in denen nicht die Menschen, sondern das wissenschaftliche Ereignis im Mittelpunkt des Sujets stehen, was daraufhin deutet, dass der Terminus 1926 noch kein fest etablierter Begriff war, vgl. Gireli: Prestuplenie professora Zvezdočetova, S. 3.
71
Vgl. die Bibliographien von Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki und Berežnoj: Bibliografija.ru
72
Aufgrund dieser „unheimlichen“ Seiten der Fantastik schreibt der RAPP-Kritiker G. Lelevič 1925: „Darum brauchen wir unsere Jules Vernes, unsere Herbert Wells, unsere Hoffmanns mit jeder Art von Teufelsspuk oder unsere ‚Mess-Mends‘ brauchen wir hingegen nicht.“ („Поэтому свои Жюль Верны, свои Герберты Уэллсы нам нужны, а своего Гофмана со всякой чертовщиной и своих ‚Месс-Мендов‘ нам не нужно.“) Lelevič, G.: Tvorčeskie puti proletarskoj literatury, Leningrad 1925, S. 56; Die Lust am Schrecklichen hatte hingegen Hugo Gernsback in seiner Definiton der „scientifiction“ explizit mit eingeschlossen, wenn er sie als eine „charming romance intermingled with scientific fact and prophetic vision“ definierte geschrieben im Stil von Jules Verne, H.G. Wells und Edgar Allan Poe. Vgl. Luckhorst: Science Fiction, S. 62.
252 | Kommunistische Pinkertons
wenigen Definitionsversuche unternahm, auch „fantastische“ Abenteuerliteratur wie diejenige von Verne und Wells in die Betrachtungen mit einzubeziehen.73 In seiner Definition orientierte Ėjges sich weitgehend an der von Vladimir Solov’ev Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Typologie des Fantastischen, ohne dessen metaphysische Begründungen zu übernehmen.74 Demnach bestehe das Fantastische aus ungreifbaren und unbestimmten geheimnisvollen, „bösen Kräften“, die Alpträumen, Fieberfantasien, Halluzinationen oder Visionen gleich „in realisierter Form sich durch das ganze Werk“ („в реализованном виде через все произведение“) ziehen.75 Handele es sich aber bei diesen „übernatürlichen Kräften“ um Erscheinungen der Natur, die nur noch nicht zureichend von der Wissenschaft erklärt seien, wie die Hypnose oder Telepathie, oder um Erfindungen, die wissenschaftlich gesehen in Zukunft durchaus realisiert werden könnten, stelle dies nur eine „relative Fantastik“ ( относительная фантастика) dar. Bei Autoren wie Verne oder Wells könne daher nicht mehr von einem „freien und freiwilligen Spiel der Fantasie“ („свободная и своевольная игра фантазии“) die Rede sein.76 Werke von „wirklich fantastischem Charakter“ würden hingegen „Gefühle der Angst, des Schreckens, des Grauens“ („чувства страха, ужаса, жути“) auslösen, folgten sie doch Gesetzen und Verbindungen zu einer fundamental anderen Welt, die wir aus unserer Alltagserfahrung nicht kennen: „das wirklich Geheimnisvolle ist das für den Verstand seiner Natur nach Unerreichbare“ („подлинно таинственное eсть непостижимое для разума по самой своей природе“).77 So könnte man diese ersten Ansätze zu einer Definition des Fantastischen in Hinsicht auf aktuelle oder potentielle wissenschaftlich-technische Entwicklungen auch als Versuche einer Bändigung des „wirklich Fantastischen“ lesen, das im Sinne der Robinsonade seiner unheimlichen und schrecklichen Anteile durch eine wissenschaftliche Relativierung und Disziplinierung beraubt werden sollte.78 Eine sowjetische Abenteuerliteratur, die Technikfantasien als Alteritäts73
Vgl. Ėjges, Iosif: Fantastika, in: Brodskij; Lavreckij: Literaturnaja ėnciklopedija. Slovar’ literaturnych terminov, Bd. 2, S. 1010–1019.
74
Vgl. hierzu Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 89–91. Diese Typologie inspirierte seinerzeit auch – worauf Lachmann hinweist – Tzvetan Todorovs Theorie des Fantastischen, vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, S. 26.
75
Ėjges: Fantastika, S. 1015; Er unterscheidet dabei drei Arten des Fantastischen: Eine erste der „reinen Träume“ (чистые сны), die vollkommen von der Wirklichkeit getrennt sei und beispielsweise im Märchen gelte; die zweite Art gäbe „eine geheime Begründung für alltägliche Erscheinungen“, das heißt sie lässt unheimliche, „böse Kräfte“ die fiktionale Wirklichkeit lenken; bei der dritten Art des Fantastischen würden auch die durch die „geheimen Erscheinungen“ ausgelösten Folgen selber übernatürliche, unwahrscheinliche Formen annehmen, vgl. ebd., S. 1011ff.
76
Ebd., S. 1016.
77
Ebd., S. 1017.
78
In diesem Sinne antwortete der RAPP-Kritiker L. Lelevič auf die Frage, ob man eine proletarische Fantastik brauche: „Ja, wir brauchen Fantastik, doch ich würde sagen eine wissenschaftliche, materialistische Fantastik, die dorthin fliegt, wohin die Augen schauen, – wir brauchen eine Fantastik, die sich auf Fakten der Wirklichkeit stützt und bemüht ist ihre weitere Entwicklung vorwegzunehmen.“ („Да нужно, но
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diskurse einer anderen Welt der kapitalistischen Bösewichte und verrückten Gelehrten zuordnete (wie in Kapitel 4 dargestellt), verlor in diesen ersten definitorischen Normierungsversuchen ihre Berechtigung, was auch erklärt, weswegen die meisten Verlage, soweit sie ihre Abenteuerwerke überhaupt mit einem Attribut versahen, diese ausschließlich als „fantastisch“ bezeichneten und auf das „Wissenschaftliche“ so oft wie möglich verzichteten.79 Als mit dem „Großen Umbruch“ nicht nur diese Art von Abenteuerliteratur zunehmend unter literaturpolitischen Druck geriet,80 versuchte wiederum die Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt, die einer der Hauptpublikationsorte jener „fantastischen“ Alteritätsnarrationen darstellte, dem offensiv zu begegnen, indem sie selber einen entscheidenden Schritt zur Durchsetzung dieser disziplinierten „wissenschaftlichen Fantastik“ vollzog. Im Mai 1928 schrieb sie einen unionsweiten Literaturwettbewerb für „originelle Erzählungen auf Russisch“ („оригинальные рассказы на русском языке“) aus, um jungen anfangenden Schriftstellern eine enge Verbindung „mit der Lesermasse“ („с читательской массой“) zu eröffnen.81 Der Wettbewerb gab zwei Themenbereiche vor: „regionalkundliche“ (краеведческие) und wissenschaftlich-fantastische Erzählungen, bevorzugt „zum Thema über die chemisch-technische Rationalisierung der Industrie und der Landwirtschaft.“82 Als Auswahlkriterium im Wettbewerb wurde dabei eine deutliche „wissenschaftliche“ Einbindung der Fantasie festgeschrieben: „Indem wir an die wissenschaftlich-fantastische Erzählung die gleichen Forderungen stellen wie an die regionalkundliche (Unterhaltsamkeit, Dynamik), macht es die Redaktion zur Bedingung, dass die wissenschaftlich-fantastische Erzählung von einer wirklich-wissenschaftlichen Grundlage ausgeht [...], – und auf dieser Grundlage die Fantastik der Erzählung (Zukunftsbilder usf.) aufbaut.“ 83 фантастика, я бы сказал, научная, материалистическая, фантастика, которая не летит, куда глаза глядят, – нам нужна фантастика, которая опирается на факты действительности и старается предвосхитить дальнейшее их развитие.“) Lelevič: Tvorčeskie puti proletarskoj literatury, S. 56. 79
Beljaev war einer der wenige Autoren, der fast alle seine Erzählungen und Romane als „wissenschaftlichfantastisch“ bezeichnete und sowohl in den Zeitungs- und Zeitschriftenfassungen als auch in den Buchausgaben meist redaktionelle Vorbemerkungen oder Vorworte seiner Prosa voranstellte, die autorativ ihre „wissenschaftliche“ Relevanz bezeugten. Betrachtet man jedoch den Inhalt seiner Geschichten genauer, so scheint dies eher – wie in Abschnitt 4.3. ausgeführt – eine strategische Entscheidung gewesen zu sein, um die Polyvalenz des Fantastischen desto ausführlicher fiktional ausgestalten zu können.
80
So wurde beispielsweise der Verlag Zemlja i fabrika bereits 1927 dafür kritisiert, dass er Stevensons Treasure Island verlegt hatte, vgl. [Anon.]: Otzyvy o knigach, in: Kniga i profsojuzy 11 (1927), S. 20.
81
[Red]: Redakcija žurnala „Vsemirnnogo sledopyta“ ob-javljaet Vsesojuznyj literaturnyj konkurs 1928 g., in: Vsemirnyj sledopyt 5 (1928), S. 392–393.
82 „[...] особенно желательны на тему о химико-технической рационализации промышленности и
сельского хозяйства.“ Ebd., S. 392. Hervorhebung im Original.
83 „Предъявляя к научно-фантастическому рассказу те же общие требования, что и к краеведческому
(занимательность, динамичность), редакция ставит условием, чтобы научно-фантастический рассказ исходил из действительно-научной основы [...], – и строя уже на этой основе фантастику рассказа
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Dieser unionsweite Wettbewerb entwickelte sich, wenn man das angestrebte Ziel einer Disziplinierung des Fantastischen auf „wirklich-wissenschaftlicher Grundlage“ ernst nimmt, zu einem Fiasko. Das zeichnete sich schon im August desselben Jahres ab, als die Redaktion sich zu einer Stellungnahme zu den bislang eingesandten Erzählungen veranlasst sah, obwohl der Wettbewerb noch bis September ausgeschrieben war.84 Denn viele Autoren hätten die Wettbewerbsbedingungen nicht beachtet, ja seien unzulässig über die wichtigsten hinweggegangen: „Es gibt zum Beispiel Abenteuererzählungen, bei denen es außer einem Kaleidoskop ungewöhnlicher Abenteuer – nichts anderes gibt. [...] Einige fantastische Erzählungen sind dem ‚Sledopyt‘ in ihrer fehlenden Stichhaltigkeit, ihrer Losgelöstheit von der Wissenschaft und den wirklichen Lebensinteressen fremd [...].“85
Deshalb betonte man noch einmal explizit die Teilnahmebedingungen, dass nur eine wissenschaftliche Fantastik zugelassen sei, die lehrreich und nicht vom realen Leben abgetrennt sei.86 Als die Jury dann Ende des Jahres die Preisvergabe verkündete, wurde offensichtlich, dass die Disziplinierung der Fantastik bei den Lesern und jungen Autoren auf keine Gegenliebe gesto-
(картины будущего и т.п.).“ Ebd., S. 393. Hervorhebung im Original. Der Jury des Wettbewerbs gehör-
ten neben dem Chefredakteur Popov und dem verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift und Verlagsmitbegründer von Zemlja i fabrika, Vladimir Ivanovič Narbut (1888–1938), drei Professoren der Chemie, Physik und Ethnographie und die beiden Schriftsteller Aleksandr Beljaev und Aleksandr Grin (Pseud. von Aleksandr Stepanovič Grinveskij, 1880–1932) sowie Vladimir Obručev an, der sowohl Autor zweier Abenteuerromane als auch Professor der Geologie war. Vgl. [Red.]: K literaturnomu konkursu „Vsemirnogo sledopyta“, in: Vsemirnyj sledopyt 6 (1928), S. 477; Narbut hatte nach seinen akmeistischen Anfängen in den 1920er Jahren als Parteimitglied im Narkompros und als Mitgründer des nach Gosizdat zweitgrößten Verlages Zemlja i fabrika Karriere gemacht, ehe er 1928 wegen falscher Angaben zu seinen Tätigkeiten während des Bürgerkriegs aus der Partei ausgeschlossen wurde und daher auch seine Posten im Verlag räumte. Vgl. Zobnin, Ju. V.: Narbut Vladimir Ivanovič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 2, Moskva 2005, S. 605–607; Mironov, Aleksej: Vladimir Narbut. Tvorčeskaja biografija (Avtoreferat dissertacii), Ekaterinburg 2007. 84
Vgl. [Red.] K literaturnomu konkursu „Sledopyta“, in: Vsemirnyj sledopyt 8 (1928), S. 634–635.
85
„Имеются, например, чисто приключенческие рассказы, где кроме калейдоскопа необычайных авантюр – ничего нет. [...] Некоторые фантастические рассказы чужды ‚Следопыту‘ cвоей необоснованностью, оторванностью от науки и действительных, жизненнных интересов [...].“ Ebd., S. 634.
86
Vgl. „Unzulässig sind lediglich Erzählungen, wo das Erdichtete vom Leben losgelöst ist, wo die Fantastik aufhört lehrhaft zu sein.“ („Недопустимы только рассказы, где выдумка отрывается от жизни, где фантастика перестала быть поучительной.“) Offensichtlich zeichnete sich aber schon zu diesem Zeitpunkt ab, dass man zur Rolle der Chemie bei der Rationalisierung der Landwirtschaft kaum Zuschriften bekommen würde, so dass man explizit auch andere lebensnahe Themen zuließ, um gleich wieder einzuschränken: „Fragen der Chemie gewidmete Erzählungen sind jedoch am meisten gewünscht, da sie die zeitgenössischen Aufgaben von Wissenschaft und Leben spiegeln.“ („Однако рассказы, посвященные вопросам химии, наиболее желательны как особо ортажающее современные задачи науки и жизни.“) Ebd., S. 635.
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ßen war: Keine der eingesandten Geschichten wurde eines ersten Platzes für würdig befunden, so dass es zwei zweitplatzierte gab. Unter den acht prämierten Erzählungen wiederum belegten die ersten fünf Plätze „regionalkundliche“, nur auf den sechsten Platz kam eine „wissenschaftlich-fantastische“, den letzten, achten verlieh die Jury einer „biologisch-fantastischen Erzählung“.87 Als man dann Anfang 1929 die beiden prämierten Erzählungen abdruckte, verlieh man ihnen beiden nur das Attribut „fantastisch“, was schon symptomatisch war. Zudem kam bei einer Geschichte heraus, dass sie ein schlichtes Plagiat einer bereits 1913 erschienenen Erzählung darstellte: Sie handelte von einem Forschungsreisenden, der in einem fernen Land im Dschungel auf Froschmenschen getroffen war, wodurch er Darwin widerlegen wollte, dass der Mensch vom Affen abstamme.88 Die zweite, mit dem sechsten Platz prämierte „fantastische Erzählung“ behandelte zwar eine „chemisch-technische Rationalisierung“, aber nicht auf die Kollektivierung der Landwirtschaft bezogen, sondern auf ihr anti-utopisches Gegenteil.89 Sie erzählte von zwei Schiffern, die am 18. Mai 192... auf dem Baikalsee einem marsianischen Raumschiff begegnen und mit dem interplanetaren Reisenden Kontakt aufnehmen: Dieser berichtet ihnen von der Marszivilisation, die aber nicht wie von den irdischen Zuhörern erwartet ein „wirkliches Paradies“ darstellt, sondern nur noch unterirdisch und durch chemisch hergestellte Nahrungsmittel auf dem lebensfeindlichen Planeten aufrecht erhalten werden könne: „Doch es geschah ein unvorhergesehenes Unglück: die chemische Ernährung, obwohl sie leicht verdaulich und sehr nahrhaft war, wurde zur Ursache einer besonderen Erkrankung, der ‚Metallisierung‘ des Körpers. In allen Geweben des Organismus lagern sich metallische Rückstände ab, und alle Marsianer leiden daran in mehr oder weniger großem Ausmaß.“90 87
[Žuri]: O literaturnom konkurse „Vsemirnogo sledopyta“, in: Vsemirnyj sledopyt 12 (1928), S. 956.
88
Vgl. Černjak, Leonid: Predki. Fantastičeskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 1 (1929), S. 48–57; [Red.]: Konkursnyj plagiat, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1929), S. 240. Die Erzählung stellt nicht nur eine deutliche Parodie des Sezierens von Fröschen dar, für das in der russischen Wissenschaftsgeschichte der Physiologe Ivan Michajlovič Sečenov (1829–1905) das Vorbild war. In der Literatur hatte Ivan Turgenevs Held Evgenij Bazarov aus dem Roman Väter und Söhne (Отцы и дети, 1862) das Sezieren bekannt gemacht. Das Eindringen in die unterirdische Wasserhöhle der Froschmenschen ermöglicht dem Erzähler auch den Blick in eine andere Welt, wie sie schrecklicher und unheimlicher nicht sein könnte: „Das war ein Fenster in eine andere Welt, die sich noch nie den Augen des Menschen geöffnet hatte. [...] Ich beschloss, was es auch koste, an die Freiheit zu gelangen. Allein der Anblick von Wasser brachte mich um den Verstand.“ („Это было окно в другой мир, который еще никогда не отражался в глазах человека. [...] Я решил во что бы то ни стало выбраться на волю. Один вид воды приводил меня в безумие.“) Černjak: Predki, S. 54.
89
Volkov, Michail: Bairo-Tun. Fantastičeskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1929), S. 95–112.
90 „Однако появилась непредвиденная беда: химическая пища, хотя и легко усвояемая и весьма
питательная, послужила причиной особой болезни, ‚металлизации‘ тела. Во всех тканах организма отлагаются металлические осадки, и все марсиание страдают этим в большей или меньшей степени.“
Ebd., S. 102.
256 | Kommunistische Pinkertons
Die einzige Rettungsmöglichkeit aus dieser alptraumhaften Welt einer untergehenden Zivilisation ist die Flucht auf andere Planeten, doch als der Marsianer erfährt, dass er sich bei den Menschen nicht sicher sein könne, ob sie ihn freundlich aufnehmen, verschwindet er eines Tages spurlos.91 In dieser Erzählung gibt es keine wissenschaftlich „relativierte“ Fantastik, sondern sie extrapoliert all die unheimlichen Ängste und möglicherweise auch real erlebten Grausamkeiten fantastisch verfremdet auf den Roten Planeten, die eine „chemisch-technische Rationalisierung der Industrie und der Landwirtschaft“ im wörtlichen Sinne für den Menschen mit sich bringt.92 Dass eine solche Fantastik nicht den Anforderungen der Wissenschaftspopularisierung und Jugenderziehung entsprach, wie sie im Zuge des ersten Fünfjahresplans proklamiert wurde, wusste die Redaktion. Und so druckte man noch in der gleichen Ausgabe des Vsemirnyj Sledopyt eine ausführliche Stellungnahme der Redaktion zu den Ergebnissen des Literaturwettbewerbs.93 Zwar hatte man über 200 Erzählungen aus allen Enden der Sowjetunion zugeschickt bekommen, doch deren Inhalt entsprach weitgehend nicht den neuen literaturpolitischen Anforderungen, denn nur „sehr wenige“ wissenschaftlich-fantastische Erzählungen hätten aktuelle Probleme behandelt, nur „einige“ seien wissenschaftlich begründet gewesen und „ganz und gar wenige“ (совсем мало) hätten sich der Hauptaufgabe – der Chemisierung – gewidmet.94 Dabei habe das Hauptproblem gar nicht so sehr in der fehlenden inhaltlichen Durchdringung des Themas, sondern in der Art und Weise der Darstellung gelegen: „Ein Großteil der Erzählungen spricht sehr verschwommen und unbestimmt von ‚irgendeiner‘ Maschine, ‚irgendeinem‘ neuen Stoff, ‚irgendeiner‘ ungewöhnlichen Formel, worin aber das Wesen der neuen Erfindung besteht – wird nicht erklärt, da die Autoren sich offensichtlich selber nicht besonders viele Gedanken über diese für die Erzählung wichtige Frage gemacht haben, sondern sich mehr um die Abenteuer ihrer Helden gekümmert und dabei das Hauptziel solcher Werke vergessen haben – zusammen mit der Handlung, der spannenden Fabel den Leser mit irgendeinem Wissensgebiet und den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen bekannt zu machen.“95
91
Ebd., S. 109ff.
92
Die Geschichte behandelt neben der aktuellen Propaganda zum ersten Fünfjahresplan und der Eisen- und Stahlmetaphorik in Bezug auf den Neuen Menschen noch eine Reihe weiterer angstbesetzter Themen. So gibt es ein langes Gespräch zwischen den Menschen und dem Marsianer über die neuesten Handfeuerwaffen zum Angriff und zur Verteidigung sowie über stärkere Waffen zur Vernichtung des Gegners über größere Distanzen hinweg, vgl. S. 109f. Auch die Datierung auf den „18. Mai 192..“ ist ambivalent, stellte doch der 18. Mai 1928 den Beginn des berüchtigten Schachty-Prozesses um die angebliche antisowjetische Verschwörung von Ingenieuren im Donbass dar.
93
[Red.]: Litkonkurs „Sledopyta“ 1928 g., in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1929), S. 148–149.
94
Ebd., S. 148.
95 „Большая часть рассказов очень туманно и неопределенно говорит о ‚какой-то‘ машине, ‚каком-то‘
новом веществе, ‚какой-то‘ необычайной формуле, а в чем сущность нового открытия – не раъясняется, так как сами авторы, видимо, особенно не задумывались над этим важным для рассказа вопросом, а более заботились о приключениях своих героев, забывая самую главную цель таких
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Anders formuliert lässt sich aus dieser Feststellung herauslesen, dass die Leser und potentiellen Autoren der Zeitschrift an dem Genre ganz andere Dinge interessierten als die neuen literaturpolitischen Vorgaben vorsahen. Ganz offensichtlich war die proklamierte populärwissenschaftliche Wende noch nicht bis zu den Rezipienten durchgedrungen, wie auch die zusammenfassende Stellungnahme der Redaktion zeigt: „Zum Abschluss noch einige Worte über die Themen, die die Autoren für die Mehrheit der Erzählungen gewählt haben, – hier kann man sich nur über deren seltsamen Gedankengang wundern. Ihr Thema baut zum Großteil auf ‚unwahrscheinlichen Schrecken‘ auf, die auf die Leser wirken sollen. Ein Labor, in dem die eine oder andere Entdeckung gemacht wird, befindet sich mindestens auf dem Himalaja, wenn nicht gleich im Stillen Ozean. Es muss nach Meinung der Autoren unbedingt ungewöhnlich sein, sein Eingang muss durch Labyrinthe führen, der Erfinder muss künstliche Nahrung zu sich nehmen usw./ Wozu das alles? [...] Das klingt falsch, aufgesetzt.“96
Was hier aber als „seltsamer Gedankengang“ so kategorisch verworfen wird, ist eine ziemlich präzise Charakterisierung der Poetik des sowjetischen Abenteuergenres, wie es in den zwanziger Jahren unter anderem von der Redaktion des Vsemirnyj sledopyt entworfen wurde: Alle seine Geschichten und insbesondere die „fantastischen“ zielten auf die „unwahrscheinlichen Schrecken“, die die Leser in ihren Bann zogen. Die kommunistischen Pinkertons strebten eine „Erziehung der Gefühle“ gerade durch die Bezwingung und Demaskierung des Bösen an oder durch eine Entzauberung katastrophal scheiternder Träumer am Machtpol, denen naive Pfadfinder, abenteuerlustige Stechmücken, gewissenhafte Laborassistentinnen oder neugierige Baikalfischer auf die Spur kamen. Doch von kommunistischen Pinkertons sollte nun keine Rede mehr sein, sondern von einer „wissenschaftlich-revolutionären Fantastik“, die die wissenschaftlichen Probleme der Zukunft in den Blick nimmt.97
произведений – попутно с действием, увлекательной фабулой, ознакомить читателя с какой-либо отраслью знания и новейшими научными открытиями.“ Ebd. 96
„В заключение еще несколько слов о темах, которые избирали для большинства рассказов авторы, –
97
So endet die Redaktionsstellungnahme auch mit einer programmatischen Deklaration, dass man eine „revolutionäre Fantastik“ über Bluttransfusion oder „die Musik des Ingenieur Termen“ brauche. Ebd.; Der Physiker und Erfinder Lev Sergeevič Termen (1896–1993) hatte 1919 ein neuartiges elektronisches Musikinstrument erfunden, das nach ihm benannte Thereminvox (Терменвокс), das mit Hilfe zweier Hochfrequenzoszillatoren berührungsfrei durch Hand- und Körperbewegungen Töne erzeugte; Am Thema der Lebensverlängerung durch Blutransfusion arbeitete eine Vielzahl von Physiologen in den zwanziger Jahren, vgl. Hagemeister: „Unser Körper muss unser Werk sein“, S. 32f.
нельзя не поражаться странному течению их мыслей. Их тема большей частью основывается на ‚невероятных ужасах‘, которые должны воздействовать на читатели. Лаборатория, в которой проиcходит то или иное открытие, находится по меньшей мере в Гималаях, а то и в Тихом океане. Она обязательно должна быть, по мнению авторов, необыкновенная, вход в нее должен итти по лабиринтам, изобретатель ест искуссвенную пищу и т. п./ К чему все это? [...] Это звучит фальшиво, навязанно.“ Ebd., S. 149.
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Entsprechend dieser literaturpolitischen Kehrtwende stellte die von der Kommunistischen Partei und deren Jugendorganisation herausgegebene gesellschaftspolitische wissenschaftlichpopuläre Zeitschrift Molodaja gvardija nur einen Monat später im März 1929 dezidiert fest, dass es bisher keine sowjetische Jugendliteratur gebe: „Wir haben keine Literatur für die Jugend./ Die ganze bisherige ‚Literatur für die Jugend‘ – all diese Coopers, Mayne Reids, Jules Vernes, Aimards, Marryats haben – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – ausgedient. [...] Die Lieblingsfigur dieser Literatur stellt ein gewisses Ideal dar, das in der heroischen Gründungsphase der Epoche des Kapitalismus entstanden ist – der Epoche der energischen kolonialen Expansion bei Cooper, Mayne Reid und anderen, der Epoche des technischen Fortschritts – bei Jules Verne.“98
Ohne Bucharin auch nur zu erwähnen, wird hier von dem Kritiker Jakov Semenovič Rykačev (1893–1976) unter dem Titel „Unsere Mayne Reids und Jules Vernes“ das erste Mal ausdrücklich dessen Forderung nach einer Adaption der Pinktertongeschichten für eine sowjetische Abenteuerliteratur verworfen. Gerade das hätten nämlich alle sowjetischen Autoren bislang gemacht, indem sie sowohl bei der Gestaltung der Heldenfiguren als auch bei den Erzählformen einfach „bourgeoise Schablonen“ „schematisch“ auf die sowjetische Wirklichkeit übertrügen, so dass dann über den Bürgerkrieg im Tone eines „kanadischen Pfadfinders“ berichtet werde und „Goldsucher“ plötzlich zu „Revolutionären“ gemacht würden: „Alle Elemente des Aufbaus des klassischen Abenteuerromans sind mechanisch auf unseren Boden übertragen worden, doch das Endziel war schon nicht mehr der Geldsack, sondern die Weltrevolution. [...] Als Ergebnis entstand eine Schundliteratur der schlimmsten Sorte, die leider einen ziemlich großen Erfolg bei den jungen Lesern hat. Das Jahrhunderte lang erprobte Rezept des Abenteurertums ist so gekonnt und talentiert gemacht, dass es auch heute noch auf die unerfahrene Einbildungskraft wirkt.“99
98 „У нас нет литературы для юношества./ Вся прежняя ‚литература для юношества‘ − все эти Куперы,
Майн-Риды, Жюль-Верны, Эмары, Марриэтты − за самым малым исключением − вышла в тираж. [...] Излюбленным персонажем этой литературы является некий идеал человека, который сложился в героическую, созидательную эпоху капитализма – эпоху энергичной колониальной экспансии у Купера, Майн-Рида и других, эпоху технического прогресса − у Жюля Верна.“ Rykačev, Jakov: Naši
Majn-Ridy i Žjul’ Verny, in: Molodaja gvardija 3 (1929), S. 87–91, 87. Zu Rykačev, der ebenfalls der RAPP-Bewegung angehörte, vgl. Charitonov: Nauka o fantastičeskom, S. 197. 99 „ Все элементы построения классического романа приключений оказались механически
перенесенными на нашу почву, но конечной целью стал уже не мешок с деньгами, а мировая революция. [...] В результате получается лите-хальтура самого дурного сорта, пользующаяся к сожалению довольно значительным успехом у юных читателей. Испытанный вековой рецепт приключенчества составлен столь умело и талантливо, что и сейчас еще действует на неискушенное воображение.“ Ebd., S. 87f.
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Diese „gekonnt und talentiert“ gemachten Werke beständen jedoch aus „akrobatischen“ Theaterkulissen, denn das wirkliche „Abenteurertum“ (приключенчество) des Bürgerkriegs habe nichts gemein mit dem „Abenteurertum der Epoche kolonialer Eroberungen.“ Selbst die sowjetischen „Klassiker“ dieses Genres – Pavel Bljachins Rote Teufelchen und Lev Ostroumovs Makar der Pfadfinder − ständen vollkommen in der Tradition des bourgeoisen Abenteurertums, das eine „völlig künstliche Umgebung“ fern von der Wirklichkeit schaffe, in der die roten Helden aus jeder Situation einen Ausweg wissen und alle Weißen am Ende tot sind.100 Ähnlich schlimm stehe es mit der so genannten „wissenschaftlich-fantastischen“ Abenteuerliteratur, die ihr pädagogisches Ziel vollkommen verfehle, Interesse für wissenschaftliches Wissen zu erwecken. In dem „grenzenlosen Meer der für die Jugend bereiteten Pfuscharbeit“ seien einzig diejenigen Bücher von guter Qualität, die gar nicht speziell für die Jugend geschrieben worden seien, nämlich die Autobiografien von Menschen, die an den beschriebenen Ereignissen selber teilgenommen haben.101 Unter diesen Werken habe einzig Dmitrij Furmanov in seinem Roman Čapaev (Чапаев, 1923) eine Synthese mit dem „süßen Gift des Abenteurertums“ (сладкая отрава приключенчества) versucht. Allerdings hätten solche Werke bei der „politisch unreifen“ Jugend wenig Erfolg. Das einzige Werk sowohl der „großen“ (für Erwachsene) als auch der „kleinen“ (für die Jugend) Literatur, das als „vorbildlich“ gelten könne, sei Viktor Kins Roman Jenseits (По ту сторону, 1928; dt. Titel: „Im Rücken der Weißen“), der die „Erlebnisse und Abenteuer“ (похождения и приключения) zweier junger Bolschewiki während des Bürgerkriegs in Sibirien beschreibe.102 Dieses „aufregende und frische“ Werk sei ein Beispiel dafür, dass es nicht darum gehe, alte Formen mit neuem Inhalt zu füllen, sondern dass man „andere Formen“ finden müsse, die der „modernen“ (современная) Wirklichkeit entsprächen. Um dieses Ziel zu erreichen, brauche es aber die „talentiertesten sowjetischen Schriftsteller“, denn auch wenn es sich um Jugendliteratur handele, sei es doch „wirkliche Literatur“, die man „schaffen“ müsse, und nicht „am lebenden Faden fertiger Muster“ „bereiten“ könne. Denn es gehe darum, „mit welcher ‚romantischen‘, emotionalen Ladung“ die junge Generation „in die Reihen der Kämpfer und Erbauer des sozialistischen Staates“ eintrete („с какой ‚романтической‘, эмоциональной зарядкой оно вступит в ряды борцов и строителей социалистического государства“).103 Dabei gelte es jedoch zu beachten: „Im Unterschied zur ‚großen‘ Literatur darf die Literatur für die Jugend (und das Kindesalter) nicht die individuelle Weltsicht des Autors mit allen ihren Schattierungen spiegeln, sondern muss eine gewisse Mittellinie wiedergeben, gewissermaßen die gesetzte Weltsicht der Epoche. So kommen in Lehrbücher für die Schule nur unstrittige wissenschaftliche Wahrheiten, strittige lernt man in der Hochschule kennen. Das begrenzt die Eigenmächtigkeit des Autors, setzt aber gleichzeitig 100
Ebd., S. 88.
101
Ebd., S. 89.
102 Ebd. 103
Ebd., S. 90.
260 | Kommunistische Pinkertons
im Autor einen Menschen voraus, der vollkommen mit der Zeit lebt und ihre ethischen Hauptzüge einzufangen vermag, denn die Rolle der Jugendliteratur ist vor allem eine pädagogische. Hier kann man leicht in Schablonen verfallen, einen langweiligen und toten Didaktismus verschnüren. Dass ist das andere gefährliche Extrem, genauso schädlich wie das große Interesse für nacktes Abenteurertum.“104
Mit dieser Forderung, eine Literatur der „mittleren Linie“ zu schaffen, die die durchschnittliche „Weltauffassung der Epoche“ wiedergebe, geht Rykačev in seiner Kritik der Abenteuerliteratur sogar noch einen Schritt weiter als die Redaktion des Vsemirnyj Sledopyt in ihrer Stellungnahme. Denn laut Rykačev müsse in der Jugendliteratur der individuelle Autor gegenüber den „unbedingten wissenschaftlichen Wahrheiten“ und „ethischen Grundzügen“ der lebenden Zeitgenossenschaft zurücktreten. Das in diesem Beitrag fast durchweg pejorativ gebrauchte individuelle „Abenteurertum“ und das „pseudo-wissenschaftliche“ Fantastische werden genauso wie der „langweilige und tote Didaktismus“ einer „romantischen“ Emotionalität gegenübergestellt, die einer elektrischen „Ladung“ (зарядка) gleich die Jugend entzünden soll. Richtige „Wissenschaftliche Fantastik“ stellten nur diejenigen Werke dar, denen nicht nur jedes realitätsfremde Fantastische fehle, sondern in denen auch alle außergewöhnlichen Abenteuer dem Masternarrativ des heroischen Kampfes untergeordnet seien, wie in Furmanovs und Kins Bürgerkriegsromanen. Anders formuliert geht es Rykačev nicht mehr um eine Erneuerung oder Rekodierung der Form, sondern um deren Abschaffung, nur die Bezeichnung soll noch beibehalten werden, um die „politisch unreife“ Jugend zu erreichen. Als wie kompliziert sich dieses Ziel herausstellte, wurde auf einer Konferenz für jugendliche Leser des Instituts für Methoden der außerschulischen Arbeit im Herbst 1929 in Moskau deutlich.105 Die aus der ganzen Sowjetunion angereisten Jugendlichen und Pädagogen beklagten unisono den großen Mangel an den didaktischen Ansprüchen genügender, populärer Unterhaltungsliteratur. Während populärwissenschaftliche Bücher kaum gefragt würden, bestehe vor allem nach „wissenschaftlich-fantastischer“ Literatur im Stile Jules Vernes und Werken nach dem Muster des Baron Münchhausen – „nur mit einem glaubwürdigeren Inhalt“106 – ein großer Bedarf: „Es braucht Büchlein ‚über ausgelassene Kinder‘, über ‚lustige Abenteuer von Kindern
104 „В отличие от ‚большой‘ литературы, литература для юношества (и детского возраста) не должна
отражать индивидуального мировосприятия автора со всеми его оттенками, а давать некоторую среднюю линию, как бы отстоявшееся мировосприятие эпохи. Так, в школьные учебники попадают лишь безусловные научные истины, а спорные узнаются в вузе. Это ограничивает авторский произвол, но в то же время предполагает в авторе человека, в полной мере живущего современностью и умеющего улавливать ее основные этические черты, ибо роль юношеской литературы прежде всего педагогическая. Здесь легко впасть в шаблон, увязнуть в скучном и мертвом дидактизме. Это другая опасная крайность, столь же вредная, как и увлечение голым приключенчеством.“ Ebd.
105
Vgl. Želobovskij, I.: Social’nyj zakaz junogo čitatelja, in: Narodnyj učitel’ 2 (1929), S. 68–70
106 „[...]„только с более правдивым содержанием.“
Ebd., S. 69.
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 261
in der UdSSR und im Ausland‘.“107 Denn man müsse endlich einen „Übergang fort von der Pinkertonovščina“ („переход от пинкертоновщины“) finden.108 Dieser Übergang fort von der Pinkertonovščina führte letztlich auch zu einer Abschaffung der Abenteuerliteratur, aus der man eine „Wissenschaftliche Fantastik“ isolieren wollte, die zwar dem Namen nach noch etwas mit ihren Vorläufern zu tun haben durfte, de facto aber auf eine Neugründung hinauslaufen sollte: diejenige des sowjetischen Robinson.
5. 3 W ie R o b ins on ents tand e n is t – D a s E n d e d e s „ Kom pink e rto n“ 1 0 9 „– Ja, wirklich, – dachte Genosse Oktjabrev, ein alter Parteiarbeiter, – es wäre gut sein Leben aufzuschreiben. Wie viele Abenteuer! Wie viele fesselnde Momente! Untergrund, Verbannung, Flucht, Revolution, Bürgerkrieg. Da gibt es was den jungen Kommunisten zu erzählen. Aber wie schade – keine Zeit dafür!“ Aleksandr Archangel’skij (1926)109
Bereits 1926 hatte der Satiriker Aleksandr Grigor’evič Archangel’skij (1889–1938) in einem „Kompinkerton“ überschriebenen Feuilleton einen metatextuellen Abgesang auf dieses neue Genre einer sowjetischen Abenteuerliteratur formuliert. Und zwar nicht deshalb, weil es – wie die Formalisten behaupteten – eine abgestorbene, automatisierte Form darstelle, die vom Kino längst übertroffen worden sei, oder aber weil es keinen Erfolg zeitige, sondern einfach weil es von den falschen Leuten geschrieben werde: Als der verdiente alte Parteiarbeiter Oktjabrev Bucharins Aufruf für einen Kommunistischen Pinkerton in der Zeitung liest, ist er von diesem Vorschlag angetan, doch er hat keine Zeit seine Lebenserinnerungen zu schreiben, denn er ist von morgens bis abends mit bürokratischer Verwaltungs- und Organisationsarbeit beschäftigt. Als aber der Literat Čegoizvolin (zu Deutsch so viel wie „Wasbelieben“) von der Forderung erfährt, macht er sich umgehend ans Schreiben und verfasst den „Roman in 35 Kapiteln“ Der ge107 „Нужны книжки ‚про озорных ребят‘, о ‚веселых приключениях ребят в СССР и за границей.“ Ebd., S. 69. 108
Ebd., S. 70.
109 „– A, действительно, – подумал товарищ Октябрев, старый партийный работник, – хорошо бы
описать свою жизнь. Сколько приключений! Как много захватывающих моментов! Подполье, ссылка, побег, революция, гражданская война. Есть что порассказать молодым коммунистам. Да жаль – нет времени!“ Archangel’skij, Aleksandr: Kompinkerton, in: Ders.: Kommunističeskij Pinkerton,
Leningrad 1926, S. 3-7, S. 3.
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heimnisvolle Untergrund oder die Abenteuer eines Kommunisten (Таинственное подполье, или похождения коммуниста), der mit einem „leidenschaftlichen alten Parteikuss“ des „alten Parteiarbeiters Ortodoks Bol’ševikov“ und der „alten Parteiarbeiterin seit dem Jahr 1890“ Anna endet.110 Genosse Oktjabrev bekommt das Büchlein einen Monat später zu lesen und ruft nach der Lektüre entrüstet aus: „Der Teufel weiß, was das ist! Und mit solcher Makulatur füttert man die Arbeiter! Warum schreiben die alten Parteigenossen nicht? Das verstehe ich nicht!“111 Erst ein paar Jahre später, als die Parteileitung die Ausweitung der Wissenschaftspopularisierung und eine Neuausrichtung der Kinder- und Jugendliteratur beschloss, hatten auch die alten Parteiarbeiter endlich Zeit sich mit den kommunistischen Pinkertons zu beschäftigen. Der beim Volkskommissariat für Bildung angesiedelte Hauptwissenschaftsrat (Главный ученый совет, Abk. GUS) beschloss unter Leitung von Nadežda Krupskaja bereits 1927, dass alle belletristischen und wissenschaftlich-künstlerischen Bücher für Jugendliche unter 16 Jahren zuerst seiner Genehmigung bedürften.112 Auch die Zensurbehörde Glavlit begann ab 1928 insbesondere westlicher Abenteuerliteratur etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und in den Bibliotheken begann 1929 – wie der Historiker Arlen Bljum schreibt – ein regelrechter „Genozid“ gegen das Genre: Bücher von Gustave Aimard, Louis-Henri Boussenard, Robert Stevenson, Mark Twain oder Jules Verne verschwanden komplett aus den Bibliotheksregalen.113 Und auch die Funktionäre der RAPP weiteten ab 1929 ihre Aktivitäten des Öfteren auf das Feld der Abenteuerliteratur aus, um auch in diesem Bereich ihre literaturpolitische Hegemonie zu sichern.114 Ihnen ging es vor allem um eine Eingrenzung des Begriffs der „Wissenschaftlichen Fantastik“, der weitgehend von Elementen „bourgeoiser“ Abenteuerliteratur losgelöst werden sollte, um so gewissermaßen ein neues „Abenteuergenre ohne Abenteuer“ zu schaffen. Spätestens nachdem Nikolaj Bucharin im April 1929 von Stalin aufgrund „rechter Abweichung“ aller Parteiämter enthoben worden war, hatte sich das Konzept der „kommunistischen Pinkertons“ erledigt.115 Ende 1929 beklagte der Fantastikschriftsteller Abram Ruvimovič Palej (1893–1995), der sich 1927 mit seinem ersten Roman Der Golfstrom (Гольфштрим) einen Namen gemacht hatte, in der der RAPP nahe stehenden Zweiwochenzeitschrift Revoljucija i kul’tura (Revolution und Kul110
Ebd., S. 3ff., S. 6.
111 „– Чорт знает, что такое! И этой макулатурой пичкают рабочих! Почему не пишут старые партийные
товарищи? Не понимаю!“ Ebd., S. 7. Vgl. zu diesem Feuilleton auch Dralyuk: Western Crime Fiction
Goes East, S. 136–140. 112
Bljum: Za kulisami „ministerstva pravdy”, S. 244ff.
113
Ebd., S. 256ff.
114
Zu den literaturpolitischen Auseinandersetzungen dieser Jahre allgemein, vgl. Eimermacher, Karl: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932, S. 74–92.
115
Entsprechend wird die „Pinkertonovščina“ im achten Band der Literaturenzyklopädie 1934 nur noch als „minderwertige Vulgärliteratur“ („низкопробная вульгарная лит-ра“) abqualifiziert, die das Proletariat von der Revolution habe ablenken und der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung habe dienen sollen, vgl. Kaleckij, P.: Pinkertonovščina, in: Literaturnaja ėncyklopedija, Bd. 8, Moskva 1934, S. 645–649, S. 648.
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tur): „Alle Bibliothekare bringen mit einer Stimme die nachdrückliche Forderung der jungen Leser nach wissenschaftlicher Fantastik zum Ausdruck.“116 Aber diese Nachfrage werde nirgends bedient, so dass die Verlage weiterhin vor allem auf Übersetzungen aus dem Westen zurückgreifen würden, während hier – in der Sowjetunion – fast nur Schund der billigen „Unterhaltsamkeit“ (занимательность) produziert werde, der zwar oberflächlich der Wissenschaftlichkeit und der sowjetischen Ideologie genüge, aber künstlerisch nichts tauge.117 Zwar gäbe es noch eine zweite Kategorie an Werken in den 1920er Jahren, die „künstlerisch stark und auch in wissenschaftlicher Hinsicht akzeptabel“ seien, jedoch ideologisch der Sowjetunion fremd seien und noch „viel der Pinkertonovščina“ („много пинкертоновшины“) enthielten, wozu insbesondere die Werke Aleksej Tolstojs zählten.118 Die Gesellschaft brauche aber die Fantastik, denn ohne Fantasie gäbe es kein Schöpfertum: „Ein Künstler, Poet, Wissenschaftler und Techniker muss sich, um etwas Neues schaffen zu können, dieses Neue vorstellen können. Die Fantasie ist die Fähigkeit, sich die Zukunft vorstellen zu können, die gesetzmäßig sich aus der Gegenwart entwickelt. (...) Deshalb ist die Bedeutung einer guten wissenschaftlichen Fantastik kolossal: sie erweckt und erzieht den schöpferischen Geist.“119
Eine solche Fantastik gäbe es bislang aber nur in den vor der Revolution geschriebenen Werken Aleksandr Bogdanovs, dem Roten Stern (Красная звезда, 1908) und dem Ingenieur Mėnni (Инженер Мэнни, 1912) sowie in dem umfangreichen Oeuvre Aleksandr Beljaevs. Was sich in diesen Zitaten zeigt, ist zum einen die deutliche literaturpolitische Hinwendung zum Proletkul’t in Person von dessen Mitbegründer und wichtigstem Ideologen Bogdanov, der als „mutiger Theoretiker und Experimentator“ bei seinen Selbstversuchen mit Bluttransformation den Wissenschaften sogar sein eigenes Leben geopfert habe120 und dessen mehrfach aufgelegte Werke bislang kaum rezipiert worden seien.121 Von dem bisher eher positiv bewerteten „Mitläufer“ (попутчик) Aleksej Tolstoj grenzt sich Palej hingegen dezidiert ab. Inhaltlich sind es drei Kriterien, die hier von Abram Palej an die neu zu begründende Wissenschaftliche Fantastik 116 „Все библиотекари в один голос отмечают настойчивые требования молодого читателя на научную
фантастику.“ Palej, Abram: Sovetskaja naučno-fantastičeskaja literatura, in: Revoljucija i kul’tura 23–24
(1929), S. 63–68. 117
Ebd., S. 64f.
118
Ebd., S. 65f.
119 „Художник, поэт, ученый и техник, чтобы создать что-нибудь новое, должны уметь представить себе
это новое. Фантазия – уменье представлять будущее, закономерно развивающееся из настоящего. [...] Поэтому значение хорошей научной фантастики колоссально: она будит и воспитывает творческий дух.“ Ebd., S. 63.
120
Ebd., S. 67. Zu den Experimenten mit Bluttransformation, vgl. Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik, S. 173–190.
121 Der Roter Stern ist von 1918 bis 1929 sechsmal, Ingenieur Mėnni immerhin fünfmal aufgelegt worden, vgl:
Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
264 | Kommunistische Pinkertons
herangetragen werden: erstens solle sie aktuellen ideologischen und wissenschaftlichen Standards entsprechen, das heißt popularisierend wirken; zweitens müsse sie die Fantasie und Vorstellungskraft der Leser anregen, das heißt über den aktuellen Wissensstand hinaus mögliche Zukunfts- und Entwicklungsszenarien entwerfen; und drittens habe sie – im deutlichen Gegensatz zum Konzept der Kommunistischen Pinkertons – hohen künstlerischen Ansprüchen zu genügen, was explizit ein spannendes und unterhaltsames Sujet nicht ausschloss. Diese inhaltlichen Forderungen wurden nur einen Monat später in derselben Zeitschrift Revoljucija i kul’tura noch einmal konkretisiert, indem dezidiert der Ansicht vieler „Pädagogen und einer ganzen Reihe von Autoren“ widersprochen wurde, die behaupteten, junge Leser bräuchten „Bücher, die durch die Außergewöhnlichkeit des Sujets und Exotik der Orte fesseln, an denen sich die Handlung entwickelt“.122 Das Gegenteil sei richtig: Nicht nur die „importierten und vaterländischen Mayne Reids, Coopers, Aimards und viele viele andere“, auch die rein fantastischen Romane vom Typ Jules Vernes würden den Lesern „objektiv einen nicht geringen Schaden“ zufügen. Anstatt sich auf die Ausbildung vorzubereiten, glänzten die Leser unter der „Hypnose der schillernden starken Abenteuer und Erlebnisse“ mit sinnlosem Wissen über Lasso, Mustang und die Prärie.123 Doch nicht nur in pädagogischer Hinsicht lenke diese Literatur von der Vorbereitung auf das eigene Leben ab, auch soziologisch und politisch gesehen sei sie zu bekämpfen: „Deutlich war an dieser ganzen Literatur auch die soziologische Einstellung. Der Kapitalismus hatte sich einen Aufmarschraum in den Ländern mit primitiver Kultur verschafft, die Konquistadoren wurden angespornt und besungen als Pioniere eines neuen Lebens unter den ‚Wilden‘ Amerikas und Afrikas, die man bearbeiten, und manchmal auch vollständig physisch vernichten musste. Unter den Indianern und Negern gab es auch ‚gute‘ Exemplare, sie halfen den Kulturträgern Schnaps, Schießpulver, Christentum und Syphilis unter den Farbigen zu verbreiten, und diese Pfadfinder beschrieb man einfühlsam, die anderen aber als hinterhältige, gefühllose Menschenfresser, die nur zur Pflichterfüllung als lebende Zielscheiben für die unternehmenslustigen Kolonisatoren gebraucht wurden.“124
122
Zlobnyj, I.: Fantastičeskaja literatura, in: Revoljucija i kul’tura 2 (1930), S. 47–49, 47.
123
Ebd.
124 „Ясна была во всей этой литературе и социологическая установка. Капитализм завоевывал себе
плацдарм в странах примитивной культуры, конквистадоры поощрялись и воспевались как пионеры новой жизни среди ‚дикарей‘ Америки и Африки, которых нужно было поработить, а кой-где даже совсем физически уничтожить. В среде индейцев и негров оказывались ‚хорошие‘ экземпляры, они помогали культуртрегерам водки, пороха, христианства и сифилиса внедряться в среду цветных людей, и этих следопытов описывали сочувственно, а остальных изображали коварными, бесчувственными людоедами, годными только на исполнение обязанностей живых мишеней для предприимчивых колонизаторов.“ Ebd., S. 47f.
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Solche „imperialistischen Tendenzen“ hätten mit ihrem „Gift menschenfeindlicher Propaganda Millionen ihrer jungen Leser“ moralisch zersetzt. Auch die Revolution habe aus verschiedenen kulturellen, sozialen und politischen Gründen diese „Lobpreisung der eigenen Überlegenheit“ nicht beendet, vielmehr lebe „die Tradition des Abenteurertums“ bis heute weiter. Damit aber verschob sich die Kritik auf eine noch grundsätzlichere Ebene. Hatte man sich bisher in den 1920er Jahren wenn überhaupt mit der Form (Adaptionen als Kommunistischer Pinkerton, Parodien als Erneuerung, Medienkonkurrenz zum Kino) und den ideologischen Implikationen des Genres (bourgeoise Lesermanipulation, Rekodierung des Exotischen, weltweite Pfadfinder) beschäftigt, zielte die jetzige Auseinandersetzung auf die grundsätzlichen inhaltlichen Konstitutionsmomente des Genres im Rahmen der kolonialen Expansion Europas. Ähnlich wie Kornej Čukovskij zwei Jahrzehnte zuvor, aber unter umgekehrten politischen Vorzeichen, fokussierte diese Kritik auf das zentrale axiologische Konstruktionsprinzip der populären Abenteuerliteratur, nämlich die imperialen Prädispositionen, die gesellschaftliche Ambivalenzen und Krisenmomente in der Figur des männlichen weißen Helden personalisieren. Ein solches maskulines Subjekt gewinnt dabei an Stärke gerade in der Abgrenzung oder auch Affirmierung „exotischer“ Menschen und Kulturtechniken, wobei in den sowjetischen Adaptionen meist ein indigener Einzelkämpfer oder auch ganze Bevölkerungsgruppen sich den bolschewistischen „guten“ Eindringlingen anschließen, mit denen sie zusammen die Befreiung von den „bösen“ Kolonisatoren bzw. Ausbeutern betreiben. Es sind genau solche sowjetischen „Rekonstruktionen des Exotischen“ als „emanzipatorische“ Modifikationen des kolonialen Diskurses (vgl. Abschnitt 2.3), die in dieser Kritik jetzt grundsätzlich hinterfragt werden. Denn während die sowjetische Abenteuerliteratur bislang versucht habe, den inhärenten Widerspruch des Genres im Sinne des bolschewistischen Gesellschaftskonzeptes aufzulösen, indem sie an die Stelle der „Cowboys“ und „Abenteurer“ westlichen Typs junge Pioniere und enthusiastische Bolschewiki setzte sowie den Kolonisierten und Unterdrückten eine nationale bzw. politische Perspektive eröffnete, sich selber zu befreien, wird nun allein die Thematisierung kolonialer Topoi als verwerflich angesehen. Abenteuerliteratur steht damit nicht nur synonym für individualistischen Eskapismus, bourgeoise ablenkende Unterhaltung und unnützes Wissen, sondern auch für koloniale und kapitalistische Ausbeutungsund Eroberungsfantasien.125 125
So stellt I. Svistunov im Oktober 1933 in der Literaturnaja gazeta fest: „Der Kapitalismus brachte in seiner Blütezeit Schriftsteller hervor, die in der Lage waren Werke zu schaffen, die ihren Leser mit der Leidenschaft zur Entdeckung neuer Länder, zu fernen und schweren Reisen, zum Kampf mit ‚ursprünglichen‘ Menschen und zur Eroberung neuer Räume infizierten. [...] Und die Abenteuerschriftsteller des Westens erzogen ihren Leser in diese Richtung.“ („Капитализм в эпоху своего расцвета выдвигал писателей, умевших создавать произведения, заражавшие читателя страстью к открытию новых стран, к далеким и трудным путешествиям, к борьбе с ‚первобытными‘ народами, к завоеванию новых пространств. [...] И авантюрные писатели Запада воспитывали своего читателя в этих направлениях.“) Svistunov, I: Ob uvlekatel’nom i poleznom čtenii. Ešče o naučno-fantastičeskom žanre,
in: Literaturnaja gazeta (17.10.1933), S. 3.
266 | Kommunistische Pinkertons
Abb 9
Kampagne gegen die Leningrader und Moskauer Zeitschriften Vokrug sveta und deren „gegenstandsloses Abenteurertum“ mit den Losungen „Exotik verdeckt die alte koloniale Romantik“, „Der Konquistador ist bis heute der Held der Abenteuererzählungen in diesen Journalen“ und: Sie „empfindet keine Zeitgenossenschaft und missachtet die großen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus“, in der Zeitschrift Kniga i revoljucija, Nr. 22 (10.12.1929), S. 49.
Bezieht man diese Kritik an dem kolonialen „Gift menschenfeindlicher Propaganda“ auf Kornej Čukovskijs Polemik gegen den „Gott der Hottentotten“, fällt auf, dass hier zwar aus einer gänzlich anderen Perspektive argumentiert wird, diskursiv aber die gleiche Rhetorik von (jetzt sowjetischer) Zivilisation und (jetzt imperialistischer) Barbarei aufgerufen wird: Die eigentlichen „Barbaren“ kommen nun nicht mehr aus der rückständigen Wildnis, sondern aus dem Herzen der Zivilisation und produzieren das süße Gift der entgrenzten Sinne und exotischen Abenteuer selber. Die geforderte Konsequenz ist jedoch die gleiche: Der Kampf gegen diese Art von „gefährlicher“ Unterhaltungsliteratur. Und tatsächlich sind „Abenteurertum“ (приключенчество) und Aventurismus (авантюризм) seit 1930 nicht nur einfach Schlagworte, die fast ausschließlich negativ konnotiert sind,126 sondern auch administrativ begann man bis zur Entmachtung der 126
So schreibt Abram Palej beispielsweise 1933 in Bezug auf den Helden bei Jules Verne: „War dieser Mensch bis zur Selbstvergessenheit der Sache der wissenschaftlichen Forschung ergeben?/ Nein, das war einfach ein
Die Etablierung neuer Genregrenzen | 267
RAPP im April 1932 massiv gegen sie vorzugehen.127 Mit der Schaffung des staatlichen Verlagsmonopols OGIZ (Abk. für Vereinte Staatliche Buch- und Zeitschriftenverlage, russ. Объединение государственных книжно-журнальных издательств) im August 1930 wurden die privaten und ein Großteil der kooperativen Verlage in staatliche Strukturen überführt, wovon auch unmittelbar die Abenteuerliteratur betroffen war. Die in Sojkins Verlag publizierte Zeitschrift Mir priključenij musste bereits 1930 ihr Erscheinen einstellen. Der Verlag Zemlja i fabrika wurde mit dem Staatsverlag für Belletristik Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudožestvennoj literatury zwangsvereinigt, dort konnte der Vsemirnyj sledopyt zwar vor allem aufgrund der 1928 eingeleiteten redaktionellen Kehrtwende und guter Beziehungen zur Partei noch bis 1932 weitergeführt werden, doch die zehntägig erscheinende, sehr erfolgreiche Beilage Vokrug sveta musste schon 1930 schließen.128 Die im Leningrader Verlag Krasnaja gazeta erscheinende Zeitschrift Vokrug sveta konnte ebenfalls zwar unter dem Dach des Verlags der örtlichen Komsomolabteiltung gerettet werden, druckte aber so gut wie keine Abenteuerliteratur mehr. Aus den Verlagsprogrammen verschwanden sowohl sowjetische als auch westliche Abenteuerbücher nahezu vollkommen, selbst Werke von H. G. Wells wurden jetzt als offen „konterrevolutionär“ angegriffen.129 Von dieser weitgehenden Repression populärer Abenteuerliteratur unter der Ägide der verdienten Genossen der RAPP blieb aber auch die „Wissenschaftliche Fantastik“ nicht unberührt. Auch wenn ihre theoretische Abkoppelung aus dem semantischen Feld der Abenteuerliteratur insofern erfolgreich war, als dass sie nicht im Zentrum der Kritik stand, ging naturgemäß mit der stark eingeschränkten Publikation von Abenteuerliteratur auch die Anzahl der als „wissenschaftlich-fantastisch“ oder gar „fantastisch“ attributierten Werke massiv zurück. Nur einige Texte erschienen noch in Zeitschriften wie Znanie – sila, der Leningrader Zeitschrift Vokrug sveta, in Krasnaja nov’ oder der im Verlag Molodaja gvardija neu aufgelegten „Monatszeitschrift für revolutionäre Romantik, soziale Fantastik und die künstlerische Propaganda des Generalplans“ (Ежемесячный журнал революционной романтики, социальной фантастики и художественной пропаганды генерального плана) Bor’ba mirov. Doch die unter diesem Begriff erscheinenden Werke meist recht unbekannter Autoren unterschieden sich von der sonstigen Abenteurer der höchsten Sorte [...].“ („Был ли это человек, преданный до самого самозабвения делу научного исследования?/ Нет, это был просто авантюрист высшей марки [...].“) Palej, Abram: O žanre, kotorogo u nas net. Naučno-techničeskaja fantastika, in: Molodaja gvardija 8 (1933), S. 150–153, 151. 127 Vgl.
zur Rolle der RAPP 1930 bis 1932 Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917–1932, S. 92–105.
128
Vgl. Andreeva, O. V.: Kniga v SSSR v 1930-e gody i v period velikoj otečestvennoj vojny, in: Balackij; Kallinikov: Istorija knigi, http://www.hi-edu.ru/e-books/HB/21–1.htm, 01.03.2009; Krutskich: Russkij Kėmpbell, S. 7f.
129
So Abram Palej über Wells’ Roman In the Days of the Comet (1906), vgl. Palej, Abram: Ser’eznyj proryv na literaturnom fronte, in: Revoljucija i kul’tura 17–18 (1930), S. 90–91, S. 90; Generell zur Publikationspraxis vgl. Andreeva: Kniga v SSSR v 1930-e gody; Kalmyk: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk.
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Produktionsliteratur jener Jahre nur darin, dass sie noch stärker als diese die zukünftigen glorreichen Aufbauleistungen antizipierten. Selbst der ansonsten äußerst produktive Aleksandr Beljaev publizierte 1931 bis 1933 keinen einzigen Roman mehr, im Jahr 1932 konnte er noch nicht einmal eine einzige Erzählung bei den Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen unterbringen.130 Und so musste der Propagandist einer Neubegründung der „wissenschaftlichen Fantastik“ als ein eigenständiges Genre des sozialistischen Aufbaus, Abram Palej, schon Ende 1930 resigniert feststellen: „Wissenschaftliche Fantastik wird bei uns stiefmütterlich behandelt. Die Kritik umgeht sie, die Verlage verhalten sich überaus zurückhaltend gegenüber ihr. Belletristen, die aus bitterer Erfahrung gelernt haben, beschäftigen sich ungern mit ihr. [...] Manche Kritiker haben erklärt, dass Fantastik insgesamt konterrevolutionär sei, weil sie angeblich von der jetzigen Wirklichkeit wegführe. Wenn ein Werk der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik nicht hundert Prozent ideologisch tragfest ist, wird es boykottiert.“131
Einzig Jan Larri, der Autor der zitierten, ideologisch hundertprozentig auf Linie liegenden Agitationsschrift für den Fünfjahresplan Fenster in die Zukunft schaffte es 1931 diesen Boykott zu durchbrechen und in einem kleineren Leningrader Verlag seinen „publizistischen Kurzroman“ Das Land der Glücklichen (Страна счасливых) unterzubringen, der das zukünftige Leben einer sozialistischen UdSSR beschreibt. Ungeachtet einiger unterentwickelter Momente (моменты недоразвитые) sei das Buch aber allen Erbauern des Sozialismus empfohlen, so der Direktor des Leningrader Anti-religiösen Museums Nikolaj Nikolaevič Glebov-Putilovskij (1883–1948) in seinem Vorwort, „um, während man es noch einmal liest, alle Fragen, die in ihm aufgeworfen werden, selbständig zu durchdenken.“132 Eine der Fragen, die ein positiver Held des Kurzromans aufwarf, war, ob man nicht gleich sämtliche Bücher vernichten solle, um sie in einer „blutigen Revolution“ durch telegraphische Aufzeichnungen zu ersetzen:
130
Vgl. Britikov: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 136ff.; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
131 „Научная фантастика у нас в загоне. Критика обходит ее, издательства пренебрежительно относятся
к ней. Беллетристы, наученные горьким опытом, неохотно берутся за нее. [...] Некоторые критики объявили, что фантастика вообще контрреволюционна, так как, мол, уводит от текущей действительности. Если произведение советской научной фантастики не выдержано идеологически на все сто процентов, то оно берется под бойкот.“ Palej, Abram: Ser’eznyj proryv na literaturnom fronte, in:
Revoljucija i kul’tura 17–18 (1930), S. 90–91, 91. 132 „[...] чтобы прочтя еще раз самостоятельно продумать все вопросы, которые в ней поставлены.“
Glebov-Putilovskij, Nikolaj: Predislovie, in: Larri, Jan: Strana sčastlivych (Publicističeskaja povest’), Leningrad 1931, S. I–XVI, S. XVI.
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„Ich halte es für unbedingt notwendig, eine blutige Revolution in den Bibliotheken durchzuführen. Man muss die alten Bücher bekämpfen. Ja, ja! Ohne Blut geht es hier nicht. Man muss Aristoteles und Hegel, Pavlov und Mendeleev, Chvol’son und Timirjazov zerschneiden. O weh, ohne Blutvergießen geht es nicht. Meine Blutgier macht selbst vor Lenin und Marx nicht halt. Stalin? Auch er muss leiden! Alle, alle!“133
In diesen die Säuberungen der Bibliotheken von Abenteuerliteratur assoziierenden Zeilen tauchte aber genau jenes typisch fantastische Moment der „unwahrscheinlichen Schrecken“ auf, das die Redaktion des Vsemirnyj sledopyt 1928 angeblich so in Erstaunen versetzte und das die Abenteuerliteratur bei Lesern und Autoren so beliebt machte. Es war die Möglichkeit, durch die fiktionale Extrapolation in andere Welten und die Beschäftigung mit technischen Innovationen fantastische Szenarien zu entwerfen, die imaginär ambivalente, allegorische Lesarten eröffneten. Und so wird der Medienwechsel vom Buch zum Telegraphen – ganz im Sinne einer „Elektrifizierung der Gedanken“ (vgl. Abschnitt 4.2) – beim nochmaligen selbständigen Durchdenken auch als eine metonymische Verschiebung vom Werk zum Autor, vom alten Buch zum Neuen Menschen lesbar, dem die blutige Revolution gilt. Die konterrevolutionäre Richtung auch dieses fantastischen Romans hatten die Kritiker sehr bald erkannt,134 und auch die Zensoren von Glavlit schritten umgehend ein,135 die Zeitschriftenund Verlagsredakteure aber wurden noch zurückhaltender, was die Publikation entsprechender Werke anbelangte.136 Ein knappes halbes Jahr nach der Entmachtung der RAPP schrieben Il’ja Il’f und Evgenij Petrov auf diesen weitgehenden „Boykott“ jeglicher Literatur, die noch Abenteuerelemente beinhaltete, im Herbst 1932 ihr erstes in der Pravda publiziertes Feuilleton „Wie 133 „Я считаю необходимым устроить в библиотеках кровавую революцию. Старым книгам следует
дать бой. Да, да! Без крови здесь не обойдется. Придется резать и Аристотеля и Гегеля, Павлова и Менделеева, Хвольсона и Тимирязова. Увы, без кровопролития не обойтись. Моя кровожадность не остановится даже перед Лениным и Марксом. Сталин? Придется пoстрадать и ему! Всех, всех!“
Larri: Strana sčastlivych, S. 29. 134
Vgl. [Anon.]: Kak providec Jan Larri likvidiroval Marksa i Lenina, in: Literaturnaja gazeta (15.08.1931), S. 3; [Anon.]: Pod maskoj utopii – paskvili na socialiszm. Č’ju politiku delaet Jan Larri?, in: Literaturnaja gazeta (18.12.1931), S. 4.
135
Vgl. Bljum, Arlen V.: Zapreščennye knigi russkich pisatelej i literaturovedov 1917–1991. Indeks sovetskoj cenzury s kommentarijami, S-Peterburg 2003, S. 114f.
136
Lange galt Larris Werk in der westlichen Sekundärliteratur als die letzte Science-Fiction-Utopie, die in der Sowjetunion für ein Vierteljahrhundert bis zur Zeit nach Stalins Tod erscheinen konnte, vgl. McGuire: Red Stars, S. 11; Stites: Revolutionary Dreams, S. 177; Tatsächlich galt das nur bis Mitte der 1930er Jahre, als auch utopisch-fantastische Texte wieder erschienen (vgl. Teil 2 dieses Buches). Neben der offensichtlichen Abrechnung mit der Politik der RAPP sowie deutlichen Anspielungen auf Zamjatins Wir ist auch Richard Stites Hinweis überzeugend, dass in den autoritären Charakteren Molybden und Kogan auch direkte Parallelen zu Stalin und Kaganovič zu erkennen sind. Vgl. Stites: Revolutionary Dreams, S. 177–179; Britikov: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 140–143; Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 329–340.
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Robinson entstanden ist“ (Как создавался Робинзон).137 Es handelt von dem Redakteur der illustrierten Zweiwochenzeitschrift Das Abenteuerwesen (Приключенческое дело), der einen erheblichen Mangel an Belletristik feststellt, die die Aufmerksamkeit der Massen zu fesseln mag. 138 Deswegen beschließt er einen Fortsetzungsroman in Auftrag zu geben und findet auch den Schriftsteller Moldavancev, von dem er ein „fesselndes“ Werk fordert, das „unterhaltsam, frisch und voller interessanter Abenteuer“ sei:139 „Das heißt also, das soll ein sowjetischer Robinson Crusoe sein. So, dass der Leser sich nicht von ihm losreißen kann.“140 Doch als der Roman in der vereinbarten Frist eingereicht wird, der von dem triumphalen Sieg des sowjetischen Robinson über die feindliche Natur der einsamen Insel erzählt, 141 fallen dem Redakteur einige Unstimmigkeiten auf, auf die er den Autor im Gespräch hinweist. So bekommt Robinson vom Redakteur noch einen Gewerkschaftsleiter (местком), zwei hauptamtliche Parteifunktionäre (освобожденные) und eine Kassiererin der Mitgliedsbeiträge (сборщица) als Begleitpersonen zugewiesen. Nachdem der Autor sich fügt, diese Änderungen vorzunehmen, da man so noch eine Liebesgeschichte einflechten könne, wendet der Redakteur entsetzt ein: „Auf keinen Fall. Gleiten Sie nicht in Boulevardliteratur ab, in ungesunde Erotik. Soll sie nur die Mitgliedsbeiträge einsammeln und sie in einem nicht brennbaren Safe aufbewahren.“142 Auf diese Weise kommen im weiteren Gespräch zwischen Autor und Redakteur noch ein feuerfester Safe auf die Insel, Teppich und Tisch mit Wasserkaraffe für den Gewerkschaftsleiter, „breite Massen der Arbeiter“ (широкие слои трудящихся), bis schließlich aus der unbewohnten Insel eine bewohnte Halbinsel geworden ist, auf der „eine Reihe unterhaltsamer, frischer, interessanter Abenteuer vor sich gehen“:143 137
Il’f, Il’ja; Petrov, Evgenij: Kak sozdavalsja Robinzon. Rasskaz, in: Pravda 298 (27.10.1932), S. 3.
138
„Es gab irgendwelche Werke, doch das war alles nicht das. [...] Um die Wahrheit zu sagen, sie betrübten die Seele des jungen Lesers anstatt sie zu fesseln. Und der Redakteur wollte sie gerade fesseln.“ („Были кое-какие произведения, но все не то. [...] Сказать правду, они омрачали душу молодежного читателя, не приковывали. А редактору хотелось именно приковать.“) Ebd.
139 „[...] это должно быть занимательно, свежо, полно интересных приключений.“
Ebd.
140 „В общем, это должен быть советский Робинзон Крузо. Так, чтобы читатель не мог оторваться.“ Ebd. 141
„Ihn umgeben Gefahren: Tiere, Lianen, die bevorstehende Regenzeit. Doch der sowjetische Robinson, voller Energie, überwindet alle Hindernisse, die unüberwindbar zu sein schienen. [...] Er besiegte die Natur, baute ein Häuschen, umgab es mit einem grünen Ring an Gemüsegärten, züchtete Kaninchen, nähte sich ein Tolstojhemd aus Affenhaar und lehrte den Papagei ihn morgens mit den Worten zu wecken: ‚Achtung! Werfen Sie die Decke zur Seite, werfen Sie die Decke zur Seite! Wir beginnen mit der Morgengymnastik!‘“ („Его окружают опасности: звери, лианы, предстоящий дождливый период. Но советский Робинзон, полный энергии, преодолевает все препятствия, казавшиеся непреодолимыми. [...] Он победил природу, выстроил домик, окружил его зеленым кольцом огородов, развел кроликов,
сшил себе толстовку из обезьяньих хвостов и научил попугая будить себя по утрам словами: ‚Внимание! Сбросьте одеяло, сбросьте одеяло! Начинаем утреннюю гимнастику!’“) Ebd.
142 „Не стоит. Не скатывайтесь в бульварщину, в нездоровую эротику. Пусть она себе собирает свои
членские взносы и хранит их в несгораемом шкафу.“ Ebd.
143 „[...] там происходит ряд занимательных, свежих, интересных приключений.“
Ebd.
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„Man macht die Gewerkschaftsarbeit, manchmal ungenügend. Die Aktivistin entdeckt eine Reihe Unregelmäßigkeiten, und sei es beim Einsammeln der Mitgliedsbeiträge. Ihr helfen die breiten Massen. Und ein reuiger Vorgesetzter. Zum Ende gibt es eine Vollversammlung. Das wird sehr effektvoll, gerade in künstlerischer Hinsicht. Nun, und das ist alles.“144
Am Ende lässt der Redakteur auch die „Figur des Nörglers“ (фигура нытика) Robinson entfernen, so dass ein „wirklich abenteuerliches und dabei noch äußerst künstlerisches Werk“ (настоящее приключенческое и притом вполне художественное произведение) entsteht.145 Il’f und Petrovs Feuilleton „Wie Robinson entstanden ist“ ist nicht nur eine deutliche Replik auf den durch RAPP-Aktivisten geschaffenen Mangel an spannender Unterhaltungsliteratur, die versuchten das „Abenteuerwesen“ bürokratisch in die ästhetischen und ideologischen Schemen des Produktionsromans einzupassen. Sondern es nimmt auch explizit das Sujet aus Archangel’skijs Satire „Kompinkerton“ wieder auf, nur dass das verdiente alte Parteimitglied diesmal nicht entsetzt das Abenteuerwerk des engagierten Schriftstellers aus der Hand wirft, sondern sich als Redakteur darum kümmert, es in seinem Sinne zu verbessern: Was dabei herauskommt ist nur Spiegel seiner bürokratischen Verwaltungs- und Organisationsarbeit, aber kein „Neuer Robinson“. Wie ein „sowjetischer Robinson“ gemacht wird, wussten andere besser, die schon bereit standen, um auf dem Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 ihr Konzept eines wissenschaftlich und künstlerisch anspruchsvollen Literaturgenres für Jugendliche zu präsentieren: Maksim Gor’kij, Samuil Maršak und Michail Il’in.
144 „Ведется профработа, иногда недостаточно ведется. Активистка вскрывает ряд неполадок, ну хоть
бы в области собирания членских взносов. Ей помогают широкие слои. И раскаявшийся председатель. Под конец можно дать общее собрание. Это получится очень эффектно именно в художественном отношении. Ну, и все.“ Ebd.
145 Ebd.
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6. D as Ende der Schmuggelware – Der Schriftstellerkongress 19341 „Nicht zufällig verkümmern bei uns all die ‚Weltweiten Pfadfinder‘ und andere Zeitschriften, die die Sonntagsliteratur der ‚starken Gefühle‘ auferstehen lassen wollen. Vergeblich versuchen sie ihre Schmuggelware zu retten, indem sie über ihr die sowjetische Flagge hissen. Solch eine Schmuggelware kann man nicht verbergen.“ Samuil Maršak (1934)1
Samuil Maršak hatte am 19. August 1934, einem Samstagvormittag, in seinem Vortrag auf der ersten unionsweiten Sitzung der sowjetischen Schriftsteller das einleitend zitierte Bild von der Schmuggelware für die populäre Abenteuerliteratur des vergangenen Jahrzehnts gebraucht, die die „Weltweiten Pfadfinder“ versteckt unter der sowjetischen Flagge in die sozialistische Gegenwart retten wollten. Drei Tage später nahm Maršaks jüngerer Bruder, Michail Il’in, dieses hochsymbolische Bild für die Landnahme fremder Territorien wieder auf, um den Ort zu markieren, an dem das gelobte Land einer neuen Kinderliteratur errichtet werden sollte: „Doch was immer für Schwierigkeiten noch kommen, ich bin überzeugt, dass die wissenschaftlich-künstlerische Literatur sowohl für Kinder als auch für Erwachsene entstehen wird, und zwar in unserem Land. Die sowjetische Flagge ist schon über diesem Gebiet der Literatur gehisst worden. Bis jetzt ist dieses Gebiet der Literatur noch eine unbewohnte Insel, genau genommen. war sie bis vor kurzem noch eine unbewohnte Insel. Auf dieser Insel gibt es nur ein paar Bewohner, doch ich glaube daran, dass sich auch andere ansiedeln werden, dass die Schriftsteller kommen werden, und wir werden zusammen an der Schaffung einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur arbeiten.“2
Damit aber knüpften Samuil Maršak und Michail Il’in exakt an jene Metaphorik wieder an, die sie fast genau zehn Jahre zuvor schon im ersten Editorial ihrer Kinderzeitschrift vorangestellt hatten: diejenige der einsamen Insel, auf der die sowjetischen Arbeiter und Bauern als Neuer 1 „Недаром хиреют у нас всякие ‚Всемирные следопыты’ и другие журналы, пытающиеся возродить
воскресную литературу ‚сильных ощущений’. Напрасно пытаются они спасти свой контрабандный груз, поднимая над ним советский флаг. Такой контрабанды у нас не утаишь.“ Maršak: Sodoklad S. Ja.
Maršaka o detskoj literature, S. 30f. 2 „Но каковы бы ни были трудности, я убежден, что научно-художественная литература и для детей и
для взрослых будет создана, и имено в нашей стране. Советский флаг над этой новой областью литературы уже поднят. Пока еще эта область литературы – необитаемый остров, вернее она недавно была еще необитаемым островом. На этом острове – только несколько поселенцев, но я верю в то, что высадятся и другие, что придут писатели, и мы будем вместе работать над созданием новой научно-художественной литературы.“ Il’in, Michail: Reč’ t. Il’ina (Zasedanie vos’moe), in: Pervyj vseso-
juznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 214–116, S. 215.
Der Schriftstellerkongress 1934 | 275
Robinson das irdische Paradies des Kommunismus auf wissenschaftlicher Grundlage errichten sollten (siehe Abschnitt 5.1). Es zeigt sich in dieser Metaphorik nicht nur eine Kontinuität der Intentionen, die insbesondere Maršak und Gor’kij die ganzen zwanziger Jahre über schon verfolgt hatten, sondern auch eine recht exakte Charakterisierung dessen, was in der kurzen Zeit zwischen der Entmachtung der RAPP im April 1932 und der ersten unionsweiten Sitzung der sowjetischen Schriftsteller Ende August 1934 stattgefunden hatte: Mit Unterstützung führender Parteipolitiker und nicht zuletzt Stalins konnten sie das ganz und gar nicht unbewohnte Gebiet der Wissenschaftspopularisierung und Jugendliteratur für sich deklarieren, alle bisherigen Konzepte als „imperialistische“ oder „faschistische“ Schmuggelware verwerfen und statt dessen eine neue Synthese aus belletristischer und publizistischer Wissenschaftspopularisierung für Jung und Alt propagieren, die sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen wollten: Die „wissenschaftlich-künstlerische Literatur“. Auch nach Gor’kijs Tod 1936 hielten Maršak und Il’in an diesem Konzept fest, das sie bis zum Ende des Untersuchungszeitraums dieser Studie immer wieder in wechselnden Konstellationen und unter veränderten Bedingungen gegen alles, was sie unter westlicher Abenteuerliteratur verstanden, in Stellung brachten. Im Spätsommer 1934 hingegen hatte noch kaum jemand verstanden, was sich hinter dem Schlagwort einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur verbarg, auch wenn Gor’kij, Maršak und auch Il’in in den Jahren zuvor recht deutlich dargelegt hatten, was sie wollten. Doch die Lage schien generell so unklar, dass die Zeitgenossen die entsprechenden Ausführungen kaum beachteten, war man doch noch gänzlich damit beschäftigt sich zu fragen, was die ästhetische und ideologische Neuausrichtung der Literatur insgesamt in Zukunft bedeuten würde.3 Zudem war die Situation im Bereich der Unterhaltungsliteratur recht unübersichtlich. Der Begriff der „kommunistischen Pinkertonovščina“ war spätestens seit der Entmachtung Bucharins 1929 als konzeptueller Rahmen obsolet. Der Terminus Abenteuergenre oder Abenteurer war aufgrund der starken Ideologisierung der Auseinandersetzungen durch die RAPP-Aktivisten und aufgrund der generellen Forcierung der anti-imperialistischen Rhetorik so stark in Verruf geraten, dass er kaum noch als positives Bestimmungsmerkmal eines Genres infrage kam. Das einzige, was blieb, war das Kompositum der Wissenschaftlichen Fantastik, unter dessen Label manche Autoren und Kritiker versucht hatten, zumindest einige Elemente der Abenteuerliteratur in die Zeit des Großen Umbruchs zu retten. Zwar war auch dieser Begriff aufgrund des „fantastischen“ Elements unter scharfe Kritik geraten, was dazu geführt hatte, dass die Produktion entsprechender Literatur in diesem Bereich in den Jahren 1931 bis 1933 dramatisch einbrach. Doch es war die einzige „Flagge“, die es noch gab, unter der man am Vorabend des Schriftstellerkongresses
3
Vgl. ausführlich zur Neuausrichtung der sowjetischen Literatur Schmitt, Hans Jürgen; Schramm, Godehard (Hg.): Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, Frankfurt a. M. 1974; Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Enstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart 1984.
276 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Chancen hatte, Argumente für eine spannende und unterhaltsame Literatur anzubringen (Abschnitt 6.1. Am Vorabend des Kongresses). Diese Hoffnungen auf eine Etablierung der Wissenschaftlichen Fantastik als Genre sollten sich nicht erfüllen. Sie spielte in den Konzepten der tonangebenden Propagandisten des Sozialistischen Realismus keine Rolle beziehungsweise bildete vielmehr die „imperiale“ Negativfolie, von der man sich teils ausdrücklich distanzierte. Zwar ist Maksim Gor’kijs maßgebliche Eröffnungsrede schon mehrmals analysiert worden,4 das zentrale Koreferat Samuil Maršaks hingegen zur Kinderliteratur ist in der Forschung – sieht man von dessen ideologischen Vereinnahmungen in der Sowjetunion selber ab – kaum betrachtet worden. Und auch Gor’kijs Rede beinhaltet neben den zentralen Stichworten zum Programm des Sozialistischen Realismus schon die wesentlichen konzeptuellen Anhaltspunkte für die Ausgestaltung einer „wissenschaftlich-künstlerischen“ Kinder- und Jugendliteratur, die für die weiteren Debatten um Abenteuerliteratur von entscheidender Bedeutung sein sollten. Dabei revidierte Gor’kij nicht nur zentrale Prämissen von Šklovskijs Überlegungen zum „Roman der Geheimnisse“ (Abschnitt 3.1), sondern konzeptualisierte auch die seit der Romantik virulente Unterscheidung von gesunder und kranker Einbildungskraft in Bezug auf das Märchen und die Fantastik neu (Abschnitt 6.2. Märchen und Mythen für die Jugend). Samuil Maršaks Koreferat zur Kinderliteratur schloss direkt an diese Ausführungen von Gor’kij an. Die von ihm propagierte „wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ als neues integratives Genre positionierte er dabei dezidiert als Antithese zu der „Schmuggelware“ der ‚Weltweiten Pfadfinder‘ und des Abenteuergenres. Gleichzeitig radikalisierte er die schon Ende der 1920er Jahre beginnende Neupositionierung des populärwissenschaftlichen Projekts (Abschnitt 5.1) und integrierte es vollständig in seine Genrekonzeption, die er ausdrücklich gegen die bisherige „unterhaltsame“ Form der Wissenschaftspopularisierung abgrenzte. Das Fantastische und damit auch das Wissenschaftlich-Fantastische wurden hingegen für dieses neu zu schaffende Genre verworfen und nur noch als „poetisch-fantastisches“ Element der modernen Märchen für Kinder vorgesehen (Abschnitt 6.3. Die Trennung von Wissenschaft und Fantastik). Es blieb nur noch die Aufgabe, die neu geschaffene „unbewohnte Insel“ der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur auch zu besiedeln mit Werken, die sie attraktiver machten als jene Halbinsel bürokratischer Alltagswelten, die Il’f und Petrov in ihrem Feuilleton Wie Robinson entstanden ist gezeichnet hatten.
4
Zu Gor’kijs Konzeption des Sozialistischen Realismus vgl. die entsprechenden Passagen bei Günther: Die Verstaatlichung der Literatur; Ders.: Der sozialistische Übermensch; Clark: The Soviet Novel.
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6. 1 Am Vora b e nd d e s K o ngre s s e s – L e g i ti mi e r u n g sve r su c h e ei ner s owjetis che n Wis s e ns c h a f tli c h e n F a n ta sti k 5 „Während des ganzen ersten Fünfjahresplans ist die Literaturproduktion für das wissenschaftlich-fantastische Genre genau genommen eingestellt worden. [...] Das ist erst eineinhalb Jahre her, eine Zeitspanne, die nicht ausreicht [...], um genau genommen eine neue Art von Literatur zu schaffen, mit neuen Helden, neuer Thematik, neuen Sujets, neuem Inhalt, neuen literarischen Formen. Bei aller Schnelligkeit unseres Tempos, in eineinhalb Jahren ist das alles nicht zu schaffen.“ Aleksandr Beljaev (1934)5
Drei Tage vor der Eröffnung des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses publizierte Aleksandr Beljaev in der 1933 gegründeten Wochenzeitung des Leningrader Schriftstellerverbandes Literaturnyj Leningrad (Das literarische Leningrad) am 14. August 1934 den Aufruf „Lasst uns eine sowjetische Wissenschaftliche Fantastik schaffen“ („Создадим советскую научную фантастику“), der einen letzten verzweifelten Appell darstellte, den Terminus doch noch als Genre in den neu zu begründenden Kanon einer sowjetischen Literatur zu integrieren.6 Doch wie schon aus dem vorangestellten Zitat hervorgeht, antizipierte der Aufruf letztlich schon das Scheitern dieses Versuches, war es doch nach dem Ende der Vorherrschaft der RAPP seit April 1932 nicht geglückt, den Begriff von dem anrüchigen Beigeschmack eines imperialen Abenteurertums und einer minderwertigen Boulevardliteratur zu befreien. Dabei hatte man eineinhalb Jahre lang versucht, die Wissenschaftliche Fantastik als ein neu zu schaffendes Genre zu propagieren, das den „weißen Fleck“ (белое пятно) des „nicht erschlossenen Gebiets“ (неосвоенная область) auf der Karte der sowjetischen Literatur besetzen sollte, den früher die kommunistischen Pinkertons, Jules Verne, Mayne Reid oder Fenimore Cooper innegehabt hatten.7 Dafür deklarierte man einen radikalen Bruch mit allen Vorläufern, von denen man zwar lernen könne, die aber nichts mit dem neu geschaffenen Genre zu tun hätten. Nicht nur Jules Verne und H. G. Wells verwarf man als Vorbilder, da sie imperialistische und
5 „В продолжении всей первой пятилетки научно-фантастический жанр был, по существу, снят с
литературного производства. […] Это было всего полтора года тому назад, срок едва достаточный, […] чтобы создать по существу новый вид литературы, с новыми герoями, новой тематикой, новыми сюжетами, новым содержанием, новыми литературными формами. При всей быстроте наших темпов, в год полтора всего этого не создать.“ Beljaev, Aleksandr: Sozdadim sovetskuju naučnuju fan-
tastiku, in: Litera-turnyj Leningrad (14.08.1934), S. 4. 6
Ebd.
7
Vgl. Katanjan, V.: Est’ li u nas Žjul’ Verny? Beloe pjatno na karte sovetskoi literatury. Neosvoennaja oblast’ – naučno-fantastičeskij roman, in: Komsomol’skaja pravda 16.01.1933, S. 4.
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idealistisch-romantische Autoren seien, auch fast sämtliche vor 1928 geschriebene sowjetische Abenteuerliteratur kam nicht als Prototyp infrage, war sie doch nicht unter den Bedingungen des Aufbaus des Sozialismus geschrieben.8 Im Kern ging es bei dieser Neubegründung darum, die dynamische, auf Handlung und Spannung ausgerichtete Sujetkonstruktion in die neue Zeit zu retten, wofür man sich ausdrücklich vom „nackten Abenteurertum“ (голое приключенчество) distanzierte und statt dessen die politische Charakterfestigkeit und aktive Lebenshaltung der Helden hervorhob.9 Deren Handlungsziele sollten nicht mehr durch die kapitalistischen Eigenschaften des Konkurrenzdenkens (Wettkampf ) und Besitzstrebens (Schatzsuche) motiviert sein oder reinem Eskapismus und Abenteurertum entspringen, sondern von dem auf jeder Baustelle und in jeder Kolchose anzutreffenden Heroismus und der Selbstaufopferung der sozialistischen Arbeit getragen werden.10 Da es in einer klassenlosen Gesellschaft die aus dem Privateigentum entspringenden Intrigen, Raubüberfälle, Verfolgungsjagden, Verschwörungen, Racheakte und andere Verbrechen nicht mehr gäbe, könne man aus ihnen auch kein Sujet mehr bauen, sondern müsse auf den einzig verbliebenen Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen zurückgreifen, aus dem der positive Held durch sein inspirierendes Beispiel der „bewussten, zielgerichteten Tapferkeit der Proletarier“ („сознательной, целеустремленной храбрости пролетариев“) als Gewinner hervorgehe.11 Als Themenmaterial des neuen Genres habe hingegen das populäre Material aus den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft zu dienen, das aber nicht abgelöst von dem sozialistischen Aufbau zu haben sei: „In einem künstlerischen Werk darf man Wissenschaft und Technik nicht
8
Vgl. Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4; Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4; Palej, Abram: O žanre, kotorogo u nas net. Naučno-techničeskaja fantastika, in: Molodaja gvardija 8 (1933), S. 150–153, S. 150f.
9
„Ihr allgemein hoher Tonus, das Tempo, die aktive Beziehung zum Leben, Bewegung, Kampf muss einem imponieren! Die handelnden Personen sind handelnde im vollen Sinne des Wortes. [...] Die Helden haben Namen, Äußeres, Charakter, eine politische Einstellung, doch keine vielschichtig-feinen und faden Erlebnisse.“ („Не может не импонировать их общий высокий жизненный тонус, темп, активное отношение к жизни, движение, борьба! [...] Действующие лица – это действующие в полном смысле слова. [...] У героев есть имя, внешность, характер, политическое лицо, но нет многогранно-тонких и нудных переживаний.“) Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4. [Hervorhebung im Original].
10
„[...] Arbeit und sozialistisches Eigentum stellen die nicht versiegenden Quellen des Heroismus und der Selbstaufopferung dar. [...] Der Autor unseres wissenschaftlich-fantastischen Romans kann echte Helden zeigen, deren Streben durchdacht, zweckmäßig, sozial ausgerichtet ist, Helden, die unendlich sympathischer sind als die handelnden Personen eines Jules Verne.“ („[...] труд и социалистическая собственность являются неисчерпаемым источником героизхма и самопожертвования. [...] Автор нашего научнофантастического романа может дать подлинных героев, стремления которых осмыслены, целесообразны, социально направлены, героев бесконечно более симпатичных, чем действующие лица Жюля Верна.“) Palej: O žanre, kotorogo u nas net, S. 152.
11
Ebd.; Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
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unabhängig von unserer materialistischen Philosophie, von unserer Weltanschauung darstellen.“ 12 Denn die sowjetische Wissenschaft unterscheide sich ideologisch fundamental von ihrem bourgeoisen Gegenpart: wo dieser einen rückwärtsgewandten Naturmystizismus pflege, der keinen qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Raubtier mache und die Natur wie ein Museum betrachte, ziele die sowjetische „Dialektik der Natur“ zukunftsgerichtet auf einen siegesgewissen Angriff des Menschen auf die Natur zum Zwecke ihrer Unterwerfung.13 Hierauf habe sich das „zweifelsfreie Erkenntnisinteresse“ (несомненный познавательный интерес) und die Notwendigkeit der Wissenspropaganda für die Arbeitermassen in der Wissenschaftlichen Fantastik zu konzentrieren.14 Die popularisierenden Aufgaben des Genres müssten immer eng mit dem sozialistischen Aufbau und dem dialektischen Materialismus verbunden werden.15 Entsprechend wurde in allen Beiträgen als zentrales Moment des Genres dessen Zukunftsgerichtetheit hervorgehoben, verortete man doch in ihr das eigentliche fantastische Element. 16 Diese planbare und vorhersehbare Zukunft gelte es von der Wissenschaftlichen Fantastik künstlerisch genau zu antizipieren. Dabei müsse der Schriftsteller über ein fundiertes naturwissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Wissen verfügen: „Und der Autor muss auf eigene Gefahr und eigenes Risiko die Gesetze der dialektischen Entwicklung extrapolieren und vorausahnen, in welchen Sujet-Konfliktlinien der ‚Kampf der Gegensätze‘ und die ‚Negation der Negation‘ im Kommunismus auftritt. [...] Eine ‚Nachtrabpolitik‘ ist hier genauso wenig zulässig wie eine Loslösung von der Hauptlesermasse.“17
Dem Genre sollte demnach eine zentrale utopische oder eher visionäre gesamtgesellschaftliche Aufgabe zukommen: Es sollte zeigen, wie die Anstrengungen der gewaltsamen Umgestaltung des Landes in ferner Zukunft ein glückliches und vielseitiges Leben im Kommunismus ermöglichen werden.18 Gerade diese Bestimmung war aber die problematischste, dessen sich beispielsweise Aleksandr Beljaev auch durchaus bewusst war, wenn er von der „überaus großen Verant-
12
„В художественном произведении науку и технику нельзя давать независимо, оторванно от нашей материалистической философии, от нашего миросозерцания.“ Nagaev, A.: Knigi i avtory naučnoj fantastiki, in: Literaturnaja gazeta 05.09.1933, S. 3.
13
Vgl. zu diesem Wissenschafts- und Naturkonzept beispielsweise auch Piralov, Georgij: Dve nauki, in: Naši dostiženija 3 (1934), S. 2–9; Il’in: Reč’ t. Il’ina, S. 215.
14
Palej: O žanre, kotorogo u nas net, S. 151.
15
Ebd., S. 3; Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
16
Vgl. Bspw. Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4.
17
„И автор, на свой страх и риск, принужден экстраполировать законы диалектического развития и
18
Palej: O žanre, kotorogo u nas net, S. 150.
предугадывать, в каких сюжетно-конфликтных формах будет проявляться ‚борьба противоположностей‘, ‚отрицание отрицания‘ при коммунизме. [...] ‚Хвостизм‘ здесь столь же недопустим как и отрыв от основной читательской массы.“ Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
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wortung“ sprach, die auf dem Autor liege und die die „Fantastikschriftsteller und Utopisten vergangener Epochen“ nicht gekannt hätten: „Denn der Autor soll nicht nur zeigen, sondern ideologisch richtig eben jene Zukunft zeigen, für die wir jetzt die heroischen Heldentaten vollbringen und den konzentrierten Aufbau leisten. Der kleinste Fehler und ein literarisches Werk kann vom Prinzip her, das das neue Bewusstsein bestimmt, sich in sein Gegenteil verkehren.“19
In diesem „kleinsten Fehler“, der die ganze Aussage eines ideologisch richtigen literarischen Werkes, das ein neues Bewusstsein schaffen sollte, in ihr Gegenteil verkehren konnte, lag aber die Grundambivalenz jeglicher Fantastik, die man versuchte mit allen rhetorischen, weltanschaulichen und künstlerischen Mitteln zu bändigen. Viele spätere Literaturhistoriker des Genres haben in ihr den Grund gesehen, weswegen die Wissenschaftliche Fantastik es in der Stalinzeit so schwer hatte, maßte sie sich doch zudem an, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen, die weiter reichten als die kurzfristigen politischen Vorgaben der Partei und insbesondere Stalins.20 Die am Vorabend des Schriftstellerkongresses publizierten Artikel zur Verteidigung des Genres nannten hingegen sehr viel prosaischere und pragmatischere Gründe für das Fehlen entsprechender Werke. Zum einen mangele es an Publikationsmöglichkeiten, weswegen man dringend eine eigenständige Zeitschrift für Wissenschaftliche Fantastik brauche.21 Zudem sei das Genre in den Verlagen jetzt in den Abteilungen für populärwissenschaftliche Schriften angesiedelt worden, wo es aber keine Lektoren für belletristische Werke gäbe.22 Dieses Problem gelte auch für die Kritik und die Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure.23 In den Ressorts für Wissenschaftspopularisierung habe man keine Kenntnis von Belletristik, während in den Literaturabteilungen wissenschaftliche Ahnungslosigkeit vorherrsche, weswegen beide das Genre meiden würden.24 19 „Ведь автор должен показать и показать идеологически верно, то самое будущее, ради которого мы
сейчас совершаем героические подвиги, ведем напряженное строительство. Малейшая ошибка — и литературное произведение из начала, организующего новое сознание, может превратиться в свою противоположность.“ Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
20
Vgl. Glad: Red Stars, S. 14f.; Suvin: Ein Abriss der sowjetischen Science Fiction, S.325f.; Diese dialektisch begründete prophetische Aussagekraft der Fantastik mag sicher auch ein Grund für ihre Schwierigkeiten gewesen sein, in den publizierten Stellungssnahmen war dieser Aspekt aber kein zentrales Argument für deren Ablehnung. Zudem konnten durchaus immer wieder in die fernere Zukunft hinausweisende utopische Werke in den 1930er Jahren publiziert werden.
21
Svistunov: Ob uvlekatel’nom i poleznom čtenii, S. 3.
22
Diese Zuordnung zu den Populärwissenschaften habe den zusätzlichen Nachteil, dass hier die Honorare sehr viel niedriger seien als im Bereich der Belletristik, was viele junge Autoren davon abhalte, überhaupt in diesem Bereich ihr schriftstellerisches Glück zu versuchen. Vgl. Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
23
Vgl.·[Anon.]: K s’’ezdu sovetskich pisatelej, in: Vokrug sveta 8 (1934), S. 1–2, S. 2.
24
Vgl. Svistunov: Ob uvlekatel’nom i poleznom čtenii, S. 3; Nagaev: Knigi i avtory naučnoj fantastiki, S. 3; So habe der für Wissenschaftliche Fantastik zuständige Verlag Molodaja gvardija seit der Umstrukturie-
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Zum anderen aber, und das beklagten alle Beiträge als fast noch schwerwiegenderes Problem, werde das Genre weiterhin von der überwiegenden Mehrzahl der Schriftsteller und Kritiker als Belletristik „zweiter Wahl“ („второго сорта“) angesehen.25 Das aber habe zur Folge, dass von den in der „großen Literatur“ etablierten Schriftstellern sich kaum jemand dazu herablassen wolle, Wissenschaftliche Fantastik zu schreiben, während die jungen von Anfang an demotiviert würden, sich auf das Genre einzulassen.26 Damit aber haderte die Wissenschaftlichen Fantastik mit dem gleichen Problem, mit dem die populäre Unterhaltungsliteratur seit ihren Anfängen konfrontiert war: dass sie als gleichwertiges Genre unter den künstlerischen Eliten nicht ernst genommen und weiterhin als billige Massenware für ungebildete Leser abgelehnt wurde. Galt sie in Čukovskijs Pinkerton-Polemik noch als aus der barbarischen Wildnis kommendes „weltweites Hottentottentum“ (Abschnitt 1.1), war sie nun als „belletristischer Spionagedienst des Imperialismus“ („ беллетристическая разведка империализма“) in Verruf geraten.27 Dass sich diese offensichtlich weit verbreiteten Vorbehalte auch in der Neuordnung der sowjetischen Literaturpolitik in der ersten Hälfte der 1930er Jahre niederschlugen, war – wenn man sich den größeren Kontext anschaut – nicht unbedingt zwangsläufig. Denn eine der zentralen Gründe für die grundlegende Umgestaltung lag ja in der mangelnden Attraktivität der bislang entwickelten „avantgardistischen“ Konzepte bei den breiten Massen der Arbeiter und Bauern, die man durch den Sozialistischen Realismus beheben wollte. Über genau diese Attraktivität beim Leser aber verfügte das Genre, wie kein Beitrag zu dem Thema vergaß zu betonen. Dass die „sowjetischen Jules Vernes“ dennoch nicht zum Zuge kamen, lag wohl vornehmlich an dem Umstand, dass zeitgleich Maksim Gor’kij und Samuil Maršak schon die alternative Genrekonzeption einer „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ entwickelt hatten, die vorgab, dasselbe „unerschlossene Gebiet“ zu besetzen, und beide sich direkt am Machtpol befanden, während die wenigen „wissenschaftlich-fantastischen“ Autoren wie Aleksandr Beljaev oder Abram Palej noch nicht einmal zu den 591 Delegierten des Schriftstellerkongresses 1934 zählten.28
rung des Literaturbetriebs noch kein einziges Werk des Genres publiziert. Vgl. Palej: O žanre, kotorogo u nas net, S. 153. 25
Vgl. „Man muss in jeder Hinsicht mit der immer noch verbreiteten Meinung kämpfen, die unterhaltsamen Genres seien eine Literatur zweiter Wahl, mit denen sich ein wirklicher Schriftsteller nicht zu beschäftigen habe.“ („Нужно всемерно бороться с имеющим еще до сих пор хождение мнением о
занимательных жанрах как о литературе второго сорта, заниматься которой подлинным писателям не след.“) Svistunov: Ob uvlekatel’nom i poleznom čtenii, S. 3; Ähnliche Diagnosen liefern auch Katanjan
und Palej, vgl. Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4; Palej: O žanre, kotorogo u nas net, S. 153. 26
Vgl. ebd.; Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4; Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4.
27
Vgl. Katanjan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4.
28
Vgl. Luppol, Ivan; Rozental‘, Mark u.a. (Hg.): Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 687–695.
282 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Was blieb war das recht ausführlich und differenziert definierte Konzept eines zu schaffenden Genres, das es noch nicht gab und für das sich keine Autoren fanden, das in den nächsten Jahren als verschmähtes „Stiefkind“ der sowjetischen Literatur im Bereich der populärwissenschaftlichen Literatur unterkam und nach einer ersten Restrukturierung des Literaturbetriebs Mitte der dreißiger Jahre dem Bereich der Kinderliteratur zugeordnet wurde, ehe es gegen Ende des Jahrzehnts als vermeintliches „Aschenputtel“ noch einmal, und diesmal erfolgreicher, von Aleksandr Beljaev als Genre „erster Wahl“ ins Spiel gebracht wurde, immer mit dem gleichen Argument: „Jeder beliebige Bibliothekar, jeder beliebige Mitarbeiter eines Buchladens wird uns beredte Auskunft darüber geben, wie der Leser ihm die Werke Jules Vernes, Mayne Reids und Coopers aus der Hand reißt, wie es die Jugend zu jeder Art von Reisen, Abenteuern und Beschreibungen von fantastischen Entdeckungen und Erfindungen hinzieht.”29
6 .2 M är c hen und Mythen für die Juge n d – M a ksi m G o r ’ki js Rekonz ep tua lis ie rung d e r Litera tu r g e sc h i c h te 30 „Wir müssen konzentriert und parteiisch die Fragen des Genres diskutieren, die Fragen der Unterhaltsamkeit der Literatur [...]. Nein, es lohnt die Genres unserer Literatur genau zu betrachten, und dann sehen wir, [...] wie der fantastische Roman gestorben und im Grab vergraben worden ist; [...] wie schwer wird in den Tiefen der Kinderliteratur das Genre der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur geboren, das wir so dringend wie das Licht brauchen.“ Konstantin Fedin (1934)30
Auch wenn das Thema der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik auf keiner der 26 Sitzungen des Schriftstellerkongresses 1934 expliziter Gesprächsgegenstand war, blieben die 29 „Любой библиотекарь, любой работник книжного прилавка даст нам красноречивую справку о том,
как читатель рвет у него из рук сочинения Жюль Верна, Майн-Рида, Купера, как тянется молодежь ко всяким путешествиям, приключениям, описаниям фантастических изобретений и открытий.“ Katan-
jan: Est’ li u nas Žjul’ Verny?, S. 4. 30 „Мы должны пристально и пристрастно обсудить вопросы жанра, вопросы занимательности
литературы […]. Нет, стоит нам присмотреться к жанрам нашей литературы, и мы видим, […] как умер и закопан в могилу роман фантастический; […] как трудно рождается в недрах детской литературы необходимый нам как свет жанр научно-художественной литературы […]“ Fedin, Kons-
tantin: Reč K. A. Fedina (Zasedanie devjatoe, 22 avgusta 1934 g., večernee), in: Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 224-225, S. 225.
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literaturpolitischen und ästhetischen Herausforderungen, die diese „minderwertige vulgäre Literatur“ (низкопробная вульгарная литeратура)31 darstellte, doch als ein wichtiger Subtext bei der Konstituierung einer neuen sozialistisch-realistischen Kunst präsent. Sie spielten als imaginäre Folie der Auseinandersetzung sowohl in dem abendlichen Eröffnungsvortrag von Maksim Gor’kij über die Sowjetliteratur als auch bei dem zentralen Koreferat von Samuil Maršak zur Kinderliteratur am zweiten Sitzungstag eine entscheidende Rolle. Allein die Tatsache, dass man der erst in den letzten Jahren in den Fokus der propagandistischen Aufmerksamkeit gerückten Kinderliteratur diese hervorgehobene Bedeutung beimaß, war symptomatisch.32 Während Gor’kij in seinem Beitrag eine generelle literaturgeschichtliche und kulturpolitische Neuverortung der sowjetischen Literatur vornahm, versuchte Maršak mit Hilfe von dessen allgemeinen Thesen die Kinder- und Jugendliteratur im Aufklärungs- und Erziehungsprogramm der Sowjetbürger zu verankern. Gor’kij und Maršak hatten viele der im Folgenden ausgeführten Gedanken hier nicht das erste Mal ausgeführt. Vielmehr hatten beide in den Debatten um die sowjetische Kinderliteratur schon seit Mitte der 1920er Jahre eine entscheidende Rolle gespielt: Gor’kij in vielen programmatischen Äußerungen, Maršak, wie erwähnt, als leitender Redakteur der Kinderzeitschrift Novyj Robinzon sowie anschließend in der Abteilung für Kinderliteratur im Verlag Gosizdat.33 Im Zuge der Neuregelung der Literaturpolitik seit Anfang der 1930er Jahre intensivierte sich dann die Zusammenarbeit zwischen Gor’kij und Maršak, als sie beide an einem Plan zur Gründung eines Spezialverlages für Kinderliteratur mitwirkten. Im Anschluss daran eröffnete Maršak am 23. und 28. Mai 1933 mit dem Beitrag Literatur – für die Kinder! (Литература – детям!) in den Izvestija eine Debatte, an der sich Gor’kij mit einem Artikel Für die Kinder – eine Literatur (Литературу – детям) beteiligte, der am 11. Juni 1933 gleichzeitig in der Pravda und in den Izvestija publiziert wurde.34 Die Debatte über Kinderliteratur führte dann am 9. September 1933 zu der von den beiden Autoren vorkonzipierten Resolution des ZK der VKP (b) über die Gründung eines Verlages für Kinderliteratur. Daraufhin veröffentlichte Gor’kij eine Umfrage „an die Pioniere der UdSSR“ (Обращение к пионерам СССР) mit der Aufforderung, ihre liebsten und begehrtesten Bücher zu nennen.35 Die mehr als 2000 Antworten wertete wiederum Maršak aus, deren Ergebnisse er am 18. Mai 1934 erstmals in der Pravda veröffentlichte (Kinder antworten Gor’kij, russ. Дети 31
Vgl. Kaleckij: Pinkertonovščina, S. 648.
32
Generell zur Neuausrichtung der Kinderliteratur seit Ende der 1920er Jahre, vgl. Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura, S. 44ff.; Ronen, Omry: Detskaja literatura i socialističeskij realizm, S. 970ff.; Kelly, Catriona: Children’s World, S. 454f.
33
Vgl. Eggeling, Wolfram: Die Prosa sowjetischer Kinderzeitschriften (1919–1925). Eine Themen- und Motivanalyse in Bezug auf das Bild des Jungen Protagonisten, München 1986, S. 61ff.; Marinelli-König: Russische Kinderliteratur, S. 133ff.; Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura, S. 48ff.
34
Gor’kij, Maksim: Literatura – detjam, in: Izvestija 147 (11.06.1933), S. 2–3.
35
Vgl. Galanov, Boris: S. Ja. Maršak. Očerk žizni i tvorčestva, Moskva 1962, S. 101–106.
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отвечают Горькому).36 Erste konzeptionelle Überlegungen zu einer „künstlerischen“ und zu-
gleich „populärwissenschaftlichen“ Kinderliteratur und deren Themen äußerte Gor’kij in dem Beitrag Über Themen (О темах), der am 17. Oktober 1933 zeitgleich in der Pravda, den Izvestija und der Literaturnaja gazeta veröffentlicht wurde.37 Ausgangspunkt für Gor’kijs Bestimmung des Sozialistischen Realismus, wie er sie auf seiner Eröffnungsrede des Schriftstellerkongresses vornahm, ist eine grundsätzliche Revision der theoretischen Prämissen, die bislang die Auseinandersetzungen um die Künste in der Sowjetunion geprägt haben.38 Zwar geht auch er im marxistischen Sinne davon aus, dass die „Arbeitsprozesse“ die Grundlage aller kulturellen Entwicklung des Menschen seien und dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Klassenkämpfe darstelle. Doch diesbezüglich unternimmt er eine entscheidende programmatische Verschiebung. Denn wenn bisher die Debatten in der Logik der Klassenkämpfe darum kreisten, inwieweit eine proletarische und/oder avantgardistische moderne sowjetische Kunst sich in Abgrenzung oder Fortführung des kulturellen Erbes der (vorangegangenen) bürgerlichen Epoche konstituieren müsse, behauptet Gor’kij einen gewissermaßen unterhalb der materialistischen Dialektik der Klassenkämpfe und jenseits der Entwicklung des entsprechenden Überbaus von adliger, bürgerlicher bis zu proletarischer Kultur liegenden Grundkonflikt, der sich seit Bestehen des Menschen in dessen Kampf mit seiner ihm feindlichen Umwelt ausdrücke. Dieser Konflikt habe aber die Kultur des „Urmenschen“ (первобытный человек) seit den ältesten Zeiten geprägt, was bislang noch nicht einmal von den „atheistischen Historikern“ beachtet worden sei: „Doch kein Kulturhistoriker hat in seinen Arbeiten über die Urgesellschaft und das Altertum das Material der Folklore, das mündliche Volksschaffen und die Zeugnisse der Mythologie genutzt, die im Grunde eine Widerspiegelung der Naturerscheinungen, des Kampfes mit der Natur und des sozialen Lebens in breiten künstlerischen Verallgemeinerungen ist./ Man kann sich schwer ein zweibeiniges Tier vorstellen, das alle seine Kräfte für den Kampf ums Dasein verausgabt hat und dabei abstrakt denkt, von den Arbeitsprozessen, den Problemen der Sippe und des Stammes losgelöst.“39 36
Maršak, Samuil: Deti otvečajut Gor’komu, in: Pravda 135 (18.05.1934), S. 3.
37
Vgl. Gor’kij: Literaturu – detjam, S. 2–3; Ders.: O temach, in: Pravda 255 (17.10.1933), S. 2–3, sowie die Anmerkungen in: Ders.: Sobranie sočinenij v tridcati tomach, Bd. 27 (Stat’i, doklady, reči, privetstvija, 1933– 1936), Moskva 1953, S. 540–542, 547. Siehe auch die entsprechenden Anmerkungen in: Maršak, Samuil: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach, Bd. 6 (Stat’i, vystuplenija, zametki, vospominanija), Moskva 1971, S. 623–637.
38
Ausführlicher zu Gor’kijs ästhetischen Konzeptionen, vgl. Günther: Der sozialistische Übermensch, S. 104– 117, 130–143.
39
Gor’kij, Maksim: Über sowjetische Literatur (Deutsch von Ingeborg Schröder), in: Schmitt; Schramm: Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 51–84, S. 51f. („Но никто из историков первобытной и древней культуры не пользовался данными фольклора, устным творчеством народа, показаниями мифологии, которая в общем является отражением явлений природы, борьбы с природой и отражением социальной жизни в широких художественных обобщениях./ Крайне трудно представить двуногое животное, которое тратило бы все свои силы на борьбу за жизнь, мыслящим отвлеченно от
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Mit dieser Definition der Kulturproduktion setzt Gor’kij zwei für seine weitere Argumentation zentrale Prämissen. Erstens ist für ihn auch der elementare Überlebenskampf der Urgesellschaft verbunden mit „weiten künstlerischen Verallgemeinerungen“, die sich in der Folklore und den Mythen des Volkes bis heute widerspiegeln. Der Sinn dieser Märchen, Mythen und Legenden bestehe nämlich darin, dass sie die entscheidende Waffe des „zweibeinigen Tieres“ gewesen seien, überhaupt im Kampf mit seiner Umwelt bestehen zu können: „Dieser Sinn besteht im Streben der arbeitenden Menschen des Altertums, ihre Arbeit zu erleichtern, deren Produktivität zu steigern, sich gegen die vierbeinigen und zweibeinigen Feinde zu bewaffnen, aber auch kraft des Wortes, mit ‚Beschwörungsformeln‘ und ‚Zaubersprüchen‘, die elementaren, den Menschen feindlichen Naturerscheinungen zu beeinflussen. Letzteres ist besonders wichtig, denn es beweist, wie fest die Menschen an die Kraft ihres Wortes glaubten, und dieser Glaube erklärt sich aus dem offensichtlichen und völlig realen Nutzen der Sprache, die die sozialen Wechselbeziehungen und Arbeitsprozesse der Menschen organisiert.“40
In dieser performativen Kraft des Wortes trage die ursprüngliche Kultur aber zweitens schon Anzeichen eines „materialistischen Denkens“ in sich, was von den Historikern bislang vollkommen verschwiegen worden sei. Die Anhaltspunkte für ein solches Denken fänden sich in den überlieferten Mythen und Märchen, die von den Wunschträumen der Menschen berichteten, die Natur zu beherrschen: „Bereits im frühesten Altertum träumten die Menschen von einer Möglichkeit, durch die Luft zu fliegen – davon berichten uns die Legenden über Phaeton, über Dädalus und seinen Sohn Ikarus und auch das Märchen vom fliegenden Teppich. Sie träumten von einer schnelleren Bewegung auf der Erde – das Märchen von den Siebenmeilenstiefeln [...]. Man könnte noch zahlreiche Beweise für die Zweckgebundenheit der alten Märchen und Mythen, für das weitsichtige, bildhafte, hypothetische, aber auch technologische Denken der Menschen der Urgesellschaft anführen, das sich bis zu solchen noch heute modernen Hypothesen erhob, wie zum Beispiel der Ausnutzung der Rotation der Erde um ihre eigene Achse oder dem Auftauen des Polareises.“41
процессов труда, от вопросов рода и племени.“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo o sovetskoj literature,
in: Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 5–18, 5f.) Kursiv so im Original. 40
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 53 („Смысл этот сводится к стремлению древних рабочих людей облегчить свой труд, усилить его продуктивность, вооружиться против четвероногих и двуногих врагов, а также силою слова, приемов ‚заговоров‘, ‚заклинаний‘ повлиять на стихийные, враждебные людям явления природы. Последнее особенно важно, ибо знаменует, как глубоко люди верили в силу своего слова, а вера эта объясняется явной и вполне реальной пользой речи, организующей социальные взаимоотношения и трудовые процессы людей.“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo, S. 6).
41
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 52 („Уже в глубокой древности люди мечтали о возможности летать по воздуху, − об этом говорят нам легенды о Фаэтоне, Дедале и сыне его Икаре, а также сказка о ‚ковре-самолете‘. Мечтали об ускорении движения по земле – сказка о ‚Сапогах-скороходах‘ [...].
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In dieser Verbindung der archaischen Wunschträume mit der sowjetischen Gegenwart besteht aber die entscheidende Revision bisheriger marxistischer Darstellungen der Literaturgeschichte. Denn aus ihr folgt bei Gor’kij, dass es nicht mehr die bürgerliche Kultur ist, sondern die vor allen neuzeitlichen Klassenkämpfen schon bestehende „ursprüngliche“ Volkskultur und Folklore, an deren Wunschträumen und künstlerischen Verfahren sich die neue sowjetische Literatur zu orientieren habe. Denn diese sei noch ganz innerhalb der Gesellschaft verankert und durch die Arbeitsprozesse und den zielgerichteten Kampf gegen feindliche Kräfte definiert gewesen, während alle spätere Menschheitsgeschichte sich schon dem entfremdet habe: „Auch kann man sich schwer vorstellen, dass Immanuel Kant im Tierfell und barfuß über das ‚Ding an sich‘ philosophiert hätte. Abstrakt dachte der Mensch späterer Zeiten, jener einsame Mensch, von dem Aristoteles in seiner Politica sagte: ‚Ein Mensch außerhalb der Gesellschaft ist entweder ein Gott oder ein Tier.‘“42
Wenn aber der abstrakt denkende Mensch schon zu Aristoteles’ Zeiten außerhalb der Gesellschaft gestanden hat, fällt als Orientierung für die Sowjetliteratur die ganze abendländische Zivilisationsgeschichte weg, wohingegen in der Urgesellschaft und der Folklore aller Zeiten die Kultur zu finden sei, an die die Sowjetunion anknüpfen solle. Bezieht man diese Definition der folkloristischen Märchen und Mythen auf die populäre Massenliteratur der Moderne, so bedeutet sie auch eine Revision der ästhetischen und kulturpolitischen Dispositive, die als modifizierter und adaptierter kolonialer Diskurs die sowjetische Abenteuerliteratur der 1920er Jahre prägten. All die Dichotomien von „zivilisiert“ und „wild“, modern und rückständig, hochkulturell und barbarisch, aufgeklärt und naiv, Befreier und Befreiten, Kolonisatoren und Unterdrückten, Fortschritt und Rückständigkeit, Klassenbewusstsein und primitivem Denken, Wissenschaft und Aberglaube, Maschinentechnik und Handarbeit wurden in dieser Lesart der Kulturgeschichte der Menschheit als ästhetisches und semantisches Konstruktionsprinzip hinfällig. Gingen sie doch immer von einer durch die Geschichte der Klassenkämpfe bedingten kulturellen und zivilisatorischen Differenz zwischen proletarischer Arbeiterkultur und primitiver Face-to-face-Gesellschaft aus, davon, dass sich die „weltweiten Pfadfinder“ auf einer, historisch-materialistisch ableitbaren „höher entwickelten“ Menschheitsstufe als die antikolonialen „schwarzen Führer“ aus der imperialen Peripherie befanМожно привести еще десятки доказательств целесообразности древних сказок и мифов, десятки доказательств дальнозоркости образного, гипотетического, но уже технологического мышления первобытных людей, возвышавшегося до таких уже современных нам гипотез, как например утилизация силы вращения земли вокруг своей оси или уничтожения полярных льдов.“ Ders: Doklad
A. M. Gor’kogo, S. 6). 42
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 52 („Трудно представить Иммануила Канта в звериной шкуре и босого, размышляющим о ‚вещи в себе‘. Отвлеченно мыслил человек позднейшего времени, тот одинокий человек, о котором Аристотель в ‚Политике‘ сказал: ‚Человек вне общества – или бог или зверь‘.“ Gor’kij: Doklad A. M. Gor’kogo, S. 6).
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den. Indem Gor’kij dem „Urmenschen“ „technologisches Denken“ und zeitgenössische Hypothesenbildung diagnostizierte, eliminierte er aber diese für das Abenteuergenre so konstitutive Differenz zwischen „eigenen“ und anderen Welten. Gor’kij machte aber auch nicht den Schritt, der sich in vielen künstlerischen Strömungen der Moderne finden lässt, in den „ursprünglichen“ Kulturen etwas Archaisches, grundsätzlich Anderes, das Unterbewusste oder Metaphysische des Menschen Offenbarende, ein noch nicht verdorbenes höheres Wissen zu suchen, sondern genau das Gegenteil.43 Er hebt gerade das Moderne der fälschlicherweise für primitiv gehaltenen ursprünglichen Kultur, die Anzeichen eines materialistischen Denkens hervor, das Anknüpfungspunkte für die sowjetische Kultur biete. Dessen Kern aber bestehe in der unentfremdeten, zweckgerichteten, auf den gesellschaftlichen Fortschritt und Überlebenskampf orientierten schöpferischen Einbildungskraft, die selbst in den Glaubens- und Göttervorstellungen noch zum Ausdruck komme: „Gott war in der Vorstellung der Menschen der Urgesellschaft kein abstrakter Begriff und kein phantastisches Wesen, sondern eine völlig reale, mit diesem oder jenem Werkzeug ausgerüstete Figur. Gott war Meister dieses oder jenes Handwerks, Lehrer und Helfer der Menschen. Gott war die künstlerische Verallgemeinerung der Arbeitserfolge, und das ‚religiöse‘ Denken der arbeitenden Massen muss man in Anführungszeichen setzen, denn es war rein künstlerisches Schaffen. Die Mythendichtung idealisierte die Fähigkeit der Menschen, ahnte ihre machtvolle Entwicklung gleichsam voraus und war in ihrem Wesen realistisch. In jedem Aufschwung der antiken Phantasie kann man mühelos ihren Inspirator erkennen; dieser Inspirator ist stets das Streben der Menschen, ihre Arbeit zu erleichtern.“44
Mit dieser Definition des religiösen Denkens als „künstlerisches Schöpfertum“ und Gott als „künstlerischer Verallgemeinerung der Arbeitserfolge“ akzentuierte Gor’kij aber nicht nur die bisherige anti-religiöse Agitation der „Kämpferischen Gottlosen“ aus einem neuen Blickwinkel.45 Gleichzeitig konstruierte diese Definition auch eine prinzipielle Differenz zwischen einem „realistischen“ produktiven „künstlerischen Schöpfertum“ und einer „entfremdeten“, weil von 43
Zum Alteritätsdiskurs der Moderne in Bezug auf die koloniale und imperiale Peripherie, vgl. MacClintock: Imperial Leather, S. 21–74.
44
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 53 („Бог в представлении первобытных людей не был отвлеченным понятием, фантастическим существом, но вполне реальной фигурой, вооруженной тем или иным орудием труда, бог был мастер того или иного ремесла, учитель и сотрудник людей. Бог являлся художественным обобщением успехов труда, и ‚религиозное‘ мышление трудовой массы нужно взять в кавычки, ибо это было чисто художественное творчество. Идеализируя способности людей и как бы предчувствуя их мощное развитие, мифотворчество, в основах своих, было реалистично. Под каждым взлетом древней фантазии легко открыть ее возбудителя, а этот возбудитель всегда – стремление людей облегчить свой труд.“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo, S. 6).
45
Eine ganz ähnliche Definition des „religiösen Schöpfertums des Urmenschen“ im Gegensatz zur individualistischen Mystik späterer Gesellschaften hatte er schon in dem Aufsatz Über Themen gegeben, vgl. Gor’kij: O temach, S. 100f.
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„abstrakten Begriffen“ und „fantastischen Wesen“ bestimmten Vorstellungskraft. Bezieht man diese Differenzierung in künstlerisches Schöpfertum und abstrakte Fantasie aber auf die Genrediskussionen, dann wird in ihr eine Dichotomie formuliert, die in den Auseinandersetzungen um fantastische Literatur schon seit der Romantik als Gegensatz von gesunder und kranker Einbildungskraft verhandelt worden ist.46 Die „kranke“ Einbildungskraft repräsentierte bei Gor’kij in diesem Sinne das für die bourgeoise Kultur typische fantastische und mystische Denken, das er als ein von der Gesellschaft entfremdetes, sinnloses Spiel kennzeichnet: „Die bürgerliche Gesellschaft hat, wie wir sehen, die Fähigkeit der künstlerischen Phantasie völlig eingebüßt. Die anregende Wirkung der Logik der Hypothese blieb nur auf dem Gebiet der experimentellen Wissenschaften erhalten. Die bürgerliche Romantik des Individualismus mit ihrer Neigung zu Phantastik und Mystik weckt weder die Phantasie, noch schärft sie den Gedanken. Losgelöst von der Wirklichkeit gründet sie sich nicht auf die Überzeugungskraft einer Gestalt, sondern fast ausschließlich auf die ‚Magie des Wortes‘ [...].“47
Damit wird hier aber nicht nur die Fantastik explizit in Gegensatz zur wirklichkeitsnahen Einbildungskraft gesetzt, sie wird auch als „Wortmagie“ und Mystik als eine experimentelle Technik der bewussten Verschleierung und Verrätselung gekennzeichnet. Diese mystische Fantastik funktioniere aber – so Gor’kij – ganz ähnlich wie der „Spitzelroman“, der ebenfalls anstatt die offen zutage liegende verbrecherische Wirklichkeit zu schildern, an deren Stelle etwas Ausgedachtes, Geheimnisvolles setze: „Äußerst interessant ist die Tatsache, dass im neunzehnten Jahrhundert, als die kleine Gaunerei heroische und eindrucksvolle Ausmaße an den Börsen, in den Parlamenten und in der Presse annahm, der Gauner als Romanheld dem Detektiv wich, der in einer Welt ganz offenkundiger Verbrechen gegen das arbeitende Volk mit erstaunlicher Geschicklichkeit geheimnisvolle, aber erdachte Verbrechen enträtselte. Natürlich ist das Erscheinen des berühmten Sherlock Holmes in England durchaus kein Zufall, und noch weniger zufällig ist es, dass neben dem genialen Detektiv der ‚Gentleman-Dieb‘ entstand, der die superschlauen Detektive zum Narren hält. Diejenigen, die diesen Wechsel der Helden als ‚Spiel der Phantasie‘ betrachten, sind im Irrtum. Die Phantasie schafft das, was die Wirklichkeit ihr suggeriert. Aber in der Wirklichkeit gibt es kein unmotiviertes, vom Leben losgelöstes Spiel der Phantasie, sondern nur jene völlig realen Ursachen, die zum
46
Vgl. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M. 2002, 29ff.
47
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 64f. („Буржуазное общество, как мы видим, совершенно утратило способность вымысла в искусстве. Логика гипотезы осталась и возбудительно действует только в области наук, основанных на эксперименте. Буржуазный романтизм индивидуализма с его склонностью к фантастике и мистике, не возбуждает воображения, не изощряет мысль. Оторванный, отвлеченный от действительности, он строится не на убедительности образа, а почти исключительно на ‚магии слова‘’[...].“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo o sovetskoj literature, S. 10f ).
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Beispiel die ‚rechten‘ und ‚linken‘ französischen Politiker zwingen, mit dem Leichnam des ‚Gentleman-Diebs‘ Stavisky Fußball zu spielen, und zwar so, dass dieses Spiel ‚unentschieden‘ endet.“48
Während demnach sowohl die Fantastik (und Mystik) als auch die Kriminalliteratur von dem „Geheimnisvollen“ handeln, macht Gor’kij jedoch zwischen beiden Gattungen einen entscheidenden Unterschied: Die individualistische Fantastik sei ein von der Wirklichkeit losgelöstes Spiel mit der „Wortmagie“, während die „ausgedachten Verbrechen“ der Gauner- und Spitzelliteratur zwangsweise aus der verbrecherischen Wirklichkeit der bourgeoisen Gesellschaftsordnung folgten. An die Stelle des unmotivierten Spiels mit Worten, das eine unwirkliche Welt mystifiziere, trete das „völlig reale“ Spiel auf Unentschieden, das die tatsächlichen Konflikte in hybriden Gauner-Gentleman-Konstruktionen verschleiere. In dieser Revision der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung waren in Bezug auf die Frage nach Abenteuerliteratur und Fantastik vor allem drei Aspekte von Belang. Erstens definierte Gor’kij die kreative Einbildungskraft des einfachen Volkes als eine seit dem Urmenschen konkret gegen äußere Bedrohungen (Natur, Feinde) gerichtete anthropologische Fähigkeit, diese imaginär durch Antizipation neuer technischer Gerätschaften zu überwinden. Zweitens sei es genau diese „urmenschliche“ Einbildungskraft, die nicht nur als unmittelbarer Anknüpfungspunkt für eine neu zu schaffende sowjetische Literatur zu dienen habe. Sie wird auch in expliziten Gegensatz zu Fantastik, Mystik und Kriminalistik gesetzt. Das Geheimnisvolle, Fantastische und Mystische in den Künsten stellen damit drittens aber auch ästhetisch und axiologisch die Antipoden zum „Gotterbauertum“ des einfachen Volkes dar, gehe es doch der „entfremdeten“ bourgeoisen Poetik des fantastischen Unheimlichen und ausgedachten Verbrechens um eine irrationale, mystische Verschleierung der Wirklichkeit, während die Märchen und Mythen letzt-
48
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 59f. („Весьма интересен тот факт, что в XIX в., когда мелкое плутовство, приняло героические и внушительные объемы на биржах, в парламентах, в прессе, плут как герой романа уступил место сыщику, который в мире совершенно явных преступлений против рабочего народа замечательно ловко разгадывал преступления таинственные, но – выдуманные. Разумеется, вовсе не случайно, что знаменитый Шерлок Холмс явился в Англии, и еще менее случайно, что рядом с гениальным сыщиком возник ‚вор-джентльмен‘, который оставляет премудрых сыщиков в дураках. Те, кто поймут эту смену героев как ‚игру воображения‘, − ошибутся. Воображение создает то, что ему подсказывает действительность, а в ней играет не беспочвенная, оторванная от жизни фантазия, а те вполне реальные причины, которые понуждают например ‚правых‘ и ‚левых‘ французских политиков играть в футбол трупом ‚вора-джентльмена‘ Стависского, стремясь кончить эту игру ‚в ничью‘.“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo o sovetskoj literature, S. 9); „Alexandre Stavisky hatte durch den Verkauf gefälschter Obligationen Hunderttausende französische Kleinsparer betrogen, was zur sog. Stavisky-Affäre führte. In diesen Finanzskandal der Jahre 1933 und 1934 waren prominente Politiker und Generäle verwickelt.“ Anmerkungen zu Gorki, in: Geier, Swetlana (Hg.): Puschkin zu Ehren. Von russischer Literatur, Zürich 1999, S. 259. Die Figur des Gentleman-Diebes (ворджентльмен) geht auf die Romanfigur Arsène Lupin des französischen Schriftstellers Maurice Leblanc (1864–1941) zurück, der über ihn mehr als 20 Romane verfasst hat.
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lich „aufklärerisch“ und rational darauf zielen, den als unvollkommen erkannten Naturzustand zu entzaubern und zu verbessern. Mit dieser historischen Einordnung der Fantastik und Kriminalliteratur revidierte Maksim Gor’kij aber auch dezidiert den bislang exponiertesten Beitrag der 1920er Jahre zu der Frage, eine gattungstheoretische und strukturelle Begriffsbestimmung der vom Geheimnisvollen handelnden Literatur zu finden – und zwar die seit 1923 unternommenen Definitionsversuche des „Romans der Geheimnisse“ (Роман тайн/ Новелла тайн) von Viktor Šklovskij.49 Dabei formuliert Gor’kij eine explizite Gegenposition zu dessen drei zentralen Kernthesen (vgl. Abschnitt 3.1). Erstens widerspricht er der Kontinuitätsthese Šklovskijs, der eine ungebrochene Entwicklung von den Märchen und Mythen zum modernen Roman der Geheimnisse und Abenteuerroman sieht. Während Šklovskij sowohl im Sujetaufbau als auch der Motivik die „automatisierte“ Konstanz betont, hebt Gor’kij den radikalen Bruch zwischen „urmenschlicher“ Folklore und neuzeitlicher Belletristik hervor, indem er die antike Volkskultur und Mythenbildung dezidiert der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts entgegenstellt. Zweitens kappt er auch jede mögliche Kontinuität zwischen der bürgerlichen und sowjetischen Literatur, indem er einen direkten Widerspruch zu Šklovskijs Ausführungen über den Spitzelroman formuliert. Denn wo Šklovskij „formalistisch“ die absolute Austauschbarkeit sowohl des fiktionalen Personals (Privatdetektiv oder staatlicher Inspektor) als auch des Autors (proletarischer oder bourgeoiser Schriftsteller) betonte, solange nur das Kompositionsprinzip des Romans des Geheimnisses gewahrt bleibe, bezeichnet Gor’kij gerade diese Form des Spitzelromans als notwendigen literarischen Ausdruck der gesellschaftspolitischen und sozialen Verfasstheit der Bourgeoisie. Wo Šklovskij keinen Zusammenhang von Inhalt und Form sieht, behauptet Gor’kij diesen ausdrücklich. Damit widerspricht er drittens auch Šklovskijs These, die „Technik des Geheimnisses“ werde immer wichtiger für die Gegenwartsschriftsteller, und sei es in der Form der Parodie. Während Šklovskij im (geheimnisvollen) Rätsel und dessen Lösungsmöglichkeiten das zentrale Konstruk tionsmoment der Mystery Novel sieht, behauptet Gor’kij auch hier das Gegenteil: In der „ursprünglichen“ Folklore habe die Macht der Sprache gerade darin bestanden, die Welt zu beherrschen und zu entzaubern. Die Mythen, Märchen und Göttergeschichten handelten gerade von der Enträtselung der Welt, der schöpferischen Einbildungskraft, sich die Welt untertan zu machen, wohingegen es sich beim „Geheimnisvollen“ der bourgeoisen Literatur des 19. Jahrhunderts um leere Fantastik und weltfremde Mystik oder ausgedachte Verbrechen handele, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten. Gor’kij setzt gewissermaßen den schauderhaften Nachtträumen und unheimlichen Geschehnissen der Mystery Novel die „materialistisch“ auf eine mögliche bessere Zukunft gerichteten Tagträume und kreativen Mythen der Folklore entgegen: 49
Šklovskij: Technika romana tajn (1923), S. 125–155; Ders.: Novella tajn (1925), S. 125–142. Wobei Šklovskij die hier formulierten Gedanken zum Teil auch schon in früheren Texten wie Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetführung und den allgemeinen Stilverfahren (Связь приемов сюжетосложения с общими приемами стиля, 1913) geäußert hat. Vgl. Abschnitt 3.1.
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„Die Mythe ist eine Schöpfung dichterischer Phantasie. Etwas erdichten heißt, aus der Gesamtheit der realen Gegebenheiten den Hauptsinn extrahieren und ihn in einer Gestalt verkörpern – so entsteht der Realismus. Wenn man aber zu dem extrahierten Sinn der realen Gegebenheiten das Gewünschte und Mögliche hinzufügt, das heißt nach der Logik einer Hypothese zu Ende denkt und dadurch die Gestalt ergänzt, erhält man jene Romantik, die der Mythe zugrunde liegt und äußerst nützlich ist, weil sie die Entfaltung eines revolutionären Verhältnisses zur Wirklichkeit fördert, das die Welt praktisch verändert.“50
Diese mythologische Rückkoppelung des künstlerischen Schöpfungsprozesses an eine „revolutionäre Beziehung zur Wirklichkeit“ hatte nicht nur für die Definition des Sozialistischen Realismus grundlegende Bedeutung, sondern implizierte auch für die Neukonzeptualisierung der Wissenschaftlichen Fantastik und Abenteuerliteratur weit reichende Konsequenzen. Wurden mit den von Gor’kij formulierten ästhetischen und axiologischen Prämissen doch neben den auf dem Schriftstellerkongress generell unter scharfer Kritik stehenden formalistischen Theorieansätzen auch alle weiteren – in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten – Genrebestimmungen hinfällig, wie die am zweiten Sitzungstag des Schriftstellerkongresses von Samuil Maršak formulierten Forderungen für eine sowjetische Kinderliteratur zeigten.
6. 3 Di e Trennung v on Wis s ens chaf t u n d F a n ta sti k – Sam uil Ma rš a k s Konzept einer n e u e n K i n d e r li te r a tu r 51 „So ein Buch – mit Helden, Ereignissen, Kampf und Freundschaft – benennen unsere Kinder mit ihrem Lieblingswort: ‚Abenteuer‘./ Abenteuer suchen sie sowohl in Erzählungen über die Stoßarbeit als auch in Kurzromanen über wissenschaftliche Entdeckungen als auch in Biographien der Führer der Revolution.“ Samuil Maršak (1934)
Samuil Maršaks zentrales Koreferat auf der zweiten Sitzung des Schriftstellerkongresses 1934 knüpfte an Maksim Gor’kijs vorangegangene Grundsatzrede an und versuchte dessen literatur50
Gor’kij: Über sowjetische Literatur, S. 64 („Миф – это вымысел. Вымыслить – значит извлечь из суммы
51
„Такую книгу – с героями, событиями, борьбой, дружбой – наши ребята называют своим излюбленным
реально данного основной его смысл и воплотить в образ – так мы получили реализм. Но если к смыслу извлечений из реально данного добавить-домыслить, по логике гипотезы – желаемое, возможное и этим еще дополнить образ, – получим тот романтизм, который лежит в основе мифа и высоко полезен тем, что способствует возбуждению революционного отношения к действительности, отношения, практически изменяющего мир.“ Ders.: Doklad A. M. Gor’kogo o sovetskoj literature, S. 10). словом: ‚приключения‘./ Приключений они ищут в рассказах об ударном труде, и в повести о научных открытиях, и в биографиях вождей революции.“ Maršak: Deti otvečajut Gor’komu, S. 3.
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theoretische Prämissen auf sein Konzept einer neuen Kinderliteratur zu übertragen.52 Auch er griff dabei Gedanken und Argumente auf, die er in den Monaten zuvor in enger Zusammenarbeit mit Gor’kij entwickelt hatte.53 Dabei verwendete er eine rhetorische Strategie, die einerseits – wie bei seinem Vorredner auch – eine scharfe diskursive Abgrenzung gegenüber der „vorangegangenen“ bürgerlichen Kultur formulierte, andererseits aber bestimmte Schlüsselbegriffe einfach okkupierte und mit einer teils konträr zur bisherigen Semantik liegenden Bedeutung in die eigene Argumentation inkorporierte. Dies galt auch für die für die Auseinandersetzung um eine spannende Unterhaltungsliteratur für Jugendliche zentralen Termini des Abenteuers und der Fantastik, die er nicht einfach wie die RAPP-Agitatoren als imperiales Teufelszeug schlichtweg verdammte, sondern in seinem Sinne uminterpretierte. So konnte aus dem „Lieblingswort“ der Jugendlichen, den Abenteuern, denn auch – wie in dem vorangestellten Zitat von Maršak – eine „Biografie der Revolutionsführer“ werden, beispielsweise – wie er an selber Stelle fortfährt – der Kurzroman über Leben und Abenteuer von Maksim Gor’kij (Жизнь и приключения Максима Горького, 1926) des ehemaligen Serapionsbruders und Formalisten Il’ja Aleksandrovič Gruzdev (1892–1960), der 1934 bereits in der achten Auflage erschienen war.54 The Life and Strange Suprising Adventures of Robinson Crusoe (1719) waren auf diese Weise endgültig auf der metaphorischen Insel der Sowjetunion angekommen, nur das Seltsame und das Überraschende in Daniel Defoes Prätext passten nicht mehr in das Konzept des neuen „Abenteurers ohne Abenteuer“ (vgl. Abschnitt 5.1. Das Laboratorium der Neuen Robinsons). Doch Samuil Maršak ging es von Anfang an um mehr als eine bloße rhetorische Inkorporation und semantische Revision bestimmter Schlüsselbegriffe, er wollte eine prinzipiell neue Ordnung der Kinderliteratur und damit auch der künstlerischen Formen und Gattungszuordnungen schaffen. Indem er das Verhältnis von Abenteuerliteratur und Fantastik, Wissenschaftspopularisierung und Reisebericht neu justierte, sollte so als Gattung der Neuen Zeit die wissenschaftlich-künstlerische Literatur entstehen. In seinem Vortrag geht er dementsprechend auch auf alle Bereiche der sowjetischen Kinderliteratur ein, zu der er einleitend auch den 52
Maršaks Rede ist bislang in der Sekundärliteratur – abgesehen von sehr selektiven sowjetischen Lesarten – kaum beachtet worden. Bei Hans Günther wird er nur einmal in Hinsicht auf Buchillustrationen erwähnt, Schmitt und Schramm fassen Maršaks Referat nur einmal kurz in Hinsicht auf die Märchendiskussion zusammen, vgl. Günther: Die Verstaatlichung der Literatur, S. 49; Schmitt; Schramm: Sozialistische Realismuskonzeptionen, S. 20. Selbst Fadeev geht auf die Rede nicht weiter ein, vgl. Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura.
53
Vgl. die Anmerkungen in Maršak: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach (Bd. 6), S. 624f.
54
Maršak: Deti otvečajut Gor’komu, S. 3; Der als „Kurzroman“ ausgegebene Text stellte im Wesentlichen eine Kurzfassung von Gor’kijs Jugendtrilogie Kindheit (Детство, 1913/1914), Unter Menschen (В людях, 1915/1916) und Meine Universitäten (Мои университеты, 1923) dar und endete mit Gor’kijs erster Erzählung Makar Čudra. Die erste Auflage war bezeichnenderweise 1926 noch in Berlin publiziert worden, ehe ab 1927 immer wieder überarbeitete Auflagen bei Gosizdat und Molodaja gvardija erschienen. Vgl. [Anon.]: Gruzdev, in: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 3, Moskva 1930, S. 37; Gruzdev, Il’ja: Žizn’ i priključenija Maksima Gor’kogo po ego rasskazam, Moskva ²1927.
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„fantastischen Roman“ zählt.55 Festzustellen sei allgemein eine viel zu geringe Zahl an guten Büchern, bestimmte Formen seien noch gar nicht vorhanden. Frage man einen beliebigen Schüler, was er lese, würde er antworten: „ich lese Furmanov zu Ende und lese nochmals Jules Verne“.56 Die neuen künstlerischen Formen, die in der Sowjetunion für Kinder geschaffen werden müssten, bestehen vor allem aus einem im Sinne von Gor’kijs Referat zu schaffenden, neuen „echten Märchen“ für die jüngeren Leser. Dieses neue Märchen handele aber nicht von irgendwelchen Wehrwölfen und dürfe auch nicht wie Rudyard Kiplings „romantisches“ Dschungelbuch dem „Gesetz des Kriegsspiels“ folgen, sondern solle die Helden der neuen Zeit, die Flieger und Schiffskommandeure und deren „Technik an der Grenze zur Fantastik“ zeigen: „‚Technik an der Grenze zur Fantastik‘ stellt für sich genommen nur das Material für ein wissenschaftlich-technisches Buch oder irgendein ‚Wunderbuch‘ dar, das unter unterschiedlichen Titeln unternehmenslustige ausländische Verlage produzieren. Man verwundert das Kind solange, bis es aufhört sich zu wundern./ Das Märchen über den fliegenden Teppich ist nicht deswegen schön, weil der Mensch in ihm durch die Luft fliegt. Das wäre auch eine Art ‚Wunderbuch‘. Und nichts mehr. Doch ein Mensch, der auf einem fliegenden Teppich fliegt, fliegt nicht vergebens. Ohne den fliegenden Teppich könnte er nicht rechtzeitig drei Neuntel der Erde überwinden, und das ist für ihn überlebenswichtig. Der Teppich ermöglicht es ihm dort zu sein, wo noch kein menschlicher Fuß gewesen ist, er erlaubt ihm die Zeit einzuholen./ Wir haben nicht vor, im Sowjetland das alte Märchen wieder zu beleben. Es gibt für uns keinen Grund, die Gnome und Elfen wieder zu beleben, selbst die Gnome und Elfen, die zudem Bergarbeiter und Schäfer waren. [...] In unserem Land und in unserer Zeit kann nicht das ‚Wunderbuch‘, sondern das wirkliche Märchen entstehen, denn bei uns sind die Menschen in Wettstreit mit der Zeit getreten, sie eröffnen Wege zu Orten, wo noch nie der Fuß eines Menschen gewesen ist, und vor allem fühlen sie ihre Rechtmäßigkeit. [...] Was also, ist bei uns ein Kindermärchen, d.h. ein poetisch-fantastisches Erzählen entstanden, das die neuen Ideen und Fakten bestätigt, und nicht jenes bisherige Märchen, das parodistisch und offen didaktisch war?/ Man muss offen zugeben: bislang gibt es so ein Märchen noch nicht.“57 55
Maršak, Samuil: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, in: Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 20–38, 20.
56 „[...] дочитываю Фурманова и перечитываю Жюль Верна“.
Ebd., S. 23.
57 „‚Техника на грани фантастики‘ – сама по себе только материал для научно-технической книжки и
для какого-нибудь детского ‚Вундербуха‘, книги чудес, которую под разными названиями выпускают предприимчивые заграничные издатели. Ребенка удивляют до тех пор, пока он не перестает удивляться./ Сказка о ковре-самолете не тем хороша, что человек в ней летает по воздуху. Это было бы тоже своего рода ‚Вундербух‘. И больше ничего. Но человек, летящий на ковре-самолете, летит не зря. Без ковра-самолета он не поспел бы во-время за тридевять земель, а это нужно ему до-смерти. Ковер позволяет побывать там, где не ступала человеческая нога, позволяет обогнать время./ Мы не собираемся возрождать в советской стране старую сказку. Нам не к чему воскрешать гномов и эльфов, даже тех гномов и эльфов, которые еще были рудокопами и пастухами. [...] В нашей стране и в наши дни может возникнуть не ‚вундербух‘, а настоящая сказка, потому что у нас люди вступили в состязание с временем, прокладывают пути в тех местах, где еще никогда не ступала нога человека,
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Mit dieser Definition des „echten Märchens“ zog Maršak auch einen Schlussstrich unter die Märchendiskussionen der 1920er Jahre, an denen er nicht unwesentlich beteiligt war.58 Worum es mir aber hier geht ist seine Verwendung des Begriffs des „Fantastischen“, das er ausdrücklich auf den Bereich des noch zu schaffenden neuen Märchens eingrenzte und als „poetisch-fantastisches Erzählen“ für Kinder konzeptualisierte.59 Damit zertrennte Maršak die seit Mitte der 1920er Jahre geknüpfte Verbindung des „Wissenschaftlichen“ mit dem „Fantastischen“ wieder beziehungsweise verortete dieses auf technische „Wunder“ bezogene Erzählen „an der Grenze zum Fantastischen“ nicht mehr in einer auf den unmittelbaren Alltag des sozialistischen Aufbaus bezogenen fiktionalen Wirklichkeit, sondern in einer allegorisch lesbaren Märchenwelt. Eine andere Fantastik sollte es nicht mehr geben, und so ist es nicht erstaunlich, dass bei ihm von einer Wissenschaftlichen Fantastik nirgends mehr die Rede ist. Während dieses „poetisch-fantastische“ Erzählen eindeutig für Kinder im Vorschulalter (дети младшего возраста) konzipiert ist, propagierte Maršak für die älteren Jugendlichen statt einer wissenschaftlich-fantastischen Literatur in seinem Koreferat ausdrücklich die schon im Entstehen begriffene „künstlerisch-wissenschaftliche Literatur“ („художественно-научная литература“). Diese sei aber ebenso für Erwachsene konzipiert, ja sie sei die einzige Literatur überhaupt, die das Ausland über die Erfolge des Sozialistischen Aufbaus informiere: „Die Kinder brauchen ein künstlerisch-wissenschaftliches geographisches, historisches, biologisches, technisches Büchlein, das keine isolierten Informationen, sondern einen künstlerischen Komplex an Fakten liefert./ So eine künstlerisch-wissenschaftliche Literatur für Kinder ist bei uns noch am Entstehen. Über sie schrieb und schreibt man am meisten im Westen. Sie wird sowohl in Amerika als auch in Frankreich und Japan und sogar im kleinen Spanien übersetzt. Geschrieben
а главное потому, что они чувствуют свою правоту. [...] Что же, возникла ли у нас детская сказка, т.е. поэтически-фантастическое повествование, утверждающее новые идеи и факты, а не та, прежняя сказка – пародийная или откровенно-дидактическая?/ Надо прямо сказать: у нас еще нет такой сказки.“ Ebd., S. 27f. 58
Vgl. zu den Märchendiskussionen Marinelli-König: Russische Kinderliteratur, S. 134–159.
59
In diesem neuen Märchen sollten die den Gesetzen der empirischen Erfahrungswelt widersprechenden „fantastischen“ Begebenheiten jedoch nicht mehr der Verwunderung der jungen Leser dienen, sondern die Zweckmäßigkeit neuer Ideen und Fakten zeigen. Es widersprach damit dezidiert tradierten Definitionen, wie sie beispielsweise Darko Suvins anbietet: „Das Märchen verwendet die Vorstellungskraft nicht als Mittel zum Verständnis der Tendenzen in der Wirklichkeit, sondern als hinreichenden Selbstzweck, der von den realen Möglichkeiten gänzlich abstrahiert. [...] Es stellt neben unsere Welt bloß eine andere, wo einige Teppiche auf zauberhafte Weise fliegen und einige Arme auf zauberhafte Weise zu Prinzen werden, eine Welt, in die man bloß durch einen Akt des Glaubens und der Phantasie hinüberwechseln kann. Im Märchen ist alles möglich, denn ein Märchen ist offenkundig unmöglich.“ Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung (Phantastische Bibliothek, Bd. 31), Frankfurt a. M. 1979, S. 27f. Maršak bestreitet gerade diesen Selbstzweck des Märchens und sieht vielmehr in dessen unbegrenzten Möglichkeiten seine pädagogische Nützlichkeit, Ideen und Fakten aus der sowjetischen Wirklichkeit für die jungen Leser attraktiv zu machen.
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für Kinder, stellten sich diese Bücher als Bücher für Erwachsene heraus./ Darin besteht ein typischer Zug unserer Schulbücher: sie werden sowohl von Kindern als auch Erwachsenen gelesen.“60
Mit der „künstlerisch-wissenschaftlichen Literatur“ definierte Maršak hier erstmals genauer einen Begriff, der in den weiteren Debatten um eine neue Kinder- und Jugendliteratur bis in die frühen 1950er Jahre als sowjetische Antwort auf die westliche Abenteuerliteratur und Science Fiction propagiert wurde, allerdings das Wissenschaftliche noch dadurch zusätzlich betonte, dass die meisten Autoren und Kritiker es dem Künstlerischen voranstellten und von einer „wissenschaftlich-künstlerischen“ und nicht von einer „künstlerisch-wissenschaftlichen“ Literatur sprachen. Als Schöpfer des Kompositums wurde in späteren sowjetischen Darstellungen immer Maksim Gor’kij mit seiner Forderung nach einem „bildlichen wissenschaftlich-künstlerischen Denken“ („для образного научно-художественного мышления“) genannt, die er in dem schon genannten Grundsatzartikel Über Themen im Oktober 1933 erstmals erhob.61 Tatsächlich scheint das Kompositum zu diesem Zeitpunkt schon ein eingeführter Terminus gewesen zu sein, der auch in den Auseinandersetzungen um „wissenschaftliche Fantastik“ auftauchte, ohne dass er eine genauere Bestimmung erfahren hat.62 Eine solche präzisere Definition unternimmt Maršak in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress, indem er die wissenschaftlich-künstlerische Literatur erstens in einem diachronen Verhältnis zum Abenteuergenre, zweitens in einem konträren zum populärwissenschaftlichen Buch und drittens in einem komplementären zum Reisebericht definiert, wie im Weiteren erläutert wird. Dass diese neu zu schaffende Gattung des Sozialistischen Realismus von Maršak als ein Gegenwurf zum populären sowjetischen Abenteuergenre konzipiert ist, signalisierte er schon dadurch, dass er sie explizit von den illustrierten Zeitschriften der 1920er Jahre, wie dem Vsemirnyj sledopyt (1925–1932) und dem Mir priključenij“ (1910–1930), abgrenzte, die „Abenteuerliteratur im amerikanischen Stil“ verlegt hätten, anstatt über das „wirkliche Leben“ zu schreiben: 60 „Ребятам нужна художественно-научная, географическая, историческая, биологическая, техническая
книжка, дающая не разрозненные сведения, а художественный комплекс фактов./ Такая художественно-научная литература для детей у нас уже создается. О ней больше всего писали и пишут на Западе. Ее переводят и в Америке, и во Франции, и в Японии, и даже в маленькой Исландии./ Детской книжке – книжкам Ильина, Паустовского и других – выпала на долю почетная задача рассказать за рубежом о пятилетке и нашем социалистическом строительстве. Написанные для детей, эти книги оказались книгами и для взрослых./ В этом одна из типичных черт нашей книги для школьников: ее читают и дети, и взрослые.“ Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 23.
61
Vgl. z.B. Revič, Vsevolod A.: Naučno-chuožestvennaja literatura, in: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 17, Moskva ³1974.
62
So schreibt V. Katanjan Anfang 1933 in der Komsomol’skaja pravda über das neu zu schaffende Genre: „[...] es ist klar, [...] dass diese Art von Literatur [...] von unseren Schriftstellern nicht benutzt werden kann zur Schaffung der sowjetischen wissenschaftlich-abenteuerlichen, der sowjetischen wissenschaftlichkünstlerischen Literatur.“ („[...] ясно, [...] что этот род литературы [...] может быть использован
нашими писателями в создании жанра советской научно-приключенческой, советской научнохудожественной литературы.“), Katanjan: Est’ li un nas Žjul’ Verny?, S. 4; Hervorhebung im Original.
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„Und so stürzten sich die Kinder fast schon im Alter von zehn Jahren auf die Abenteuerliteratur im amerikanischen Stil, auf die bunten Nummern irgendeiner ‚Welt der Abenteuer‘. Hier gab es wenigstens Kapitäne, Taucher, Flieger, Erfinder, geheimnisvolle Höllenmaschinen, Alpinisten, Jäger und Zirkusartisten. In den Kinderbüchern hingegen roch es nicht nach Meersalz, dort hielt sich die angewärmte Zimmerluft und es roch nach Grießbrei./ Unsere sowjetische Kinderliteratur ist noch jung, es gibt noch wenig Bücher, die den Kindern das Tor zu einem ernsthaften und verantwortungsvollen Leben öffnen. Doch es ist schon jetzt deutlich geworden, dass die leichte halbwissenschaftliche, halbboulevardeske Literatur, bei der man einen geologischen Schürfer nicht von einem Privatspitzel unterscheiden kann, keinen Platz hat im Sowjetland.“63
Mit dieser Abgrenzung vom Abenteuergenre nimmt Maršak zwei wesentliche Verschiebungen vor: Zum einen exterritorialisiert er das Genre gewissermaßen, indem er es explizit als ein amerikanisches, ausländisches Produkt kennzeichnet, während er die sowjetischen Varianten und Entwicklungen der 1920er Jahre vollkommen ausblendet. Zum anderen aber historisiert er das Genre als ein Produkt der Vergangenheit in einer Rhetorik, die typisch für die folgenden Jahre werden sollte. War der Vorwurf der Gegner einer Abenteuerliteratur vor 1932, diese habe schematisch die Schatzgräber und Cowboys des Wilden Westens in Partisanen und Bolschewiken auf der Jagd nach der Revolution verwandelt, wird jetzt der Abenteurer zum Sinnbild eines Bösewichts, der als Spitzel, Seeräuber oder Schmuggler eine durch und durch anachronistische Gestalt darstellt. Im Unterschied zum Diversanten oder Spion sind die Abenteurer noch nicht einmal mehr bedrohlich, denn – so Maršak – „nicht ohne Grund“ (недаром) verkümmerten die Pfadfinder und „vergeblich“ (напрасно) versuchten sie sich zu verstecken.64 Die Techniken der Maskerade und Spurensuche werden hier gewissermaßen aus der Perspektive des Siegers der Geschichte als überholte Kulturtechniken musealisiert. Der Abenteurer wird damit im Kontext der sowjetischen Literatur zu einer nur noch lächerlichen, anachronistischen Figur, deren „starke Gefühle“ und
63
„И вот ребята чуть ли не с десяти лет набрасывались на авантюрную литературу американского
64
Sicher ist aus dem Satz „Solch eine Schmugglerware kann man bei uns nicht verbergen“ auch eine Rhetorik des Verdachts herauszulesen, die selbst unter den Trägern der sowjetischen Flagge eine verborgene Schmuggelware vermutet und damit einen generellen Appell zur Wachsamkeit impliziert, sie spielt hier aber keine wesentliche Rolle für die Argumentation.
стиля, на пестрые номера какого-нибудь ‚Мира приключений‘. Тут по крайней мере были капитаны, водолазы, авиаторы, изобретатели, таинственные адские машины, альпинисты, охотники и цирковые наездницы. А в детских книгах и не пахло морской солью, там держался нагретый комнатный воздух и пахло манной кашей./ Наша, советская литература для детей еще молода, еще мало у нас книг, открывающих детям ворота в серьезную и ответственную жизнь. Но уже стало ясно, что легковесной полунаучной, полубульварной литературе, в которой нельзя отличить геолога-разведчика от частного сыщика, нет места в советской стране.“ Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 30f.
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Träume von „anderen Welten“ allenfalls noch Mitleid und Herablassung unter Sowjetbürgern auslösen können.65 Mehr noch, diese „starken Gefühle“ der einstigen Sonntagsliteratur sind in Maršaks Lesart Ausdruck eines auf animalischen Instinkten beruhenden Natur- und Weltverständnisses, das vor allem auf eine Manipulation und Verfälschung des Lebens gerichtet gewesen sei. Entsprechend fährt Maršak in seiner Rede in Bezug auf den Abenteuerroman fort: „Natürlich kann man nicht sagen, dass wir uns für alle Zeiten von solch einer Verfälschung des Lebens und des Kampfes befreit hätten, der so raffiniert von den unternehmungslustigen Verlegern in den bourgeoisen Ländern in Umlauf gesetzt wurde./ In irgendeinem der überaus tendenziösen, überaus programmatischen Bücher für Kinder bei uns, inmitten der kaum geschminkten Protokolle der Kooperative oder des Dorfsowjets hört man plötzlich vom Grund der Schlucht die bedrohliche Stimme des erzürnten Tieres, Adler und Geier schreien dumpf und äußern ihre Unzufriedenheit darüber, dass der Held der Geschichte aufgewacht ist und ihr sattes und reichhaltiges Festmahl gestört hat. [...] Wir kennen diesen Adlerschrei und diese Stimme des erzürnten Tieres. Wir haben es in den Boulevardwäldern und Schluchten von Mister Curwood gehört, des routiniertesten Organisators von Sprüngen und Flügen über den Abgrund [...] Wenn die Kinderschriftsteller aufhören den prinzipiellen Inhalt ihrer Erzählungen in bunten und öden Protokollen darzulegen, dann müssen sie ihr Buch auch nicht mehr mit Curwoodsalz und Pinkertonpfeffer würzen.“66
Nun stellt die Prosa des amerikanischen Erfolgsautors James Oliver Curwood (1878–1927) gewissermaßen die komplementäre Form zur Pinkertonovščina dar. Denn wo es hier vor allem um 65
Leonid Leonov hat diese Figur ein Jahr später in seinem Roman Der Weg zum Ozean (Дорога на океан, 1935) in dem „gebrechlichen Koloss“ („одряхливый гигант“) des ehemaligen Gymnasialdirektors Dudnikov prototypisch dargestellt, der als einst Ehrfurcht gebietende Figur heute zu einem „ausgehungerten, zerlumpten Bettelsack voll menschlichem Jammer“ („отощалой, продырявленной суме с человеческой тоскою“) herabgesunken ist, der durch kein Wunder seine frühere Wohlgestalt hätte zurückerlangen können. Ich komme auf die Figur noch zu sprechen (vgl. Abschnitt 7.3). Vlg. Leonov, Leonid: Doroga na okean [1935] (Sobranie sočinenij v dejavti tomach, Bd. 6), Moskva 1961, S. 75; dt. Ders.: Weg zum Ozean, Berlin 1966, S. 81f.
66
„Конечно нельзя сказать, что мы уже навеки освободились от той фальсификации жизни и борьбы, которая так хитро была пущена в оборот предприимчивыми издателями в буржуазных странах./ В какой-нибудь самой тенденциозной, самой программной из наших книг для ребят, среди едва подкрашенных протоколов кооператива или сельсовета вдруг послышится со дна пропасти грозный голос рассерженного зверя, орлы и коршуны глухо заклекочут, выражая свое неудовольствие по поводу того, что герой повести очнулся и помешал их пиру, сытному и обильному. [...] Мы узнаем этот орлиный клекот и голос рассерженного зверя. Мы слышали их в бульварных лесах и ущельях мистера Кервуда, самого опытного организатора прыжков и полетов в пропасть. [...] Когда детские писатели перестанут излагать принципиальное содержание своих повестей в виде сухих и пресных протоколов, тогда им не понадобится больше подсыпать в книгу для вкуса кервудосвкой соли и пинкертоновского перца.“ Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 31.
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die Lust an Action, Mord- und Totschlag in der „Wildnis“ moderner Gesellschaften ging, suchte Curwood gerade in der wilden Natur das ideale Gegenbild zu den Verwerfungen der Zivilisation. Paradigmatisch umgesetzt hat er dies in melodramatischen Naturbüchern wie dem Roman Kazan (1914) über das Leben der wilden Schlittenhunde des hohen Nordens oder seinem wohl bekanntesten Werk, The Grizzly King (1915, 1918), der aus der Perspektive der Grizzlybären Nordamerikas die „mörderischen“ Jagdmethoden und die menschliche „Lust am Hinschlachten“ schildert. Dass Maršak hier das „Curwoodsalz“ mit dem „Pinkertonpfeffer“ gleichsetzt, liegt vielmehr in der aus seiner Sicht beiden eigenen anti-dialektischen Naturkonzeption. Wie Gewürze, die eine unappetitliche Speise nicht substanziell veredeln können, idealisieren beziehungsweise „objektivieren“ (Maršak) diese Erzählverfahren auf ähnliche Weise einen als falsch erkannten Naturzustand. Während demnach bei Pinkerton aus der Sicht des privaten Spitzels das Verbrechen im „Dschungel“ der Großstadt als genuiner Bestandteil moderner Gesellschaften verabsolutiert wird, zeigt Curwood aus der Perspektive der humanisierten Tiere die „wilde“ Natur der menschlichen Raubtiere und Tiermörder. So steht hinter Maršaks Abneigung gegen die „Sprünge und Flüge in den Abgrund“ der „Boulevardwälder und -schluchten des Mister Curwood“ genau jenes sowjetische Wissenschaftskonzept, das jede sozialdarwinistische „Naturalisierung“ des Menschen oder „sentimentale“ Humanisierung der wilden Natur als verlogenen Naturmystizismus verwirft, für den der Name Curwood symptomatisch steht.67 Entsprechend gibt es zwischen der „leidenden Seele des Tieres“ und dem kommerziellen Pelzhandel einen komplementären Zusammenhang: „Am wichtigsten ist es hier festzustellen, dass das Büchlein über Tiere, das eine enorme Rolle in der Weltsicht des Kindes spielt, von zwei seiner Hauptsünden befreit wird./ Es hört auf von der ‚stummen und leidenden Seele des Tieres‘ zu reden, die hinter dem groben und zottigen Pelz verborgen sei, und hört allmählich auf das lebende Tier durch dieses zottige Fell zu ersetzen, das von der Pelzhandelsorganisation für den Export vorbereitet wurde.“68
Mit dieser Kritik an dem sentimentalistischen und idealistischen Naturbild richtet Maršak sich aber auch noch einmal explizit gegen die „unterhaltsame“ Form der aufklärerischen Wissenschaftspopularisierung, wie sie schon zu Anfang des Jahrzehnts unter massive Kritik geraten war (vgl. Abschnitt 5.1). 67
So hat Curwood einmal betreffs seiner Bücher geäußert: „Nature is my religion and my desire, my ambition, the great goal I wish to achieve, to take my readers with me into the heart of this nature.“ Zitiert nach Eldridge, Judith A.: James Oliver Curwood. God’s Country and the Man, Madison, WI 1993, S. 149.
68
„Важнее всего здесь отметить, что книжка о зверях, играющая огромную роль в мировоззрении ре-
бенка, отрешается у нас от двух своих главных грехов./ Она уже перестала говорить о ‚немой и страдающей душе зверя‘, запрятанной в грубую и мохнатую шкуру, и понемногу перестает подменивать живого зверя этой самой мохнатой шкурой, заготовленной Пушторгом для экспорта.“ Maršak: Sodo-
klad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 34f.
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Doch wird diese alte Form nicht einfach durch ein neues Projekt abgelöst, sondern Maršak entwirft auch eine gänzlich neue Form der Narration, und zwar die wissenschaftlich-künstlerische Literatur, deren Gestaltungsprinzipien sich alles Erzählen über die Natur zu unterwerfen habe. „Doch das Hauptverdienst der besten Bücher über den Aufbau und die Entdeckung neuer Länder im Gebiet unserer Grenzen besteht darin, dass sie wirklich durchdrungen sind von einem Verständnis der ‚Dialektik der Natur‘./ Diese Bücher verhalten sich feindlich gegenüber der früheren, angeblich objektiven und leidenschaftslosen Geographie und Ethnographie. Anstelle der unveränderlichen Darstellungen der Natur, der Menschen und Sitten sind sie bestrebt, den Lesern die sich verändernde Verbindung zwischen den Erscheinungen zu zeigen, eine so leidenschaftliche und nicht gleichgültige Beschreibung der Erde zu geben, aufgrund von der man das Bedürfnis verspürt, zu kämpfen und das Leben und die Natur umzubauen.“69
Wissenschaftlich-künstlerisches Erzählen bedeutete demnach nicht nur die dialektische Veränderbarkeit der Natur und den dezidierten Eingriff des Menschen in das Leben und die Natur zu propagieren, sondern auch einen kategorischen Bruch mit einem vermeintlich „objektiven und leidenschaftslosen“ Wissenschaftsverständnis. Diese veränderte Haltung zur Natur und zu den Wissenschaften verschob aber auch die Perspektive auf die Umwelt grundlegend. Natur und Landschaft wurden nicht mehr als etwas Unbekanntes, Fremdes, Anderes narrativiert, deren Entdeckung voller Abenteuer und Überraschungen war, sondern als etwas dem Menschen Untergeordnetes, das es lediglich zu unterwerfen und nutzbar zu machen galt. Jetzt lag die konkrete Umgestaltung und Neu-Entdeckung des eigenen Landes im Mittelpunkt des Interesses. Nicht das hypothetische Erfinden anderer Welten, sondern eine fundamentale imaginäre Neuaneignung der eigenen Geografie und Ethnografie wird diskursbestimmend. An die Stelle einer „falschen“ Romantik und Exotik wunderbarer Naturphänomene trat eine neue Geographie und Ethnographie, der es einzig um die konkrete Umgestaltung und dynamische Umwälzung alles bislang für unveränderbar Geltenden ging: „Das ist der prinzipielle Unterschied unserer Bücher zu der alten populärwissenschaftlichen Literatur, die die Wissenschaft getrennt vom Leben zeigte, das Leben getrennt von der Wissenschaft und dem Leser die Überzeugung einimpfte, dass alles auf der Welt unveränderlich sei: Flüsse, Berge, Grenzen, Throne, Parlamente, die sesshafte und die nomadische Lebensweise, der Charakter der Völker und sogar das Handwerksgewerbe des einen oder anderen russländischen Kreises. In dem
69 „Но главная удача лучших книг о строительстве и об открытии новой страны в пределах наших
границ заключается в том, что они действительно проникнуты пониманием ‚диалектики природы‘./ Эти книги враждебны прежней, будто бы объективной и беспристрастной географии и этнографии. Вместо неподвижных представлений о природе, людях и обычаях они стремятся показать читателям меняющуюся связь явлений, дать такое пристрастное и неравнодушное описание земли, после которого возникает желание бороться и перестраивать жизнь и природу.“ Ebd., S. 31.
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einen Kreis wird man ewig Holzklötzchen schlagen und Holzlöffelchen machen, in dem anderen Filzstiefel drehen.“70
In dieser Wissenschaft und Leben synthetisierenden Umgestaltungseuphorie unterscheidet sich die wissenschaftlich-künstlerische Literatur jedoch nicht nur von ihren „alten“ wissenschaftlichpopulären Vorläufern, sondern sie bot Maršak damit gleichzeitig auch eine mögliche „Schablone“ für eine konzeptionelle Neudefinition des Abenteuerbegriffs. Diese Neukonzeption des Abenteuerbegriffs als ein Leben und Arbeit verbindender Terminus vollzog Maršak auf mehreren Ebenen: Nicht nur auf der Ebene der Darstellung galt es, die Trennung von Wissenschaft und Leben, Arbeit und Umwelt, Abenteuerheld und Natur aufzuheben: Gezeigt werden sollten reale Berufsgruppen, die an konkreten Orten innerhalb der Sowjetunion ihre praktischen Aufgaben bewältigen, anstatt „exotische Professionen“ in „abstrakten geheimnisvollen Tiefen“ „pseudoromantische Abenteuer“ erleben zu lassen.71 Auch auf der Produktionsebene sollte der Abenteuerschriftsteller nicht mehr abstrakte Imaginationen ferner Welten zeigen, sondern sich selber auf den „Weg ins Leben“ machen, und vor Ort im eigenen Land das Laboratorium des neuen Lebens erkunden. Damit identifizierte er letztlich die literaturhistorisch gesehen komplementären Figuren des Abenteurers und Forschungsreisenden,72 beziehungsweise tauschte jenen durch diesen aus: Die „wissenschaftlich-künstlerische“ Abenteuerliteratur sollte ein belletristisch aufgewerteter Expeditions- und Tatsachenbericht werden: „In den Umfragebögen der Leser werden am häufigsten zwei Literaturgenres genannt: ‚Abenteuer‘ und ‚Reisen‘./ ‚Abenteuer‘ in der Sprache der Kinder bedeutet längst nicht immer ‚aventure‘. Meistens heißt das Ereignisse, Episoden, Fakten. Wenn sie ‚Abenteuer‘ fordern, bestehen die Leser auf einem handlungsreichen Buch, und manchmal auf einer ganzen Serie von handlungsreichen Büchern mit gemeinsamen Helden./ An die Reisen stellen sie genau die gleichen Anforderungen. In ihren Briefen an Gor’kij sprechen die Kinder über Reisesammlungen und -zyklen. In manchen Briefen betreffen die Zyklen die Seereisenden der Epoche der großen Entdeckungen, in anderen Reisen an den Pol, in wieder anderen Expeditionen sowjetischer Gelehrter./ Und all diese Bücher sollen nach Meinung der Kinder entweder heroische Romane im Stil von ‚Kapitän Hatteras‘ oder echte Tagebücher von Reisenden sein.“73 70 „В этом – принципиальное отличие наших новых книг от старой научно-популярной литературы,
которая давала науку отдельно от жизни, жизнь отдельно от науки и внушала читателю убеждение в том, что все на свете неизменно: реки, горы, границы, троны, парламенты, оседлый и кочевой образ жизни, характер народов и даже прoмыслы того или иного российского уезда. В одном уезде вечно будут бить баклуши и делать деревянные ложки, а в другом – катать валенки.“ Ebd., S. 32.
71
Ebd., S. 33.
72
Vgl. Hügel, Hans-Otto: Der Abenteurer, in: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussion, Stuttgart, Weimar 2003, S. 91–98.
73
„В анкетах читателей чаще всего упоминаются два литературные жанра: ‚приключения‘ и ‚путеше-
ствия‘./ ‚Приключения‘ на языке ребят далеко не всегда означают авантюры. Чаше всего – это события, эпизоды, факты. Требуя ‚приключений‘, читатели настаивают на фабульной книге, а иногда на целой серии фабульных книг с общими героями./ К путешествиям они предъявляют точно такие же
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Zwar betont Maršak an gleicher Stelle die Forderung der jungen Leser nach klarer Trennung von Belletristik und Tagebuch, von „freiem Roman“ und „Dokument“,74 also von Schöner und Sachliteratur, doch negiert er gleichzeitig diese Forderung und schlägt den Begriff des „Abenteuers“ (приключение) auf die Seite der „Ereignisse, Episoden, Fakten“, trennt ihn von dem negativ konnotierten „aventurisme“ (авантюризм) und stellt an ihn die „gleichen Anforderungen“ wie an die Reiseliteratur.75 Eine solche „abenteuerliche“ Reiseliteratur dürfe allerdings keinesfalls jenen „Kompilationen“ von Fakten, Episoden und Ereignissen gleichen, wie sie noch für die populärwissenschaftlichen Aufklärungshefte vor dem Großen Umbruch typisch gewesen seien: „Denn das gewöhnliche kompilierte Büchlein, das meistens aus Meldungen, die man in enzyklopädischen Wörterbüchern findet, aus zufälligen Zitaten von Reisenden und aus unechten pseudobelletristischen Details zusammengeschmiert ist, gibt immer seine Surrogatherkunft zu erkennen, die eine gefälschte ist./ Nach so einem Buch möchte man kein Erforscher der Polarländer und der unzugänglichen Bergschluchten werden. Geographische Novellen dürfen nicht von arbeitslosen Literaten fabriziert werden, die nicht genügend eigenes Material haben. [...] Wenn sich unter hundert Teilnehmern einer Expedition zumindest einer findet, der frei und einfach seine Beobachtungen aufschreiben kann, und wenn sich von hundert Literaten ebenfalls einer findet, der in der Lage ist, eine Epopöe über die Eroberung der Arktis oder der Karakum-Wüste zu schreiben, werden unsere Kinder bald ihre eigene geographische Bibliothek von wirklich künstlerischem Charakter und dokumentarischer Genauigkeit haben.“76
требования. В своих письмах к Горькому ребята говорят о собраниях и циклах путешествий. В одних письмах циклы охватывают мореплавателей эпохи великих открытий, в других – все путешествия на полюс, в третьих – экспедиции советских ученых./ И все эти книги должны быть, по мнению ребят, либо героическими романами вроде ‚Капитана Гаттерса‘, либо подлинными дневниками путешественников.“ Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 33.. 74
Ebd.
75
Auch das genannte Beispiel, Jules Vernes erster zweibändiger Roman Les Aventures du Capitaine Hatteras von 1866, weist in diese Richtung, kommt die hier beschriebene Expedition des Kapitän Hatteras auf der Suche nach dem Nordpol doch ganz ohne jene technisch-fantastischen Momente aus, wie sie in den sonstigen „extraordinären Reisen“ zu finden sind, und bietet hingegen recht viel faktisches Material zur Geschichte der Arktisforschung. Das Ende dieser Abenteuergeschichte ist hingegen, auf die sowjetische Wirklichkeit und Maršaks Forderung bezogen, recht doppeldeutig: Denn als Hatteras schließlich den Nordpol in Gestalt eines noch aktiven Vulkans findet und auf dessen Gipfel die englische Flagge hissen möchte, wird er verrückt und wird am Ende des Romans von seinen Begleitern in eine Irrenanstalt gebracht. Vgl. Verne, Jules: Die Abenteuer des Kapitän Hatteras (1866), Berlin 1989.
76
„Ведь обычная компилятивная книжка, чаще всего состряпанная из сведений, которые можно найти в энциклопедическом словаре, из случайных цитат, взятых у путешественников, из бутафорских псевдобеллетристических подробностей, всегда выдает свое суррогатное происхождение, отдает маргарином./ После такой книжки не захочешь cделаться исследователем полярных стран и непроходимых горных ущелий. Географические повести не должны фабриковаться безработными литераторами, которым не хватает собственного материала. [...] Если из ста участников экспедиций най-
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In dieser Beschreibung rekodiert Maršak den Reisebericht als zentrales Verfahren wissenschaftlich-künstlerischen Schreibens, da nur so die Spaltung zwischen Autor und Gesellschaft, abstrakten Gedanken und konkreten Gefahren, belletristischer Qualität und dokumentarischer Genauigkeit aufgehoben werden könne. Es ist genau jene Spaltung, in der die Gelehrten sich in den Elfenbeinturm ihrer universalen Enzyklopädien zurückzogen, während die Abenteurer sich in den Naturmystizismus ihrer extraordinären Expeditionen flüchteten. Die von Maršak auf dem Schriftstellerkongress propagierte wissenschaftlich-künstlerische Literatur revidiert diese Spaltungen, indem sie erstens die Abenteuerliteratur im Stile Pinkertons oder Curwoods als historisch abgeschlossene Phase der bürgerlichen Verfälschung und Exotisierung der Welt historisiert; zweitens das populärwissenschaftliche Buch im Stile Perel’mans oder Fersmans als enzyklopädische Idealisierung und Mystifizierung der Natur diskreditiert; und drittens den Reisebericht als synkretistische Literaturgattung adaptiert, der die neue Geographie so alltags- und lebensnah wie möglich und gleichzeitig mit epischer Kraft und visionärer Anschaulichkeit „künstlerisch“ darstellen könne, so dass er letztlich an die Stelle des alten Abenteuers und populärwissenschaftlichen Buches treten könne. Damit hat aber Maršak auf dem Schriftstellerkongress 1934 erstmals ein Konzept für ein Genre entwickelt, das explizit als Alternative zu den bei jüngeren und älteren Lesern so populären Gattungen der Abenteuerliteratur und populärwissenschaftlichen Literatur konzipiert wurde. Unter den Bedingungen der ideologisch, administrativ und ästhetisch zentralisierten und homogenisierten Literaturpolitik versuchten führende Literatur- und Kulturpolitiker dieses für kanonisch erklärte Genre als einzige sozialistisch-realistische „Massenliteratur“ für Jugendliche und Erwachsene bei den Verlags- und Zeitschriftenredaktionen durchzusetzen. Das gelang allerdings in der Zeit nach dem Schriftstellerkongress nur in Grenzen, zumal man zwar das Konzept, aber nur wenige Autoren hatte, die in diesem Bereich arbeiten wollten. Als Vorbild für die „wissenschaftlich-künstlerische“ Vereinigung von „künstlerischer Qualität“ und „dokumentarischer Genauigkeit“, wissenschaftlicher Expedition und geographischem Epos nennt Maršak unter anderen Vladimir Arsen’evs schon erwähnten Reisebericht Im Waldesdickicht der Ussuri-Region (В дебрях уссурийского края, 1926), dessen Verdienst darin bestehe, dass er nicht nur von einem „wirklichen Reisenden“ und gleichzeitig „wirklichen Schriftsteller“ verfasst worden sei, sondern auch sowohl von jungen als auch erwachsenen Lesern geliebt werde.77 Neben einigen weiteren Schriftstellern sind es aber vor allem zwei Autoren, die Maršak als positives Beispiel für wissenschaftlich-künstlerische Literatur aufführt und die er am ausführlichsten von allen zitiert – und zwar den unter dem Pseudonym Michail Il’in publizierenden gelernten Chemiker und Ingenieur Ilja Maršak, seinen jüngeren Bruder, sowie den jungen Schriftsteller Konstantin Paustovskij. дется хотя бы один, умеющий свободно и просто записывать свои наблюдения, а из ста литераторов тоже окажется один, способный дать нам эпопею арктического или каракумского похода, у наших ребят скоро будет своя географическая библиотека настоящего художественного качества и документальной точности.“ Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 33f. 77
Ebd., S. 34. Vgl. zu Arsen’ev die entsprechenden Absätze in Abschnitt 2.3 dieses Buches.
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7. K i n de r l i t e r a t u r f ü r E r w achse ne – D ie Po e t ik wi s s e n s c h a f t l i c h - k ü n s t l e rische r Exp e d it io ne n 1 „Man muss feststellen, dass die Kinderliteratur in letzter Zeit auf der Jagd nach Sujethaftigkeit und Unterhaltsamkeit ein wenig ein sehr wichtiges Gebiet vergessen hat, das Gebiet des Sachbuchs für Kinder. [...] Gleichzeitig wissen wir, dass der Sachstil half so große Werke zu schaffen wie die ‚Erzählung vom großen Plan‘, [...] wie ‚Kolchis‘ oder ‚Kara-Bugaz‘ von Paustovskij, die für Kinder geschrieben, aber Bücher von großer unionsweiter Bedeutung geworden sind.“ Lev Kassil’ (1934)1
Das Konzept einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur war letztlich ein „verspätetes“ Produkt des ersten Fünfjahresplanes (1928–1932) und der Ideen, die in jener Zeit diskutiert wurden, auch wenn es von Gor’kij und Maršak erst 1934 zum Schriftstellerkongress eine konkretere Gestalt bekommen hat. Unschwer sind in den im vorigen Kapitel zitierten Ausführungen Anklänge an jene Konzepte einer „sujetlosen“ Literatur des Fakts wieder zu erkennen, wie sie Ende der 1920er Jahre von Sergej Tret’jakov, Viktor Šklovskij oder Nikolaj Čužak entwickelt worden sind.2 Michail Il’in sollte 1936 mit seinen Erzählungen über Dinge (Рассказы о вещах) ganz direkt an Tret’jakovs Idee einer Biographie des Dings (Биография вещи, 1929) anknüpfen, ohne ihn allerdings mit einem Wort zu erwähnen.3 Der Große Umbruch hatte anfangs auch eine enthusiastische Aufnahme unter vielen so genannten „Mitläufern“ und avantgardistischen Schriftstellern gefunden, die im Kontext der sich verschärfenden Attacken seitens der RAPP-Aktivisten in der Beschreibung des sozialistischen Aufbaus neue Möglichkeiten sahen, innovative Prosaformen mit den ideologischen Anforderungen der Kollektivierung und Industrialisierung zu verbinden. Gerade die „wissenschaftlichen“ Expeditionen, in denen die „operierenden“ Schriftsteller (Sergej Tret’jakov) in organisierten Reisen über mehrere Tage, manchmal Wochen und Monate lang die Baustellen des Sozialismus besuchten, gehörten dabei zu einem zentralen Merkmal dieses schriftstellerischen Neuanfangs, 1 „Следует заметить, что в последнее время детская литература в погоне за сюжетностью и
занимательностью несколько забыла очень важный участок, участок деловой книги для ребят. […] В то же время мы знаем, что деловой стиль помог созданию такого крупного произведения, как ‚Рассказ о великом плане’, […] как ‚Колхида’ или ‚Карабугаз’ – Паустовского, которые были написаны для ребят, а стали книгами большого всесоюзного значения.“ Kassil’, Lev: Reč’ L. A. Kassilja
(Zasedanie sed’moe, 12 avgusta 1934 g., večernoe), in: Luppol, Ivan; Rozental’, Mark u.a. (Hg.): Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 170-173, S. 171. 2
Vgl. Čužak, Nikolaj F.: Literatura fakta. Pervyj sbornik materialov rabotnikov Lefa (1929), Moskva 2000.
3
Vgl. zu Tret‘jakov und einer „Biographie der Dinge“ Mierau, Fritz: Tatsache und Tendenz. Der „operierende“ Schriftsteller Sergej Tretjakow, in: Tretjakow, Sergej: Lyrik, Dramatik, Prosa, Leipzig 1972, S. 421– 526, S. 483–510.
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um die „kapitalistische“ Trennung von Kopf- und Handarbeit, Dichten und Produzieren, Labor und Leben aufzuheben und eine neue, von der Wirklichkeit nicht entfremdete „sozialistische“ Prosa zu schaffen. Als privilegierte literarische Form hierfür war anfangs die Prosaskizze (очерк) proklamiert worden, für die Maksim Gor’kij 1929 sogar eine eigene „Zeitschrift der künstlerischen Skizze“ (журнал художественного очерка), Naši dostiženija (Unsere Errungenschaften, 1929–1937), schuf und die in dem von ihm herausgegebenen Kollektivwerk Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Eine Baugeschichte (Беломорско-балтийский канал имени Сталина. История строительства, 1934) einen gefeierten Höhepunkt erlebte, an dem unter anderem Vsevolod Ivanov, Kataev, Šaginjan, Šklovskij und Aleksej N. Tolstoj beteiligt waren.4 Allerdings konnte die Skizze sich nicht als wichtigste literarische Form des Fünfjahresplans behaupten, sondern es waren die so genannten Produktionsromane, die zwar auch das klassische Sujet aus Romanintrige und psychologischen Konflikten zugunsten einer Zentrierung auf die Arbeit und die industrielle Produktion veränderten, aber eben keine sujetlose Prosa mehr darstellten. Unter deren Verfassern fanden sich häufig Autoren, die in den 1920er Jahren noch eine prominente Rolle bei den Adaptionen eines „kommunistischen Pinkerton“ gespielt hatten. So verfassten Mariėtta Šaginjan mit Wasserkraftwerk (Гидроцентрал, 1931), Valentin Kataev mit Zeit, voran! (Время, вперед!, dt. Titel Im Sturmschritt vorwärts!, 1932) oder Il’ja Ėrenburg mit Der zweite Tag (День второй, 1933) einige der prominentesten Romane zur Industrialisierung des Landes.5 Spätestens mit der Entmachtung der RAPP ab Mitte 1932 aber zeichnete sich ab, dass es genau diese große Form des epischen Erzählens sein werde, die zur ersten Gattung des Sozialistischen Realismus werden würde und für die Michail Šolochovs Der stille Don (Тихий Дон, 1928–1940), Gor’kijs Das Leben des Klim Samgin (Жизнь Клима Самгина, 1925–1936) oder Nikolaj Ostrovskijs Wie der Stahl gehärtet wurde (Как закалялась сталь, 1932/1934) standen, während die „künstlerische Skizze“ immerhin als eigenständige Sektion in die Struktur des Schriftstellerverbandes aufgenommen wurde.6 Ein Großteil der für die künstlerische Skizze entwickelten ästhetischen und ideologischen Vorstellungen aber wanderte – und das ist von der 4
So hatte Gor’kij in einem gleichzeitig in den Tageszeitungen Pravda und Izvestija am 3. Juli 1933 publizierten Aufsatz unter dem Titel Was der Massenleser wissen muss (Что должен знать массовый читатель) die interessant geschriebene „Studie“ (очерк) von hoher künstlerischer Qualität als bevorzugtes Genre vorgeschlagen. Als mögliches Thema dieser neuen Literatur nannte Gor’kij in demselben Zeitungsbeitrag neben dem Maschinenbau und der Gesundheitsvorsorge die „neue Geografie des Landes“. Vgl. Gor’kij, Maksim: Čto dolžen znat’ massovyj čitatel’, in: Ders.: Sobranie sočinenij v tridcati tomach, Bd. 27 (Stat’i, doklady, reči, privetstvija, 1933–1936), Moskva 1953, S.36–41, S. 41; Zur Entstehungsgeschichte und den Hintergründen des Buchs Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal vgl. Ruder, Cynthia A.: Making History for Stalin. The Story of the Belomor Canal, Gainesville, Fla. 2003.
5
Zum Scheitern von Gor’kijs großen Projekten zur Schaffung einer neuen sowjetischen Literatur vgl. auch Antipina, Valentina: Povsednevnaja žizn’ sovetskich pisatelej. 1930–1950-e gody, Moskva 2005, S. 94ff.
6
Vgl. Clark: The Soviet Novel, S. 91–135.; RGALI, f. 631, op. 15, ed. 985, l. 15–22 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat SSP: Protokol No. 37).
Die Poetik wissenschaftlich-künstlerischer Expeditionen | 305
Forschung bislang kaum behandelt worden – von der „großen“ Literatur in die „kleine“ der Wissenschaftspopularisierung für Kinder ab und bekam – protegiert von Gor’kij – den Namen „wissenschaftlich-künstlerische“ Prosa. Die „sachlichen Büchlein“, die unter diesem Namen als von „großer unionsweiter Bedeutung“ (Kassil’) für Jung und Alt (Maršak) propagiert wurden, zeichneten sich vor allem durch eine bizarre Hybridität und gigantische Hypertrophie aus, wollten sie doch den wissenschaftspolitischen Umsturz (vgl. Abschnitt 5.1) mit dem verlassenen Gebiet spannender Abenteuerliteratur verbinden, indem sie die Neuperspektivierung des „wissenschaftlichen“ Blicks auf die Welt an die „künstlerische“ Deskription des an den Ort des Geschehens reisenden Autors koppelte. Diese Verbindung von Wissenschafts- und Reiseprosa sollte aber zu einem gänzlich „Neuen Sehen“ der Wirklichkeit führen. Wenn im westlichen und auch im sowjetischen Abenteuergenre „Expeditionen in andere Welten“ immer das Versprechen in sich bargen, noch auf ein unentdecktes Geheimnis oder Rätsel der Natur- oder Menschheitsgeschichte zu treffen, das zu unterhaltsamen und spannenden Verwicklungen führte, ist es jetzt der menschliche Schöpfer- und Erkenntnisdrang, der der gänzlich entzauberten und „entmachteten“ Natur- und Menschheitsgeschichte immer neue aufregende Erfindungen und abenteuerliche Erschütterungen zufügt. An die Stelle der Sonntagsliteratur der „starken Gefühle“ tritt die Alltagsprosa der „starken Gedanken“. Dabei ist es bei Michail Il’in erneut die Kinematographie, die als zentrale Metapher dieser „Abenteuer der Erfindungen“ dient (Abschnitt 7.1. Die lebende geographische Landkarte). Doch in dieser wissenschaftlich-künstlerischen Prosa verändert sich nicht nur die Perspektivierung und Relation von Mensch und Natur fundamental, sondern auch die zwischen Mensch und Mensch. Die für die Abenteuerliteratur so konstitutive Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden, die auch bei den sowjetischen Rekodierungen des Exotischen der zwanziger Jahre als zivilisatorische Differenz zwischen sowjetischen Pfadfindern und kolonialen Befreiungskämpfern, als klassenkämpferische zwischen rothäutigen Partisanen und weißhäutigen Kosaken oder als epochale zwischen Rotarmisten und Altgläubigen im Sinne des historischen Materialismus bestehen blieb (vgl. Kapitel 2), wurde jetzt nivelliert. Mit der Entzauberung der menschlichen Natur durch die neuen „Ingenieure der Seele“ (Stalin) und mit dem Aufbau des Sozialismus in einem Land, das alle alten Klassen-, Kultur- und Territorialunterschiede hinter sich lassen sollte, galt es auch diese Alteritätserzählungen zu zerstören. Und wieder war es hierbei der Reisebericht, diesmal vornehmlich der über die vermeintlich „orientalischen“ und „exotischen“ Gebiete Mittelasiens, der dieser Neuperspektivierung diente und bei Autoren wie Konstantin Paustovskij oder Michail Zuev-Ordynec in einem antikolonialen Gestus teils auch „subalterne“ Stimmen in die Texte integrierte, die das sowjetische Modernisierungsprojekt selber als fantastische Fata Morgana oder brutale Sklavenarbeit entzauberten (Abschnitt 7.2. Die Austreibung der Exotik). In ihrer Radikalität der Neuerfindung des Blicks auf die eigene Welt, die als vergänglich, veränderbar und verrückt erscheinen konnte, kamen diese Werke jedoch bald nicht nur an ästhetische und ideologische Grenzen im Rahmen des sich festigenden Kanons des Sozialistischen Realismus. Hinzu kam, dass das Konzept kaum auf Gegenliebe stieß, und zwar weder bei der Mehrzahl der Autoren und Wissenschaftler, noch bei den Lesern oder den Verlagen. Die Lage
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stellte sich im Bereich der Kinderliteratur nach Ansicht führender Literaturpolitiker des Komsomol und der Partei schon nach einem Jahr so desolat dar, dass man mit den ersten Umgestaltungen im Verlagswesen begann. Diese führten im Zuge des „Großen Terrors“ zu immer größeren Verwerfungen, sodass zuerst intern, dann ab 1936 auch öffentlich die Wissenschaftliche Fantastik und selbst das Abenteuergenre wieder als mögliche Optionen auftauchten, sozialistisch-realistische Paradigmen endlich auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur attraktiv zu machen (Abschnitt 7.3. Verlagspolitik nach dem Schriftstellerkongress). Damit war innerhalb kürzester Zeit die „wissenschaftlich-künstlerische“ Literatur als ein Leitparadigma für eine auf die kommende „technische Intelligenzija“ zielende spannende „populärwissenschaftliche“ Belletristik für Jugendliche und Erwachsene vorerst gescheitert. Erst in der Nachkriegszeit, als es mit dem Beginn des Kalten Krieges wieder zu einer massiven Ideologisierung der Wissenschaften kam, gelang es Maršak und Il’in noch einmal das Konzept als ideologisch und künstlerisch verbindliche Norm innerhalb des Schriftstellerverbandes etwas erfolgreicher durchzusetzen (vergleich Teil 3 dieses Buches).
7 .1 Di e l ebende g e o g raphis che La n d ka r te – M i c h a i l Il’i n s Er z ähl unge n v om s o zia lis tis che n A u f b a u 7 „Für den früheren Menschen war das Buch über die Natur ein Museum: Der Autor führte den Leser in ein Museum, das die Wunder der Natur zeigte./ Doch für uns ist es zu wenig zu wissen, wie die Dinge heißen und zu welchem Jahrhundert sie zugehören. Für uns ist die Natur kein Museum, sondern eine Baustelle, die wir leiten wollen.“ Michail Il’in (1934)7
Die von Maksim Gor’kij aufgestellte und von Samuil Maršak in Hinsicht auf eine „wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ spezifizierte Forderung nach einer neuen Kinderliteratur, die auch von Erwachsenen gelesen werde, fand auch deshalb so großen Rückhalt in der politischen Führung, weil sie ein gerade für die „technische Intelligenz“ attraktives Konzept versprach. Unterstützung kam bereits auf dem Schriftstellerkongress aus den Reihen der eingeladenen Wissenschaftler, die eine wirklich „technisch-wissenschaftliche“ Fantastik forderten, welche zwar von Literaten geschrieben werden müsse, aber die fachliche Unterstützung von Spezialisten brau7 „Для прежнего человека книга о природе была музеем: автор водил читателя по музею, показывая
чудеса природы./ Но для нас мало знать, как называются вещи и к какому веку они относятся. Для нас природа – не музей, а стройка, которой мы хотим управлять.“ Il’in: Reč’ t. Il’ina, S. 215
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che.8 So betonte Michail Jakovlevič Lapirov-Skoblo (1889–1947), der als einer der führenden Spezialisten für Elektrotechnik bereits in der GOĖLRO-Kommission in enger Zusammenarbeit mit Lenin bei der Elektrifizierung des Landes mitgewirkt hatte, wie unabdingbar wichtig die „künstlerische“ Fantasie für die Entwicklung der Wissenschaften sei: „Ein künstlerisches Buch ist mehr als jedes Lehrbuch in der Lage die Liebe zur Wissenschaft und zur Technik zu erwecken. Ein künstlerisches Buch kann ein Leiter für die größten wissenschaftlichen Ideen, Entdeckungen und Erfindungen sein./ Fantasie ist so nötig für die Wissenschaft wie für die Kunst und die Literatur.“9
Deswegen bitte er die sowjetischen Schriftsteller den Wissenschaftlern zu helfen beim Verfassen von „wissenschaftlich-künstlerischer Literatur“ oder auch mit ihnen zusammen im Kollektiv diese unbedingt notwendigen Bücher zu verfassen.10 Unmittelbar im Anschluss an den Schriftstellerkongress und mit mehrfacher Bezugnahme auf Gor’kij nahm die Zeitschrift Kampf für die Technik (Борьба за технику) schon in ihrer Septemberausgabe 1934 die Neuorientierung als Titelthema auf unter der Schlagzeile „Lasst uns wissenschaftlich-künstlerische Werke schaffen, die unserer großen Epoche würdig sind“ (Создадим научно-художественные произведения, достойные нашей великой эпохи).11 Nach dem Editorial druckte man unter der Überschrift „Der sozialistische Auftrag der Menschen der Wissenschaft“ (Социалистический заказ людей науки) mehrere Stellungnahmen von Naturwissenschaftlern und Akademiemitgliedern, deren prominente Namen schon darauf hindeuteten, welche große kulturpolitische Bedeutung dieser Neukonzipierung des Genres beigemessen wurde. Zu Wort kamen der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften, Vladimir Leont’evič Komarov (1869–1945), der Geologe und das Akademiemitglied Ivan Michajlovič Gubkin (1871–1939), der 1932 das Grundlagenwerk Die Lehre vom Erdöl (Учение о нефти) veröffentlicht hatte, oder bekannte Wissenschaftspopularisatoren wie Fersman und LapirovSkoblo. Die „Gegenantwort der Schriftsteller unseres Landes“ (Ответное слово писателей нашей страны) formulierten nicht weniger prominente Autoren wie Aleksej Tolstoj, Fedor 8
Obrazcov, Vladimir N.: Reč’ V. N. Obrazcova, in: Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 248–249, 249. Dabei grenzte der Ingenieur für Eisenbahntransport, Vladimir Nikolaevič Obrazcov (1874–1949), diese Fantastik dezidiert von der “literarischen Fantastik” eines Jules Verne ab.
9
„Художественная книга больше любого учебника в состоянии заразить любовью к науке и технике. Художественная книга может явиться проводником величайших научных идей, открытий и изобретений./ Фантазия же столь необходима в науке, как и в искусстве, в литературе.“ Lapirov-Skoblo,
Michail J.: Reč’ prof. M. Ja. Lapiro-Skoblo, in: Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934, S. 434–436, 435. 10
Ebd.
11
[Anon.]: Sozdadim naučno-chudožestvennye proizvedenija, dostojnye našej ėpochi, in: Bor’ba za techniku 17–18 (1934), S. 1–2.
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Vasil’evič Gladkov (1883–1958), Valentin Kataev, Nikolaj Nikolaevič Aseev (1889–1963) sowie Michail Il’in. Das einleitende Editorial übernahm, was die Abgrenzung von den „touristischen Exkursionen ins Unbekannte“ und die Kritik an der westlichen Science Fiction anbelangte, die von Maršak formulierten Vorbehalte, stellte aber ebenfalls fest, dass es bislang kaum ein Dutzend eigener wissenschaftlich-künstlerischer Werke gebe. Zwar solle diese Literatur in keinen „nackten Technizismus“ verfallen, doch müsse sie auf einer „echten wissenschaftlichen Grundlage“ stehen, wie das die „großen Meister der Wissenschaftlichen Fantastik“ auch gemacht hätten, denn sie habe die Bedürfnisse der „größten Schicht der sowjetischen Intelligenz – der technischen Intelligenz“ zu bedienen.12 Seitens der Wissenschaftler wurde vor allem gefordert, dass sich die Schriftsteller endlich überhaupt mit ihnen zu beschäftigen hätten, denn man müsse bislang immer noch ausschließlich auf Jules Verne zurückgreifen, dessen Muster heute veraltet seien. So habe die Belletristik die herausragenden russischen bzw. sowjetischen Wissenschaftler in Geschichte und Gegenwart bei ihrer Arbeit darzustellen, ihre Rolle bei der Umgestaltung des Landes zu zeigen und in enger Zusammenarbeit mit den Spezialisten neue fantasiereiche Ideen für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu entwickeln.13 Die versammelten Schriftsteller nahmen diese Forderung weitgehend auf, hoben die Schwierigkeiten und Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern bei der künstlerischen Gestaltung wissenschaftlich-technischer Themen hervor, die die neue Wirklichkeit hervorbringe, folgten aber weitgehend den von Maršak und Il’in formulierten Ansprüchen an eine „wissenschaftlich-künstlerische“ Literatur.14 Dieser Forderung zur Schaffung einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur schloss sich auch Abram Palej an, der noch bis zuletzt für den Erhalt der „Wissenschaftlichen Fantastik“ als eigenständiges Genre gekämpft hatte. Jetzt fügte er sich den neuen Vorgaben, sprach aber wiederholt von „wissenschaftlich-technischer Fantastik“15, deren Hauptaufgabe es sei, „in klaren, künstlerischen Bildern“ die Zukunft darzustellen, denn die „Erbauer des Sozialismus“ wollten wissen, wie ihr Ziel aussehe, dem sie entgegenstreben.16
12
Als große Meister, die ein „reiches Erbe der Vergangenheit“ hinterlassen hätten, wurden neben Leonardo da Vinci und Lord Byron, Kurd Lasswitz (1879–1910), Jules Verne, Camille Flammarion (1842–1925), Bernhard Kellermann (1879–1950) und H. G. Welles genannt, als sowjetischer Vorläufer wurde einzig Aleksej Tolstojs Hyperboloid des Ingenieurs Garin einmal kurz erwähnt. Ebd., S. 2.
13
Komarov, Vladimir; Fersman, Aleksandr; Gubkin, Ivan; Vasil’ev, V.A.; Lapirov-Skoblo, Michail: Socialističeskij zakaz ljudej nauki, in: Bor’ba za techniku 17–18 (1934), S. 3–8.
14
Tolstoj, Aleksej; Gladkov, Fedor; Kataev, Valentin; Aseev, Nikolaj; Kupala, Janka; Evdokimov, Ivan; Romanov, Pantelejmon; Bill’-Belocerkovskij, Vladimir; Bažan, Mykola; Il’in, Michail: Otvetnoe slovo pisatelej našej strany (anketa „bor’by za techniku“), in: Bor’ba za techniku 17–18 (1934), S. 9–15.
15
Palej, Abram: Technika i naučno-chudožestvennaja fantastika, in: Bor’ba za techniku 17–18 (1934), S. 19–22.
16
Ebd., S. 22.
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Diese Integration der „wissenschaftlichen Fantastik“ in die wissenschaftlich-künstlerische Literatur als dasjenige Element, das die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft beschreibe, hatte Michail Il’in schon in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress vorgeschlagen: „Echte wissenschaftliche Fantastik darf nicht auf der willkürlichen Kombination von Bekanntem begründet sein, sondern muss sich aus den notwendigen Folgen der neuen Bedingungen ergeben. Vor allem ist dies für das Buch über die Zukunft anwendbar. Von allen Seiten hören wir Stimmen: Geben Sie uns Bücher über die Zukunft. Das ist kein Zufall. Das ist eine Tatsache von enormer Wichtigkeit [...] In einer Zeit, in der das faschistische Deutschland versucht, sich auf seine Vergangenheit zu stützen, in der die raubtierähnlichen Barbaren in Horden durch Europa ziehen, wollen wir uns auf die Zukunft stützen.“17
Die Zukunftserkenntnis müsse man aber an ein neues Postulat knüpfen, das wie in der Mathematik gesetzt werden müsse: „Doch wie soll man sie erkennen, die Zukunft?/ Es gab einmal einen gewissen Mathematiker Lobačevskij. Er führte in die Geometrie ein neues Postulat ein, eine neue Voraussetzung, und von der aus hat sich die ganze Geometrie verändert. Lobačevskij schuf eine Welt, die sich von unserer unterschied, doch diese Welt war nur eine ausgedachte Welt. Jetzt ist in unsere Welt zu der Zahl grundlegender Axiome und Postulate der Welt – nicht auf dem Papier, nicht in der Einbildungskraft des Menschen, sondern in der Wirklichkeit – eine neue Voraussetzung hinzugekommen. Diese Voraussetzung ist der Sozialismus.“18
Was dieser Idee einer imaginären Berechnung zukünftiger technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen aber zugrunde lag, war die der marxistischen Dialektik eigene Vorstellung von einem qualitativen Sprung, der die historischen Entwicklungen immer wieder gekennzeichnet habe. Der Michail Il’in nahe stehende Kritiker und Prosaautor Aleksandr Ivič (Pseudonym von Ignatij Ignat’evič Bernštejn, 1900–1978) hatte diese „wissenschaftliche“ Antizipation der Zukunft mit Hilfe der Einbildungskraft bereits 1930 in seinem Büchlein Abenteuer der Erfindung (Приключения изобретения) versucht zu systematisieren, indem er soziale, politische und ökonomische Bedin17 „Подлинная научная фантастика должна быть основана не на произвольном комбинировании
известного, а на выведении необходимых следствий из новых условий. Прежде всего это применимо к книге о будущем. Со всех сторон слышим мы голоcа: дайте книгу о будущем. Это не случайно. Это факт огромной важности. [...] В то время как фашистская Германия пытается опереться на свое прошлое, на то прошлое, когда звероподобные варвары ордами ходили по Европе, мы хотим опереться на будущее.“ Il’in: Reč’ t. Il’ina, S. 216.
18 „Но как его узнать, это будущее?/ Был когда-то математик Лобачевский. Он ввел в геометрию новый
постулат, новое условие, и от этого вся геометрия перестроилась. Лобачевский создал мир, отличный от нашего, но этот мир был только воображемым миром. Сейчас на наших глазах в число основных аксиом и постулатов мира – не на бумаге, не в воображении человека, а в действительности – введено новое условие. Это условие – социализм.“ Ebd.
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gungen evaluierte, die angefangen von den Mythen des Altertums qualitative Sprünge in der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung der Menschheit gebracht haben.19 Genau diese technisch-wissenschaftlichen Sprünge versuchte Michail Il’in „künstlerisch“ in seinen „Erzählungen“ zu antizipieren. 20 Il’in hatte nach einem Studium der Chemie seit 1924 zunächst in der von seinem Bruder Samuil Maršak herausgegebenen Kinderzeitschrift Novyj Robinzon angefangen Wissenschaftsprosa zu schreiben, ehe er auch in anderen Zeitschriften publizierte.21 Ab 1927 erschienen seine ersten populärwissenschaftlichen Kinderbücher, deren Buchtitel noch stark an den Erzählformen einer „unterhaltsamen“ Wissenschaftsliteratur orientiert waren. Sie handelten von der Geschichte der künstlichen Beleuchtung in Die Sonne auf dem Tisch (Солнце на столе, 1927), der Geschichte der Zeitmessung in „Wie spät ist es?“ (Который час?, 1927), der Geschichte der Schrift in Schwarz auf Weiß (Черным по белому, 1928), von der Funktion der Wohnungseinrichtung in 100000 x Warum (Сто тысяч почему, 1929) sowie der Geschichte des Automobils in Wie das Automobil laufen lernte (Как автомобиль учился ходить, 1930). Alle fünf Broschüren nahm Il’in in stark überarbeiteter Form in sein Buch Erzählungen über Dinge (Рассказы о вещах, 1936) auf.22 Einen Namen nicht nur als unterhaltsamer Kinderbuchautor, sondern als politisch agierender Wissenschaftsautor machte er sich allerdings erst mit dem schon im Erscheinungsjahr 1930 mehrmals neu aufgelegten Werk Erzählung über den großen Plan (Рассказ о великом плане), das die tatsächlichen und beabsichtigen Erfolge und vor allem glorreichen Perspektiven des ersten Fünfjahresplanes von 1928 beschrieb.23 Unter anderem aufgrund dieses Buches war Il’in auch in 19
Nach einer ersten Auflage 1930 erschienen noch zwei überarbeitete und erweiterte Auflagen 1935 und 1939, ehe in den sechziger Jahren nochmals zwei Auflagen (1962; 1966) einer gänzlich überarbeiteten Fassung publiziert wurden, die 1990 als „wissenschaftlich-künstlerische Erzählungen“ ein weiteres Mal verlegt wurden. Hier zitiert nach der zweiten überarbeiteten Auflage Ivič, Aleksandr: Priključenija izobretenij (Izdanie vtoroe, pererabotannoe), Leningrad 1935. Zu Ivič’ Verhältnis zu Il’in vgl. Ivič, Aleksandr: Tvorčestvo M. Il’ina, Moskva 1956.
20
Vgl. Il’in, Michail: Fabrika buduščego. Očerk, in: Vokrug sveta 17 (1927), S. 25–28; Ders.: Ėlektrifikacija byta. Očerk, in: Vokrug sveta 21 (1927), S. 27–29; Ders.: Transport buduščego, in: Vokrug sveta 24 (1927), S. 21–24.
21
Selber Sohn eines Vorarbeiters in einer Chemiefabrik bei Voronež, hatte Il’in nach der Revolution begonnen Chemie am Technologischen Institut in Petrograd zu studieren. Er arbeitete zwar nach Studiumsabschluss noch als Aspirant und dann als Ingenieur in einer Leningrader Chemiefabrik, doch aufgrund einer chronischen Lungenerkrankung widmete er sich schon bald ganz der Aufgabe einer neuen Form der Wissenschaftspopularisierung in unterschiedlichen illustrierten Zeitschriften. Zu den Lebensdaten von Ilja Maršak (Michail Il’in) vgl. Ljapunov: M. Il’in. Kritiko-biografičeskij očerk; Gejzer: Maršak, S. 37–39; Ivič: Tvorčestvo M. Il’ina.
22
Vgl. Ivič, Aleksandr: Tvorčestvo M. Il’ina, Moskva 1956.
23
Beim Malik-Verlag erschien das Werk in einer „Vom Autor für Deutschland bearbeiteten Übersetzung“ in einer Buchausstattung von John Heartfield 1932 unter dem Titel Fünf Jahre, die die Welt verändern, der natürlich eine Anspielung auf John Reeds Bestseller über die Oktoberrevolution Ten Days that Shook the World (1919) darstellte. Vgl. Il’in, Michail [Iljin, M.]: Fünf Jahre, die die Welt verändern. Erzählung vom
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die Vorbereitungen zu einer grundsätzlichen Reorganisation der sowjetischen Kinderliteratur seit Anfang der 1930er Jahre insbesondere durch Gor’kij und Maršak involviert.24 In diesem Kontext entstanden dann auch in Absprache mit Gor’kij seine weiteren Texte zu den Großbaustellen des Sozialismus, der Kollektivierung und Industrialisierung des Landes sowie insbesondere zu den weiter reichenden Plänen zur Umgestaltung der Natur. 1935 fasste Il’in diese verstreut publizierten „Erzählungen“ zu seinem zweiten „wissenschaftlich-künstlerischen“ Buch Berge und Menschen. Erzählungen von der Umgestaltung der Natur (Горы и люди. Рассказы о перестройке природы) zusammen.25 Ein drittes geplantes Buch, das ein „Bild der Zukunft“ zeigen sollte, kam jedoch nicht mehr zustande.26 Das zentrale Thema dieser „Erzählungen“ war die Neugestaltung kultureller Räume und imaginärer Geografien durch den Aufbau des Sozialismus. Seit dem ersten Fünfjahresplan hatte sich aufs Landesinnere bezogen ein neuer geographischer Diskurs entwickelt, in dem Moskau das symbolische und kulturelle Zentrum bildete, von dem aus die Peripherie nach und nach urbar gemacht, industrialisiert und zivilisiert wurde. Il’in war mit seiner Erzählung vom großen Plan einer der zentralen Popularisatoren dieses neuen Raumkonzeptes. Der von Gor’kij geförderte junge Geograf Nikolaj Michajlov sprach 1933 das erste Mal von einer „Neuen Geografie“ des Landes, in dem kein Berg mehr unangetastet blieb, ganze Landstriche umgestaltet, Flüsse umgeleitet, Wüsten zu Oasen verwandelt werden sollten und neue industrielle Zentren und Siedlungsgebiete entstanden.27 Diese neue, ganz auf das Landesinnere konzentrierte sowjetische Geografie fand ihre imaginäre Ausgestaltung insbesondere in literarischen und filmischen Raumkonstruktionen, wozu in den letzten Jahren eine Reihe von Studien erschienen ist.28 großen Plan, Berlin 1932, S. 2, 4; Hier zitiert nach der Originalfassung auf Deutsch Ders.: Die Erzählung vom großen Plane, Engels 1935. 24
Ljapunov: M. Il’in, S. 13.
25
Il’in, Michail: Gory i ljudi. Rasskazy o perestrojke prirody, Leningrad 1935. Deutsch zitiert nach: Berge und Menschen. Erzählungen von der Umgestaltung der Natur, Wien 1946.
26
Vgl. Gor’kij, Maksim: Predislovie, in: Il’in, Michail: Gory i ljudi. Rasskazy o perestrojke prirody, Leningrad 1935, S. 3–5, S. 5.
27
Vgl. Michajlov, Nikolaj: Novaja geografija, in: Naši dostiženija 10 (1933), S. 2–22; Dobrenko, Evgeny: The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era, in: Dobrenko, Evgeny; Naiman, Eric (Hg.): The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle/London 2003, S. 163–200.
28
Vgl. Smith, Jeremy (Hg.): The Landscape of Stalinism; Beyond the Limits. The Concept of Space in Russian History and Culture. Helsinki 1999; Widdis, Emma: Visions of a New Land. Soviet Film from the Revolution to the Second World War. Yale 2003; Dies.: Borders. The Aesthetic of Conquest in Soviet Cinema of the 1930s, in: Journal of European Studies 30 (2001), S. 401–411; Geldern, James von: The Centre and the Periphery. Cultural and Social Geography in the Mass Culture of the 1930s, in: Whige, Stephen (Hg.): New Directions in Soviet History, Cambridge 1992, S. 62–80; Frank, Susanne: ‚Sibir‘, Sibir‘ ... russkij kraj’. Die sibirische Thematik im sowjetischen Film zwischen 1928 und 1947, in: Wiener Slawistischer Almanach 47 (2001), S. 99–116; Gestwa, Klaus: Technologische Kolonisation und die Konstruktion des Sowjetvolkes. Die Schau- und Bauplätze der Stalinistischen Moderne als Zukunftsräume, Erinnerungsorte und
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Was Il’ins Texte von diesen Raumkonstruktionen unterschied, war ihr „künstlerischer“ Anspruch, ähnlich wie Lobačevskij für die imaginäre Geometrie, über eine „imaginäre Geographie“ die erzählerischen Bedingungen auszuloten, um eine qualitativ neue Sicht auf die Umgestaltung der Natur nicht nur im sowjetischen Rahmen, sondern im globalen Maßstab zu bekommen. Dafür nahm er gegenüber der tradierten Wissenschaftspopularisierung eine dreifache Verschiebung der Erzählerperspektive vor, die erstens im Sinne eines „operativen“ Schriftstellers in der engagierten Subjektivierung durch einen teilnehmenden Beobachter bestand; zweitens sollte durch eine temporale Dynamisierung des Beobachterobjekts die Veränderlichkeit der Dinge und Fakten vor Augen geführt werden und drittens wollte er durch eine synthetisierende Globalisierung des Betrachterstandpunktes eine quasi göttliche Perspektive auf die irdische Menschheits- und Naturgeschichte vorführen. Den ersten Schritt von der populärwissenschaftlichen Publizistik zur belletristischen Fiktion vollzog Il’in, indem er ganz im Sinne, wie es Sergej Tret’jakov in seiner Literatur des Fakts propagiert hatte, den Erzähler zum (fiktionalen) Erbauer von Wirklichkeiten erklärte, der sein Sujet „aus dem Leben selbst“ entwickele, nicht als distanzierter Zuschauer, sondern als erregter Teilnehmer: „Die Welt erregt uns, weil wir selber, unser ganzes millionenfaches Kollektiv, an deren Umbau teilnehmen. Der Zuschauer wird zum Erbauer, daher tritt in dem neuen Buch an die Stelle der Beschreibung die Handlung. Das Sujet entsteht aus dem Leben selbst, man braucht es sich nicht künstlich ausdenken. Jedes Ding erweist sich als ein Problem. Der leidenschaftslose Ton des Beobachters eines Ereignisses wird gegen den erregten Ton des Teilnehmers ausgetauscht: gelingt es oder gelingt es nicht?“29
Es ist genau diese intensive Verbindung zwischen Zuschauer und Erbauer, Beschreibung und Handlung, die Gor’kij in seiner Rede als typisch für die Mythen und Märchen der „urmenschlichen“ Kultur charakterisiert hatte, deren kreative Einbildungskraft „aus dem Leben“ selbst, und nicht aus künstlich ausgedachter Abstraktion entspringe, die Il’in hier als engagierte Subjektivierung durch den Erzähler propagiert.
Handlungsfelder, in: Damir-Geilsdorf, Sabine; Hartmann, Angelika; Hendrich, Béatrice (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung. Hg. v.. Münster 2005, 73–115; Ders: Sowjetische Zukunfts- und Erinnerungslandschaften. Die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“ und die Schaffung eines neuen Zeit- und Raumbewusstseins, in: Kaufmann, Stefan (Hg.): Ordnungen der Landschaft. Natur und Raum technisch und symbolisch entwerfen, Würzburg 2002, S. 117–132. 29 „Мир волнует нас потому, что мы сами, всем многомиллионным коллективом, участвуем в его
перестройке./ Зритель превращается в строителя, поэтому на место описания в новую книгу приходит действие. Сюжет возникает из самой жизни, его не приходится выдумывать искусственно. Каждая вещь оказывается проблемой. Беспристрастный тон наблюдателя сменяется возволнованным тоном участника событий: выйдет или нет?“ Il’in: Reč’ t. Il’ina, S. 215.
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Dabei sind es nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikte, die den Verlauf der Erzählung bestimmen, sondern es ist das dynamische Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt. Bisherigen populärwissenschaftlichen Darstellungen fehle dieses Bewegungsmoment, deswegen seien sie langweilig, stellten eine „ausgedachte Welt“ (мир выдуманный) dar, wie Il’in in der Einleitung zu Berge und Menschen schreibt: „Unlängst fand ich unter meinen alten Büchern ein abgegriffenes, langweiliges Bändchen in einem Pappeinband./ Es war eine ‚Geographie aller Erdteile‘ [...] Ich schlug das Buch auf und betrachtete die mir aus der Kindheit vertrauten Bilder./ Eine Koralleninsel. Eine Tropfsteinhöhle. Tanz auf dem gigantischen Baumstumpf eines Affenbrotbaumes. Witwenverbrennung in der Stadt Benares. Ein italienisches Milchmädchen auf einem Esel. [...] Alle diese Tropfsteinhöhlen und Koralleninseln waren blass und farblos. Aber trotzdem war jedes Bild eine Oase in einer eintönigen Wüste. Kein Wunder! [...]Hier fand man so ungefähr alles, was es tatsächlich in der Welt gibt. Bloß eine wichtige Sache fehlte./ Die Zeit fehlte./ Es war eine Traumwelt, in der die Zeit stillstand.“30
Diese temporale Dynamisierung der „Geographie aller Erdteile“ werde aber durch die Knüpfung von Zusammenhängen und Verbindungen zwischen den einzelnen Wissensgebieten erreicht, denn: „Tausende von Menschen studieren in Bibliotheken und Laboratorien, jeder sein eigenes Fach, und selten weiß einer von ihnen, was im Nachbarlaboratorium, in der Nachbarwissenschaft vor sich geht.“31 Genauso würden Gebiete, Regionen, Länder, Kontinente durch Grenzen voneinander getrennt, ohne dass man die „Welt in ihrer Gesamtheit“ kennen lernen könne. Dies sei aber eine „ausgedachte“, keine wirkliche Welt: „In der wirklichen Welt liegen die Dinge nicht starr und unbeweglich in Fächern, sondern sie bewegen sich, stoßen zusammen, wachsen, entstehen, vergehen, ändern sich selbst und ändern einander.“32 Dynamisierendes Erzählen über die Wissenschaften bedeute also Zusammenhänge herzustellen, Dinge in Bewegung zu versetzen und vor allem sie in ihrer Wechselwirkung und Verän30
Il’in, Michail [Iljin, M.]: Berge und Menschen. Erzählungen von der Umgestaltung der Natur, Wien 1946, S. 7f. („Недавно я нашел среди своих старых книг рябую, скучную книжку в картонном переплете./ Это была ‚География всех частей света‘. [...] Я раскрыл ее и стал смотреть знакомые с детства
иллюстрации./ Коралловый остров. Сталактитовая пещера. Бал не пне гигантского дерева – баобаба. Сожжение вдовы в городе Бенаресе. Итальянская молочница на осле. [...] Все эти сталактиты и коралловые острова были бледные и бесцветные. И все-таки каждая иллюстрация была чем-то вроде оазиса в однообразной пустыне. Еще бы! [...] Здесь было как будто все, что на самом деле бывает на свете. Но одной важной вещи нехватало. Нехватало часов. Это был сонный мир, в котором время остановилось.“ Il’in: Gory i ljudi, S. 7).
Berge und Menschen, S. 9 („Тысячи людей в библиотеках и лабораториях изучают каждый свое дело, но мало кто знает, что делается за стеной, в соседней лаборатории, с соседней науке.“ Il’in: Gory
31 Il’in:
i ljudi, S. 9). 32 Il’in: Berge und Menschen, S. 9 („В настоящем мире вещи не лежат неподвижно по полкам, а движутся,
сталкиваются, растут, рождаются, умирают, изменяются сами и изменяют одна другую.“ Il’in: Gory i
ljudi, S. 8).
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derbarkeit zu zeigen. Um aber den höheren Sinn dieser Zusammenhänge und Veränderungen zu verstehen, müssen sich nicht nur die Betrachterstandpunkte verändern, sondern auch das Sehen selber. Wie der Kinoapparat durch die technische Apparatur die Wahrnehmung der Dinge veränderte, muss auch die „geographische Karte“ kinematographisiert werden: „Es gibt eine lebende Photographie: den Film. Eine lebende geographische Karte gibt es noch nicht. Wenn es aber eine solche lebende Landkarte gäbe, so würden wir die merkwürdigsten Dinge darauf zu sehen bekommen./ Vor unseren Augen würde sich Amerika langsam von seinem Platze fortbewegen und in der Richtung nach Asien durch den Stillen Ozean davonschwimmen. [...] Wir würden bemerken, dass die Meere nicht unveränderlich sind, dass sich ihre Umrisse verändern wie die des Wassers in einem Teller, wenn man den Teller schaukelt. Wenn das Meer gegen das Festland vorrückte, würde es ganze Länder überschwemmen und immer neue Buchten, Meerengen, Inseln und Landengen bilden. [...] Die schwarzen, verzweigten Linien der Flüsse auf der Karte würden sich bewegen, sich verlängern und verkürzen. [...] Dann würde es uns klar werden, dass jeder Fluss sein eigenes, mit Abenteuern, Kampf und Arbeit erfülltes Leben führt. [...] Die Flüsse auf der lebenden Karte würden einen Kampf miteinander führen, sich gegenseitig ihre Nebenflüsse abspenstig machen und den Nachbarn ihre Quell- und Stromgebiete rauben. [...] Das, was früher zufällig und rätselhaft schien – Veränderungen von Flussläufen, eine zerrissene Bergkette, die gewundene Küstenlinie des Meeres –, das würden wir jetzt verstehen wie ein plötzlich gelöstes Rätsel.“33
In dieser Vision einer „lebenden Landkarte“ bilden nicht der einzelne Mensch oder auch das gesamte Kollektiv der Sowjetunion das Subjekt, von dem aus die Erzählung perspektiviert wird, sondern es ist ein quasi göttlicher Blick eines allwissenden Erzählers, der die gesamte Erde auf eine bewegte Landkarte projiziert und in ihrer Jahrmillionen dauernden Entwicklung von der menschlichen Vorzeit bis in die ferne Zukunft überschaut. Aus dieser Perspektive verschwinden aber die politischen und gesellschaftlichen Grenzen zwischen den Menschen vollkommen, während gleichzeitig die Flüsse, Berge, Ozeane, Kontinente belebt werden, sich trennen und vereinigen, von einander fortgehen, miteinander kämpfen und sich Verletzungen zufügen, eben ein „eigenes Leben, voller Abenteuer“ führen.
Berge und Menschen, S. 128–131(„Есть живая фотография – кино. Живой географической карты еще нет. Но если бы такая живая карта существовала, мы увидели бы на карте странные вещи./ На наших глазах Америка тихо снялась бы со своего места и поплыла по направлению к Азии – через Великий океан. [...] Мы заметили бы, что моря не остаются неизменными, что они меняют свои очертания, как вода на тарелке, если тарелку покачивать. Наступая на сушу, море затопляло бы целые страны, образуя все новые и новые заливы, острова, перешейки. [...] Черные веточки рек шевелились бы и росли. [...] Нам стало бы ясно, что у каждой реки своя жизнь, полная приключений. [...] Реки на живой карте воевали бы между собой, отнимая друг у друга притоки, захватывая у соседок верховья и бассейны. [...] То, что раньше казалось случайным и загадочным: поворот реки, разорванная горная цепь, извилина морского берега, теперь стало бы понятным, как внезапно решенная задача. “Il’in:
33 Il’in:
Gory i ljudi, S. 118–121).
Die Poetik wissenschaftlich-künstlerischer Expeditionen | 315
Gleichzeit ermöglicht erst diese maximale narrative Distanz zum Geschehen den Sinn der Geschichte zu erfassen: was aus der Nähe betrachtet zufällig und rätselhaft wirkte, wird nun verständlich „wie ein plötzlich gelöstes Rätsel“. Menschliche Geschichte wird zum Teil einer die ganze Erde umfassenden Globalgeschichte, deren Hauptmerkmal nicht Kontinuität, sondern permanente Veränderung und Revolutionen sind.34 Doch während all diese Brüche und Verschmelzungen bislang zufällig und ungesteuert stattgefunden hätten, gelte es nun mit Hilfe eben des „wissenschaftlichen Blicks“ auf die Welt, die Berge und Flüsse, das Klima und das Erdinnere sich untertan zu machen, die „Riesen“ der Natur zu befehligen.35 Wie in einem Laboratorium baut die Wissenschaft die Natur um, schafft neue Städte und Industrieanlagen, um sie in eine dem Menschen dienliche Ordnung zu bringen.36 Genau diese „lebende Landkarte“, die Michail Il’in hier wie einen Kinofilm mit sich ständig beschleunigenden Einstellungen durchspielt, zitierte dessen Bruder Samuil Maršak in seiner Rede über Kinderliteratur auf dem Schriftstellerkongress ausführlich als Muster für die zu schaffende „wissenschaftlich-künstlerische“ Literatur.37 Er führt sie als ein Beispiel an, wie das vernachlässigte Gebiet einer Literatur über Abenteuer und Reisen neu besetzt werden könne. Analysiert man sie als ein solches paradigmatisches Beispiel für eine neue spannende Jugendliteratur, dann finden sich Bezüge zur Abenteuerliteratur bei Il’in jedoch höchstens auf einer ganz grundsätzlichen Ebene der Perspektivierung und der Metaphorik. Denn in ihrem utopischen Synthetisierungsanspruch einer globalen Menschheitsgeschichte aus einer quasi göttlichen Perspektive schafft Il’in einen imaginären Rahmen, der Abenteuergeschichten im bisherigen Sinne anachronistisch und sinnlos erscheinen lässt: Sie verlieren als Flucht- oder Expeditionsbewegungen aus der eigenen Zivilisation an die imperiale Peripherie ihre narrative Legitimität. Gab es doch auf der „lebenden Landkarte“ keine vermeintlich „weißen Flecken“ mehr, auf denen ein Abenteurer auf der Suche nach „starken Gefühlen“ seine „schwarzen Fantasien“ ausleben konnte. Stattdessen wird die „imperiale“ Landkarte selber zum bislang blinden Fleck erklärt, auf der Amerika und Europa als koloniale Weltmächte und Afrika und Asien als kolonisierte Peripherie nicht wieder zu erkennen sind und statt dessen ganze Kontinente und Meere, Flüsse und Berge, Wüsten und Wälder neu geordnet werden können. Entsprechend verschwinden auch die exotischen Landschaften (Koralleninsel, Tropfsteinhöhle), wilden Leidenschaften (Tanz auf dem Affenbrotbaum, italienisches Milchmädchen) und archaischen Riten (Witwenverbrennung), wie sie in der von Il’in einleitend zitierten „Geographie aller Erdteile“ geschildert werden. An ihre Stelle treten die vom Menschen „belebten“ natürlichen und technischen Dinge, die diese alte fremde Kolonialwelt ersetzen. Und zwar als „humanisierte“ Wesen, die mit Hilfe der Motive und Metaphern des klassischen Abenteuerromans und des Märchens eine „neue Geographie“ konstituieren: „Leben und Abenteuer des Kan34
Vgl. ebd., S. 122.
35
„Unsere Aufgabe ist es, die Riesen zu befehligen“ („Наше дело управлять великаном“), Ebd., S. 181.
36
Vgl. ebd., S. 209.
37
Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S.32.
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dymstrauchs“, „Wie man einen Schatz findet“, „Eine Armee von Riesen“, „Eine fliegende Wetterwarte“, „Tagebuch einer Magnetnadel“, „Der Krieg in der Wüste“, „Schlüssel zu fünf Schlössern“, „Etwas, was nicht sein kann“ oder „Die Flüsse reichen einander die Hand“ lauten die Zwischenüberschriften.38 Die „wissenschaftliche“ Neuordnung „der lebenden Landkarte“ wird durch eine „künstlerische“ Humanisierung der „umgebauten“ Dinge und Natur ergänzt. Was mit dieser Humanisierung der Natur und der technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften als mythische und märchenhafte Wesen aber vor allem erzielt wird, ist eine Domestizierung und Beschwichtigung der Ängste und Schrecken, die in der Moderne an außer Kontrolle geratene oder missbrauchte technisch-wissenschaftliche Innovationen geknüpft waren. Ähnlich wie in Viktor Šklovskijs Konzept eines „Neuen Sehens“ werden hier durch die engagierte, dynamisierte und globalisierte „Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes“39 der Fünfjahresplan und die Umgestaltung der Natur als ein künstlerisches Projekt vorgestellt, das eine narrative Entzauberung der Welt und eine mythische Überhöhung menschlicher Allmachtfantasien mit Bezug auf mediale und technische Erfindungen beschwört.40 Diese Allmachtfantasien stellen aber nicht mehr die „verrückten“ Obsessionen eines isolierten Wissenschaftlers dar, der von der Gesellschaft entfremdet aus egoistischem Machtstreben seine Psychowaffen und Schreckensmaschinen entwickelt, sondern die utopischen Visionen einer kollektiven Wissenschaftlerelite, die im Zentrum der Macht angelangt ist.41 Dabei zielte 38
„Жизнь и приключения Кандыма“, „Как найти клад“, „Армия великанов“, „Летучая обсерватория“,
39
Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, in: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa (1916), München 1994, S. 3–35, S. 25.
40
Fragt man nach einer diskursgeschichtlichen Verortung dieses globalen Blicks, dann erinnert er auch an Konstantin Ciolkovskijs kosmistische Essays wie Das lebende Universum (Живая вселенная), in dem die Umgestaltung der Erde zum Nutzen der Menschheit nur eine Übergangsetappe darstellte, da deren Ressourcen selbst bei einer Besiedelung der Ozeane nicht ausreichen würden, um die rasant ansteigende Erdbevölkerung zu versorgen, weswegen man sich auf den Weg machen müsse zur Besiedelung der Milchstraße. Auch wenn Il’ins Erzählungen von dieser Fluchtvision nichts wissen und ganz aufs sowjetische Diesseits konzentriert sind, sind beide Erzählverfahren sich jedoch ganz ähnlich in der Beseelung und Belebung aller Dinge aus einer maximalen kosmischen Distanz zum Erzählten heraus. Vgl. Ciolkovskij, Konstantin: Das lebende Universum (1918), in: Groys, Boris; Hagemeister, Michael (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005, S. 309–350.
41
Entsprechend stellt die Akademie der Wissenschaften der UdSSR bei Il’in das imaginäre Machtzentrum dieser neuen Elite dar: „Ich habe gesagt, dass es noch keine lebende Karte gibt. Aber das ist nicht wahr. Ich selbst habe eine lebende Karte gesehen. Es war im Herbst 1933, in der Akademie der Wissenschaften./ Der große Konferenzsaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Es fand eine allgemeine Sitzung der Mitglieder der Akademie statt. [...] Neben dem Rednerpult hing eine Karte der Sowjetunion, die fast bis zur Decke hinaufreichte./ Und plötzlich begann die Karte zu leben. Strom wurde eingeschaltet, und auf der Karte flammten die roten Pünktchen der Staudämme auf, die hellblauen Flächen der bewässerten Felder, die roten Kapillarröhren der Kanäle, die grünen Streifen der Wälder. Wie die Adern einer Hand anschwellen, wenn man sie abbindet, so schwollen oberhalb der Dämme die blauen Verästelungen der Flüsse an und
„Дневник магнитной стрелки“, „Ключ к пяти замкам“, „То, чего не может быть“, „Реки возьмутся за руки“, Il’in: Gory i ljudi, S. 36, 133, 135, 159, 164, 171, 182, 198.
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sie auch darauf, jene im Bild des „Mad scientist“ personifizierte moderne „Angst und Abscheu vor der Einbildungskraft in den Wissenschaften“ zu überwinden, über die Lorraine Daston schreibt, sie sei bis Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitet gewesen unter den europäischen Wissenschaftseliten.42 Denn angesichts des „Mahlstrom[s] der Veränderung schienen nur noch Fakten die Hoffnung auf definitive Errungenschaften in der Wissenschaft aufrechtzuerhalten“, während die „zügellose Einbildungskraft drohte die Reinheit der Fakten zu verderben, und das ist der Grund, warum sie nicht nur gefürchtet, sondern verabscheut wurde.“43 Konnte die künstlerische Einbildungskraft doch „eine Welt vorspiegeln“, die „lebendiger, liebenswürdiger oder logischer war als die wirkliche Welt“, in der der „schwindelerregende Fortschritt“ keine wissenschaftlichen Gewissheiten mehr ließ und der Beruf des Wissenschaftlers keinen Sinn des Lebens mehr erhellen konnte.44 Mit der künstlerisch-wissenschaftlichen Prosa versucht Il’in diese Kluft zwischen künstlerischer Einbildungskraft und wissenschaftlichen Fakten zu überwinden, indem die Einbildungskraft die „Postulate“ setzt, die den Fakten – den Dingen – Sinn geben. Il’in prägt damit nicht nur eine neue Form der Wissenschaftspopularisierung, die versucht durch künstlerische Verfahren aus den wissenschaftlichen Dingen „lebendige“ Erzählungen zu machen, sondern auch einen neuen, auf die „technische Intelligenz“ zugeschnittenen Berufsethos. Ihm lag die auf Thomas Morus’ Utopia (1516) und Francis Bacons Nova Atlantis (1624) zurückgehende rationalistische Idee eines „Staates der Wissenschaftler“ zugrunde, die der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ unter Teilen der „technischen Intelligenz“ eine gewisse Attraktivität verlieh und dazu führte, dass sie in den folgenden Jahrzehnten immer wieder als Alternative zur wissenschaftlichfantastischen Abenteuerliteratur propagiert wurde.45
erweiterten sich zu den blauen Flecken der Stauseen. Die grün punktierten Linien der Überlandleitungen liefen, Städte und Gebiete untereinander verbindend, über die Karte hin. Die weißen Lichter der Kraftwerke flammten auf.“ Il’in: Berge und Menschen, S. 132ff. („Я сказал, что живой карты еще нет. Но это неверно. Я сам видел живую карту. Это было в Академии наук осенью 1933 года./ Большой конференц-зал был полон. Шло общее собрание академиков. [...] Около кафедры докладчика
высилась чуть ли не до самого потолка карта СССР./ И вдруг карта ожила. Поворот включателя, и на ней вспыхнули красные черточки плотин, голубые пространства орошенных полей, красные капилляры каналов, зеленые полосы лесов. Как вены на руке, перетянутой шнуром, вздувались выше плотин голубые веточки рек, разлились голубыми пятнами озера-водохранилища. Побежали зеленым пунктиром линии электропередач, связывая между собой города и области. Загорелись белые огни электростанций.“ Il’in: Gory i ljudi, S. 122f.). 42
Vgl. Dawston, Lorraine: Angst und Abscheu vor der Einbildungskraft in der Wissenschaft, in: Dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2003, S. 99–125.
43
Ebd., S. 120f.
44
Ebd., S. 117, 121.
45
Zum Fortleben dieser Idee bis zum Ende der Sowjetunion vgl. Oswald, Ingrid: Der Staat der Wissenschaftler. Das Gesellschaftsbild der sowjetischen wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der wissenschaftlichen Phantastik der Sowjetunion, Berlin 1991.
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7 .2 Di e Aust re ibung d e r Exo tik – Pau sto vski js u n d Zuev- Or dynec’ Po e tis ie rungen de r W ü ste 46 „Wir hassen den alten Orient, wir freuen uns über die Ankunft der Kultur in der alten Stadt. Doch wie oft können wir uns der organisch aufkommenden Freude am Neuen rühmen, das wir dem verhassten Alten entgegenstellen? Versuchen wir nicht oft die Moschee mit Tonhämmerchen zu zerstören? Moscheen aber sind kräftige Dinge und man kann sie dafür verehren.“ Michail Loskutov (1934)46
Als die Zentralredaktion für populärwissenschaftliche und Jugendliteratur des 1934 reorganisierten Vereinigten Wissenschaftlich-Technischen Verlags (Объединенное научно-техническое издательство, Abk. ONTI) im Jahr 1935 Vladimir Obručevs Roman Das Sannikovland (1926) und 1936 auch noch dessen Plutonien (1924) neu auflegte,47 lobte man den inzwischen zum Akademiemitglied (1929) aufgestiegenen, renommierten Geographen und Paläontologen zwar in seiner Intention der Wissenschaftspopularisierung, aber seine Darstellung des Umgangs der russischen Forschungsreisenden mit den „wilden“ Ureinwohnern sowie deren Charakterisierung als tierähnliche Menschenfresser wurde als kolonialistische und imperiale Sichtweise scharf kritisiert: „In aller Schärfe fühlt man diesen Beigeschmack großmachtchauvinistischer Geringschätzung, die an Grausamkeit grenzt, in der Beziehung der Reisenden zu den wilden Menschenfressern. Sie verhalten sich ihnen gegenüber wirklich schon so wie gegenüber Tieren, worin sie sich in nichts von jedem beliebigen Kolonisator im Urwald Afrikas oder Südamerikas unterscheiden.“48
Als Obručevs Roman Plutonien im Kontext der Exotisierung der sowjetischen Peripherie (vgl. Abschnitt 2.3) Mitte der 1920er Jahre das erste Mal erschienen war, hatte ein Kritiker das Werk 46 „Мы ненавидим старый Восток, мы радуемся приходу культуры в старый город. Но часто ли можем
мы похвастать органически вошедшей радостью нового, которое мы можем противопоставить ненавистному старому? Не пытаемся лы мы часто мечети разрушать глиняными молотками? А мечети – вещи крепкие и их можно за это уважать.“ Loskutov, Michail: Ėkzotičeskie očerki, in: Naši
dostiženija 5 (1934), S. 153-155, S. 153. 47
Vgl. Obručev, Vladimir: Zemlja Sannikova. Naučno-fantastičeskij roman, Leningrad, Moskva 1935; Ders.: Plutonija. Neobyčajnye puteštvija v nedra Zemli, Leningrad, Moskva 1936.
48 „Еще с большей резкостью этот душок великодержавной пренебрежительности, граничащей с
жестокостью, чувствуется в отношении путешественников к дикарям-людоедам. К ним они относятся уже просто как к животным, ничем не отличаясь в этом от любого буржуазного колонизатора в дебрях Африки или Южной Америки.“ Adamov, Grigorij: Na zapuščennom učastke
detskoj literatury, in: Molodaja gvardija 3/1936, S. 163–166, S. 165. Die gleiche Kritik formuliert auch Žukov, L.: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, in: Molodaja gvardija 8/1938, S. 170– 178, S. 176.
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noch als den ersten „vollkommen geglückten wissenschaftlich-fantastischen Roman“49 gefeiert, jedoch ein Jahrzehnt später hatte sich der kulturpolitische Kontext grundlegend verändert. Denn der Aufbau des Sozialismus und die Umgestaltung der Natur sollten nicht nur die Naturgeographie – wie bei Il’in beschrieben – fundamental verändern, sondern auch die Humangeographie. Nicht nur Moskau und das russische Kernland, sondern die ganze Sowjetunion sollte sich in eine „Union freier Republiken“ verwandeln, in denen die kulturellen und zivilisatorischen Differenzen zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land mehr und mehr verschwanden. Dieser Paradigmenwechsel betraf insbesondere die Nationalitätenpolitik, die in den 1920er Jahren unter Lenins und Stalins Ägide noch die nationale Befreiung vom zaristischen „Völkergefängnis“ in den Vordergrund gestellt hatte, der erst in einem zweiten Schritt die soziale Revolution folgen sollte.50 Im Zuge des Fünfjahresplanes und dann insbesondere nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht gekommen waren, verschärfte man noch die anti-nationalistische und anti-kulturalistische Agitation und propagierte statt dessen eine Erziehung der Massen „im Geist des Internationalismus“ (в духе интернационализма), der eine „ihrem Inhalt nach sozialistische und ihrer Form nach nationale Kultur“ begründen sollte, wie Stalin 1930 ausführte.51 Eine Rekodierung kolonialer Erzählmuster oder gar eine Reproduktion rassistischer Stereotype, wie sie in Obručevs Werken vorkamen, waren in diesem Kontext nicht nur anachronistisch geworden, sondern man hatte ihnen den dezidierten Kampf angesagt.52 So erklärte der spätere Abenteuerschriftsteller Michail Petrovič Loskutov (1906–1940) in dem schon im einleitenden Motto zitierten Aufsatz zur „exotischen Skizze“, dass man angesichts des sozialistischen Aufbaus nicht mehr in Moskau über Mittelasien schreiben könne wie zuvor, als man unbedingt für den unwissenden Leser den Texten ein lokales, exotisches Kolorit geben wollte.53 Diese Zeit sei endgültig vorbei: „Meiner Meinung nach soll ein Moskauer für einen Moskauer schreiben, aber zusammen mit einem Turkmenen, der die turkmenische Vergangenheit genauso hasst wie er die Zukunft liebt.
49
M.: V. A. Obručev. Plutonija, in: Knigonoša 7 (1925), S. 22–23. Vgl. zu Obručevs Romanen Abschnitt 2.3 dieses Buches.
50
Zu den Ansprüchen und Widersprüchen der sowjetischen Nationalitätenpolitik der Jahre 1923 bis 1939 ausführlich vgl. Martin: The Affirmative Action Empire.
51 „Социалистическая по своему сдоержанию и национальная по форме культура“,
vgl. Stalin, Iosif: Ob uklonach v oblasti nacional’nogo voprosa (1930), in: Ders.: Marksizm i nacional’no-kolonial’nyj vopros. Sbornik izbrannych statej i rečej, Moskva 1935, S. 191–198, S. 194. 1925 hatte die Formel noch „proletarisch ihrer Form nach“ gelautet, vgl. Martin: The Affirmative Acition Empire, S. 12.
52
Zu Obručevs Roman vgl. Abschnitt 2.3 dieses Buches.
53
„Es gibt den Standpunkt: Prosaskizzen muss man unbedingt ‚von innen‘ schreiben – das heißt, wenn turkmenisch, dann unbedingt auf turkmenische Art, als ob es ein Turkmene geschrieben hätte. Man nennt viele Lieder, ethnographische Details und ‚turkmenisierte‘ Gespräche. Daraus kann nichts Gutes entstehen.“ („ Есть точка зрения: писать очерки обязательно ‚изнутри‘ – то-есть, если туркменский, то обязательно под туркмена, как если бы то писал туркмен. Приводится много песен, этнографических подробностей и ‚отуркмененных‘ разговоров. Ничего хорошего из этого не получается.“) Loskutov: Ėkzotičeskie očerki, S. 154.
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Dafür muss der Schriftsteller den Orient kennen, genau, er muss die Lebensprozesse organisch verstehen. Die Zeit des zufälligen Umherflatterns durch Asien mit einer Kodakkamera ist vorbei.“54
Dieser Paradigmenwechsel in Hinsicht auf die Darstellung der sowjetischen Peripherie und der Nationalkulturen war aber ein weiterer zentraler Grund, weswegen das Abenteuergenre unter ein generelles Verdikt fiel, handelte es doch nicht nur von der Konfrontation des kolonialen Subjekts mit einer gefährlichen, unzivilisierten Wildnis, sondern immer auch von der Begegnung mit fremden Kulturen und anderen Menschen. Selbst wenn die sowjetische Abenteuerliteratur in den zwanziger Jahren die klischeehaften Darstellungen des „Ostens“ und seine koloniale Unterdrückung durch die westlichen Imperialstaaten scharf kritisiert hatte, behandelte sie doch den asiatischen Raum weiterhin als ein „exotisches“ Gebiet jenseits der sowjetischen Zivilisation, ein Gebiet, wo die Eisenbahnen enden und „andere Orte“ beginnen (vgl. Abschnitt 2.3). Und genau von diesem Paradigmenwechsel von einer „Rekodierung des Exotischen“ im sowjetischen Kontext zu einer „hasserfüllten“ „Zerstörung des Exotischen“ als sozialistisches Aufbruchssignal handelte die auf die Landesperipherien bezogene wissenschaftlich-künstlerische Literatur, wobei es vor allem „der alte Osten“ war, dem man in Moskau besondere Aufmerksamkeit widmete. Dabei ging es neben der Erweiterung der Eisenbahnlinien und Fernstromleitungen, Kommunikationswege und Industrialisierungsprojekte bis zu den Landesgrenzen und Randgebieten vornehmlich um die Hervorhebung der emanzipatorischen, zukunftsgerichteten Perspektiven dieses Umbruchs, der nicht nur zu einer Begrünung der Wüsten führen sollte, sondern auch die Menschen aus ihrer religiösen und kulturellen Versklavung befreite. Allerdings ermöglichte diese Emanzipationsrhetorik im Sinne der Postcolonial Studies nur in den seltensten Fällen ein polyphones Sprechen der Subalternen. Im Gegenteil, der scharfe antikoloniale Duktus gegenüber allen abenteuerlichen und exotisierenden Erzählmustern führte in den kommenden Jahren im Rahmen der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ eher dazu, dass man mehr und mehr Begegnungen mit den Fremden und Anderen aus dem Weg ging. Das war in der Anfangsphase, am Vorabend des Schriftstellerkongresses jedoch noch nicht so eindeutig. Gerade der mit Michail Il’ins Erzählung vom großen Plan wiederholt als Musterbeispiel für wissenschaftlich-künstlerische Literatur genannte erste Kurzroman des bis dahin noch recht unbekannten Schriftstellers und Pravda-Journalisten Konstantin Georgievič Paustovskij (1892–1968) Kara-Bugaz (Кара-Бугаз, 1932) entwickelte eine ganz eigene Poetik der „Eroberung der Wüste“, die explizit alternierende Stimmen und typische Abenteuernarrative in den Text integrierte, um das Ende jeglicher Exotik desto deutlicher zu markieren. 55 Auch Michail Zuev-Ordynec, einer der erfolgreichsten sowjetischen Abenteuerautoren der zwanziger Jahre, 54
„По-моему москвич должен писать для москвичей, но вместе с туркменом, одинкаково ненавидя
55
Vgl. Gor’kij: O temach, S. 108; Kassil’: Reč’ L. A. Kassilja, S. 171; Maršak: Sodoklad S. Ja. Maršaka o detskoj literature, S. 23.
туркменское прошлое и любя будущее. Для этого писателю нужно знать Восток, глубоко, органически понимать процессы его жизни. Время случайного порхания с кодаком по Азии прошло.“ Ebd.
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versuchte sich Anfang der dreißiger Jahre in dem neuen wissenschaftlich-künstlerischen Genre, indem er ausdrücklich eine Zerstörung der Exotik proklamierte und die vermeintlich „befreiten“ Bewohner Mittelasiens in seinen Texten selber zum Sprechen brachte. Diese vom Pathos der Umgestaltung der Natur und Industrialisierung des Landes getragenen Werke orientierten sich dabei an Gor’kijs Diktum, dass man sich die Mythen und Wunschträume einer neuen, besseren Welt nicht „ausdenken“ müsse, da die Wirklichkeit der „urmenschlichen“ Einbildungskraft sie selber hervorbringen werde. Zuev-Ordynec’ und Paustovskijs Poetisierungen der Wüste verkörperten genau jenen Anspruch eines engagierten, dynamischen, synthetisierenden Schriftstellers, der als teilnehmender Beobachter an der Peripherie aufzeichnet, was im Zentrum der Akademie der Wissenschaften auf der „lebenden Karte“ simuliert wird. Konstantin Paustovskij hatte seit Ende des Bürgerkriegs in Moskau als Journalist in verschiedenen Funktionen gearbeitet, 1928 seinen ersten Prosaband mit Erzählungen Entgegenkommende Schiffe (Встречные корабли) und 1929 seinen ersten, wenig beachteten Roman Funkelnde Wolken (Блистающие облака) veröffentlicht, der von einem Seefahrer handelte und auch Abenteuerelemente mit aufnahm.56 1932 erschien dann der Kurzroman Kara-Bugaz, für den Paustovskij eine mehrwöchige Reise um das Kaspische Meer unternommen hatte und der dank der Protektion Gor’kijs umgehend zu einem einschlagenden Erfolg wurde mit mehreren Neuauflagen von Hunderttausenden Exemplaren.57 Im Zentrum des Werkes stehen die titelgebende, im Osten des Kaspischen Meeres liegende extrem salzhaltige Meeresbucht Kara-Bugas und die an sie angrenzende gleichnamige Wüste, ist es doch die geplante industrielle Ausbeutung dieses Sulfatsalzes, aus der sich die Aufnahme des Meerbusens „in den allgemeinen Industrialisierungsplan für die östlichen Randgebiete“ der Sowjetunion motiviert.58 Um sich diesem Industrialisierungsprojekt zur Umgestaltung der Natur zu nähern, reist der Erzähler zuerst ums ganze Kaspische Meer herum, hin und her getrieben von neuen Entdeckungen und Berichten, die mit der Salzerschließung seit dem 19. Jahrhundert zusammenhängen. Dabei untergliedert sich der grob chronologisch geordnete Reisebericht in zehn Kapitel, die 56
Biographische Angaben vgl. Pavlovskij, A. I.: Paustovskij Konstantin Georgievič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 3, Moskva 2005, S. 31–34. Funkelnde Wolken war in dem Charkower Verlag Proletarij erschienen und versuchte Elemente des Romans des Geheimnisses mit psychologischen Charakterbildern der Seefahrer zu vereinen, weswegen er in der Kritik auch als „Gegengewicht“ zur typischen Abenteuerprosa rezipiert wurde, vgl. Levickij, L: Primečanija, in: Paustovskij, Konstantin: Sobranie sočinenij v devjati tomach. Romany i povesti, Bd. 1, Moskva 1981, S. 600–620, S. 610ff.
57
Zu den literaturpolitischen Umständen von Paustovskijs Kurzroman und zum weiteren Schicksal der Meeresbucht Kara Bugas im Kontext der Pläne zur Umgestaltung der Natur bis zum heutigen Tag siehe sehr ausführlich, wenn auch als journalistisches Werk, Westerman, Frank: Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin – Eine Erkundungsreise, Berlin 2003, hier S. 55, 156.
58
Zitiert nach: Paustovskij, Konstantin: Kara-Bugaz (1932), in: Ders.: Sobranie sočinenij v devjati tomach.. Romany i povesti, Bd. 1, Moskva 1981, S. 391–498, S. 474. Dt. zitiert nach: Ders.: Kara-Bugas. Der Mensch erobert die Wüste, Wien 1947, S. 114.
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immer mündliche oder schriftliche, mal unsicher überlieferte, mal unzuverlässig „schwafelnde“, mal wild fantasierende Binnenerzähler zu Worte kommen lassen. Diese alterierenden Stimmen fügen dem bislang Gesagten weitere Geschichten hinzu, während der auktoriale Erzähler mehr und mehr hinter den berichtend dokumentierten Gegenstand zurücktritt, ehe er am Ende auch ganz von der so genannten „Wüstenkrankheit“ erfasst wird, und zwar dem „kühnen Plan der Eroberung der Wüste“, den Wunschträumen von der Verwandlung der trockenen Einöde in einen üppigen Garten mit einem gigantischen Elektrizitätswerk für Solarenergie: „Man braucht sich nichts auszudenken, denn die Wirklichkeit wird alle meine Phantasien übersteigen, und ich werde mich dann schämen. Ich habe keine Phantasie. Aber mir fällt folgendes ein: Sie wissen, es gibt ein fürchterliches Gesetz, die so genannte Entropie. Es besagt, dass keine Energie auf dem Erdball verschwindet, mit Ausnahme der Wärmeenergie, dass sich aber jede Energie in diese Wärmeenergie verwandelt. Die Erde verliert infolge der Ausstrahlung in den Weltraum ununterbrochen Wärmeenergie. [...] Nun also. Kara Bugas und die von den Menschen verfluchten Wüsten werden das Gesetz der Entropie umstürzen. [...] Wir gleichen den Verlust aus. Das ist eine sehr dreiste Herausforderung der kosmischen Gesetze, besonders in den Augen Uneingeweihter. Hier werden wir Sonnenenergie aufsaugen, sie verdichten, in Elektrizität, in Wärme, in Licht, in jede beliebige Energie verwandeln, und dieser Landstrich wird aufblühen, wie vielleicht die üppigsten Gärten nie geblüht haben.“59
Im Stil zwar gänzlich verschieden von Michail Il’in, ist es doch der gleiche Ansatz, die utopischen Visionen einer Umgestaltung der Natur aus der neuen Wirklichkeit erwachsen zu lassen, die gegen die vermeintlich ewigen „kosmischen Gesetze“ aufbegehren. Dabei macht der Text im Changieren zwischen Dokument, Ausgedachtem und Fantasie das Wunschobjekt einer Fata Morgana ähnlich. Gleichzeitig grenzt der Text sich ausdrücklich von kolonialer Abenteuerliteratur und exotischen Orientbildern ab.60 Durchgängig wird der „alte Osten“ mit den unzuverlässigen Mär-
Kara-Bugas, S. 146f. („Придумывать не надо, так как действительность превзойдет все мои выдумки и мне самому станет стыдно. Я не обладаю фантазией. Я думаю вот о чем. Вы знаете, что существует некий страшный закон энтропии. Он говорит, что никакая энергия не земном шаре не исчезает, за исключением тепловой, но всякая энергия превращается в эту тепловую. Земля непрерывно теряет тепловую энергию в результате лучеиспускания в мировое пространство. [...] Так вот, Кара-Бугаз и все эти проклятые людьми пустыни убьют закон энтропии. [...] Мы уравновесим потерю. Это дерзкий вызов космическим законам, особенно в глазах непросвещенных людей. Здесь мы будем высасывать солнечную энергию, сгущать ее, превращать в электричество, в тепло, в свет, в какую угодно иную энергию, и этот край процветет так, как, может быть, никогда не цвели самые пышные сады.“ Paustovskij: Kara-Bugaz, S. 496f.).
59 Paustovskij:
60
Als der Erzähler beispielsweise eines Abends mit seinen Begleitern in Krasnovodsk die Sterne betrachtet, stellt er fest: „Sogar im Orient gibt es Abende, die an die Orientlandschaften unserer Maler und an Gedichte aus dem Orient erinnern“ („Даже на Востоке бывают вечера, напоминающие восточные пейзажи наших художников и восточные стихи“), worauf der eine Begleiter nur „Scheherazade“ ausruft,
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chenerzählern und Mullahs, der Unterdrückung der Frau und patriarchaler Tradition, Opium und Islam, unbekannten Tieren und fremden Lebensweisen hier als brutales und ungerechtes System der neuen sowjetischen Lebensweise gegenübergestellt.61 Auch für den kolonialen (und sowjetischen) Abenteuerroman typische Szenen des physischen Überlebenskampfes, wie Schießereien, das Überleben auf einer einsamen Insel, Begegnungen mit bedrohlich wirkenden Einheimischen, ruft der Text auf, die den „exotisierenden“ Blick des Moskauers verstören.62 Insbesondere der exotisierende „europäische“ Blick wird als westlich-dekadentes Verhalten und langweiliges „Geschwätz“ (болтовня) in der Gestalt des „Sommerfrischlers“ (дачник) Cooper delegitimiert, einer Gestalt, die auf mehrfache Weise auf die Pfadfinder-Figur des gleichnamigen amerikanischen Schriftstellers und dessen Darstellung des Verhältnisses von den „guten“ Weißen zu indigenen Indianern anspielt.63 Das eigentliche richtige Abenteuer des Lebens besteht demgegenüber in der „Wüstenkrankheit“ (пустынная болезнь), der Fantasie von der völligen Umgestaltung des als „grober Fehler der Natur“ („грубая ошибка природы“) gekennzeichneten Wüstengebietes.64 Diese „Wüstenkrankheit“ hat mehr und mehr Protagonisten, denen der Erzähler begegnet, ergriffen, die von einem Salz-Kombinat an der Bucht Kara-Bugas träumen, das sich erst in Ansätzen abzeichnet und von immer neuen Rückschlägen getroffen wird, und doch ist es „realer“ als all die orientalischen Märchen und islamischen Lügengeschichten, die von einem Scheitern orakeln. Die Eroberung der Wüste bewirken in dem Text am Ende nicht die bisher nur im Planungsstadium befindlichen ingenieurstechnischen Großprojekte, sondern – wie bei Il’in auch – die „künstlerider den Ausruf auf die erstaunte Nachfrage wie folgt begründet: „Das arabische Wort ‚Scheherazade‘ ähnelt unserem russischen Worte ‚Wirrwarr‘“ („Aрабское слово ‚Шехерезада‘ похоже на наше слово ‚путаница‘“). Was den anderen Begleiter zu dem Ausspruch provoziert: „Nun setzt noch eine Nachtigall in den Wirrwarr, soll sie doch singen [...] Chorobrych spottete über die vielgepriesene Exotik des Orients.“ („Посадить среди этой путаницы соловья, и пусть поет, – [...] Хоробрых издевался над казенной восточной экзотикой.“) Paustovskij: Kara-Bugas, S. 64 (Paustovskij: Kara-Bugaz, S. 437). 61
So erzählt eine Ingenieurin dem Erzähler gegen Ende des Kurzromans: „Ich bin im Orient aufgewachsen. [...] Und ich denke, etwas wie das künftige Kombinat wird wie ein Blitzschlag in den alten Orient, den Islam, in dieses ganze, völlig versteinerte Leben fahren. Das Kombinat wird die Menschen lesen und schreiben lehren, wird die Hirne aufklären, die Folgen des Nomadentums aufdecken und vernichten.“ ( „я выросла на Востоке. [...] И вот я думаю, что такие вещи, как будущий комбинат, ударят по старому Востоку, по исламу, по всей этой окаменелой жизни, как гром. Комбинат научит грамоте, выправит мозги, вскроет и уничтожит весь ужас кочевого состояния.“) Paustovskij: Kara-Bugas, S. 145f. (Paus-
tovskij: Kara-Bugaz, S. 496). 62
Vgl. beispielsweise die Binnenerzählung zur „Schwarzen Insel“ („Черный остров“) und ihre intertextuellen Rahmungen, Paustovskij: Kara-Bugas, S. 410–432.
63 Cooper mit seinem „englischen Äußeren“ ist nicht nur der typische koloniale Abenteurer, der Exotik und
Abwechslung in der Fremde sucht, aber sich nach dem Moskauer Komfort sehnt, sondern sich auch als Experte für Einheimische und deren Sitten ausgibt und als einziger bedauert, dass die Lehmhütten im Aussterben begriffen sind. Vgl. ebd., S. 459ff. 64
Ebd., S. 465, 489.
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schen“, „krankhaften“ Allmachtfantasien, die aus den widerständigen Dingen und antagonistischen Fakten eine utopische Traumvision schaffen: „Die ganze Nacht hindurch träumte ich von Städten aus regenbogenfarbigem Kristall. Diese Städte erhoben sich aus durchsichtigen Meeren, und ihre unbeweglichen Flammen spiegelten sich in den Gewässern der Buchten. Sommerliche Morgendämmerung rötete sich über ihnen. Es roch nach Nussbaumblättern, die man zwischen den Fingern zerreibt, nach dichtem Laub, nach frischem Wasser und nach Wermut aus Mangyschlak.“65
So endet Paustovskijs Text ganz im Sinne von Gor’kijs Rede auf dem Schriftstellerkongress mit einem zielgerichteten Märchen künstlerischer Einbildungskraft, das die zukünftige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft verspricht zu antizipieren. Zwei Jahre nach Kara-Bugaz hat Paustovskij noch einen zweiten Kurzroman über die Umgestaltung der Natur geschrieben, Kolchis (Колхида, 1934), der von der Kultivierung des subtropischen gleichnamigen Gebietes an der georgischen Küste des Schwarzen Meeres handelt. Hier ist der Bezug zu den „urmenschlichen“ Mythen noch sehr viel deutlicher gegeben, handelt es sich doch um jene subtropische Landschaft, in der Homers Argonauten das Goldene Flies geraubt hatten, dessen mythisches Versprechen von Reichtum und Wohlstand jetzt als ein von den Sowjets künstlich angelegter Garten Eden realisiert wird.66 Gleichzeitig nimmt Paustovskij in Kolchis gegenüber Kara-Buga eine Perspektivverschiebung vor, die einer der prominentesten Abenteuerautoren der 1920er Jahre, Michail Zuev-Ordynec, Kara-Bugas, S. 147f. („Видения городов из сверкающего радугами стекла преследовали меня всю ночь. Города эти подымались из морей и отражались в зеркалах заливов нагромождениями хрусталя и теплых неподвижных огней. Летние рассветы разгорались над ними. Рассветы пахли растертыми в ладонях листьями ореха, густой листвой, шолларскими водами, мангышлакской полынью.“ Paustovskij: Kara-Bugas, S. 497f.).
65 Paustovskij:
66
In den letzten Worten des Kurzromans werden dessen Protagonisten direkt als „neue Odyssee“ ( новые Одиссеи) adressiert, von denen einer explizit den Argonauten-Mythos auf die Gegenwart bezieht: „Legenden bergen in sich die Saat der Zukunft. [...] Ich rede ernsthaft. Der Mensch muss an die Kraft seiner Kunst glauben. Als der Teilnehmer der Fahrt der Argonauten, der Dichter Orpheus, sang und auf der Lyra spielte, hörte das Meer auf zu lärmen. Sie glaubten daran auf naive Weise. Sie glaubten an die Kraft der Kunst, an die Technik – das ist nämlich auch eine Kunst, Genosse Kachiani. So lasst uns an sie glauben, wie die Griechen an die Lyra von Orpheus geglaubt haben. Ihr lasst den Mythos von der Eroberung von Kolchis Wirklichkeit werden, über das goldene Vlies, über die mutige Fahrt der Argonauten.“ („Легенды заключают в себе зерна будущего. [...] Я говорю серьезно. Человек должен верить в силу своего
искусства. Когда участник похода аргонавтов поэт Орфей пел и играл на лире, море переставало шуметь. Они в это наивно верили. Они верили в силу искусства, а техника – то же искусство, товарищ Кахиани. Будем же верить в нее, как греки верили в лиру Орфея. Вы воплощаете в жизнь миф о завоевании Колхиди, о золотом руне, o смелом походе аргонавтов.“) Paustovskij, Konstantin: Kolchida
(1934), in: Ders.: Sobranie sočinenij v devjati tomach. Tom pervyj. Romany i povesti, Moskva 1981, S. 499– 598, S. 594, 598. Zu den Entstehungsumständen des Romans vgl. Westerman: Ingenieure der Seele, S. 156f.
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in seinen wissenschaftlich-künstlerischen Werken noch sehr viel deutlicher vollziehen sollte. Denn sind es in Kara-Bugaz noch vornehmlich die Stimmen „Moskauer“ Schriftsteller und Ingenieure, die zu Worte kommen, werden nun stärker die „indigenen“ Perspektiven auf die sowjetischen Zukunftsprojekte zur Sprache gebracht. Zuev-Ordynec bezieht sich dabei insbesondere auf die Bewohner der östlich von Kara-Bugas liegenden, den Großteil Turkmenistans erfassenden Wüste Karakum. Dieses nach der Wüste Gobi größte Wüstengebiet Zentralasiens, durch das einst die Seidenstraße gegangen und Dschingis Khans Goldene Horden gekommen waren, hatte bereits in den zwanziger Jahren die exotisierenden Fantasien von einem orientalischen Grenzgebiet angeregt.67 Vor allem die Entdeckungen von großen Rohstoffvorräten unter dem Wüstensand regten dann während des Fünfjahresplans die Umgestaltungsfantasien einer „neuen Geografie“ an.68 In den nächsten Jahren folgten daher eine Reihe weiterer wissenschaftlichkünstlerischer Texte über die Wüste, unter anderem von dem schon genannten Michail Loskutov, der der von ihm geforderten neuen Sicht auf den alten Orient in seinem ersten Roman Die dreizehnte Karawane. Aufzeichnungen über die Wüste Karakum (Тринадцатый караван. Записки о пустыне Кара-Кума, 1933) eine literarische Form gab.69 Zuev-Ordynec hatte sich dem Thema der Entexotisierung der südlichen Gebiete der Sowjetunion bereits in zwei Kurzromanen gewidmet, die von abenteuerlichen Begebenheiten im indochinesischen Saigon, Der gelbe Taifun (Желтый тайфун, 1928),70 und im vorsowjetischen Kirgisien, Das Getöse der Wüste (Гул пустыни, 1930),71 handelten. Erst mit der kulturpolitischen Wende Anfang der dreißiger Jahre verabschiedete er sich zwangsläufig vom Abenteuergenre und legte 1933 gleich zwei im Stile der wissenschaftlich-künstlerischen Skizze verfasste Bücher vor. Schon der Untertitel von Der Schatz der Schwarzen Wüste (Клад Черной Пустыни, 1933) deutet mit „Kurzroman über den Kara-Kumsker Schwefel“ (Повесть о Кара-Кумской сере) diese Perspektivverschiebung an: Nicht ein geheimnisvoller Schatz und todesmutige Abenteuer sind der Gegenstand der Geschichte, wie noch der Haupttitel suggerieren könnte, sondern der Aufbau einer Schwefelfabrik mitten in der scheinbaren Ödnis.72 Noch programmatischer ist der Titel 67
So hatte der Autor historischer Abenteuerromane Vasilij Jan (Pseudonycm von Vasilij Grigor’evič Jančevskij, 1874–1954) noch 1928 eine „turkestanische“ Erzählung In den Sandgebieten von Karakum veröffentlicht, vgl. Jan, Vasilij: V peskach Kara-Kuma. Turkestanskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 9 (1928), S. 651–652.
68
Bei wissenschaftlichen Expeditionen der Akademie der Wissenschaften 1925 und 1929, an denen auch der Mineraloge und Wissenschaftspopularisator Aleksandr Fersman teilnahm, war man auf große geologische Reichtümer in der Sandwüste gestoßen. Vgl. Rozenfel’d, Michail: V peskach Kara-Kuma. Predislovie A. E. Fersmana, Leningrad 1930.
69
Loskutov, Michail: Trinadcatyj karavan. Zapiski o pustyne Kara-Kuma, Moskva 1933.
70
Zuev-Ordynec, Michail: Želtyyj tajfun. Povest’, in: Ders.: Želtyj tajfun. Povest’, Leningrad 1928, S. 3–43.
71
Zuev-Ordynec, Michail: Gul pustyni. Istoričeskaja povest’, Moskva 1930.
72
Zuev-Ordynec, Michail: Klad Černoj Pustyni. Povest’ o kara-kumskoj sere, Moskva, Leningrad, Novosibirsk 1933. Dabei spielt der Titel direkt auf ein drei Jahre zuvor von Zuev-Ordynec verfasstes Werk an, und zwar auf die 1930 im Vseminryj sledopyt veröffentlichte „turkmenische Erzählung“ Der Schatz des Hirten-
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des zweiten 1933 publizierten Buches über das gegenwärtige Usbekistan und Turkmenistan, der Die Zerstörung der Exotik (Крушение экзотики, 1933) lautet.73 Schon die Anfangsszene entfaltet ein für den Gesamttext programmatisches Bild: Der Erzähler geht mit einem Fremdenführer, der sich beklagt, dass die Altstadt von Taškent mit der Modernisierung langsam ihren Charme verliere, durch die engen Gassen und über den Basar der usbekischen Hauptstadt. Als sie einem Mirza (soviel wie Stammesältester) begegnen, der sich als Auftragsschreiber auf der Straße sein Geld verdient und auch schon mal für einen analphabetischen Arbeiterkorrespondenten Zeitungsberichte verfasst, wendet sich der Erzähler an diesen mit der Bitte: „ – Brüderchen, – bat ich ihn, – schreib mir bitte den besten Zauberspruch gegen die Begeisterung für Exotik auf./ – Lass das, verschwende nicht nutzlos Geld! – protestierten die anderen und lachten. – Du wirst schon sehen, das hiesige Klima wird bald und restlos diese gefährliche, altertümliche Krankheit ausrotten./ Der Führer verstand nicht, doch er lachte ebenfalls verständnisvoll ...“74
Mit dieser Aufforderung an den Auftragsschreiber und Geschichtenerzähler, in der das erste Mal der Begriff Exotik fällt, bietet Zuev-Ordynec gleichzeitig aber auch einen Schlüssel zur Lektüre seines Romans an, einen Subtext, der durch die zweifache Relativierung der Bitte als nicht verstandener Scherz noch zusätzlich unterstrichen wird: Es ist der Appell, dass sein eigener Text als genau so eine Auftragsarbeit zum Austreiben der Exotik funktionieren möge, indem er an die Stelle der alten kolonialen Hierarchien eine neue sozialistische Wirklichkeit setzt, in der dank wissenschaftlicher Beschwörungsformeln öde Wüsten in florierende Industriebetriebe, in weiße Baumwollfelder oder blühende Gärten verwandelt werden können. Während an allen Orten, die der Erzähler besucht, moderne Wohnbauten, Fabriken und Klubs für das usbekische Proletariat entstehen, verschwinden die Reste islamischer Sitten, feudaler Wirtschaftsformen und rückständiger Weltbilder, bis auch die Moscheen verfallen und absterben: „Heute sind wir in Begleitung eines Ortsansässigen, eines usbekischen Parteimitglieds, viel durch die Stadt gelaufen, wir waren in einem Kollektiv der Ketmen-Macher und haben auch viel über die
Khans (Клад хана-пастуха), die ebenfalls in den Wüstengebieten um den Aralsee spielt und noch ganz den Genrekonventionen des Abenteuergenres folgt mit einem mysteriösen Schatz aus dem Altertum, Schmuggel, Verfolgungsjagd, Schießereien, Orient- und Haremsexotik, östlichen Schönheiten und ausländischen Spionen, vgl. Zuev-Ordynec, Michail: Klad chana-pastucha. Turkmenskij rasskaz, in: Vsemirnyj sledopyt 6 (1930), S. 423–445. 73
Zuev-Ordynec, Michail: Krušenie ėkzotiki, Leningrad 1933.
74 „– Братишка, – попросил я, – напиши ты мне, пожалуйста, самый лучший заговор от увлечения
экзотикой./ – Не надо, не трать даром деньги! – запротестовали все остальные и захохотали. – Вот увидишь, здешний климат скоро и без следа излечит эту опасную, застарелую болезнь./ Гид ничего не понял, но тоже хохотнул понимающе...“ Ebd., S. 10,
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hiesige Landschaft geredet, allerdings über die ökonomische. Das Parteimitglied erzählte uns von den Fabriken und Betrieben, die hier entstehen, auf der antiken heißen Erde. Und nach Ende unseres Spaziergangs schlenderte ich noch in die alte Moschee Tschor-Minor (vier Minarette), die so nach der Anzahl ihrer Minarette benannt ist, die mit himmelblauer Glasur und Storchennestern bedeckt sind. Jahrhunderte sind an ihnen mit unermüdlichem Schritt vorüber gegangen, und sie stehen noch, wie Kerzen um ein Grab.“75
In Zuev-Ordynec’ Roman sind es nicht – wie bei Paustovskij – vornehmlich russische Ingenieure, die von der „Wüstenkrankheit“ befallen sind, sondern einheimische Turkmenen und Usbeken, die den Erzähler von einem Kollektiv zum nächsten begleiten und ihm währenddessen von immer neuen Projekten und Plänen berichten, die auf der „altertümlichen Erde“ entstehen werden. Sie sind so von der Zukunft besessen, dass der russische Erzähler sich in seiner Freizeit rückversichern muss, dass er sich noch im „Orient“ befinde, und sich – wie in dieser Szene – abends, alleine auf die Suche nach dem alten, exotischen Osten begibt, der ihm aber nur noch als verlassene Grabstätte und museales Denkmal einer verflossenen Kultur begegnet. So präsentiert der Erzähler am Ende des ersten Teils von Die Zerstörung der Exotik den Entwurf eines Briefes, der vom oben zitierten Besuch der verfallenden Moschee berichtet, die ihm als Zeugnis einer abgestorbenen Kultur regelrechtes physisches Unbehagen bereitet: „Der Tod ist immer hässlich, und hier trat er in seiner ganzen physiologischen Nacktheit auf. Ja, die Exotik stirbt, indem sie einfach so verdampft.“76 Bei Zuev-Ordynec ist es die fast schon obsessive Auseinandersetzung mit den „exotischen“ Relikten des Ostens, die als so abgestorben und abstoßend geschildert werden, dass jede Rückkehr zum alten Osten ausgeschlossen zu sein scheint. Der zweite Teil des Buches – der vornehmlich in Turkmenistan spielt – schildert dann die Besuche des Erzählers in den schon in Betrieb genommenen Fabriken und Bergwerken, unter anderem zur Sulfatgewinnung in der Karakum-Wüste. Er spricht mit Werkleitern und einfachen Arbeiterinnen, die voller Enthusiasmus gegen Rückschläge und Widerstände kämpfen. Und auch hier entsteht die Spannung des Textes aus der Radikalität, mit der die Gesprächspartner alles Alte, alle familiären Bindungen und kulturellen Traditionen verwerfen, um sich ein eigenes, neues Leben aufzubauen. Zwar zeigen die Extrembedingungen des Wüstenklimas, die nicht nur zu Materialverschleiß führen, sondern die Menschen auch zur vollkommenen physischen Verausgabung quälen, eine Diskrepanz zwischen den im ersten Teil projektierten Zukunftsvisionen 75 „Сегодня мы в сопровождении тутошнего жителя, партийца-узбека, много бродили по городу, были
в коллективе кетменщиков, и тоже много говорили о здешнем ландшафте, но экономическом. Партиец рассказывал нам о фабриках и заводах, которые растут здесь, на древней горячей земле. А в конце прогулки я в одиночестве забрел в старинную мечеть Чор-Минор (четыре минарета), названную так по числу своих минаретов, украшенных голубой поливой и аистовыми гнездами. Столетья шли мимо неутомимым шагом, а они все стоят, как свечи вокруг гроба.“ Ebd., S. 87. Eine
Ketmen ist eine mittelasiatische Hacke für den Ackerbau. 76 „Смерть всегда некрасива, а здесь она выступала во всей своей физиологической обнаженности. Да,
экзотика умирает, просто-на-просто запаршивев!“ Ebd., S. 88.
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und der beschriebenen Realität des Aufbaus auf. Doch wird diese Alltagswirklichkeit immer als temporäres Übergangsphänomen skizziert, das bald überwunden werde. Erst ganz am Ende des Textes begegnet der Erzähler, schon auf der Rückfahrt aus Turkmenistan nach Moskau, im Zug einer südländisch aussehenden Frau, deren mündliche Rede noch einen dritten Standpunkt zwischen dem sowjetischen Aufbauprojekt und der sterbenden Orientexotik aufweist. Ihr nicht enden wollender Monolog wird nur ab und zu von kurzen Beobachtungen und Repliken des Erzählers sowie entrüsteten Widerworten eines mitreisenden Jungen unterbrochen. Der erste Blick des Erzählers beschreibt die Frau folgendermaßen: „Die untere Bank besetzte eine Frau, kräftig und kernig wie ein Antonowapfel im November, mit südlichem Gesicht, das heißt dunkelhäutig, trocken und ruhig, mit schwarzem Schnurrbart über der Lippe, mit dichten, samtenen, leicht hängenden Brauen. Ihre Haare jedoch, glatt und einfach unter dem roten Kopftuch einer Arbeiterin frisiert, hatten die Farbe von Honig, und ihre Augen waren hellblau, ruhig, russisch.“77
Doch gerade dieser, schon vielfach gegen eine „falsche“ Exotik geschulte Blick vermittelt einen trügerischen Eindruck. Die anscheinend sympathische Frau, die ihrem Äußeren nach eine ideale Synthese von gereifter nördlicher Form (eines kernigen Antonow-Apfels) und südländischem Äußerem (dunkelhäutig mit schwarzem Schnurrbart), zwischen Arbeiterin und russischen blauen Augen (als Ausdruck des Inneren) darstellte, offenbart in ihren Worten das Gegenteil von dem, was sich der Erzähler im bisherigen Text unter einem vom alten Orient befreiten Menschen vorstellt. So stellt sich im Verlauf ihrer weiteren Rede heraus, dass sie eine Arbeiterin der Seidenfabrik ist, die der Erzähler besucht hatte und die aufgrund der Akkordleistungen und Erfolge als ein vorbildliches Projekt des sozialistischen Aufbaus gefeiert wurde. Doch anstatt von diesem Zukunftsenthusiasmus ergriffen zu sein, berichtet die entrüstete Frau, sie habe ihre Stelle dort gekündigt: „Offen gesagt, ich habe einen schwachen Kopf, er erträgt keinen Lärm. Und außerdem habe ich dieses Fabrikleben satt. Man muss auf Vorrat essen und trinken, wie, Gott vergib, wie irgendein Wolf. Ist das etwa gut, oder nicht? All diese Wettbewerbe, die Stoßarbeiter und Nachhilfen lassen einen nicht in Ruhe. Man kommt nicht in Ruhe zum Essen und nicht zum Trinken. Ein Chaos ist das, aber kein Leben!“78
77 „Нижнюю скамейку заняла женщина, крепкая и ядреная, как ноябрьская антоновка, с лицом южным,
то есть смуглым, сухим и спокойным, с черными усиками на губе, с густыми, бархатными, слегка нависшими бровями. Но волосы, гладко и просто зачесанные под красную косынку работницы, были цвета меда, а глаза – голубые, тихие, русские.“ Ebd., S. 158.
78 „Откровенно объяснить, голова у меня слабая, не терпит шуму. А кроме того жизнь эта фабричная
надоела. И пить и есть в запас приходится, как, прости, господи, волку какому-нибудь. Хорошо разве это, или нет? Соревнования эти самые, ударники да буксиры житья человеку не дают. Не съешь, не попьешь покойно. Хаос, а не жизнь!“ Ebd., S. 159.
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Die Stimme der Binnenerzählerin wird in ihren Schimpftiraden immer ausfälliger gegen das sowjetische Leben, rassistischer gegen die turkmenischen Arbeiterinnen (sie selber kommt aus dem Kaukasus) und reaktionärer in ihren vom russischorthodoxen Glauben getragenen Ansichten, so dass sie am Schluss in ihrer ganzen Beschränktheit und uneinsichtigen Dummheit als Anti-Heldin dasteht, deren letzte Worte zwar innerhalb des ganzen Textes sich in dialektischer Lektüre als falsch und lächerlich entblößen, die aber das Buch als unverhohlene Drohung an „alle“ Sowjetbürger abschließen: „Und worauf sind sie böse? Warum lassen sie einen nicht leben? [...] Ich gehe in die Fabrik. Du schaust dich um, und wieder wird ein Fass aufgemacht. Wir werden überleben. Gehen Sie nicht unter!...“79 Damit aber erscheint die Zerstörung der Exotik am Ende des Textes als eine doppelte: Es wird nicht nur die imperiale Exotik des russischen Kolonialismus in Mittelasien durch die sozialistischen Aufbauleistungen vernichtet, gleichzeitig wird auch die antikoloniale Exotik der sowjetischen Zivilisationsabsichten durch die Stimme der befreiten Subjekte gebrochen. Was sich hier in Zuev-Ordynec’ Prosa zeigt, ist gewissermaßen der – natürlich ganz innerhalb des sowjetischen Modernisierungsparadigmas bleibende – Versuch, den Subalternen als Zitat beziehungsweise Binnenerzählerinnen eine, wenn auch verwerfliche, so doch vorhandene „antikoloniale“ Sprache zu geben. Indem die Kaukasierinnen, Usbeken und Turkmeninnen während des ersten Fünfjahresplanes einen Sprung vom Feudalismus in den Sozialismus durchmachen, also innerhalb weniger Jahre mehrere Jahrhunderte „Entwicklung“ durchschreiten, können sie einen gleichsam „kinematographischen“ Blick auf den Fortschritt und die Veränderung werfen, denen ihr Land unterworfen ist. Während sie jedoch auf Il’ins „lebender Landkarte“ aus der Perspektive von oben nicht vorkommen, wird durch diese Perspektivierung von unten – aus den mittelasiatischen Sowjetrepubliken – deutlich, dass es nicht reicht, einfach die kolonisierten Subjekte in einem Zeitsprung aus der Vergangenheit in die befreite Zukunft zu versetzen, denn deren Identität ist – ganz im Sinne von Homi Bhabhas Konzept der Hybridität – durch und durch vom religiösen und politisch reaktionären Diskurs der Unterdrücker früherer Zeiten geprägt.80 So taucht bei Zuev-Ordynec, aber ansatzweise auch bei Paustovskij und bei dem erwähnten Loskutov, manchmal ein zweiter, anderer entexotisierender Blick aus der feudalen Vorzeit auf die sozialistische Zukunft auf, der der von Il’in formulierten Forderung nach einem quasi kosmischen Blick aus maximaler räumlicher Distanz entgegensteht. In der vom Erzähler ausdrücklich verworfenen Perspektive der kräftigen Frau, kernig wie ein Antonowapfel, erscheint das sowjetische Zivilisierungsprojekt als ein erneuter Versuch, den „Orient“ zu unterwerfen, das zwar in seinen „künstlerisch-wissenschaftlichen“ Mythen und Märchen eine Emanzipation verspricht, jedoch in der Alltagswirklichkeit der befreiten Subjekte nicht die erhoffte Wirkung entfaltet, sondern als neo-imperiales Projekt wahrgenommen wird. 79 „И чего злобствуют? Чего жить мешают?
Проживем. Не утопите!...“ Ebd., S. 174.
80
[...] На фабрику поступлю. Глядишь, опять кадилу раздует.
Zu dieser Ambivalenz (anti-)kolonialen Sprechens und hybrider Subjektivitiäten vgl. genauer Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 137–180.
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7.3 Ver l agspolitik na ch dem Schriftste lle r ko n g r e ss – Das F ort b e s te hen der Abenteue r li te r a tu r 81 „Das Genre der Wissenschaftlichen Fantastik ist das am meisten vernachlässigte, das am wenigsten bearbeitete Gebiet der sowjetischen Literatur. Die Schriftsteller, die angefangen haben, in diesem Genre zu arbeiten, haben von den Verlagen keine Unterstützung bekommen und sind wieder in andere, hoffnungsvollere Gebiete der Literatur abgewandert oder haben das Schreiben ganz sein gelassen.“ Grigorij Adamov (1936)81
Die im Vorfeld und nach dem Schriftstellerkongress 1934 getroffenen Entscheidungen zur Besiedelung des „vernachlässigten Gebiets“ der ehemaligen Abenteuerliteratur durch eine „wissenschaftlichkünstlerische Literatur“, die in engen Grenzen auch eine „wissenschaftliche Fantastik“ als Zukunftsprognose zuließen, zeitigten nicht die von Gor’kij, Maršak und Il‘in angestrebten Ergebnisse zur Schaffung einer neuen Kinderliteratur. Im Gegenteil: Während die wenigen Werke wissenschaftlichkünstlerischer Literatur, die von Gor’kij und Maršak als mustergültig propagiert wurden, in mehreren Verlagen in großer Auflage publiziert wurden, stiftete die Neuorganisation des Verlags- und Publikationswesens auf struktureller Ebene eher Verwirrung, da keiner genau wusste, ob man die neu zu schaffende wissenschaftlich-künstlerische Literatur eher dem technisch-wissenschaftlichen Buch und damit den Wissenschafts- und Schulbuchredaktionen innerhalb der Verlage und Zeitschriften zuordnen sollte, die auch schon zuvor für populärwissenschaftliche Schriften zuständig gewesen waren, oder ob man sie als eigenständiges belletristisches Genre eher in dem neu organisierten Sektor der Kinder- und Jugendliteratur betreuen wollte. Da es hierzu keine klaren Vorgaben zu geben schien, gleichzeitig die scharfe Kritik an der bisherigen Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik nicht zurückgenommen worden war, beschäftigte sich letztlich in den Jahren 1934 und 1935 weder die eine noch die andere Seite mit dem neu zu entwickelnden Genre.82 Bei den Wissenschaftsredakteuren trafen die Autoren, die keine ausgebildeten Spezialisten waren, auf breite Ablehnung, während die neu zu schaffende sowjetischen Kinderliteratur ohnehin schon genügend Probleme verursachte, so dass man sich auf die vermeintliche „Schmuggelware“ erst gar nicht näher einlassen wollte. Zudem fühlten sich viele ältere Autoren durch eine Zuord-
81 „Жанр научной фантастики представляет собой самый запущенный, самый необработанный участок
советской литературы. Писатели, начавшие было работать в этом жанре, не встречая поддержки со стороны издательств, разбрелись, ушли в другие, более благодарные областы литературы или совсем отошли от писательской работы.“ Adamov: Na zapuščennom učastke detskoj literatury, S. 166.
82
Und wenn man, wie im Fall der Abenteuerromane von Obručev (vgl. Abschnitt 7.2), Werke eines immerhin renommierten Wissenschaftlers und Akademiemitglieds aus den zwanziger Jahren in einem wissenschaftlich-technischen Verlag neu auflegte, sorgte dies für heftige Kritik, da diese wissenschaftlich-fantastischen Werke als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurden. Vgl. ebd., S. 164ff.
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nung zur Kinder- und Jugendliteratur zu Schriftstellern „zweiter Wahl“ degradiert, beanspruchten sie doch für sich in der Tradition der „Klassiker“ ihres Genres ebenfalls Werke für Erwachsene zu schreiben. So kam es, wie der einleitend zitierte Grigorij Adamov – der ein paar Jahre später einen der populärsten Abenteuerromane der Sowjetunion schreiben sollte – Anfang 1936 beklagte, dass das Genre zu dem am stärksten vernachlässigten Gebiet der sowjetischen Literatur wurde.83 Strukturell nahm diese Entwicklung mit dem Beschluss des ZK der VKP(b) vom 9. September 1933 ihren Anfang, aus der Kinderabteilung des Verlags Molodaja gvardija und der Schulbuchabteilung des Staatsverlags für Belletristik GIChL (Abkürzung für Государствнное издательство художественной литературы) den Staatlichen Kinderverlag Detgiz (Abkürzung für Детское Государственное Издательство) zu bilden, der der dem Volkskommissariat für Bildung unterstellten neuen Zentralbehörde für Bücher und Zeitschriften OGIZ zugeordnet wurde.84 Unter der Leitung von Nikolaj Ivanovič Smirnov (1893–1937) beschränkte Detgiz sich bei innovativen Neuerungen auf eine „Bibliothek des jungen Kolchosbauern“ (Библиотекa юного колхозника) und auf die Förderung von Werken, die den Aufbau des Sozialismus propagierten, wie es die wissenschaftlich-künstlerischen Werke von Michail Il’in oder Viktor Šklovskijs Turksib (Турксиб, 1930) taten. Zeitgenössische Schriftsteller, die sich dem „ungesunden Abenteurertum“ (нездоровое приключенчество) auch nur ansatzweise widmeten, bekamen hingegen erhebliche Probleme.85 Die Konsequenz war, dass eine Vielzahl an Schriftstellern sich bald von der Kinderliteratur verabschiedete und man schon Ende 1935 nur noch acht Autoren insgesamt hatte, die überhaupt mit dem Verlag zusammenarbeiten wollten. Selbst prominente Autoren wie Arkadij Petrovič Gajdar (1904–1941) und Vasilij Jan kündigten zeitweise die Kooperation auf.86 Aus Mangel an Alternativen sah man sich bei Detgiz daher gezwungen, zahlreiche Neuauflagen von Werken Conan-Doyles, Kiplings, Stevensons, Mark Twains, Vernes oder Wells zu drucken, die im Jahresplan unter den Rubriken „Ausländische Klassiker“ (иностранные классики) oder „Unterschiedliche Thematik“ (разная тематика) firmierten.87 Ganz ähnlich sah es bei dem Verlag des Komsomol, Molodaja gvardija, aus, der Wissenschaftliche Fantastik nur noch äußerst selten in der Redaktion für populärwissenschaftliche Literatur akzeptierte. Der Verlag für sowjetische Literatur Sovetskij pisatel’ und der Staatliche Literaturverlag Goslitizdat legten hingegen bis auf wenige Ausnahmen keine sowjetische Abenteuerliteratur oder Wissenschaftliche Fantastik mehr auf, während die „Klassiker“ des Genres bei allen Verlagen weiterhin jährlich in den Plan aufgenommen wurden.88 83
Adamov: Na zapuščennom učastke detskoj literature, S. 166.
84
Vgl. Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura, S. 46.
85
Tarakova, Ol’ga: Istorija knigi, Moskva 2001, (http://www.hi-edu.ru/e-books/HB/21–2.htm, 15.01.2008).
86
RGALI, f. 631, op. 8, ed. 6, l. 28–34 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury; otčet seksic detskoj literatury za 1935 g.).
87
Vgl. Knižnaja letopis’ 1935, Nr. 10234, 12287, 22950, 24255; RGALI, f. 631, op. 8, ed. 2, l. 19–21 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury; Tematičeskij plan Detgiza na 1935 g., 27 oktjabrja 1934).
88
So publizierte Goslitizdat im Rahmen einer Werkausgabe Mariėtta Šaginjans ihre drei, im Stile des ‚Kommunistischen Pinkerton‘ geschriebenen Romane zu Mess-Mend. Auch eine Neuauflage von Bruno
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Auch in den Zeitschriftenredaktionen sah die Lage nicht viel anders aus. Nachdem am Vorabend des Schriftstellerkongresses von den wenigen Zeitschriften, die noch populäre Unterhaltungsliteratur publizierten, auch der Vsemirnyj sledopyt und Mir priključenij geschlossen worden waren, konnte die im Parteiverlag Pravda erscheinende Zeitschrift des Leningrader Komsomol Vokrug sveta, die sich im Untertitel jetzt „Zeitschrift für revolutionäre Romantik, Regionalkunde, Expeditionen, Reisen und wissenschaftliche Entdeckungen“ ( журнал революционной романтики, краеведения, экспедиций, путешествий и научных открытий) nannte, also sowohl die Abenteuer als auch die Wissenschaftliche Fantastik aus ihrem offiziellen Namen gestrichen hatte, 1934 damit werben, dass sie jetzt die „einzige Zeitschrift für revolutionäre Romantik, Reisen und Abenteuer in der UdSSR“ (единственный в СССР журнал революционной романтики, путешествий и приключений) sei.89 Auch hier versuchte man sich auf die neuen Vorgaben einzustellen, indem man Texte über die Perspektiven und Ergebnisse des ersten und zweiten Fünfjahresplanes publizierte, über Forschungsexpeditionen, nützliche Erfindungen und die sich verändernde Karte der Sowjetunion berichtete,90 einheimische, aber auch ausländische Experten und Fachleute zu Wort kommen ließ, Porträts von großen russischen Wissenschaftlern und Entdeckern druckte sowie Reportagen und dokumentarische Erzählungen über die finstere Lage in den kolonisierten Ländern veröffentlichte.91 „Abenteuer“ kamen nur noch in dem Sinne vor, wie sie Maršak definiert hatte, als Expeditionsberichte mit wissenschaftlich-künstlerischem Anspruch. Tatsächlich war Vokrug sveta nicht nur das einzige Journal, das zumindest den Begriff „Abenteuer“ noch gebrauchte, es war auch das einzige Organ, in dem noch als „fantastisch“ attribuierte Texte gedruckt werden konnten – Bücher oder Sammelbände aus diesem Genre erschienen in den Jahren 1934 bis 1936 bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr.92 Und ungeachtet dieser Umstellungen war es nichtsdestotrotz ausgerechnet ein solcher Text, der bei der jährlichen Leserumfrage der Zeitschrift im Jahr 1935 „fast einstimmig“ zur beliebtesten Veröffentlichung gewählt worden ist, und zwar der in Fortsetzungen abgedruckte Roman Das Luftschiff (Воздушный корабль) von Aleksandr Beljaev.93 Allerdings musste auch Beljaev sich an die neue Zeit anpassen, Jasieńskis teils fantastischem Roman Der Mensch wechselt die Haut (Человек меняет кожу, 1932–1933) über den sozialistischen Aufbau erschien 1935 in diesem Verlag. Vgl. Knižnaja letopis’ 1935, Nr. 10793. 89 Vgl.
Vokrug sveta 2 (1934), S. 2 obložka, S. 1.
90
Vgl. Baskakov, N.: Ne čudo li ėto?, in: Vokrug sveta 5 (1934), S. 18–21.
91
Vgl. Zuev-Ordynec, Michail: Fort, in: Vokrug sveta 3 (1934), S. 3–9; Chilkov, A.: Civilizatory, in: Vokrug sveta 1 (1935), S. 12–18.
92
Zu den Ausnahmen zählten die 1934 beim Verlag Sovetskij pisatel’ erschienenen Fantastischen Novellen (Фантастические новеллы) von Aleksandr Grin, die schon erwähnten Neuauflagen der „wissenschaftlich-fantastischen“ Romane von Vladimir Obručev im Verlag ONTI sowie eine „fantastische Skizze“ von Konstantin Ciolkovskij in dem Spezialverlag für metallurgischen Maschinenbau Gosmašmetizdat (Die Schwere verschwand, Тяжесть изчесла, 1934). Vgl. die entsprechenden Jahrgänge bei Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
93
[Red.]: Tov. Čitatel’! Naša anketa, in: Vokrug sveta 1 (1935), S. 3 obložka; [Red.]: Itogi našej ankety, in: Vokrug sveta 6 (1935), S. 31–32.
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und so spielt die Romanhandlung vornehmlich in der nahen Zukunft und erzählt von dem Bau eines Luftschiffes nach den Plänen von Konstantin Ciolkovskij und den Abenteuern während dessen Jungfernflugs, die es von Mittelasien über die Wüste Gobi und Sibirien bis zum Eismeer führt.94 Das auftretende Kollektiv des „Klubs der Enthusiasten des motorfreien Transports“, die imaginäre Umsetzung neuester ingenieurstechnischer Ideen (Ciolkovskijs Entwürfe), das Forschungsziel (die Suche nach einem „himmlischen“ Golfstrom), die Kontrastierung mit dem Stand der westlichen Wissenschaft (in Person eines italienischen Archäologen, den die Besatzung in der Wüste Gobi vorm Verdursten rettet) und die Aneignung der neuen Geografie (durch die Flugroute entlang der sowjetischen Landesgrenze) entsprachen zwar oberflächlich betrachtet den von Gor’kij, Maršak und Il’in aufgestellten Ansprüchen, bedienten aber zumindest noch teilweise die Nachfrage nach unterhaltsamen Abenteuergeschichten im Stile Jules Vernes. Da es zudem weiterhin bis auf Michail Il’in, Konstantin Paustovskij und Michail ZuevOrdnynec kaum Autoren gab, die den Anforderungen einer neuen wissenschaftlich-künstlerischen Kinderliteratur nachkamen, erschien auch in den Jahren 1935 und 1936 so gut wie keine auf eine spannende Handlung ausgelegte Kinderliteratur für Erwachsene. Denn bei den vielfachen Reportagen, Skizzen und Reiseberichten über die Erfolge und Perspektiven des zweiten Fünfjahresplans handelte es sich größtenteils um journalistische Texte, die keinen „künstlerischen“ Anspruch eines fesselnden Sujets erkennen ließen. So waren es insgesamt jeweils knapp zwei Dutzend meist kürzere Texte, wie Erzählungen oder Studien (очерки), die noch „wissenschaftlich-fantastisch“ oder „abenteuerlich“ genannt werden konnten und in Zeitschriften verstreut erschienen, meist aber ohne diese Attribute publiziert wurden.95 Erst mit Leonid Leonovs Der Weg zum Ozean (Дорога на океан) Ende 1935 und mit Valentin Kataevs Es blinkt ein einsam Segel (Белеет парус одинокий) 1936 erschienen zwei größere Jugendromane von prominenten Autoren, die zwar vom Thema her typische Abenteuermotive und -topoi aufriefen und im Fall von Leonov auch ein fantastisch-utopisches Ende offerierten, doch in der Sujetkomposition ganz den Erzählmustern des Sozialistischen Realismus entsprachen.96 Leonov grenzt sich in seinem Roman sogar ganz explizit in einem „Abenteuer“ (приключениe) überschriebenen Kapitel von dem Genre ab, in dem der Hauptheld seinem ehemaligen Gymnasialdirektor, einem Anti94
Beljaev, Aleksandr: Vozdušnyj korabl’, in: Vokrug sveta 10 (1934), S. 1–4; 11, S. 5–7, 12, S. 14–18; 1 (1935), S. 5–9; 2, S. 13–17; 3, S. 8–12; 4, S. 10–14; 5 S., 20–23; 6, S. 15–19.
95
Eindeutig abenteuerliche oder fantastische Werke, die in Neuauflagen erschienen, verzichteten auf entsprechende Bezeichnungen, wie beispielsweise Tolstojs Der Hyperboloid des Ingenieur Garin oder Beljaevs Sprung ins Nichts, die bei Detizdat beziehungsweise Molodaja gvardija 1936 nur noch als „Romane“ attribuiert wurden. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
96
So nannte die Literaturenzyklopädie in ihrem zehnten Band unter dem Stichwort „Russische Literatur“ bei der sowjetischen Literatur des ersten und zweiten Fünfjahresplans neben Il’ins und Paustovskijs Werken auch Leonovs Weg zum Ozean als eines der wenigen Werke, die ein „sowjetisches fantastisches Genre“ schaffen würden, das auf den Mensch der Zukunft und die Vollendung des sozialistischen Aufbaus ziele, vgl. Chapčenko, M.; Rozenfel’d, B. u.a.: Russkaja literatura, in: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 10, Moskva 1937, S. 88–397, S. 395f.
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Helden in jeder Hinsicht, begegnet, der weiter den kolonialen Abenteuerträumen nachhängt, anstatt sich auf die neue Wirklichkeit einzulassen.97 In einem nicht enden wollenden Redeschwall hält dieser in einem Kellerloch hausende „Fanatiker“ auch ein letztes Plädoyer für das schon der Vergessenheit anheim gefallene „alte“ Abenteuer: „‚Vergessen, hähä? Sapperlot! Abgesehen von einem Dutzend dieser Modergruftgerechten ist die Geschichte für euch lediglich ein Kriminalarchiv der Menschheit – ohne Lieder, ohne unvergängliche Bücher, dafür voller Gauner, Langfinger und Phantome! Ihr brüstet euch, eure Schiffe würden neu gebaut und schwämmen auf unentdeckten Ozeanen. Und ihr vergesst: Dort hinten, nebelverschleiert, leuchtete ein genauso glücklicher, sonniger Morgen‘ – er drohte jemandem mit gichtgekrümmtem Finger –, ‚als Vespuccis Schiffe sich der Küste des wunderbarsten aller Kontinente näherten. Ha, ihr habt auch vergessen, was daraus in der Folgezeit wurde. Vergessen ist die höchste soziale Eigenschaft, Herr Musiker!“98
Diese systematische Ausgrenzung von abenteuerlichen und wissenschaftlich-fantastischen Elementen aus dem zu entwickelnden Kanon des Sozialistischen Realismus führte allerdings innerhalb der zuständigen Institutionen zu heftigen Auseinandersetzungen, da weiterhin eine ungebrochene Nachfrage nach entsprechender Literatur bestand. So berichtete eine empörte Pionierleiterin Anfang 1936 bei einer Aussprache zur Kinderliteratur, dass die neuen wissenschaftlich-künstlerischen Werke kaum gelesen würden, während man sich vor allem für Wissenschaftliche Fantastik und Abenteuerliteratur interessiere: „Die Kinder [...] interessieren Bücher über interplanetare Reisen. Sie bauen selber Raketenflugzeuge, machen Zeichnungen [...] Unsere Kinder lieben Abenteuerromane sehr, sie besorgen sich die Abenteuer Nat Pinkertons und lesen sich aus ihnen vor, daher kommt auch ihr Pinkertonartiges Auftreten, ihr Weglaufen aus dem Haus, ihr Klettern über Wasserleitungen in die dritte Etage und höher, das Aufdecken lauter nicht existenter Verschwörungen und Anschläge. Diese Bücher wecken ein ungesundes Interesse für Verbrechen und Straftaten. Sie müssen Abenteuerromane schreiben, damit die Kinder nicht diesen Mist lesen.“99
97
Vgl. Leonov: Doroga na okean [1935],, S. 71–83. Der Weg zum Ozean, S. 85 („Запамятовали, хе-хе, пики-козыри? За исключением десятка вот этих подмоченных праведников, для вас история только уголовный архив человечества... и ни песен там, ни книг неугасимых, а только пестрые стрекулисты, хапуги да фантомы! Всё хвастаетесь, что новые корабли построены плыть в неоткрытые океаны. А забыли: там, позади, в тумане, было такое же благословенное со-олнечное утро (и сведенным пальцем погрозил кому-то), когда корабли Веспуччи только подплывали к берегам чудеснейшего из материков. Ха, вы и это забыли, во что превратили его впоследствии... Забвенье – высшее социальное качество, господин музыкант!“ Leo-
98 Leonov:
nov: Doroga na okean, S. 78). 99 „Ребят [...] интересуют книги о межпланетных путешествиях. Они сами строят ракетопланы, делают
чертежи [...] Наши ребята очень любят приключенческие романы, они достают себе приключения Ната Пинкертона и зачитываются ими, отсюда идут их пинкертоновские поступки, удирание их из
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Der populäre Kinderschriftsteller Lev Kassil’ bezeichnete die aus solchen Forderungen erwachsenen Auseinandersetzungen als „Korridorkritik“, die nur hinter vorgehaltener Hand und mündlich vorgetragen werde, sich aber nirgends in offiziellen und publizistischen Äußerungen widerspiegele, was zu einer fatalen „Spaltung“ (разрыв) von offizieller und inoffizieller Literaturkritik führe.100 Erst Anfang 1936 reagierte die Komsomolleitung unter Evgenij L’vovič Fajnberg (1904– 1937) unter anderem auf diese Korridorkritik mit einer grundlegenden Umstrukturierung des Kinderverlages, den man nun in Detizdat (Kurzform für „Detskoe izdatel’stvo“, „Kinderverlag“) umbenannte. Der Verlag wurde aus dem Verbund von OGIZ herausgelöst und gleichberechtigt mit dem Verlag Molodaja gvardija direkt dem Zentralkomitee des VLKSM unterstellt. Neuer Direktor des umstrukturierten Verlages wurde der erfahrene Verleger Grigorij Evgen’evič Cypin (1899–1938), der aus dem noch relativ kleinen Verlag, der bislang eine Jahresgesamtauflage von etwas mehr als 18 Millionen Exemplaren erreicht hatte, einen Großverlag machen sollte mit einer mehr als doppelt so hohen Jahresproduktion an Büchern und einem breiten, ansprechenden Programm.101 Anstatt der bisherigen starken Ideologisierung der Kinderliteratur traten daher auf einer viertägigen, unionsweiten Sitzung zur Kinderliteratur Mitte Januar 1936 vor allem pragmatische und an den praktischen Erfordernissen orientierte Töne in den Vordergrund, während von „wissenschaftlich-künstlerischer Literatur“ zumindest intern kaum noch jemand redete.102 Nachdem der Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, Andrej Andreevič Andreev
дома, лазанье по водосточным трубам на 3 этаж и выше, раскрытие всяких несуществующих заговоров и покушений. Эти книги вызывают нездоровый интерес к преступлениям и уголовным делам. Вам нужно писать приключенческие романы, чтобы ребята не читали этот хлам.“ RGALI, f.
630, op.5, ed. 8, l. 22–23. (Direkcija Izdatel’stva destkoj literatury, Central’nyj komitet Vsesojuznogo Leninskogo Kommunističeskogo Sojuza molodeži; Otdel’nye vystuplenija pistaelej i chudožnikov na soveščanii chudožnikov v detskoj literature i pisatelej po voprosam detskoj literatury, 15/ 16/ 17/ 19 janvarja 1936 goda). 100
Kassil‘, Lev: Neproiznešennaja reč’, in: Komsomol’skaja pravda 20 (1936), S. 3; RGALI, f. 630, op.5, ed.8, l. 2; (Central’nyj komitet Vsesojuznogo Leninskogo Kommunističeskogo Sojuza molodeži, Izdatel’stvo detskoj literatury; Otdel’nye ystuplenija pisatelej i chudožnikov na soveščanii chudožnikov v detskoj literature i pisatelej po voprosam detskoj literatury pri CK V.S.L.K.S.M. s K – ŠČ, 15/16/17/19 janvarja 1936 goda).
101
Vgl. Razgon, Lev: Plen v svoem otečestve, Moskva 1994, S. 307; RGALI, f. 630, op. 5, ed. 4, l. 1–105 (Direkcija Izdatel’stva destkoj literatury, Central’nyj komitet Vsesojuznogo Leninskogo Kommunističeskogo Sojuza molodeži; Stenogramma soveščanija po detskoj literatury 15 janvarja 1936 goda).
102
Vgl. [Anon.]: Pervoe soveščanie o detskoj literature pri CK VLKSM, in: Pravda 28 (29.01.1936), S. 3; So druckte die Pravda zwar Michail Il’ins Rede an erster Stelle noch vor den Stellungnahmen der Partei- und Komsomolsekretäre, in der er seine Thesen gegen jede Art von unterhaltsamer Wissenschaftspopularisierung wiederholte; für die viertätigen Diskussionen spielten seine Ausführungen aber keine Rolle mehr, vgl. Il’in, Michail: Reč’ tov. M. Il’ina, in: Ebd., S. 3.
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Abb 11
Titelseite der Zeitschrift Vokrug sveta mit einem Porträt von Aleksandr Beljaev und dem Anfang von dessen neuem Roman Das Luftschiff (Vozdušnyj korabl’) vom Oktober 1934, Nr. 10, S. 1.
(1895–1971) in einer Grundsatzrede sich noch ganz an die Diktion Gor’kijs gehalten hatte,103 betonte der Leiter des Komsomol, Aleksandr Vasil’evič Kosarev (1903–1939), dem Detizdat nun unterstellt war, dass die Haupteigenschaft der Kinder im Fantasieren und Träumen bestehe, weswegen das Kinderbuch die „unerschöpfliche Einbildungskraft der Kinder mit gesunder Romantik, wissenschaftlicher Fantastik“ nähren müsse („питать неиссякаемое воображение детей
103 Andreev wiederholte im Groben die Thesen, die Gor’kij in seinen Artikeln vor dem Schriftstellerkongress
1934 zu den Aufgaben der Kinderliteratur aufgestellt hatte und verwies mehrmals auf ihn, vgl. Andreev, Andrej: O detskoj literature. Reč’ sekretarja CK VKP (b) tov. A. Andreeva na 1-m soveščanii po detskoj literature pri CK VLKSM 19 janvarja 1936 g., in: Pravda 28 (29.01.1936), S. 4.
Die Poetik wissenschaftlich-künstlerischer Expeditionen | 337
здоровой романтикой, научной фантастикой“).104 Neben Aleksej Tolstoj105 forderte daher jetzt
plötzlich auch Maršak eine neue Fantastik voller Romantik und Heldentum ganz im Stile von Jules Verne, zu der im Vergleich Beljaevs Werke schematisch und kulturlos wirkten: „[...] wie lebhaft, mit welcher jugendlichen Leichtigkeit entwickelt Jules Verne seine Handlung, wie gekonnt verbindet er ein rätselhaftes Abenteuer mit einem spannenden wissenschaftlichen Problem und einer Hypothese./ Bei Beljaev hingegen gibt es statt eines Abenteuers ein Schema, statt eines wissenschaftlichen Problems eine Auskunft aus einem enzyklopädischen Wörterbuch. Das liegt alles daran, dass wir keine Kultur haben.“106
Diese Kritik an Beljaev war letztlich aber auch eine an den eigenen Konzeptionen der letzten Jahre, denn schematisch und bestimmte Themen wie ein Nachschlagewerk behandelnd waren vor allem Beljaevs jüngste Werke – wie das Luftschiff – geraten, die er unter dem massiven kulturpolitischen Druck verfasst hatte, sich den Vorgaben einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur anzupassen. Ungeachtet dieser prominenten Unterstützung, die eine Kehrtwende anzudeuten schien, änderte sich zunächst jedoch die Einstellung gegenüber dem Abenteuergenre und der Wissenschaftlichen Fantastik in den zuständigen Institutionen nicht grundlegend. Detizdat steigerte zwar die Zahl der Neuauflagen ausländischer „Klassiker“ des Genres erheblich und machte mit prachtvoll aufgemachten Buchausgaben von sich reden, an sowjetischer Wissenschaftlicher Fantastik und Abenteuerliteratur erschienen aber meist, wenn überhaupt, Neuauflagen älterer Werke der zwanziger Jahre.107 Auch die Zeitschrift Vokrug sveta publizierte weiterhin nur vereinzelt Geschichten, meist scheiterten die Autoren schon an der Verlagszensur.108 Selbst Beljaev
104
Kosarev, Aleksandr: Reč’ tov. A. V. Kosareva na 1-v soveščanii po detskoj literature pri CK SLKSM 19 janvarja 1936 goda, in: Pravda 28 (29.01.1936), S. 4–5, S. 4f.
105
Vgl. Tolstoj, Aleksej: Reč’ tov. Al. Tolstogo, in: Ebd., S. 3.
106 „[...] как живо, с какой юношеской легкостью развивает Жюль Верн свою фабулу, как умеет он
сочетать загадочную авантюру с острой научной проблемой и гипотезой./ А у Беляева чаще всего вместо авантюры схема, вместо научной проблемы – справка из энциклопедического словаря. Все это оттого, что у нас культуры мало.“ RGALI, f. 630, op. 5, ed. 4, l. 15; Auf der vom 15. bis 19. Januar
dauernden Sitzung nahmen insgesamt 117 Personen teil, die als Autoren und Lektoren, in Schulen und Bibliotheken, in Partei- und Jugendorganisationen mit Kinderliteratur befasst waren, vgl. ebd., l. 1–3; Adamov schreibt, dass dies die erste Versammlung zu Kinderliteratur überhaupt gewesen sei, die seit dem Schriftstellerkongress stattgefunden habe, vgl. Ders.: Na zapuščennom učastke detskoj literature, S. 166.. 107
Vgl. Adamov: Na zapuščennom učastke detskoj literatury, S. 166.
108
So scheiterte beispielsweise ein Buch von Abram Palej über „Wissenschaftlich-fantastische Literatur“ schon an der internen Verlagsbegutachtung, allerdings nicht, weil er ideologisch nicht gewappnet sei, sondern im Gegenteil, weil er das Genre viel zu ideologisch beurteile im typischen „RAPP-Verfahren des Stöhnens“ (рапповский прием охаивания), so dass die Rezensenten zu dem Urteil kommen: „das Buch von Gen. Palej taugt zweifelsohne nicht zur Publikation. Keine Korrekturen können es retten.“ („книга
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konnte mit Unterstützung der Experten für Raketentechnik, Konstantin Ciolkovskij und Nikolaj Rynin, nur einen einzigen Roman bei Molodaja gvardija in Neuauflagen publizieren.109 Die eigentliche Kehrtwende kam erst eineinhalb Jahre später, und zwar im Sommer 1937, als mit dem Sturz des Sekretärs des Zentralkomitees des Komsomol, Fajnberg, die Säuberungen gegen angebliche trotzkistische Verschwörer auch die Verlage Detizdat und Molodaja gvardija sowie die Zeitschriftenredaktionen erreichten. Im Juli 1937 wurde Fajnberg in Haft genommen und schon im September als angeblicher Spion und Volksfeind erschossen.110 Kurz darauf griffen die Säuberungen auch auf die dem Komsomol unterstellten Verlage über, der Direktor von Molodaja gvardija, Leščiner, und vier weitere leitende Redakteure wurden als Volksfeinde oder Freunde von Volksfeinden, die die Jugend verderben wollen, angeklagt.111 Ein ähnliches Schicksal ereilte auch den Leiter von Detizdat, den parteilosen Cypin, der schon zuvor harter Kritik von Komsomol-Aktivisten ausgesetzt gewesen war.112 Zusammen mit leitenden Redakteuren wurde er ebenfalls entmachtet.113 An seine Stelle trat das Parteimitglied Andrej Andreev, der sich gerade der vernachlässigten Seite der Zusammenarbeit mit den Autoren und der Schaffung einer neuen sowjetischen Kinderliteratur annehmen wollte.114 So war paradoxerweise gerade der Große Terror der Jahre 1936 bis 1938 in entscheidender Weise mit dafür verantwortlich, dass eine Literaturform, die sich vor allem durch ein dynamisches Sujet auszeichnete und von Expeditionen in andere fantastische oder abenteuerliche Welten jenseits imperialer Macht- und Medienverbünde handelte, eine neue Möglichkeit bekam, im Rahmen des Sozialistischen Realismus zu existieren. Der äußerst brutale Umbruch und die gesellschaftlichen Erschütterungen, die durch die Säuberungen ausgelöst wurden, eröffneten
т. Пaлей к печати безусловно непригодна. Никакие исправления ее не спасут.“). RGALI, f. 631, op.
15, ed. 143, l. 71–72. Hervorhebung im Original. 109
So erlebte die allerdings überarbeitete Fassung von Aleksandr Beljaevs 1933 erstmals bei Molodaja gvardija erschienenem Roman Der Sprung ins Nichts (Прыжок в ничто) mit einem Vorwort von Konstantin Ciolkovskij und einem Nachwort von Nikolaj Rynin, 1935 und 1936 noch zwei weitere Auflagen im gleichen Verlag sowie eine vierte im Chabarovsker Verlag Dal’giz 1938. Auf eine Buchausgabe des im Stil wissenschaftlich-künstlerischer Literatur geschriebenen Romans Das Luftschiff verzichtete er hingegen. Vgl. Vel’činskij, V. G.: Bibliografija sovetskoj fantastiki. 1918–1991 gg., Moskva 2000 (http://bibliography. narod.ru/, 15.01.2008).
110
Vgl. Račinskij, Ja. Z. u.a. (Hg.): Žertvy političeskogo terrora v SSSR (Meždunarodnoe obščestvo „Memorial“, 2007), http://lists.memo.ru/index.htm (01.03.2009).
111
[Komsomolec]: Dela izdatel’stva „Molodaja gvardija“, in: Pravda 25.07.1937, S. 3; Babuškina, A.: Do konca vykorčevat’ vražeskuju agenturu v komsomole, in: Detskaja literatura 1 (1939), S. 19–25.
112 [Anon.]: Sovetskaja
detvora ždet chorošich knig (Na sobranii aktiva Detizdata CK VLKSM), in: Komsomol’skaja pravda (20.04.1937), S. 2.
113 Cypin
wurde im Dezember 1937 verhaftet, am 29. August 1938 als Teilnehmer einer konterrevolutionären Vereinigung zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag erschossen. Vgl. Račinskij: Žertvy političeskogo terrora v SSSR.
114
Vgl. RGALI f. 631, op. 8, ed. 13, l. 33–45; Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura, S. 64.
Die Poetik wissenschaftlich-künstlerischer Expeditionen | 339
sowohl auf der Distributionsebene der Verlage und Zeitschriften als auch auf Seiten der Schriftsteller die Möglichkeit eines Generationswechsels, der eine Neuausrichtung der Jugendliteratur bedeutete. Die ersten Impulse, wie eine solche an den „Klassikern“ des Genres orientierte sowjetische Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik aussehen könnte, kamen bezeichnenderweise aus dem zentralen Propagandamedium der Sowjetunion, und zwar dem Kino, jenem Medium also, dem Kornej Čukovskij knapp drei Jahrzehnte zuvor die Mitschuld am Aufkommen der Pinkertonovščina gegeben hatte und für das Boris Ėjchenbaum und andere schon vor über zehn Jahren das Absterben des Genres prophezeit hatten.
340 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
8. A s c h en p u t t e l b e t r i t t d e n B a ll – Di e Ver e i n i g u n g v o n A b e nt e ue r und Fa nt a st ik 1 „Das ‚Abenteuergenre‘ beschäftigt sich im bürgerlichen Kino mit Banditen, Dieben und Spitzeln. Wir schaffen ein Abenteuergenre ohne Banditen, Diebe und Spitzel.“ M. Stepanov (1935)1
Bereits im Januar 1935 hatte der Vorsitzende der Staatlichen Leitung der Kinofotoindustrie (Государственнoe управлениe кинофотопромышленности, Abk. GUKF), Boris Zacharovič Šumjackij (1886–1938), auf einer Sitzung der Kinoschaffenden in Moskau dazu aufgerufen, neue sowjetische Filmgenres wie die Komödie oder das Märchen zu schaffen. Nach seiner Reise in die Vereinigten Staaten im Sommer desselben Jahres bekräftigte er diese Forderung nach einem unterhaltsamen und spannenden „Kino für Millionen“ und entwickelte sein Konzept eines „Roten Hollywoods“.2 Im Kontext dieser Weiterentwicklung der sowjetischen Filmindustrie als eines zentralen Propagandainstruments führte auch die Fachzeitung Kino im Spätherbst 1935 über mehrere Nummern eine Debatte über die Reanimierung des Abenteuergenres im sowjetischen Film, wobei sie sich faktisch in einem begrifflichen und methodischen Niemandsland bewegte. Die wenigen formalistischen Einlassungen zu dem Thema kamen als Anknüpfungspunkt nicht infrage, da der pejorative Gebrauch der letzten Jahre schwerlich umzudeuten war (vgl. Abschnitt 4.1, Kapitel 5). So fing man bei Null an, diskutierte, ob man von „aventuristisch“ (авантюрный) oder „abenteuerlich“ (приключенческий) reden solle, ob damit überhaupt ein Genre oder nur ein Sujet gemeint sei und ging zu den „Klassikern“ Pierre Benoit, Arthur Conan Doyle, Fenimore Cooper, Alexandre Dumas, Thomas Mayne Reid, Edgar Allan Poe, Eugène Sue oder Jules Verne als Beispielen zurück.3 Aus dem Bereich des Films stellte man bis auf die amerikanischen Abenteuerfilme der Vorrevolutionszeit und die Erwähnung einiger sowjetischer Stummfilme über den Bürgerkrieg als Beispiel einzig den Mitte des Jahres in die Kino gekomme1
„‚Приключенческий жанр’ в буржуазной кинематографии занимается бандитами, ворами, сыщиками. Мы создадим приключенческий жанр без бандитов, воров и без сыщиков.“ Stepanov, M.: Priključenija geroev, in: Kino 40 (1935), o.A. [ohne Seitenangabe]. Für die Kopien aus der Zeitung Kino danke ich Anke Hennig.
2
Vgl. Vgl. Taylor, Richard: Ideology as Mass Entertainment. Boris Shumyatsky and Soviet Cinema in the 1930s, in: Ders.; Christie, Ian (Hg.): Inside the Film Factory. New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London, New York 1991, S. 193–216, S. 207ff.
3
Vgl. ebd.; Popov, I. F.: Nužen li priključenčeskij žanr?, in: Kino 42 (11.09.1935) , o. A.; Sokolov, Ippolit: V zaščitu avantjurnogo žanra, in: Kino 45 (28.09.1935), o. A.; Stepanov, M.: Ešče o probleme priključen českogo fil’ma, in: Kino (11.10.1935), o. A.; [Red.]: Podvedem itogi (Zaključenie po diskussii „O priključenčeskom fil’me), in: Kino (23.10.1935) , o.A..
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 341
nen Film Der Goldsee (Золотое озеро, 1935) von Vladimir Adol’fovič Šnejderov (1900–1973) zur Diskussion, der sich nach einer Reihe von Expeditionsfilmen in diesem bei Mežrabpomfil’m produzierten Werk das erste Mal dem Abenteuergenre widmete.4 Eine ideologische Auseinandersetzung mit den westlichen Vorläufern oder den „Verfehlungen“ der sowjetischen Adaptionen der zwanziger Jahre, wie sie in den Polemiken der Literaturkritik üblich waren, spielte hingegen keine wesentliche Rolle, genauso wenig wie die mediale Spezifik des noch recht jungen Tonfilms ein Thema war. Stattdessen setzte man eine „mehrere Jahrhunderte“ andauernde Genregeschichte voraus,5 an die es endlich anzuknüpfen gelte, indem man ein spannendes, ereignisreiches und erkenntnisträchtiges Sujet knüpfe und zu seiner gesetzmäßigen Lösung führe, das die „Abenteuer und Heldentaten unserer Helden an den Fronten des Kampfes und des sozialistischen Aufbaus“ zeige und den Zuschauer zu „Mut, Heldentum und Siegeswillen“ erziehe.6 Das Hauptproblem aber sei, so die Redaktion der KinoZeitung in ihrem Fazit, dass das Genre weiterhin von den Drehbuchautoren und Regisseuren als zweitrangig ( второстепенный) und künstlerisch nicht vollwertig ( художественнонеполноценный) angesehen werde.7 Und tatsächlich änderte die Debatte an der Einstellung der „erstrangigen“ Regisseure und Szenaristen nichts – zwei Jahre später konnte dieselbe Zeitung als Vorbild für sowjetische Aben-
4
Der Film handelte von einer Expedition sowjetischer Goldsucher im Altaigebirge, die von einer in den unwegsamen Gebirgsregionen tätigen Räuberbande angegriffen werden, deren heimlicher Anführer ein angeblicher Schamane ist, der die Geologen am Ende durch einen Waldbrand besiegen möchte, aber mit Hilfe des Einsatzes von Löschflugzeugen der Milizorgane kann diese Gefahr gebannt werden. Mehr als die Hälfte der Filmbilder bestand allerdings aus Tier- und Landschaftsaufnahmen der „exotischen“ Natur des Altaigebirges, die nichts mit der Handlung zu tun hatten. Leider sei solch eine „Exotik“ bislang als verdächtig angesehen worden, wie Ippolit Sokolov feststellt Vgl. der Film Zolotoe ozero, Reg. Vladimir Šnejderov, Mežrapomfil’m, SSSR 1935; Sokolov: V zaščitu avantjurnogo žanra; Chigerovič, R.; Ėpštejn, B.: Sovetskij priključenčeskij fil’m, in: Kino (11.09.1937), o.A.
5
Vgl. Sokolov: V zaščitu avntjurnogo žanra; Möglicherweise knüpfte Sokolov mit dieser These eines jahrhundertealten Genres an die Definition des „avantjurnyj roman“ an, wie sie Georg Lukács (1885– 1971) und Gennadij Nikolaevič Pospelov (1899–1992) in ihrem Beitrag zum Roman für die Literaturenzyklopädie in dem 1935 erschienenen neunten Band entwickeln. Vor allem nach Pospelov (der den ersten Teil des zweiteiligen Lexikoneintrags schrieb) entsteht der Abenteuerroman als Verfallsphänomen des Feudalismus im Mittelalter, anfangs als Schelmenroman, dann werde er naturalistisch im Ritterroman, ehe er im Übergang zum Kapitalismus vom sozialen Alltagsroman abgelöst werde. Auch in Russland sei er mit dem Aufstieg der Kaufleute in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massenweise aufgetreten, ehe er als Abenteuerroman (роман приключений) in den 1830er Jahren bei lehrreichen idyllischen und satirischen Sittenbildern sein Ende erreicht habe, da Autoren wie Nikolaj Gogol’ und Aleksandr Puškin sehr früh zum realistischen Roman übergegangen seien. Vgl. Lukács, Georg [Lukač, G.]; Pospelov, Gennadij: Roman, in: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 9, Moskva 1935, S. 773–832, S. 778–781, 783–793.
6
Vgl. [Red.]: Podvedem itogi.
7
Ebd.
342 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
teuerfilme weiterhin einzig Šnejderovs Filme nennen.8 Dieses Prestigeproblem hatte der eher als „zweitrangig“ geltende Kinderfilm jedoch nicht, und so war es kein Zufall, dass gerade in diesem Bereich die Neukonstituierung des Abenteuergenres „ohne Banditen, Räuber und Spitzel“ stattfand, wobei die erfolgreichsten Filme gerade nicht auf den Baustellen und an den Grenzen der „lebenden Landkarte“ der Sowjetunion spielten, sondern ihre Helden in teils fantastische, teils exotische ferne Länder schickten.9 Den Anfang machte im März 1935 die Premiere des Spielfilms Der Neue Gulliver (Новый Гулливер) des noch unbekannten Regisseurs Aleksandr Lukič Ptuško (1900–1973), der zusammen mit Serafima und Grigorij Rošal’ auch das Drehbuch schrieb.10 Das technisch aufwendig mit kombinierten Animations-, Puppen- und Spielfilmaufnahmen produzierte Werk ist als erster abendfüllender Animationsfilm in die Geschichte des Kinos eingegangen und erhielt für seine Spezialeffekte sowohl in Venedig als auch in Moskau auf dem Kinofestival einen Preis.11 Er handelt von dem Pionier Petja Konstantinov, der im Ferienlager am Meer (das unverkennbar als das 1934 auf der Krim eingerichtete „Artek“ identifizierbar ist) als Auszeichnung zum „Jungen Rettungsschwimmer“ (юный осводовец) Jonathan Swifts Roman Gulliver’s Travels geschenkt bekommt. Nach einer Fahrt entlang der Küste im selbstgebauten Segelboot liest der Hauptheld den anderen Pionieren aus seinem Buch vor, wobei er einschläft und im Traum als „Neuer Gulliver“ noch einmal dessen Abenteuer im Land der Liliputaner durchlebt, allerdings im Unterschied zu seinem Vorgänger diese am Ende zum Aufstand gegen ihre Unterdrücker, zur Befreiung und zum Weg in den Sozialismus anführt.
8 Šnejderov
hatte inzwischen zwei weitere Filme gedreht. Einen über die erfolgreiche Arbeit der sowjetischen Grenzschützer im mittelasiatischen Pamirgebirge im Kampf gegen die Basmatschen, Džul’bars (Джульбарс, 1935) und einen über eine Forschungsexpedition ins mongolische Gebirgsland auf der Suche nach Erdöl und geheimnisvollen Höhlenbewohnern, unter die sich ein Diversant geschmuggelt hat, Die Alamasschlucht (Ущелье Аламасов, 1937). Vgl. Chigerovič; Ėpštejn: Sovetskij priključenčeskij fil’m. Der letztere Film beruhte auf dem gleichnamigen Roman von Michail Rozenfel’d von 1935, vgl. Ders.: Uščel’je Alamasov. Povest’, Moskva 1935.
9
Einen neueren, sehr allgemeinen Überblick über den sowjetischen Kinder- und Jugendfilm gibt Prokhorov, Alexander: Arresting Development. A Brief History of Soviet Cinema for Children and Adolescents, in: Balina, Marina; Rudova, Larissa (Hg.): Russian Children’s Literature and Culture, New York/London 2008, S. 129–152.
10
Vgl. Film Novyj Gulliver, Reg. Aleksandr Ptuško, Mosfil’m, SSSR 1935; Grigorij Rošal’ hatte schon für den Film Der Salamander (1928) das Drehbuch geschrieben.
11
Vgl. Charitonov, Evgenij; Ščerbak-Žukov, Andrej: Na ėkrane – čudo. Otečestvennaja kinofantastika i kinoskazka (1909–2002), Moskva 2003, S. 178. Der erste reine, noch schwarzweiße Animationsfilm von 10 Minuten Länge des 1936 nach dem Vorbild von Walt Disney neu gegründeten zentralen Zeichentrickfilmstudios Sojuzmul’tfil’m hieß In Afrika ist es heiß (В Африке жарко) von Dmitrij Babičenko. Der Oskar prämierte Film erzählte von den Tieren Afrikas, die sich nach Speiseeis sehnen, das ihnen ein Walross mit Hilfe eines Affen ungeachtet vieler Hindernisse bringt – begeistert begleiten die Tiere daraufhin das Walross zurück an den Nordpol und beschenken es mit den Früchten des Südens. Selbst hier also findet sich die neue, auf die nördliche Halbkugel (als Kontinent der Sowjetunion) zentrierte Geografie wieder: Nicht mehr der exotische Süden ist das eigentliche Objekt der Sehnsucht, sondern der sowjetisierte Nordpol.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 343
Noch im selben Jahr kam ein weiterer Film mit fantastischem Sujet in die Kinos, und zwar die „fantastische Novelle“ Der Kosmosflug (Космический рейс), ebenfalls ein Erstlingswerk des Regisseurs Vasilij Nikolaevič Žuravlev (1904–1987), für das Aleksandr Filimonov das Drehbuch schrieb und bei dessen Realisierung Konstantin Ciolkovskij als wissenschaftlicher Berater engagiert wurde.12 Der dem Wissenschaftler gewidmete Film nimmt im Moskauer K. Ė. CiolkovskijAllunionsinstitut für interplanetare Mitteilungen (Всесоюзный институт межпланетных сообщений В.И.М.К. им. К. Э. Циолковского) im Jahr 1946 seinen Ausgang, von dem aus der erste Mondflug und die erste Mondlandung mit Hilfe einer von Ciolkovskij skizzierten kosmischen Rakete organisiert und realisiert wird. Auch hier ist ein junger raumfahrtbegeisterter Pionier dabei, der sich als blinder Passagier auf die Mondrakete schmuggelt.13 1936 und 1937 fand das Genre eines neuen sowjetischen Abenteuerfilms dann in Vladimir Vajnštok seinen Meister, der zuerst mit einer Adaption von Jules Vernes Roman Les enfants du capitaine Grant (1868) und ein Jahr später mit der Verfilmung von Robert Louis Stevensons Treasure Island (1881) zwei der erfolgreichsten Kinderfilme der Sowjetunion produzierte. 14 Beide Filme waren mit prominenten Schauspielern besetzt und hatten eingängige Seemannslieder (alle Texte von Vasilij Lebedev-Kumač, Filmmusik von Isaak Dunaevskij und Nikita Bogoslovskij) zu bieten. Und sie führten eine Lesart der „progressiven“ westlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts vor, wie sie auch in anderen Gattungen mit der Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe der „Weltliteratur“ in den 1930er Jahren im antifaschistischen Kampf praktiziert
12
Zur Entstehung des Films vgl. Dolgopolov, Mich.: Žjul’ Verny sovetskogo kino. Naučno-fantastičeskij fil’m „Kosmičeskij rejs“, in: Komsomol’skaja pravda (24.05.1934), S. 4.
13
Vgl. Film Kosmičeskij rejs, Reg. Vasilij Žuravlev, Mosfil’m, SSSR 1935.
14 Vgl.
Deti kapitana Granta. Reg. Vladimir Vajnštok. Mosfil’m, SSSR 1936; Ostrov sokrovišč. Reg. Vladimir Vajnštok. Sojuzdetfil’m, SSSR 1937. Ungeachtet ihres Erfolges werden die Verfilmungen in westlichen Studien zum Film der Stalinzeit häufig noch nicht einmal erwähnt, vgl. Widdis: Visions of a New Land; Hutchings, Stephen; Vernitski, Anat (Hg.): Russian and Soviet Film Adaptations of Literature. 1900–2001. Screening the Word, New York 2001; Kenez, Peter (Hg.): Cinema and Soviet Society from the Revolution to the Death of Stalin, London u.a. 2001; Engel, Christine; Binder, Eva: Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart 1999; Lawton, Anna (Hg.): The Red Screen. Politics, Society, Art in Soviet Cinema, Washington DC 1992; Taylor, Richard (Hg.): Inside the Film Factory. New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London 1991. In der sowjetischen Rezeption wird der Film Die Kinder des Kapitän Grant nach der Kritik an Vajnštoks Verfilmung von Stevensons Treasure Island in Übersichtsdarstellungen nur noch als misslungene Literaturverfilmung genannt, ehe er nach einer Rehabilitierung Mitte der 1960er Jahre zu den Klassikern der sowjetischen Kinderfilme gezählt wird, ohne dass eine intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm stattfindet. Vgl. Sokolov, Ippolit: Istorija sovetskogo kinoiskusstva zvukovogo perioda. Po vyskazyvanijam masterov kino i otzyvam kritikov. Čast’ 1 (1930–1941), Moskva 1946; Dolinskij, I. L.: Detskoe kino, in: Kalašnikova, Ju. S. u.a. (Hg.): Očerki istorii sovetskogo kino v trech tomach. Bd.3. 1946–1956, Moskva 1961, S. 414–453, S. 435; Paramonova, K.: Detskoe kino, in: Abul-Kasymova, Chandžara N. (Hg.): Istorija sovetskogo kino. Bd. 2. 1931–1941, Moskva 1973, S. 291–311, 303f.; Zorkaja, Neja: Istorija sovetskogo kino, S-Peterburg 2005.
344 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
wurde, aber in Bezug auf das Genre des Abenteuers und der Science Fiction selbst in den 1920er Jahren immer umstritten gewesen war (vgl. Abschnitt 8.1. Die Kinopoetik des Abenteuers) Vajnštoks Literaturverfilmungen entsprachen in ihrer Mischung aus Unterhaltung und Abenteuerhandlung sehr viel eher dem von Boris Šumjackij propagierten, an Hollywood orientierten „Kino für Millionen“15 als in der gleichen Zeit produzierte Abenteuerfilme wie Michail Romms Ballade über die im heldenhaften Kampf gegen feindliche Banden in Mittelasien gefallenen sowjetischen Grenzsoldaten, Die Dreizehn (Тринадцать, 1936), oder Vladimir Legošins Verfilmung von Kataevs Roman Es blinkt ein einsam Segel (Белеет парус одинокий, 1937). So wurden Vajnštoks Adaptionen zum Vorbild zweier weiterer Verne-Verfilmungen, und zwar des 1941 unter der Regie von Ėduard Penclin gedrehten Films Die geheimnisvolle Insel (Таинственный остров) nach dem gleichnamigen Roman L‘Ile mystérieuse (1875) sowie 1945 des Films Ein Kapitän von fünfzehn Jahren (Пятнадцатилетний капитан) von Vasilij Žuravlev, des Regisseurs von Der Kosmosflug nach dem gleichnamigen Roman Un capitaine de quinze ans (1878). Betrachtet man diese Entwicklung vor einem größeren medien- und kulturgeschichtlichen Hintergrund, ergeben sich in diachroner Perspektive wesentliche Verschiebungen. Waren es Anfang des Jahrhunderts noch die filmtechnischen Möglichkeiten des Stummfilms, die gerade für das Abenteuergenre mit überwältigenden Effekten und überraschenden Schnittfolgen für Spannung und Dynamik sorgten, worauf die Literatur mit einer Imitation „kinematographischer“ Verfahren als unglaubwürdige und klischeehafte Darstellungsform reagierte (vgl. Abschnitt 4.1), dann fand nun die intermediale Beeinflussung nicht auf der Ebene formaler Darstellungsmittel, sondern primär inhaltlich statt. Die Voraussetzungen hierfür waren aber wiederum rein pragmatische und strukturelle: Das Abenteuergenre konnte im Bereich des Kinos auf extrem erfolgreiche Filmadaptionen verweisen, die gerade nicht auf sowjetischen Literaturvorlagen beruhten, sondern auf den westlichen „Klassikern“ des Genres. Demgegenüber stand im Bereich der Jugend- und Kinderliteratur der misslungene Versuch einer wissenschaftlich-künstlerischen Literatur für Kinder und Erwachsene, die beim Publikum auf breite Ablehnung stieß. Die Konsequenz war, dass die Säuberungen und der Terror in den Verlagen und Redaktionen zu einem Generationswechsel führten, mit dem nicht nur Verne und Stevenson, sondern eine ganze Reihe anderer Autoren wieder aus den ideologischen Giftschränken herausgeholt wurden (vgl. Abschnitt 8.2. Die Kinder des Kapitän Grant). So ergab sich für die sowjetische Kinderliteratur ein paradoxes intermediales Phänomen: Durch die Verfilmungen westlicher Abenteuerliteratur konnte sie wiederum auf diese Vorlagen zurückgreifen, um in ihrem Medium eine neue Genrekonzeption im Rahmen der sozialistischrealistischen Vorgaben zu entwickeln. Dabei griff man vor allem auf Konzepte und Ideen zurück, wie man sie Ende der zwanziger Jahre unter massivem politischem Legitimationsdruck für den Terminus „Wissenschaftliche Fantastik“ entwickelt hatte. Die Wissenschaftliche Fantastik verband man jetzt mit dem, eher als formales, sujetkonstruierendes Verfahren verstandenen Begriff „Abenteuer“ und bezog sie auf Gor’kijs Forderung, ein „neues Märchen“ für die sozialisti15
Vgl. Taylor: Ideology as Mass Entertainment, S. 193–216.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 345
sche Wirklichkeit zu schaffen. Auf diese Weise konnte ab 1938 das bislang stiefmütterlich vernachlässigte Gebiet einer wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur wieder für einige Jahre als „Aschenputtel“ an dem Festball des sowjetischen Literaturbetriebs teilnehmen (vgl. Abschnitt 8.3. Der „fantastische Abenteuerroman“).
8. 1 Die Kinopoetik des Abenteue r s – V la d i mi r Va jn što ks Ver fi l mung e n v on Ve rne und S te ve n so n 16 „‚Die Kinder des Kapitän Grant‘ ist ein Film, der uns noch einmal an die Zaubernatur des Kinos erinnert, er vergegenständlicht die allerbemerkenswertesten Träume und Phantasien. Wir haben in der letzten Zeit ein wenig die Fähigkeit verloren, im Abenteuergenre zu arbeiten. In den ‚Kindern des Kapitän Grant‘ ist der gelungene und mutige Versuch gemacht worden, für unseren heranwachsenden Zuschauer einen qualitätsvollen, hervorragenden Abenteuerfilm zu schaffen.“ Lev Kassil’ (1936)16
Vladimir Petrovič Vajnštok (1908–1978) begann nach einem Filmstudium in Leningrad Ende der 1920er Jahre als Regisseur zu arbeiten. Nachdem seine erste Komödie Schauspieler wider Willen (Актер по неволе, 1927) von der Zensur verboten worden war, drehte er einige dokumentarische Kurzfilme, ehe er Anfang der 1930er Jahre über zwei Filme beim belorussischen Kinostudio Belgoskino nach Moskau kam.17 Hier stieg er nach seinen beiden Abenteuerfilmen und einem weiteren Film Die Jugend der Kommandeure (Юность командиров) über die Verteidigung der Sowjetunion gegen äußere Feinde 1939 zum Direktor des Filmstudios „Mosfil’m“ 16 „‚Дети капитана Гранта‘ – фильм, еще раз напоминающий нам о волшебной природе кино, он
овеществляет самые замечательные мечты и фантазии. Мы за последнее время утратили немножко умение работать в приключенческом жанре. В ‚Детях капитана Гранта‘ сделана удачная и смелая попытка создать для нашего подрастающего зрителя доброкачественный, яркий приключенческий фильм.“ Kassil’, Lev: Žak Paganel vychodit na ėkran, in: Izvestija (02.09.1936), S. 4.
17
Über Vajnštoks frühe Filme Spasajte milliony (1925) und Stal’ (1925) ist wenig bekannt, sein dritter Film Akter ponevole (1927) ist seinerzeit von der staatlichen Kontrollbehörde GRK (Glavnyj repetruarnyj komitet pri Glavpolitprosvete Narkomprosa RSFSR) verboten worden. Vgl. Margolit, Evgenij u. Vjačeslav Šmyrov. Iz’jatoe kino (1924–1953). Moskva 1995, 33. Die bei Belgoskino produzierten Filme Rubikon (1930), Uragan (1931) und Slava mira (1932) gelten als verloren. Vgl. Sul’kin, M: Vladimir Vajnštok, in: Vladimirceva, I. N. (Hg.): 20 režisserskich biografij, Moskva 1971, S. 23–43, S. 37f.; Krasinskij, A: Belorusskoe kino, in: Abul-Kasymova, Chandžara N. (Hg.): Istorija sovetskogo kino. Bd. 2. 1931–1941, Moskva 1973, S. 396–412, S. 400.
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auf, wurde während des Krieges Leiter des evakuierten Zentralen Vereinigten Kinostudios in Alma-Ata (Центральная объединенная киностудия, Abk. COKS), von wo er zum Geheimdienst (NKVD, später MGB und KGB) wechselte, für den er bis in die 1960er Jahre arbeitete und anfing – unter dem Pseudonym V. Vladimirov – journalistische und belletristische Texte, später auch Drehbücher zu veröffentlichen.18 Vernes Roman Die Kinder des Kapitän Grant erzählt von der Expedition einer schottischen Reisegruppe, eines französischen Geografen und der beiden Kapitänskinder Mary und Robert auf der Suche nach dem Schotten Harry Grant, von dem sie zufällig einen Hilferuf in Form einer Flaschenpost gefunden haben, dass er Schiffbruch erlitten habe.19 Der verwitwete Kapitän Grant war seinerzeit ohne seine Kinder aufgebrochen, um ein noch nicht von den Engländern kolonisiertes Land oder eine unbesiedelte Insel im Stillen Ozean zu finden, wo er ein unabhängiges und freies „Neuschottland“ gründen könne. Das Papier mit der Nachricht aus der Flasche ist jedoch vom Meerwasser so zerfressen, dass die Botschaft nur als Kryptogramm lesbar ist, aus dem einzig deutlich hervorgeht, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Breitengrad befindet. Für die Entzifferung der Ortsangabe bietet der durch seine Verwirrtheit zufällig auf dem Rettungsschiff gelandete französische Geograf Jaques-Eliacin-François Paganel hingegen immer wieder neue Deutungen, so dass sich die Expedition nach einer Atlantiküberquerung erst quer durch den südamerikanischen Kontinent entlang des Breitengrads schlägt, dann nach Australien fährt, um hier ihr Glück zu versuchen, um am Ende nach Neuseeland aufzubrechen, ehe man den Gesuchten schließlich eher zufällig auf der Insel Maria Theresia als modernen Robinson aufspürt. Der Film übernimmt diese Handlung im Wesentlichen, verändert sie aber in zentralen Punkten im sowjetischen Sinne.20 So sind die Filmszenen noch sehr viel stärker als die 18
In den 1970er Jahren hatte er noch einmal ein großes Comeback, als er mit dem ersten, tatsächlich im „Wilden Westen“ spielenden kubanisch-sowjetischen Western Der Reiter ohne Kopf (Всадник без головы) nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mayne Reid (The Headless Horseman. A Strange Tale of Texas, 1865) den größten Publikumserfolg des Jahres 1973 landete. Der nach Motiven aus den Werken von Francis Bret Harte (1836–1902) gedrehte Abenteuerfilm Bewaffnet und äußerst gefährlich (Вооружен и очень опасен) mit Liedern von Vladimir Vysockij wurde 1977 ebenfalls der meistgesehene Film des Jahres in der Sowjetunion. Diese beiden nach über 30 Jahren Pause gedrehten Filme waren neben einer expliziten Replik auf die Ästhetik des Italo-Western gewissermaßen auch sein persönlicher und letztlich endgültiger Abgesang auf den Versuch der Stalinzeit, ein eigenes, genuin sowjetisches Genre des Abenteuerfilms zu schaffen. Vgl. Sul’kin: Vladimir Vajnštok, S. 23–43; Golovskoj, Valerij: Fil’m „Pered sudom istorii“, ili ob odnom kinoėpizode v žizni V. V. Šul’gina, in: Žurnal Vestnik online 26/337 (24.12.2003), http://www.vestnik.com/issues/2003/1224/win/golovskoy.htm, 01.09.2006.
19
Vgl. Verne, Jules: Die Kinder des Kapitän Grant (1868). Dt. von Lothar Baier (Werke, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1966.
20
Vgl. den Film Deti kapitana Granta. Reg. Vladimir Vajnštok. Mosfil’m, SSSR 1936. Eine ausführlichere Analyse des Films findet sich in Schwartz, Matthias: Die Kinder des Kapitän Grant. Zur Geopoetik des Abenteuers in Vladimir Vajnštoks Verne-Verfilmung von 1936, in: Marszalek, Magdalena; Sasse, Sylvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin 2010, S. 189–224.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 347
Romankapitel auf Grants Sohn Robert als Hauptidentifikationsfigur zentriert, in dessen Charakter unverkennbar der sowjetische Pionierjunge aufscheint, der sich ähnlich wie Ptuškos Petja Konstantinov als sowjetischer Gulliver die alte Welt im Sinne der neuen Zeit aneignet, dabei aber fast alle tradierten Abenteuerelemente von Schiffbruch, Spurensuche, Verrat, Verfolgungsjagd bis zu Schießereien und Seemannsliedern erleben darf. Diese Abenteuer auf der Expedition entlang des 37. Breitengrads stellen für die Helden jedoch keine existenzielle Gefahr mehr dar, sondern sind – wie eine sowjetische Kinogeschichte 1973 schrieb – „nach den Gesetzen der Fahrt auf einer Jahrmarktsattraktion“ konstruiert: Auf einen Wasserfall und einen Vulkanausbruch folgt die Entführung Roberts durch den Kondor, anschließend kommen tropischer Regen und eine Überschwemmung, ehe schließlich Krokodile auftauchen.21 Betrachtet man diese Geisterbahnfahrt durch überwältigende und bedrohliche Naturschauspiele vor dem Hintergrund des sowjetischen Diskurses über die Umgestaltung der Natur, tritt der Attraktionscharakter noch deutlicher hervor: Anstelle einer imaginären Bezwingung der Natur mit Hilfe von Technik und Wissenschaft, ergeben sich hier die Helden ganz der „lustigen“ Willkür und Faszinationskraft des Naturschauspiels. Während in der Sowjetunion mit Hilfe von Elektrifizierung und Industrialisierung Zentrum und Peripherie immer dichter zusammen gebracht werden, können im Film weder der britische Konsul in Südamerika noch der irische Siedler in Australien den Reisenden bei ihrer Durchquerung der Kontinente helfen, da sie sich im Innern des Erdteils nicht auskennen. Während die sowjetische neue Geographie als „lebende Landkarte“ gerade durch den ordnenden Eingriff des Menschen in das willkürliche und ungeordnete Spiel der Naturkräfte und Elemente gekennzeichnet ist, gibt hier die Natur noch die Gesetze der Reise vor. Durch diesen Kontrast zum sowjetischen Naturdiskurs wird die Expedition als eine Reise in die koloniale Vergangenheit gekennzeichnet, die jedoch keinen exotisierenden Blick mehr auf das erhabene und dem Menschen seine Grenzen weisende Schauspiel der Natur inszeniert, sondern eher ein nostalgisches Panorama der unberührten Wildnis als einen unterhaltsamen Naturpark entwirft.22 Entsprechend ist gegenüber der Romanvorlage auch die Exotik wilder Menschenfresser und widerständiger Einheimischer gestrichen worden: Die Konfrontation mit „fremden“ Menschen geschieht abgesehen von den kolonialen Siedlern und Räubern einzig in der Person des Patagoniers Thalcave als „gutem Indianer“, der Robert aus den Fängen eines Kondor befreit und die Expedition durch die Naturgefahren Südamerikas begleitet.23 Auch das zentrale politische
21
Chanjutin: Sovremennost’ na ėkrane, S. 196f. Zwar gibt es das Element der spielerischen Aneignung der Welt, indem Wetten, Wettkämpfe oder andere Herausforderungen bestanden werden müssen, auch bei Jules Verne, doch im Unterschied zu Vajnštoks Film wird bei Verne immer die fundamentale kulturelle, politische und zivilisatorische Differenz zwischen Eigenem und Fremdem sowohl in Bezug auf andere Menschen als auch in Bezug auf die Umwelt betont, das heißt die koloniale „kulturelle Geographie“ fortgeschrieben.
22
Vgl. hierzu ausführlicher auch Schwartz: Die Kinder des Kapitän Grant, S. 205ff., 216ff.
23
Eine rassistische Exotisierung indigener Bevölkerungsgruppen findet sich bei Jules Verne sowohl in der Darstellung der südamerikanischen Indios als auch in jener der australischen Aborigines und neuseeländischen Maoris. Vgl. Verne: Die Kinder des Kapitän Grant, S. 85, 91f., 223–227, 285f., 303f., 333.
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Thema des Romans, der Unabhängigkeitskampf der Schotten (und der Iren) gegen die englischen Kolonialherren, wird im Sinne einer sowjetischen Geografie gelöst. Denn während der Roman mit dem Tag der Rückkehr Grants als nationalschottischem Feiertag endet, schließt die Weltreise auf der Suche nach einer neuen Heimat im Film mit einem Vermächtnis des Vaters an die Jugend (in Gestalt von Mary und Robert): „Ungeachtet aller Hindernisse habe ich meinen Gedanken nicht aufgegeben. Wenn es mir nicht vergönnt ist, ihn zu verwirklichen, dann werden meine Kinder das erreichen, wofür ich mein ganzes Leben gegeben habe. Ich glaube fest daran, dass der Tag kommen wird, an dem auch der letzte Schlucker der Herr seiner unabhängigen Heimat sein wird.“24
Auf diese Worte folgt, nach einer letzten Einstellung auf das Schiff und den abschließenden Zwischentiteln, der Abspann, der eine rasant sich zur Melodie des Titelsongs vor weißen Wolken drehende Erdkugel zeigt, worauf nach einer Abblende noch einmal dessen Refrain ertönt: „Wer gewohnt ist für den Sieg zu kämpfen,/ Möge mit uns zusammen zu singen beginnen:/ Wer glücklich ist, der lacht,/ Wer will, der wird es erreichen,/ Wer sucht, der wird immer finden!“25 Dieses Ende vereinigt Vernes Abenteuerroman mit Il’ins „lebender Landkarte“ geradezu idealtypisch: Nach den Worten des wieder gefundenen Vaters dreht sich die Erdkugel in vielfach beschleunigter Weise, bis der an Dunaevskijs „Marsch der fröhlichen Burschen“ erinnernde Schlussrefrain signalisiert, dass die Kinder auf der Leinwand zusammen mit den jugendlichen Zuschauern in der sowjetischen Gegenwart jenes gelobte Land gefunden haben, das die unabhängige Heimat aller Völker ist. Die imaginäre Neuzentrierung einer antikolonialen Weltkarte um die Sowjetunion herum wird noch dadurch unterstrichen, dass in Vajnštoks Film nicht nur die englische Kolonialherrschaft in Australien, Südamerika und in der Südsee, sondern auch die französische in Gestalt von Paganel kritisiert wird. Dabei steht insbesondere dieser von Nikolaj Konstantinovič Čerkasov (1903–1966) gespielte „Sekretär der Geographischen Gesellschaft von Paris, Korrespondierendes Mitglied der Geographischen Gesellschaft von Berlin, Bombay, Darmstadt, Leipzig, London, St. Petersburg, Wien und New York“26 als Sinnbild für eine veraltete und damit wirkungslos gewordene Geografie, findet er auf seinen Landkarten doch weder den Ort, an dem
24 „Несмотря на все преграды, я не отказался от своей мысли. Если мне не суждено ее осуществить, то
мои дети добьются того, ради чего я отдал всю свою жизнь. Я твердо верю, что настанет день, когда последний бедняк будет хозяином своей независимой родины.“ Vgl. Deti kapitana Granta [Film 1936].
25 „Кто привык за победу бороться,/ С нами вместе пускай запоет:/ Кто весел – тот смеется,/ Кто хочет
тот добьется,/ Кто ищет – тот всегда найдет!“ Ebd.
26 Verne:
Die Kinder des Kapitän Grant, S. 28. Im Film stellt sich Paganel mit denselben Worten vor, ohne allerdings eine Mitgliedschaft in London zu erwähnen, was die imperiale französisch-englische Konkurrenz als Idee des Drehbuchs noch unterstreicht.
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sich Kapitän Grant befindet, noch weiß er die unterschiedlichen Sprachen und Namensgebungen auseinander zu halten.27 Noch sehr viel deutlichere Veränderungen gegenüber der Romanvorlage nahm das Filmdrehbuch von Oleg Leonidovič Leonidov (1893–1951) und Regisseur Vladimir Vajnstok für die Verfilmung der Schatzinsel 1937 vor: Stevensons Roman erzählt vornehmlich aus der Sicht des Wirtshaussohnes Jim Hawkins, wie an der Küste Englands einige Piraten auftauchen, die hinter der Karte einer Schatzinsel her sind. Jim nutzt eine sich bietende Gelegenheit, eignet sich die Karte an und wird als Waisenkind mit Dr. Livesey und Squire Trelawney ein Schiff anheuern, um den Piratenschatz von der Südseeinsel wieder zurück ins englische Mutterland zu bringen. Livesey steht dabei für das moderne, humanistische England, das auch seinen Feinden medizinische Hilfe zukommen lässt. Er ist bei Stevenson der personifizierte Inbegriff des immer wachsamen Staates, eine literarische Figur, deren Pfeife noch ganz unhinterfragt für überlegene Ratio und dessen Perücke für Aristokratie und Staatsmacht stehen,28 während der geschwätzige und nur an Abenteuern interessierte Trelawney den alten, dekadenten Adel des House of Lords repräsentiert. Ihnen gegenüber gestellt ist der einbeinige skrupellose Pirat Long John Silver, der als Schiffskoch angeheuert hat, Jim in sein Herz schließt und ihn vor die Alternative stellt zwischen dem Leben als freier Glücksritter oder verantwortungsvoller Staatsbürger. Vajnštok hat diese Figurenkonstellation nun wesentlich umgestellt. So ist Dr. Livesey bei ihm nicht mehr der staatstreue Amtsarzt des englischen Imperiums, sondern irischer Widerstandskämpfer gegen die englische Kolonialmacht. Er ist kein britischer Gentleman, sondern ein junger Rebell, dem die Liebe zu Jenny Hawkins neuen Kampfgeist einflößt. Als der Arzt am Anfang des Films verwundet wird, baut Jenny ihn mit dem Widerstands- und Liebeslied auf: „Dort wo die Pferde über Leichen gehen/ Wo die ganze Erde von Blut gefärbt/ Möge Dir helfen/ und vor Kugeln Dich schützen/ Meine junge Liebe.“29 Denn aus Stevensons jugendlichem männlichen Helden Jim ist in Vajnštoks Film eine emanzipierte Wirtshaustochter geworden, die sich ihrer tradierten Hausfrauenrolle verweigert und, verkleidet als Schiffsjunge Jim, bei dem Gentleman-Piraten Long John Silver anheuert. Und so ist das Ziel der Schatzsuche in dieser Verfilmung auch nicht, den Piratenschatz wieder in die Hände ergebener Staatsbürger zurück zu bringen, sondern Geld zu bekommen, um den Widerstand des irischen Volkes gegen die englische Besatzungsmacht finanzieren zu können. Am Ende des Films
27
Paganel verwechselt Portugiesisch mit Spanisch und vergisst, dass sich Ortsbezeichnungen auf den deutschen, französischen und englischen Karten teilweise unterscheiden. Vgl. Verne: Die Kinder des Kapitän Grant, S. 61f., 383.
28
Bei Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes repräsentiert die Pfeife hingegen nur noch den überlegenen Intellekt, dessen Träger als Privatdetektiv dezidiert den unfähigen staatlichen Inspektoren von Scotland Yard gegenübergestellt wird.
29 „Там где кони по трупам шагают,/ Где всю землю окрасила кровь,/ Пусть тебе помогает/ От пуль
сберегает/ Моя молодая любовь.“ Vgl. Ostrov sokrovič [Film 1937].
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ziehen die zur Adjutantin beförderte Jenny Hawkins und der Kommandant Doktor Livesey als „junge Patrioten“ Seite an Seite in den revolutionären Freiheitskampf gegen die Besatzer.30 Entsprechend bekommen bei Vajnštok auch die Piraten eine andere Bedeutung als bei Stevenson, deren verantwortungslose Freibeuterei als falsche Widerstandsoption gegen die Kolonialherrschaft der selbstlosen Aufopferung für die Heimat gegenüber gestellt wird. So sind die Piraten der neuen Zeit weniger eine ernsthaft zu erwägende Option eines anderen Lebens als vielmehr eine anachronistische und damit eigentlich ungefährliche diabolische Kraft des blutgierigen und heimatlosen Bösen. In diesem Sinne singen die Piraten unter der Regie John Silvers ganz unverfroren und offenherzig: „Über Meere und Ozeane/ Führt uns der böse Stern/ Wir streunen durch verschiedene Länder/ Und bauen uns nirgends ein Nest!/ Unser Kapitän wurde/ Der Hass, der schwarz ist wie die Nacht!/ Was haben wir zu verzagen/ nichts haben wir zu verlieren/ Trink bis zum Umfallen!/ Es kommt die Welle/ voller Blut!/ [...] Uns hat geboren die Finsternis/ Wir streunen umher wie die Pest/ Es kommt die Stunde,/ Höre den Befehl,/ Der Teufel ist für uns! Ah-Hey!“31
In dieser Ontologisierung des Bösen sind die Piraten jenen „weißhäutigen“ Kosaken und ausländischen Invasoren aus dem Bürgerkrieg ähnlich, wie sie in Perestianis Verfilmung von Bljachins Roman Rote Teufelchen (1923) oder Aleksandr Razumnyjs Film Die Bande von Vater Knyš (1924) gezeigt wurden. Doch während in den Abenteuergeschichten des Bürgerkriegs in den zwanziger Jahren die unter einem „bösen Stern“ stehenden Weißgardisten noch eindeutig als Klassenfeinde politisch und sozial in einen historischen Kontext eingebunden waren, wird jetzt eine Literaturvorlage gewissermaßen politisiert und moralisiert: Die Piraten mit ihren orgiastischen Festen und in ihrer karnevalesken Dekadenz stehen für keine militärische Bedrohung mehr und auch für keine verlogene religiöse Moral, die es zu enttarnen gilt, sondern für eine mephistophelische Herausforderung, in der es sich zwischen Gut und Böse, Anstand und Verführung, dem roten und dem „bösen“ Stern zu entscheiden gilt.
30
Damit ist ähnlich wie in Bljachins Roten Teufelchen das Junge-Werden für die jugendliche Heldin die einzige Option, am Befreiungskampf aktiv teilzunehmen, wobei hier die Maskerade noch einen Schritt weiter geht, denn es sind nicht sowjetische Romanfiguren, die die Rolle ihrer literarischen Vorbilder (als Stechfliege oder Pfadfinder) in der eigenen Wirklichkeit spielen, sondern hier findet die Transgression des Geschlechts innerhalb der (verfilmten) literarischen Vorlage selber statt: Aus dem braven Jim Hawkins, der mit seinen älteren Beschützern auf Abenteuerreise geht, wird die wagemutige Jenny Hawkins, die heimlich beim Piratenkoch anheuert, um durch die Reise zur Widerstandheldin in der eigenen Heimat zu werden. Vgl. Abschnitt 2.2 dieses Buches.
31 „По морям и океанам/ Злая нас ведет звезда/ Бродим мы по разным странам/ И нигде не вьем гнезда!//
Стала нашим капитаном/ Черная как ночь вражда!/ Что там унывать,/ Нам нечего терять/ Пей до пьяна!/ Будет волна,/ Кровью полна! [...]Нас родила тьма/ Мы бродим как чума/ Близится час,/ Слушай приказ,/ Дьявол за нас! Эгей!“ Vgl. Ostrov sokrovišč [Film 1937].
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 351
Während Vajnštoks Kinder des Kapitän Grant jedoch in der Kritik äußerst positiv besprochen wurden,32 barg die karnevaleske Verderbtheit von John Silvers Piraten als Inbegriff des Bösen in einer Zeit, als sich die Säuberungen und der Große Terror auf dem Höhepunkt befanden, womöglich eine zu verführerische Ambivalenz, als dass sie noch in den Kanon des Sozialistischen Realismus integrierbar war.33 So war Vajnštoks zweite Literaturverfilmung scharfer Kritik ausgesetzt und musste unter anderem als Anlass dafür herhalten, dass der für die Filmproduktion verantwortliche Direktor der Hauptverwaltung für Kinematographie, Boris Šumjackij, als „Schädling“ und „politisch unverantwortlicher“ Mensch Anfang Januar 1938 zum Rücktritt gezwungen wurde.34 Doch ungeachtet dieser Kritik ermöglichte es insbesondere der große Erfolg von Deti kapitana Granta von nun an, Abenteuerromane zu schreiben, deren künstlerische Mittel den kulturpolitischen Anforderungen der neuen Zeit entsprachen und die auch außerhalb der Sowjetunion spielen konnten. Denn die Filme zeigten der Literatur künstlerische Möglichkeiten auf, wie sowohl das Abenteuergenre als auch eine Wissenschaftliche Fantastik unterhaltsame Elemente im Kontext des Sozialistischen Realismus integrieren konnte.35 Diese bestanden erstens in einer Historisierung außersowjetischer Räume und kolonialer Ordnungen, die als überholte und ungefährliche Attraktionen gezeigt werden konnten und der neuen sowjetischen antikolonialen Ordnung niemals ernsthaft gefährlich sein würden. Damit einher ging zweitens eine Entexotisierung dieser Räume und Ordnungen, denen alle Begegnungen mit fremden Kulturen und anderen Lebensformen genommen und die nur in Hinblick auf die repressive Kolonialordnung (Kinder des Kapitän Grant), den antikolonialen Befreiungskampf (Die Schatzinsel) oder auch als Naturschauspiel repräsentiert wurden. Diese Repräsentation bildete gewissermaßen eine Gegenbild zur sowjetischen Unterwerfung der Natur und Emanzipation aller Sowjetbürger. Die Entexotisierung und Historisierung ermöglichte es den weltreisenden Helden durch eine gewisse Karnevalisierung des Genres, sich drittens wie auf einem Pionierausflug fröhlich und mutig in ihre Abenteuer zu stürzen, sei es im Land der Liliputaner (Der neue Gulliver), auf dem Mond (Der Kosmosflug) oder auf dem 37. Breitengrad (Die Kinder des Kapitän Grant). Gleichzeitig schuf 32
Vgl. Vejsman, E.: Deti kapitana Granta (Kino), in: Prava (27.08.1936), S. 6; Kassil’: Žak Paganel vychodit na ėkran, S. 4.
33
Diese Ambivalenz wird noch verstärkt, wenn man den Film – wie es Stephen Hutchings in seiner Interpretation tut – mit Grigorij Aleksandrovs Musikkomödie Volga-Volga vergleicht, worin er schreibt: „Aleksandrov’s paradigmatic Volga, Volga ends with a song stating that laughter is a means for defeating enemies, a gesture mirrored in Treasure Island. The choise of the musical form for Treasure Island denotes ist membership of a film category asserting the Soviet Union’s ideological victory over ist class enemies.“ Allerdings besteht die Spezifik von Vajnštoks Film gerade darin, dass es die Piraten sind, die in karnevaleskes Lachen ausbrechen und das „Lied der Piraten“ (Musik von N. Bogoslovskij, Verse von V. LebedevKumač) singen. Vgl. Hutchings, Stephen: Russian Literary Culture in the Camera Age. The Word as Image, London 2004, S. 97–101.
34
Toeplitz, Jerzy. Geschichte des Films. Band 3, 1934–1939. Berlin 1992, 45f.
35
Vgl. hierzu Hutchings: Russian Literary Culture in the Camera Age, S. 97ff.
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man aber durch die Dämonisierung der „Feinde“ auch antagonistische Kräfte wie die Piraten, die nicht mehr wie in den Abenteuergeschichten der zwanziger Jahre mit Hilfe fantastischer Psychomaschinen und zukünftiger Wunderwaffen die Weltherrschaft anstrebten, sondern als anachronistische und karnevaleske Figuren anstelle der fehlenden Exotik gewissermaßen als museale Zirkusattraktionen für Unterhaltung sorgten. Damit hatten aber Vajnštok und einige andere Drehbuchautoren und Filmregisseure Mitte der dreißiger Jahre äußerst erfolgreiche Muster für Abenteuergeschichten etabliert, die den ästhetischen und ideologischen Vorgaben des Sozialistischen Realismus genügten, denen man sich auch in den für Kinder- und Jugendliteratur zuständigen Zeitschriften- und Verlagsredaktionen nicht mehr entziehen konnte.
8 .2 Die Kinder des Kapitän Grant – E i n e n e u e A u to r e n generat io n b e tritt d ie B ühne 3 6 „Sich mit Pionieren in Moskau zu treffen, das ist nicht das Gleiche als mit ihnen auf einer Expedition zu sein. Diese Bekanntschaft mit Pionieren brachte mich dazu, dass man unbedingt die Frage nach der Schaffung des neuen Menschen aufwerfen muss. [...] Wir gehen während der Ernte in die Kolchose, unsere Kinder streunen durchs Dorf und fangen als allererstes ‚Kapitän, Kapitän, lächeln Sie doch’ zu singen. Es bedeutete große Mühe, sie zu überzeugen, dass die Menschen arbeiten und man ihnen helfen müsse.“ Aleksandr Ščerbakov (1937)36
Was der erste Sekretär und mächtigste Mann des Schriftstellerverbandes der UdSSR, das ZKMitglied Aleksandr Sergeevič Ščerbakov (1901–1945), hier von den Pionieren erzählt, die lieber den Titelsong von Vajnštoks Verne-Verfilmung Die Kinder des Kapitän Grant anstimmten als zu arbeiten, scheint ihn ernsthaft beunruhigt zu haben. So berichtet er auf einer internen Sitzung der Sektion für Kinderliteratur des Schriftstellerverbandes im Oktober 1937 von einer wissenschaftlichen Expedition, die er im Sommer desselben Jahres mit dem Schriftsteller Ruvim Isaevič Fraerman (1891–1972) den Fluss Desna entlang gemacht hat: 36 „Встречаться с пионерами в Москве – это не то, что бывать с ними в экспедиции. Это знакомство с
пионерами привело к тому, что необходимо сейчас ставить вопрос о создании нового человека. [...] Мы приходим в колхоз во время уборки урожая, наши рeбята ходят по деревне и прежде всего начинают петь ‚капитан, капитан, улыбнитесь’. Большого труда стоило их убедить, что люди работают и им нужна помощь.“ RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 41bf. (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR,
Sekcija detskoj literatury: Stenogramma zasedanija detskoj sekcii 20/X-1937 g.).
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„Wir sind mit den Pionieren hart aneinander geraten. Dieses Treffen mit den Pionieren, muss ich offen sagen, hat uns überrascht, wir traten den Pionieren als der neuen Generation entgegen, Menschen, die wir wenig kennen. [...] Die Pioniere, die mit uns waren, waren ausgewählte Pioniere. Diese ungefähr 10 Menschen hatten solche Mängel, dass es eine schwere Aufgabe sein wird, aus ihnen vollwertige Menschen zu machen. Wir trafen bei ihnen ein vollkommenes Fehlen an Kameradschaft an, ihnen dieses Gefühl der Kameradschaft zu vermitteln, kostete uns große Mühen. Wenn die Expedition am Lager ankam, musste man die Sachen auspacken und Zelte aufbauen, die Kinder holten ihre Sachen raus und versteckten sich in den Büschen. Das ist ein Mangel, mit dem die Kinderliteratur kämpfen muss.“37
Die ständig lächelnden Kapitäne, karnevalesken Piraten und neuen Gullivers schienen für diese verwöhnten Moskauer Pioniere demnach nicht die richtigen Filme und auch nicht die passende Lektüre zu sein, um sie zu „neuen Menschen“ zu erziehen. Diese Einsicht war schon aus den Redebeiträgen auf der ersten unionsweiten Sitzung zur Kinderliteratur, die Anfang 1936 der Komsomol organisiert hatte, zu erkennen gewesen,38 und sie änderte sich auch nicht in den internen Diskussionen des Schriftstellerverbandes während der Jahre 1936 und 1937. So dienten die überaus populären Abenteuerfilme zwar als Katalysator, um dem bislang als Schund verteufelten Genre überhaupt zu Akzeptanz bei den Kritikern, aber auch in den Verlagen und bei den Autoren zu verhelfen, blieben aber als Vorbild für die Neukonzeptualisierung des Genres umstritten.39 Dessen Durchsetzung wurde jedoch durch die nicht nachlassende Nachfrage nach solcher Art Literatur erleichtert, die einen kontinuierlichen Druck auf die zuständigen Instanzen ausübte. Hinzu kamen die verheerenden personellen Folgen des Großen Terrors, die nicht nur neue Personen in die Leitungspositionen der Verlage und Zeitschriften brachten, sondern auch innerhalb der Institutionen jungen Kritikern und Schriftstellern neue Möglichkeiten eröffneten, die jetzt erst am Anfang ihrer Karriere standen.
37 „Мы с пионерами столкнулись вплотную. Эта встреча с пионерами, должен сказать, откровенно, нас
поразила, мы к пионерам подходили, как к новому поколению, людям, мало нам известным. [...] Пионеры, которые были с нами это были отборные пионеры. Человек 10 обладали такими недостатками, которые делают трудной задачу создания полноценного человека. Мы столкнулись с полным отсутствием чувства товарищества, привить это чувство товарищества стоило больших трудов. Когда экспедиция остановилась на лагерь, нужно было выносить вещи, ставить палатки, ребята вынесли свои вещи и спрятались в кусты. Это недостаток, с которым должна бороться детская литература.“ Ebd., l. 41b.
38
Vgl. RGALI, f. 630, op. 5, ed. 7, l. 1–87; Ebd. , ed. 8., l. 1–104 (Direkcija Izdatel’stva destkoj literatury, Central’nyj komitet Vsesojuznogo Leninskogo Kommunističeskogo Sojuza molodeži, Narodnyj komissariat Prosveščenija R.S.F.S.R.: Stenogramma. Otdel’nye vystuplenija pisatelej i chudožnikov na soveščanii chudožnikov v detskoj literature i pisatelej po voprosam detskoj literatury pri CK V. L.K.S.M. 15/ 16/ 17/ 19 janvarja 1936 goda).
39
Vgl. hierzu die Replik des ehemaligen Abenteuerschriftstellers Ostroumov auf den neuen Verlagsleiter Andrej Andreev im Oktober 1937, RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 41.
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Denn von den Autoren der 1920er Jahre war in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kaum noch jemand übrig geblieben, der einzige Autor, der in dem Genre der Wissenschaftlichen Fantastik nach einer Unterbrechung in der ersten Hälfte des Jahrzehnts wieder kontinuierlich publizierte, war Aleksandr Beljaev. So druckte die Zeitschrift Vokrug sveta neben neuen Erzählungen 1937 seine zu einem Kurzroman erweiterte, schon besprochene Erzählung Der Kopf des Professor Dowell (Голова профессора Доуэля) von 1925.40 In den Folgejahren bis zu seinem Tod 1942 legte er noch drei weitere neue Romane, einen Kurzroman, mehrere Erzählungen und eine Reihe, teils überarbeiteter Neuauflagen älterer Werke vor. Diese Werke steckten gewissermaßen die Grenzen des Möglichen einer sozialistisch-realistischen Wissenschaftlichen Fantastik ab, die mal im kolonialen Indien (Ariel [Ариэль], 1941), im kapitalistischen Amerika (Der Mann, der sein Gesicht gefunden hat [Человек, нашедший свое лицо], 1940) oder in der kommunistischen Zukunft (Das Laboratorium Dubl’vė [Лаборатория Дубльвэ], 1938) spielten, während Beljaev gleichzeitig als Kritiker und Publizist immer wieder als Popularisator dieses zu etablierenden Genres in Erscheinung trat.41 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Wiederaufleben des Genres war außerdem Aleksej Tolstoj, der vor allem durch seine historischen Romane in jenen Jahren zu einer führenden Persönlichkeit innerhalb der sowjetischen Literaturpolitik aufstieg. Auch wenn er keine neuen Abenteuerromane und Wissenschaftliche Fantastik mehr schrieb, konnte das Genre doch durch die Referenz auf seinen Namen erheblich von seiner kanonisierten Autorität profitieren, insbesondere dank der Überarbeitung von Aėlita, die jetzt als „fantastischer Kurzroman“ (фантастическая повесть) mehrere Neuauflagen erlebte.42 So entwickelten sich Beljaev und Tolstoj in diesen Jahren zu zentralen Bezugsfiguren für die sowjetische Neukonzeption des Genres.43 Neben Tolstoj und Beljaev als dritte Autorität der älteren Generation fungierte Konstantin Ciolkovskij, wobei dieser nicht so sehr als Literat, sondern als Wissenschaftler, der sich der 40
Diese Romanfassung hatte er zuvor schon in der Leningrader Zeitung Smena in Fortsetzungen publiziert und erschien ein Jahr später beim Verlag Sovetskij pisatel’ auch in Buchform. Vgl. Rykačev, Jakov: Golova professora Douėlja, in: Detskaja literatura 1 (1939), S. 50–53; Balabucha, Andrej; Britikov, Anatolij: Kommentarii. Golova professora Douėlja, in: Beljaev, Aleksandr: Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 1, Leningrad 1983, S. 280–281, 280.
41
Der Roman Der Mensch, der sein Gesicht gefunden hat stellte eine erheblich überarbeitete Fassung des Kurzromans Der Mensch, der sein Gesicht verloren hat (Человек, потерявший лицо) dar, der 1929 in Vokrug sveta erschienen war. Zum Spätwerk von Beljaev, vgl. Ljapunov: Aleksandr Beljaev, S. 100–147; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
42
Aėlita war nach der Zeitschriftenfassung 1922/23 in Krasnaja nov’ und einer Buchausgabe 1923 bei Gosi zdat nur noch im Rahmen von Werksausgaben viermal zwischen 1827 und 1935 erschienen, ehe die überarbeitete Romanfassung von 1937 bis 1939 allein vier Buchauflagen auf Russisch erfuhr. Der Hyper boloid des Ingenieur Garin erschien zwischen 1936 und 1939 immerhin noch zweimal. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
43
Aleksandr Bogdanov, der Ende der 1920er Jahre immerhin noch eine gewisse Rolle als Referenz gespielt hatte, war jetzt aufgrund seiner Nähe zum Proletkul’t und zu Bucharin ein vollkommen tabuisierter Name geworden. Vgl. Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 172f.
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Fantastik zuwandte, von großer Wichtigkeit war. Indem er die Raketentechnik vornehmlich in Bezug auf die Raumfahrt und den Kosmos behandelte, die ansonsten einen militärstrategisch hoch sensiblen und äußerst wichtigen Rüstungsbereich darstellte, ergab sich durch ihn eine unverfängliche und zudem höchst attraktive Weise der Wissenschaftspopularisierung in diesem Bereich, wie schon der Film Der Kosmosflug 1935 gezeigt hatte.44 Viele prominente Autoren der „kommunistischen Pinkertons“ hatten sich in andere, weniger umstrittene Bereiche der Literaturproduktion zurückgezogen, wie Sergej Auslender, Leonid Ostroumov oder Pavel Bljachin.45 Manche blieben zumindest im Hintergrund und durch Kritiken präsent, wie Šklovskij oder auch Šaginjan, andere setzten ihre unterbrochene Arbeit fort, wie Zuev-Ordynec oder Palej.46 Ein spektakuläres Comeback erlebte Jan Larri, das symptomatisch war für die Möglichkeiten, die sich in diesen Jahren eröffneten. Nachdem sein zitierter Roman Das Land der Glücklichen (1931) massiver Kritik ausgesetzt gewesen war, da er die Sowjetunion verunglimpfe, hatte er in den Folgejahren nichts mehr in dem Genre publizieren können und in einem Forschungsinstitut für Fischwirtschaft gearbeitet, ehe er über die Vermittlung von Maršak wieder zurück in die Literaturproduktion geholt wurde mit dem Auftrag, ein populärwissenschaftliches Buch über die Entomologie zu schreiben.47 Daraus entstand sein in der Kinderzeitschrift Koster (Das Lagerfeuer) zuerst erschienener Roman Die außergewöhnlichen Abenteuer von Karik und Valja (Необыкновенные приключения Карика и Вали, 1937), der bis zu Larris Verhaftung 1941 aufgrund eines „konterrevolutionären“ Nachfolgewerkes noch zwei Buchauflagen erlebte.48 44
So fungierte Ciolkovskij insbesondere nach seinem Tod 1935 als Inbegriff des Wissenschaftlers, dessen Genialität und prophetischer Pioniergeist vom Zarismus verkannt wurde und der erst in der Sowjetunion gefördert und wertgeschätzt worden ist; eines Wissenschaftlers zumal, der sich nicht ins private Gelehrtenkabinett zurückzog, sondern sich von Anfang an mit seinen publizistischen und fantastischen Werken der Wissenschaftspopularisierung widmete und dem insbesondere an der Förderung der Jugend gelegen war. Vgl. Ciolkovskij, Konstantin: Veličina proženija okeanskoj batisfery (Special’no dlja „Vokrug sveta“), in: Vokrug sveta 6 (1935), S. 13–14; Ders.: Grezy o zemle i o nebe, Leningrad/Moskva 1938; [Anon.]: Konstantin Ėduardovič Ciolkovskij, in: Vorkug sveta 10 (1935), S. 14–16; In der populärwissenschaftlichen Publizistik stand Ciolkovskij allerdings im Unterschied zur Fantastik nicht so sehr für die Raumfahrt, sondern für die Popularisierung der Luftfahrt, war aber auch in anderen Bereichen publizistisch präsent. Vgl. Ivič: Priključenija izobretenija, S. 167–182; Perel’man, Jakov: Ciolkovskij. Žizn’ i techničeskie idei, Moskva 1937.
45
Vgl. hierzu die Abschnitte 2.2 und 2.3 dieses Buches.
46
Vgl. Palej, Abram: Naučno-fantastičeskie rasskazy (Biblioteka Ogonek, Bd. 62), Moskva 1937; Zuev- Ordynec, Michail: Zastava na ozere, in: Vokrug sveta 1 (1937), S. 7–11; Ders.: Carskij kurioz, in: Vokrug sveta 2 (1937), S. 16–25; 3, S. 12–16.
47
Vgl. Charitonov, Evgenij: Priključenija pisatelja-fantasta v „Strane sčastlivych“. Sud’ba i knigi Jana Larri (K 100-letiju so dnja roždenija Jana Larri), in: Knižnoe obozrenie 25 (19.06.2000), S. 21.
48
Vgl. Larri, Jan: Neobyknovennye priključenija Karika i Vali (1937), S-Peterburg 2007; Kon, L.: Neobyknovennye priključenija Karika i Vali, in: Detskaja literatura 11 (1938), S. 26–29; Zenkevič, L. (Prof.): Zamečanija k knige Larri „Neobyknovennye priključenija Karika i Vali“, in: Ebd., S. 29- 30; Devekin, V.:
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Abb 12
Umschlagtitel der neu gegründeten Buchreihe von Detzizdat „Bibliothek der Abenteuer“ (Biblioteka priključenij), links: Aleksej Tolstoj: Aėlita (Moskau 1937); rechts: Michail Rozenfel’d: Morskaja tajna (Moskau 1937).
Geprägt wurde die Literatur jener Jahre hingegen von der Generation der so genannten „Vydvižency“, der Aufsteiger der dreißiger Jahre. Viele aus dieser Generation hatten ihre höhere, meist technisch-wissenschaftliche Ausbildung in den 1920er Jahren gemacht und im Zuge der ersten Fünfjahrespläne ihre ersten beruflichen Erfahrungen bei der Industrialisierung des Landes gesammelt.49 Zum Teil hatten die aus diesem Umfeld kommenden Autoren ihre schriftstellerische Laufbahn schon Anfang der dreißiger Jahre mit Skizzen und Reportagen im Stil der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur begonnen, ehe sie sich der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik widmeten und zunächst zumeist kleinere Erzählungen bei den Verlagen oder in Zeitschriften und Zeitungen unterbringen konnten. In der unmittelbaren Vorkriegszeit konnten dann Autoren wie die Journalisten Grigorij Grebnev und Michail Loskutov (der allerdings noch 1940 infolge der Säuberungen ermordet wurde), der Agrarbiologe Georgij Tuškan, der Parteiaktivist Grigorij Adamov, der Wirtschaftswissenschaftler Lazar’ Lagin, der Fertigungsingenieur Aleksandr Kazancev oder etwas später der Paläontologe Ivan Efremov ihre ersten großen Romane in der fantastischen und abenteuerlichen Kinderliteratur vorlegen.50 Auf der strukturellen Ebene wurde dieser Übergang zu einer neuen Schriftstellergeneration vor allem durch die Umwälzungen infolge der Säuberungen im Sommer 1937 ermöglicht. Diese führten dazu, dass man insbesondere bei Detizdat schon im gleichen Jahr damit begann, junge
Zanimatel’naja kniga (Bibliografija), in: Komsomol’skaja pravda (25.12.1940), S. 3; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki. 49
Vgl. generell zu dem Aufstieg dieser neuen technischen Intelligenz im Zusammenhang mit den Säube rungen, vgl. Fitzpatrick, Sheila: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia, Ithaca/ London 1992, S. 149–182.
50
Alle diese Autoren hatten eine naturwissenschaftliche Ausbildung abgeschlossen und in ihren Berufen eine Zeitlang gearbeitet. Zu den biograraphischen Angaben im Einzelnen in den folgenden Kapiteln und vgl. Gakov: Enciklopedija fantastika; Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 280ff., 290ff., 304ff., 341ff., 362ff., 408ff. Allgmein zu dieser Phase der Wissenschaftlichen Fantastik vgl. Britikov: Russkij sovetskij naučnofantastičeskij roman, S. 135–176.
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sowjetische Autoren zu publizieren, die in den Jahren zuvor keine Chance hatten verlegt zu werden. So brachte man noch im selben Jahr den ersten „wissenschaftlich-fantastischen Roman“ von Grigorij Adamov, Die Bezwinger der Tiefen (Победители недр, 1937), heraus und verlegte den ersten noch mit Michail Loskutov geschriebenen Abenteuerroman von Georgij Tuškan, Das himmelblaue Ufer (Голубой берег, 1937).51 Auch Grigorij Grebnev (Pseudonym von Grigorij Nikitič Gribonosov, 1902–1960) publizierte 1937 seinen ersten Roman Die fliegende Station (Летающая станция, 1937), der ein Jahr später bei Detizdat unter dem Titel Arktanien. Die fliegende Station (Арктания, 1938) auch als Buch erschien.52 Außerdem benannte man die im Jahr zuvor gegründete Buchreihe „Bibliothek der Kurzromane und Romane“ (Библиотека повестей и романов) in „Bibliothek der Abenteuer“ (Библиотека приключений) um, die unter wechselnden Reihentiteln, aber im fast durchgängig einheitlich gehaltenen Layout sich in den folgenden Jahrzehnten zur erfolgreichsten und prestigeträchtigsten Buchreihe für Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik in der Sowjetunion entwickelte.53 Nachdem man 1936 insgesamt zehn „Klassiker“ des Genres veröffentlicht hatte, unter denen sich neben vier Romanen von Jules Verne und je einem von Alexandre Dumas, Fenimore Cooper, Jack London, Walter Scott und Robert Stevenson mit Aleksej Tolstojs Roman Giperbolid inženera Garina von 1925 nur ein einziges sowjetisches Werk befand, erschienen in der umbenannten Reihe 1937 immerhin schon zwei sowjetische Autoren.54 Dabei handelte es sich zum einen um die vom Tolstoj für Jugendliche überarbeiteten Fassung von Aėlita sowie zum anderen um den fantastischen Roman des Zeitungsreporters und jungen Autors Michail Rozenfel’d, Das Geheimnis des Meeres (Морская тайна, 1937). Sie erschienen neben Stevensons Schatzinsel, Londons Wolfsblut (White Fang, 1906) und fünf Romanen von Verne in der Buchreihe in einer für Belletristik bei Detizdat sehr hohen Auflage von 50.000 Exemplaren.55 Genreprägend für den sowjetischen wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerroman im Stile Jules Vernes wurde dann Adamovs zweiter Roman, Tajna dvuch okeanov (Das Geheimnis zweier Ozeane), der erstmals 1938 in Auszügen und 1939 zunächst als Fortsetzungsroman in der Pionerskaja pravda, dann in Buchform bei Detizdat erschien. Bezeichnend für dieses Werk ist, dass es in Nachfolge der Kinder des Kapitän Grant seine Handlung nicht auf das Territorium der Sowjetunion begrenzte, sondern außerhalb des Landes verlegte, ohne dass es sich um einen 51
Vgl. Tuškan, Georgij; Loskutov, Michail: Goluboj bereg, Moskva/Leningrad 1937.
52
Vgl. Grebnev, Grigorij: Arktanija (Letajuščaja stancija). Fantastičeskij roman, Moskva/Leningrad 1938; Ders.: Kransyj adminral Ėrtejl’, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 25.
53
Vgl. die bibliographischen Angaben zu dieser bis in die Gegenwart fortbestehenden Serie, die in Liebhaberkreisen als „Ramka“ (dt. Rahmen) geführt wird bei Berežnoj: Bibliografija.ru.
54
1936 erschienen Vingt mille lieues sous les mers (1870) und L‘île mystérieuse (1875) gleich in zwei Auflagen, so dass insgesamt sogar sechs Bücher von Verne herauskamen, vgl. ebd.
55
Ebd. Allerdings ging die Anzahl der Titel dann in den Folgejahren auf zwei bis drei pro Jahr zurück, unter denen sich jeweils mindestens eine sowjetische Neuveröffentlichung befand. Vgl. ebd.
358 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
„typischen“ Agententhriller oder eine kapitalistische Niedergangsgeschichte im Stile der kommunistischen Pinkertons der zwanziger Jahre handelte. Vielmehr erleben hier sowjetische Helden nach dem Muster von Vajnštoks Verne-Verfilmung Abenteuer an der kolonialen Peripherie der westlichen Imperien (vgl. Abschnitt 8.1). Lazar’ Lagin hingegen übte sich in der Übertragung des Märchens auf die sowjetische Gegenwart der 1930er Jahre und schrieb als sein erstes größeres Werk den „Märchenkurzroman“ (сказка-повесть) Der Alte Chottabyč (Старик Хоттабыч), der 1938 zunächst in der Jugendzeitschrift Pioner (Der Pionier) erschien, ehe er 1940 bei Detizdat als Buch herauskam (vgl. Abschnitt 10.2). Auch bezogen auf die Neue Geografie der Sowjetunion fand die Geopoetik des Abenteuers als Grenzkonflikt insbesondere zwischen der „antikolonialen“ Gegenwart der sowjetischen Gebiete Mittelasiens und der andauernden kolonialen „Vergangenheit“ in den Gegenden außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs eine künstlerische Form. Der von Vsevolod Voevodin und Evgenij Ryss verfasste Kurzroman Der blinde Gast (Слепой гость), der 1938 sowohl in Fortsetzungen bei Vokrug sveta als auch in Buchform bei Detizdat erschien, probierte an der sowjetischen Peripherie in einem kleinen Dorf in Turkmenistan eine neue Form des Abenteuers aus, indem er viele Elemente des Romans der Geheimnisse in seine Handlung aufnahm (vgl. Abschnitt 9.2). Den Ende 1939 erschienenen Roman Džura (Джура, dt. Titel Menschenjagd in Pamir) von Georgij Tuškan, der in den Hochgebirgen von Pamir spielte, feierte die Kritik als ersten „wirklich sowjetischen“ Abenteuerroman (vgl. Abschnitt 9.3). Eine etwas andere Richtung der Wissenschaftlichen Fantastik vertritt hingegen Aleksandr Kazancev, der schon 1935 für sein zusammen mit Izrail’ Šapiro geschriebenes Filmszenario Arenida bei einem Allunionswettbewerb für das beste wissenschaftlich-fantastische Drehbuch den ersten Preis bekommen hatte, mit seinem wissenschaftlich-technischen Roman Die brennende Insel (Пылающий остров, 1940), der noch stark an den kommunistischen Pinkertons der zwanziger Jahre orientiert war und zu großen Teilen in kapitalistischen Ländern spielte, dessen fantastische Erfindungen aber schon enger an die Erfordernisse des sowjetischen Aufbaus angebunden wurden (vgl. Abschnitt 10.1). Auch Vladimir Vladko orientierte sich an klassischen Vorbildern wie Conan Doyle und Verne, von dem 1939 gleich zwei wissenschaftlich-fantastische Romane auf Russisch erschienen, einmal der 1935 erstmals auf Ukrainisch publizierte Roman Die Argonauten des Weltalls (Аргонавты Вселенной) über einen Flug zur Venus und das erstmals auf Ukrainisch im gleichen Jahr publizierte Werk Die Nachkommen der Skythen (Потомки Скифов), das von deren Fortexistenz im Erdinnern handelt. Doch auch außerhalb der Kinderliteratur existierte eine bestimmte Richtung „fantastischer“ Literatur fort, die mögliche Szenarien für die unmittelbar bevorstehende Zukunft entwarf. Diese Werke wurden allerdings nicht als Wissenschaftliche Fantastik veröffentlicht, daher blieben sie sehr viel enger an propagandistische Aufgaben und die Doktrinen des Sozialistischen Realismus gebunden. Zum einen waren dies Romane im Stile der Produktionsromane, die zum Ende hin in einem Ausblick Zukunftsvisionen einer sozialistischen Gesellschaft entwickelten, wie beispielsweise Petr Andreevič Pavlenkos (1899–1951) Roman Im Osten (На востоке), der einen zukünftigen Krieg mit Japan antizipierte, den die Sowjetunion dank Stalin triumphal ge-
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winnt. Der Roman wurde in den Jahren 1936 bis 1939 über ein Dutzend Mal auf Russisch aufgelegt in einer Gesamtauflage von weit über einer halben Million Exemplaren. 56 Zum anderen waren dies Werke, die einen bevorstehenden Krieg der Sowjetunion mit einer westlichen imperialistischen Macht entwarfen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der „Kurzroman über den zukünftigen Krieg“ von Nikolaj Nikolaevič Španov (1896–1961), Der Erstschlag (Первый удар), der 1939 neben zwei Zeitschriftenfassungen gleich in vier Verlagen als Buch herauskam.57 Diese stark tagespolitisch und ideologisch geprägten Werke sind in der postsowjetischen Kritik als „Verteidigungsfantastik“ (оборонная фантастика) in die Geschichte der Fantastik integriert worden, auch wenn sie in der zeitgenössischen Rezeption nichts mit Abenteuerliteratur und Wissenschaftlicher Fantastik zu tun hatten.58 Allerdings gab es auf einer motivischen Ebene in den Beschreibungen der Kriegsszenarien direkte Verbindungen zu den fantastischen Kriegsabenteuern der kommunistischen Pinkertonovščina (vgl. Abschnitt 4.2), und auch biographisch gab es im Fall von Španov direkte Anknüpfungspunkte, hatte er doch als Autor und Redakteur beim Vsemirnyj sledopyt seine Karriere begonnen.59 So konnte sich unter dem Einfluss der Verfilmungen westlicher „Klassiker“ der Abenteuerliteratur dieses Genre auch im Bereich der Kinderliteratur im Rahmen des Sozialistischen Realismus von neuem entwickeln, das am Vorabend des „zukünftigen Krieges“ eine erstaunliche Bandbreite an Abenteuerliteratur und Fantastik hervorbrachte, wie sie noch vor Beginn der Schauprozesse undenkbar gewesen wäre. Damit hatte sich innerhalb von ein paar Jahren das Klima hinsichtlich der Abenteuerliteratur grundsätzlich gewandelt, was sich ab 1936 zuerst nur in der Verlagspolitik und „Korridorkritik“ abzeichnete, nach dem Ende des Großen Terrors 1938 aber auch in der publizistischen Kritik widerspiegelte.
56
Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki; Berežnoj; Borisov: Bibliografija.ru.
57
Španov, Nikolaj: Pervyj udar. Povest’ o buduščem vojne, in: Znamja 1 (1939), S. 14–122.
58
Vgl. Bulyčev: Padčerica ėpochi, S. 233ff., Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 290–303.
59
Vgl. Španov: Tainstvennyj vzryv [1925]; Španov, Nikolaj: Epopeja Krasina. Očerki učastnika pochoda, in: Ebd. 10 (1928), S. 723–727; Grepačeskij, S.: Pjat’ let Vsemirnogo sledopyta, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1930), S. 153–159, S. 157. Zu Španov vgl. auch Abschnitt 11.3 dieses Buches.
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8 .3 Der „ fanta s tis che Abenteue rro ma n “ – A le ksa n d r B e lja e vs Asc henpu ttel-Ve rgle ich 6 0 „Leider gab es auch Redakteure, die die Aufgaben der Wissenschaftlichen Fantastik viel zu eng verstanden und die wissenschaftlich-fantastischen Werke ‚austrockneten‘. Wenn ein Autor eine lebhafte Szene darstellte, Konflikte beschrieb, die zwischen Menschen geschehen, – tauchte am Seitenrand des Manuskripts eine redaktionelle Anmerkung auf: ‚Wozu das? Besser ein Atomtriebwerk beschreiben‘.“ Aleksandr Beljaev (1938)60
Etwas zeitversetzt zu den seit 1936 anlaufenden Publikationen alter und neuer Autoren begann sich ab 1938 auch die Literaturkritik wieder öfter mit Abenteuerliteratur und Wissenschaftlicher Fantastik zu befassen,61 wobei es Aleksandr Beljaev war, der für diesen Neuanfang die zentrale Metapher lieferte. In einem Artikel für die Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) im Mai 1938 verglich Beljaev die Rolle der Wissenschaftlichen Fantastik innerhalb der sowjetischen Literatur mit derjenigen von Aschenputtel: „Das Schicksal der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik ist ähnlich wie das Schicksal von Aschenputtel aus dem Märchen – sie führen beide ein Doppelleben: Einen glänzenden Auftritt auf dem Ball und eine trostlose Existenz der ungeliebten Stieftochter, die im zerlumpten Kleid in der dunklen Küchenecke sitzt./ Erscheint ein neuer wissenschaftlich-fantastischer Roman, dann ist die Auflage innerhalb weniger Stunden buchstäblich vergriffen. In den Bibliotheken gibt es für so ein Buch eine nicht endende Warteliste. In den Umfragen der Zeitschriften setzen die Leser Wissenschaftliche Fantastik ständig auf den ersten Platz. Junge Leser und Schüler fordern bei Treffen mit Verlagen nachdrücklich die Produktion von Büchern mit wissenschaftlich-fantastischem Inhalt. Sie gründen sogar ‚Aktiengesellschaften‘ zum ‚Gelegenheits‘-Kauf von einem beliebigen ältlichen, zerknitterten wissenschaftlich-fantastischen Roman zum Preis von 40–50 Rubel, der nominell 50 Kopeken bis 1 Rubel kostet. Erwachsene Menschen schreiben Briefe an die Zeitschriftenredak-
60 „К сожалению, были и редакторы, которые, понимая слишком узко задачи научной фантастики,
‚засушивали‘ научно-фантастические произведения. Если автор давал живую сцену, описывал конфликты, происходящие между людьми, – на полях рукописи появлялась редакционная заметка: ‚К чему это? Лучше бы описать атомный двигатель‘.“ Beljaev, Aleksandr: Sozdadim sovetskuju naučnuju
fan-tastiku, in: Detskaja literatura 15–16 (1938), S. 1–8, S. 2. 61
Es gab zwar schon zuvor vereinzelte Stimmen, die eine Wissenschaftliche Fantastik vom Typ Jules Vernes forderten, sie zogen aber keine intensivere Auseinandersetzung mit dem Genre nach sich, vgl. zum Beispiel Beljakov, A.: Nužny romany žjul’vernovskogo tipa, in: Kniga i proletarskaja revoljucija 5 (1937), S. 144.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 361
tionen und die Autoren immer über dasselbe – ‚mehr wissenschaftliche Fantastik!‘./ Der Erfolg bei den Lesern ist groß und unstrittig. Das ist das Fest, der Ball. Das ist der Gang von Aschenputtel unter die Menschen.“62
Dagegen gebe es aber den Alltag. Und der Alltag, das seien die Verlage, die Redakteure, die Kritiker, die Schriftstellerkollegen, der Schriftstellerverband, wo sich niemand für diese Art von Literatur interessiere und die Fantastikschriftsteller nur auf Ablehnung stießen, wo die für Belletristik Zuständigen keine Ahnung von Wissenschaft und Fantastik hätten oder einen in die Wissenschaftsredaktionen und -abteilungen verweisen würden, die wiederum nur populärwissenschaftliche Werke haben wollten.63 Nun hatte es ein solcher Aschenbrödel-Vergleich natürlich in sich, nahm er doch Gor’kijs Aufforderung, die Welt der Märchen in die sowjetische Wirklichkeit zu verlagern buchstäblich, doch verwendete er sie gegen dessen Intention: die sowjetische Literaturpolitik erschien hier als die böse Stiefmutter, der es zu entkommen galt. Doch war eine solch radikale Kritik an der alltäglichen Praxis des Literaturbetriebs letztlich wohl nur möglich, da sie einen Zustand beschrieb, den man gerade dabei war zu ändern. Und so machte sich das Aschenputtel der sowjetischen Literatur in den folgenden Jahren bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 auf, die dunkle Küchenecke der Korridorkritik zu verlassen und in öffentlichen Auseinandersetzungen und mit neuen Werken dem Festball der sowjetischen Literatur beizuwohnen. Bei diesen kritischen Auseinandersetzungen entwickelte sich die seit 1932 erscheinende, vom ZK des Komsomol herausgegebene „literaturkritische und bibliografische Monatszeitschrift“ Detskaja literatura (Kinderliteratur)64 bis zu ihrer Einstellung 1941 zur zentralen Plattform für die Neudefinition der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik. So hatte man sich nun auch institutionell damit arrangiert, dass es sich hierbei um „Literatur der zweiten Wahl“ – um Kinderliteratur – handelte, bot dieses Gebiet doch letztlich sehr viel größere künstlerische
62 „Судьба советской научной фантастики похожа на судьбу сказочной Золушки – у обеих двойная
жизнь: блестящий выезд на бал и унылое существование нелюбимой падчерицы, сидящей в затрапезном платье, в темном углу кухни./ Выходит в свет научно-фантастический роман, и в несколько часов весь тираж буквально расхватывается. В библиотеках на такую книгу непрекращающаяся очередь. В анкетах журналов читатели неизменно выдвигают научную фантастику на первое место. Молодые читатели-школьники при встречах с издателями настойчиво требуют выпуска книг научно-фантастического содержания. Они же составляют ‚акционерные общества на паях‘ для покупки ‚по случаю‘ за 40–50 рублей старенького, растрепанного научнофантастического романа, номинальная стоимость которого 50 коп. –1 рубль. Взрослые читатели пишут письма в редакции журналов и авторам все о том же – ‚больше научной фантастики!‘/ Успех у читателей – большой и бесспорный. Это праздник, бал. Это выезд Золушки в люди.“ Beljaev, Alek-
sandr: Zoluška. O naučnoj fantastike v našej literature, in: Literaturnaja gazeta 27 (15.05.1938), S. 3. 63
Ebd.
64
Russ. Детская литература. Ежемесячный литературно-критический и библиографический журнал ЦК ВЛКСМ.
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Gestaltungsfreiheit nicht nur als der Bereich des populärwissenschaftlichen Buches, sondern auch als derjenige der sehr viel stärker kulturpolitisch und ästhetisch normierten Belletristik für die erwachsene Leserschaft. Beljaev begründete diese Neuverortung des Genres in Bezug auf die Wissenschaftliche Fantastik auch inhaltlich in einem programmatischen Beitrag unter dem Titel „Lasst uns eine sowjetische Wissenschaftliche Fantastik schaffen“, der explizit auf seinen gleichnamigen Aufruf am Vorabend des Ersten Schriftstellerkongresses 1934 verwies und seinerzeit ungehört geblieben war (vgl. Abschnitt 6.1).65 In direkter Anlehnung an Gor’kijs Konzeptualisierung der sowjetischen Literatur leitete er die Evolution des Genres aus den antiken Mythen und dem volkstümlichen Märchen her, wobei er jedoch explizit die bürgerliche Fantastik eines Savinien Cyrano de Bergerac, Edgar Allan Poe und Jules Verne in die Gattungsgeschichte mit einschloss. Doch im Unterschied zu Maršaks und Il’ins Übertragung von Gor’kijs Thesen auf die Kinderliteratur, die diese Märchen so eng wie möglich an die sowjetische Wirklichkeit des sozialistischen Aufbaus anbinden wollten, hebt Beljaev an den „Märchenhelden“ (сказочные герои) und dem „Flug der Märchenfantastik“ (взлет сказочной фантастики) gerade deren Besonderheit hervor, dass sie „im Bereich der nichtrealisierten Fantasie“ („в области неосуществленной фантазии“) bleibe, wobei er mehrmals auf Ciolkovskij verweist.66 Stattdessen sei das Genre in den letzten Jahren zu einem wissenschaftlichen „Utilitarismus“ heruntergekommen, bei dem literarische Traktate und technische Details zur Austrocknung eines spannenden Sujets geführt hätten.67 Der enge wissenschaftlich-technische Themenkreis habe lediglich gegenwartsnahe Forschungs- und Industrieprojekte umfasst, wobei die „Fantastik“ einzig zu einer Erweiterung der Maßstäbe bei Größe, Geschwindigkeit und ähnlichem geführt habe: „Das Leben, die Praxis, die Erfahrung und die Leserreaktionen zeigten, dass eine solche Ausrichtung falsch war, Wissenschaftliche Fantastik darf man nicht in ein ärmliches wissenschaftlich-populäres Büchlein verwandeln, in eine wissenschaftlich-literarische Frühgeburt. Wissenschaftlichfantastische Romane und Erzählungen müssen vollberechtigte belletristische Werke sein.“68
Wissenschaftliche Fakten könnten besser durch Bücher vom Typ der „unterhaltsamen Wissenschaften“ vermittelt werden, während gleichberechtigte künstlerische Werke gerade auf solche technischen Details soweit wie möglich verzichten sollten, um das maximale Interesse der Leser
65
Vgl. Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1934], S. 4.
66
Beljaev: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku [1938], S. 1–8, S. 1f.
67
Ebd., S. 2f.
68 „Жизнь, практика, опыт, отзывы читателей показали, что такое направление было неправильным,
научную фантастику нельзя превращать в скудную научно-популярную книжку, в научнолитературный недоносок. Научно-фантастический роман, рассказ должны быть полноправными художественными произведениями.“ Ebd., S. 2.
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auf die eigentlichen Problemstellungen zu lenken, wie es die Werke eines Jules Verne oder H.G. Wells täten.69 Um dies zu erreichen müssten die Autoren sich ständig über die neuesten Fortschritte in allen Wissenschaftsbereichen informieren. Aber auch die in der Nachfolge von Wells stehende „soziale“ Wissenschaftliche Fantastik müsse auf fester politischer und ökonomischer Grundlage stehen, wenn sie die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft beschreibe: „Wobei der Schriftsteller bei allen Projekten, originellen oder übernommenen, nicht vom Äußeren, sondern vom inneren Inhalt, der Zweckmäßigkeit ausgehen und Schablonen vermeiden, die Besonderheiten der Zeitbedingungen, des Klimas, des Alters usw. berücksichtigen muss. Das ist sehr schwer und mühsam. Doch wer Schwierigkeiten fürchtet, der soll sich nicht ans Schreiben eines wissenschaftlich-fantastischen Werkes machen.“70
Mit dieser Abgrenzung von allem Äußeren, Standardisierten, Einfachen und der Betonung der Originalität, Unterschiedlichkeit und Schwierigkeit des inneren Charakters wird nicht nur der Programmatik der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur eine Absage gegeben, sondern auch die inspirierende Funktion kreativer – wissenschaftlich motivierter – Einbildungskraft hervorgehoben. Die Wissenschaftliche Fantastik habe den „Menschen der Zukunft“ (человек будущего) zu zeigen, der – wie er in Anspielung auf Majakovskijs letztes, unvollendetes Poem schreibt – „mit ganzer Stimme“ („во весь голос“) spreche, was eine ungemein komplizierte Aufgabe sei, weshalb die Kritiker nicht allzu streng sein sollten, wenn die Helden noch zu sehr an die Zeitgenossen erinnern würden.71 Nicht die Zukunftsnähe der sozialistischen Gegenwart, sondern die Gegenwartsferne der kommunistischen Zukunft als eine qualitative Differenz ist demnach der Gegenstand des wissenschaftlich-fantastischen Märchens. Gleichzeitig erwähnt Beljaev bis auf Grigorij Adamov keinen sowjetischen Schriftsteller, sondern nennt einzig Wells und Verne als Gewährsleute.72 Anhand von ihnen vollzieht er in Ansätzen eine Unterscheidung zwischen einer eher technisch ausgerichteten – für die Verne steht – und einer „sozialen“ Wissenschaftlichen Fantastik – für die Wells steht –, wie sie Evgenij
69
Ebd., S. 2f., 4f.
70 „Причем во всех проектах, оригинальных и позаимствованных, писатель должен исходить не от
внешности, а от внутреннего содержания, целесообразности, избегать стандартов, учитывать разнообразие условий времени, климата, возраста и т. д. Это очень сложно и трудно. Но кто боится трудностей, не должен браться за создание научно-фантастических произведений.“ Ebd., S. 5.
71
Ebd., S. 6.
72
Diese Orientierung an westlichen Vorbildern begründet beispielsweise Vladimir Vladko in einem Debattenbeitrag damit, dass es schlicht keine russischen Vorläufer gäbe, vgl. Vladko, Vladimir: Puti naučnoj fantastiki, in: Detskaja literatura 7 (1939), S. 13–16, 16. Als eine der wenigen Ausnahmen, die nicht nur eine schwache Nachahmung darstellten, sondern mit Verne und Poe verglichen werden könnten, präsentierte die Zeitschrift Vokrug sveta 1937 den fragmentarischen Roman von Vladimir Odoevskij Das Jahr 4338 (Petersburger Briefe) (4338 год [Петербургские письма], 1837/1840), vgl. Odoevskij, Vladimir: Peterburgskie pis’ma 4338 goda (1837/1840), in: Vokrug sveta 4 (1937), S. 12–17.
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Zamjatin schon Mitte der zwanziger Jahre vorgenommen hatte, den er aber an keiner Stelle erwähnt. Genauso wenig wie Beljaev oder andere erwähnen, dass der Begriff der „Wissenschaftlichen Fantastik“ erst, nachdem das Abenteuergenre unter massiven Legitimationsdruck geraten war, als fester Terminus Ende der zwanziger Jahre etabliert worden ist, um sich gegen die Angriffe der RAPP-Aktivisten zu verteidigen. Diese – literaturpolitisch bedingte –sehr selektive Rezeption der Autoren und Debatten der zwanziger Jahre war zwar insgesamt typisch für die literaturpolitischen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre, führte aber für den Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik und Abenteuerliteratur zu einem spezifischen Phänomen: Da man keine „unproblematischen“ „sozialistisch-realistischen“ Werke als kanonisierte Vorbilder hatte – und das waren auch diejenigen von Beljaev, Tolstoj oder Ciolkovskij nicht –, musste man auf die westlichen „Klassiker“ zurückgreifen, um zu definieren, wohin sich Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik entwickeln sollten. Die Orientierung an den westlichen „Klassikern“ des Genres ist nämlich für die Abenteuerliteratur noch sehr viel stärker zu beobachten, wobei man sich weiterhin ausdrücklich von den sowjetischen Versuchen der „kommunistischen Pinkertons“ abgrenzt, die – wie es an einer Stelle hieß – der „Verräter“ Bucharin inszeniert habe.73 Während in den Jahren zuvor die Abenteuergattung im Bereich der Belletristik generell verworfen wurde, begann man jetzt ähnlich wie ein paar Jahre zuvor schon auf den Seiten der Fachzeitung Kino zuerst einmal mit einer generellen Neubestimmung dessen, was unter dem Begriff verstanden werden könne.74 Dabei gebrauchte man den Terminus des Abenteuers meist als Oberbegriff nicht nur für Wissenschaftliche Fantastik, sondern auch für historische Romane und Kriminalliteratur, ohne eine spezifische Definition zu liefern: „Bis zur letzten Zeit ist eine spannend-handlungsorientierte, d.h. Abenteuerliteratur stiefmütterlich vernachlässigt worden. Jetzt hat die Abenteuerliteratur vollständige Anerkennung bekommen, doch ohne Kenntnis ihres spezifischen Stils und ihrer Sprache hat sie nicht die nötige Entwicklung erfahren.“75
73
Vgl. Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 175.
74
Auch bei dieser Neubestimmung spielt die von Gennadij Pospelov vorgeschlagene Definition des Abenteuerromans (авантюрный роман) als ein Übergangsphänomen der Romanentwicklung vom Feudalismus zum Kapitalismus keine Rolle, vgl.: Lukács; Pospelov: Roman, S. 778–781, 783ff..
75 „До последнего времени остро-сюжетная, т. е. приключенческая литература была в загоне. Теперь
приключенческая литература получила полное признание, но, лишенная признания специфики своего стиля и языка, она не получила должного развития.“ Tuškan, Georgij [Jurij]: O stile detskoj
priključenčeskoj povesti, in: Detskaja literatura 2 (1939), S. 73–75, S. 75. So hält auch Vladimir Vladko in Bezug auf die Wissenschaftliche Fantastik fest: „Man muss betonen: unser Thema ist das wissenschaftlichfantastische Genre als ein Teil des Abenteuergenres im Allgemeinen.“ („Надо подчеркнуть: наша тема – это научно-фантастический жанр, как часть приключенческого вообще.“) Vgl. Vladko: Puti naučnoj fantastiki, S. 13.
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Diese sprachliche und stilistische Spezifik müsse sich aber aus der Hauptcharakteristik des Genres, nämlich dem „spannenden Sujet“ (острый сюжет) ergeben: „Es ist unstrittig: im Zentrum der Aufmerksamkeit von Detizdat muss eine Geschichte mit einem Sujet, mit einem spannenden Sujet stehen.“76 Denn nur dieses könne den jungen Leser fesseln und Interesse für das in ihm verhandelte Thema wecken: „Die Aktivität ist eine der unbedingten Qualitäten der Kinderliteratur: klettern, rennen, schießen, treffen, weglaufen usw., d.h. Verb, Verb und noch ein Verb. Und das Charakterbild soll auch in der Handlung entstehen, und nicht in psychologischen Beschreibungen.“77 Gerade aber diese fesselnde Aktivität zeichne die Klassiker des Genres von Cooper bis Verne, von Mayne Reid bis Wells aus.78 In der Kritik wird allerdings immer wieder angemerkt, dass mit dieser kompositionellen Spezifik im klassischen Abenteuerroman häufig Elemente einhergingen, die für die sowjetische Wirklichkeit nicht übernommen werden dürften. So bliebe eine recht schematische Darstellung der Charaktere und ihres Umfeldes oft ohne konkreten Realitätsbezug, was auch noch für viele Romane Aleksandr Beljaevs gelte.79 Auch bedürfe es heute keiner Exotik unbekannter Weltgegenden oder einer Marsreise mehr, da die Erschließung der eigenen Peripherie, die Herausforderung der Grenzschützer oder der technisch-wissenschaftliche Fortschritt für genügend Spannung und Aufregung bürgen und die sowjetische Technik die „allerfantastischsten wissenschaftlichen Vorschläge“ biete.80 Zudem sei die „Exotik“ eines Cooper häufig nur eine vermeintliche aus sowjetischer Sicht, schildere er doch oft sehr reale Konflikte und Kämpfe in seinem eigenen Land. So brauche es zur Wissensvermittlung nicht unbedingt die „Muse ferner Reisen“ (музa дальных странствий), um den „geografischen Instinkt“ (географический инстинкт) der Leser anzusprechen.81 Bei außersowjetischen Geografien und Gesellschaften, aber auch in historischen Romanen und fantastischen Sujets, ginge es hingegen vor allem darum, den Horizont der Leser zu erweitern und die wissenschaftliche Neugierde zu wecken, indem die realen Zusammenhänge gezeigt werden, die sich hinter den geheimnisvollen Traditionen und exotischen Kulturen verbergen.82 Das gelte insbesondere für die Figurendarstellung, bei der man anstatt schematischer Heldencharaktere psycho76
„Спору нет: в центре внимания Детиздата должна быть сюжетная, остро-сюжетная повесть.“ Ėjchler, G.: O nekotorych zadačach destkoj literatury, in: Detskaja literatura 12 (1938), S. 20–26, 25
77 „Действенность – одно из обязательных качеств детской литературы: лазить, бегать, стрелять,
добиваться, побеждать и т. д., т. е. глагол, глагол и еще раз глагол. И становление образа должно быть в действии, а не в психологических описаниях.“ Tuškan: O stile detskoj priključenčeskoj povesti, S. 74.
78
Vgl. Ėjchler: O nekotorych zadačach destkoj literatury, S, 25; Auch Obručev fordert eine unterhaltsame Abenteuergeschichte im Stile Coopers, Reids, Vernes und Wells, die gleichzeitig unterhaltend und lehrsam sein solle. Vgl. Obručev, Vladimir: Neskol´ko zamečanij o naučno-fantastičeskoj literature, in: Destkaja literatura 1 (1939), S. 39–40.
79
Vgl. Rykačev: Golova profesora Douėlja; Beljaev, Aleksandr: O moich rabotach, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 23–25.
80
Vgl. Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 170f.
81
Ebd., S. 170.
82
Vgl. Jurikov, P.: Knigi, kotorych ždet čitatel’, in: Komsomol´skaja pravda (10.12.1939), S. 3.
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logisch überzeugende Charaktere liefern solle.83 Anstelle einer sinnlichen Konfrontation mit dem Fremden gelte es durch psychologische Analyse überzeugende Helden im Kampf gegen koloniale Unterdrückung und traditionelle Herrschaftsmechanismen zu zeigen.84 Gerade diese „Psychologisierung“ der Helden – der Helden „mit ganzer Stimme“ in Beljaevs Worten – stellte neben der inhaltlichen Anbindung an die sozialistische Wirklichkeit die wesentliche formale Verschiebung gegenüber den Definitionen des sowjetischen Abenteuerromans dar, wie sie in den zwanziger Jahren kursierten: Statt der durch engagierte Heldentaten und „karnevaleske“ Maskerade auf die „Erziehung der Gefühle“ zielenden kommunistischen Pinkertons und weltweiten Pfadfinder, die sich gerade dadurch vom „psychologischen Roman“ unterschieden, sollte nun der Held nicht nur durch seine Handlungen und Taten den Leser für die gute Sache einnehmen, sondern auch als „echtes“ Vorbild dienen können. Diese generelle Eigenschaft des Sozialistischen Realismus, die Heldenpsychologie als eine Entwicklung vom „instinktiven“ Verhalten zu einem „bewussten“ Handeln zu zeichnen,85 barg aber einige Probleme in sich, durfte die Psychologisierung doch nicht zur „Desintegration“ des positiven Helden führen, weshalb die Mehrzahl der Autoren eher eine schablonenhafte Konfliktlosigkeit bevorzugten.86 Entsprechend fiel auch die Kritik an den sowjetischen Autoren der 1920er und 1930er Jahre im Bereich der Abenteuerliteratur aus: Es fehle ihren Fantasien der Realitätsbezug, die Heldenpsychologien seien ohne Individualität, die Handlungsknüpfung wenig glaubhaft und häufig völlig humorlos und eintönig. Selbst in den Werken Tolstojs und Beljaevs gäbe es einige Mängel,87 erst recht aber bei Obručev, Adamov, Gončarov, Šaginjan, Rozenfel’d, Loskutov und Tuškan, denen sogar Epigonen des Genres wie Louis Jacolliot oder Louis-Henri Boussenard aus dem 19. Jahrhundert überlegen seien.88 Doch man habe einen Anfang gemacht und es gelte jetzt, eine „solide Literatur“ zu schaffen, die „unterhaltsam und erzieherisch im kommunistischen Geist“ sei. Dabei müsse der Fantasie der Schriftsteller „vollkommene Freiheit“ eingeräumt werden, solange sie von einem „sozialistischen Anliegen“ ausgehe, und nicht von den „alten literarischen Kanons und ihren Bedingungen“.89 In den laufenden Diskussionen um die Neukonzeption einer „fantastischen Abenteuerliteratur“ hatte die Konzentration auf die Kompositionstechnik, Figurencharakteristik und Sujetführung zur Folge, dass man entschieden dazu aufrief, sich die „stoffliche Meisterschaft der europä83
Vgl. auch die Diskussionsbeiträge diesbezüglich anhand von Georgij Tuškans Roman Džura RGALI, f. 631, op. 8, e. 13, l. 1–57 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury: Stenogramma soveščanija ot 1/IV–1937 g.).
84
Vgl. Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 172f.
85
Vgl. Ausführlich hierzu vgl. Clark: The Soviet Novel, S. 15–24, 109–113.
86
Vgl. Günther: Die Verstaatlichung der Literatur, S. 45–47.
87
Vgl. zum Beispiel die Rezension zur Neuauflage des Amphibienmenschen Ragozin, A.: Čelovek-amfibija, in: Literaturnoe obozrenie 24 (1938), S. 11–18.
88
Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 175.
89
Ebd., S. 177ff.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 367
ischen Meister des Abenteuergenres“ (Сюжетное мастерство европейских мастеров приключенческого жанра) zum Vorbild zu nehmen. Diese Meisterschaft sollten die sowjetischen Schriftsteller „aufmerksamer studieren“ (внимательнее изучать).90 Demgegenüber spielte eine Kritik an dem kolonialen Kontext und der imperialen Orientierung der Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert kaum noch eine Rolle. Ein Kritiker ging in seinen Ausführungen zum Stil des Abenteuerromans sogar soweit, die Klassiker des Genres ganz dem progressiven Erbe zuzuschlagen, das heute im Westen jedoch in ihr völliges Gegenteil verkehrt werde: „Die Autoren der zeitgenössischen bürgerlichen Abenteuerliteratur beherrschen hervorragend das Sujet. Doch zu ihrem Großteil haben sie keine hervorstechenden Charakterbilder, keine progressiven Ziele. [...] Sie lehren zu stehlen, anzuzünden, zu klauen, zu zerstören, zu lügen. Sie verraten und verkaufen. Die Massen von Gangsterhelden sind bewaffnet mit Bomben und Betäubungsgas und haben Robinson Crusoe überfallen und Freitag gelyncht. Sie haben Paganel gezwungen die Straße zu kehren und das Schiff von Kapitän Nemo gesprengt, sie haben die Kinder des Kapitän Grant ertränkt. Till Eulenspiegel ist auf dem Scheiterhaufen verbrannt und die Stechmücke ins faschistische Konzentrationslager gesperrt worden.“91
Eine solche Definition des „fantastischen und Abenteuerromans“ bedeutete letztlich eine Wiederaufnahme der formalistischen Kriterien eines Viktor Šklovskij, wie er sie zu den Mystery Novels entwickelt hatte. Denn zentral wurde wieder der Interesse weckende Spannungsaufbau mit Hilfe der „Technik des Geheimnisses“, auch wenn man sich nicht Šklovskijs Terminologie bediente, genauso wenig wie man sich explizit von Gor’kij abgrenzte. Allerdings behandelte man dabei nicht – wie es Šklovskij noch gefordert hatte – die Form unabhängig vom Inhalt, sondern begründete formale Kriterien gerade mit den inhaltlichen Erfordernissen der sowjetischen Wirklichkeit. So erklärte Tuškan bei einer Sitzung der Sektion für Kinderliteratur im Schriftstellerverband im Oktober 1937, dass es eben gerade das Abenteuersujet sei, das der gegenwärtigen Form des Klassenkampfes am besten entspreche: „Insofern die Pioniere die Eroberer der Errungenschaften sind, müssen wir eine inhaltsreiche Literatur bieten. Die Abenteuerliteratur prägt dem Leser die Notwendigkeit und den Wunsch ein, mit allen Schwierigkeiten zu kämpfen. Man muss diesem Material jede mögliche Unterstützung zuteil werden lassen.“92 90
Ebd., S. 177.
91
„Авторы современной буржуазной приключенческой литературы превосходно владеют сюжетом. Но у них большей частью нет ни ярких образов, ни прогрессивных целей. [...] Они учат грабить, жечь, красть, ломать, лгать. Они продают и предают. Толпы героев-гангстеров, вооруженные бомбами и удушливыми газами, напали на Робинзона Крузо и линчевали Пятницу. Они заставили Паганеля подметать улицы и взорвали пароход капитана Немо, потопили детей капитана Гранта. Тиль Уленшпигель сожжен на костре, а Овод заключен в фашистский концлагерь.“ Tuškan: O stile detskoj priključenčeskoj povesti, S. 75.
92 „Посколько пионеры являются завоевателями достижений, мы должны давать сюжетную литературу.
Приключенческая литература внедряет в читателя необходимость и желание борьбы со всякими
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Wo Gor’kij – und im Anschluss Maršak und Il’in – eine literarische Darstellung der Welt gefordert hatte, in der der Mensch der Herr über die Natur und die Technik und alles klar und durchschaubar wie im Märchen sei, wurde eine solche Form jetzt als langweilig und ermüdend verworfen. Denn gerade die „Technik des Geheimnisses“ bot sich als ein ideales Verfahren an, die vermeintlich übermächtigen Naturgewalten, angeblich exotischen Weltgegenden und feindliche „kapitalistische Einkreisung“ der Sowjetunion oder auch die bislang unerreichbaren Weiten des Weltraums als am Ende „logisch“ durchschaubar und bezwingbar darzustellen. Betrachtet man diese Neudefinition der wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur in einem größeren Kontext der Genreentwicklung, dann hatten sich gegenüber den westlichen „Klassikern“ einige wesentliche Verschiebungen ergeben. Ging es doch hier letztlich immer – wie einleitend zu dieser Studie dargestellt – um die individuelle Initiation des Helden als maskulines, imperiales Subjekt, das die kolonialen und patriarchalen Gesellschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich infrage stellte. Während demgegenüber die sowjetischen Verfilmungen dieser Klassiker des Genres vor allem eine Entexotisierung der außersowjetischen Geografie, eine Historisierung der Kolonialordnung und eine Karnevalisierung der Bösewichter im Stil einer Jahrmarktskomödie vornahmen, zielte die Jugendliteratur hingegen auf die politische Aktualität imperialer, kolonialer und faschistischer Bedrohungen, die sich hinter vermeintlicher Naturexotik, naiver Kolonialromantik und angeblichen Kulturtraditionen verbergen. Aufgabe eines spannenden Abenteuersujets sei entsprechend eine „logische und „rationale“ Lösung dieser realen Bedrohungen. Wo Šklovskij noch ein Jahrzehnt zuvor behauptet hatte, dass heutzutage im Laufe der Entwicklung die „Lösung“ des Handlungsknotens gerade im Abenteuerroman immer unwichtiger werde, da es um die vielen kleinen „Fehler“ im Laufe der Handlung gehe (vgl. Abschnitt 3.1), bot sie im sowjetischen (fantastischen) Abenteuerroman gewissermaßen die Schlüssellegitimation des Genres – denn erst durch die Aufklärung der kolonialen Geheimnisse, die Entzauberung der exotischen Fremdheitserfahrungen und die wissenschaftlich-technische Bezwingung der widrigen Naturgegebenheiten konnte sich das sowjetische Subjekt glaubhaft konstituieren. Dass Viktor Šklovskij bei diesen Debatten zur Rehabilitierung des Abenteuergenres nirgends als Referenz genannt wurde, lag allerdings nicht so sehr daran, dass er als Formalist in Ungnade gefallen wäre, sondern weil er an seinem Standpunkt der zwanziger Jahre festhielt, diese Literatur habe sich längst überlebt.93 Stattdessen engagierte er sich publizistisch und schriftstellerisch gemeinsam mit Michail Il’in, Aleksandr Ivič und Lev Gumilevskij aktiv in der Weiterentwick-
трудностями. Нужно этому материалу оказать всякую поддержку.“ RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 37
(Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury: Stenogrammy soveščanija Sekcii detskoj literatury, 1 aprelja – 20 oktjabrja 1937 g.) 93
So griff er den Direktor von Detizdat, Cypin, Anfang 1936 in internen Debatten scharf an, dass er vollkommen nutzlose Bücher wie Mayne Reid, Cooper oder Walter Scott heute noch verlege, die „keinerlei Realität“ („никакой реальности“) mehr darstellten angesichts der Industrialisierung des Landes und der technischen Entwicklung, vgl. Fadeev: Stalinizm i detskaja literatura, S. 57.
Die Vereinigung von Abenteuer und Fantastik | 369
lung des sujetlosen wissenschaftlich-künstlerischen Buches.94 Sowohl als Kritiker und Theoretiker in unzähligen Beiträgen als auch als Autor einer Monografie über Marco Polo (Марко Поло, 1936) trug er zu dessen Förderung bei.95 Dem wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerroman stand er hingegen äußerst skeptisch gegenüber, ein Vorbehalt, den er allerdings öffentlich erst in späteren Jahren äußerte. Das zentrale Thema dieses neuen Abenteuerromans aber sollte der „große Kampf mit der Spionage“ (большая борьба со шпионажем)96 werden, jenes zentrale Phantasma des Großen Terrors, das als tödliches Verdikt fast jeden treffen konnte und eine, große Teile der Bevölkerung in Angst versetzende, Suche nach Agenten, Verrätern und Volksfeinden auslöste. Und so war es kein Zufall, dass die in dieser Periode 1936 bis 1938 entstandenen Werke sich ausgerechnet der Technik des Geheimnisses als Verfahren bedienten, das jede Person und jede Handlung potenziell verdächtig machte und die „psychologisch“ ausgereiften Helden ständig dazu brachte, Gegebenes in Zweifel zu ziehen und Erreichtes wieder zu relativieren. Auch wenn diese subjektive Verunsicherung und intendierte Erschütterung der fiktionalen Welt am Ende immer ihrer sozialistisch-realistischen Lösung zugeführt wird, scheint der permanente „Kampf mit jeglichen Schwierigkeiten“ (Tuškan) in extrapolierter Form auch den schwierigen Kampf der Leser ums tägliche Überleben als Faszinationsmoment mit in das sich neu konstituierende Genre auf zu nehmen, wie noch zu zeigen sein wird. So eröffnete die enge Anbindung des Genres an die Kinderliteratur in jenen Jahren von 1937 bis 1941 eine im Vergleich zu der Zeit zwischen 1930 und 1936 relative Freiheit zum Experimentieren, sowohl mit fantastischen Inhalten als auch mit bisher verpönten literarischen Formen, wie in den folgenden beiden Kapiteln gezeigt wird.
94
Gumilevskij, Lev: Spiski knig vmesto izdatel´skich planov, in: Detskaja literatura 2 (1939), S. 53–59; Il’in, Michail: Zamečanija k planu Detizdata, in: Ebd., S. 51–53; Ivič: Michail Loskutov.
95
Vgl. Ivič, Aleksandr: Viktor Šklovskij v detskoj literature, in: Detskaja literatura 3 (1939), S. 54–58; Šklovskij, Viktor: Marko Polo (1936–1957), in: Ders.: Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, Moskva 1973, S. 411–546; Ders.: „Rudol´f Dizel“ L´va Gumilevskogo, in: Detskaja literatura 1 (1939), S. 48–49; Opul´skaja, L.: Primečanija. Marko Polo, in: Šklovskij, Viktor: Sobranie sočinenij v trech tomach, Bd. 1, Moskva 1973, S. 732–734.
96
Vgl. Tuškan in: RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 37 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury: Stenogrammy soveščanija Sekcii detskoj literatury, 1 aprelja – 20 oktjabrja 1937 g.)
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9. H er oi s c h e A b e n t e u r e r u n t e rwe g s – Di e E n tz a u b e r u n g a n d e r e r We lt e n 1 „Bis jetzt haben wir keine Abenteuerliteratur über vaterländische Themen, gleichzeitig führt eine eigentümliche Form des Klassenkampfes, nämlich die kapitalistische Einkreisung, zu dem großen Kampf der Spionageabwehr. Solch ein Abenteuersujet muss man gut und gekonnt entwickeln.“ Georgij Tuškan (1937)1
Auf die Frage, wie die neue Abenteuerliteratur auszusehen habe, die sich mit „vaterländischen Themen“ beschäftigte, gab es 1937/1938 noch keinerlei schlüssige Antworten. Klar war die Intention, dass diese Literatur nicht wie die lustigen Abenteuerkomödien im Bereich des Films aussehen dürfe, sondern die verwöhnten Moskauer Stadtjugendlichen zu disziplinierten, verantwortungsvollen neuen Menschen erziehen sollte. Dies konnte man nicht mit wissenschaftlichkünstlerischer Prosa erreichen, sondern man musste ihnen ein spannendes Sujet bieten, das etwas Geheimnisvolles und gleichzeitig auch etwas Außergewöhnliches, jenseits der eigenen Alltagswirklichkeit Liegendes beinhaltete. Für das Geheimnisvolle hatte Adamov schon 1937 den „großen Kampf der Spionageabwehr“ ausgemacht, der sich hervorragend eignete, um ein Sujet nach der „Technik des Geheimnisses“ aufzubauen, an dessen Ende die Enttarnung der Feinde stand. Das Außergewöhnliche hingegen verortete man jenseits der sowjetischen Geografie, das man als eine andere Welt narrativieren sollte, die die eigene Ordnung bedroht. Dabei konnte man inhaltlich zwar an die in den 1920er Jahren entwickelten Narrative eines „Kampfes der Welten“ anknüpfen, musste jetzt aber auf das „Kinematographische“ der Darstellung (vgl. Kapitel 4) verzichten, war doch eine parodistische, ironischdistanzierte Erzählhaltung gegenüber dem Erzählten innerhalb einer sozialistisch-realistischen Ästhetik nicht mehr möglich. Gleichzeitig musste man aufpassen, dass man bei der Übernahme der Genreformen der westlichen „Klassiker“ nicht wieder eine „konterrevolutionäre Schmuggelware“ produzierte, die alte koloniale Dispositive und imperiale Narrative in die Neue Zeit übertrug. Die Folge war, dass in den Jahren 1937 bis 1941 zwar mehr als in den Jahren zuvor, doch immer noch relativ wenige Romane erschienen, die dem Abenteuergenre zuzuordnen waren, kaum einer trug die Bezeichnung als Untertitel, nur die bei Detizdat in der Reihe „Bibliothek der Abenteuer“ erschienenen Werke waren eindeutig dem Bereich zuzuordnen. An neu geschrie-
1 „До сих пор мы не имеем приключенческой литературы на отечественные темы, вместе с тем
своеобразная форма классовой борьбы, капиталистическое окружениe – ведет к большой борьбе со шпионажем. Такой приключенческий сюжет нужно хорошо и умело развернуть.“ Georgij Tuškan auf
einer Diskussion der Sektion für Kinderliteratur des Schriftstellerverbandes am 1. April 1937, vgl. RGALI, f. 631, op. 8, e. 13, l. 37 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury: Steno-gramma soveščanija ot 1/IV-1937 g.).
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benen Werken waren dies neben den auf wissenschaftlich-fantastische Themen bezogenen Romanen, Michail Rozenfel’ds Das Meeresgeheimnis (1937) und Aleksandr Kazancevs Die brennende Insel (1941), in der genannten Periode nur zwei weitere Romane: Grigorij Adamovs Das Geheimnis zweier Ozeane (1939), der versuchte, die Erzählverfahren eines Jules Verne für einen Abenteuerroman des sozialistischen Realismus produktiv zu machen (Abschnitt 9.1. Der sozialistische Jules Verne), und Džura (1940) von Georgij Tuškan, dessen Handlung im mittelasiatischen Grenzgebiet zwischen dem sowjetischen Pamir und dem kolonial geprägten Afghanistan spielt (Abschnitt 9.3. Der erste sowjetische Abenteuerroman). Daneben gab es noch eine Reihe weiterer Werke, die sich dem Abenteuergenre zuordnen ließen. Diese erschienen häufig zuerst in Zeitschriften wie Vokrug sveta oder Znanie – sila, wurden aber kaum von der Kritik beachtet.2 Das galt auch für den Abenteuerroman von Vsevolod Voevodin und Evgenij Ryss, Der blinde Gast (1938), der im Grenzgebiet von Turkmenistan spielte und das geheimnisvolle Eindringen von ausländischen Spionen behandelte (Abschnitt 9.2. Der blinde Gast). Erst am Vorabend des Zweiten Weltkrieges setzte intern in den Verlagen und im Schriftstellerverband – zum Beispiel anhand von Tuškans Roman – eine intensivere Beschäftigung mit dem Genre ein, die aber durch den deutschen Überfall dann recht abrupt beendet wurde, wie noch gezeigt wird (vgl. Abschnitt 10.3).
9. 1 Der sozialis tis che Jules Ve rn e – G r i g o r i j A d a mo vs Geheimnis zweie r Oze a ne 3 „– A-a-a.. Das nennt sich Mimikry. Die Tiere übernehmen die Farbe oder das äußere Aussehen der sie umgebenden Gegenstände und können sich so vor Feinden retten oder als Beuteziel unbemerkt bleiben.“ Grigorij Adamov (1939)3
Grigorij Adamov ist das Pseudonym von Grigorij Borisovič Gips (1886–1945), des wohl bekanntesten sowjetischen Abenteuerschriftstellers jener Jahre. Als jüngster Sohn von sieben Kindern aus einer Arbeiterfamilie in Cherson stammend, ging er ohne Schulabschluss schon mit 2
Einige dieser Romane wurden auch in Jugendzeitungen wie der Pionerskaja pravda (Adamovs Roman) oder der Komsomol’skaja gazeta (Rozenfel’ds Roman) vorabgedruckt.
3
„– А-а-а... Это называется мимикрия, бичо. Животные принимают окраску или внешний вид окружающих предметов и благодаря этому спасаются от врагов или делаются незаметными для добычи.“ Adamov, Grigorij: Tajna dvuch okeanov (1939) (Zolotaja biblioteka priključenij), Moskva 1999,
S. 93.
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15 Jahren zu revolutionären Untergrundzirkeln, wurde wegen seiner Aktivitäten zu mehreren Jahren Verbannung verurteilt, flüchtete, beteiligte sich an Terroranschlägen und kam erneut für drei Jahre in Haft, ehe er begann als Journalist für die Bolschewiki zu arbeiten.4 Nach der Revolution arbeitete er im Volkskommissariat für Lebensmittelversorgung und im Verlag Gosizdat, bis er sich Ende der 1920er Jahre vermehrt dem Wissenschaftsjournalismus und den industriellen Großprojekten zuwandte, für Gor’kijs Zeitschrift Naši dostiženija schrieb und ein erstes Buch über den sozialistischen Aufbau, Die vereinten Kolonnen (Соединенные колонны, 1931), veröffentlichte. Aus dieser intensiven ingenieurstechnischen Beschäftigung entstehen ab 1934 drei kleinere „wissenschaftlich-fantastische“ Erzählungen, die im Stil der wissenschaftlich-künstlerischen Richtung den technischen Einzelheiten der Energiegewinnung mit Hilfe der Gezeiten (Die Erzählung Diegos/ Рассказ Диего, 1934), in der Polarregion (Die Havarie/ Авария, 1935) oder durch Sonnenenergie in der Wüste Karakum (Die Oase der Sonne/ Оазис Солнца, 1936) gewidmet waren.5 Sein erster veröffentlichter Roman Die Bezwinger des Erdinneren (Победители недр, 1937) verbindet solche industriellen Großprojekte dann schon in klarer Anlehnung an Jules Verne mit einer „außergewöhnlichen Reise“ voller Gefahren und Abenteuer für die Helden. In der nahen Zukunft des Jahres 1946 lassen sich die Mitglieder vom „Klub der neuen Energie“ („Клуб новой энергетики“) in einem speziellen Geschoss ins Erdinnere schießen, um bei Temperaturen von 350 C° in 14 Kilometer Tiefe ein Kraftwerk zur günstigen Nutzung der Erdwärme aufzubauen, was ihnen unter extremen Schwierigkeiten auch gelingt. Bei der Rückfahrt an die Erdoberfläche können sie allerdings nur durch ein Wunder vor dem sicheren Tod gerettet werden.6 In der Kritik wurde der Roman einhellig als gelungener erster Versuch gelobt, einen neuen sowjetischen wissenschaftlich-fantastischen Roman zu schaffen, auch wenn die Vielzahl an technischen und geologischen Fakten kaum mit der Handlung verbunden würde.7 Außerdem sei die Energiegewinnung durch Erdwärme keine zukunftsweisende Idee, sondern ein Projekt, das man als zu kostenaufwendig längst verworfen habe, zudem wimmele es an wissenschaftlichen Fehlern. So sei im Vergleich zu Jules Verne die „Dosis“ der Wissenschaftspopularisierung zu hoch, während die künstlerische Form und die inspirierenden Ideen nur mangelhaft umgesetzt seien 4
Biographische Angaben vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 280–289.
5
Vgl. Adamov, Grigorij: Rasskaz Diego, in: Znanie – sila 11 (1934), S. 13–15; Ders.: Avarija. Naučnofantastičeskij rasskaz, in: Znanie – sila 2 (1935), S. 2–6; Ders.: Oazis Solnca. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Znanie – sila 5 (1936), S. 9–12; 6, S. 7–10; 7, S. 7–8.
6
Adamov, Grigorij: Pobediteli nedr. Naučno-fantastičeskij roman, Moskva, Leningrad 1937. Hier zitiert nach: Ders.: Pobediteli nedr (1937), in: Ders.: Pobediteli nedr. Izgnanie vladyki, Frunze 1958, S. 3–280.
7
Vgl. Žukov: Sovetskij priključenceskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 171; Beljaev, Aleksandr; Obručev, Vladimir; Galanin, Dmitrij: O naučno-fantastičeskom romane i knige Gr. Adamova „Pobediteli nedr“, in: Detskaja literatura 11 (1938), S. 18–24; Voinov, R.: Gr. Adamov, „Pobediteli nedr“ (Rez.), in: Molodaja gvardija 4 (1938), S. 191–192; Regel’son, S.: Kniga o mečte, in: RGALI, f. 634, op. 1, ed. 454, l. 1–6 (Redakcija „Literaturnaja gazeta“, otdel kritiki i bibliografii: Stat’i Kolčeva, Kagruana, Šklovskogo, Regel’sona, Paleja o fantastičeskich romanach 7 aprielja – 23 dekabrja 1937 goda).
Die Entzauberung anderer Welten | 373
beziehungsweise fehlten.8 Ungeachtet dessen habe das Buch aber bei den jungen Lesern Erfolg und stelle eine interessante und lehrreiche Lektüre dar.9 Diesen in der Kritik hervorgehobenen Mängeln versuchte Adamov in seinem zweiten Roman Das Geheimnis zweier Ozeane (Тайна двух океанов, 1939) zu begegnen, indem er sich, was die künstlerische Form anbelangt, noch stärker an Jules Verne orientierte und gewissermaßen eine sowjetische Fassung von dessen „Klassiker“ Vingt mille lieues sous les mers von 1870 schrieb.10 Das Unterwasserboot heißt jetzt nicht mehr – wie bei Verne – Nautilus, sondern Pionier, als Erzähler fungiert nicht mehr ein französischer Professor, sondern es ist ein nach einem Schiffsbruch genauso zufällig wie Pierre Anorax auf dem U-Boot landender 14-jähriger Junge mit Namen Pavlik, aus dessen Perspektive die Handlung vornehmlich erzählt wird.11 Entsprechend ist auch die Bestimmung des U-Bootes eine andere – es ist nicht die letzte Zuflucht eines Misanthropen wie Kapitän Nemo, sondern beherbergt ein engagiertes Kollektiv, das sich in geheimer militärischer und wissenschaftlicher Mission auf dem Weg von Leningrad aus über den Atlantik und den Stillen Ozean bis nach Wladiwostok befindet, um die Tiefen der beiden Ozeane zu erforschen und die sowjetische Ostküste vor japanischen Angriffen zu schützen. Das zentrale Thema des Romans ist das Geheimnis in all seinen Varianten, als Geheimhaltung, Geheimnisverrat und Entschlüsselung von Geheimnissen, das auf drei Ebenen verhandelt wird: als naturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse (Unterwasserwelt), als technisch-wissenschaftliches Wunder (U-Boot) und als politisch-militärischer Spionagekonflikt (Krieg mit Japan). Diese drei Ebenen lassen sich diskursiv klar trennen, sind aber vom Sujet her eng miteinander verflochten, wodurch der Roman zusätzliche Spannung bekommt. Die Entzauberung beziehungsweise Lösung der Geheimnisse bedeutet gleichzeitig einen Reifungsprozess für Pavlik, der gewissermaßen einen zeittypischen „Besprizornik“ (беcпризорник), ein verwahrlostes Kind darstellt,12 allerdings nicht der verarmten Unterschichten, sondern der privilegierten Ober 8
Ebd., S. 19f., 22ff.
9
Ivanov, Fridrich; Makrušin, Sergej; Orlosov, K.: Otzyvy detej o knige Adamova „Pobediteli nedr“, in: Detskaja literatura 11 (1938), S. 25.
10
Einzelne Kapitel des Romans sind schon Anfang 1938 in der Zeitschrift Znanie – sila erschienen, und die Zeitung Pionerskaja pravda druckte den Roman von Mai bis September des gleichen Jahres in Fortsetzungen ab, ehe 1939 auch eine Buchausgabe bei Detizdat in der Serie „Bibliothek der Abenteuer“ erschien. Vgl. Adamov, Grigorij: Tajna dvuch okeanov. Naučno-fantastičeskij roman (Biblioteka priključenij), Moskva, Leningrad 1939. Hier zitiert nach einer Neuauflage 1999. Zum Roman vgl. auch Adamov, Grigorij: Moja sledujuščaja problema, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 26–27; Britikov: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 376.
11
Der Name Pavlik verweist dabei schon auf das Vorbild, den in den dreißiger Jahren zentralen Pioniermythos von Pavlik Morozov, der seinen Vater als Kulaken denunziert haben und deswegen ermordet worden sein soll, vgl. Kelly, Catriona: Comrade Pavlik. The Rise and Fall of a Soviet Boy Hero, London 2005.
12
Die „Besprizorniki“, die vagabundierenden obdachlosen Minderjährigen, die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg und Bürgerkrieg aus dem ganzen Lande in die großen Städte gekommen waren, sind in den zwanziger und auch noch in den dreißiger Jahren ein ständiges Thema der Jugenderziehung,
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klasse, hat er doch als Sohn des sowjetischen Konsuls im kanadischen Quebec sechs Jahre lang als Halbwaise – seine Mutter war ein Jahr nach der Übersiedelung in die Fremde gestorben – praktisch ohne Familie und Spielgefährten gelebt, ehe er durch den Zusammenstoß eines Passagierdampfers mit einem Eisberg auf der Strecke zwischen Cherburg und New York fast ertrinkt und „im Geheimen“ von dem sowjetischen U-Boot gerettet wird, das die SOS-Signale gehört hat.13 Diese Rettung zieht jedoch nicht nur eine physische, sondern auch eine geistige Wiedergeburt nach sich: erst durch die Fahrt mit der „Pionier“ wird er zu einem richtigen Pionier: „Nach der Schiffskatastrophe kam Pawlik ganz unerwartet auf ein sowjetisches U-Boot in die enge Gemeinschaft tapferer Männer und treuer Kameraden. Sie eroberten sich sein Herz durch ihren Lebensmut, ihre kameradschaftliche Verbundenheit und ihre Disziplin. Die kraftvolle, zärtliche und tapfere Heimat lernte Pawlik im engen Lebensraum der ‚Pionier‘ kennen; sie nahm hier für Pawlik eine lebendige, wirklichkeitsnahe Form an, gab ihm Auftrieb und spornte ihn an, seinen neuen Freunden ähnlich zu werden.“14
Die Mannschaft des Unterwasserboots steht metonymisch für die sowjetische Heimat, die zuerst das Herz des Jungen erobert, ihn in die Arme nimmt, neue Gefühle, Leidenschaften und Wünsche „einhaucht“ und ihn damit zu einem „neuen Menschen“ macht. Diese Neuerschaffung Pavliks geschieht durch die „Initiationserfahrungen“, mit denen ihn das Unterwasserboot konfrontiert und deren Lösung und Entzauberung ihn zu einem disziplinierten Staatsbürger reifen lassen. Auf der ersten Ebene sind das die bislang für die Menschen unzugänglichen und unsichtbaren natürlichen „Geheimnisse“ der Tiefsee, zu denen man nun durch bessere Motoren, Scheinwerfer und Taucheranzüge unmittelbaren Zugang hat. So besteht ein großer Teil der Handlung in der Entdeckung bislang ungekannter Fisch- und Algenarten, sogar neuer Klassen von Lebe-
stellte ihre Integration in die neue Gesellschaft doch einen hohen symbolischen und propagandistischen Wert dar, der vor allem in Anton Makarenkos dreiteiligem Roman Pädagogisches Poem (Педагогическая поэма, 1925–1935) seinen Ausdruck fand, der auch die Grundlage für den ersten sowjetischen Tonfilm Der Weg ins Leben (Путевка в жизнь, 1931) von Nikolaj Ėkk bildete. 13
Vgl. Adamov: Tajna dvuch okanov, S. 39ff., 95.
14
Adamov, Grigorij [Adamow, Gr.]: Das Geheimnis zweier Ozeane. Wissenschaftlich-phantastischer Roman (dt. Herbert Strese), Moskau 1965, S. 95. Da die Übersetzung sehr frei und oft auch stark verkürzt ist, übernehme ich sie nur dann, wenn sie die Aspekte, auf die es mir ankommt, wiedergibt („Неожиданно,
пройдя через смертельную опасность, Павлик попал на советский подводный корабль, в тесный круг мужественных людей, в сплоченную семью товарищей, привыкших к опасностям, умеющих бороться с ними и побеждать. Они покорили его сердце своей жизнерадостностью, своей товарищеской спайкой, своей веселой дружбой и легкой и в то же время железной дисциплиной. Родина – сильная, ласковая, мужественная – приняла Павлика в тесных пространствах ‚Пионера‘. Она вдохнула в него новые чувства, вызвала в нем страстную жажду быть достойным ее, горячее желание подражать и быть похожим на ее лучших сынов, к которым он попал.“ Adamov: Tajna dvuch
okanov, S. 95).
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wesen und Pflanzen15 entlang der Fahrtroute durch die beiden Ozeane, die Pavlik zusammen mit einem ukrainischen Zoologen beobachtet. Man triff auf ausführlich beschriebene faszinierende Naturschauspiele wie eine Molluskenart, die Gold aus dem Meer saugt und als UnterwasserEdelmetallfabrik genutzt werden könnte, oder auf untergegangene Relikte der menschlichen Kultur, wie die versunkenen Teile der Osterinseln.16 Diese Unterwasserwelt stellt jedoch nur auf den ersten, naiven Blick ein bezauberndes Naturidyll dar, bei genauerem Hinsehen erweist sie sich als elementarste Form des Lebens, die einzig den Darwinschen Gesetzen des Kampfes um das Dasein folgt, in denen sich auch der Mensch als der Stärkste in immer wieder neuen Gefahrensituationen zu behaupten hat.17 Die Unterwerfung der Natur erfolgt nicht nur durch die Erkundung ihrer letzten Geheimnisse, sondern auch durch physischen Kampf, den auch Pavlik gewinnt, wenn er gegen Riesenkrabben und andere Meeresungeheuer bestehen muss: „Der Lauf der Pistole war unmittelbar gegen die gepanzerte Brust der Krabbe gerichtet. In Sekundenschnelle trafen sich die Blicke von Mensch und Tier; dann löste sich der Zangengriff der Schere, und die Krabbe blieb mit krampfhaft zuckenden langen Fühlern flach auf dem Felsen liegen. Pawlik richtete die Waffe auch auf die anderen Angreifer [...]. Der Schweinwerfer warf noch einige, immer weiter reichende Lichtkreise entlang der Felsen, bis Pawlik endlich den nur mit Leichen bedeckten Höhlengrund sah und ganz am äußersten Rand des Lichtkegels die letzten Reihen der schnell flüchtenden Krabben erblickte.../ Pawlik senkte die Pistole. Seine Hände und Beine zitterten, sein Körper war schweißbedeckt.“18
So findet neben den Naturschauspielen auch eine Desillusionierung über die Wirkungsmechanismen der Natur statt. All ihre Schönheiten und fantasiereichen Formen dienen rein utilitaristischen Funktionen, um im darwinistischen Kampf mit anderen Lebewesen zu überleben. 15
So entdecken sie gleich beim ersten Ausflug eine neue Klasse der Blätterkiemer, die sich aus der Symbiose einer Seeanemone mit einem Krebs gebildet hat: die Lamellibranchiata cphala Lordkipanidse. Vgl. Adamov: Tajna dvuch okanov, S. 19ff.
16
Vgl. ebd., S. 316ff.; Auch diese Passagen sind Vernes Roman über Kapitän Nemo sehr ähnlich, dieser stößt jedoch nicht auf die versunkenen Teile der Osterinseln, sondern auf das legendäre Atlantis.
17
Vgl. ebd., 19f. Am anschaulichsten werden diese Existenzkämpfe anhand eines Pottwals beschrieben, der zuerst einen Schwertfisch vertreibt, dann eine Riesenkrake besiegt, ehe er Pavlik entführt, vgl. ebd., S. 97ff. Das Geheimnis zweier Ozeane, S. 155f. („Дуло пистолета оказалось как раз против панцирной груди краба. Лишь одно мгновение глаза человека и животного встретились в упор, и сейчас же клешни краба разжались, его ноги подломились, и он осел на площадку скалы с замирающими движениями длинных усов. Павлик повернул дуло против новых набегающих врагов [...]. Еще несколько все расширяющихся кругов описал прожектор вокруг скалы, и Павлик наконец увидел покрытое лишь трупами дно ущелья и вдали, в сумраке крайних, слабых лучей прожектора, последние ряды быстро убегавших крабов.../ Павлик опустил пистолет. Дрожали руки и ноги, озноб пронизывал все тело, покрытое испариной.“ Adamov: Tajna dvuch okeanov, S. 149).
18 Adamov:
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Das Schlachtfeld der Toten verweist aber auch auf die zweite Ebene des „Geheimnisses“, und zwar die wissenschaftlich-technischen Wunderwerke menschlicher Ingenieurskunst, die nicht nur in extrem schnellen Handfeuerwaffen und anderem Kriegsgerät bestehen, sondern das ganze U-Boot als ein „Wunder der neuen Zeit“ erscheinen lassen: „Und da sie alle, was ihr wunderbares U-Boot betraf, verwegene Enthusiasten waren, unendlich verliebt in es und ihre Arbeit auf ihm, so kreisten alle Gespräche im Speisesaal, in der roten Ecke, in den Kajüten, und mit Pawlik überall und immer, wo sie ihn auch trafen, um das U-Boot, seine einzigartige Konstruktion und seine Überlegenheit anderen U-Booten gegenüber, die hier ausschließlich verächtlich ‚Frösche‘ genannt wurden.“19
Der „Liebling der Mannschaft“20 wird von diesem Wissenschaftsenthusiasmus nach und nach angesteckt, indem die „neuen Freunde“ der U-Bootbesatzung ihm einzeln immer wieder andere technische Details des Schiffs nahe bringen, für das sie verantwortlich sind, so dass er in dessen Inneren nach und nach den realisierten Wunschträumen wissenschaftlicher Einbildungskraft begegnet: Superfeste Metalllegierungen, eine weitgehende Automatisierung dank „lebender Maschinen“ (живые машины), Energieumwandlung direkt aus Wasser, Ultraschallwellen zur Orientierung über hunderte Kilometer, Ultramagnetstrahlen zur Abwehr feindlicher Angriffe und andere fantastische Technikwunder, deren Funktionsweise ausführlich von den „unendlich verliebten“ Enthusiasten erläutert wird.21 Dieses technisch-wissenschaftliche Erkenntnisinteresse ist jedoch wertlos ohne die dritte Bedeutungsebene, die die Handlung entscheidend prägt, nämlich die politisch-weltanschauliche Positionierung, der die absolut geheime Mission des U-Bootes selber gilt: „Das Unternehmen musste für die ganze Welt ein Geheimnis bleiben, ein Geheimnis, das von den Tiefen der Ozeane sorgsam gewahrt werden sollte, durch die es sich seinen Weg bahnte.“22 Doch diese Geheimhaltung misslingt ungeachtet größter Vorsichtsmaßnahmen, da ein Verräter an Bord den Feinden immer wieder die Schiffs-Koordinaten preisgibt. So wird das U-Boot wiederholt Minen- und Torpedoangriffen der japanischen Verfolger ausgesetzt, wird schwer beschädigt, kann aber von der Mannschaft in einer Unterwasserhöhle instand gesetzt werden und rechtzeitig sein Ziel erreichen. Erst indem 19
Adamov: Das Geheimnis zweier Ozeane, S. 67 („А так как все они были отчаянными энтузиастами своей
чудесной подлодки, бесконечно влюбленными в нее и в свою работу на ней, то все разговоры в столовой, в красном уголке, в кают-компании, а с Павликом везде и всегда, где бы ни встречали его, сводились к подлодке, к ее замечательным качествам, к ее неизмеримому превосходству над другими подлодками, которые не имели здесь другого имени, кроме ‚лягушек‘.“ Adamov: Tajna dvuch okeanov, S. 58); Im Russischen ist das U-Boot (подлодка) vom grammatikalischen Genus her feminin, was dem eh schon stark ero-
tisierten Verzauberungsdiskurs um das U-Boot noch eine zusätzlich sexualisierte Semantik verleiht. 20
Vgl. Adamov: Tajna dvuch okeanov, S. 57.
21
Vgl. Ebd, S. 63–90, S. 89.
22 „Ее поход должен был оставаться тайной для всего мира, тайной, скрытой и хранимой глубинами
океанов, сквозь которые она прокладывала свой путь.“ Ebd., S. 48.
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Pavlik entscheidend dazu beiträgt, den Verräter in den eigenen Reihen zu enttarnen und sich heldenhaft in der „Entscheidungsschlacht“ (решительный бой) bewährt, wird aus dem „Liebling“ der Mannschaft ein „Genosse Bunjak“, ein politisch vollwertiger Staatsbürger.23 Betrachtet man den Roman in Bezug auf die „neue Geografie“ des Landes, so weist er auffallende Parallelen zu Vajnštoks Verne-Verfilmung auf. Zwar reisen die Helden einmal um die Welt, treten aber – genauso wie seinerzeit Kapitän Nemo – mit anderen Menschen nur in den militärischen Auseinandersetzungen in Kontakt. Die außersowjetische Welt erscheint wie bei Vajnštok als ein dekolonisierter Jahrmarkt der Naturattraktionen, die diesmal bloß nicht überirdisch, sondern unter Wasser angesiedelt sind. Der einzige Kontakt mit der Außenwelt, abge sehen von den japanischen Angriffen, findet an den Küsten der Osterinseln statt, als das Leck geschlagene U-Boot als „leuchtende Silberwolke“ („серебристо-туманное сияющее облако“) unterhalb des Ufers auf Grund liegt und erstmals von Menschen außerhalb der Sowjetunion gesehen wird. Ein einheimischer Fischer erblickt es und glaubt an „ein schreckliches Geheimnis der Weißen“, von ihm erfährt es ein ihn mit Schnaps beliefernder Händler mit Namen Robinson, der meldet es einem heruntergekommenen Schoner Santa Maria, auf dem der Reporter Don Juan seine Erkundigungen einholt und es als Exklusivmeldung an seine Heimatredaktion ins chilenische Valparaiso – das „Paradiestal“ – sendet, von wo aus die Nachricht noch am selben Abend als „Geheimnis der Osterinsel“ („Тайна острова Рапа-Нуи“) zur Pressesensation in der ganzen Welt wird.24 Der Schnapshändler Robinson, Columbus’ heruntergekommenes Flaggschiff „Santa Maria“ und der Klatschreporter Don Juan sind hier zum Inbegriff des Niedergangs der westlichen Kolonialherrschaft geworden, die weder herausfinden, was es mit der „Silberwolke“ am Meeresgrund wirklich auf sich hat, noch sich für die vergangene Hochkultur der Osterinsel interessieren, deren ungelöste Geheimnisse erst die sowjetischen Taucher entdecken. 25 Ähnlich wie Vajnštoks Piraten in der Schatzinsel sind die weißen Kolonisatoren fast schon exotisch-kar-
23
Ebd., S. 358. Umgekehrt scheitert der Verräter mit Namen Gorelov gerade daran, dass ihm die ideologisch-weltanschauliche Festigkeit fehlt. So ist er ein perfekter Maschinentechniker, der jedoch unangebracht detailversessen ist, sich wegen Kleinigkeiten aus der Ruhe bringen lässt, nur an sich selber denkt und bei seiner Enttarnung regelrecht zum Tier – zu einem gehetzten Wolf – regrediert, vgl. Adamov: Tajna dvuch okeanov, S. 352.
24
Adamov: Tajna dvuch okeanov, S. 322ff.
25
Ebd., S. 309–319. Gleichzeitig spielt Adamov mit den Sensationsmeldungen der Osterinsel auf zwei weitere populäre Romane an: Aleksandr Beljaevs Amphibienmensch, der erstmals von einem einheimischen Fischer – diesmal einem Perlentaucher – gesehen wird, der ebenfalls mit seinen Erzählungen von einem Meeresteufel zur Sensation der Weltpresse wird, sowie Karl Čapeks Der Krieg mit den Molchen (Válka s mloky, 1936), der auf Russisch erstmals Anfang 1938 in der Inostrannaja literatura und dann auch als Buch (Война с саламандрами) erschienen war, wo das erstmalige Auftreten der Molche desgleichen über Berichte von Fischern (diesmal in der Südsee) die Weltpresse erreicht. Vgl. Kalmyk: Bibliografija zarubežnoj fantastiki.
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nevaleske Figuren, gerade im Gegensatz zu den fanatisch-hasserfüllten und gleichzeitig technisch hoch entwickelten japanischen Aggressoren.26 In der Kritik traf diese Kombination aus Ideologie und Abenteuer, Erziehungsroman und Wissenschaftspopularisierung auf noch größere Vorbehalte als man sie schon gegenüber Adamovs erstem Roman geäußert hatte, auch wenn allgemein sein Versuch gelobt wurde, einen sowjetischen Nautilus zu schaffen, in dem der misanthropische Kapitän Nemo durch das philanthropische Kollektiv der Kommunisten ersetzt werde. Denn Adamovs Roman sei im Unterschied zu Vernes Vorlage, sowohl was die künstlerische Form als auch was die wissenschaftlichen Ideen anbelange, misslungen. Wo Verne in seinen Werken wissenschaftliche Ideen und spannende Handlung „organisch“ miteinander verbinde, habe hier die militärische Mission nichts mit den wissenschaftlichen Unterwasserexpeditionen zu tun, die Helden seien nur leere „Masken“ zur Erläuterung von Sachverhalten, deren Heldentum unmotiviert und schematisch daherkomme.27 Auch sei die Abenteuerhandlung nur bedingt spannend, da der Leser sehr viel eher als die Protagonisten die Schurken erkennen könne und von Anfang an klar sei, wer aus den Auseinandersetzungen als Gewinner hervorgehe. Statt eines „Helden seiner Zeit“, wie es Kapitän Nemo zweifelsohne gewesen sei, habe Adamov mit der sowjetischen Besatzungsmannschaft ein „trostloses Fließband von Ganzmetallautomaten“ (унылый конвейер цельнометаллических автоматов) geschaffen.28 Nun erfreute sich diese „misslungene“ künstlerische Verbindung von Ganzmetallautomaten und ungewöhnlichen Abenteuern jedoch ungemeiner Popularität bei den Lesern.29 Will man diese Beliebtheit nicht nur auf den Mangel an Alternativen zurückführen, liegt ein möglicher Grund vielleicht in der seltsamen Ambivalenz, die sich in dem Roman aus der Omnipräsenz des Geheimen ergibt. Fungiert doch das U-Boot einerseits als extrapolierte wissenschaftlich-fantastische Zukunftsutopie der sowjetischen Gesellschaft, die die Geheimnisse der Natur entzaubert und die Maschinen zum eigenen Nutzen arbeiten lässt. Andererseits aber agiert es selber die ganze Zeit in ständiger Gefahr vollkommen im Geheimen, unsichtbar für den Rest der Welt, während der Verräter ausgerechnet Maschineningenieur ist, also derjenige, der am nächsten am Herz des Wunderschiffes dran ist. Diese Gleichzeitigkeit von Aufklärung und Verschleierung, Entzauberung und Tarnung, Verrat und Geheimnis, die nicht auf dem sowjetischen Landweg von Leningrad nach Wladiwostok, sondern auf dem außersowjetischen, exterritorialen „anderen“ Seeweg eines Kapitän Nemo stattfindet, macht Adamovs Roman aber auch als eine allegorische Beschreibung der eigenen Gesellschaft in Zeiten des Großen Terrors lesbar, wo weder wissenschaftlich-technische 26 Adamov:
Tajna dvuch okeanov, S. 47f.
27
Vgl. Ivič, Aleksandr: Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Literaturnyj kritik 7–8/1940, S. 146–175, S. 165ff.; Rykačev, Jakov: Naučnaja fantastika, in: Literaturnaja gazeta (10.12.1939), S. 4; Šklovskij, Viktor: Detizdat v 1939 godu, in: Detskaja literatura 12 (1939), S. 34–47, S. 44f.
28
Mar’jamov, A.: Knigi bol’šoj mečty, in: Detskaja literatura 4 (1940), S. 32–38, S. 37.
29
Zur Popularität des Romans bei jugendlichen Lesern, vgl. Jaroslavov, F.: Fantastičeskaja konferencija, in: Detskaja literatura 4 (1940), S. 39–40.
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Kompetenz noch politisch-gesellschaftliche Konformität als Garant dafür gelten konnten, dass man nicht selber Opfer der Säuberungen wurde, also untertauchen musste.30 Grigorij Adamov focht diese ambivalente Semantik allerdings nicht an, denn in allen Rezensionen wurde sein Verdienst hervorgehoben, endlich überhaupt einen sowjetischen Roman im Stile Jules Vernes versucht zu haben.31 So begann Adamov einen dritten Roman im gleichen Stil, aus dem 1941 erste Auszüge veröffentlicht wurden, der aber aufgrund des Krieges erst nach seinem Tode im Sommer 1945 ebenfalls in der „Bibliothek der Abenteuer“ 1946 bei Detgiz erscheinen konnte.32 Die Vertreibung des Herrschers (Изгнание владыки, 1938–1942) beruhte auf ausführlichen Recherchen Adamovs in der Nordpolregion und handelt von einem gigantischen Bauprojekt zur Erwärmung der Nordküste der Sowjetunion, das aber immer wieder von Feinden sabotiert wird.33 Damit hatte er sich eines Themas angenommen, das seit den zwanziger Jahren ein zentrales wissenschaftliches Phantasma der neuen technischen Intelligenz gewesen ist: der Pläne, die Natur mit Hilfe des Schmelzens des Nordpols umzugestalten, um die brachliegenden sibirischen Weiten in blühende Landschaften zu verwandeln.
9. 2 Der Blinde Gas t – V s ev o lod Vo e vo d i n s u n d E vg e n i j R y ss’ Abent e uerp o e tik d e s Te rro rs 34 „Die Legende nimmt man aus der Wahrheit,/ Die Frucht schält man aus der Schale./ Ein Schwitzbad, inmitten des Schwitzbads/ befindet sich ein Sieb im Ziegel.“ Vsevolod Voevodin; Evgenijy Ryss (1938)34
Das Thema der Geheimhaltung fand sich in verfremdeter Form nicht nur in fantastischen Texten wieder, auch die neue sowjetische Abenteuerliteratur setzte sich mit diesen Phänomenen 30
Diese ambivalente Semantik ist aber womöglich ein Grund dafür, dass der Roman ungeachtet seiner ideologischen Konformität nach einer letzten Neuauflage 1946 bis zu Stalins Tod nicht mehr erschienen ist. Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
31
Mar’janov: Knigi bol’šoj mečty, S. 37; Jaroslavov: Fantastičeskaja konferencija, S. 39f.
32
Der Verlag war inzwischen wieder von Detizdat in Detgiz zurück umbenannt worden.
33
Adamov, Grigorij: Izgnanie vladyki (Biblioteka priključenij), Moskva, Leningrad 1946. Hier zitiert nach: Ders.: Izgnanie vladyki (1938–1942), in: Ders.: Pobediteli nedr. Izgnanie vladyki, Frunze 1958, S. 281–761.
34 „Сказание берется из истины,/ Плод извлекается из скорлупы./ Баня, среди бани/ Решето в самане.“
Voevodin, Vsevolod; Ryss, Evgenij: Slepoj gost’. Povest’, in: Vokrug sveta 2 (1938), S. 23–30, S. 28. „Saman“ ist eine mittelasiatische Bezeichnung für einen aus Lehm, Dünger und Stroh oder Fasern gemachten Ziegelstein.
380 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
auseinander. Während es aber in der wissenschaftlichen Fantastik jener Jahre vornehmlich der „verwegene Enthusiasmus“ für wissenschaftlich-technische Innovationen wie ein „wunderbares U-Boot“ (Adamov) oder andere „Wundergeneratoren“ (vgl. Abschnitt 10.1) ist, der auf seine geheimnisvollen gesellschaftlichen Konsequenzen hin behandelt wird, beschäftigte sich die nicht auf Wissenschaften bezogene Abenteuerliteratur mit Terror und Geheimhaltung vor allem anhand des Motivs feindlicher Mächte an der Peripherie oder außerhalb der Sowjetunion. Nach der wissenschaftlich-künstlerischen Entexotisierung der Peripherie Anfang der 1930er Jahre begann man jetzt das Fremde und Andere als eine feindliche Macht neu zu definieren, die ihre bedrohlichen Absichten im Alltäglichen der Tradition und im Außergewöhnlichen religiöser Glaubenssysteme versucht zu verbergen. An die Stelle einer „Austreibung der Exotik“ durch ein Aufbrechen der imperialen Perspektiven ist eine Delegitimierung des Exotischen getreten, das in Form der imperialistischen Einkreisung und Infiltration der Sowjetunion droht alle Bereiche des Alltags und des Privatlebens zu unterwandern und so ein ubiquitäres Klima der Angst und des Verdachts schafft. Das in fast allen großen Romanen jener Jahre präsente Topos der Spionage und Diversion dient hier jedoch nicht einfach nur als Negativfolie, von der sich das sowjetische Kollektiv und deren konstruktive Aufbauleistung abheben, sondern die Enttarnung feindlicher Kräfte in einer peripheren und damit tendenziell für den russischsprachigen Leser unbekannten Gegend wird zum zentralen Moment der Handlung. Einer der ersten Abenteuerromane, die ein solches Kompositionsmuster entwickelten, war das Romandebüt der beiden Kunsthistoriker, Drehbuchautoren und Schriftsteller Vsevolod Petrovič Voevodin (1907–1973) und Evgenij Samojlovič Ryss (1908–1973) Der blinde Gast (Слепой гость), das in der ersten Jahreshälfte 1938 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Vokrug sveta und im gleichen Jahr als Buch bei Detizdat erschien.35 Die Handlung spielt in einer nicht näher bezeichneten Kleinstadt in Turkmenistan im Grenzgebiet zu Afghanistan Anfang der 1930er Jahre und wird erzählt aus der retrospektiven Sicht eines jungen Mannes mit Namen Novruz, der sich an die Geschichte seines Stiefvaters erinnert. Denn seine Mutter, eine einfache Wäscherin im nahe gelegenen Artel, hatte nach dem Tod seines Vaters, eines Schusters, dessen Werkstatt in einer alten Ulme 1931 – als Novruz neun Jahre alt war – an einen zugewanderten gehörlosen Schustermeister mit Namen Sulejman verkauft und diesen wenig später aus Sehnsucht nach Liebe auch geheiratet.36 Dieser war zusammen mit einem befreundeten blinden Korbmacher in den Ort gekommen, der sich hier ebenfalls niederlässt. Als einige Jahre später
35
Voevodin, Vsevolod; Ryss, Evgenij: Slepoj gost’. Povest’, Moskva/Leningrad 1938; Dies.: Slepoj gost’. Povest’, in: Vokrug sveta 1 (1938), S. 18–25; 2, S. 23–30; 3, S. 17–26; 4, S. 23–31; 5, S. 22–30; 6, S. 18–25. Hier zitiert nach der Zeitschriftenfassung. Beide waren seit 1928 als Komödienautoren für das Lenin grader Satiretheater und als Drehbuchautoren tätig. Noch ein Jahr zuvor hatten sie mit dem inzwischen repressierten Schriftsteller David Isaakovič Vygodskij (1893–1943) ein Drehbuch über den Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht, vgl. Voevodin, Vsevolod; Vygodskij, David; Ryss, Evgenij: Oni ne proidut, in: Vokrug sveta 5 (1937), S. 1–5.
36
Voevodin; Ryss: Slepoj gost’, 1 (1938), S. 18ff.
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1935 der Großvater des Erzählers im Sterben liegt, ruft dieser seine Großfamilie zu sich in ein kleines Dorf in den Bergen der Umgebung, um ihnen zu erzählen, wie er im Ersten Weltkrieg mit den Engländern zusammen in Afghanistan und der Türkei gegen die Deutschen gekämpft habe und dass – was er bisher verschwiegen habe – einige Deutsche als Agenten noch heute innerhalb der direkten Verwandtschaft der Familie untergetaucht seien.37 Doch ehe er deren Namen preisgegeben kann, wird der Großvater heimlich in seinem Bett ermordet. Seit diesem Mord an seinem Großvater verdächtigt Novruz jeden und jede, nicht nur in der Verwandtschaft, sondern auch im Ort: „Im Gegenteil, je unauffälliger die Gesichter der mir entgegenkommenden Passanten aussahen, je gewöhnlicher alles auf der Straße war, desto stärker wuchs bei mir die Erregung. Ja, ja, diese nicht zu fangenden Feinde, diese unsichtbaren Verbrecher, deren nahe Anwesenheit ich mit ungewöhnlicher Deutlichkeit spürte, handelten gerade in solchen einfachen, durch nichts bemerkenswerten Umständen. Ich verdächtigte nichts im Besonderen. Instinktiv verdächtigte ich alle: den Mann mit dem verbundenen Bein, das Haus mit zugezogenen Vorhängen in den Fenstern, eine leblose Umzäunung, auf die etwas mit Kohle gekritzelt war, die Alte, die unter dem Schal irgendein Bündel bei sich trug.“38
Diese Ubiquität des Verdachts wird noch verstärkt dadurch, dass der neue örtliche Sowjet-Vorsitzende den Erzähler und seinen Freund Bostan, ein ehemaliges Straßenkind (ein Besprizornik), zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen hat.39 So verdächtigen die beiden Jungen unabhängig voneinander sogar einen NKVD-Mann des Verrats, da sie diese ungeheuerliche Vermutung sich aber nicht gegenseitig zugestehen wollen, versuchen sie beide heimlich ins NKVD-Gebäude zu kommen, um Meldung zu erstatten, ohne dass der andere etwas merkt, landen aber letztlich zusammen im selben Geheimdienstbüro und müssen feststellen, dass sie unrecht haben.40 Auch den Verwandten des Erzählers geht diese Unsicherheit auf die Nerven, wie ein Onkel gesteht, der den Stiefvater des Erzählers im Verdacht hat: „Er ist taub, und ich, scheint es, werde verrückt, wenn ich über diesen Schuft nachdenke, der unter uns lebt. Ich verrecke, verliere den Verstand, doch diesen Schuft finde ich.“41 37
Ebd., S. 22–25; 2 (1938), S. 23f.
38 „Напротив, чем проще выглядели лица попадавшихся мне навстречу прохожих, чем обыкновеннее
все было на улице, тем сильнее возрастало мое волнение. Да, да, эти неуловимые враги, эти невидимки-преступники, близкое присутствие которых я ощущал с необычайной отчетливостью, действовали именно в таких вот простых, ничем не замечательных обстоятельствах. Я не подозревал ничто в отдельности. Безотчетно я подозревал все: человека с забинтованной ногой, дом с окнами, задернутыми занавесками, глухую ограду, на которой что-то было нацарапано углем, старуху, пронесшую под шалью какой-то сверток.“ Ebd., S. 25.
39
Ebd., S. 24.
40
Ebd., 3 (1938), S. 17ff.
41
„Он глух, а я, кажется, с ума сойду, думая о том негодяе, который живет среди нас. Сдохну, разума лишусь, а найду этого негодяя.“ Ebd., 2 (1938), S. 27.
382 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Abb 13
Illustration zu dem Kurzroman Der blinde Gast (Slepoj gost’) von Vsevolod Voevodin und Evgenij Ryss mit dem Untertitel „Durch die Stadt verbreiteten sich Gerüchte...“, in: Vokrug sveta, Nr. 3 (1938), S. 18.
Erst als das Gerücht im Ort die Runde macht, ein islamischer Wunderheiler aus dem Ausland werde die so genannte Tote Stadt (Мертвый город) in den Bergen besuchen, wendet sich das Blatt.42 Die Mutter des Erzählers nimmt den Stiefvater gegen dessen ausdrücklichen Willen mit zum Wunderheiler in der Hoffnung, dass er von diesem geheilt werden könne. Auch viele andere, vor allem Frauen und alte und kranke Menschen, kommen zu dessen Auftritt auf dem Gelände des Friedhofs der Toten Stadt. Und unter lang anhaltenden Gebeten gelingt tatsächlich die Heilung des Stiefvaters, der wieder hören und reden kann, und seines Freundes, des Korbmachers, der wieder sehen kann.43 Doch zeitgleich setzt der NKVD den Jungen auf seinen Stiefvater an, und dieser enthüllt, dass es sich bei den beiden angeblich Geheilten um die untergetauchten Deutschen handelt, die jedoch im Schatten der Pilgerkarawane des Wunderheilers 42
Ebd., 3 (1938), S. 19ff.
43
Ebd., 4 (1938), S. 23–29
Die Entzauberung anderer Welten | 383
ins schwer zugängliche Hochgebirge fliehen können.44 In einer gefahrvollen Verfolgungsjagd können der Stiefvater und der „blinde Gast“ erst gefangen genommen werden, nachdem diese in einem auf ihrem Fluchtweg liegenden Erholungsheim sämtliche Kurgäste erschossen haben und sie in ihrer letzten Zuflucht, einer verfallenen Burgruine, von sowjetischen Grenzschützern umstellt worden sind.45 Betrachtet man diesen Kurzroman vor dem Hintergrund der Diskussionen um einen neuen sowjetischen Abenteuerroman, dann finden sich in ihm schon viele der propagierten Verschiebungen gegenüber den „klassischen“ Vorbildern. So wird das Geschehen an der Peripherie hier nicht aus der Perspektive des Zentrums erzählt, sondern aus der retrospektiven Sicht eines turkmenischen Jungen, der nach dem Ende des Bürgerkriegs geboren und mit dem sowjetischen Umbau der Gesellschaft groß geworden ist. Durch diese personale Perspektivierung findet auch eine stärkere Psychologisierung zumindest des Erzählers und seines Freundes Bostan statt, werden doch über lange Passagen die eigenen Verunsicherungen und Ängste vor Verrätern ausführlich geschildert sowie eigene Irrtümer, falsche Verdächtigungen und ein fehlendes Verständnis von Zusammenhängen kritisch reflektiert. Dabei fungieren gerade die NKVD-Mitarbeiter zwar als väterliche Bezugspersonen, doch den größten Teil der Handlung bestreiten die beiden jugendlichen Helden – ähnlich wie ihre literarischen Vorläufer David Copperfield, Tom Sawyer und Huckleberry Finn – allein inmitten der widersprüchlichen Welt der Erwachsenen. Allerdings stellt in dieser Erwachsenenwelt nicht die sowjetische moderne Gegenwart das Fremde dar, sondern der traditionelle turkmenische Alltag. Nur gelegentlich erwähnt der Erzähler, wie schlimm es vor der Industrialisierung und Kollektivierung um den Ort inmitten eines MalariaSumpfes bestellt gewesen sei, der heute von blühenden Baumwollfeldern umgeben wird. Demgegenüber wird das familiäre Umfeld aus traditionellen Großfamilienstrukturen und islamischem Wunderglauben zwar als etwas von klein auf Bekanntes, aber doch Befremdliches beschrieben. Diese Welt hat zwar aus Sicht des Erzählers nichts Exotisches oder Außergewöhnliches, wird aber durch die Allgegenwart möglicher Verräter und Volksfeinde generell verdächtig. Ryss und Voevodin kehren damit die Perspektivierungen der „Klassiker“ des Genres um: Für den subalternen Blick von der Peripherie erscheint nicht die Moderne als das Geheimnisvolle und Bedrohliche, sondern die eigene, biographische Herkunft, von der sich die Helden durch ihre Abenteuer emanzipieren. Die Umkehrung „klassischer“ Perspektiven zeigt sich auch in der Darstellung der Wunderheilungen. Denn erst das „göttliche Wunder“ und die vermeintliche Heilung der Kranken ermöglichen die Enttarnung der Volksfeinde, die zuvor ungeachtet aller Gerüchte und Verdächtigungen weder vom jugendlichen Erzähler noch von seinen Verwandten oder vom NKVD enttarnt werden konnten. Erst als die Volksfeinde als perfekte Schauspieler die wissenschaftlich unmögliche Wunderheilung als religiöses Massenspektakel inszenieren, verraten sie sich selber. So erscheint hier das religiöse Wunder individueller Heilung gewissermaßen als Gegenbild zu den kollektiven 44
Ebd., 28ff.
45
Ebd., 5 (1938), S. 22–30; 6 (1938), S. 18ff.
384 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Wundern der neuen Zeit, wie sie die Sowjetunion täglich zelebriert. Während im klassischen Abenteuerroman zudem traditionelle Rituale und Glaubenssysteme meistens von den weißen Helden dazu genutzt werden, die „abergläubischen“ Einheimischen zu überlisten und von ihrer Außergewöhnlichkeit und Überlegenheit zu überzeugen und sie sich so als „imperiale Subjekte“ konstituieren, öffnet hier die perfekte Inszenierung der deutschen Imperialisten erst den „ungläubigen“, „indigenen“ turkmenischen Sowjetbürgern die Augen über deren wahre Natur. Die bisherige Uneindeutigkeit von Eigenem und Fremdem, sowjetischer Moderne und falscher Tradition wird für den Erzähler durch die Enttarnung des Stiefvaters aufgelöst und ermöglicht es ihm, sich im letzten Teil des Romans in der abenteuerlichen Verfolgungsjagd der Pilgerkarawane als sowjetisches Heldensubjekt zu konstituieren, das einen Beitrag zur Sicherung der Grenze leistet. An die Stelle des „falschen“ Vaters tritt das väterliche Kollektiv der Grenzschützer und Geheimdienstmitarbeiter. Und auch hier sind es nicht physische Gewalt und körperliches Geschick, die zur letztendlichen Verhaftung der Spione führen, sondern die psychologische und intellektuelle Unfähigkeit beziehungsweise Unwilligkeit der Deutschen, die sowjetischen Realitäten richtig zu beurteilen.46 Auch die im Titel angelegte Metaphorik des Romans lässt sich in diesem Sinne deuten: Die Spione sind nicht nur ungebetene, fremd bleibende „Gäste“, sie sind auch „blind“ gegenüber der sowjetischen Wirklichkeit, die sie nicht anerkennen wollen. Gleichzeitig kommt in der Maskierung der untergetauchten Deutschen aber auch eine seltsame Angst vor all denen zum Ausdruck, die vom „gesunden“ männlichen und jugendlichen Heldenbild abweichen, seien es körperlich Behinderte, wie Blinde oder Gehörlose, oder aber auch Frauen und Alte, die durchweg als anfällig gegenüber falschen Versprechungen gezeigt werden. Maskerade und Verkleidung sind hier keine positiv konnotierten Techniken, sondern wirken bedrohlich wie die kursierenden Gerüchte und Verdächtigungen. Betrachtet man den Roman Der blinde Gast vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit und vergleichend zu Adamovs Geheimnis der zwei Ozeane fällt auch hier wieder die Allgegenwärtigkeit des Geheimnisvollen auf, dem sich der Erzähler nicht entziehen kann, wie er an einer Stelle in Bezug auf die Gerüchte schreibt:
46
Auf die letzten Worte des gefangen genommenen deutschen Offiziers Švarke im Roman: „Noch eine halbe Stunde – und Sie hätten hier nichts mehr vorgefunden außer Vogelkot“ („Еще полчаса – и вы не нашли бы здесь ничего, кроме птичьего помета“) antwortet der sowjetische Geheimdienstoffizier Černokov entsprechend: „– Nun, – sagte Černokov, – weit wären Sie eh nicht gekommen. Der erste Ihnen entgegenkommende Hirte oder Lehrer, Teehausbesucher oder Milizionär hätte Sie versucht aufzuhalten und zu mir zum Verhör zu bringen.“ („– Ну, – сказал Черноков, – далеко бы вы все равно не ушли. Первый же встречный пастух или учитель, чайханщик или милиционер постарался бы вас задержать и отправить ко мне для беседы.“) Ebd., 6 (1938), S. 24.
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„In der Stadt kursierten Gerüchte. Ohne noch etwas zu wissen, ohne eine Phrase gehört zu haben, die meinen Verdacht bestätigte, fühlte ich in der Luft die Unruhe; und der stille Wind, das monotone Rauschen des Wassers in den Bewässerungsgräben, die Unbeweglichkeit der verstaubten Blätter in den Bäumen flößten mir Angst und ein trauriges Vorgefühl ein.“47
Diese Angst vor einem im Geheimen verborgenen, nur gerüchteweise bekannten Subtext wird noch betont dadurch, dass in dem Kurzroman das Motiv des Todes, der Krankheit und des Sterbens omnipräsent ist. So lautet nicht nur der erste Satz des Romans: „Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war.“48 Seine Mutter wohnt auch gegenüber dem Städtischen Krankenhaus, die Verabschiedung vom im Sterben liegenden 107 Jahre alten Großvater wird ausführlich beschrieben. Die „Wunderheilungen“ finden auf dem riesigen Friedhofsgelände der Toten Stadt statt, die ihren Namen einem furchtbaren Massaker zwischen Christen und Moslems verdankt, das Anfang des Jahrhunderts von Kolonialbeamten bezahlte Provokateure angezettelt haben. Und selbst das sowjetische Erholungsheim, idyllisch und abseits in den Bergen gelegen, ist vor dem Tod nicht sicher. In einer zentralen Szene lange vor dem Besuch der Toten Stadt erzählt ein alter, bei den Jungen beliebter Geschichtenerzähler, der als Wächter eines Melonenfeldes arbeitet, kurz bevor er selber ermordet wird, die Legende von einem Wunderheiler. die er mit den einleitend zitierten Versen eröffnet. Dieser Wunderheiler, der angeblich Tote wiederauferstehen lassen könne, zieht als gern gesehener „Gast“ von Ort zu Ort, an denen er seine Dienste anbietet, löst aber immer die gleiche Reaktion aus. Nachdem er anfangs begeistert empfangen wird, entlohnt man ihn am Ende fürstlich dafür, dass er keinen Toten wieder auferstehen lässt, da niemand ernsthaft seine verstorbenen Verwandten und Freunde zurück haben will, hat man sich doch schon zu Lebzeiten mit ihnen zerstritten, sie betrogen und verraten. Diese auf dem populären Theaterstück Die Toten (Мертвецы, 1907–1909) des aserbaidschanischen Schriftstellers Džalil Mamedkulizade (1866–1932) beruhende Geschichte kommentiert der Wächter des Melonenfelds mit den Worten, dass „in früherer Zeit es selbst den Lebenden zu eng auf der Erde war und sie untereinander zankten, die Toten aber erst recht überflüssig gewesen wären...“49 Nun lässt sich diese in der Handlung nicht weiter motivierte Binnengeschichte eines populären Textes der Vorrevolutionszeit sicher auch als Gegenbild zur „neuen Zeit“ interpretieren, in der die Wiedererweckung der Toten eine sinnvolle und wissenschaftlich mit Hilfe von „Wundergeneratoren“ (vgl. Abschnitt 10.1) tatsächlich machbare Angelegenheit geworden zu sein scheint. Im Roman jedoch bezieht die Legende sich direkt auf die inszenierten Wunderheilungen der
47 „По городу шли слухи. Еще ничего не зная, не услышав ни одной фразы, подтверждавшей мои
подозрения, я чувствовал в воздухе беспокойство, и тихий вечер, монотонное журчанье воды в арыках, неподвижность запыленной листвы на деревьях внушали мне страх и горестные предчувствия.“ Ebd., 3 (1938), S. 19
48 „Мой отец умер, когда мне было три года.“
Ebd., 1 (1938), S. 18.
49 „[...] в прежнее время и живым-то было тесно на земле и они грызлись между собой, а уж мертвецы
и подавно были бы лишними...“ Ebd., 2 (1938), S. 28.
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ungebetenen Gäste auf dem Friedhof der Toten Stadt und stellt in der mehrfachen Apostrophierung des Todesmotivs sogar einen recht unmittelbaren Bezug von Spionagejagd zu unter der Erde liegenden toten Verwandten und Freunden und dadurch zumindest assoziativ auch zu Verrat und Großem Terror her, der 1938 – als der Kurzroman erschien – noch im vollen Gange war. Damit entwickelt diese Geschichte vom Blinden Gast an der Peripherie der Sowjetunion, in der alle und jeder „bis zum Verrücktwerden“ verdächtig sind und überall der Tod lauert, aber eine ganz eigene ambivalente und metaphorische Poetik des Geheimen, in der sich nicht nur die deutschen Spione hinter verschiedenen Masken verbergen, sondern die fiktionale Wirklichkeit selber als eine Maskerade außerliterarischer Ängste erscheint.50
9 .3 Der erst e s o wje tis che A b e nte uer r o ma n – G eorgij Tuš k ans Džura 5 1 „Ich begrüße das Erscheinen des ersten sowjetischen Abenteuerromans!“ Aleksandr Kazancev (1941)51
Aleksandr Kazancevs Aussage, Georgij Pavlovič Tuškans (1906–1965) 1940 in der „Bibliothek der Abenteuer“ des Verlags Detizdat erschienener Roman Džura sei der erste sowjetische Abenteuerroman war natürlich nur bedingt zutreffend. Bedingt, wenn man nur die seit 1934 verfassten Werke zählte, und wenn man nicht das Erscheinungsdatum, sondern die Fertigstellung des Manuskripts berücksichtigte.52 Denn tatsächlich hatte Tuškan den Roman jahrelang für die
50
Dass der Roman in dieser Poetik des Verdachts sehr zeitgebunden war, zeigt sich auch daran, dass sich bei seiner Neuauflage 1969 Voevodin und Ryss dazu veranlasst sahen, in der Mitte der Geschichte fünf neue Kapitel einzufügen, von denen vier die Worte des damals leitenden NKVD-Offiziers wiedergeben, der 1943 mitten im Krieg mit Deutschland noch einmal ausführlich aus den Ermittlungsakten von Mitte der 30er Jahre zitiert und erläutert, wie real und umfassend die Gefahr durch deutsche Spione damals gewesen sei, worauf die Autoren sich in einem Extrakapitel an die heutigen Leser wenden und versichern, das die heute unglaubwürdigen Geschichten damals wirklich stattgefunden hätten. Vgl. Voevodin, Vsevolod; Ryss, Evgenij: Slepoj gost’ (Biblioteka priključenij i naučnoj fantastiki), Leningrad 1969, S. 125–157.
51 „Я приветствую появление первого советского приключенческого романа!“
So Aleksandr Kazancev auf einer Diskussionsveranstaltung des Verlags Detizdat über Tuškans Roman Džura im April 1941, vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 24 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“: Stenogramma zasedanija po obsuždeniju romana t. Tuškana „Džura“, 10-ogo aprelja 1941g.).
52
Vgl. Tuškan, Georgij: Džura. Roman (Biblioteka priključenij), Moskav/Leningrad 1940. Hier zitiert nach der Ausgabe: Ders.: Džura. Roman (Biblioteka priključenij i naučnoj fantastiki), Moskva 1986.
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Schublade geschrieben. Geboren in Poltava, hatte er in den 1920er Jahren am Charkover Institut für Getreidekulturen sein Studium abgeschlossen und anschließend für das Ukrainische Wissenschaftliche Forschungsinstitut für Wirtschaft und Organisation der Landwirtschaft gearbeitet, ehe er sich in den 1930er Jahren an der ökonomischen Erschließung der Turksib-Trasse beteiligte, einige Jahre auf einer wissenschaftlichen Hochgebirgsstation in Pamir beschäftigt war und an mehreren Expeditionen und Forschungsreisen durch Mittelasien teilnahm. In dieser Zeit begann er schriftstellerisch tätig zu werden und hatte Mitte der dreißiger Jahre gleich drei Romanmanuskripte verfasst, von denen er aber erst Ende 1937 lediglich den gemeinsam mit dem gleichaltrigen Schriftsteller Michail Petrovič Loskutov (1906–1940) geschriebenen Roman Das himmelblaue Ufer (Голубой берег) bei Detizdat unterbringen konnte.53 Loskutov hatte sich seit Ende der 1920er Jahre vor allem durch im Stile der wissenschaftlich-künstlerischen Richtung verfasste Werke über den Sozialistischen Aufbau, insbesondere in Mittelasien, einen Namen gemacht.54 Entsprechend finden sich in Das Himmelblaue Ufer noch recht wenige Abenteuerelemente. Der Roman beschreibt den Kampf eines sowjetischen Agronomen um die Aussaat einer neuen Gerstensorte im Hochland Kirgisiens und den sich dagegen richtenden Widerstand von einheimischen Kulaken und Volksfeinden.55 Die Kritik an dem Roman fiel widersprüchlich aus: Während die Anhänger einer künstlerisch-wissenschaftlichen Richtung wie Aleksandr Ivič und Viktor Šklovskij das mangelnde Interesse an wissenschaftlichen Fakten und psychologischer Glaubwürdigkeit bemängelten, störte die Anhänger einer Abenteuerliteratur die faktenüberladene Handlung, in der ein spannendes Geheimnis und unterhaltsames Sujet fehle.56 Bei seinem ersten allein verfassten Roman Džura, der nach eigenen Angaben auf Materialien beruhte, die er schon während seiner Arbeit in Pamir Anfang der 1930er Jahre über eine gegen die Sowjetmacht kämpfende Partisanengarde gesammelt hatte, war er mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung konfrontiert. Nachdem 1937 schon eine fertige Druckfassung vorlag, hatten insgesamt noch fünf Redakteure bei Detizdat vier Jahre lang das Manuskript in Arbeit, ehe es zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Den gleichzeitig verfassten Kurzroman Die schwarze Windhose (Черный смерч, 1949) konnte Tuškan hingegen erst nach dem Krieg veröffentlichen.57 Grund für diese extremen Verzögerungen waren die offensichtlich vollkom53
Vgl. RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 37f. (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury: Stenogramma soveščanii detskoj sekcii SSP ot 1/IV–1937 g.).
54
Vgl. Bikbulatova, K. F.: Loskutov Michail Petrovič, in: Skatova, N. N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’. V 3 tomach, Bd. 2, Moskva 2005, S. 460–462.
55
Vgl. Loskutov, Michail; Tuškan, Georgij [Jurij]: Goluboj bereg, Moskva/Leningrad 1937.
56
Vgl. Ivič, Aleksandr: Michail Loskutov, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 28–35; Žukov: Sovetskij priključenčeskij i naučno-fantastičeskij roman, S. 178. Zu Šklovskijs Kritik vgl. RGALI, f. 634, op. 1., ed. 454, l. 20–28 (Redakcija „Literaturnaja gazeta“, otdel kritiki i bibliografii: Stat’i Kolčeva, Kagruana, Šklovskogo, Regel’sona, Paleja o fantastičeskich romanach 7 aprielja – 23 dekabrja 1937 goda).
57
Vgl. RGALI, f. 631, op. 8, ed. 13, l. 37f.; Ebd., op. 1, ed. 301, l. 2–7 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“: Stenogramma zasedanija po obsuždeniju romana t. Tuškana „Džura“, 10-ogo aprelja 1941g.).
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men unklaren Vorgaben, wie ein zeitgenössischer Abenteuerroman aussehen sollte, sowie die Säuberungen im Verlag.58 Die Handlung des Romans Džura erstreckt sich über zwei Jahre, 1929 bis 1931, und spielt im Hochgebirge von Pamir an der sowjetisch-afghanischen Grenze, wo eine Gruppe von Basmatschen einen Aufstand gegen die Sowjetmacht versucht zu inszenieren.59 Erzählt wird diese Geschichte vor allem aus der Perspektive des analphabetischen Jungen Džura, der fernab von allen Einflüssen der Moderne und der Zivilisation in einem kaum zugänglichen Gebirgsdorf nach Jahrhunderte alten islamischen Traditionen aufgewachsen ist, und dessen geliebter Jugendfreundin Zejneb.60 Ausgangspunkt der Handlung ist die heimtückische Entführung von Zejneb durch einige Basmatschen, was Džura dazu bringt auf der Suche nach seiner Geliebten erstmals sein Dorf zu verlassen und die unbekannte und in seiner Vorstellung von Angst einflößenden Mythen und Legenden beherrschte Welt jenseits der Bergwipfel kennen zu lernen.61 So gerät er zwischen die Fronten der von Großbritannien finanzierten Basmatschen und der sowjetischen Grenzschützer, wobei er anfangs abwechselnd für beide Seiten arbeitet, da er völlig unreflektiert nur auf Rache und Genugtuung gegen die Entführer sinnt und allein egoistische Interessen verfolgt. Erst nach und nach lernt er, dass es jenseits seines engen individuellen Wahrnehmungshorizonts auch größere Zusammenhänge gibt und dass kollektives Zusammenarbeiten sehr viel effektiver sein kann als sein aus Selbstüberschätzung, Jähzorn und falschem Ehrgeiz motiviertes Handeln. Nach mehrmaligem Scheitern beginnt er sich langsam der „Sippe der Bolschewiki“ (род большевиков) zugehörig zu fühlen.62 Während Džura sich so im harten physischen Überlebenskampf in einer ihm anfangs vollkommen fremden Welt allmählich zurecht findet, wird Zejneb ins afghanische Hinterland in einen Harem entführt, lernt sich hier gegen die islamischen Traditionen und deren grausames Patriarchat zu emanzipieren, ihr gelingt die Flucht und sie gründet im bewaffneten Kampf die erste Frauen-Kolchose im Pamir.63 Neben diesen beiden jugendlichen Hauptfiguren gibt es eine Reihe weiterer typischer Figuren des Abenteuergenres, die für im sowjetischen Sinne rich58
So war das Manuskript zuerst auf ein Drittel der Abenteuerelemente gekürzt worden. Als es aber 1937 druckfertig war, änderten sich mit Andreevs Übernahme des Verlages die Vorgaben, die Abenteuerelemente mussten wieder hinein genommen werden, andere, die Grenzkonflikte zu Afghanistan betreffende, Stellen bedurften der erneuten politischen Überarbeitung. Zudem führten die Repressionen zu einem mehrfachen Wechsel der Verlagsredakteure, was auch zu Verzögerungen beitrug. Vgl. RGALI, f. 631, op. 1, ed. 301, l. 2f. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass Loskutov 1938 politischen Repressionen ausgesetzt war, Anfang 1940 verhaftet und im Juli 1941 als Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Vereinigung verurteilt und erschossen wurde. Vgl. Bikbulatova: Loskutov Michail Petrovič, S. 462; Račinskij: Žertvy političeskogo terrora v SSSR..
59
Vgl. Tuškan: Džura, S. 39f.
60
Vgl. ebd., S. 11–25, 109ff, 186ff..
61
Vgl. ebd., S. 190–195.
62
Vgl. ebd., S. 180f., 377.
63
Vgl. ebd., S. 403–422, 522–536.
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tige und falsche Handlungsoptionen stehen. So sind die Handlungen von Džuras Jugendfreund Kučak einzig von Überlebensangst geleitet, aus der heraus er jeden Verrat begeht und immer dem jeweils Stärkeren folgt, ehe er am Ende seine Bestimmung als Sänger und Dichter der Erfolge der Sowjets findet.64 Aber auch einen „böswilligen“ Verräter gibt es, der für ein wenig individuellen Wohlstand zu jedem Verbrechen bereit ist, wachsame russische und einheimische Bolschewiki, ausländische Agenten, im Geheimen operierende sowjetische Grenzschützer, einen Geologen, der in Džuras Geburtsort wertvolle Rohstoffe entdeckt, sowie einen Hund, der Džura mehrmals das Leben rettet. Vergleicht man den Roman mit Adamovs Geheimnis zweier Ozeane und dem Blinden Gast von Voevodin und Ryss, ergeben sich viele Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. So ist es auch hier – wie im Blinden Gast – kein imperiales Subjekt mehr, das in der kolonisierten Fremde seine Identitätsfindung erlebt, sondern es sind gewissermaßen „vorkoloniale“ Subjekte, die – ähnlich wie in Zuev-Ordynec’ Stadt Neu-Kitež – abgeschnitten von der Außenwelt nur mittelbar durch den Islam mit Außeneinflüssen konfrontiert waren und jetzt in einem Zeitsprung aus dem Mittelalter in der Moderne landen, wo sie in die Machtkonflikte zwischen sowjetischem und britischem Einflussbereich geraten. In ihrer von islamischen Legenden und dörflichen Traditionen und durch die wilde und unkultivierte Gebirgslandschaft Pamirs geprägten Vorstellungswelt sind Džura und Zejneb anfangs überfordert von den Herausforderungen der neuen Zeit. Ihnen erscheint das von Gewalt und Ausbeutung geprägte Leben im zwar seit 1919 von Großbritannien unabhängigen, aber immer noch von der ehemaligen Besatzungsmacht geprägten islamischen Afghanistan genauso fremd und unverständlich wie die sozialistische Aufbauarbeit und Gegenaufklärung der Sowjets. Gleichzeitig stellt der Roman noch deutlicher als der Blinde Gast einen definitiven Abschied von dem Konzept einer „Austreibung der Exotik“ dar. Das Exotische als das unverständliche, fundamental Andere, das zwar im sowjetischen Sinne am Ende durchschaut und überwunden wird, stellt hier vielmehr das entscheidende Moment dar, um gleich auf mehreren Ebenen Spannung zu erzeugen. Zum einen kommt es durch die über weite Strecken erfolgte Perspektivierung aus der Sicht Džuras und Zejnebs in den Roman, die mit einer ihnen anfangs unverständlichen Welt „hinter den Bergen“ ihres Tals konfrontiert sind. Zweitens gibt es die vielen, dem russischen Leser unverständlichen regionalen Spezifika, religiösen Gebote und lokalen Traditionen, insbesondere die ausführlich dargestellte feudal-koloniale Welt Afghanistans, aber auch spektakuläre Naturerscheinungen und geologische Besonderheiten, die nach und nach entzaubert und entblößt werden. Und drittens sind es die eindringenden Basmatschi selber, die in ihrer Brutalität, Skrupellosigkeit und Durchtriebenheit eindringlich aus der Sicht Džuras und Zejnebs dargestellt werden. In dieser expliziten Konfrontation der anfangs naiven Helden mit einer fremden 64
Dabei legitimiert Kučak seinen Opportunismus anfangs mit den mündlich überlieferten Versen des kirgischen Epos Manas, das er immer wieder zitiert, ehe er am Ende in den Überlieferungen der Bol’ševiki die „richtigen“ ewigen Wahrheiten findet, die er mit den gleichen Gesängen – bloß nun mit sozialistischem Inhalt – besingt. Vgl. ebd., S. 120, 131, 134f., 602ff.
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und bösen, von Außen kommenden Welt liegt auch der entscheidende Unterschied zum Geheimnis zweier Ozeane und dem Blinden Gast, wo die Spione bis zu ihrer Enttarnung nur in der Maskierung als harmlose Blinde oder Maschinisten oder nur mittelbar durch ihre militärischen Angriffe und Mordanschläge, als Verdachtsmomente und Gerüchte auftreten. Die koloniale Welt ist hier auch nicht mehr wie in Vajnštoks Filmen oder Adamovs Roman als eine anachronistische Ordnung historisiert oder zu einer Jahrmarktsattraktion gemacht, sondern im Gegenteil als noch intakt und extrem gefährlich gekennzeichnet, da anfangs unklar bleibt, was rückständiger Glaube oder vorsätzlicher Betrug, tradierte Lebensweise oder heimtückische Maske ist. Parallel zu der Dämonisierung der von Außen kommenden Basmatschi findet in der Person Džuras und Zejnebs eine Reexotisierung des Edlen Wilden statt.65 So wird Džura, noch vor allem Kontakt mit der Außenwelt, als der beste und stärkste Jäger seit Generationen beschrieben, während Zejneb als die schönste und klügste Frau gilt,66 die beide nur noch lernen müssen, ihre instinktiven Fähigkeiten diszipliniert und rational einzusetzen.67 Sie ähneln – wie ein Kritiker feststellte68 – sehr Coopers edlen Indianern, mit dem einzigen Unterschied, dass jetzt auch eine Frau, mit Pferd und Gewehr bewaffnet, gegen die Kolonisatoren und ihre korrupten verbündeten Basmatschi kämpft. Tuškans Roman fand – genauso wie der Blinde Gast – in der Kritik anfangs keine Resonanz, wohl auch deshalb, da man nicht wusste, wie man mit dem Abenteuergenre umgehen sollte, das im vergangenen Jahrzehnt noch sehr viel stärker als die Wissenschaftliche Fantastik auf prinzipielle Vorbehalte gestoßen war. Aus diesem Grund organisierte der Verlag Detizdat im Frühjahr 1941 eine interne Aussprache zu Tuškans Werk mit Redakteuren, Verlagsvertretern, Kritikern
65
Diese Exotisierung der „guten Wilden“ führte einen Verlagsredakteur von Detizdat zu der Feststellung, dass ihn Tuškans Helden stark an diejenigen von Aleksandr Bestužev-Marlinskij erinnerten: „Dieses Bestreben, leidenschaftliche Menschen zu zeigen, die sich mit selbstlosem Elan hingeben, so eine scheinbare Elementarität des Charakters, das sind die Züge, die aus der romantischen Literaturtradition kommen und eben das Beste darstellen, was es in diesem ganzen Gebiet des romantischen Abenteuerromans gibt.“ („Это стремление к показу людей страстных, отдающихся беззаветно порыву, такая, как будто, элементарность характера, – это те черты, которые идут от романтических традиций в литературе и именно то лучшее, что есть во всей этой полосе романтического приключенческого романа.“) Vgl.
ebd.ebd., l. 9. 66
Ebd., S. 17ff., 112ff., 171ff.
67
Im Unterschied zu den Großwerken des Sozialistischen Realismus sind es hier aber nicht ideologische Argumente überzeugter Vorbilder oder eine technisch-materielle Überlegenheit, die den positiven Helden auf seinem Weg zum Neuen Menschen prägen, sondern die Analphabeten Džura und Zejneb werden rein affektiv und allein durch die subjektive praktische Erfahrung zu Bolschewiken. Entsprechend sind es primär imaginäre Werte von Respekt und Anstand, Offenheit und Ehrlichkeit, die die siegreichen Bolschewiki offerieren, gegenüber dem Streben nach materiellem Wohlstand bei gleichzeitiger Verlogenheit, Geheimnistuerei und Konspirationstätigkeit, das die Baschmaten auszeichnet.
68
Vgl. die Kritik von Kirill Andreev und die Ausführungen Tuškans hierzu 1941 in RGALI, f. 630, op. 1, ed. 301, l. 21f., 54.
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und Autoren. Diese Debatte entwickelte sich zu einer erneuten Auseinandersetzung darüber, was man unter dem Genre überhaupt zu verstehen habe. Tuškan selber verwendete die in den Diskussionen um die Wissenschaftliche Fantastik benutzte Definition des Abenteuers als einen Obergriff, der nur die formale kompositorische Eigenschaft eines dynamischen Sujets bezeichnete, dem gegenüber deskriptive und erklärende Elemente stark zurücktreten müssten, aber auch politische und gesellschaftliche Zusammenhänge seien auf das Nötigste zu reduzieren.69 Unter diesem Dach der Abenteuerliteratur könne es unterschiedliche Genres geben, wie die Wissenschaftliche Fantastik, den Detektivroman oder aber auch das „heroische Genre“ (жанр героический), dem er auch seinen Roman zuordne. Das Heroische bestehe darin, zu zeigen, „wie ein hässliches Entlein zu einem Schwan“ werde („как гадкий утенок делaется лебедем“),70 Vorbilder seien zum Beispiel Jack Londons Martin Eden oder auch Alexandre Dumas’ Les trois mousquétaires. Zentral sei aber, dass man bei dieser Gestaltung der Helden maximale künstlerische Freiheit habe und das Genre nicht mit psychologischen Alltagsromanen verwechsle: „Das Abenteuergenre erfordert maximale Freiheit der künstlerischen Erfindung, der Mutmaßung. Da es bei uns aber nicht eine einzige theoretische Arbeit zum Abenteuergenre gibt, wird das eine Genre mit dem anderen vermischt.“71
Während sich Tuškan der in den zwanziger Jahren verbreiteten Ansicht anschloss, dass der Abenteuerroman eine Gattung der Moderne sei und seine „Klassiker“ im 19. Jahrhundert zu suchen seien, nahm der leitende Redakteur für Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik des Verlages Detizdat, Kirill Konstantinovič Andreev (1899–1967), der sich in den folgenden Jahren zu einem der führenden Theoretiker und Kritiker der Genres entwickeln sollte, eine ganz andere Einordnung vor. Andreev sah – ähnlich wie es Dmitrij Blagoj 1925 in seinem Beitrag für die Literaturenzyklopädie vorgeschlagen hatte – den Ursprung des Genres und seine zentralen Elemente im griechischen Roman, der lange Zeit das Genre geprägt habe und dessen Motive noch heute für seine Definition wesentlich seien:
69
RGALI, f. 360, op. 1, ed. 301, l. 2ff. (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“; Detizdat, Stenogramma zasedanija po obsuždeniju romana t. Tuškana „Džura“, 10-ogo aprelja 1941g).
70
Ebd., l. 2.
71 „Приключенческий жанр требует максимальной свободы художественного вымысла, домысла. А так
как у нас нет ни одной теоретической работы по приключенческому жанру, у нас смешивают один жанр с другим.“ Ebd., l. 7.
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„Schon im griechischen Abenteuerroman hat man eine gewisse Anzahl gemeinsamer Sujetmotive erarbeitet, die für sehr lange Zeit die Tradition dieses Genres bestimmt haben. Diese allgemeinen Motive sind: Die Wanderung der Helden, dann fallen sie in die Hände von Räubern, dann Kampf und Schiffsbrüche, ein scheinbarer Tod, ein versehentlicher Mord, Anklage des Helden aufgrund eines nicht begangenen Verbrechens, dann Verkleidung eines der Helden, dann gibt es ein Schlafmittel und noch einige andere kleinere Motive.“72
Mit dieser Rückbindung des Genres an den griechischen Roman unternahm Andreev aber offensichtlich auch den Versuch, dessen Neudefinition an die Romandiskussion jener Jahre anzuschließen, die seit Mitte des Jahrzehnts immer wieder um die Frage kreiste, wie weit ein literarisches Genre seine Eigengesetzlichkeiten habe und wie weit es zeitbedingt geprägt sei.73 Hier gab es zwei konträre Positionen. Die eine Position der Zeitbedingtheit bestimmter Romangenres vertrat am prominentesten Georg Lukács, was ihm zum Teil scharfe Kritik einbrachte, aber letztlich in seiner Ablehnung der historischen Avantgarden der Moderne zur verbindlichen Ansicht sozialistisch-realistischer Literaturauffassungen wurde.74 Diese Position stellte dann auch eine der Legitimationsgrundlagen dar, nach denen Maršak und Il’in auf dem Schriftstellerkongress das Abenteuergenre als „Schmuggelware“ gänzlich verwerfen konnten. Theoretisch in Bezug auf den Abenteuerroman hatte diese Position Gennadij Pospelov am dezidiertesten in seinem Beitrag über den „Roman“ im neunten Band der Literaturenzyklopädie von 1935 (dessen zweiten Teil Lukács schrieb) formuliert, der den „avantjurnyj roman“ als ein Verfallsphänomen der feudalistischen Gesellschaftsordnung charakterisierte, das sich spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Erstarkung des Bürgertums und dem Aufkommen des psychologisch-realistischen Romans erledigt habe.75 Die erstmals von Blagoj und auch von Andreev vertretene Gegenposition eines bis in die antiken Mythen zurückreichenden Genres, das auch für den Sozialistischen Realismus adaptierbar sei, vertrat in den 1930er Jahren am prominentesten Michail Bachtin, allerdings ausschließlich in internen Auseinandersetzungen. Diese Position, die von einer prinzipiellen Unfertigkeit 72 „Уже в греческом приключенческом романе было выработано некоторое количество общих
сюжетных мест, которые на очень долгое время определили традицию для этого жанра. Эти общие места следующие: странствование героев, затем они попадают в руки разбойников, затем борьба и корaблекрушения, мнимая смерть, убийство по ошибке, обвинение героев в несовершенном преступлении, затем переодевание одного из героев, затем имеется снотворный напиток и есть несколько других, более мелких.“ Ebd., l. 15.
73
Vgl. hierzu ausführlich Wegner, Michael; Hiller, Barbara u.a. (Hg.): Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion, Berlin 1988.
74
Vgl. hierzu Ebd.
75
Vgl. Pospelov, Genadij; Lukács, Georg [Lukač, G.]: Roman, in: Literaturnaja ėnciklopedija v 11 tomach, Bd. 9, Moskva 1935, S. 778–832, 792ff; Für Lukács gibt es hingegen nur „Abenteuerelemente“ (элементы приключений), die beim Verfall des bürgerlichen Romans auftreten, vgl. ebd., S. 809f.
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der Gattungen und deren Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Epochen ausging, hatte er zuletzt einen Monat vor der Diskussion bei Detizdat im Moskauer Institut für Weltliteratur im März 1941 unter dem Titel „Der Roman als literarisches Genre“ vorgetragen, in der er unter anderem auf die Spezifik der „Kontaktzone“ (зона контакта) des Abenteuerromans zur außerliterarischen Wirklichkeit einging: „Nehmen wir beispielsweise den abenteuerlichen Boulevardroman. In ihm gibt es weder philosophische noch sozial-politische Problembezogenheit und keine psychologische Durchdringung; über keine dieser Sphären kann es somit Kontakt zu dem unabgeschlossenen Ereignis des gegenwärtigen – unseres – Lebens geben. Die fehlende Distanz und die Kontaktzone werden hier auf andere Weise genutzt: Anstelle unseres langweiligen Lebens bietet man uns zwar ein Surrogat, dafür jedoch ein interessantes und glänzendes Leben. Diese Abenteuer kann man miterleben, mit diesen Helden kann man sich selbst identifizieren; Romane dieser Art können beinahe zu einem Ersatz für das eigene Leben werden.“76
In dieser Tendenz zum Surrogat oder gar Ersatz des eigenen Lebens durch den Abenteuerroman bestehe demnach die Stärke, aber auch die größte Gefahr dieses Genres, der es zu begegnen gelte.77 Genau diese Intention Bachtins verfolgt auch Andreev in seiner Argumentation, wenn er einerseits zwar darauf verweist, wie sehr der Aufbau des Sujets den griechischen Genretraditionen folge, andererseits aber hervorhebt, dass ein guter Abenteuerroman auf wirklichen Fakten aufbauen müsse und nicht zu viel Exotik – wie bei Tuškan – enthalten dürfe.78 Der Einordnung in eine tausendjährige Tradition des Genres schlossen sich auch die meisten Autoren – wie Grigorij Adamov – und Verlagsredakteure an, wobei die dahinterliegende Motivation ganz offensichtlich darin lag, auf diese Weise eine bessere Legitimationsgrundlage für das Genre zu haben, das als
76
Bachtin, Michail: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung (1941), in: Wegner, Michael; Hiller, Barbara u.a. (Hg.): Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion, Berlin 1988, S. 490–532, S. 522 („Возьмем, например, авантюрно-бульварный роман. В нем нет ни
философской, ни социально-политической проблемности, нет психологии; ни через одну из этих сфер, следовательно, не может быть контакта с незавершенным событием современной и нашей жизни. Отсутствие дистанции и зона контакта используются здесь по-иному: вместо нашей скучной жизни нам предлагают, правда, суррогат, но зато интересной и блестящей жизни. Эти авантюры можно сопереживать, с этими героями можно самоотождествляться; такие романы почти могут стать заменою собственной жизни.“ Bachtin, Michail: Ėpos i roman. O metodologii issledovanija romana, in:
Ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, Moskva 1975, S. 447–483, S. 475). 77
Ebd., S. 523; In seinem unveröffentlichten Essay zu „Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman“ (1937–1938), der in jenen Jahren entstanden ist, geht er in den Ausführungen zum „abenteuerlichen Prüfungsroman“ und „abenteuerlichen Alltagsroman“ zudem detailliert auf die griechischen Ursprünge dieses Romantyps ein, die er fast identisch mit Andreev definiert. Vgl. Bachtin, Michail: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, in: Ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989, S. 7–209, S. 9ff.
78
Andreev in RGALI, f. 360, op. 1, ed. 301, l. 16ff, 22f.
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kulturelles Erbe der Menschheit nicht einfach vernachlässigt werden dürfe.79 Gleichzeitig konnte mit dem Verweis auf die antiken Mythen und folkloristischen Märchen – wie schon bei der Diskussion um die Wissenschaftliche Fantastik – die Dekadenzproblematik und der weiter mitschwingende Vorwurf einer konterrevolutionären Schmuggelware umgangen werden. Denn auch wenn administrativ die Konkurrenz zwischen Abenteuergenre und wissenschaftlich-künstlerischer Literatur vorerst beendet war, indem man beide nebeneinander gleichwertig gelten ließ, kam dieser Vorwurf doch immer wieder indirekt zum Ausdruck, wenn man forderte, die „Abenteuerelemente“ auf ein Minimum zu reduzieren. Auf der Diskussion bei Detizdat im Frühjahr 1941 vertrat diese Position am deutlichsten der junge Ingenieur und Autor Aleksandr Kazancev, auf den ich noch zu sprechen komme, dem es zu viel an Grenzkonflikten und zu wenig an „Sowjetischem“ in Džura gab: „Ich wollte noch sagen, dass man ein Werk speziell im Abenteuergeist schreiben kann, doch in gar keinem Fall kann und darf das Abenteuer einfach für sich selbst existieren. Und bei Tuškan ist das irgendwo der Fall und das ruft gerechtfertigte Klagen hervor.“80
So wurde wiederholt eine deutlichere Zeichnung der Figurenspychologie und eine ausführlichere Darstellung des sowjetischen Alltags gefordert.81 Diese Positionen blieben allerdings in der Minderheit, wollte man doch eine Neudefinition des Genres finden, das ähnlich wie der Sozialistische Realismus in Gor’kijs Definition von 1934 seine Anfänge in den progressiven griechischen Mythen habe und das durchaus als eigenständige Literaturform für die sowjetische Gegenwart adaptierbar sein sollte. Gerade um die Gattungsspezifik hervorzuheben, kritisierte man Tuškan vor allem dafür, zu viele Kompromisse gemacht zu haben, viele beschreibende Stellen seien zu ausführlich geraten, und auch die dynamischen Sujetlinien gingen insbesondere im letzten Teil des dreiteiligen Werkes verloren. 82 So sei es „kein großer Roman, sondern ein langer Roman“ geworden, der aber als erster Versuch in diesem Metier insgesamt einen Erfolg darstelle.83 Entscheidend sei, dass mit dem Roman gezeigt worden sei, dass das Genre durchaus für die sowjetische Wirklichkeit notwendig sei und entscheidend zur politischen Erziehung der Jugend beitragen könne.84 79
So spricht Adamov beispielsweise von einem jahrtausendealten Genre, dessen Tradition man nicht einfach aufgeben könne, vgl. ebd.ebd., l. 44.
80 „Мне и хотелось сказать, что писать произведения специально в приключенческом духе можно, но
ни в коeм случае приключение не может и не должно существовать само по себе. А у Тушкана коегде это есть и это вызывает справедливые нарекания.“ Ebd., l. 50.
81
Ebd., l. 24ff., 36ff., l. 49.
82
Entsprechend grenzt Adamov beispielsweise Tuškans Roman explizit von Kaverins Roman Zwei Kapitäne (Два капитана, 1938–1944) ab, der zwar meisterhaft geschrieben sei, aber „kein Gramm Abenteuer“ beinhalte, vgl. ebd., l. 45.
83
Ebd., l. 18ff., 27.
84
Vgl. die Ausführungen eines Verlagsredakteurs ebd., l. 12.
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Allerdings konnte diese Neudefinition des Abenteuerromans anhand von Tuškans Werk keine große Wirkung mehr entfalten, denn nur zweieinhalb Monate nach dieser Diskussion gewannen mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion für die Autoren plötzlich ganz andere Themen aktuelle politische Brisanz, die auch das Genre nach dem Krieg noch einmal grundlegend verändern sollten. Alle der bislang diskutierten Autoren, die in den Jahren zuvor ihre ersten großen Romane in der abenteuerlichen Kinderliteratur vorgelegt hatten, wurden nach dem 22. Juni 1941 als Kriegskorrespondenten, Frontberichterstatter und Auslandsreporter eingesetzt, nicht wenige arbeiteten auch für den Geheimdienst, dessen Arbeit sie literarisch so sehr gepriesen hatten.
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10 . M oskau als Laboratorium der Wunder – Die Verzauberung der eigenen Welt1 „Der Bote des Todes steht an der Schwelle. Bereit zu sterben, erzähle ich den Menschen mein böses Schicksal. [...] Ich schaue, weine und wundere mich, wie ich noch am Leben bin – allein auf diesem toten Planeten.“ Boris Anibal (1940)1
In seiner umfassenden Monographie Terror und Traum zum Moskau des Jahres 1937 widmet Karl Schlögel auch ein Kapitel dem „Jahr der Abenteuer“, jenen Rekorden der Aviatik, die in Nonstop-Flügen von Moskau nach Amerika oder in dem größten Flugzeug der Welt bestehen, aber auch jenen Triumphen der Eroberung der Arktis, heroischer Rettungsexpeditionen und der Erschließung neuer Seewege.2 Doch die „Zeit der größten Triumphe der sowjetischen Aviatik und Polarforschung fiel zusammen mit der Hexenjagd auf Ingenieure, Techniker, Konstrukteure“, die wegen „Sabotage“ und „Schädlingsarbeit“ verurteilt wurden, wie Schlögel schreibt:3 „Während die Rekorde und Triumphe gefeiert wurden, lief die Mordmaschinerie auf Hochtouren. Die Flug- und Nordpolmanie waren jener Kitt, um zusammenzuhalten, was durch Gewalt allein nicht zusammengehalten werden konnte. Die Macht hatte sich noch den letzten Zufluchtsort der Freiheit und des Abenteuers – den Himmel und das ewige Eis – einverleibt und die vitalsten Eigenschaften des Menschen – seine Abenteuerlust, seine Bereitschaft zur Hingabe, seine Intelligenz im Überlebenskampf – in Fesseln der Knechtschaft verwandelt.“4
Genau diese beabsichtigte Einverleibung des Abenteuers und Fesselung der Abenteuerlust standen auch hinter den Umstrukturierungen, die seitens der neuen Komsomol-Leitung Mitte 1937 im Bereich der Jugendliteratur und Wissenschaftspopularisierung eingeleitet wurden. Doch die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur, die aus dieser Umstrukturierung entstand, bildete letztlich einen ganz anderen Kitt als den vorgeblich intendierten aus, verband sie doch die alltägliche Erfahrung des Terrors mit dem außergewöhnlichen Streben nach Freiheit und Abenteuer, indem sie Narrationen und Sujets entwickelte, die die „Heillosigkeit der Verwirrung, das Schwinden der klaren Unterscheidungen, die überfallartigen und schockhaften Einbrüche unbekannter anonymer Mächte in das Leben gewöhnlicher Menschen, Angst, Verzweiflung“ ver1 „Вестник смерти – на пороге. Готовясь умереть, повествую людям свою злую судьбу. […] Смотрю,
плачу и удивляюсь, как я еще жив – один на этой мертвой планете.“ Anibal, Boris: Morjaki Vselennoj.
Naučno-fantastičeskij roman (Okončanie), in: Znanie – sila 5 (1940), S. 26–32, S. 26. 2
Vgl. Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, S. 386–410.
3
Ebd., S. 391.
4
Ebd., S. 410.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 397
handelten, wie es Schlögel Michail Bulgakovs 1937 fertig gestelltem Roman Meister und Margarita (Мастер и Маргарита) attestiert.5 Doch während Bulgakovs Hauptwerk wie schon 1925 seine Erzählung Hundeherz nicht publiziert werden konnte, fand die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur jener Jahre in dem Grenzbereich zwischen Kinderliteratur und Wissenschaftspopularisierung eine Nische, in der sie auf ganz verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Verfahren eine fantastische Verzauberung der eigenen Welt betrieb. So nahm Grigorij Grebnev beispielsweise die Erfahrungen der Čeljuskin-Expedition, die 1934 im Packeis stecken geblieben war, sowie der ersten sowjetischen Polarstation, die im Mai 1937 auf einer Eisscholle errichtet wurde und von immer wieder neuen Abspaltungen und Abschmelzungen im Eis bedroht war, zum Anlass, um Ende 1937 in der Kinderzeitschrift Pionier den „fantastischen Roman“ Arktanija (Die fliegende Station) (Арктания [Летающая станция]) zu veröffentlichen.6 Diese fliegende Polarstation schwebte über dem Nordpol, der nicht mehr ein exterritoriales Gebiet der Sowjetunion darstellte, sondern inzwischen in die „eigene Welt“ eines globalen sowjetischen Weltreichs „einverleibt“ war. In dieser kommunistischen Zukunftswelt, in der die Erde unter einer Regierung der Sowjets vereint ist und die „Kinder der Arktis“ mit Hochgeschwindigkeitsflugzeugen zu einem Wochenendausflug „unter die Kokospalmen Afrikas“ fliegen, können die widrigen Witterungsverhältnisse der Arktis auch einer Polarstation keinen Schaden mehr zufügen.7 Doch selbst in dieses schwebende, utopische Idyll dringt der Alltag des Terrors ein, strukturiert das Sujet, das seinen Ausgang bei dem Sohn des Direktors der Polarstation nimmt, der unten im Eis den 1928 verschollenen Polarforscher Roald Amundsen finden und wieder zum Leben erwecken möchte, selber aber bei der Suche nach dessen eingefrorener Leiche verloren geht. Man findet bei der daraufhin eingeleiteten Rettungsexpedition jedoch nur einen vereisten schwarzhäutigen Jungen aus Äquatorialafrika, der tatsächlich wieder belebt werden kann, wobei die beteiligten Wissenschaftler den anwesenden Journalisten ihre Pläne offenbaren, ganze „Kliniken für Verstorbene“ (Больницы для умерших) einzurichten.8 Allerdings erscheint diese Wiedererweckung nur bei denen möglich, die vorzeitig, gegen ihren Willen, eines zu frühen Todes gestorben seien – also genau in solchen Fällen, die auch für die im Großen Terror spurlos
5
Ebd., S. 59.
6
Vgl. Grebnev, Grigorij: Letajuščaja stancija. Roman-chronika, in: Pioner 10 (1937), S. 64–86; 11, S. 42– 66; 12, S. 73–97. Hier zitiert nach Ders.: Arktanjia (Letajuščaja stancija). Fantastičeskij roman, Moskva/ Leningrad 1938; Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki. Zu den Polarexpeditionen vgl. Schlögel: Terror und Traum, S. 394ff.
7 Grebnev:
Arktanija, S. 4; Diese schwebende Polarstation ist deutlich durch Kurt Lasswitz’ 40 Jahre zuvor geschriebenen Roman Auf zwei Planeten (1897) inspiriert, in dem hochzivilisierte pazifistische Marsianer im Geheimen eine schwebende Raumstation am Nordpol errichtet haben.
8
Ebd., S. 49ff., 57ff.
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Verschwundenen und heimlich Ermordeten charakteristisch sind.9 Doch findet sich für den vermissten Jungen und weitere zahlreiche Opfer in dem Roman eine andere Erklärung. Denn wie sich herausstellt, haben sich in der Arktis in Unterseebooten und versteckten Höhlen die letzten untergetauchten Faschisten als „Kreuzspinnler“ (Крестники) organisiert, zu deren Bekämpfung in der weiteren Handlung die gesamte kommunistische Menschheit mobilisiert wird.10 Zwar werden diese deutschen Kreuzritter der Zukunft am Ende besiegt, doch was von dem Roman bleibt, ist der Eindruck, dass das „geheimnisvolle Verschwinden“ ( таинственное исчезновение) von Menschen im Eis auch als ein Signum der kommunistischen Eiszeit der Gegenwart gelesen werden könnte. So richteten die wissenschaftlich-fantastischen Abenteuergeschichten jener Jahre ihre Fiktionen topographisch vornehmlich auf jene Orte, an denen die sowjetische Publizistik die größten Triumphe und Erfolge feierte, während die „wissenschaftlich begründete“ Fantastik sich vor allem mit jenen Forschungsfragen befasste, die eine Revision der „überfallartigen und schockhaften Einbrüche unbekannter anonymer Mächte“ (Schlögel) boten, indem sie durch Wundergeneratoren und Lebensstrahlen eine Wiederbelebung der Toten versprachen (Abschnitt 10.1. Zukunftsvisionen der technischen Intelligenz), oder diese Toten selber als archaische Monster und antike Magier die ideologische Ordnung des Moskaus der Gegenwart außer Kraft setzten (Abschnitt 10.2. Die Wiedererweckung der Toten). Die mit einem offiziellen Mantel des Schweigens und der Verdrängung umgebenen Toten kehrten ganz buchstäblich in fantastischer Gestalt zurück an den Ort des Grauens, indem sie sich als Zauberer oder Mammuts fiktionale Gestalt gaben. Man muss diese fantastische Transformation der sowjetischen Hauptstadt im engen Zusammenhang sehen mit deren Stellung als imaginärem Zentrum des Landes in der sowjetischen Kultur jener Jahre.11 Das Moskau des neuen Generalplans mit seinen ersten realisierten Bauprojekten in der Innenstadt, dem Allunionsausstellungsgelände der Errungenschaften der Landwirtschaft VDNCh oder dem umgestalteten Gor’kij-Park war derjenige Ort, an dem nicht nur der Aufbau des Sozialismus am weitesten fortgeschritten war, sondern an den sich auch am stärksten die utopischen Projekte zu einer neuen Architektur und Kultur des glücklichen Lebens knüpften. Moskau war nicht nur das Zentrum der kommenden Welt, sondern auch derjenige 9
Dass es bei diesem „tollkühnen und heimlichen Wunschtraum der Menschheit“ ( сумабродная и затеянная мечта человечества) auch um den verheimlichten und tollkühnen Terror jener Jahre und die angewendeten Folterpraktiken geht, zeigt die hysterische Reaktion auf eine Nachfrage, nachdem der Professor seine Pläne zur Wiedererweckung der Toten erläutert hat: „ – Und wenn der Mensch eines gewaltsamen Todes stirbt? Nun, zum Beispiel von einem gewaltsamen Schlag mit einer völligen Zerschmetterung des Schädels?/ Für einen Moment wurde es still. Dann lärmten die Korrespondenten alle zusammen los, fingen an hin und her zu rücken, man hörte entrüstete Ausrufe:/ – Fieberwahn!/ – Wilde Fantasie!..“ („– А если человек умрет насильственной смертью? Ну, например, от сильного удара с полным разможжением головы?/ На мгновение стало тихо. Потом корреспонденты сразу все шумели, зашевелились, послышались возмущенные восклицания:/ – Бред!/ – Дикая фантазия!..“) Ebd., S. 53.
10
Ebd., S. 95ff.
11
Vgl. ausführlich hierzu Schlögels Monographie Terror und Traum.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 399
Ort, an dem bislang ferne, fremde, „andere Welten“ zu einem fest integrierten Bestandteil der eigenen gemacht wurden, egal ob sie sich an der Arktis oder auf dem Mars befanden. So hatte man in einer Zukunftsvision von 1937 bereits das Jahr 2037 fest im Blick, in dem zum hundertsten Jahrestag der Rekonstruktion der Hauptstadt der erste Linienflug von der Erde zum Mars und zurück feierlich als „Stalinflug“ (Сталинский рейс) eröffnet werden wird.12 Gleichzeitig war Moskau als reales Zentrum der Macht aber auch derjenige Ort, an dem die stalinistischen Säuberungen und der Große Terror wie nirgends sonst insbesondere die technische und künstlerische Intelligenz, die Ingenieure des Aufbaus und die „Ingenieure der menschlichen Seele“, betrafen. Allgegenwärtig schien die Gefahr ausländischer Spione und Saboteure, unsichtbarer Volksfeinde und Verräter in den eigenen Reihen zu sein, die es galt, mit allen Mitteln zu enttarnen und unschädlich zu machen. Die wissenschaftlich-fantastische Literatur nahm diesen Verfolgungswahn auf und verfremdete ihn in Untergangsvisionen von kosmisch-mythischem Ausmaß. So veröffentlichte beispielsweise der Publizist und Kritiker Boris Anibal (Pseudonym von Boris Alekseevič Masainov, 1900–1962) in der ersten Jahreshälfte 1940 in Znanie – sila seinen einzigen wissenschaftlich-fantastischen Text, den Kurzroman Die Seeleute des Weltalls (Моряки Вселенной).13 Dieser Kurzroman nahm die Zukunftsvision des Jahres 1937 auf und berichtet ausführlich, wie Ende des Jahrhunderts die ersten Menschen zum Mars fliegen, doch worauf sie hier treffen, ist das genaue Gegenteil einer lichten Zukunft: Eine ausgestorbene Welt, in der alles der Vernichtung anheim gefallen ist. Erst im letzten Teil des Kurzromans, der auch die Titelgeschichte von Znanie – sila wird, stoßen die Menschen auf das Geheimnis des Untergangs, indem sie das „Manuskript eines Atlanten“ (манускрипт Атланта), des letzten Überlebenden, finden.14 Dieses Manuskript erzählt davon, wie die Marsbewohner in der Antike das mythische Atlantis besuchten und einen der Bewohner auf ihren Planeten entführten, während sein Heimatkontinent in einer irdischen Sintflut unterging. Auf dem Mars wurde dieser antike Atlant Zeuge einer hoch entwickelten Zivilisation, in der alle Arbeit von Robotern und Maschinen erledigt wird, während die Marsbewohner mit außerordentlichen telepathischen und intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet sind. Letztlich können sie sich aber einer verheerenden Epidemie nicht erwehren, so dass sie elendig zugrunde gehen, bis nur noch der Erdenmensch überlebt, der diesen Untergang in einem Tagebuch festhält, das er mit den einleitend zu diesem Kapitel zitierten Worten eröffnet.15 Das schnell zu einem geflügelten Wort gewordene Diktum „Manuskripte brennen nicht“ von Bulgakovs Voland ist hier gewissermaßen zum Ausgangspunkt des fantastischen Sujets geworden. 12
Voronov, N.: Večer 2037 goda, in: Vokrug sveta 12 (1937), S. 2–3.
13
Anibal, Boris: Morjaki Vselennoj, in: Znanie – sila 1–2 (1940), S. 36–40; 3, S. 24–29; 4, S. 21–25; 5, S. 26–30. Der Titel des Kurzromans ist einem Gedicht von Valerij Brjusov entlehnt, beide Werke enthalten explizite intertextuelle Verweise auf die Homersche Odyssee. Zur Kritik am Kurzroman, vgl. Mar’jamov: Sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 26f.
14
Vgl. Znanie sila 5 (1940), S. 1 Umschlag.
15
Anibal: Morjaki Vselennoj, in: Znanie – sila 5 (1940), S. 26ff.
400 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Abb 14 Titelillustration zu Boris Anibals Kurzroman Morjaki Vselennoj (Die Seeleute des Weltalls) von Znanie – sila, Nr. 5 (1940).
Die Verzauberung der eigenen Welt, die die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur in jenen Jahren anbot, war demnach eine zweifache: Zum einen gab sie den wissenschaftlich-technischen Ideen (fliegende Polarstation, Weltraumflüge) der technischen Intelligenz eine fantas-
Die Verzauberung der eigenen Welt | 401
tisch-unheimliche Dimension, indem sie diese auf unterschiedliche Weise mit den Gefahren des Todes und des Untergangs assoziierte; und zum anderen sorgte sie wortwörtlich dafür, dass fantastisch-übernatürliche Mächte (Monster, Zauberer, Voland) Moskau als Stadt der Zukunft und des Terrors in zauberhaften Schrecken versetzten. So entwickelte sie im Spannungsverhältnis zwischen Zukunftsutopie und Mordmaschinerie in der kurzen Zeitspanne vor dem Großen Vaterländischen Krieg eine im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren ganz erstaunliche Breite an Themenstellungen und Verfahren, die ausführlich intern und teils auch öffentlich diskutiert wurden. Allerdings zeichnete sich in diesen Debatten bald ab, dass die allgemeine starke Ideologisierung der Wissenschaftspopularisierung und „Einverleibung“ des Abenteuers und die gleichzeitige fantastisch-abenteuerliche Transformation dieser Narrative nicht ohne Konflikte zu haben waren. Die Konflikte aber waren genau jene, die auch schon in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten die Debatte um das Genre geprägt hatten, zwischen einer Orientierung „nach Westen“, wie sie 1922 Lev Lunc gefordert hatte, und einer Überwindung des degenerierten Genres, wie es seinerzeit Viktor Šklovskij reklamiert hatte. Sie kehrte nun als Auseinandersetzung darüber wieder, ob das Abenteuersujet als Form oder die wissenschaftlichkünstlerische Wahrhaftigkeit als Inhalt das primäre Kriterium für das Genre sein sollte (Abschnitt 10.3. Die Zerstörung des Kanons).
10.1 Zuku nfts fantas ien der te chn i sc h e n In te lli g e n z – Kaz ance v s und Do lguš ins W u n d e r g e n e r a to r e n 16 „Aber warum tauchen die Fälle eines Empfangs der ‚Todessignale‘ verhältnismäßig selten auf? Es ist schwer, auf diese Frage zu antworten. Vor allem ist es durchaus möglich, dass sie gar nicht so selten auftreten, wie es scheint.“ Jurij Dolgušin (1940)16
In seinem schon erwähnten, 1939 in einer dritten erweiterten Auflage erschienenen Buch Die Abenteuer der Erfindungen leitet Aleksandr Ivič das Kapitel zu „Utopie und Wahrheit“ mit der Tausendundzweiten Erzählung der Scheherazade (The Thousand-and-second Tale of Scheherazade, 1845) von Edgar Allan Poe ein, die er in einer gekürzten Fassung zitiert.17 In ihr berichtet Sche16 „Но почему случаи приема ‚сигналов смерти’ сравнительно редки? Трудно ответить на этот вопрос.
Возможно, прежде всего, что они далеко не так редки, как кажется.“ Dolgušin, Jurij: Generator čudes.
Naučno-fantastičeskij roman, in: Technika – molodeži 5 (1940), S. 57. 17
Ivic, Aleksandr: Priključenija izobretenij (Izdanie tret’e, dopolnennoe i ispravlennoe), Moskva, Leningrad 1939. Hier zitiert nach der 2. Auflage.
402 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
herazade von einer weiteren ungewöhnlichen Reise des Seefahrers Sindbad, die sie bislang nicht erzählt habe, in der er zuerst einem Dampfschiff, dann einem Heißluftballon, einer Lokomotive, dem Telefon, einem Telegrafenapparat und einer Schreibmaschine begegnet sei. Doch je weiter Scheherazade in dem Reisebericht fortfährt, desto weniger glaubt ihr der Kalif, bis er letztlich von all dem „eitlen Geschwätz“ und „lächerlichen“, „absurden“ und „abgeschmackten“ „Unsinn“ genug hat und sie am Morgen zum Tode verurteilt.18 Diese Unglaubwürdigkeit der Technik des 19. Jahrhunderts für einen antiken Zuhörer erklärt Ivič damit, dass die Leute in ihrer Zeit sich immer nur das ausmalen können, was sie aus der eigenen Gegenwart kennen, und dieses dann in „schlechten Vorhersehungen“ ( плохие предвидения) quantitativ gesteigert in die Zukunft projizieren, eine qualitativ andere Welt ihnen aber unvorstellbar sei. So habe sich auch der große Utopist H.G. Wells geirrt, als er 1922 in die Sowjetunion reiste und Lenin für einen Träumer hielt, da in seiner bürgerlichen Vorstellungswelt eine sozialistische Veränderung der Welt undenkbar schien.19 Und auch der „allerbemerkenswerteste Fantastikschriftsteller Edgar Poe“ (самый замечательный фантаст Эдгар По) habe sich in seinen eigenen Zukunftsutopien gründlich getäuscht, in denen er statt tausend Jahre in die Zukunft zu sehen ungeachtet seiner reichen Fantasie oft der eigenen Zeit hinterhinkte.20 Diese bislang unglaubliche, qualitative Veränderung der Welt war aber das erklärte Ziel, das die großen Utopien der Sowjetunion von ihren Anfängen an beflügelte. Mit den ersten Fünfjahresplänen und den Großbaustellen des Kommunismus hatten diese Utopien in Bezug auf die Industrialisierung des Landes und die Umgestaltung der Natur konkrete Formen angenommen, die versprachen, aus den Wüstengebieten Mittelasiens blühende Oasen zu machen oder der sibirischen Wildnis unerschöpfliche Rohstoffe und eine landschaftliche Kultivierung abzugewinnen. Insbesondere die wissenschaftlich-künstlerische Literatur sollte in Bezug auf die konkreten Projekte und Planvorstellungen Ideen und Skizzen liefern, wie diese „Neue Geografie“ der Sowjetunion im Einzelnen ausgestaltet werden könnte. Schon diese Texte erzählen in Anschluss an Gor’kij und in einer ähnlichen Rhetorik wie Poe von den „Wundern der neuen Zeit“, die nach bisherigen Vorstellungen für unmöglich und utopisch gehalten worden sind. Doch ungeachtet der ständigen Betonung des Außergewöhnlichen und Wunderbaren der sozialistischen Aufbauleistungen, blieben diese Darstellungen doch zumeist „schlechte Vorhersehungen“, die bekannte Ideen in die sowjetische Peripherie transformierten und vorhandene Projekte ins Gigantische steigerten. Jene, die bisherige Welt fundamental verändernden, Erfindungen im Sinne von Ivič wurden hingegen nicht propagiert. Dies änderte sich mit der Rehabilitierung des Fantastischen im Rahmen einer wissenschaftlich-fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Denn dieses Fantastische wurde
18 Ivič:
Priključenija izobretenij, S. 111–116; Vgl. Poe, Edgar Allan: Die Tausendundzweite Erzählung der Schehrezad, in: Ders.: Der schwarze Kater. Erzählungen (Gesammelte Werke in 5 Bänden, Bd. 3), Zürich 1994, S. 414–440.
19
Ebd., 117ff.
20
Ebd., S. 124ff.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 403
ein Vehikel, auch die nach bisherigem Dafürhalten gegen die Naturgesetze und die Grenzen des Menschenmöglichen verstoßenden Ideen und Experimente fiktional auszugestalten. Die seit 1937 publizierte Wissenschaftliche Fantastik bildete für solche fiktionalen Überschreitungen wissenschaftlicher Gesetze und menschlicher Grenzen gewissermaßen das Laboratorium, in dem die neue technische Intelligenz ihre theoretischen Ideen und visionären Projekte künstlerisch ausgestalten konnte. Hier wurden geheime Forschungsprojekte teils nur wenig „fantastisch“ verfremdet vorgestellt und hypothetische Erfindungen auf ihre wissenschaftliche Tragweite und gesellschaftliche Nützlichkeit hin durchgespielt, die häufig eine fundamentale Veränderung des menschlichen Lebens mit sich brachten. Allerdings lokalisierten die Autoren dabei ihre wissenschaftlichen Experimente fast nie auf den Großbaustellen des Kommunismus, sondern sie beschrieben zumeist die Forschungslabore einzelner Wissenschaftler, die in Moskau, aber häufig auch außerhalb der Sowjetunion im feindlichen Ausland ihre Experimente durchführten. Im Unterschied zu den verrückten Wissenschaftlern eines Aleksandr Beljaev oder Aleksej Tolstoj waren es aber keine Einzelpersonen mehr, sondern in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bildeten immer öfter die landesweit etablierten „Wissenschaftlichen Forschungsinstitute“ (Научно-исследовательские институты), in denen kleine Spezialistengruppen auf der Suche nach dem „qualitativen“ Sprung ihrer Disziplin waren, das Muster, an dem sich die Erzählungen und Romane orientierten. Den Anfang machte Michail Konstaninovič Rozenfel’d (1906–1942) mit seinem Roman Das Meeresgeheimnis (Морская тайна), der 1937 die erste sowjetische Neuerscheinung in der 1936 begründeten Serie „Die Bibliothek der Abenteuer“ bei Detizdat darstellte.21 Rozenfel’d war als Wissenschaftsjournalist bei den Jugendzeitungen Smena und Komsomol’skaja pravda einer derjenigen gewesen, der das Konzept der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur auch zu seinem biographischen Projekt gemacht hatte: In unzähligen Expeditionen nach Mittelasien hatte er sich aktiv für die „Austreibung der Exotik“ eingesetzt, an der Rettungsexpedition des im Packeis des Polarmeers feststeckenden Forschungsschiffes Čeljuskin 1934 mitgewirkt und 1937 als Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg mitgekämpft.22 Zwischendrin schrieb er Anfang 1936 seinen zweiten Roman, der gewissermaßen den Übergang von einer sowjetischen Abenteuerliteratur, wie sie in den 1920er Jahren entworfen worden war, zu einer neuen Poetik der sozialistischrealistischen Wissenschaftlichen Fantastik markierte.23 Die Handlung des Romans folgte noch ganz den üblichen Schemen, und eine qualitativ neue Erfindung fehlte bei ihm vollkommen: Ein alter, ausrangierter sowjetischer Eisbrecher mit Namen „Der Sterndeuter“ (Звездочет), der noch für Kurierfahrten zwischen Wladiwostok und 21
Vgl Rozenfel’d, Michail: Morskaja tajna (Biblioteka priključenij), Moskva/Leningrad 1937. Hier zitiert nach: Ders.: Morskaja tajna (1937), in: Ders.: Izbrannoe, Moskva 1957, S. 381–498.
22
1942 ist Rozenfel’d dann beim Fronteinsatz im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen, vgl. Chalymbadža, Igor’: Rozenfel’d Michail Konstantinovič, in: Gakov, Vladimir (Hg.): Ėnciklopedija fantastiki. Kto est’ kto, Minsk 1995, S. 485.
23
Vgl. Rozenfel’d: Morskaja tajna, S. 498.
404 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Petropawlowsk an der sowjetischen Ostküste gebraucht wird und den die Mannschaft aufgrund seiner Leistungsfähigkeit in „Stern der Sowjets“ (Звезда Советов) umgetauft hat, kentert im Sturm vor Kamtschatka.24 Elf Menschen können sich in einem Rettungsboot retten, treiben drei Tage über den Stillen Ozean Richtung Südwesten, ehe sie von einem Japaner und einem Europäer gerettet und in ein unterirdisches Lazarett gebracht werden.25 Wie sich herausstellt, sind sie in einem geheimen Waffenforschungsinstitut auf einer einsamen Insel irgendwo im Stillen Ozean gefangen genommen worden, in dessen unterirdischen Laboren und Werkstätten Hunderte versklavter Koreaner für japanische Wissenschaftler unter der Führung eines deutschen ehemaligen U-Bootkommandeurs arbeiten.26 Einem der Russen gelingt jedoch in einer Rettungsrakete die Flucht, doch als er glücklich in den Vereinigten Staaten in San Francisco landet, glaubt ihm keiner seine Geschichte, lediglich ein sensationsgieriger Journalist lässt sich auf ihn ein, mit dem er sich auf die Suche nach der „Festung der blauen Sonne“ ( крепость синего солнца) begibt.27 Als sie die Insel finden, ist diese jedoch menschenverlassen, denn die Japaner hatten ihr Kommen zuvor bemerkt und aus Angst, ihr Geheimnis den Amerikanern zu verraten, das unterirdische Laboratorium gegen den Widerstand des deutschen U-Bootkommandeurs gesprengt, der sich mit Not an die mexikanische Westküste retten konnte.28 Erzürnt über den Reinfall setzt der amerikanische Journalist den Russen ebenfalls in Mexiko ab, wo er im Dschungel zuerst auf den inzwischen verrückt gewordenen Deutschen und dann auf einen sowjetischen Filmregisseur trifft, der hier einen Film über die mexikanische Revolution von 1910 dreht. Mit diesem reist er nach einer Reihe weiterer Zwischenfälle über San Francisco mit dem Schiff „Der sowjetische Grenzer“ (Советский програничник) zurück nach Wladiwostok.29 Es ist vor allem dieses Ende, das den Übergang zu einer neuen sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik markiert: Genauso wie sich der sowjetische Kinoregisseur – in dem auch für russische Leser der damaligen Zeit unschwer Sergej Ėjzenštejn bei seinen unvollendet gebliebenen Dreharbeiten für Que viva Mexico! (1931/32) zu erkennen ist – auf den Rückweg in seine Heimat macht, muss sich auch das Abenteuergenre von den Sterndeutungen der Astrologen (das Schiff „Sterndeuter“) verabschieden und sich stattdessen dem Schutz der sowjetischen Grenze (das Schiff „Sowjetischer Grenzer“) widmen, die es vor dem Eindringen solcher faschistischen (deutsch-japanischen) Gefahren wie dem Meeresgeheimnis zu bewahren gilt. Im Unterschied zu den Abenteuergeschichten der zwanziger Jahre werden hier aber die militärischen Gefahren nicht mehr „astrologisch“ in einen möglichen Kampf der Welten extrapoliert, sondern die imperiale Konkurrenz zwischen Japan und Amerika neutralisiert sich gegenseitig, während der Deutsche verrückt wird.
24
Ebd., S. 394–402
25
Ebd., S. 415ff.
26
Ebd., S. 420–432.
27
Ebd., S. 438ff.,
28
Ebd., S. 454ff., 479ff.
29
Ebd., S. 490–498.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 405
Eines der ersten wissenschaftlich-fantastischen Werke, die eine auch formale Neubegründung des Genres einleiteten, war Aleksandr Petrovič Kazancevs (1906–2002) Debütroman Die brennende Insel (Пылающий остров), den die Pionerskaja pravda 1940 und 1941 gekürzt in Fortsetzungen abdruckte, ehe 1941 in der „Bibliothek der Abenteuer“ von Detizdat auch eine Buchfassung erschien.30 Kazancev hatte nach einem Studium am Tomsker Polytechnischen Institut an verschiedenen Orten als Mechaniker und Erfinder gearbeitet, ehe er Mitte der dreißiger Jahre anfing zu schreiben.31 Sein erstes Werk bestand in einem zusammen mit dem Erfinder und Direktor des Leningrader Hauses der Wissenschaftler, Izraėl’ Solomonovič Šapiro (1901–1976), verfassten Filmszenarium mit dem Titel Arenida (Аренида), das im Februar 1936 auf einem gemeinsam von den Moskauer und Leningrader Häusern des Wissenschaftlers und dem Filmstudio Mežrabpomfil’m organisierten landesweiten Wettbewerb für das beste wissenschaftlich-fantastische Drehbuch den höchsten Preis gewann, an dem ungefähr hundert Autoren und Wissenschaftler teilgenommen hatten.32 Arenida handelt davon, wie ein gigantischer Meteorit mit Namen „Arenida“ im Jahr 1940 auf die Erde zurast und droht, diese zu zerstören.33 Während im Westen Panik unter den Menschen ausbricht und alle sich auf den Weltuntergang vorbereiten, was zu Chaos, Gewaltausbrüchen und ausufernder Kriminalität führt, herrscht in der Sowjetunion eine angespannte Arbeitsatmosphäre. Denn hier hat ein sowjetischer Wissenschaftler mit Unterstützung seiner Kollegen in einem Forschungsinstitut einen Akkumulator entwickelt, der mit Hilfe eines neuen, in speziellen Zylinderspulen gespeicherten Supraleiters bei einer bestimmten Sprungtemperatur 30
Vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 341ff.
31
Über seine Biographie gibt es nur die von ihm selbst bezeugten, aber deutlich als Fiktion gekennzeichneten Aussagen, die besagen, dass er sich Anfang der dreißiger Jahre durch die Konstruktion einer elektromagnetisch betriebenen Kanone einen Namen in Wissenschaftskreisen gemacht habe, die sich allerdings durch einen immensen Energieverbrauch auszeichnete. Aufgrund der möglichen militärischen Bedeutung dieser Erfindung sei er dann in ein Sonderlaboratorium der Fabrik Nr. 8 im Moskauer Umland gekommen, wo er unter anderem mit dem in jenen Jahren mit Halbleitertechnik befassten Akademiemitglied Abram Fedorovič Ioffe (1880–1960) zusammenarbeitete. Dieser habe ihn dann auch mit Šapiro zusammengebracht, der ihn wiederum dazu inspirierte, die möglichen Implikationen seiner Erfindung in einem Filmdrehbuch weiter zu entwickeln. Siehe hierzu seinen autobiographischen Roman, vgl. Kazancev, Aleksandr; Kazancev, Nikita: Fantast. Mnemoničeskij roman v dvuch knigach. Bd. 1, Moskva 2001, S. 264–269.
32
Kazancev und Šapiro bekamen den zweiten Preis, der erste war nicht verliehen worden, da nach Meinung der Jury kein Autor die wissenschaftliche Idee mit ihrer filmischen Verwirklichung vollkommen geglückt verbunden habe, vgl. Fedorov, Ju.: Fantastika v nauke i kino, in: Kino 8 (11.02.1936), S. 2.; Zu den Hintergründen vgl. Kolpakov, Aleksandr: Vtoroe dychanie (Fantastičeskaja sud’ba fantastičeskich knig), in: V mire knig 7 (1985), S. 54–56;
33
Dieses Drehbuch wurde nach der Publikation eines Auszugs in der Zeitung des Sowjets für Volkswirtschaft, Za industrializaciju, 1937 in der Leningradskaja Pravda erstmals vollständig publiziert. Vgl. Kazancev, Aleksandr; Šapiro, Izraėl’: Arenida (Otryvki iz scenarija i libretto fil’ma), in: Za industrializaciju 243 (18.10.1936), S. 4.
406 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
eine enorme Energie freisetzen kann. Dank dieser Erfindung baut man eine „titanische Anlage“, für die 19 Tage lang sämtliche Energiestationen der Sowjetunion Akkumulatoren mit Energie aufladen, während alle anderen Fabriken und Firmen stillstehen. Drei Tage vor dem vorhergesagten Aufprall des Meteoriten wird diese gespeicherte gigantische Energiemenge mit Spezialkanonen auf den gefährlichen Himmelskörper abgefeuert und zerreißt ihn in „hunderte, in hellgelbem Licht brennende Teilchen“, so dass der Weltuntergang verhindert werden kann: „Ein unglaublich prächtiges Feuerwerk verteilt sich über den Himmel, als ob jemand mit einem Wunderhammer gegen die Sonne geschlagen hätte. Blitze, feurige Springquellen und Fontänen beleuchten den Himmel.“34 Nachdem dieses Szenarium allerdings sowohl öffentlich als auch intern auf erhebliche Kritik gestoßen war,35 baute Kazancev es als alleiniger Autor 1940/1941 zu einem wissenschaftlich-fantastischen Roman aus.36 In dieser Romanfassung ist es nicht mehr ein auf die Erde stürzender Himmelskörper, der im Westen Panik und Chaos auslöst, sondern eine von den dortigen Kapitalisten selbst gebaute Wunderwaffe, die durch die extrem hohe Oxidationsstufe eines chemischen Elementes einen „Stickstoffbrand“ der Atmosphäre auszulösen vermag.37 Der Name Arenida bezeichnete nun keinen Meteoriten mehr, sondern eine Insel im Polarmeer, die bei einem Test der neuen Waffe durch die imperialistischen Militärs vollständig vernichtet wird.38 Während die Kapitalisten einzig militärische Absichten gegen die Bolschewiki verfolgen, vermag die Sowjetunion dank kollektiver Anstrengungen den Kriegsausbruch in letzter Minute zu verhindern.39 Auch in diesem Roman dominieren die typischen Elemente der „kommunistischen Pinkertons“ der zwanziger Jahre: Ein reicher amerikanischer Unternehmer mit Namen Vel’t [Welt] strebt nach der Weltherrschaft, wozu er sich den amerikanischen Senat und kriegsbegeisterte Militärs einkauft und die Erfindung eines vor der Revolution und den Repressionen des zaristischen Regimes geflüchteten, genialen russischen Wissenschaftlers Klenov aneignet. In diesem Umfeld einer verlogenen pazifistischen „Gesellschaft zur Vernichtung des Krieges“ (Общество уничтожения войны), eines Zauberschlosses (волшебный замок), das als geheimes Forschungs34 „Невероятно пышный фейерверк рассыпается по небу, как будто по солнцу кто-то ударил
чудовищным молотком. Молни, огненные гейзеры и фонтаны озаряют небо.“ Ebd., S. 4.
35
So hatte der erste Sekretär des Komsomol, Aleksandr Vasil’evič Kosarev (1903–1939), sich in einem Pravda-Artikel Anfang des Jahres 1938 explizit gegen einige „Sektanten“ gewandt, die in Bezugnahme auf das Drehbuch ein nahes „Ende der Welt“ durch einen „Himmelsstein“ (небесный камень) prophezeiten. Vgl. Kolpakov: Vtoroe dychanie, S. 55.
36
Zu den Hintergründen, warum Šapiro nicht weiter als Ko-Autor beteiligt war, sowie zu dessen Person sind bis auf die rein hypothetischen Spekulationen zu dessen „Verschwinden“, die der Kritiker Roman Arbitman geäußert hat, bislang keine zuverlässigen Informationen zu finden. Vgl. Arbitman, Roman: Dve tajny sovetskoj fantastiki. Tajna Šapiro, in: Interpresskon–94. Doklady, pročitannye na konferencii (4.–9.05.1994), http://www.rusf.ru/interpresscon/1994/doclad/do94arb.htm, 01.03.2008.
37
Vgl. Kazancev, Aleksandr: Pylajuščij ostrov. Naučno-fantastičeskij roman, Moskva/Leningrad 1941, S. 190ff,
38
Ebd., S. 196ff., 234, 242ff.
39
Ebd., S. 275ff.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 407
laboratorium dient, geheimnisvoller Galoschen, enttarnter Masken und ungedeckter Millionendollarchecks spielt ein Großteil der auf Intrigen, Liebe, Eifersucht und Machtstreben beruhenden Handlung,40 die deutlich an die Prosa Aleksandr Beljaevs, Mariėtta Šaginjans oder Aleksej Tolstojs Hyperboloid des Ingenieur Garin erinnert. Auch in der Darstellung einer chemischen Wunderwaffe schrieb Kazancev eine lange Tradition von Werken fort, die Luftkriege mit Hilfe von Giftgas behandelten, wie sie in den zwanziger Jahren auch zahlreich in der Sowjetunion geschrieben wurden und sie H.G. Wells in seinem Roman Shape of Things to Come (1933) zuletzt ausführlich beschrieben hatte.41 Auch nationalsozialistische Werke wie Luftkrieg 1936, Die Zertrümmerung von Paris (1932) eines Major Helders (Pseudonym von Robert Knauss) oder antifaschistische Autoren wie Sydney Fowler Wright (1874–1965) in Prelude in Prague. The War of 1938 (1934) hatten Szenarien einer vollkommenen Zerstörung von Paris oder Prag mit Hilfe neuer Superwaffen ausführlich dargestellt.42 Doch im Unterschied zu diesen Vorlagen kommt es bei Kazancev – wie auch schon bei Rozenfel’d – nicht zum „tödlichen Kampf“ (посмертный бой),43 sondern die Sowjetunion verhindert diesen Krieg: Die Gefahr wird nur noch symbolisch an einem klassischen Topos der Utopie – der einsamen Insel – als reale Möglichkeit der Selbstzerstörung vorgeführt. Gleichzeitig ist diese „reale“ Vernichtung des Krieges aber auch nur möglich dank der wissenschaftlichen Erfolge der Sowjetunion. Denn schon als der von den Kapitalisten ausgebeutete geniale Professor Klenov die wahren kriegerische Ziele des Mr. Vel’t durchschaut, flieht er nach Sowjetrussland, wo allerdings eine junge Aspirantin bereits eine ähnliche Idee entwickelt hat, die man jetzt in kollektiver Forschungsarbeit mit aktiver Unterstützung des Volkskommissars Vasilij Klimentovič und eines Oberst Molnija (dt. Blitz) versucht umzusetzen. In ihrer solidarischen Zusammenarbeit mit der politischen und militärischen Führung bildet dieses Kollektiv vom Sujetaufbau her den Gegenpol zur „abenteuerlichen“ Handlung im Ausland: Während es dort noch Banditen, Diebe und Privatdetektive gibt, die ihre Emotionen eitlem Großmachtstreben, egoistischem Ehrgeiz, rätselvollen Geheimnissen und heimtückischen Verbrechen widmen, konzentrieren sich hier alle Leidenschaften auf das Forschungsprojekt. Dies gelingt auch, da der „Superakkumulator“ (Сверхаккумулятор) zugleich einer friedlichen Vision dient.
40
Vgl. ebd., S. 12, 23, 67ff., 92ff.
41 Wells
bekanntestes Werk zu dem Thema ist The War in the Air (1908), das in den 1920er und 1930er Jahren eine ganze Reihe an populären Nachfolgern generierte, vgl. Schütz: Wahn-Europa. Mediale GasLuftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit, S. 127–148.
42
Vgl. Schütz: Wahn-Europa, S. 137ff.; Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 353f. Die sowjetische Beschäftigung mit einem bevorstehenden Krieg war immer auch verbunden mit der Aufgabe, die eigene Bevölkerung auf einen eventuell bevorstehenden Luftkrieg vorzubereiten, vgl. auch die Rezension von A. Šiukovs Werk Luftkrieg (Vojna v vozduche, Detizdat 1939) Slepnev, M. T.: „Vojna v vozduche“, in: Detskaja literatura 8 (1939), S. 38–39.
43
Vgl. Kazancev: Pylajuščij ostrov, S. 466ff.
408 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Abb 15
Illustration zu dem wissenschaftlich-fantastischen Roman Generator der Wunder (Generator čudes) von Jurij Dolgušin, in Technika – molodeži, Nr. 1 (1939), S. 34.
So werde sich bald mit Hilfe der enormen Speicherkapazität der Elektroakkumulatoren das irdische Leben für die Menschen grundlegend verändern. Denn mit einer kleinen Batterie von der Größe einer Taschenlampe könne man nun Autos antreiben, Häuser heizen oder die Mikrofasern der Kleidung erwärmen, was die individuelle Mobilität und Flexibilität der Menschen enorm befördere, seien sie dann doch nicht mehr von riesigen Stromnetzen und Versorgungsstationen abhängig, sondern jede und jeder könne beliebig große Energiereserven am eigenen Körper bei sich tragen.44 Anstelle der „schlechten Vorhersehung“ einer nur quantitativen Auswei-
44
„Die Kinder können ihre Roller oder Fahrräder mit kleinen Elektromotoren ausrüsten, wenn sie in den Geschäften Superakkumulatoren kaufen, so wie man Batterien für Taschenlampen kauft./ Der Superakkumulator macht den Menschen zum wirklichen Herren der Energie, der ihm hilft die Natur endgültig zu unterwerfen und über die Elementarkräfte zu verfügen. Er hilft ihm, vollständigen Überfluss zu erlangen, die Kultur zu heben und auf dem Weg zum Fortschritt das allerhellste Glück zu erreichen.“ („Ребятишки приспособят электромоторчики к самокатам или велосипедам, покупая в магазинах сверхаккумуляторы, как батарейки электрических фонариков./ Сверхаккумулятор сделает человека подлинным хозяином энергии, которая поможет ему окончательно покорить природу и распоряжаться силами стихии. Поможет ему добиться полного изобилия, поднять культуру и достигнуть на дороге прогресса самого светлого счастья.“) Ebd., S. 146f. Diese – von dem russischen Wissenschaftler ge-
klaute – Idee wird allerdings auch von Vel’t einer Kommission des amerikanischen Senats vorgeschlagen, die gleich bei allen Interessenten große Profitträume auslöst, vgl. ebd., S. 47ff.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 409
tung der Elektrifizierung des ganzen Landes bis in die letzten Details des Alltags, vollzieht diese Erfindung damit gewissermaßen auch einen „qualitativen“ Sprung, setzt sie doch an die Stelle des Gigantischen der Stalinschen Baustellen des sozialistischen Aufbaus das Mobile und Flexible der neuen Technik als gesellschaftliche Utopie. Es ist jedoch nicht nur diese fantastisch-utopische Dimension des Romans, die ihn als Wissenschaftliche Fantastik der „technischen Intelligenz“ der späten dreißiger Jahre ausweist. Sie zeigt sich zugleich auch in dem Anspruch auf eine „wissenschaftlich fundierte Fantastik“ (научно обоснованая фантастика), die am deutlichsten in der Reintegration des genialen Wissenschaftlers aus dem Exil zum Ausdruck kommt. In dessen Person und Forschungsfeldern ist, nur schwach verfremdet, unschwer der Physiker Petr Leonidovič Kapica (1894–1984) zu erkennen, der sich seit 1921 in Cambridge mit der Herstellung von suprastarken Magnetfeldern durch Akkumulatorbatterien beschäftigte, ehe er 1934 nach Moskau zurückkehrte.45 Kapica hatte sich seitdem auch als Wissenschaftspopularisator einen Namen gemacht, der eine Fantastik im Stile von Jules Verne forderte und in einem viel beachteten Aufruf an die Fantastikschriftsteller erklärte, dass nicht die atomare Kernspaltung die Technologie der Zukunft sei, sondern andere Formen der Energiegewinnung sehr viel hoffnungsvoller seien: „Warum muss man gleich mit der Aussaat auf den Feldern beginnen, anstatt mit Hilfe der Sonnenergie irgendwelche chemischen Reaktionen auszulösen, in deren Folge diese Energie chemisch akkumuliert würde. Hier kommen wir wieder in den Bereich der wissenschaftlich begründeten Fantastik.“46 Genau diesen Ratschlag hatte Kazancev – allerdings nicht mit Hilfe von Sonnenergie, sondern in Kapicas Forschungsfeld der Luftverflüssigung – in seinem Roman umgesetzt.47 Damit schrieb er aber 45
Tatsächlich war Kapica 1934 unfreiwillig in der UdSSR geblieben, der NKVD hatte ihn an der Ausreise gehindert und nur unter der Bedingung, dass man ihm sein komplettes Cambridger Laboratorium nachschickte und er ein eigenes Institut für physikalische Probleme in Moskau bekam, willigte er ein zu bleiben. Kapica ist zudem ein Schüler von Abram Ioffe, durch dessen Empfehlung er auch nach Cambridge gekommen ist, der wiederum in Kazancevs fiktionalen Erinnerungen als entscheidender Förderer seiner eigenen Forschungen auf diesem Gebiet genannt wird. Vgl. Kazancev: Fantast. Mnemoničeskij roman, S. 264ff.
46 „Зачем непременно засеивать поля, а не вызывать с помощью солнечной энергии какие-нибудь
химические реакции, в результате которых эта энергия была бы химически аккумулирована. Здесь мы опять можем войти в область научно обоснованной фантастики.“ Kapica, Petr: O naučnoj fantastike, in:
Detskaja literatura 4 (1940), S. 18–23, S. 21. In Bezug auf die atomare Kernspaltung gab Kapica in dem gleichen Interview zu Protokoll, dass die Atomenergie seiner Ansicht nach keine realistische Option mehr sei, vgl. ebd., S. 21. Natürlich lässt sich dieses Interview eines prominenten Akademiemitglieds und Physikers auch als offizieller Appell zur Geheimhaltung dieses auch militärisch relevanten Themas lesen. In den internen Diskussionen ist es jedoch keineswegs in dieser Weise, sondern wortwörtlich rezipiert worden, vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 290, l. 1–11 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“: Stenogramma soveščanija pistaelej naučno-fantastišeskogo žanra po obsuždeniju stat’i Iviča „Naučnofantastičeskaja povest’“, opubliovannoj v žurnale „Literaturnyj kritik“, N 7–8 za 1940 g.). 47 Kazancev
überarbeitete den Roman Die brennende Insel noch mehrmals. In der zweiten Buchauflage des Romans 1956 (die bis 1966 fünf weitere Auflagen erlebte, ehe Kazancev den Text nochmals grundlegend
410 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
gewissermaßen auch eine idealisierte fiktionale Biografie des späteren Nobelpreisträgers für Physik, ein künstlerisches Muster, dass dann in der Nachkriegszeit – ohne dass die Namen anonymisiert wurden – ein gängiges Verfahren der Wissenschaftspopularisierung werden sollte.48 Der fast zeitgleich mit Kazancevs Erstlingswerk erschienene wissenschaftlich-fantastische Roman Der Wundergenerator (Генератор чудес) von Jurij Alekseevič Dolgušin (1896–1989) ging in der Entwicklung einer neuen Poetik der Wissenschaftlichen Fantastik noch einen Schritt weiter, stellte er doch – wie Anatolij Britikov schrieb – wahrscheinlich erstmals „das Problem des wissenschaftlichen Kollektivs im modernen Sinne“ („ проблема научного коллектива в современном понимании“) dar.49 Das Werk sollte der einzige Roman Dolgušins bleiben, der sich ansonsten vor allem als Wissenschaftsjournalist und als Redaktionsmitglied der Zeitschrift Znanie – sila einen Namen gemacht hat. Nachdem Vorabdrucke des Romans schon 1938 publiziert worden waren, erschien seine erste Fassung die Jahre 1939 und 1940 über in Fortsetzungen in der Zeitschrift Technika – molodeži. 1941 verfasste Dolgušin auch eine Radiofassung, zu einer Buchausgabe kam es vor dem Kriege jedoch nicht mehr.50
überarbeitete) verwandelte er die „brennende Insel“ Arenida wieder zurück in einen Meteoriten in zweifacher Hinsicht. Zum einen kam jetzt die chemische Verbindung, die nach dem Mendeleevschen Periodensystem zwar theoretisch möglich, aber in der Natur nicht vorhanden ist, nicht mehr aus den sowjetischen Forschungslaboren genialer russischer Wissenschaftler, sondern in Gestalt des 1908 in Sibirien niedergegangen, so genannten „Tungusker Meteoriten“ dank kosmischer Gäste auf die Erde, und wurde von den Forschern nur noch zufällig auf einer Expedition gefunden. Und auch der Atmosphärenbrand über der Insel Arenida gelingt entsprechend nur, weil es sich bei dieser Insel ebenfalls um einen Asteroiden handelt, der entsprechende entzündliche Dämpfe ausstößt. Kazancev hatte die Genialität russischer Forscher gewissermaßen wieder in den Kosmos extrapoliert, man könnte auch sagen, wieder zu einer Frage des Sterndeuters (звездочет) gemacht. Vgl. Kazancev, Aleksandr: Pylajuščij ostrov. Roman (Biblioteka priključenij, Bd. 3), Moskva 1966. 48
Vgl. Polianski, Igor J.: Das Unbehagen der Natur. Sowjetische Populärwissenschaft als semiotische Lektüre, in: Schwartz, Matthias; Velminski, Wladimir; Philipp, Torben (Hg.): Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860–1960, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 71–113, S. 89ff.
49
Britikov, Anatolij: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 156.
50
Vgl. Dolgušin, Jurij: Generator čudes. Naučno-fantastičeskij roman, in: Technika – molodeži 1 (1939), S. 34–40; 2, S. 40–47; 3, S. 53–59; 5, S. 45–51; 6, S. 49–54; 7–8, S. 58–65; 9, S. 33–38; 10–11, S. 59–67; 1 (1940), S. 36–42; 2–3, S. 61–66; 4, S. 46–52; 5, S. 50–57; 7, S. 50–56; 10, S. 50–58; 11, S. 43–50; 12, S. 2 Umschlag, 51–58; Ders.: Generator čudes (Radiokompozicija v dvuch častjach dlja detej staršego škol’nogo vozrasta), Moskva 1941. Zu Dolgušins Biografie vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 353–361. Dass es vor dem Krieg zu keiner Buchausgabe mehr kam, lag wohl vornehmlich daran, dass die dezidiert gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtete Stoßrichtung des Romans nach dem sowjetischdeutschen Hitler-Stalin-Pakt 1939 politisch nicht mehr opportun war. Die Buchfassung des Romans konnte erst in der Tauwetterzeit, dann allerdings gleich in drei Auflagen 1959 und 1960 erstmals erscheinen, da sich der Autor in der unmittelbaren Nachkriegszeit weigerte, grundlegende Umarbeitungen des Romans vorzunehmen. So handelt es sich bei der Buchfassung im Wesentlichen um die Zeitschriftenfassung von 1939–1940, die lediglich um zwei Kapitel erweitert worden ist. Vgl. Dolgušin, Jurij: Ot avtora, in: Ders.: GČ, Moskva 1960, S. 5–8; RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 97f. (Pravlenie Sojuza Sovetskich
Die Verzauberung der eigenen Welt | 411
Während Kazancev sich vornehmlich mit chemischen und physikalischen Prozessen fantastisch in Hinsicht auf Energiegewinnung und -speicherung auseinandersetzte, stehen bei Dolgušin die Biologie und die Physik als Erklärungsmodelle des menschlichen Gehirns und Lebens im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese beiden Wissenschaftsbereiche werden repräsentiert zum einen durch den jungen Radioingenieur und Erfinder Nikolaj Tungusov, der in seinem Privatlabor physikalische Experimente mit elektromagnetischen Wellen von einer bislang nicht künstlich generierbaren äußerst hohen Frequenz macht und deren Wirkung auf verschiedene Organismen untersucht. Zum anderen handelt es sich um den renommierten Physiologen und Chirurgen Prof. Ridan, der in seiner Moskauer Privatvilla geheime Tierversuche durchführt, in denen er mit Hilfe winziger Elektroden elektromagnetische Manipulationen des Gehirns erforscht. Während es Tungusov anfangs nur gelingt, bestimmte organische Stoffe wie Fleisch durch die Wellen so zu konservieren, dass sie nicht mehr faulen, kann Ridan gezielt bestimmte Funktionen des Gehirns aktivieren und außer Kraft setzen. Bei einer zufälligen Bekanntschaft stellen die beiden Wissenschaftler fest, dass der jeweils andere sich genau mit den Fragen beschäftigt, die außerhalb des eigenen Wissensbereichs liegen, aber für die eigene Forschung unabdingbar sind. So beginnen die beiden intensiv zusammen zu arbeiten und in der Villa von Ridan den so genannten Wundergenerator zu bauen. Mit dieser Maschine ist es ihnen möglich, durch spezielle Empfangs- und Sendegeräte für elektromagnetische Wellen, auf kleine und größere Entfernungen nicht nur Vorgänge des menschlichen Gehirns zu manipulieren und Signale von diesem zu empfangen, auch telepathische Gedankenübertragungen über große Distanzen scheinen im Bereich des Möglichen zu liegen.51 Ja man sieht sich mit Hilfe dieser „Lebensstrahlen“ (лучи жизни) sogar in der Lage, Krankheiten zu heilen und selbst Tote wiederauferstehen zu lassen: „Mit Hilfe des ‚GČ‘ [des Wundergenerators] besiegen wir den Tod, – zumindest in den Fällen, in denen er vorzeitig in einen Organismus eindringt, der noch lebensfähig ist, – wir vernichten die Gefahr von Krankheiten, beseitigen angeborene Defekte des Organismus, machen den Menschen langlebiger...“52
Diese Erfindung versuchen die Forscher zwar vorerst absolut geheim zu halten, und sie werden gegen Ende des Romans dabei auch von „staatlichen Organen“ unterstützt, doch trotzdem hat
Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Stenogramma zasedanija sekcii. Obsuždenie sbornika „Doroga bogatyrej“ (L. D. Lomaškina) i povesti L. Platova „Archipelag isčeznuvšich ostrovov“. 26 dekabrja 1949 g.). 51
Vgl. Dolgušin: Generator čudes, Technika – molodeži 5 (1940), S. 55ff.
52 „С помощью ‚ГЧ‘ [генератора чудес] мы победим смерть, – по крайней мере в тех случаях, когда она
преждевременно врывается в организм, еще способный жить, – уничтожим опасность болезней, будем устранять природные дефекты организма, сделаем человека более долговечным...“ Ebd., 11
(1940), S. 49.
412 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
man davon im nationalsozialistischen Deutschland mitbekommen, wo man eine ähnliche Technologie als „Todesstrahlen“ (лучи смерти) für die eigenen Kriegsziele verwenden möchte, was aber misslingt.53 Es gelingt aber, einen deutschen Studenten durch eine vorgetäuschte Liebe zur Tochter des Professors in dessen Umfeld einzuschleusen. Als der ausländische Gastwissenschaftler zusammen mit der Professorentochter und einigen anderen sowjetischen Studenten zum Sommerurlaub an den sibirischen Fluss Ufa fährt, kann die Tochter den Deutschen jedoch zufällig als Spion enttarnen, worauf dieser sie im Fluss ertränkt, um seiner Enttarnung zu entgehen.54 Da der Vater aber mit dem Gehirn der Tochter durch seinen Wundergenerator ohne deren Wissen im ständigen Kontakt steht, erfährt der Professor unmittelbar von der Enttarnung des Agenten und dem Tod seiner Tochter, so dass er eine umgehende Rettungsaktion einleiten kann und seine Tochter in einem Kühlflugzeug nach Moskau in sein Labor bringen lässt. Hier versucht er, den toten Körper über eine Reaktivierung des zentralen Nervensystems durch Mikrowellenbestrahlung wieder zu beleben, welches „Wunder“ ihm schließlich auch gelingt.55 Am Ende kommt der Wundergenerator bei einem Überraschungsangriff der Deutschen in einer absolut geheimen Kommandoaktion zum Einsatz, bei dem er eine ganze Armee von deutschen Soldaten, Panzerfahrern und Flugzeugstaffeln in Schlaf versetzt, so dass kein einziger Schuss fällt und alle friedlich entwaffnet werden können.56 Dieses kriegerische und medizinische Experimentieren mit lebenden und vermeintlich toten Menschen wird in dem Roman ausführlich in allen Details beschrieben als ein Kampf des Menschen gegen die Jahrtausende alten Gesetze der Natur: „So begann einer der wagemutigsten Versuche des Menschen, die Gesetze der Natur zu entthronen, deren Unveränderlichkeit jahrtausendelang für heilig erklärt worden ist.“57 Es ist genau dieser Kampf gegen die Naturgesetze, der einen qualitativen Sprung in der Wissenschaftsentwicklung ermöglicht.58 Im Unterschied zu Kazancevs Roman sind bei Dolgušin die Szenen im Ausland – in diesem Fall im nationalsozialistischen München der Gegenwart – auf ein Minimum reduziert. Die Spannung entsteht durch den Wettkampf mit den deutschen Forschungen, von deren Fortgang die sowjetische Seite in Kryptogrammen durch einen deutschen kommunistischen Arbeiter informiert wird. Gleichzeitig aber erzählt der Roman auch eine Integration des verrückten Gelehrten und seltsamen Einzelgängers in ein „modernes Kollektiv“. So wird Tungusov, der alleine zuhause ohne Eltern, Ehefrau oder Kinder nur mit einer Tante zusammenlebt, die ihn liebevoll 53
Ebd., 3 (1939), S. 53–59.
54
Ebd., 7 (1940), S. 51ff.
55
Ebd., 11 (1940), S. 45ff.
56
Ebd., 12 (1940), S. 55ff.
57 „Так началась одна из самых дерзких попыток человека низвергнуть законы природы, незыблемость
которых была освящена тысячелетиями.“ Ebd., 10 (1940), S. 53.
58
Zur populärwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema, vgl. Petrovskij, Ju: Ledjanoj son, in: Znanie – sila 1–2 (1940), S. 10–12; Mar’jamov, A.: Sovetskij naučno-fantastičeskij roman, in: Čto čitat’ 1 (1941), S. 25–28, S. 26, 28.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 413
umsorgt, während er die Nächte hindurch an seinen Gehirnstrahlen forscht, anfangs wie folgt beschrieben: „In den Fabriken kannten sie den Ingenieur Tungusov als einen außergewöhnlich talentierten Erfinder und Rationalisator. Doch der bescheidene Ingenieur fand wahrlich nichts Einzigartiges in seinen Arbeiten. All diese Arbeiten hielt er für nichtig, und das Wort ‚Erfindung‘ löste bei ihm nur Gereiztheit aus. Das wirkliche Werk war für ihn jetzt nur noch zuhause, abends, wenn er sich vollkommen frei fühlte. Hier begann die heilige Handlung.“59
Genauso ist der in einer großen Villa in Moskau alleine mit seiner Tochter lebende Professor Ridan ein Einzelgänger. Aus der sukzessiven Annäherung der beiden sowjetischen Gelehrten entsteht die zweite dramatische Konfliktlinie der Handlung, denn erst durch ihre Kooperation können sie die deutschen Nazis überrunden, eine Leistung, die einerseits durch den Ehrgeiz und den Enthusiasmus des Umfelds der beiden Gelehrten gefördert wird, gleichzeitig aber durch den Spion auch wiederholt erschwert wird, indem Misstrauen, Eifersucht und Missverständnisse verschiedene Intrigen und Konflikte auslösen. Auf der Ebene der „wissenschaftlichen Grundlagen“ stellt Dolgušins Roman genauso wie Kazancevs Werk ein Kryptogramm realer Forschungen dar, die sich mit elektromagnetischen Gehirnwellen und biophysikalischen Experimenten zur Wiederbelebung eingefrorener Lebewesen beschäftigen. So war nach Bechterevs Tod 1927 in der Sowjetunion in verschiedenen Institutionen an dem Phänomen elektromagnetischer Strahlungen des Gehirns weitergeforscht worden. Auch in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften tauchte das Thema immer wieder auf unter anderem auch durch Publikationen von Dolgušin selber.60 Institutionell handelte es sich bei den Forschungseinrichtungen vor allem um Bechterevs Leningrader Institut des Gehirns, an dem Leonid Leonidovič Vasil’ev (1891–1966) die Arbeiten zur Gedankenübertragung von 1932 bis 1937 fortsetzte. Zeitgleich, und ohne dass es offiziell einen wissenschaftlichen Austausch gab, beschäftigte sich in den 1930er Jahren Sergej Jakovlevič Turlygin im Laboratorium für Biophysik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR unter der Leitung von Petr Petrovič Lazarev (1878–1942) mit der elektromagnetischen Strahlung des Gehirns.61 Diese parallele Arbeit zweier Wissenschaftler an einem ähnlichen Problem wird bei Dolgušin in den beiden Hauptfiguren 59 „На заводах знали инженера Тунгусова как исключительно талантливого изобретателя-рациона-
лизатора. Однако скромный инженер положительно не находил ничего исключительного в своих работах. Все эти работы он считал пустяковыми, и слово ‚изобретение‘ вызывало в нем лишь раздражение. Настоящее дело было для него теперь только дома, вечером, когда от чувствовал себя совершенно свободным. Тут начиналось священнодействие.“ Dolgušin: Generator čudes, Technika –
molodeži 6 (1939), S. 49. 60
Vgl. Dolgušin, Jurij: Luči professora Gurviča, in: Znanie – sila 10–11 (1939), S. 21–24.
61
Vgl. Vasil’ev, Leonid: Vnušenie na rasstojanie. Zametki fiziologa, Moskva 1962; Agursky, Mikhail: An Ocoult Source of Socialist Realism. Gorky and Theories of Thought Transference, in: Rosenthal, Bernice Glatzer (Hg.): The Occult in Russian and Soviet Culture, New York 1997, S. 247–272, S. 258.
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Tungusuv (in der Rolle von Turlygin) und Ridan (als Vasil’ev) wieder aufgenommen, deren Zusammenarbeit im Roman einen „qualitativen“ Sprung in der Forschung mit „fantastischen“ Ergebnissen erbringt. Auch wenn die so entwickelten Ideen zur telepathischen Gedankenübertragung und Wiederbelebung der Toten alle schon in den zwanziger Jahren auch verhandelt worden sind, waren sie damals aber vor allem angstbesetzte Topoi, während sie jetzt zur Verzauberung der eigenen Welt des sozialistischen Aufbaus dienten. Der Missbrauch elektromagnetischer Strahlen zur willkürlichen Manipulation und totalen Kontrolle des Gehirns wird zwar auch noch als negative Option anhand der Pläne der Nazis verhandelt, im Zentrum des Sujets stehen jedoch die emanzipatorischen Möglichkeiten, die der Wundergenerator für die Menschen eröffnet:62 Die Heilung von Krankheiten, die Verlängerung des Lebens, die Abwendung des vorzeitigen Todes stehen genauso auf der Agenda dieser ungewöhnlichen Erfindung wie die unbefristete Konservierung verderblicher Lebensmittel oder die Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft. 63 Die positive Konnotierung der fantastischen Erfindungen wird allerdings in der Romankomposition durch eine ambivalente Darstellung von Überwachung und Gedankenkontrolle konterkariert. So taucht das Thema der staatlichen Manipulation und medialen Beeinflussung der Menschen zwar nicht auf, doch die heimliche Kontrolle jedes Gedankens der eigenen Tochter durch Professor Ridan nimmt dann doch dieses Motiv wieder auf. Auch die Konzentration der „Wunschträume Ridans“ (Мечты Ридана)64 auf die „nekrobiotischen Strahlen“ verweist deutlich auf den Entstehungszeitraum des Romans, auf das tausendfache Verschwinden von Bekannten und Familienmitgliedern in Zeiten des Terrors. Demnach entwickelten Sterbende im Angesicht des Todes die höchsten Gehirnaktivitäten, die über Tausende von Kilometern bei Verwandten und Freunden eine telepathische Suggestionswirkung entfalten könnten: „Die nekrobiotischen Strahlen stellen offensichtlich eine der stärksten Strahlungsaktivitäten dar, denn beim Menschen können sie Halluzinationen auslösen und folglich zu einer teilweisen Ausschaltung des Bewusstseins führen. In diesen Momenten ist die Wirkung der eintreffenden Strah-
62
„Der Sieg gehört dem, der Leben schafft und nicht zerstört, dem, der ‚Lebensstrahlen‘ und nicht ‚Todesstrahlen‘ sucht, und ist es nicht klar, dass wir, die Menschen der Wissenschaft, uns diesen Aufgaben nicht entziehen können, deren Lösung von uns unser Leben, unser Wachstum, unser Fortschritt fordert...“ („Победа принадлежит тому, кто созидает, а не разрушает жизнь, тому, кто ищет ‚лучи жизни‘, а не ‚лучи смерти‘, и не ясно ли, что нам, людям науки, нельзя отходить от тех задач, решения которых требует наша жизнь, наш рост, наш прогресс...“) Dolgušin: Generator čudes, Technika –
molodeži 11 (1940), S. 49. 63
Nicht nur im Begriff der Todesstrahlen – der ja sowohl für den zitierten Kurzroman von Nikolaj Karpov (1924) als auch für den Film Todesstrahl (1925) von Lev Kulešov titelgebend ist, auch in der Verwendung dieser Strahlen als Schädlingsbekämpfung – die den Bösewichten in Viktor Gončarovs Psycho-Maschine als Vorwand dient – sind direkte Anspielungen auf die sowjetische Abenteuerliteratur der zwanziger Jahre angelegt. Vgl. Kapitel 4.
64
Ebd., 5 (1940), S. 50.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 415
len eines fremden Gehirns so mächtig, dass die Empfangselemente des Empfangsgehirns als Resonanz zu ihnen zu vibrieren anfangen...“65
Zwar nehme man nur die Todessignale (сигналы смерти) von einem nahe stehenden Menschen bewusst wahr, da man auf diese wie in einem Pavlovschen Reflex konditioniert sei, doch auch von anderen ausgesandte Signale könnten durchaus als Angstzustände, Nervenzusammenbrüche oder nur ein unwohles Gefühl Einfluss nehmen, ohne dass man es bewusst wahrnehme.66 Dolgušin übernimmt hier ziemlich direkt die von Bechterev entwickelten Ideen zur Massensuggestion und deren infektiöser Wirkung, erklärt diese jedoch nicht mehr mit medizinischen Metaphern, sondern in der physiologischen Terminologie Pavlovs, den er ausführlich zitiert. 67 Nimmt man den Entstehungszeitraum des Romans zum Hintergrund, mit der Alltagserfahrung von Spionage und Denunziation im Zeichen der Säuberungen, bekommen diese uns ständig umgebenden „Todessignale“ sowie die Überwachungsmöglichkeiten durch den „Wundergenerator“ eine seltsame Ambivalenz, sind sie doch durchaus auch als metaphorische Umschreibung der Verfolgungen und des Terrors der Jahre 1936 bis 1938 lesbar. Diese Ambivalenz wird nicht mehr wie in der auf Technik und Wissenschaft bezogenen Abenteuerliteratur der zwanziger Jahre extrapoliert und als Schreckensvision ausgemalt, sondern durch den Text einerseits aufgerufen, gleichzeitig aber wieder umkodiert als utopisches Moment. Hinzu kommt, dass die wissenschaftlichen Erfolge oft gleichsam privatisiert werden, machen der Physiologe und der Physiker ihre entscheidenden Forschungsfortschritte doch nachts, in ihren Privatlaboren, aus denen sie morgens mit einer „Fülle an Erlebnissen und Müdigkeit“ zurückkehren.68 Auch dieser Rückzug ins private Erleben als eigentliche Erfüllung der Emotionen steht in einem merklichen Kontrast zur ansonsten in der Literatur des Sozialistischen Realismus propagierten öffentlichen Zurschaustellung des Arbeitsenthusiasmus, bei dem staatliche Institutionen und gesellschaftliche Einrichtungen den Ort der Kommunikation und der kollektiven Arbeit bilden.
65 „Некробиотические лучи, очевидно, представляют собой одну из наиболее высоких степеней
мощности излучения, ибо у человека их воздействие способно вызывать галлюцинации и, следовательно, частично выключать сознание. В эти моменты воздействие приходящих сигналов чужого мозга настолько сильно, что приемные элементы мозга-приемника начинают вибрировать в резонанс с ними...“ Ebd., S. 57.
66 Ebd. 67
Ebd., S. 55ff. Vgl. zu Bechterev Abschnitt 3.2 dieses Buches.
68
„Der Professor verschwindet in einem dunklen Korridor. Das Arbeitszimmer von Tungusov begrüßt ihn mit einem großen auf den ‚Wundergenerator‘ gerichteten Lichtkreis der Viklingskala, welcher in der Mitte des Zimmers steht. [...] Ridan verschließt die Tür fest hinter ihm./...../ Es war schon hell, als beide, vollkommen kraftlos von der Fülle an Erlebnissen und vor Müdigkeit, aus dem Zimmer kamen.“ („Профессор исчезает в темном коридоре. Рабочая комната Тунгусова встречает его большим светящимся кругом виклинговской шкалы на „генераторе чудес“, который стоит посредине комнаты. [...] Ридан плотно запирает за ним дверь./...../ Было уже совсем светло, когда оба, совершенно обессиленные от обилия переживаний и усталости, вышли из комнаты.“) Ebd., 5 (1940), S. 57.
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Liest man Dolgušins Roman zusammen mit Kazancevs Brennender Insel und berücksichtigt, dass sie durchaus nicht die einzigen waren, die das Thema der Wiederbelebung der Toten und Elektromagnetischer Strahlen behandelten,69 dann sind sie zwar eindeutig als eine neue utopische Wissenschaftliche Fantastik zu verorten, die sich deutlich von entsprechenden Romanen der 1920er Jahre unterscheidet. Gleichzeitig aber ist in der Wahl der zentralen Themen – der Wunschträume der Wissenschaftler – den Texten weiterhin eine äußerst ambivalente Metaphorik eingeschrieben. In der Fixierung auf elektrische Miniakkumulatoren bei Kazancev, die eine erhöhte Flexibilität und Mobilität des Individuums ermöglichen, oder auch in der Idee überall gegenwärtiger nekrobiotischer Strahlen, die der Wissenschaftler versucht in seiner Forschung in „Lebensstrahlen“ zur Wiederbelegung der zu früh gestorbenen Verwandten und Freunde umzuwandeln, lässt sich durchaus auch eine fantastische Poetik erkennen, die die enge und gefährliche Verstrickung der wissenschaftlichen Eliten mit der Staatsmacht zwischen Emigration und Verbannung, Säuberungen und absoluter Geheimhaltung thematisiert.
1 0. 2 Di e W i ed e rerweck ung d e r To ten – L a z a r L a g i n’s Der Al t e Cho tta b ycˇ 7 0 „Wie befielst Du deine Worte über das Himmelsgewölbe aus Kristall und den Rand der Erde zu verstehen: im übertragenen oder im buchstäblichen Sinne des Wortes?“ Lazar’ Lagin (1938)70
Neben den „Wundergeneratoren“ als einer Antizipation zukünftiger technisch-wissenschaftlicher Innovationen, deren Realisierung vor gar nicht langer Zeit noch als ein unglaubwürdiges „Märchen“ erschien, gab es noch eine andere Möglichkeit, Elemente des Märchens für die sowjetische Wirklichkeit zu adaptieren. Dabei handelte es sich nicht um eine „wissenschaftliche“ Extrapolation wunderbarer Begebenheiten in die eigene Zukunft, sondern umgekehrt um eine Transposi69
Sergej Beljaev bearbeitete beispielsweise das Thema der militärisch nutzbaren Todesstrahlen und elektromagnetischen Psychomaschinen in seinem Roman Der Jagdflieger 2Z (Истребитель 2Z), der 1928 erstmals in der Zeitschrift Avacija i chimija (Luftfahrt und Chemie) erschienen war, den er 1939 zu einer Buchfassung unter dem Titel Der Jagdflieger 17-Y (Истребитель 17-Y) umarbeitete. Zu Beljaevs Roman vgl. auch Praškevič: Adskaja plamja, S. 108ff.; In dem einleitend zu diesem Kapitel zitierten Roman Arktanija von Grebnev spielt die Wiederbelebung der Toten eine zentrale Rolle.
70 „Как прикажешь понимать твои слова насчет хрустального свода небес и края земли: в переносном
или в буквальном смысле этого слова?“ Lagin, Lazar’: Starik Chottabyč, in: Pioner 10 (1938), S. 62-73,
S. 66.
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tion fantastischer Begebenheiten und fabelhafter Wesen aus einer mythischen oder legendären Vergangenheit in die eigene Gegenwart. Doch während jene Lebensstrahlen und Superakkumulatoren als logisch nachvollziehbare Zukunftsvisionen in auch für Erwachsene konzipierten Zeitschriften und Buchausgaben publiziert werden konnten, blieb die märchenhafte Welt der in die Gegenwart versetzten Monster und Zauberer auf die Kinderliteratur beschränkt.71 Diese „fantastisch-poetische“ Kinderliteratur – wie sie Maršak in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress 1934 bezeichnet hatte – stellte zwar im engeren Sinn keine Abenteuerliteratur und auch keine wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur dar, fehlte ihr doch das nach der Technik des Geheimnisses konstruierte spannende Sujet. Sie soll hier aber trotzdem in einem Abschnitt, vor allem am Beispiel Lazar’ Lagins, kurz behandelt werden, waren es doch zum einen die gleichen Autoren, die ansonsten auch wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur für Erwachsene schrieben, die hier tätig waren, und zeigte sich zum anderen in diesem Bereich am deutlichsten, wie weit die Möglichkeiten gerade im Bereich der Kinderliteratur gingen, fantastische Erzählverfahren im Rahmen des Sozialistischen Realismus anzuwenden. So veröffentlichte beispielsweise das Akademiemitglied Vladimir Obručev, der sich zuvor durch zwei wissenschaftlich-fantastische Romane im Stile Jules Vernes einen Namen gemacht hatte, in der vom Komsomol herausgegebenen Schülerzeitschrift Koster (Das Lagerfeuer) 1940 eine kurze Erzählung mit dem Titel Ereignis im Nichtlangweiligen Garten (Событие в Нескучном саду), die im Moskau des Jahres 1938 spielt und von einem eingefrorenen Mammut handelt.72 Dieses paläontologische Relikt hatte die Akademie der Wissenschaften von einer Polarexpedition mitgebracht und im gleichnamigen Garten des Paläontologischen Museums untergestellt, da es ob seiner Riesengröße nicht durch die Türen des Museums passte. Über Nacht jedoch taut das Mammut auf und beginnt wieder zu leben. Nach seiner Wiederauferstehung begibt sich das Urtier auf die Suche nach Nahrung, wobei es den Garten und die Gegend am angrenzenden Moskwa-Ufer nach und nach verwüstet. Mit seiner archaischen Kraft, die alle Hindernisse rücksichtslos zerstört, versetzt das Mammut die Menschen zwar in Angst und Schrecken, entwickelt sich aber gleichzeitig zur Zuschauerattraktion und Pressesensation des Herbstes 1938. Auch die Wissenschaftler sind begeistert von der Wiederbelebung des ausgestorbenen Monsters, dessen Zerstörungswut man erst nach einigen Tagen in den Griff bekommt, so dass man das in einem Käfig gefangen genommene Urtier in den Moskauer Zoologischen Garten überführen kann. 71
Manchmal gab es auch Hybridkonstruktionen zwischen dem fantastisch-poetischen und fantastisch-wissenschaftlichen Erzählen, wie in dem „fantastischen Kurzroman“ Das Rätsel des Bajkals (Загадка Байкала, 1937) von S. Glagolin, der von einem rätselhaften Monster im Bajkalsee berichtet, das stark an das legendäre Seeungeheuer von Loch Ness in Schottland erinnert, welches sich am Ende aber als trügerische Tarnung japanischer Diversanten herausstellt, vgl. Glagolin, S.: Zagadka Bajkala. Fantastičeskaja povest’, in: Vokrug sveta 9 (1937), S. 4–8; 10, S. 1–6; 12, S. 19–24.
72
Obručev, Vladimir: Sobytie v Neskučnom sadu. Fantastičeskij rasskaz, in: Koster 11 (1940), S. 61–64. Hier zitiert nach: Ders.: Proisšestvie v Neskučnom sadu (1940), in: Ders.: Putešestvija v prošloe i buduščee. Naučno-fantastičeskie proizvedenija, Moskva 1965, S. 31–38.
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Obručevs Erzähler qualifiziert am Ende der Geschichte diesen Vorfall selber als „erfunden“ und erklärt als Moral der Geschichte, dass er sie sich zwar ausgedacht habe, aber man schon heute soweit sei, eingefrorene Insekten, Käfer, Frösche und sogar einige Fische, die man in Sibirien gefunden habe, wieder zum Leben zu erwecken. Damit zielt die Erzählung in die gleiche Richtung wie Dolgušins Roman über den „Wundergenerator“, doch ist hier der Triumph des menschlichen Geistes nicht der Ausgangspunkt einer revolutionären Entdeckung, sondern umgekehrt der Einbruch der prähistorischen Wildnis ins Zentrum der Zivilisation das Vehikel für wissenschaftliche Sensationslust. Ähnlich wie schon im 18. Jahrhundert der Park „Der Nichtlangweilige Garten“ seinen Namen dank „Sprechender Skulpturen“ erhalten hatte, die die aufgeklärten Besucher das Gruseln lehrten, sind es jetzt die urzeitlichen Mammuts, die als belebte Monster das sozialistische Moskau unterhalten.73 Als Teil des 1928 gegründeten Zentralen Gor’kij-Parks für Kultur und Erholung wird der „Nichtlangweilige Garten“ zum Ort eines zeitgenössischen „Wunders“, das jedoch nicht mehr eines der Natur und der göttlichen Schöpfung ist, sondern gesetzmäßige Folge des sowjetischen Wissenschaftsenthusiasmus. In einem größeren Zusammenhang ist diese Konfrontation zwischen Natur und Zivilisation, von archaischem Monster und moderner Sensationslust, steinzeitlicher Wildnis und zeitgenössischem Stadtpark aber auch eine polemische Replik auf die Behandlung des Themas durch Hollywood in dem Film King Kong (USA 1932) von Ernest B. Schoedsack und Merian C. Cooper. Dieses Monster wird aus seiner natürlichen, „paradiesischen“ Wildnis gewaltsam herausgerissen aufgrund der Sensationslust der Menschen, die es als Attraktion in New York präsentieren wollen. Doch der Gorilla, als Grenzwesen zwischen Mensch und Tier, bricht aus seinem Großstadtgefängnis aus und versetzt in Freiheit die Stadt in Panik, ehe er mit Hilfe von Kampfflugzeugen vernichtet wird. Motiviert wird der Ausbruch in dem Hollywoodfilm durch seine Liebe zu einer Frau, ein Begehren, das sprachlos und ohne Erfüllung bleiben muss und in der von Todesangst geprägten Schlussszene auf dem Empire State Building endet.74 Obručevs Geschichte ist eindeutig von dieser Filmvorlage inspiriert, ihr fehlt aber die Anthropomorphisierung des Tieres mit Hilfe des Liebesmotivs. Im Gegenteil ist es bei ihm nicht das sexuelle Begehren, das das Monster in den Untergang treibt, sondern umgekehrt die menschliche Neugierde und die dem Urtier überlegene technisch-wissenschaftliche Intelligenz, die ihm ein Leben im Zoologischen Garten ermöglicht. Auch kommt Obručevs Mammut nicht aus 73
Schon Ivan Turgenev hatte mit dieser barocken Tradition wunderbarer Begegnungen im Park gespielt, als er seine Liebesgeschichte Die erste Liebe (Первая любовь, 1860) im Neskučnyj sad spielen ließ und die Verliebten metaphorisch in Tiere verwandelt, die ohne menschliche Sprache sich ihre Avancen machen. Zur Geschichte des Parks vgl. Kovalenskij, A.: Neskučnyj sad. Ego istorija ot XVIII veka do našich dnej, Moskva 1930.
74
Damit bringt der Film nicht nur den heimlichen Wunsch jeder Frau – so die amerikanische Werbung für den Film – zum Ausdruck, „das begehrte Objekt eines gigantischen Gorillas zu sein“, sondern verkehrt auch die puritanische Sexualisierung der Welt in ihr Gegenteil. Zu dem Film und seinen verschiedenen Bedeutungsebenen, vgl. Seeßlen, Georg; Jung, Fernand: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms, Marburg 2006, S. 146.149.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 419
einer noch intakten Verlorenen Welt (Lost World) – wie der Prätext all dieser Geschichten von Arthur Conan Doyle heißt –, die durch die wissenschaftliche Neugier in ihrer Harmonie zerstört wird, sondern aus einer eingefrorenen Welt der Arktis, die überhaupt erst durch die wissenschaftliche Neugier wieder zu Leben erweckt wird. Das Ungeheuer ist kein Sinnbild für ein unterdrücktes Begehren oder etwas primitives, unterdrücktes „Schreckliches“, das die moderne Zivilisation bedroht, sondern für die bewusste Beherrschung der Natur, die auch ein Herrschen über Leben und Sterben beinhaltet.75 Obručevs Mammut ist unfähig, Widerstand gegen menschliche Technik zu leisten, und befindet sich bis zu seiner Gefangennahme auf der ständigen Flucht vor ihr. Wo King Kong von Anfang an den Kampf gegen die technische Zivilisation aufnimmt und auch noch die ihn beschießenden Flugzeuge versucht wie Raubvögel vom Himmel zu pflücken, jagen ein Flussdampfer oder die Sirenen der Feuerwehrautos dem Mammut in Moskau Angst ein. Einzig der Sensationslust der Schaulustigen, schwächeren Tieren wie den Pferden der Reiterstaffel der Polizei oder natürlichen Hindernissen vermag es zu trotzen. Diese evidente Ungefährlichkeit des urzeitlichen „Wunders“, das es so augenfällig von seinem amerikanischen Vorbild unterscheidet, ist aber eine Eigenschaft „fantastischer“ Elemente, die schon in Dolgušins und auch Kazancevs Roman für die Wundergeneratoren und Superakkumulatoren signifikant war: Das fantastische Element wird in den Texten permanent fiktional, rhetorisch und imaginativ diszipliniert, eingesperrt und gefangen genommen, was auch eine andere Lesart der Texte nahe legt: nämlich dass die hier beschriebenen Phänomene sehr viel gefährlicher sind als vordergründig behauptet, weshalb sie womöglich überhaupt erst Gegenstand der Fiktion geworden sind. Diese Ambivalenz ist noch deutlicher in einem Text, der zwei Jahre zuvor ebenfalls in einer Jugendzeitschrift erschienen war, nämlich Lazar’ Lagins Kurzroman Der Alte Chottabyč (Старик Хоттабыч) von 1938. Denn auch diese Geschichte handelt von einer außergewöhnlichen „Kraft“, die einerseits die Sensationslust der Moskauer weckt, andererseits aber auch Angst und Schrecken verbreitet. 75
So schreibt Juri Oleša in einer Besprechung von James Whales Filmen Frankenstein (USA 1931) und The Invisible Man (USA 1933) sowie von King Kong (1932), die möglicherweise auch Obručev zu seiner Erzählung inspiriert hat, dass alle drei Werke einen „Auftrag für das Schreckliche“ (Заказ на страшное) beinhalten: „Sie alle vereint ein gemeinsamer Zug. In ihnen geschieht, wie schon gesagt, eine plötzliche Befreiung irgendeiner Angst hervorrufenden Kraft. [...] Das sind Tonfilme, und der Hauptton ist bei ihnen der panische Schrei. Die Menschen rufen um Hilfe, es bellen die Schäferhunde der Polizei. Das sind Filme über Panik, Flucht, Gedränge, Jagd und die Polizei bei der Verfolgung des Befreiten.“ („Все они объедининеы
одной общей чертой. В них, как уже сказано, происходит внезапное освобождеине какой-то, вызывающей страх, силы. [...] Это фильмы звуковые, и главным в них звуком – является паничкский крик. Люди кричат о помощи, воют полицейские овчарки. Это фильмы о панике, о бегстве, о давке, о погоне, о полиции, преследующей освободившегося.“) Der „soziale“ Auftrag bestehe demnach darin,
anhand der befreiten Ungeheuer – seien es nun King Kong, Frankensteins Monster oder der Unsichtbare Mann – zu zeigen, dass auch die Befreiung des Proletariats nur Panik und Schrecken mit sich bringen werde. Auf diese Weise habe sich die „Poetik des amerikanischen Films“ verändert, fort von positiven Zukunftsbildern hin zu dem im Ungeheuer verkörperten Schreckensbild einer proletarischen Befreiung. Vgl. Oleša, Jurij: Zakaz na strašnoe, in: Tridcat’ dnej 2 (1936), S. 33–36, S. 35
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Lagin ist das Pseudonym von Lazar’ Iosifovič Ginzburg (1903–1979), gebildet aus den ersten Silben seines Vor- und Nachnamens.76 Nach einem Gesang- und Ökonomiestudium hatte er schon früh angefangen Gedichte und Feuilletons für Zeitungen zu schreiben, ehe er in Moskau bei der Pravda und dann bei der von Michail Efimovič Kol’cov (1898–1940) gegründeten Zeitschrift Krokodil arbeitete, deren Stellvertretender Chefredakteur er ab 1934 wurde.77 Als Kol’cov 1938 als angeblicher Spion verhaftet wurde, rettete der damalige Stellvertretende Vorsitzende des Organisationskomitees des Schriftstellerverbandes, Aleksandr Aleksandrovič Fadeev (1901– 1956), Lagin vor den Säuberungen, indem er ihn auf eine längere Dienstreise ins Norwegische Spitzbergen schickte. In diesem unfreiwilligen Exil, umgeben vom Eismeer, schrieb Lagin sein erstes größeres Werk, die Geschichte über den Zauberer Chottabyč, den es durch einen Zufall ins Moskau der Gegenwart verschlagen hat. Die Geschichte wurde noch im gleichen Jahr zuerst in Fortsetzungen in der Jugendzeitschrift Pioner veröffentlicht, ehe sie 1940 bei Detizdat auch als Buch erscheinen konnte.78 Das Werk war sofort vergriffen und erfreute sich ungemeiner Popularität, doch für eine Neuauflage nach dem Kriege musste Lagin 1952 die erste Fassung aufgrund von „antisowjetischen Elementen“ grundlegend überarbeiten und versah sie mit dem Untertitel „Romanmärchen“ (повесть-сказка), erweiterte sie aber auch auf fast die doppelte Länge. Von dieser zweiten Fassung an erfuhr das Buch fast jährlich Neuauflagen, die Lagin immer wieder umschrieb und aktualisierte. So kam der Kurzroman allein in russischer Sprache schon Ende der 1950er Jahre auf eine Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren.79 Die Handlung des Kurzromans ist recht einfach aufgebaut. Sie erzählt die Geschichte des dreizehnjährigen Pioniers Vol’ka Kostyl’kov, dessen Familie von einer Altbau- in eine Neubauwohnung umzieht. Schon im Innern des Umzugswagens mit seinem Aquarium auf dem Schoß träumt Vol’ka von großen Abenteuern im Stile von Stevensons Schatzinsel oder Coopers Lederstrumpfgeschichten:
76
Zu den biografischen Angaben des Weiteren, vgl.: Praškevič, Genadij: Krasnyj sfinks, S. 362–372; Danilova, N. K.: Lagin Lazar’ Iosifovič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 2, Moskva 2005, S. 395–396;
77
Aus einer wohlhabenden Witebsker Familie stammend, hatte er sich zugleich schon früh politisch engagiert, nahm am Bürgerkrieg teil, wurde 1920 Parteimitglied und diente drei Jahre lang in der Roten Armee. Nach einem abgebrochenen Gesangsstudium am Minsker Konservatorium studierte er Volkswirtschaft in Moskau und arbeitete eine Zeit lang als Ökonom am Institut der roten Professur. Vgl.Danilova: Lagin Lazar’ Iosifovič, S. 395f.
78
Lagin, Lazar’: Starik Chottabyč, in: Pioner 10 (1938), S. 62–73; 11 (1938), S. 90–104; 12 (1938), S. 96–109; Ders.: Starik Chottabyč, Moskva, Leningrad 1940. Hier zitiert nach der Zeitschriftenfassung. Die Idee zu der Geschichte hatte Lagin nach eigener Auskunft von dem englischen Schriftsteller Thomas Anstey Guthrie (1856–1934) aus dessen Roman The Brass Bottle (1900) übernommen.
79
Vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 362ff.; Vel’činskij, V.: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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„Wenn man die Augen schloss, konnte man sich sehr gut vorstellen, dass man nicht durch die Nastas’inskij-Gasse fuhr, in der man sein ganzes Leben zugebracht hatte, sondern irgendwo durch Amerika, durch raue, öde Prärien, wo einen jeden Augenblick Indianer mit kriegerischem Geschrei überfallen und skalpieren konnten.“80
Diese „freie“ Einbildungskraft bei geschlossenen Augen setzt Vol’ka auch nach dem Umzug fort – anstatt beim Einräumen zu helfen oder sich für seine Geografie-Prüfung vorzubereiten, geht er am nahe gelegenen Flüsschen erst einmal baden. Dabei findet er auf dem Flussgrund eine „glitschige, von Moos überzogene Tonflasche von seltsamer Form“, in der er sofort einen wertvollen Schatz vermutet. Er träumt davon, dass alle Zeitungen über ihn am nächsten Tag unter der Überschrift „Eine ehrliche Tat“ berichten werden, wie der „ausgezeichnete Taucher“ (прекрасный нарыльщик) seinen Fund bei der Miliz abgeliefert habe. Doch seine Träume werden bitter enttäuscht, denn anstatt eines Schatzes wirft beim Öffnen eine Explosion schwarzen Rauches Vol’ka an die Zimmerdecke und „ein lebendes Wesen“ entsteigt dem Flaschenhals: „Das war ein hagerer alter Mann mit einem prachtvollen gold- und silbergestickten Turban, einem dünnen Kaftan, schneeweißen seidenen Pluderhosen, ungewöhnlich verschnörkelten Saffianpantoffeln und einem Bart, der ihm bis zum Gürtel reichte.“81 Der bärtige Alte stellt sich als der „unglückliche Dschinn“ Gassan Abdurachman Chottabyč vor, den vor Jahrtausenden der islamische Prophet Suleiman zur Strafe in ein Tongefäß verbannt hat.82 Da ihn Vol’ka nun aus dieser Gefangenschaft befreit habe, erkürt Chottabyč ihn zu seinem neuen Gebieter, dem er alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Nachdem Vol’ka den „bösen“ Geist zuerst für einen Illusionisten aus dem Zirkus gehalten hat, stellt er bald fest, dass dieser tatsächlich „Wunder“ vollbringen kann und nimmt seine Zauberkünste immer wieder gewollt oder ungewollt in Anspruch. Diese Wundertaten aber, da sie den Maßstäben der Zeit der Propheten entsprechen, bewirken in der sowjetischen Gegenwart das Gegenteil des beabsichtigten Zwecks – anstatt Vol’ka zu helfen und glücklich zu machen, stürzen sie ihn von einer Peinlichkeit in die nächste. So besteht Chottabyčs erste Hilfe darin, dass er ihm heimlich in der Schule vom Korridor aus mittels Gedankenübertragung die Antworten bei der Geografieprüfung zuflüstert zu „Form und Bewe80
Lagin, Lazar’: Zauberer Hottab. Dt. von Alice Wagner , Berlin 1979, S. 7. Diese Übersetzung folgt einer späteren Fassung von Lagins Roman, daher wird auf sie nur an den Stellen zurückgegriffen, in denen sie mit dem Original von 1938 übereinstimmt. Veränderungen werden nicht extra hervorgehoben („Если зажмурить глаза, можно было свободно представить, будто едешь не по Настасьинскому переулку, в котором прожил всю свою жизнь, а где-то в Америке, в суровых пустынных прериях, где каждую минуту могут напасть индейцы и с воинственными криками снять с тебя скальп.“ Lagin: Starik
Chottabyč, 10 (1938), S. 63). Zauberer Hottab, S. 10 („Это был высокий тощий старик с бородой по пояс, в роскошной шолковой чалме, в расшитом кафтане и широкчайших шароварах и необыкновенно вычурных сафьяновых туфлях.“ Lagin: Starik Chottabyč, S. 65).
81 Lagin:
82
Suleiman ist eine abgeleitete Form des hebräischen Salomo, der „Friedliche“.
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gung der Erde“. Diese telepathische Suggestion funktioniert genauso wie Dolgušins Wundergenerator, bei dem es möglich ist, gegen den Willen des Empfängers dessen Gedanken und Worte zu manipulieren: „Und plötzlich spürte Vol‘ka, dass irgendeine unbekannte Kraft gegen seinen Willen seinen Mund öffnete.“83 So erklärt Vol’ka ausführlich, weswegen die Erde eine Scheibe und der Himmel eine Kuppel seien. Während Vol’ka mit jedem gesprochenen Wort immer verzweifelter wird, in Tränen ausbricht, fühlt, „dass es ihm vor Entsetzen buchstäblich die Beine wegzieht“, halten die Prüfer seine Antworten anfangs für einen Scherz, die Klasse bricht in schallendes Gelächter aus, bis sie ihn am Ende für krank erklären und den Test abbrechen. Um sich zu trösten begeben sich Vol’ka und Chottabyč daraufhin ins Kinotheater „Prächtige Träume“, allerdings ist der Film für die Abendvorführung erst ab 16 Jahren freigegeben, daher zaubert Chottabyč Vol’ka einen langen Bart, damit er älter aussieht. Doch im Foyer erweckt dieser „Bart des Apostels“ bei einem jungen Pionier die Neugierde aller Anwesenden: „Alle strebten einem bestimmten Winkel des Foyers zu, wo sich Vol’ka Kostyl’kov verbarg, der am liebstem vor Scham in den Erdboden gesunken wäre. Die Menge war inzwischen so in Aufruhr geraten, dass der Lärm bereits die Kapelle übertönte.“84 Erst durch den Beginn der Filmvorführung kann sich Vol’ka dem Spott der Menge entziehen, doch als der Film beginnt, hält Chottabyč einen auf den Zuschauerraum zurasenden Zug auf der Leinwand für ein von einem bösen Geist auf ihn gehetztes Ungeheuer und flieht in Panik aus dem Kinosaal. Da es eine „absolut hoffnungslose Sache“ ist, dem Alten das Wesen des Kinos und eines Panzerzugs zu erklären, lässt Vol’ka es sein und will stattdessen schnellstens zum Frisiermeister, um seinen Bart loszuwerden. Doch auch hier wird er zum Gespött aller Anwesenden, was Chottabyč so in Rage versetzt, dass er kurzerhand alle 19 Anwesenden in Hammel verwandelt. Diese 19 Hammel stürmen aus dem Friseursalon („Figaro ist hier die Nr. 1“, Фигаро здесь № 1) auf die Straße, provozieren ein Verkehrschaos und neugierige Schaulust, ehe ein zufällig anwesender Schafzüchter mit Hilfe von Wachleuten diese besonders seltene Hammelart für sein Wissenschaftliches Forschungsinstitut einfängt. Doch im Unterschied zu allen anderen Hammeln weiß diese seltene Sorte die äußerst komfortablen Käfige nicht zu schätzen, Futter und Wasser werfen sie wie wild um sich, „während in ihren Augen eine dumme und sinnlose Zufriedenheit durchschien.“ Als der Direktor laut nachdenkend erwägt, einen der Hammel zu Forschungszwecken aufzuschneiden und schon von seinem nächsten Artikel „voller sensationeller Beschreibungen“ für die Zeitschrift „Progressive Schafzucht“ träumt, geraten die Hammel in regelrechte Panik. Vol’ka hingegen ist auch über diese Hilfe des „bösen Geistes“ nicht wirklich glücklich:
83 „А Волька вдруг почувствовал, что какая-то неведомая сила против его желания раскрыла его рот.“
Lagin: Starik Chottabyč, 10 (1938), S. 66. 84 Lagin: Zauberer Hottab, S. 21 („Все стремились в заветный уголок фойе, где сгорая от стыда, притаился
Волька Кoстыльков. Вскоре толпа разгалделась настолько, что начала заглушать звуки оркестра.“
Lagin: Starik Chottabyč, 10 (1938), S. 69).
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„Er hatte den Vorfall, wenn er aufrichtig sein sollte, durchaus nicht als drollig empfunden. Er zitterte um das Schicksal der verzauberten Hammel. Sie konnten am Ende geschlachtet werden. [...] Man kann aber auch nicht sagen, dass Vol’ka vollständig auf der Seite der verzauberten Spötter war. Im Gegenteil, im hätte es ehrliche Freude bereitet sie mit irgendetwas zu verärgern. [...] Man hätte sie [...] öffentlich Hammel nennen können. Doch Menschen in Hammel zu verwandeln – das ging dann doch zu weit.“85
Da Chottabyč vergessen hat, wie man seine Wundertaten rückgängig macht, müssen sowohl Vol’ka mit seinem Bart als auch die seltenen Hammel warten, bis die Zauberkraft nach einigen Tagen ihre Wirkung verliert. Solange nimmt die Handlung ihren „wunderbaren“ Verlauf, in Moskau beginnt die Suche nach den 19 Vermissten, Vol’ka ist verzweifelt darauf bedacht, seinen Bart vor Eltern und Schulfreunden zu verbergen, während Chottabyč versucht, seinem Gebieter mit immer neuen Wundertaten zu Hilfe zu kommen, was die Lage aber selten besser macht. Erst nachdem Chottabyč auf einer Fahrt mit dem Fliegenden Teppich nach Indien, wohin er einen Freund Vol’kas zur Strafe auf eine Teeplantage als Sklaven verkauft hatte, seine alte Zauberkraft wieder gewonnen hat, kann er seine Irrtümer auch wieder rückgängig machen. So tritt er als Chottabbau (Хоттабстрой) auf, indem er 14 Altbauten aus dem Stadtzentrum an die Peripherie fliegen lässt, um für Vol’ka vier prunkvolle Paläste zu bauen, die dieser aber der Kommunalverwaltung übereignen möchte, so dass Chottab diese Tat wieder rückgängig macht. Auch im Zirkus verzaubert er unter tosendem Applaus zuerst die Artisten, dann das gesamte Publikum, bis nur noch Vol’ka und seine Freunde übrig bleiben, ehe er mit letzten Kräften alle wieder in die Wirklichkeit zurückholt.86 Und auch die Hammel werden wieder zu Menschen, die sich zuerst bitter wegen ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft beklagen, denen ihre Verwandlung zu Hammeln aber so peinlich ist, dass sie sich lieber gegenseitig schwören, niemandem etwas von ihrem Abenteuer zu verraten. Auch einer Reihe anderer Menschen geht es ähnlich, die Chottabyčs Zauberkunststücken begegnen – sie trauen ihren Augen nicht, vermuten Sinnestäuschungen, werden verrückt und bekommen einen seltsamen Charakter, doch sprechen wollen sie über das Gesehene lieber mit niemandem. Chottabyč selber aber verfällt am Ende der Geschichte seiner letzten „verhängnisvollen Leidenschaft“: dem Radio. Tag und Nacht hört er ununterbrochen auf Langwelle alle Sender der Welt: „Es war etwas Nichtwiedergutzumachendes geschehen – der Alte war dem Rundfunk mit Haut Zauberer Hottab, S. 34 („По совести говоря, он не находил в происшедшем ничего забавного. Его страшила судьба новоявленных баранов. Их свободно могли зарезать на мясо. [...] Нельзя, однако, сказать, что Волька был целиком на стороне заколдованных насмешников. Наоборот, ему доставило бы искреннее удовольствие досадить им чем-нибуть. [...] Можно было [...] публично назвать их баранами. Но превращать людей в баранов – это уже слишком.“ Lagin: Starik Chottabyč, 11
85 Lagin:
(1938), S. 93). 86
In der Zirkusszene sind deutliche Parallelen sowohl zu Bulgakovs Meister und Margarita als auch zu Aleksandr Grins Funkelnder Welt (Блистающий мир, 1924) zu erkennen. Zumindest letzterer Roman scheint ihm deutlich als intertextuelle Vorlage gedient zu haben.
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und Haaren verfallen...“87 Seitdem steht er täglich in der Hauptverwaltung für die nördliche Meeresroute im Empfangszimmer Schlange, um sich als Funker für eine der Polarstationen zu bewerben. Doch da er immer wahrheitsgemäß das Bewerbungsformular ausfüllt mit der Angabe, er habe vor 1917 als „böser Geist“ gearbeitet und sei 3732 Jahre und fünf Monate alt, halten ihn alle für einen Verrückten, obwohl der Leser dieser „zutiefst wahrhaften Geschichte“ es besser wisse. Wie sehr diese hier nur sehr verkürzt wiedergegebenen, von Chottabyč in Gang gesetzten „ungewöhnlichen Geschehnisse“ (необыкновенные проиcшествия) von den gängigen Mustern wissenschaftlich-fantastischer und Abenteuererzählkunst abwichen, zeigt sich schon daran, dass zu dem Werk bis 1956 keine einzige Rezension erschien – man wusste einfach nicht, wie mit ihm umgehen. Doch zumindest vordergründig folgte Lagin den Ansprüchen an die fantastischen Märchenerzählungen der neuen Zeit. Denn zum einen stellt die Geschichte eine weitere Variation der Erzählungen von 1001 Nacht dar, wie sie Edgar Alan Poe in seiner 1002. Erzählung vorführt und die Ivič in seinen „Abenteuern der Erfindung“ als Beispiel aufführt, wie unwahrscheinlich und unglaubhaft die Wunder der modernen Technik aus der Perspektive der Vergangenheit erscheinen müssen. Im Unterschied zu Poe lässt bei Lagin jedoch nicht eine Erzählerin den Zuhörer aus der Vergangenheit in die Zukunft schauen, sondern der Zauberer wird vom Erzähler selber aus der vergangenen Märchenwelt in die sozialistische Gegenwart geholt, um seine Zauberkunst an den Wundern der Wissenschaft zu messen. Doch trotz all seiner Kunststücke und Wunscherfüllungen vermag Chottabyč den etwas verträumten, konformistischen und auf keinen Fall auffallen wollenden Pionier Vol’ka nicht zu verführen, so dass er immer verzweifelter und wütender wird ob der Undankbarkeit seines Gebieters, ehe er am Ende „bis zur Selbstvergessenheit“ seiner Leidenschaft, dem Radiohören frönt. Doch schon in dieser „zutiefst wahrhaften Geschichte“ über Chottabyčs Radiobegeisterung zeigt sich, dass in ihr nicht nur die Überlegenheit sozialistischer Technik über mythische Zauberkräfte symbolisiert ist, sondern dass die Figur des Dschinns zugleich für Lagin auch einen grotesken Spiegel der propagandistischen Inszenierungen der sozialistischen Wirklichkeit bietet. So benutzt Chottabyč das Medium Radio ausgerechnet mit der Hilfe des jungen Pioniers auch dafür, Feindsender zu hören: „Der Alte war ganz erschüttert über die Errungenschaften der Rundfunktechnik. Vol’ka schaltete für ihn Wladiwostok und Ankara, Tbilissi und London, Kiew und Paris ein. Aus dem Lautsprecher ertönten Lieder, Märsche, Vorträge in den verschiedensten Sprachen. [...] An diesem Tag hatte der Radioapparat keinen Augenblick Ruhe. Erst gegen zwei Uhr nachts verstummte der Lautsprecher. Doch nur deshalb, weil der Alte vergessen hatte, wie man London empfängt. Er weckte Vol’ka, ließ es sich erklären und trat wieder an den Empfänger...“88 87 Lagin: Zauberer Hottab, S. 253 („Случилось непоправимое: старик Хоттабыч до самозавбения увлекся
радио...“ Lagin: Starik Chottabyč, 11 (1938), S. 109).
88 Lagin: Zauberer Hottab, S. 251, 252f. („Старик был совершенно потрясен достижениями радиотехники.
Волька ловил для него Владивосток и Анкару, Тбилиси и Лондон, Киев и Париж. Из рупора послушно вылетали звуки песен, гремели марши, доносились речи на самых разнообразных языках.
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Genauso wie diese Szene ungeachtet ihrer fantastischen Hauptfigur einfach nur als Alltagsbeschreibung des Gebrauchs der Radiotechnik im Moskau der Stalinzeit gelesen werden kann, wo man nachts um zwei Uhr versucht heimlich London auf Langwelle zu hören, entblößt der eigenwillige „Alte“ in seiner Unwissenheit und Ignoranz gegenüber dem sowjetischem Zeitgeist umgekehrt dessen sozialistische Ideologie als hoch formalisierte Rhetorik, die kaum noch Wirklichkeitsreferenz aufweist. So ist schon sein erstes Kunststück der telepathisch-hypnotischen Infiltration eines Wissens über die Geografie, das alle erschüttert, deutlich als Parodie der sowjetischen Imaginationen einer neuen Geografie und telepathischer Wundergeneratoren markiert. Im Pathos der sowjetischen Rhetorik von einer neuen Geografie wird hier in grotesker Verdrehung durch die „verrückten“ Worte Vol’kas die Welt wieder zur Scheibe gemacht. Ein anderes Verfahren der grotesken Spiegelung der sowjetischen Wirklichkeit wendet Lagin im nächsten Kapitel an. Hier verweist der „Bart des Apostels“ als Zeichen von Weisheit und Alter auf den Wangen des 13-jährigen Jungen auf die Lächerlichkeit, die die Darstellung der Pioniere als mutige und kluge Helden der neuen Zeit häufig kennzeichnet. Das „buchstäblich“ realisierte Sinnbild der Weisheit macht den typischen Pionier zu einem Hybridwesen (ублюдочное существо), das in Lagins Geschichte nicht nur bei den schaulustigen Kinobesuchern abwechselnd fassungsloses Entsetzen und hemmungsloses Lachen hervorruft, sondern auch Vol’ka selber in Schrecken versetzt: „Vol’ka stockte das Herz. Aus dem Spiegel blickte ihm ein missgestaltetes Geschöpf entgegen: ein Junge in kurzen Höschen mit einem Pionierhalstuch und einem Apostelbart im rosigen Lausbubengesicht.“89
Während der junge Pionier angesichts dieses Spiegelbildes am liebsten sterben möchte, erkennt der alte Zauberer in dem Kinofilm die eigentliche Todesgefahr, so dass er beim Auftauchen des Panzerzuges auf der Leinwand in Panik ausbricht, was er gegenüber Vol’ka wie folgt begründet: „‚Wie sollte ich denn nicht schreien, wo uns doch Todesgefahr drohte. Der große Zauberer Džirdžis kam, Feuer und Tod speiend, auf uns zu!‘/ ‚Was hießt hier Džirdžis!‘, sagte Vol’ka wütend. ‚Es war eine gewöhnliche Lokomotive.‘./ ‚Glaubt vielleicht mein junger Gebieter, den alten Geist Chottab Abd ur-Rachman Gassan belehren zu können, was ein Zauberer ist?‘, antwortete der alte Chottabyč giftig.“90 [...] В этот день приемник не отдыхал ни одной минуты. Около двух часов ночи, правда, рупор замолк. Но оказалось, что старик просто забыл, как принимать Лондон. Он разбудил Вольку, расспросил его и снова приблизился к приемнику...“ Lagin: Starik Chottabyč, 11 (1938), S. 109).
Zauberer Hottab, S. 19 („Волька посмотрелся в зеркало и обмер: из зеркала на него глядело ублюдочное существо: в коротких штанишках, в пионерском галстуке и с бородой апостола на розовом мальчишеском лице.“ Lagin: Starik Chottabyč, 10 (1938), S. 68).
89 Lagin:
Zauberer Hottab, S. 26 („ – Как же мне было не кричать, когда над нами нависла смертельная опасность? Прямо на нас несся, изрыгая огонь и смерть, великий шайтан Джирджис!/ – Какой там
90 Lagin:
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Diese „allergewöhnlichste Lokomotive“ ist seit Beginn des Kinos aber auch ein Sinnbild für die große Suggestionskraft des Mediums, und wenn Chottabyč anhand von ihrer Illusionswirkung feststellt, hier sei der große Teufel Džirdžis selber am Wirken und verbreite tödliche Gefahr für die Menschen, dann lässt sich diese Aussage auch auf die „prächtigen Wunschträume“ des sowjetischen Kinos insgesamt beziehen, das als zentrales Propagandamedium der Stalinzeit eben auch dazu beiträgt, das „teuflische“ Treiben des Großen Terrors zu verschleiern. Als anachronistische Figur kann Chottabyč diese „antisowjetische“ Wahrheit nicht nur aussprechen, sondern sie bleibt auch unwidersprochen: „Und Vol’ka begriff, dass es ein absolut hoffnungsloses Unterfangen war, dem Alten erklären zu wollen, was ein Kino und was ein Panzerzug sei.“91 Das „absolut hoffnungslose Unterfangen“, den wissenschaftlichen und ideologischen Gehalt der sowjetischen Wirklichkeit erklären zu wollen, wird noch deutlicher in der Verwandlungsszene der Menschen in Hammel, denen die Schlachtbank droht. Denn die Menschen werden in dieser Szene – die ihren Ausgang in einem nach Gioachino Rossinis Oper Der Barbier von Sevilla benannten Friseursalon nimmt – nicht einfach wie unmündige Hammel behandelt, sie sind auch solche, und so handelt der Schafzüchter mit seiner willkürlichen Gefangennahme und seinen geplanten Tierversuchen „buchstäblich“ rational. Es sind nicht mehr Verkleidungen und Intrigen, wie im Barbier von Sevilla, die es ermöglichen, Standesgrenzen und vorgetäuschte Gefühle zu überwinden, sondern Figaros Barbiersalon ist hier selber zum Schauplatz des Geschehens geworden, bei dem eine körperliche Verunstaltung zum Anlass für eine vollständige Metamorphose der Akteure wird, die ihnen eine menschliche Existenz unmöglich macht. So entstellt Lagin mit Hilfe der Figur Chottabyč die sowjetische Wirklichkeit bis ins Groteske verzerrt, sei es indem er die offizielle Wissenschaftsrhetorik mit anachronistischen Inhalten füllt (Geografie-Prüfung), die mediale Inszenierung als übersinnliche diabolische Kraft identifiziert (Kinovorführung), den bolschewistischen Habitus als körperliche Verunstaltung markiert (Bart des Pioniers) oder durch die Metamorphose der Menschen deren Unmündigkeit und Machtlosigkeit symbolisiert (Menschen als Hammel). Chottabyč fungiert als Medium, um ähnlich wie in Michail Bachtins zeitgleich entstandener Theorie des Karnevals die bestehende Ordnung auf den Kopf zu stellen, indem die physischen Extremitäten der Menschen und Dinge die ideologischen Normen und Werte außer Kraft setzen. Ein unkontrolliertes Sprechen, dass zu Weinkrämpfen und Lachsalven führt (Geografieprüfung), ein anormaler Bartwuchs (des Pioniers), der den Träger zum peinlichen Gespött macht, oder die suggestive Gewalt des Kinofilms (die Panzerlok), die die Zuschauer in Panik versetzt, aber auch ein exzessives Hören (des Radios) oder demonstratives Schweigen über Sinneseindrücke (von Chottabyčs Wundertaten) markie-
Джирджис! – досадливо сказал Волька. – Это был самый обычный паровоз./ – Не собирается ли мой юный повелитель учить старого джина, Гассана Абдурахмана ибн Хоттаба, кто такой шайтан? – язвительно отвечал старик Хоттабыч.“ Lagin: Starik Chottabyč, 10 (1938), S. 71).
Zauberer Hottab, S. 26 („И Волька понял, что об’яснить старику, что такое кино и что такое бронепоезд, – абсолютно безнадежное дело.“ Lagin: Starik Chottabyč, 10 (1938), S. 71f.).
91 Lagin:
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ren ein temporäres Außerkraftsetzen bestehender Ordnungsvorstellungen, hinter dem sich ein generelles Misstrauen gegenüber allen Erscheinungen der sowjetischen Wirklichkeit artikuliert. Damit kommt neben der Ebene des modernen Märchens (aus 1001 Nacht) und derjenigen der karnevalesken Groteske (der sowjetischen Wirklichkeit) noch eine dritte ambivalente Bedeutungsebene zum Tragen, und zwar diejenige einer tiefergehenden psychologischen und physiologischen Verunsicherung aller Protagonisten. So bringt die Begegnung mit Chottabyč bei Vol’ka anstatt der erhofften aufregenden Abenteuer im Stile Coopers und Stevensons nur Angstzustände, Peinlichkeit, Tränen und Verzweiflung hervor. Statt freudig mit seinen Heldentaten zur Presse zu gehen, ist sein einziges Bestreben, die „ungewöhnlichen Geschehnisse“ zu verbergen, auch wenn er dafür große Entbehrungen in Kauf nehmen muss. Auch die übrigen Protagonisten treten als unbeteiligte Zuschauer in Gestalt der Mitschüler, Kinobesucher oder Friseurbesucher durchgehend als schaulustige Spötter und höhnische Lacher auf; sind sie aber selber von Chottabyčs Zaubertricks betroffen oder können sich nicht über andere lustig machen, sind sie nur verzweifelt bemüht, ihre Begegnung mit dem Außergewöhnlichen geheim zu halten.92 Diese hemmungslose Schadenfreude lässt aber auch die ganze offizielle Darstellung des neuen Lebens voller fröhlicher Freude und glücklichen Lachens in einem ganz anderen Licht erscheinen, ist das Lachen hier doch kein lebensfrohes mehr als Ausdruck irdischer Glückseligkeit, sondern ein schadenfreudiges und erniedrigendes gegen die Aussätzigen und Ausgestoßenen, das weder individuelles Mitleid noch kollektives Verantwortungsgefühl kennt. Vor diesem Hintergrund erscheint die paranoische Angst vor dem Öffentlichwerden eigener Verfehlungen und körperlicher Verunstaltungen als „zutiefst wahrhafter“ Spiegel der Situation zu Zeiten des Großen Terrors, als jedes gesellschaftliche Engagement für andere eine Denunziation nach sich ziehen und jede individuelle Auffälligkeit einem Todesurteil gleich kommen konnte. So zeigt Lagin in der Teufeliade des Alten Chottabyč eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft, die zwischen höllischem Lachen und paranoider Todesangst, außer Kontrolle geratenen Kommuni92
So heißt es über einen Arbeiter, den Chottabyč nach dem gescheiterten Friseurtermin dazu gebracht hat, Vol’ka zu rasieren: „Was jedoch Stepan Stepanovič Pivorak betrifft, der in unserer durch und durch wahrheitsgetreuen Erzählung nicht mehr in Erscheinung treten wird, so steht fest, dass er sich nach dem zuvor beschriebenen Missgeschick völlig verändert hat. [...] Über die Gründe der plötzlichen Veränderung in seinem Charakter und seinem Verhalten hat Stepan Stepanovič niemandem, selbst seiner Frau nicht, bis zum heutigem Tag irgendetwas erzählt.“ („Что же касается Степана Степановича Пивораки, который уже больше не появится в нашей глубоко правдивой повести, то нам доподлинно известно, что с ним после описанных выше злоключений произошли очень большие изменения. [...] О причинах этого перелома в его характере и образе жизни Степан Степанович никому, даже своей жене, так по сей день и не рассказал.“) Lagin: Zauberer Hottab, S. 47 (Lagin: Starik Chottabyč, 11 (1938), S. 99); Gleiches beschließen
die ehemaligen Hammel: „Nachdem sie eine Weile miteinander beratschlagt hatten, beschlossen Chottabyčs Opfer, die Sache geheim zu halten, und schworen einander feierlichst, niemals und unter gar keinen Umständen einer lebenden Seele etwas von ihrer erstaunlichen Verwandlung in Hammel zu erzählen.“ („Посоветовавшись немного, жертвы Хоттабыча решили дело замять и взяли друг с друга торжественные
клятвы, что никто никогда никому и ни под каким видом не расскажет об удивительном их превращении из людей в баранов.“) Lagin: Zauberer Hottab, S. 62 (Lagin: Starik Chottabyč, 12 (1938), S. 98).
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kationsmöglichkeiten und gestörten Wahrnehmungsmustern, zwischen halluzinatorischen Wahnbildern und nervlicher Zerrüttung hin und her gerissen wird, während die Neue Geografie, die Neuen Menschen, deren Wundergeneratoren und ihre durchs Kino und durchs Radio vermittelten „prächtigen Träume“ als Zaubertricks und Obsessionen eines „bösen Geistes“ entstellt werden. In einem größeren literaturgeschichtlichen Kontext betrachtet sind die Anknüpfungspunkte von Lagins Alter Chottabyč zu dem 1940 fertig gestellten (allerdings schon seit 1928 in Arbeit befindlichen) Roman Michail Bulgakovs Meister und Margarita (Мастер и Маргарита) offensichtlich. Denn nicht nur das Moskauer Umfeld und das generelle Verfahren der grotesken Konfrontation von übernatürlichen Kräften mit der sozialistischen Wirklichkeit gleichen sich, sondern auch viele einzelne Details und märchenhaft-karnevaleske Elemente von Lagins Roman finden sich auch bei Bulgakov wieder. Lagin hatte dabei die Möglichkeiten fantastischen Erzählens im Rahmen einer sozialistisch-realistischen Kinderliteratur bis an seine äußersten Grenzen ausgenutzt, Möglichkeiten, die nur in der kurzen Zeit nach dem „Großen Terror“ und vor dem Großen Vaterländischen Krieg gegeben waren und in der Nachkriegszeit schon als „antisowjetische Elemente“ einer erheblichen Revision und Überarbeitung bedurften.
1 0. 3 Di e Zer störung des Kano ns – Au se i n a n d e r se tz u n g e n ü b e r di e W eite rentwick lung des Ge n r e s 93 „Außerdem müssen wir uns uns selbst gegenüber verhalten wie gegenüber Menschen der Stalinschen Epoche, d.h. sehr anspruchsvoll. Uns sagen Bücher wenig, mit denen man leicht in der Straßenbahn oder im Auto fahren kann. Wir brauchen Bücher, welche uns zu unserer Epoche heranziehen.“ Viktor Šklovskij (1939)93
Der literaturpolitische Kurswechsel im Sommer 1937 hatte für die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur und poetisch-fantastische Kinderliteratur ein relativ breites Spektrum an erzählerischen Möglichkeiten eröffnet, eine Verzauberung der eigenen Welt durch wissenschaftlich begründete oder märchenhaft motivierte Wunder zu erreichen, die gleichzeitig auch „die überfallartigen und schockhaften Einbrüche unbekannter anonymer Mächte in das Leben gewöhnlicher Menschen“94 erzählbar machte. Während die auf die Entzauberung anderer Welten 93 „Кроме того, мы должны относиться к себе, как к людям сталинской эпохи, т.е. очень требовательно.
Нам мало говорят книги, с которыми мы легко могли ездить в трамвае или в автомобиле. Нам нужны книги, которые подтягивали бы нас к нашей эпохе.“ Šklovskij: Detizdat v 1939 godu, S. 45.
94 Schlögel:
Terror und Traum, S. 59.
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gerichtete Abenteuerliteratur jedoch in der publizierten Kritik so gut wie keine Beachtung fand, wie anhand des Beispiels von Tuškans Džura erörtert wurde, sah sich die Neubegründung der Wissenschaftlichen Fantastik als wissenschaftlich-fantastische Abenteuergeschichte hingegen schon bald massiven Anfechtungen ausgesetzt. Diese Kritik an den bisherigen Konzeptionen stand im engen Zusammenhang mit den auf dem 10. Plenum des Zentralkomitees des VLKSM im Dezember 1939 zu den Aufgaben und Zielen der Kinderliteratur getroffenen Entscheidungen, die eine erneute Kurskorrektur beabsichtigten. Sie waren schon stark von der sich zuspitzenden internationalen Lage geprägt und zielten vor allem auf eine Festigung des sowjetisch-russischen Patriotismus, eine Verstärkung des Führerkults um Stalin und eine noch schärfere Abgrenzung von den westlichen Industrieländern. Demnach sollte die Kinderliteratur in der Periode „des Übergangs von der Vollendung des Aufbaus des Sozialismus zum Kommunismus“ („перехода от завершения строительства социализма к коммунизму“) vor allem die letzten Überreste des Kapitalismus im Bewusstsein der Jugend auslöschen und einen „Kampf für die vorbildliche Beherrschung der Grundlagen der Wissenschaften“ („борьба за отличное овладение основами наук“) führen, wie der erste Sekretär des Zentralkomitees, Nikolaj Aleksandrovič Michajlov (1906–1982), ausführte.95 In ihrem Referat zur Kinderliteratur des Jahres 1940 konkretisierte die Sekretärin des ZK des VLKSM, Ol´ga Petrovna Mišakova (1906–1980), diese Forderungen und stellte fest, dass bislang viel zu wenig über die eigene Heimat, die realen Errungenschaften in Wissenschaft und Technik, die großen Volksführer und einfachen Menschen geschrieben werde: „Die Literatur muss auf einem hohen Niveau gemacht sein, [...] sie muss wahrhaft das Leben spiegeln, die Erscheinungen des Lebens, und sie darf das Kind nicht um das Leben herum führen, es nicht in seiner BlattgoldMarmeladen-Vorstellungswelt bewahren.“96 Den neuen Vorgaben mussten sich auch die verantwortlichen Redakteure und Autoren der Wissenschaftlichen Fantastik stellen, auch wenn – wie schon bei den vorigen kulturpolitischen Kurswechseln – nicht klar war, wie diese ideologischen Forderungen im Einzelnen umgesetzt werden könnten, zumal auf dem X. Plenum zum einen eine scharfe Abgrenzung vom Kapitalismus, gleichzeitig aber ein genaues Studium der technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften auch des Westens gefordert wurde. Strukturell traf man diesbezüglich jedoch schon eine Vorentscheidung, indem man die Wissenschaftliche Fantastik nun innerhalb der Kinderliteratur sowohl bei Detizdat als auch bei der zuständigen Sektion des Schriftstellerverbandes vorerst erneut der wissenschaftlich-populären Literatur zuordnete, ihr also wieder verstärkt popularisierende und erzieherische Funktionen zuschrieb. Inhaltlich boten die Entscheidungen die Gelegenheit, schwelende interne Konflikte um die Weiterentwicklung der Wissenschaftlichen Fantastik erneut hervorzukehren. Hier waren es vor 95
Vgl. Fateev, Andrej V.: Stalinizm i detskaja literatura (Avtoreferat), Moskva 2005, S. 15.
96 „Литература должна быть поставлена на высоком уровне, [...] должна правдиво отражать жизнь,
явления жизни, а не водить ребенка вокруг жизни, не держать его в сусально-мармеладном представлении.“ Zitiert nach Ebd., S. 16.
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allem drei Autoren, die sich seit Ende des Jahres 1939 mit grundsätzlichen Vorbehalten gegen die bisherige Neukonzeption hervortaten, und zwar die schon genannten Kritiker und Publizisten Jakov Rykačev und Aleksandr Ivič sowie Viktor Šklovskij, wobei die drei zum Teil als Co-Autoren gemeinsam Texte verfassten, zum Teil aber auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven argumentierten. Schon Ende 1939 hatten einige Artikel eine Neuorientierung in der Bewertung der Wissenschaftlichen Fantastik angedeutet. So hatte Boris Vasil‘evič Michajlovskij (1899–1965) in dem Beitrag zur „Fantastik“ für den 11. Band der Literaturenzyklopädie die Unterscheidung in eine „unbewusste künstlerische Bearbeitung in der Volksfantasie“, „eine idealistische und eine materialistische Fantastik“ eingeführt. Während die Definitionen der Fantasie des Volkes und der idealistischen Fantastik im Wesentlichen mit Gor’kijs Ausführungen zu dem Thema auf dem Ersten Schriftstellerkongress 1934 übereinstimmten, wurde die von ihm so benannte materialistische Fantastik explizit auf ihren „realistischen Inhalt“ eingegrenzt: „F[antastik] als solche widerspricht nicht den Prinzipien des sozialistischen Realismus, die Frage betrifft den Charakter der F. und die Grenzen ihrer Anwendung. Offensichtlich hat in der sowjetischen Literatur die idealistische F. keinen Anspruch auf Existenz. Doch im Rahmen einer Literatur mit sozialistisch-realistischem Inhalt kann man an eine materialistische F. denken, eine F. als künstlerische Form mit realistischem Inhalt, – im Genre der Satire, die gegen die überlebte kapitalistische Welt gerichtet ist, in Werken, die hypothetisch versuchen die Zukunft einzuholen, in sowjetischer Folklore und insbesondere in der Literatur für Kinder.“97
Auch der ehemalige RAPP-Kritiker Rykačev stellte einige grundsätzliche Überlegungen zu den Aufgaben und Zielen der Wissenschaftlichen Fantastik in einem Verriss von Adamovs Roman Tajna dvuch okeanov an, dessen größter Mangel darin bestehe, dass er sich, was die Darstellung der Personen und die Präsentation des wissenschaftlichen Materials anbelange, nicht „auf dem Niveau der großen sowjetischen Literatur“ (на уровне большой советской литературы) befinde und sich mit einer „maskierten Form der Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen“ zufrieden gebe (довольствоваться замаскированной формой популяризации научных знании).98
97 „Ф[антастика] как таковая не противоречит принципам социалистического реализма, вопрос
сводится к характеру Ф. и границам ее применения. Очевидно, что в советской лит-ре не может иметь права на существование идеалистическая Ф. Но в рамках лит-ры социалистического реализма можно мыслить материалистическую Ф., Ф. как художественную форму с реалистическим содержанием, — в жанре сатиры, направленной против отживающего капиталистического мира, в произведениях, пытающихся гипотетически предвосхитить будущее, в советском фольклоре и особенно в лит-ре для детей.“ Michajlovskij, B.: Fantastika, in: Literaturnaja ėnciklopedija, Bd. 11,
Moskva 1939, S. 652–660, 660. 98
Rykačev: Naučnaja fantastika, S. 4.
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Grundsätzlicher geht Šklovskij in einem Resümee zur Kinderliteratur des Jahres 1939 mit der Wissenschaftlichen Fantastik um, das nur noch eine Form der Fantastik akzeptiert – diejenige der Verkleinerung oder Vergrößerung des Helden: „Die besten fantastischen Romane sind die Romane Swifts – ich denke damit sind alle einverstanden –, bei denen der Held sich verkleinert und vergrößert und außer dieser Fantastik schon keine andere Fantastik mehr zulässig ist. Diese einzig zulässige Fantastik wird zur Methode, die Welt von neuem zu erforschen. [...] Darum muss die Fantastik, die in einem Roman zugelassen ist, minimal sein, stark begrenzt und maximal belastet sein.“99
Der Held der „Epoche Stalins“ aber sei der Wissenschaftler vom Typ des Akademiemitglieds Lysenko und das minimale fantastische Element der Vergrößerung müsse in einer wissenschaftlichen Hypothese bestehen, die in der realistischen Darstellung empirischer Versuche maximal belastet werde in Hinsicht auf ihre zukünftige Anwendbarkeit in der sowjetischen Wirklichkeit. Eine nicht-wissenschaftliche Fantastik sei hingegen nur in Form der Satire möglich.100 Diese Forderung nach einer erneuten engeren Anbindung des Fantastischen an wissenschaftliche Hypothesen, die „realistisch“ auf die sowjetische Wirklichkeit angewendet werden und in den Helden den Menschen der Zukunft zeigen sollen, wurde im Frühjahr 1940 von der Redaktion der Detskaja literatura in einem Schwerpunktheft zur „wissenschaftlich-populären Literatur“ noch konkretisiert. Hier kamen gleich acht prominente Akademiemitglieder und Professoren zu Wort, die sich zum „wissenschaftlich-populären Buch“ und den „Problemen der Wissenschaftlichen Fantastik“ äußerten. Sie gaben Ratschläge, welche Themen und Bereiche der Naturwissenschaften sich zur Bearbeitung anbieten, wobei insbesondere die Physiologie des Gehirns und chemisch-physikalische Forschungen zur Energie- und Materialgewinnung hervorgehoben wurden.101 All diesen neuen Herausforderungen der Wissenschaften genügten die jüngsten Werke des Genres nicht.102 Diese unterschiedlichen Vorbehalte gegen die bisherige Neukonzeption nahm Ivič dann zum Anlass zu einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Wissenschaftlichen Fantastik der sowjetischen Gegenwart,103 die auf so starken Widerstand stießen, dass im Herbst 1940 eine interne 99 „Лучшими фантастическими романами являются романы Свифта, – я думаю с этим все согласятся, –
когда уменьшается или увеличивается герой, и, кроме этой фантастики, никакая фантастика уже недопустима. Эта единственная допущенная фантастика становится методом исследования миразаново. [...] Поэтому фантастика, допущенная в романе, должна быть минимальна, строго определенна и максимально нагружена.“ Šklovskij: Detizdat v 1939 godu, S. 44.
100
Ebd., S. 45.
101
Vgl. Kapica, Petr L.: O naučnoj fantastike, in: Detskaja literatura 4 (1940), S. 18–23; Dankov, P. D.: Chimija buduščego, in: Ebd., S. 23–28; Frolov, Ju. P.: Fantastika i nauka, in: Ebd., S. 28–31.
102
Mar´jamov: Knigi bol’šoj mečty, S. 32–38; Jaroslavov: Fantastičeskaja konferencija., S. 39–40.
103
Ivič, Aleksandr: Knigi o buduščem, in: Tridcat’ dnej 5–6 (1940), S. 103–110; Ders.: Naučno-fantastičeskaja povest’.
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Aussprache unter Autoren, Redakteuren und Kritikern über dessen Thesen anberaumt wurde.104 Ivič teilte die Fantastik ausgehend von den antiken griechischen Mythen in zwei Hauptströmungen ein.105 Einerseits habe es demnach die Fantastik der „technischen Voraussicht“ gegeben, die angefangen vom Ikarus-Flug bis zu Jules Verne technische Entwicklungen antizipiert habe. Anderseits existierten seit dem Altertum die sozialen Utopien, von denen heutzutage insbesondere H.G. Wells beeinflusst sei. Die sowjetische Wissenschaftliche Fantastik habe immer wieder versucht an diese Traditionen der technischen Fantastik und Sozialutopie anzuknüpfen, doch fehle es ihren prominentesten Vertretern insbesondere an dem „wissenschaftlichen Erkenntnismaterial“.106 Zudem dürften Verne und Wells nicht „für immer und ewig die Wege der Wissenschaftlichen Fantastik bestimmen und begrenzen“ („раз навсегда определить и ограничить пути научной фантастики“).107 Der Kern von Ivičs Kritik zielte aber auf das aus der Abenteuerliteratur übernommene Sujet als Konstruktionsprinzip der Wissenschaftlichen Fantastik: „Der Versuch, die Standard-Sujetschablonen anzuwenden, um die sowjetische sozialistische Beziehung der Menschen zur Technik und der Menschen untereinander zu zeigen, führt unausweichlich zu einer Vulgarisierung des Themas, zu seiner undialektischen Entfaltung, zu künstlerischer Minderwertigkeit./ Die literarischen Methoden nicht nur eines Jules Verne und Wells, sondern auch des im Schaffen A. Tolstojs zufälligen Romans ‚Hyperboloid‘ sind zu unumstößlichen Gesetzen des Genres geworden. Sie stellen eine Barriere dar, hinter die zu schauen für viele Schriftsteller schrecklich ist.“108
Diese Genregesetze führten jedoch nicht nur in den „pseudowissenschaftlichen“ fantastischen Werken Tolstojs zu einer Vulgarisierung der Wissenschaften, sondern auch bei Autoren wie Alek-
104
RGALI f. 360, op. 1, ed. 290, l. 1–68 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“; Stenogramma soveščanija pisatelej naučno-fantastičeskogo žanra po obsuždeniju stat’i Iviča „Naučno-fantastičeskaja povest’“, opubliovannoj v žurnale „Literaturnyj kritik“, N 7–8 za 1940 g., 15 oktjabrja 1940 g.)
105
Erste Vorüberlegungen zu dieser Einteilung hatte er bereits 1939 zusammen mit Šklovskij angestellt, vgl. Ivič, Aleksandr; Šklovskij, Viktor: Uėlls i Žjul´ Vern, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 14–18.
106
So seien Tolstojs Werke in dem Genre vor allem Abenteuerromane mit satirischen Elementen, Beljaev fehle es völlig an wissenschaftlichen Ideen und auch bei Adamov dominiere das Abenteuer das Geschehen zu sehr. Vgl. Ivič: Knigi o buduščem, S. 107ff.
107
Ebd., S. 110.
108 „Попытка применения стандартных сюжетных штампов для показа советского социалистического
отношения людей к технике и людей между собою неизбежно приводит к вульгаризации темы, недиалектичному ее развитию, к художественной неполноценности./ Литературные методы не только Жюль Верна и Уэллса, но и случайного в творчестве А. Толстого ‚Гиперболоида‘ возведены в непреложные законы жанра. Они представляют собой барьер, за который многим писателям и заглянуть страшно.“ Ivič: Naučno-fantastičeskaja povest’, S. 165.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 433
sandr Beljaev oder Grigorij Adamov.109 Gleichzeitig machte Ivič aber aufgrund des massiven Widerspruchs, die diese Forderung nach einer Überwindung der Barriere des Sujets hervorgerufen hatte, in der mündlichen Aussprache im Oktober 1940 wieder einen Rückzieher, indem er ausdrücklich betonte, dass er auf keinen Fall „irgendwelche Kanons“ diesbezüglich aufstellen wolle: „Es gibt nichts Schädlicheres als unnötigerweise in der Literatur irgendwelche Kanons aufzustellen, weil Literatur dafür existiert, um die Kanons zu zerstören. An dem Tag, wo Sie ein absolut sujetloses und gleichzeitig tiefgehendes, bedeutendes und spannendes Werk der Wissenschaftlichen Fantastik schaffen, sage ich, dass es das Sujet nicht unbedingt braucht. Doch bis dahin haben wir in der literarischen Praxis keine andere Organisationsform des fantastischen Materials als die sujethafte. [...] Hier kann es keine Entscheidung geben, dass Wissenschaftliche Fantastik nur im Rahmen der Abenteuerliteratur existieren kann. Jetzt, wo wir die Wissenschaftliche Fantastik analysieren, analysieren wir sie als ein Abenteuergenre, weil sie als solche existiert und es fast keine Ausnahmen gibt.“110
Doch konnte er mit dieser ausdrücklichen Tolerierung des Abenteuergenres als Grundlage für die Wissenschaftliche Fantastik die Zweifel an seiner Position nicht gänzlich ausräumen. Und so äußerten in der mündlichen Aussprache vor allem die von ihm kritisierten Schriftsteller Sergej Beljaev und Grigorij Adamov den Verdacht, dass es ihm eigentlich um die „Zerstörung“ dieses Kanons einer wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur gehe. Er wolle das Genre wieder zur „Schmuggelware“ (контрабанда) machen, indem er das gesamte Genre pauschal diskreditiere und den Inhalt einzelner Werke verfälsche, ohne dass die zum Teil äußerst schwierigen Bedingungen berücksichtigt würden, unter denen sie entstanden seien. Stattdessen scheine er einen neuen Kanon mit verbindlichen Regeln aufstellen zu wollen, um einen „säuerlichen“ „Alltagsroman“ (бытовой роман) zu schaffen.111 Zwar schlossen sich der Schriftsteller Aleksandr Kazancev und einige Redakteure Ivičs Thesen an, doch generell überwogen die Vorbehalte auch seitens des Verlagsleiters von Detizdat, Andrej Andreev, ob man ohne das Abenteuersujet das Interesse der jungen Leser wecken könne. 109
Ebd., S. 172ff; Eine ganz ähnliche Kritik äußerste er auch an Beljaevs Roman Der Mensch, der sein Gesicht fand (Человек, нашедший свое лицо, 1940), der eine Überarbeitung des 1929 in der Leningrader Zeitschrift Vokrug sveta erschienenen Romans Der Mensch, der sein Gesicht verlor (Человек, потерявший свое лицо) darstellte. Vgl. Ivič, Aleksandr: Aleksandr Beljaev. Čelovek, našedšij svoe lico, in: Literaturnoe obozrenie 3 (1941), S. 13–15.
110 „Вообще нет ничего вреднее, чем затея устанавливать в литературе какие-то каноны, потому что
литература существует для того, чтобы каноны разрушать. В тот день, когда вы создадите абсолютно бессюжетное и в то же время глубокое, значительное и занимательное произведение научной фантастики, я скажу, что сюжет не обязателен. Но до сих пор никакой организации фантастического материала, кроме сюжетной мы в литературной практике не имеем. [...] Тут не может быть решения, что научная фантастика возможна только в пределах приключенческой литературы. Сейчас, когда мы анализируем научную фантастику, мы ее анализируем, как жанр приключенческий, потому что таковая существует и исключений почти нет.“ RGALI f. 630, op. 1, ed. 290, l. 14f.
111
Vgl. die Auftritte Sergej Beljaevs und Adamovs Ebd., l. 48, 50–56, 65ff.
434 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Der Verlagslektor und Kritiker Kirill Andreev machte in einem Vortrag über die „amerikanische wissenschaftlich-fantastische Literatur des Jahres 1940“ im Frühjahr 1941 sogar den Gegenvorschlag, dass man sich an der dortigen, äußerst erfolgreichen Weiterentwicklung des Genres orientieren solle. Zwar zeichne sich hier erst in letzter Zeit die einheitliche Bezeichnung Science Fiction (научная беллетристика) ab, doch kommerziell und politisch sei dieses Genre in den Vereinigten Staaten schon bestens im Interesse des Kapitalismus organisiert und allein 1939 seien über 700 Science Fiction-Texte erschienen. Die von ihm ausgewerteten Geschichten – vor allem aus den Zeitschriften Amazing Stories und Astounding Science Fiction – zeichneten sich im Allgemeinen durch einen „Positivismus“ ohne jegliche Mystik, eine materialistische Weltsicht und einen Glauben an die allmächtige Technik aus.112 Auch die Darstellung der Helden mit ihrem „Vermögen sich im Krieg wie zuhause zu fühlen“ (умение чувствовать себя на войне, как дома) könne man für die sowjetische Wissenschaftliche Fantastik übernehmen. Natürlich sei der Glaube an die Unvergänglichkeit des Kapitalismus kein Vorbild, aber die Art und Weise, wie die amerikanische Science Fiction diesen erfolgreich an ihre Leser vermittele, müsse man in Zukunft genauer beobachten und erforschen.113 In der an diesen Vortrag anschließenden Aussprache kamen noch einmal einige der grundsätzlichen Differenzen in der Auffassung über Wissenschaftliche Fantastik zur Sprache. Zum einen gab es diejenigen, die eine grundsätzlich neue, von ähnlichen westlichen Genres prinzipiell verschiedene Gattung der Wissenschaftlichen Fantastik entwickeln wollten. Diese eher an der Popularisierung von Wissenschaftsthemen orientierte Richtung wurde vor allem von Ivič, Rykačev und Šklovskij propagiert. Sie betrachtete die Fantastik zumeist als ein die inhaltliche Ebene betreffendes Verfahren, das es vergleichbar einem „Fernrohr“ ermögliche, so genau wie irgend möglich die zukünftige wissenschaftlich-technische Entwicklung der Gesellschaft darzustellen.114 Je intensiver sich die Schriftsteller mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnismethoden und dem aktuellen sozialistischen Gesellschaftsaufbau auseinandersetzten und sich an den Aussagen der großen Wissenschaftler der Epoche Stalins orientierten, desto eher gelinge ihnen eine „realistische“ Darstellung der Menschen der eigenen Zukunft. Demgegenüber standen auf der anderen Seite diejenigen, denen es vor allem darum ging, den ungemeinen Erfolg wissenschaftlich-fantastischer und abenteuerlicher Texte im Stile Jules Vernes und H.G. Wells für die sowjetische Literatur nutzbar zu machen. Sie behandelten die 112
RGALI f. 630, op. 1, ed. 296, l. 27 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury; Stenogramma soveščanija po obsuždeniju doklada Andreeva KK. “Amerikanskaja naučno-fantastičeskaja literatura v 1940 g”. 11 fevralja 1941 g.).
113
Ebd., l. 37.
114
„Wissenschaftlich-fantastische Romane sind ein Fernrohr, mit dem wir den morgigen Tag ansehen können. Die Eigenschaften des Fernrohrs sind bekannt: Es erlaubt uns entfernte Gegenstände zu sehen, und zwar alle die Gegenstände, die in unser Sichtfeld fallen.“ („Научно-фантастические романы – бинокль, в который мы рассматриваем завтрашний день. Свойства бинокля известны – он позволяет видеть отдаленныe предметы и при том все предметы, попaдающие в поле зрения.“) Ivič: Knigi o buduščem,
S. 110.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 435
Fantastik vornehmlich als ein erzählerisches Verfahren, mit dessen Hilfe sich ein anderer Blick sowohl auf die eigene Gegenwart als auch auf eine möglicherweise qualitativ differente Zukunft werfen lässt. Genauso bestimmten sie das Abenteuergenre rein formal als ein Konstruktionsprinzip, um Spannung zu erzeugen und das Leserinteresse zu wecken, wohingegen die Opponenten des „Abenteurertums“ in ihm den ideellen Ausdruck der kapitalistischen Lebensweise sahen, für die in der Sowjetunion kein Platz mehr sein dürfe. So waren die Befürworter der Fantastik, die wissenschaftlich vorausschaut, häufig auch diejenigen, die eine sujetlose wissenschaftlich-künstlerische Prosa ohne die „Schmuggelware“ der Abenteuerhandlung als mögliche Alternative erwogen, während diejenigen, die sich vornehmlich an der Nachfrage nach unterhaltsamen Erzählformen orientierten, die Fantastik als künstlerisches Verfahren zur Konstruktion spektakulärer Erfindungen und das Abenteuer zur Erzeugung von Spannung und Neugier propagierten. Wie unscharf aber diese Differenzen zwischen den unterschiedlichen Positionen waren, zeigt sich daran, dass Ivič in seinen Abenteuern der Erfindung gerade die qualitative Differenz der möglichen Erfindungen der Zukunft zu den Wissenschaften der Gegenwart stark gemacht hatte (was eher durch eine „künstlerische“ Fantastik erreichbar wäre), jetzt aber in den Diskussionen als Verfechter einer rein wissenschaftlichen, möglichst sujetlosen Fantastik auftrat. In seiner Begründung benutzte er die gleichen Argumente, wie sie vor eineinhalb Jahrzehnten Viktor Šklovskij auch angeführt hatte, um die Degeneration des „abgenutzten Verfahrens“ der Abenteuerliteratur zu konstatieren.115 So betrachtete Ivič beispielsweise die amerikanische Science Fiction gegen die von Kirill Andreev vertretene Auffassung als eine „Degradation des Genres“: „Die Degradation ist sehr ernsthaft. Ein bedeutender Teil der Dinge, über die heute Kirill Konstantinovič redete, stellt eine bedingte Fantastik dar, eine Fantastik, die wir schon aus unserer Literatur kennen. All diese Marsianer und Menschen der Zukunft, – das sind alles Pseudonyme, das ist das Verfahren der Verfremdung, ein Verfahren derjenigen Art, wie es L. Tolstoj in seinem ‚Leinwandmesser‘ anwandte, wo der Autor auf die Welt mit den Augen des Pferdes schaut, und hier schaut der Autor mit den Augen der Marsianer auf die zeitgenössische kapitalistische Welt. Das Weitere hängt dann von der Ideologie des Autors ab.“116
Während Ivič diese degradierten Verfahren als „langweilig“ bezeichnet, weswegen man sie auf keinen Fall adaptieren dürfe, fordert Sergej Beljaev im Gegenteil, dass man, genauso wie man jetzt im Kino die amerikanischen Drehbücher auf die sowjetischen Filme umlege, auch in der Wissenschaftlichen Fantastik die amerikanischen Verfahren anwenden müsse. Böten sie doch, so 115
Vgl. Šklovskij: Svjaz priemov sjužetosloženija, S. 51.
116 „Деградация очень серезная. Значительная часть вещей, о которых говорил Кирилл Константинович,
это фантастика условная, того типа, о котором мы уже знаем в нашей литературе. Все эти марсиане и люди будущего, – это просто псевдонимы, это есть прием отстранения, прием того же типа, который применил Л. Толстой в своем ‚Холстомере‘, где автор смотрит на мир глазами лошади, а тут автор смотрит глазами марсиан на современный капиталистический мир. А дaльнейшее завиcит от идеологии автора.“ RGALI f. 630, op. 1, ed. 296, l. 44.
436 | Das Stiefkind der sowjetischen Literatur
Beljaev, ungeahnte künstlerische und wissenschaftliche Möglichkeiten: „Das ist doch eine Büchse der Pandora, – wie diese wissenschaftlichen Sprungfedern arbeiten!“ („Это же ящик Пандоры, – как эти научные пружины действуют!“)117 Genau diese Büchse der Pandora wollten aber die um wissenschaftliche Scharfsicht bemühten Kritiker der Wissenschaftlichen Fantastik auf keinen Fall öffnen. In diesem Konflikt um die richtige Auffassung der Begriffe Abenteuer und Fantastik kam aber letztlich wieder jene tiefer liegende Differenz zum Ausdruck, die schon am Vorabend der Gründung der Sowjetunion Ende 1922 bestanden hatte. Nämlich die Frage, ob man eher eine sujetbetonte Prosa präferierte, wie sie Lev Lunc in seinem provokativem Aufruf Nach Westen! gefordert hatte, oder eher in einer Überwindung des Sujets die Zukunft der Prosa sah, wie es Viktor Šklovskij in seinen zeitgleichen Überlegungen zum Niedergang des Abenteuergenres tat. Dieser Konflikt konnte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zu Ende ausgetragen werden. Das lag auch darin, dass der politische Druck nach dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939–1940 noch einmal erheblich zugenommen hatte, und vor allem auf eine sehr viel stärkere Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen für einen möglichen Krieg zielte. Diesem Ziel versuchte man durch eine erneute Reorganisation der Kommission für Kinderliteratur innerhalb des Schriftstellerverbandes und des Verlages Detizdat nachzukommen. An dieser Arbeit waren an zentraler Stelle Schriftsteller wie Fraerman, Kassil’ und Šklovskij beteiligt, die noch für die Weiterentwicklung der Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik eine wichtige Rolle spielen sollten.118 Diese Umstrukturierungen führten dann im Mai 1941 zu einem Beschluss des ZK der VKP (b), der den Verlag Detizdat wieder zurück in Detgiz umbenannte und ihn unter einer neuen Direktorin, der verdienten Parteiaktivistin und Bildungspolitikerin Ljudmila Viktorovna Dubrovina (1901–1977), erneut direkt dem Narkompros unterordnete.119 Doch all diese Veränderungen hatten vorerst keine unmittelbaren Konsequenzen für die sowjetische Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik, änderte sich doch mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion einen Monat später die Lage noch einmal grundsätzlich.
117
Ebd., l. 52.
118
Vgl. Fateev: Stalinism i detskaja literatura, S. 16.
119
Ebd.
Die Verzauberung der eigenen Welt | 437
11. D er Ka m p f g e g e n d i e B l ocka d e – Der Ab s c h i e d v o n e i n e r so wje t ische n Aben te u e r l i t e r a t u r 1 „Die einen erklären direkt, dass wir das Abenteuergenre nicht brauchen; andere formulieren es nicht ganz so entschieden und machen alle möglichen Ausflüchte und Anmerkungen; und wieder andere schauen zwar gerne Abenteuerfilme und -stücke, um dann aber eilig geringschätzig zu erklären, dass das ja im Übrigen keine Kunst sei...“ Lev Šejnin (1950)1
In der Forschungsliteratur zur Kulturpolitik der Stalinzeit wird allgemein betont, dass die Zeit des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945 eine relative Entdogmatisierung und Pragmatisierung im Vergleich zu den 1930er Jahren bedeutete, da alles den Interessen der Landesverteidigung gegen die deutschen Invasoren untergeordnet wurde. Genauso wie man sich mit der Russischen Orthodoxen Kirche arrangierte, wurden auch bislang unterdrückte oder vernachlässigte populäre Kunstformen geduldet und gefördert, solange sie der Mobilisierung und Motivierung der Soldaten und der Zivilbevölkerung im Krieg dienten.2 Für die wissenschaftlich-fantastische und „heroische“ Abenteuerliteratur bedeutete der deutsche Überfall hingegen vor allem einen Abbruch der Debatten um ein innerhalb des sozialistisch-realistischen Kanons neu zu etablierendes Genre, das zwischen wirklichkeitsnahen Wissenschaftsfantasien und dem Kampf gegen Spione und Diversanten spannende und geheimnisvolle Sujets zu entwickeln suchte. Die „Büchse der Pandora“ ungeahnter Möglichkeiten, von der Sergej Beljaev noch 1941 auf einer internen Diskussion gesprochen hatte, wurde ab dem 22. Juni vorerst wieder geschlossen. Stattdessen gab es nur noch ein Thema: den Großen Vaterländischen Krieg, wie er seit einer Radioansprache Stalins am 3. Juli offiziell genannt wurde. Eine Forcierung des Kriegsthemas hatte sich allerdings schon zuvor abgezeichnet. Bereits vor dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939–1940 war in den Sektionen des Schriftstellerverbandes und in den Kommissionen der Verlage als Hauptaufgabe an die Autoren herangetragen worden, Literatur zu verfassen, die die Leser auf die Verteidigung des Landes vorbereitet, wobei sie nicht nur mit Militärtechnik vertraut gemacht, sondern auch über das praktische Verhalten
1
„Одни прямо заявляют, что приключенческий жанр нам не нужен; другие, не формулируя столь решительно, делают всевозможные оговорки и примечания; третьи охотно смотрят приключенческие фильмы и пьесы, нo затем спешат пренебрежительно заявить, что сие, дескать, не искусство...“ Šejnin,
Lev: O priključenčeskom žanre. Zametki dramaturga, in: Sovestkoe iskusstvo 66 (30.09.1950), S. 3. 2
Vgl. Stites, Richard (Hg.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington 1995.
Der Abschied von einer sowjetischen Abenteuerliteratur | 441
im Ernstfall aufgeklärt werden sollten.3 Auch die großen populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie Technika – molodeži oder Znanie – sila begannen sich 1940 massiv mit Kriegsthemen und Militärtechnik zu beschäftigen. Ab Juni 1941 war der Krieg dann das Hauptthema sämtlicher publizistischer Erzeugnisse, auch wenn man aufgrund der Evakuierung vieler Verlage aus den Westgebieten zeitweilig die Produktion stark zurückfahren musste. Der Verlag Detgiz richtete 1943 die „Kriegsbibliothek des Schülers“ ein („ Военная библиотека школьника“), Molodaja gvardija eröffnete eine ähnliche Buchserie mit der „Kriegsbibliothek des Komsomolzen“ („Военная библиотека комсомольца)“. Die meisten Autoren, die vor dem Krieg wissenschaftlich-fantastische und Abenteuergeschichten geschrieben hatten, waren als Kriegskorrespondenten, Reporter, Soldaten oder in ihren sonstigen Berufen an die Front gegangen, so dass in den Jahren 1942 bis 1945 so gut wie keine Texte mehr im Bereich der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik erschienen. Die wenigen neuen Werke, die noch publiziert wurden, waren meist kürzere Texte wie Erzählungen, wobei fast ausnahmslos die Handlung in der Gegenwart des Zweiten Weltkriegs spielte. Gleichzeitig bot der Krieg aber für die Abenteuerliteratur auch ungeahnte Möglichkeiten, und zwar nicht nur in thematischer, sondern auch in formaler Hinsicht. Da mit Hilfe der Künste die eigenen Soldaten im Krieg motiviert werden sollten, wurden ideologische Vorbehalte gegenüber bislang als „dekadent“ apostrophierten Gattungen und Stilen zurückgestellt. So begann man im Schriftstellerverband nicht nur alte „Boulevardformen“ des Pinkertontums neu auszugraben, sondern man orientierte sich auch intensiv an den zeitgenössischen Erfolgen der Massenliteratur, insbesondere in den kriegsalliierten USA, in denen sich inzwischen so genannte Pulp-Magazine wie Amazing Stories, Dime Detective, Thrilling Horror Stories oder Weird Tales zur beliebtesten Lektüre des Landes entwickelt hatten mit bis zu einer Million Exemplaren Auflage pro Ausgabe.4 Zwar ließ sich diese „Schundliteratur“ nicht einfach adaptieren, aber man versuchte intern doch die „nützlichen“ Aspekte für die anti-deutsche Propaganda zu isolieren, wobei der Krieg ähnlich wie Anfang der 1920er Jahre der Bürgerkrieg zum entscheidenden Themenfeld für die intendierte Neuausrichtung des Genres wurde. Waren es doch nicht nur die Diversanten und Spione im eigenen Land, die es zu enttarnen galt, der Krieg öffnete auch den Blick ins feindliche Hinterland, in dem sowjetische Agenten und Aufklärer die geheimen Pläne und Rüstungsfabriken des Gegners auskundschaften und dessen Angriffsfähigkeit untergraben konnten. Auch wenn es den Terminus noch nicht gab – der Zweite Weltkrieg stellte für die sowjetische Abenteuerliteratur die Geburt des Spionageromans dar, in dem sich nicht mehr nur gegnerische Eindringlinge und Verräter gegen die ehrlich und offen agierenden Sowjetbürger verschworen, sondern ein positiver Held selber zu Techniken der Verkleidung, Verstellung und des Betrugs greifen konnte. Die in den dreißiger Jahren durchweg verpönte Maskerade, die nur noch als poetisch-fantastische Karnevalisierung der Anderen vorkam, wurde wie in den Bürgerkriegsaben3
Vgl. Ivanter, B.: Voennoe vospitanie, in: Detskaja literatura 9 (1939), S. 1–5.
4
Vgl. Rzepka, Charles J.: Detective Fiction (Cultural History of Literature), Cambridge/Malden, MA 2005, S. 179ff.; Luckhorst: Science Fiction, S. 64ff.
442 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
teuern der Roten Teufelchen oder Makar des Pfadfinders zu einer legitimen Vorgehensweise der eigenen Helden.5 Gleichzeitig bot diese Entdeckung staatlicher Ermittlungs- und Aufklärungsinstitutionen als zentrales Themenfeld und die zumindest etwas tolerantere Haltung gegenüber amerikanischen Erzählformen aber auch die Möglichkeit, eine ganz neue Richtung der Abenteuerliteratur zu etablieren, die die vor dem Krieg vorgenommene „Kanonisierung“ des spannenden Sujets als formale Grundlage des Genres noch deutlicher akzentuierte: und zwar die Detektivgeschichte. Während vor dem Krieg entsprechende Ansätze, die Ermittlungsmethoden der staatlichen Miliz- und Aufklärungsapparate zum Kern des Abenteuersujets zu machen, noch als Geheimnisverrat weitgehend unterdrückt wurden, nahm man noch vor Kriegsende im Frühjahr 1945 einen erneuten Anlauf, indem man im Schriftstellerverband versuchte, eine eigenständige „Sektion für Abenteuerliteratur“ zu gründen, die es sich ausdrücklich zum Ziel machte, einen sowjetischen Kriminalroman innerhalb des Abenteuergenres zu etablieren.6 Zu deren maßgeblichen Unterstützern gehörte der ehemalige Untersuchungsrichter Lev Šejnin, der neben Andrej Vyšinskij als der eigentliche Dramaturg der Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938 gilt und der sich als leidenschaftlicher Anhänger von amerikanischen Kriminalromanen offenbarte. Neben ihm machte sich vor allem Mariėtta Šaginjan für diese Neuausrichtung stark, die seit ihrer Mess Mend-Serie vor mehr als zwanzig Jahren nichts mehr in dem Genre publiziert hatte und sich inzwischen durch ihre „Romanchronik“ über Lenins Familie 1938 bei der politischen Führung unbeliebt gemacht hatte (Abschnitt 11.1. Imaginisten und Staatsanwälte). Konzeptionell war es vor allem Šaginjan, die versuchte, dem neu zu schaffenden Genre einen literaturgeschichtlichen und -theoretischen Rahmen zu geben, wobei sie ihre Ausführungen im expliziten Widerspruch zu Šklovskijs Überlegungen zum „Roman der Geheimnisse“ formulierte (Abschnitt 11.2. Sherlock Holmes als Untersuchungsrichter). Dieser Neuanfang wurde zwar in der Siegeseuphorie der un5
So war es kein Zufall, dass der noch 1935 als ein konterrevolutionäres Werk verbotene Film Rote Teufelchen 1943 mit einer Tonspur versehen wieder in die Kinos kam. Zum Verbot 1935 vgl. F., V.: Neustanno krepit’ revoljucionnuju bditel’nost’, in: Kino (04.04.1935), S. o. A. Zur Wiederaufnahme des mit einer Tonspur versehenen Films, vgl. Abschnitt 2.2 dieses Buches; In der seit August 1941 monatlich erscheinenden, für die Kriegspropaganda zentralen „Sammlung an Kriegsfilmen“ (Боевой киносборник) erschien in der zwölften Folge vom August 1942 auch der Kurzfilm Van’ka (Ванька) über die beiden Kinder Van’ka und Tan’ka, die in expliziter Anlehnung an ihre Vorbilder aus den Roten Teufelchen „Teufeleien“ im Hinterland der Deutschen begehen und so zu einer entscheidenden Niederlage beitragen. Vgl. Film Van’ka, Reg. Gerbert Rappoport, COKS, SSSR 1942. Igor’ Vsevoložskij veröffentlicht noch 1946 den Kurzroman Die Höhle des Kapitän Nemo (Пещера капитана Немо), in der die jugendlichen Helden in der Nähe von Sewastopol auf der Krim einen Partisanenkampf gegen die Deutschen organisieren, wobei sich deren Anführer „Kapitän Nemo“ nennt und die „Stechfliege“ aus Ethel Voynichs Roman als großes Vorbild dient, vgl. Vsevoložskij, Igor’: Peščera kapitana Nemo. Povest’, Moskva/Leningrad 1946, S. 5ff., 17ff.
6
Norbert Franz erfasst beispielsweise in seiner Studie zum russisch-sowjetischen Krimi diese vergessene Periode von 1945 bis 1953 überhaupt nicht, sondern geht nur kurz auf das Verschwinden des Genres 1934 in der „krimilosen Zeit“ unter Stalin ein, ehe er mit der Nachstalinzeit wieder einsetzt. Vgl. Franz: Moskauer Mordgeschichten, S. 78ff.
Der Abschied von einer sowjetischen Abenteuerliteratur | 443
mittelbaren Nachkriegszeit enthusiastisch aufgenommen, war aber mit der vom Politbüromitglied und Vorsitzenden des Obersten Sowjet, Andrej Ždanov, im August 1946 eingeleiteten literaturpolitischen Wende recht bald wieder beendet. So konnten neben den schon im Krieg publizierten Werken nur noch wenige Abenteuergeschichten nach dem Krieg erscheinen, ehe der Begriff Abenteuer spätestens ab Anfang 1947 generell verworfen wurde. Erst ab Anfang der fünfziger Jahre konnte diese von Šaginjan und Šejnin angedachte Mischung aus Spionage, Abenteuer und Detektiv als „Kriegsabenteuer“ wieder sehr limitiert in die Debatte eingeführt werden, wobei bezeichnenderweise erneut das Medium Film den Katalysator bildete (11.3. Superagenten und Wunderwaffen). Ihren eigentlichen Triumphzug sollte diese Genrekonzeption dann erst ab der Tauwetterzeit in Film und Literatur feiern, die sich in zwei Richtungen aufspaltete: in die von Šaginjan und Šejnin präferierte eines sowjetischen Detektivs, in dem die staatlichen Ermittlungsbehörden gegen die letzten Mohikaner adligen, bourgeoisen oder ausländischen Einzelgängertums vorgingen, und in ein zweites der Kriegsabenteuer, die wesentlich durch ihre Spionage- und Subversionsgeschichten zum Mythos des Großen Vaterländischen Krieges in der späten Sowjetunion beitrugen.
11.1 Im aginis ten und Sta a ts a nw ä lte – D a s ve r g e b li c h e Bem ü hen um e ine eig e ns tän d i g e S e kti o n 7 „In meiner Hauptarbeit kommt es nicht selten vor, dass ich mit jungen Ermittlern zusammenarbeite, die gerade erst am Anfang dieses schweren und verantwortungsvollen Berufs stehen. Und jedes Mal, wenn ich Ihnen die Taktik des Verhörs erkläre, empfehle ich ihnen als erstes die genialen Seiten aus ‚Verbrechen und Strafen‘ anzuschauen und über die Taktik des Verhörs nachzudenken, die der Ermittler Porfirij Petrovič – ein Kenner und Meister seines Faches – gegenüber Raskol’nikov anwendet.“ Lev Šejnin (1945)7
Wenige Wochen vor Kriegsende, im April 1945, brachte Marietta Šaginjan als Mitglied des erweiterten Leitungsplenums des Sowjetischen Schriftstellerverbandes8 auf dessen Präsidiumssit7 „По своей основной работе мне нередко приходится заниматься с молодыми следователями, только
начинающими это сложное и ответственное дело. И каждый раз, когда мне приходится переходить к тактике допроса, я прежде всего рекомендую им вчитаться в гениальные страницы ‚Преступление и наказания’ и вдуматься в тактику допроса, который учиняет Раскольникову следователь Порфирий Петрович, знаток и мастер своего дела.“ Šejnin, Lev: O sovetskom detektive, in: Literaturnaja gazeta 25
(09.06.1945), S. 3. 8
Vgl. RGASPI f. 17, op. 125, ed. 278, l. 2 (Central’nyj komitet VKP (b), Upravlenie propagandy i agitacii: Spisok učastnikov rasširennogo plenuma pravlenija SSP, Proekt postanovlenija CK VKP (b) o sostave
444 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
zung einen Antrag zur Gründung einer eigenständigen Sektion für Abenteuerliteratur ein. Diesem Antrag stimmte man unter Vorbehalten zu: „Eine Gruppe an Genossen, leidenschaftliche Anhänger des Abenteuergenres, kam ebenfalls ins Präsidium mit dem Vorschlag ihnen zu erlauben, für jede Art von Treffen und Diskussionen zu dieser Frage eine Sektion für die Abenteuererzählung zu gründen. Wir haben Meinungen ausgetauscht und folgenden Beschluss gefasst: Weil es eine solche Literatur im Großen bislang nicht gibt, wird eine Sektion vorerst nach der eingebürgerten Mode gegründet, doch noch nicht in sehr konkreter Gestalt.“9
Aufgrund dieser Vorbehalte schlug man die Schaffung einer „Arbeitsgruppe“ ( творческая группа) vor, die unter Vorsitz des prominenten Untersuchungsrichters für Kriminalverbrechen, Lev Romanovič Šejnin, mögliche Autoren des Bereichs versammelt und aktuelle Fragen diskutiert.10 Schon eineinhalb Monate später traf sich die „Kommission des Abenteuergenres“ des Schriftstellerverbandes zu ihrer ersten thematischen Sitzung, um sich der Neudefinition des Detektivgenres als eines zentralen Gebiets der Abenteuerliteratur zu widmen.11 Von nun an versammelte man sich in unregelmäßigen Abständen, wobei es zum einen um eine Abgrenzung des Genres von der Wissenschaftlichen Fantastik und der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur ging und zum anderem um eine Neuausrichtung mit Hilfe des Detektivs im Kontext der sozialistischen Gesellschaft.12 Doch hatte die Kommission nicht nur innerhalb des Schriftstellerverbandes, sondern auch bei den Verlagen und in den Zeitschriften, bei den politischen und staatlichen Kontrollinstanzen mit massivem Widerstand gegen diese Neuausrichtung zu kämpfen, so dass die Autoren kaum Publikationen vorweisen konnten. plenuma pravlenija Sojuza sotvetskich pisatelej; Spisok učastnikov rasširennogo plenuma i tezisy doklada N. S. Tichonova na plenume „Sovetskaja literatura v dni Otečestvennoj vojny“. Nač. Janvar’ 1944g. Okončeno Fevral’ 1944 g.). 9 „Группа товарищей, страстных поборников приключенческого жанра, также вошла в Президиум с
предложением для всяких встреч и дискуссий по этому вопросу разрешить организовать им секцию приключенческого рассказа. Мы обменялись мнениями и решили внести такое предложение: поскольку такой литературы еще в широком плане нет, то создание секции будeт пока по сложившейся уже моде, но не очень конкретным делом.“ RGALI f. 631, op. 15, ed. 728, l. 111 (Pravlenie
Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat SSP: Stenogramma zasedanija Prezidiuma SSP po voprosam „Literaturovedenija“ i o „tvorčeskich sekcijach” ot 6 aprelja 1945 g.). 10
Ebd., l. 112.
11
RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203 (Rojzman, Matvej Davidovič: Stenogramma zasedanija komissii priključenčeskogo žanra SP SSSR, posvjaščennogo probleme detektivnogo žanra pod predsedatel’estvom L. R. Šejnina. Imejušeja vystuplenija M. S. Šaginjan, V. F. Šklovskogo i dr. Mašinopis’, 31 maja 1945 g.).
12
Vgl. RGALI f. 2809, op. 1, ed. 204 (Rojzman, Matvej Davidovič: Steongramma zasedanija komissii prključenčestogo žanra SP SSSR; posvjaščennogo probleme dedektivnogo žanra pod predsedatel’stvom L. R. Šejnina, imejuščaja vystuplenija L. I. Lagina, L. Z. Trauberga, S. M. Ėjzenštejna i dr., 18 ijunja 1945 g.).
Der Abschied von einer sowjetischen Abenteuerliteratur | 445
So existierte die Kommission als vorläufige Arbeitsgruppe ohne eigenes Budget insbesondere dank des persönlichen Einsatzes einiger weniger „leidenschaftlicher Verfechter des Abenteuergenres“ noch einige Jahre weiter, doch als Šejnin aufgrund von Gesundheitsproblemen im Juni 1949 seinen Rücktritt vom Vorsitz der Kommission einreichte, bedeutete das faktisch ihr Ende.13 Anfang 1950 versuchte der Sekretär der Sektion, Matvej Rojzman, mit allen Mitteln auf einen Beschluss des Sekretariats des Schriftstellerverbandes hinzuwirken, der ein Fortbestehen der Kommission als eigenständige Sektion sichern sollte.14 Er fand hiermit aber keinerlei Rückhalt mehr, und so wurde im Februar 1950 vom Sekretariat des Verbandes beschlossen, dass die Schriftsteller, die im Abenteuergenre arbeiten, sich in die Sektion der Prosaschriftsteller eingliedern sollten,15 da man sie in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur nicht haben wollte.16 Und doch markierte diese in der Geschichte des Schriftstellerverbandes marginale Episode für die sowjetische Abenteuerliteratur eine entscheidende Zäsur: Bedeutete sie doch literaturgeschichtlich zum einen das definitive Ende des Projekts, eine eigenständige sowjetische Abenteuerliteratur durchzusetzen, das in den Bürgerkriegsromanen und „kommunistischen Pinkertons“ seinen Anfang genommen hatte. Gleichzeitig aber bereitete diese Kommission aber auch die konzeptionelle Basis für eine Neukonstituierung des Detektivs und des Kriegsabenteuers vor, die sich nach dem Ende der Stalinzeit zu eigenen Genres ausdifferenzierten und zu überaus populären Film- und Literaturgattungen werden sollten. Auf einer anderen, personellen und strukturellen Ebene zeigte die Zusammensetzung dieser Kommission aber auch, wie wenig gefestigt der sowjetische Literaturbetrieb etwas mehr als zehn Jahre nach der Gründung des Schriftstellerverbandes noch war und wie umkämpft im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur die literarische Praxis ungeachtet der Kanonisierung des Sozialistischen Realismus weiterhin blieb. Dies lässt sich am deutlichsten anhand der Haupt-Initiatoren der Kommission für Abenteuerliteratur, Mariėtta Šaginjan, Matvej Rojzman und Lev Šejnin zeigen. So hatte Marietta Šaginjan nach ihrer dreiteiligen Mess Mend‑Serie (1924–1925) eine recht erfolgreiche, aber auch eigenwillige Karriere als aktives Parteimitglied zurückgelegt.17 Mit ihrem 13
Vgl. RGALI f. 2809, op. 1, ed. 193 (Rojzman, Matvej Davidovič: Pis’ma Šejnina L’va Romanoviča v bjuro sekcii priključenčeskogo žanra i v radiokomissii s pros’boj osvobodit’ ego ot objazannostej predsedatelja bjuro sekcii i s soglasiem dat’ vstupitel’nuju stat’ju).
14
Vgl. RGALI f. 2809, op. 1, ed. 174 (Rojzman, Matvej Davidovič; Proekt postanovlenija sekretariata SP SSSR o sostojanii naučno-fantastičeskoj i priključenčeskoj literatury i zapiska k proektu. Mašinopis’ s pravkoj i vstavkami M. D. Rojzmana, Ne ranee 1949 goda).
15
RGALI, f. 631, op. 15, ed. 1054, l. 5 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat SSP: Protokol N 17, Zasedanija Sekretariata SSP SSSR s materialami i stenogrammoj ot 20 fevralja 1950 g.).
16
RGALI, f. 631, op. 22, ed. 32, l. 3, 41 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Stenogramma otčetno-vybornogo sobranija sekcii naučno-chudožestvennoj literatury. Doklad N. N. Michajlova o rabote sekcii. Prenija po dokladu. 24 fevralja 1950 g.).
17
Zu den biographischen Angaben des Weiteren vgl. Vachitova, T. M.: Šaginjan Mariėtta Sergeevna, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 3, Moskva 2005, S. 671–674.
446 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Produktionsroman Die Hydrozentrale (Гидроцентраль, 1930) über den Bau des ersten Wasserkraftwerks Armeniens hatte sie sich sogar die persönliche Protektion Stalins verdient.18 Anschließend nahm sie ein Studium der Planwirtschaft, der Spinn- und Webetechnik sowie der Energetik auf, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass 1935 in einer Werksausgabe alle drei Bände ihres Mess Mend-Zyklus unbearbeitet aufgenommen wurden und dessen letzte Folge Der Weg nach Bagdad (Дорога в Багдад) sogar noch einmal separat in der auflagenstarken Zeitschrift des Komsomol Molodaja gvardija erschien, obwohl ansonsten in jenen Jahren nirgends mehr „kommunistische Pinkertons“ publiziert werden konnten.19 Als Agitatorin, Publizistin und Pravda-Autorin lag sie in ihren öffentlichen Auftritten ganz auf Parteilinie, stieß aber beispielsweise innerhalb des Schriftstellerverbandes mit interner Kritik immer wieder auf energischen Widerspruch.20 Ihre Romanchronik Die Familie Ul’janov (Семья Ульяновых, 1938) über die Familie Lenins, die sie ohne Absprache der Parteiführung mit Unterstützung von Krupskaja publiziert hatte, wurde umgehend verboten. Während des Krieges arbeitete sie als Publizistin im Ural und schloss 1944 eine Doktorarbeit über den ukrainischen Dichter Taras Ševčenko ab, die ihr die Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der armenischen Akademie der Wissenschaften einbrachte. Regelmäßig publizierte sie Reportagen von ihren Reisen durch die Sowjetunion und ins kapitalistische Ausland, zog aber auf Parteiversammlungen auch immer wieder massiven Widerspruch auf sich, da sie intern Missstände und Fehlentwicklungen deutlich kritisierte.21 Ihr erneutes Engagement für die Abenteuerliteratur ging unter anderem auf Matvej Rojzman zurück, der spätestens 1943 mit ihr diesbezüglich Kontakt aufnahm.22
18
In dem Roman ist anfangs auch ein Verdacht auf Spionage angelegt, so dass GPU-Agenten die Fährte aufnehmen, die Spur stellt sich allerdings als Irrtum heraus. Šaginjan hat diese pseudo-abenteuerliche Sujetlinie in Kommentaren zum Roman als bewussten Abschied vom Genre des Abenteuers bezeichnet, das sich mit dem Aufbau des Sozialismus erledigt habe, vgl. Britikov, Anatolij: Detektivnyj žanr, in: Kovalev, Valentin (Hg.): Tvorčestvo Mariėtty Šaginjan. Sbornik statej, Leningrad 1980, S. 95–108, S. 106f.
19
Vgl. Šaginjan: Doroga v Bagdad; Dies.: Mess-Mend. Roman-trilogija. in: Dies.: Sobranie sočinenij 1905– 1933, Moskva 1935, Bd. 3, S. 105–374 (Teil 1), Bd. 4, S. 5–411 (Teil 2 u. 3).
20
So drohte sie 1936 sogar mit Austritt aus dem Schriftstellerverband aufgrund der von ihr angeprangerten Missstände, was man mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 67, l. 1–15 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat SSP: Protokol N 2. i stenogramma zasedanija prezidiuma SSP po voprosu: Zajavlenie M. Šaginjan i dr. voprosy 1936 g. 27 fev. 1936 g.).
21
So zog sie sich 1945 eine Rüge wegen „schädlichen“ und „antiparteilichen“ Verhaltens zu, als sie die katastrophale Versorgungslage im Ural angesprochen hatte, während Offiziere und Parteikader es sich dort gut gehen ließen, vgl. RGASPI, f. 17, op. 125, ed. 310, l. 28–32 (Central’nyj komitet VKP (b), Upravlenie propagandy i agitacii: Zapiski i spravki Upravlenija propagandy i agitacii CK VKP (b) i ego otdelov, dokladnye zapiski, pis’ma, informacii, telegrammy, Nač. janv. 1945 Oko. dek. 1945 g.).
22
Vgl. Vgl. RGALI f. 2809, op. 1, ed. 147 (Rojzman, Matvej Davidovič; Pis’ma Šaginjan Martiėtty Sergeevny Rojzmanu M. D., 3 avg. 1943 g., 15 sept. 1946 g.).
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Matvej Davidovič Rojzman (1896–1975) wiederum kam aus einer strenggläubigen jüdischen Handwerkerfamilie und beendete 1915 sein Jurastudium.23 Nach der Revolution vollzog er einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und schloss schnell zum inneren Kreis der Partei der Bolschewiki auf. Seit 1918 war er mit Geheimaufträgen für die Rote Armee, die Parteileitung und die sowjetische Regierung betraut, begann aber im gleichen Jahr auch erste Gedichte zu veröffentlichen. Nach einer Bekanntschaft mit Sergej Esenin 1919 zog er sich aus der Parteiarbeit zeitweilig zurück, wurde 1920 Sekretär von dessen Verband der Freidenker (Ассоциация вольнодумцев) und Sekretariatsmitglied des Ordens der Imaginisten, dem er bis 1926 angehörte und an dessen Publikationen er unter anderem mit mehreren Gedichtbänden mitwirkte. Mitte der 1920er Jahre begann er dann Prosa zu schreiben und engagierte sich aktiv in den antireligiösen Kampagnen der Partei, wobei er in seinen Romanen und publizistischen Schriften sowohl gegen das „bourgeoise Judentum“ und für die Umerziehung der jüdischen Arbeiterbevölkerung als auch gegen den Antisemitismus in der Parteibürokratie agitierte. Mitte der 1930er Jahre verabschiedete Rojzman sich dann von der jüdischen Thematik und wandte sich der Arbeit der sowjetischen Miliz, insbesondere der Kriminalitätsbekämpfung zu. Auf Grundlage dieser Recherchen entsteht sein Buch Freunde, die ihr Leben riskieren (Друзья, рискующие жизнью), das er 1943 während des Krieges in der Evakuation in Sverdlovsk beim Verlag Politizdat unterbringen konnte, welches aber bis 1956 die einzige Publikation überhaupt bleiben sollte. Denn ungeachtet seiner guten Verbindungen zu verschiedenen Parteileuten bestand weder seitens der zuständigen staatlichen Behörden noch seitens der politischen Führung ein Interesse daran, die zeitgenössische Verbrechensbekämpfung in der Öffentlichkeit zu thematisieren.24 Galt Kriminalität doch generell als ein Relikt vergangener Zeiten, die in der sowjetischen Wirklichkeit der Nachkriegszeit keinen Platz hatte und die in der offiziellen Terminologie nur durch zurückgebliebene und ausländische Elemente noch stattfand. Diese Tabuisierung der Milizarbeit als eigenständiges Thema der Abenteuerliteratur in der Nachkriegszeit konnte auch deren prominentester literarischer Vertreter, Lev Romanovič Šejnin (1906–1967) nicht verhindern. Šejnin war nach einer Kindheit im Witebsker Gouvernement schon 1919 dem Komsomol beigetreten, absolvierte 1921–1923 ein Literaturstudium am Höheren künstlerisch-literarischen Institut V. Ja. Brjusov in Moskau, ehe er im Auftrag des Komsomol begann, in der Staatsanwaltschaft der UdSSR an der Entwicklung eines Lügendetektors mit
23
Zu Rojzmans Biografie vgl. des Weiteren RGALI f. 2809, op. 1, l. 1 (Rojzman, Matvej Davidovič [1896–1975] – pisatel’); [Red.]: Rojzman Matvej, in: Obščestvo po issledovaniju evrejskich obščin (Hg.): Kratkaja evrejskaja ėnciklopedija, Bd. 7, Ierusalim 1994, S. 268–269.
24
Vgl. RGALI f. 2809, op. 1, ed. 218 (Rojzman, Matvej Davidovič: L. A. Kassil’, Ch. M. Muguev, L. V. Nikulin, F. I. Panferov, M. S. Šaginjan i dr. Otzyvy, recenzii, stat’ i o proizvedenijach M. D. Romana. Avtograf, avtorizirovannaja mašinopis’, mašinopis’, mašinopisnaja kopija, vyrezki iz gazet, 29 maja 1950 g. – 4. dek. 1959 g.); Ebd., ed. 174, l. 6f.
448 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
zu arbeiten.25 Nach einem Zweitstudium an der Juristischen Fakultät der MGU machte er ab 1927 eine steile Karriere vom einfachen Untersuchungsrichter des Leningrader Gebietsgerichts zum Untersuchungsrichter für besondere Angelegenheiten bei der Staatsanwaltschaft der UdSSR 1931. Ab 1928 begann er seine ersten Erzählungen aus dem später so genannten Zyklus Aufzeichnungen eines Untersuchungsrichters (Записки следователя) zu publizieren, die 1930 erstmals unter dem Titel Erzählungen eines Untersuchungsrichters (Рассказы следователя) als Buch erschienen. Diese vor allem in den Tageszeitungen Izvestija und Pravda, aber auch in verschiedenen Zeitschriften erstveröffentlichten Erzählungen waren in den ersten Jahren noch stilistisch und motivisch deutlich an Isaak Babel’s Odessaer Erzählungen (Одесские рассказы, 1921–1924) über den Verbrecherkönig Benja Krik orientiert, verlagerten aber die Geschichten über charismatische Ganoven in das Leningrad und Moskau der NÖP-Jahre, wo elegant gekleidete Gentlemanverbrecher, „gesetzestreue Diebe“ (воры в законе) und ins Milieu der Halbwelt abgetauchte femmes fatales ihr Glück versuchen.26 Doch auch wenn bei Šejnin eine ähnliche Faszination für den Glamour und die Dekadenz halb- und illegaler Etablissements zu erkennen ist, geht es bei ihm im Unterschied zu Babel’ durch die Perspektivierung aus der Sicht des Untersuchungsrichters sehr viel deutlicher auch um eine Entzauberung dieser im Aussterben begriffenen Welt. Nicht nur die Brutalität des Umgangs, auch der harte Überlebenskampf in der Illegalität und die Unausweichlichkeit der Gefangennahme und Haftstrafe im Lager sind hier ständig präsent. Und so heißt denn auch eine 1936 veröffentlichte Erzählung Der Letzte der Mohikaner (Последний из Могикан, 1936), die von einem „Vertreter des aussterbenden Stamms der ‚Puppenspieler‘, Falschspieler und professionellen Betrüger“ („представитель вымирающего племени ‚кукольников‘, шулеров и мошенников-профессионалов“) mit dem charakteristischen Nachnamen Inozemcev (dt. „Fremdländer“) handelt, der unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen der 1930er Jahre seines Handwerks überdrüssig geworden ist.27 Im Jahr 1929 trat Šejnin der Partei bei, 1931 schrieb er ein Lehrbuch über Kriminalistik und wurde 1934 dann zusammen mit dem Generalstaatsanwalt der RSFSR, Andrej Januar’evič Vyšinskij (1883–1954), mit der Anklageschrift betreffs der Ermordung Kirovs beauftragt. Schon ein Jahr später arbeitet er als Vorsitzender der Untersuchungsorgane der Staatsanwaltschaft der UdSSR ebenfalls zusammen mit Vyšinskij – der unterdessen zum Generalstaatsanwalt der UdSSR aufgestiegen war – die Anklageschrift im Schauprozess gegen Kamenev, Zinov’ev und
25
Zu den biographischen Angaben über Šejnin des Weiteren, vgl.: Šejnin, Lev: Rasskaz o sebe, in: Ders.: Zapiski sledovatelja, Moskva 1979, S. 3–18; Pervencev, Arkadij: O L’ve Romanoviče Šejnine, in: Šejnin, Lev: P’esy, Moskva 1969, S. 3–7; Kazakov, N.: Lev Romanovič Šejnin. Kto on?, in: Virtual’nyj Veliž, http://www.velizh.ru/info.php?id=auth_stat15 (01.07.2008).
26
So zum Beispiel die in sein erstes Buch aufgenommenen Erzählungen Rache (Месть, 1928), Pater Ambrosius (Отец Амбросий, 1829), Neujahrsnacht (Новогодняя ночь, 1929) oder Die Generalsgattin Apostolova (Генеральша Апостолова, 1930), vgl. Šejnin, Lev: Zapiski sledovatelja, Moskva 1979, S. 21–47.
27
Šejnin, Lev: Poslednij iz Mogikan (1936), in: Ebd., S. 72–76.
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andere aus. 1936 fällt er jedoch selber einer Denunziation zum Opfer, wird verhaftet und zu Lagerhaft verbannt, kommt aber nach wenigen Monaten wieder frei und kann bis Ende 1949 weiter als Untersuchungsrichter bei der Staatsanwaltschaft arbeiten. Šejnin gilt als der eigentliche Dramaturg der Schauprozesse der Jahre 1936–1938, der in enger Zusammenarbeit mit Vyšinskij die Anklageschriften formulierte und die Prozesse inszenierte.28 Parallel arbeitete Šejnin weiter als Schriftsteller und ist Koautor zusammen mit den TurBrüdern (Pseudonym von Leonid Davydovič Tubel’skij (1905–1961) und Petr L’vovič Ryžej (1908–1978)) eines der erfolgreichsten Theaterstücke der 1930er Jahre, Die Gegenüberstellung (Очная ставка), das 1937 landesweit in die Theater kam und 1939 auch von dem relativ jungen Regisseur Aleksandr Veniaminovič Mačeret (1896–1979) unter dem Titel Der Fehler des Ingenieurs Kočin (Ошибка инженера Кочина) in prominenter Besetzung verfilmt wurde.29 Das Stück nimmt das in jenen Jahren populäre Thema der Industriespionage durch ausländische Agenten auf, die versuchen, an die militärisch und industriell relevanten Erfindungen sowjetischer Ingenieure zu kommen.30 Auch die Erzählungen aus dem Zyklus Aufzeichnungen eine Untersuchungsrichters änderten jetzt ihren Tonfall, die Verbrecherromantik verschwindet fast vollkommen und an deren Stelle wird im Stile der Reportage davon berichtet, wie die organisierten Verbrecherkreise massenweise beginnen sich freiwillig selbst zu stellen.31 Gleichzeitig wird Ende der 1930er Jahre der Fokus verstärkt auf die Rechtsstaatlichkeit und die Notwendigkeit nicht nur formaljuristisch korrekter, sondern auch psychologisch einfühlsamer und menschlich nachvollziehbarer Ermittlungsergebnisse gelenkt, wie beispielsweise in der Erzählung Justizirrtum (Судебная ошибка, 1941), eine Perspektivierung, die nicht nur eine mittelbare Reaktion auf die Schauprozesse und den Großen Terror erkennen lässt, sondern auch im größeren Kontext der schon angesprochenen Neuaus-
28
Vgl. hierzu auch Vaksberg, Arkady: Stalin’s Prosecutor. The Life of Andrei Vyshinsky, New York 1991, S. 66– 69, 74f.
29
Zu den Theaterstücken von den Tur-Brüdern und Šejnin, vgl. Bruštejn, A.: Priključenčeskaja p’esa, in: Teatr 3–4 (1945), S. 29–34.
30
Darsteller des Films sind unter anderem Nikolaj Dorochin, Ljubov’ Orlova und Michail Žarov, der von manchen Kritikern als der erste sowjetische Spionage-Detektivfilm bezeichnet wird. Vgl. Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times, Oxford 1999, S. 203; Mačeret (Hg.): Sovetskie chudožestvennye fil’my, Bd. 2, S. 204–205; Film Ošibka inženera Kočina, Reg. Aleksandr Mačeret, Mosfil’m, SSSR 1939.
31
Nachdem Šejnin am 16. März 1937 in den Izvestija den Bericht Sich selbst gestellt (Явка с повинной) veröffentlicht hatte, der davon erzählt, dass die Tageschronik „immer häufiger“ lakonisch von Menschen berichte, die „mit einem freiwilligen Geständnis zur Miliz kommen“ (Все чаще хроника происшествий лаконически повествует о людях, добровольно являющихся в милицию с повинной), publiziert er noch zwei weitere Erzählungen, die von einem regelrechten Ansturm von Menschen berichten, die mit ihrer kriminellen Vergangenheit brechen wollen. Vgl.: Šejnin, Lev: Javka s povinnoj; Razgovor na čistotu; Krepkoe rukopožatie (1937), in: Ders.: Zapiski sledovatelja, S. 89–106.
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richtung der Abenteuerliteratur zu sehen ist.32 So wie sich mit dem Konzept einer „wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur“ neue Perspektiven populären Erzählens eröffneten, bekam nach der Ernennung Lavrentij Pavlovič Berijas (1899–1953) Ende 1938 zum Volkskommissar des Inneren auch die Kriminalgeschichte als Legitimationsnarration staatlicher Ermittlungsorgane eine neue Chance. Prominentester Vertreter dieser Umorientierung war der ehemalige RAPP-Schriftsteller Lev Ovalov (Pseud. von Lev Sergeevič Šapovalov (1905–1997), der in jenen Jahren Chefredakteur von Molodaja gvardija und Vokrug sveta war.33 Er begann seit 1939 im Auftrag des NKVD seine Erzählungen über Major Pronin zunächst in Vokrug sveta und dann auch in anderen Zeitschriften zu veröffentlichen, die 1941 dank der Unterstützung des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten, Vjačeslav Michajlovič Molotov (1890–1986), auch in der Bibliothek des Rotarmisten in Buchform und in der Literaturzeitschrift Znamja erscheinen konnten.34 Diese Erzählungen waren in der Konzeption und Figurencharakteristik deutlich an Conan Doyles Sherlock Holmes orientiert, nur dass diesmal nicht ein britischer Privatdetektiv mit seinem Partner Dr. Watson die Ermittlungen leitete, sondern ein sowjetischer Tschekist mit seinem jungen Helfer Viktor sich mit der Spionageabwehr befasste. Allerdings stießen die Erzählungen Major Pronins (Рассказы майора Пронина) bald an die Grenzen der politischen Zensur, wurde Ovalov doch aufgrund seines ersten Romans über Major Pronin, Der himmelblaue Engel (Голубой ангел), der Anfang 1941 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Ogonek (dt. Das Flämmchen) erschien, kurz nach dem deutschen Überfall verhaftet und wegen Verrat der Methoden der Spionageabwehr zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt.35 Während des Krieges wendet sich auch Lev Šejnin intensiver dem Schreiben zu und veröffentlicht schon 1943 den ersten Teil seiner Romantrilogie Kriegsgeheimnis (Военная тайна), der das Thema der Gegenüberstellung noch einmal aufnimmt und ausführlich die deutsche Spionagetätigkeit auf der Suche nach den Konstruktionsplänen einer neuen sowjetischen „Wunderwaffe“ beschreibt, in der unschwer der Raketenwerfer Katjuscha zu erkennen ist.36 1944 erscheint der Kurzroman Von Angesicht zu Angesicht (Лицом к лицу), und Šejnin schreibt zusammen mit den Tur-Brüdern ein weiteres Drehbuch, Das Duell (Поединок), dessen Verfilmung 1945 zu einem der erfolgreichsten sowjetischen Filme des Jahres wird. Nachdem er 1945 in den Nürnberger Prozessen bei der Anklage mitgearbeitet hatte, ist er dann 1949 nochmals mit den 32
Vgl. Šejnin, Lev: „Sudebnaja ošibka“ (1941), in: Ders.: Zapiski sledovatelja, Moskva 1979, S. 178–186.
33
Zu den biografischen Angaben vgl. Zamost’janov, Arsenij: Major Pronin. Rodoslovnaja geroja, in: Ovalov, Lev: Rasskazy majora Pronina (1941) (Serija Atlantida, Bd. 11), Moskva 2004, S. 235–253; Peremyšlev, Evgenij: Zaočnaja stavka. L. Ovalov i major Pronin (Archeologija Stalinskogo detektiva), in: Novoe literaturnoe obozrenie 80 (2006), http://magazines.russ.ru/nlo/2006/80/pere17.html (01.03.2007).
34
Vgl. Ovalov, L.: Rasskazy majora Pronina. Povest’ (Biblioteka krasnoarmejca), Moskva 1941; Ders.: Rasskazy majora Pronina (1941) (Serija Atlantida, Bd. 11), Moskva 2004.
35
Vgl. Ovalov, Lev: Goluboj angel’. Povest’ (1941) (Serija Atlantida, Bd. 12), Moskva 2004.
36
Vgl. Šejnin, Lev: Voennaja tajna. Povest’ (Bibliotečka voennych priključenij), Moskva 1949.
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Tur-Brüdern Koautor des Drehbuchs von Grigorij Aleksandrovs letztem großen Spielfilm der Stalinzeit, Treffen an der Elbe (Встреча на Эльбе), doch kann er in diesen Jahren schon keine eigenen Werke mehr veröffentlichen, da sowohl die ministeriale (Innenministerium) als auch die politische (Glavlit) Zensur Druckgenehmigungen verweigert.37 Seine Aufzeichnungen eines Untersuchungsrichters erscheinen 1938 zum letzten Mal für die nächsten zwanzig Jahre in Buchform, und auch seine Trilogie Kriegsgeheimnis kann erst 1955 fortgesetzt werden.38 Stattdessen gerät er Ende 1949 aufgrund seiner Mitgliedschaft im Jüdischen Antifaschistischen Komitee ins Visier der antisemitischen Kampagne gegen den Kosmopolitismus, muss Anfang Januar 1950 von seinem Amt als Untersuchungsrichter zurücktreten und wird im Oktober 1951 verhaftet, nachdem ihn der schon im Sommer desselben Jahres gefangengenommene Minister für Staatssicherheit, Viktor Semenovič Abakumov (1908–1954), denunziert hatte. Doch schon kurz nach Stalins Tod wird Šejnin 1953 rehabilitiert und arbeitet von nun an nur noch als Schriftsteller und Dramaturg, wobei er zentrale Positionen im Schriftstellerverband, bei Mosfil’m und im Kulturministerium der UdSSR bekleidet. Schon diese wenigen biografischen Angaben zeigen, dass der Versuch der Etablierung einer neuen Abenteuerliteratur als Detektivgeschichte durchaus nicht an der Peripherie der staatlichen und politischen Eliten des Landes stattfand, sondern von aktiven Protagonisten der Stalinschen Kultur- und Justizpolitik vollzogen wurde, dass sich diese Option aber im internen Aushandlungsprozess nicht durchsetzen konnte. Erst als Autoren wie Šejnin und Rojzman ab 1955 wieder ungehindert publizieren konnten, unternahmen sie zusammen mit Šaginjan einen erneuten Anlauf zur Durchsetzung eines sowjetischen Detektivromans, der diesmal sehr viel erfolgreicher verlief.
11.2 Sherlock Holmes als U nte rs u c h u n g sr i c h te r – M a r i e˙ tta Šaginja ns Konzept eines De te kti vr o ma n s Gerade einmal drei Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fand in einem überfüllten Saal beim Schriftstellerverband die erste thematische Sitzung der Kommission für Abenteuerliteratur statt, die mit einem zweistündigen Vortrag von Mariėtta Šaginjan über das „Problem des
37
Allerdings drehte Aleksandrov 1952 noch die Filmbiographie Der Komponist Glinka (Композитор Глинка), die sich jedoch ganz an die etablierten Schemata der Spätstalinzeit stark ideologisierter Lebensdarstellungen von herausragenden russischen Personen der Vorrevolutionszeit hielt.
38
Der erste Band von Das Kriegsgeheimnis kann allerdings 1949 in dem lettischen Staatsverlag (in dem Band Otvetnyj visit. Voennaja tajna, Riga 1949) und 1950 erscheinen, vgl. Franz: Moskauer Mordgeschichten, S. 481.
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sowjetischen Detektivromans“ eröffnet wurde.39 Der Schriftsteller Nikolaj Nikolaevič Panov (1903–1973) fasste die Zielstellung des Vortrags in der Aussprache in die pathetischen Worte: „Jetzt steht vor der Kommission, die im SSP gegründet wurde, die sehr ehrenvolle Aufgabe, dem riesigen Literaturfluss, der im Westen und in Amerika erscheint, unseren Detektiv- und Abenteuerroman entgegen zu stellen.“40 Ausgangspunkt von Šaginjans Überlegungen ist die Entwicklung des Detektivromans im Westen, der sich dort zur beliebtesten Lektüre überhaupt entwickelt habe: „In Europa und Amerika gibt es heutzutage keine Lektüre, die größere Popularität genießen würde als der Detektiv, das heißt der Kriminalroman, in dem sich das Verbrechen und der Spitzel, der das Verbrechen aufklärt, gegenüberstehen.“41 Zwar komme das Wort „Detektiv“ vom Englischen „detect“ (aufdecken, „раскрыть“), doch nicht jedes seltsame Abenteuer und ungelöste Geheimnis – wie beispielsweise in Poes GoldBug – gehöre zu dem Genre, denn zentral für dessen Definition sei die kriminelle Absicht, das Verbrechen, das es aufzudecken gelte. Daher sei die formal zutreffende Herleitung des Detektivs aus dem „Roman der Geheimnisse“ auch falsch, denn beim Detektivroman bestehe die „Unterhaltsamkeit“ nicht im abstrakten Gedankenspiel wie in einem Kreuzworträtsel, sondern in seiner konkreten historischen Einbettung: „Man kann nicht von einer Abstraktheit des Detektivs reden. Von allen Formen der leichten Belletristik ist der Detektiv das konkreteste Genre.“42 So lägen die Ursprünge des Genres in der „kapitalistischen Revolution in Frankreich“ 1789, als das Bürgertum die Macht ergriffen und sich an die Neuorganisation des Gerichtswesens und der Polizei gemacht habe, um das bürgerliche Gesetzbuch für alle verbindlich durchzusetzen. Die ersten Publikationen der Gerichtsorgane hätten dann Autoren wie Balzac, Dumas oder Hugo in Frankreich beeinflusst, während in Amerika Poe das Genre begründet habe. In der Figur des Doktor Watson als „homme de lettres“, der mit dem „homme de la police“ zusammenarbeite, sei diese Allianz des bürgerlichen Schriftstellers mit seinem Staat auch in die Figurenkonstellation des Genres eingegangen. Das Aufkommen des Privatdetektivs im 19. Jahrhundert sei in diesem Zusammenhang eine historische Übergangserscheinung der kapitalistischen Gesellschaft, in der dem Bürgertum der Staat noch nicht ganz gehörte und es seine Interessen gegen die alte Adelsklasse durchsetzen musste, später aber sei der private Spitzel auch eine Figur des Verfalls, in dem der Staat nicht mehr allein durch seine Polizeiorgane in der Lage ist, das Verbrechen zu be39
Zu Šaginjans Haltung zum Detektivgenre allgemeiner, allerdings aus einer sowjetischen, stark ideologisch gefärbten Perspektive vgl. Britikov: Detektivnyj žanr, S. 95ff.
40 „Сейчас перед комиссией, которая создана в ССП, стоит очень почетная задача – тому огромному
потоку литературы, которая выходит на Западе и в Америке, противопоставить наш детективный и приключенческий роман.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 63. „SSP“ ist die Abkürzung für „Sojuz So-
vetskich Pisatelej“, den Sowjetischen Schrifstellerverband. 41 „В Европе и Америке нет сейас чтения, которое пользовалось бы большей популярностью, нежели
детектив, т.е. уголовный роман, где налицо загадочное преступление и сыщик, распутывающий это преступление.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 1.
42 „Нельзя говорить об отвлеченности детектива. Из всех видов легкой беллетристики детектив – это
самый конкретный жанр.“ Ebd., l. 7.
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kämpfen. Denn im Widerstreit zwischen Staat und Verbrecher zeige sich der Zustand einer Gesellschaft, ihrer Gesetze und ihrer Moral, ihrer Verwerfungen und ihrer Fortschritte.43 So sei das Detektivgenre anfangs eine progressive Gattung gewesen, in der neueste wissenschaftliche Ermittlungsmethoden dargestellt und das Gehirn der Leser trainiert werde. Das gelte selbst für die Detektivromane im heutigen Amerika, die zwar vollkommen der Ökonomie der Kulturindustrie unterworfen seien, aber gleichzeitig auch die alles beherrschende Macht der privaten Presse bloßlegten. In Russland habe es hingegen vor 1917 nie einen Detektivroman oder überhaupt eine leichte Unterhaltungsliteratur geben können, da hier keine bürgerliche Revolution stattgefunden hat.44 Allerdings habe die zaristische Gerichtsreform von 1864 Schriftsteller wie Michail Evgrafovič Saltykov-Ščedrin (1826–1889), Ivan Fedorovič Gorbunov (1831– 1896), Ivan Dmitrievič Putilin (1830–1893), Nikolaj Semenovič Leskov (1831–1895), Anatolij Fedorovič Koni (1844–1927), Ivan Turgenev oder Fedor Dostoevskij, später auch Vladimir Galaktionovič Korolenko (1853–1921), Anton Čechov und Maksim Gor’kij in ihren Werken beschäftigt.45 Doch dürfe diese „ernsthafte Literatur“ über das Prozesswesen nicht die einzige Traditionslinie sein, an der man sich orientiere: „Die leichte Unterhaltungsliteratur existierte gesetzmäßig immer und muss auch gemeinsam mit der ernsthaften Literatur existieren. Auf die notwendige Existenz von Unterhaltungsliteratur verwies unlängst Gen. Stalin, indem er scherzhaft im Gespräch mit Jakovlev die traurige Angewohnheit unserer Verlage ansprach, von jedem Buch unbedingt Traktoren zu fordern.“46 Doch erst jetzt sei die historische Voraussetzung für eine „leichte“ Detektivliteratur gegeben, da vor 1917 die Schriftsteller den Staat bekämpft hätten, sie jetzt aber für die Gesetze eintreten und so die Menschen erziehen könnten. Die Kriminalitätsbekämpfung im Detektivgenre stelle ein reiches soziales und politisches Thema dar, anhand dessen gezeigt werden könne, wie das Verbrechen ein „hinterhältiger Überfall“ (вылавка) der alten Welt auf die neue Menschlichkeit und gegen den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sei. In diesem Sinne gelte es einen sowjetischen Sherlock Holmes zu schaffen, der nicht nur deduktiv Verbrechen aufkläre, sondern sich als sowjetischer Untersuchungsrichter auch induktiv durch seine tiefe Kenntnis der Vorlieben und Neigungen des russischen Volkes auszeichne.47
43
Ebd., l. 8ff.
44
Ebd., l. 21ff.
45
Ebd., l. 31ff.
46 „Легкая занимательная литература всегда законно существовала и должна существовать наряду с
серъезной литераурой. На необходимость занимательной литературы указал недавно тов. Сталин, вышутив в разговоре с Яковлемвым печальное обыкновение наших издательств от каждой книги непременно требовать трактор‘“ Ebd., l. 35. Der Verweis auf Stalin bezog sich auf dessen einleitend zu
diesem Buch zitierte Äußerung gegenüber Jakovlev: „Aber wie können denn unsere Verlage Mayne Reid oder Cooper drucken, wenn dort nichts über Kolchosen und Traktoren geschrieben steht.“ Vgl. Jakovlev: Rasskazy iz žizni, S. 103. 47
RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 38f.
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Für einen solchen sowjetischen Detektiv habe es schon erste Ansätze gegeben wie in dem Theaterstück Die Gegenüberstellung (1937) von Šejnin und den Tur-Brüdern sowie in Nikolaj Španovs erstem Teil des Fortsetzungsromans Das Geheimnis des Professor Burago (Тайна профессора Бураго, 1942), der enormen Erfolg bei den Jugendlichen gehabt habe, aber leider durch „reines ‚Abenteurertum‘“ (чистым ‚приключенчеством‘) verdrängt worden sei. Am ehesten entsprächen dieser neuen Gattung aber die Aufzeichnungen eines Untersuchungsrichters von Lev Šejnin.48 Diese Ausführungen Šaginjans riefen in einer zweitägigen Aussprache über den Vortrag nahezu einhellige Zustimmung hervor und brachten ihr vielfaches Lob ein, sei es doch das erste Mal überhaupt seit Bestehen des Schriftstellerverbandes, dass man das Wort „Abenteuerroman“ im positiven Sinne ausspreche: „In den vielen Jahren der Existenz des Sowjetischen Schriftstellerverbandes ist dies das erste Mal, dass das Wort ‚Abenteuerroman‘ als eine gewisse Kategorie genannt wird, die ein Recht auf Existenz hat, als eine aufgrund seiner massenhaften und gesellschaftlichen Bedeutung sehr wichtige Strömung im großen Strom der Sowjetliteratur.“49
Šaginjan habe mit ihrer Rede eine „Blockade“ durchbrochen, selbst Šklovskij oder Ėjzenštejn hätten sich einen solchen Vortrag nicht getraut zu halten, stellte beispielsweise der Filmregisseur, Stalinpreisträger und frisch gekürte Vorsitzende der Abenteuerkommission in der Leningrader Filiale des Schriftstellerverbandes, Leonid Zacharovič Trauberg (1902–1990), fest: „Niemand hat einen solchen Vortrag gehalten. Warum? Lasst uns ehrlich reden, – wir alle fürchten uns irrsinnig, dass in unserem Vortrag irgendetwas durchrutschen könnte, – und plötzlich tritt jemand auf und beschuldigt uns der Orientierung am Westen, an den Romanen von Conan Doyle, beschuldigt uns der Unfähigkeit die richtigen Wege zeigen zu können und so fort und so fort.“50
Statt diesen Mut aufzubringen, habe man sich – so Sergej Ėjzenštejn in der Diskussion – der „Linie der bekannten Heuchelei“ (линия известного лицемерия) unterworfen.51 Das habe zur Folge gehabt, dass seit Anfang der 1930er Jahre das Genre vollständig „erstickt“ worden sei, wie der Filmregisseur Vladimir Adol’fovič Šnejderov (1900–1973) ausführte: 48
Ebd., l. 37.
49 „За многие годы существования Союза Советских Писателей – это первый случай, когда слова
‚приключенческий роман‘, ‚авантюрный роман’ – выносятся как некоторая категория, имеющая права на существование, как очень важное вследствие своей массовой и общественной значимости течение в великом потоке советской литературы.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 204, l. 19.
50
„Никто такого доклада не ставил. Почему? Давайте честно говорить, – мы все безумно боимся, как бы
51
Ebd., l. 53.
чего у нас в докладе не проскользнуло, – вдруг кто нибудь выйдет и обвинит нас в ориентации на запад, на романы Конан Дойля, обвинит в неумении показать настоящие пути и проч. и проч.“ Ebd., l. 17.
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„Wir hatten ein Dutzend Abenteuerzeitschriften. [...] Und es gab Schriftsteller, die mal besser, mal schlechter schrieben. Und dann wurde aus irgendeinem seltsamen Grund, aus böser Absicht von irgendwelchen Leuten, die nicht richtig nachgedacht haben, aus Dummheit von irgendwelchen literarischen oder pädagogischen Blaustrümpfen diese ganze Angelegenheit erstickt, erledigt. Alle Zeitschriften gingen ein. [...] Und wirklich, man begann zu meinen, dass es eine schändliche Sache sei, sich mit Abenteuerliteratur, mit Abenteuerfilm (den zähle ich hier dazu) zu befassen. Aber wer sagte das? Woher kam dieser Standpunkt, wer sagte, dass wir keine Abenteuerliteratur brauchen, warum tauchten entgegen der Vorgaben des ZK der Partei, entgegen der Vorgaben der ‚Pravda‘ – unseres Zentralorgans – irgendwelche Idioten oder Feinde auf, die diese ganze Angelegenheit erstickten?“52
Ähnliche Klagen über die systematische Unterdrückung der Abenteuerliteratur äußerten viele der anwesenden Schriftsteller, aber auch Wissenschaftler und Kriminologen meldeten sich in diesem Sinne zu Wort.53 Dabei stellte man zum Teil konkrete Forderungen auf, beispielsweise nach der umgehenden Eröffnung einer neuen Zeitschrift nur für Abenteuerliteratur, speziellen Buchreihen bei bestimmten Verlagen oder nach einem verbindlichen Curriculum von 24 bis 36 ausländischen und sowjetischen Romanen, die als Muster für das Genre gelten sollten.54 Abgesehen von dem allgemeinen „dankbaren Schaudern“55 äußerte nur ein einziger der Anwesenden prinzipielle Einwände gegen die Rede, und zwar Viktor Šklovskij. Dieser warf Šaginjan vor, sie habe keine Ahnung von der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und bringe alles durcheinander:
52 „У нас было десятка приключенческих журналов. [...] И были писатели, которые лучше писали, хуже
писали. А потом по какой-то странной причине, по злому умыслу каких-то людей, по недомыслию, по глупости каких-то синих чулков от литературы или от педагогики все это дело задушили, убили. Все журналы захирели. [...] И действительно, стало считаться, что заниматься приключенческой литературой, заниматься приключенческой кинематографией /я и это сюда присоединяю/ – дело позорное. А кто это сказал? Откуда эта точка зрения появилась, кто сказал, что приключенческая литература нам не нужнa, почему вопреки указаниям ЦК партии, почему вопреки указаниям ‚Правды‘ – центрального нашего органа, все-таки нашлись какие-то или идиоты или враги, которые это дело задушили?“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 36. Zu Šnejderov vgl. Kapitel 8.
53
Allerdings brachte keiner der Anwesenden soviel Mut auf, den Namen des verbannten Schriftstellers Lev Ovalov und dessen Kurzromane über Major Pronin auch nur zu erwähnen, die ganz offensichtlich Šaginjan zu ihren Überlegungen über den sowjetischen Sherlock Holmes inspiriert hatten.
54
Vgl. Šejnins Forderung zur Gründung einer Zeitschrift Welt der Abenteuer (Мир приключений) mit 40 % europäischer und amerikanischer und 60 % sowjetischer Literatur, RGALI f. 2809, op. 1, ed. 204, l. 58, oder Španovs ausführliche Darstellung der Blockadehaltung in den Verlagen und seine Verbesserungsvorschläge, Ebd., l. 18–30; Die Forderung eines Curriculums stellte Ėjzenštejn auf, vgl. ebd., l. 55.
55
Uns „erfasste ein dankbares Schaudern“ („нас охватила благодарная дрожь“) bei der Rede, so Trauberg, vgl. ebd., l. 3.
456 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
„Ich bin nicht einverstanden mit dem Vortrag, weil der Vortrag langweilig ist und eine Parodie auf den Roman darstellt. Wie mir meine Nachbarn richtig sagten, müsste man ihn so erzählen, dass die Mörderin Mariėtta Sergeevna wäre, wobei sie das Interesse für den Detektivroman tötete. Es ist ein einziges Durcheinander bei ihr herausgekommen.“56
Denn natürlich seien der „Roman der Geheimnisse“ und der Detektiv eng mit einander verbunden und Šaginjans Genredefinition sei viel zu eng, zudem sei jede Literatur „konventionell“ (условна), auch wenn sie einen realistischen Ton habe. In seiner Widerrede hält er im Wesentlichen an seinen Thesen zum „Roman der Geheimnisse“ fest, wie er sie schon in den 1920er Jahren für eine spannungsvolle Unterhaltungsliteratur entwickelt hatte, die er in der polemischen Bemerkung, Šaginjans Rede selber sei nur noch die Parodie eines Vortrags, noch einmal pointiert zuspitzte: Hielt er das Genre doch weiterhin für eine abgestorbene Gattung, das selbst als Parodie – oder die Rede über sie – nicht mehr als „ernsthafte“ literarische Form zu gebrauchen sei. Dieser Vorwurf hatte insofern auch seine Berechtigung, als es sich bei Šaginjans Ausführungen tatsächlich um eine, allerdings ernst gemeinte, Nachahmung von Positionen handelte, wie sie in den zwanziger Jahren anfangs von den Proletkul’t-Kritikern, dann von den RAPP-Aktivisten vertreten wurden, die eine unmittelbare, gewissermaßen „undialektische“ Herleitung literaturkritischer Standpunkte aus dem jeweiligen Klassenstandpunkt und der sozialen Herkunft von Autoren und Genres betrieben.57 Genau eine solche Position vertrat aber Šaginjan in ihrer Rede, wobei das auch insoweit gewisse „parodistische“ Züge für jemanden wie Šklovskij haben musste, der damals unmittelbar an den Versuchen, einen „kommunistischen Pinkerton“ zu schaffen, teilgenommen hatte, als Šaginjan damals zusammen mit dem Direktor des Staatsverlags, Meščerjakov, und Bucharin eine dem konträre Position vertreten hatte, nämlich die, dass bestimmte „reaktionäre“ Formen wie das Pinkertontum durchaus für die sowjetische Literatur adaptiert werden könnten. Gleichzeitig war Šklovskij in seiner Argumentation auch nicht gerade „dialektisch“, sondern hielt unverändert an seinen damals entwickelten Positionen fest, wie er sie auch Ende der dreißiger Jahre in seinen Vorbehalten gegen eine wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur vertreten hatte, was ihm von Šaginjan in der Aussprache wiederum den Vorwurf des „Formalismus“ einbrachte.58
56 „Я не согласен с докладом, потому что доклад скучный и он пародия на роман. Как мне говорили
соседи, надо было бы написать так, что убийцей оказалась Мариэтта Сергеевна, причем она убивала интерес к детективному жанру. Произошла каша.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 46.
57
Dabei nutzte Šaginjan zum Teil identische Beispiele wie Šklovskij sie in seinen Ausführungen zum „Roman der Geheimnisse“ gebraucht hatte, wenn sie beispielsweise das Aufkommen von Sherlock Holmes sozialgeschichtlich als Konflikt des Bürgertums mit dem Staat herleitet, eine Argumentation, die Šklovskij schon damals kategorisch verworfen hatte. Vgl. ausführlicher hierzu Abschnitt 3.1 dieses Buches.
58
Zu den Auseinandersetzungen in den Dreißigern vgl. Abschnitt 10.3 dieses Buches.
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Šklovskij hielt dem einen nicht weniger schwerwiegenden Vorwurf der frühen 1930er Jahre entgegen, nämlich dass Šaginjan mit ihren Thesen zur Genese des Genres reinen „Vulgärsoziologismus“ (вульгарный социологизм) betreibe. Auf diese Weise finde bei ihr eine „Amnesie nach nationalem Kennzeichen“ (амнезия по национальному признаку) statt, denn sie schließe durch ihre Koppelung des Genres an die bürgerliche Revolution all die glänzenden russischen Detektivromane des 18. und 19. Jahrhunderts aus, insbesondere aber die großen „Romane der Geheimnisse“ von Dostoevskij wie Die Brüder Karamazov oder Verbrechen und Strafe. Dostoevskij habe wie kein anderer die nationale Spezifik des russischen Detektivs zum Ausdruck gebracht: „Es gibt bei Münchhausen eine Erzählung über einen Hasen... Er konnte den Hasen einfach nicht fangen. Als er ihn endlich erreicht hatte, stellte sich heraus, dass der Hase acht Beine hat. Er läuft auf vier Pfoten, dann dreht er sich auf den Rücken und läuft mit den übrigen vier. So wird auch der Deutsche weiter auf den Rückenpfoten laufen und verkünden, er sei ein ‚Remarquescher Hase‘. Und in einem anderen Volk, in dem es darum geht, das menschliche Herz zu öffnen, muss man sich mit dem Detektivroman Dostoevskijs beschäftigen, mit dem Detektiv des menschlichen Herzens. (Applaus) Das ist der Weg unseres großen Detektivromans, darauf können wir bauen, und all diese Streitereien und Beleidigungen untereinander – das ist die Sache von alternden Männern und Frauen!“59
Damit bringt Šklovskij hier zwei Argumentationsweisen in Stellung, die in den folgenden Jahren immer wieder, insbesondere auch in der Auseinandersetzung um die Wissenschaftliche Fantastik, von Vertretern der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur ins Feld geführt wurden, denen Šklovskij schon in den dreißiger Jahren nahe stand. Zum einen argumentiert er mit dem expliziten Rekurs auf das russische Volk ganz im Duktus des gegen die deutschen Invasoren gerichteten großrussischen Patriotismus der Kriegszeit national, zum anderen deutet man Begriffe – wie hier den Detektiv – einfach soweit um, dass er in die eigene Literaturkonzeption passt. Dass er dabei ausgerechnet den „Detektivroman Dostoevskijs“ als Kronzeugen für das „menschliche Herz“ des russischen Volkes anführt, lässt sich sicher auch als Polemik gegen den auf Gor’kij zurückgehenden Ausschluss des Schriftstellers aus dem „progressiven Erbe“ der nationalen Klassiker interpretieren,60 geht aber vor allem auch auf die Feststellung von Lev Lunc 1922 zurück, dass einzig Dostoevskij versucht habe, das spannende Sujet des Abenteuerromans aus dem Untergrund des Boulevards zu retten.61 59 „Есть у Мюнгаузена рассказ про зайца... Он никак на мог поймать зайца. Когда, наконец, он его
догнал, оказалось, что у него 8 ног: он бежит на четырех лапах, потом переворачивается на спину и бежит на других четырех. И вот немец будет бежать на спинных лапках и утверждать, что он ‚ремарковский немец‘. И в другом народе, в котором надо вскрыть человеческое сердце, надо заниматься детективом Достоевского, детективом человеческого сердца. /аплодисменты/ Это путь нашего великого детектива, этому мы можем учиться, а все споры и обиды друг на друга – это дело стареющих мужчин и женщин!“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 203, l. 46f.
60
Vgl. zu Gor’kijs Dostoevskijbild in den 1930er Jahren Günther: Der sozialistische Übermensch, S. 144–154.
61
Vgl. Kapitel 3.
458 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Und es ist wohl auch diese positive Bezugnahme auf Dostoevskij, die in der Diskussion noch mehrmals wieder aufgenommen wird und die ihm an dieser Stelle den Applaus einbringt. Galt doch auch Šejnin Dostoveskijs Verbrechen und Strafe als mustergültiges Beispiel dafür, dass es bei der Schaffung eines sowjetischen Detektivs nicht darum gehe, den alten Pinkerton wiederaufleben zu lassen, sondern ein anspruchsvolles, spannendes und unterhaltsames Genre zu schaffen.62 Wobei Šejnin und andere deutlich hervorhoben, dass Dostoevskij natürlich keine Detektivromane schrieb, aber auf die Wichtigkeit des Themas der Verbrechensbekämpfung aufmerksam gemacht habe.63 Ansonsten schlossen sich zwar viele Stellungsnahmen Šklovskijs Appell an, nicht schon wieder neue rigide Grenzen zu ziehen, wer dazu gehöre und wer nicht, man unterstützte aber uneingeschränkt Šaginjan, denn es gehe ja zuvorderst darum, überhaupt eine sowjetische spannungsvolle Abenteuerliteratur zu schaffen, in der das Sujet und nicht die Psychologie dominiere, egal ob es sich um Romane des Geheimnisses oder aber um Werke handele, in denen sowjetische Polizisten, Grenzschützer oder Geheimagenten gegen den Staat gerichtete Verbrechen aufklärten. Wichtig sei, wie der Schriftsteller Roman Nikolaevič Kim (1899–1967) feststellte, dass die Detektive „unsere Geheimnisse“ (наши тайны) im Auftrag der Heimat lösten, und nicht wie in amerikanischen Romanen das Sujet aus Angst und Alpträumen gebildet werde.64 Vergleicht man diese Debatte mit der Diskussion um das „Aschenputtel der sowjetischen Literatur“ in der Vorkriegszeit (vgl. die Abschnitte 8.3 und 10.3), dann fällt zum einen auf, dass hier die Kritik an der bisherigen Politik gegenüber dem Abenteuergenre sehr viel deutlicher und schärfer formuliert wird, diese Kritik aber nur noch bis Anfang 1946 den Weg in die Presse fand.65 Man diskutierte zwar noch bis Mitte 1947 leidenschaftlich über sowjetische und amerikanische Detektivromane, doch diese Aussprachen blieben auf den kleinen Besucherkreis der öffentlichen Veranstaltungen in Leningrad und Moskau beschränkt. Dieser Ausschluss einer breiteren literarischen Öffentlichkeit – die man vor dem Krieg noch beispielsweise in der 1941 eingestellten Monatszeitschrift Detskaja literatura angesprochen hatte – lag aber auch in spezifischen Problemen der unmittelbaren Nachkriegszeit begründet. Denn neben den regelmäßig wiederholten Klagen, dass die Nachfrage nach spannender Unterhaltung riesengroß sei und von den Verlagen und Zeitschriften in keiner Weise bedient würde, kommt im Unterschied zur Vorkriegszeit in manchen Stellungsnahmen noch ein geradezu alarmierter Unterton hinzu. So berichtet Trauberg in seinem Debattenbeitrag von einem Erlebnis mit Jugendlichen im Alter von 15 bis 16 Jahren ganz unterschiedlicher Herkunft, das er unlängst bei Dreharbeiten in Taškent gemacht habe:
62
Vgl. Šejnin: O sovetskom detektive, S. 3.
63
Ebd.
64
RGALI f. 2809, op. 1, ed. 173, l. 28.
65
Vgl. [Anon.]: V Sojuze sovetskich pisatelej SSSR, in: Literaturnaja gazeta 27 (23.06.1945), S. 4; [Anon.]: Iskusstvo detektivnogo romana (V Sojuze sovetskich pisatelej SSSR), in: Ebd. 50 (08.12.1945), S. 4; Ryss, Evgenij: Voprosy žanra, in: Ebd. 8 (16.02.1946), S. 2.
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„Das waren sehr seltsame Menschen, denn sobald sie eine freie Minute hatten, begannen sie Schiffchen in den Pfützen schwimmen zu lassen. Ich wollte verstehen, wovon diese Menschen in der Kunst, in der Literatur durchdrungen sind. Genossen, – sie sind durchdrungen von schrecklichen Dingen. Sie sind durchdrungen, wenn man das so sagen darf, von der Banditenthematik. Je mehr man ihnen vom Gaunergenre, je mehr man ihnen an Ganovenmaterial gibt, um so besser für sie. Sie haben uns mit enormem Vergnügen, mit Spott über uns Banditenlieder vorgesungen, als wir sie baten, uns ein Lied vorzusingen, das wir aufnehmen könnten. Sie wiederholen Worte, die sie gar nicht verstehen, – sie wiederholen sie, erstens weil es eine verbotene Frucht ist, und zweitens aus Protest. Und das, womit man diese Menschen füttert, diese Heranwachsenden – ist eine sehr interessante Angelegenheit. Aber man muss doch trotzdem versuchen zu verstehen, wie man diese Menschen zwingen kann zu lesen und zwar zwingen zu lesen im vollen Sinn des Wortes.“66
Und auch Lazar’ Lagin beklagte, dass die Jugendlichen heutzutage nirgends mehr Romane im Stile von Nat Pinkerton und Sherlock Holmes zu lesen bekämen, die man zu Zeiten seiner Kindheit so geliebt habe, was zu einem „klaffenden Abgrund“ führe: „Also, es gibt hier einen klaffenden Abgrund, den niemand ausfüllt. Wir haben ein wirklich schlimmes Phänomen: bei uns ist die Ganovenromantik nicht nur bei Kindern aufgetaucht, die unfreiwillig in diesem Bodensatz aufwachsen, den es in den großen Städten gibt, – sie ist auch in den Schichten aufgetaucht, wo es sie nie zuvor gegeben hat: bei Kindern von Künstlern, bei Kindern von Militärs, bei Kindern, deren Eltern absolut intellektuelle Menschen sind. Warum passiert so etwas? Neben den bekannten sozialen Ursachen, die mit dem Krieg zu tun haben, mit einer falschen Erziehung, ist von enormer Bedeutung, dass die Kinder von der Ganovenromantik angesteckt werden. Sie singen Ganovenlieder, die ich in dem großen Haus hören kann, in dem ich wohne, wo im Sommer die Kinder sich im Hof versammeln und diese Lieber über Mörder, Räuber usw. singen./ Die Sache ist die, dass ein Anteil der Schuld auch bei uns liegt, weil wir nicht in der Lage sind, die Kinder für solch eine Lektüre und solche Helden zu interessieren, die sie von so etwas abhalten würden, – eine Literatur, die sehr lebhaft und interessant ist, so, dass zu sehen ist, wie gut der Mensch ist, der mit Dieben, mit Verbrechern kämpft, wie viel höher, mutiger, reiner er
66 „Это были люди очень странные потому что, как только у них есть свободная минута, они начинают
пускать кораблики в лужах. Мне хотелось понять, чем в искусстве, в литературе дышат эти люди. Товарищи, – очень страшными вещами. Они дышат, если можно так выразиться, бандитской тематикой. Чем больше вы им дадите блатного жанра, чем больше вы им дадите блатного материала, тем для них лучше. Они с колоссальным удовольствием, с издевкой над нами, исполняли нам бандитские песни, когда мы просили исполнить песню, которую можно было бы записать. Они повторяют слова, которых они даже не понимают, – повторяют потому что это, во первых, какой-то запрещенный плод, во вторых, это протест. И то, чем кормят этих людей, этих подростков – это очень интересная вещь. И надо было бы, все таки, понять, чем этих людей заставить читать и заставить читать в полном смысле слова.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 204, l. 5.
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ist als diese Räuber, eine solche Literatur haben wir nicht. Aber solch eine Literatur darf man auf keinen Fall in einer Art Nachahmung des alten Nat Pinkerton machen.“67
Hatten die verwöhnten Großstadtjugendlichen der Vorkriegszeit immerhin noch die Lieder der offiziellen Abenteuerfilme wie Kinder des Kapitän Grant gesungen, erzählten diese Berichte von einer „Vergiftung“ der Jugendlichen mit der „Banditenthematik“ und „Gaunerromantik“, die nicht ausschließlich auf die gesellschaftlichen Verwerfungen während des Krieges zurückführbar sei. Dabei hatte diese „Gaunerromantik“ mit den Kindern der Militärs und der Künstler selbst die kulturelle Elite des Landes erreicht, was den Forderungen nach einem neuen Abenteuerroman der Verbrechensbekämpfung eine zusätzliche Brisanz gab. Entsprechend verwiesen die Befürworter eines sowjetischen Detektivs wiederholt auf diese populäre Protestkultur der „verbotenen Früchte“, die drohe, die staatlichen Autoritäten fundamental zu untergraben. Die in der Sektion für Abenteuerliteratur versammelten Schriftsteller, Wissenschaftler, Pädagogen und Strafrechtler konzeptualisierten dieses neue Abenteuergenre gewissermaßen als erzieherische Gegenmaßnahme, die die Jugendlichen durch ein spannendes Sujet „buchstäblich“ zwingen sollte, ihre Sympathien wieder der sowjetischen Seite zuzuwenden.68 Fanden solche Forderungen in den ersten Nachkriegsmonaten anscheinend anfangs noch Gehör im Schriftstellerverband und bei den Verlagen, wurde diese zeitweise Unterstützung des Genres nach dem von Andrej Ždanov initiierten Beschluss des ZK der VKP (b) vom 14. August 1946 gegen die Zeitschriften Zvezda und Oktjabr’ bald wieder entzogen, auch wenn die Kommission im Schriftstellerverband noch ein paar Jahre weiter bestand. Die später so genannte Ždanovščina bedeutete einen fundamental anderen Umgang mit den Schwierigkeiten, nach der Euphorie des Sieges wieder einen geregelten „sozialistischen Alltag“ zu organisieren: Statt offensiv propagandistisch gewisse Nachkriegsverwerfungen zu bekämpfen, reagierte man mit einer massiven Repression und Tabuisierung dieser Konflikte. Damit aber wurde das Thema der internen Verbrechensbekämpfung de facto als literarisches Thema vollständig verboten. Kriminalität wurde
67 „Так что, имеется зияющая пропасть, никем не заполненная. У нас имеется совершенно страшное
явление: у нас появилась блатная романтика не только у детей, которые поневоле вращаются на этом небольшом дне, которое имеется в наших городах, – она появилась у таких слоев, где ее никогда не было: у детей артистов, у детей военных, у детей, родители которых абсолютно интеллигентные люди. Почему это происходит? Помимо известных социальных причин, связанных с войной, с неправильным воспитанием, огромное значение имеет и то, что ребята заражаются блатной романтикой. Они поют блатные песни, которые я могу слышать в огромном доме, где я живу, где летом во дворе собираются ребята и поют эти песни об убийцах, о налетчиках и т.д./ Дело в том, что какая-то часть вины за это лежит на нас потому что мы не умеем заинтересовать таким чтением и таким героем, которые бы от этого отвлекли, – чтобы показать очень живо и интересно, так, чтобы было видно, насколько хорош человек, который борется с ворами, с преступниками, насколько он выше, смелее, чище, чем эти налетчики, – такой литературы у нас нет. И такую литературу нужно делать никак не в порядке подражания старому Нат Пинкертону.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 173, l. 36.
68
So Lagin während einer Aussprache des Schrifstellerverbandes, vgl. ebd., l. 36.
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schlicht geleugnet, wie es der Sekretär der Leitung des Schriftstellerverbandes, Lev Matveevič Subockij (1900–1959), Mitte 1947 in einer Aussprache über amerikanische Detektivliteratur tat: „Solche Phänomene gibt es nicht, doch sie werden beschrieben, und irgendein Benja Krik, irgendein Leningrader Bandit ruft mit seinen Abenteuern Begeisterung und Zuneigung hervor.“69 Statt nicht existente Erscheinungen im Stile Isaak Babel’s darzustellen, wurden die Autoren seitens des Schriftstellerverbandes aufgefordert, sich angesichts des Kalten Krieges zwischen den ehemaligen Alliierten ganz dem Kampf gegen die äußeren Feinde zu widmen, die man nun aber nicht mehr – wie in den 1930er Jahren – überall im eigenen Lande zu suchen habe, sondern lediglich in den baltischen Sowjetrepubliken sowie im nahen und fernen Ausland: Subockij formulierte diese Haltung des Präsidiums des Schriftstellerverbandes 1947 in folgenden Worten: „Vor allem muss man im Blick haben, dass unsere sowjetischen Menschen auf dem Gebiet des besetzten Deutschland, in einem kapitalistischen Land mit seinem faschistischen Untergrund aktiv sind, der täglich und stündlich den Kampf sucht, sie arbeiten unter Bedingungen, wo wir noch mit den Überresten fremder Klassen konfrontiert sind, die in den alten Brüderrepubliken längst liquidiert sind, doch in den jungen Sowjetrepubliken noch existieren.“70
Doch selbst solche in einer internen Diskussion genannten gegenwartsbezogenen Themenstellungen ließen sich nach Außen 1947 nicht mehr durchsetzen, und so blieb als einziger Bereich, in dem man zumindest noch versuchen konnte, so etwas wie „spannungsvolle“ Abenteuergeschichten zu schreiben, bis zu Stalins Tod nur der Zeitraum des Großen Vaterländischen Krieges selber.
69 „Таких явлений нет, а их описывают, и какой-нибудь Беня Крик, какой-нибудь ленинградский бандит,
вызывает восхищение и любование его похождениями.“ RGALI f. 2809, op. 1, ed. 173, l. 6. Subockij
hatte eine wechselvolle Karriere hinter sich, war in den dreißiger Jahren zuerst bei der Militärstaatsanwaltschaft und beim NKVD gewesen, dann verantwortlicher Redakteur der Literaturnaja gazeta, eher er 1936 bis 1940 verhaftet wurde, dann im Krieg als stellvertretender Militärstaatsanwalt arbeitete, ehe er 1946 bis 1948 Sekretär der Leitung des Schriftstellerverbandes wurde und 1949 dann der Anti-KosmopolitismusKampagne zum Opfer fiel. 70 „В частности, надо иметь в виду, что наши советские люди действуют на территории оккупированой
Германии, в капиталистической стране с ее фашистским подпольем, которое ежедневно и ежечасно ищет борьбы, они действуют в тех условиях, когда мы еще встречаемся с остатками чуждых классов, давно ликвидированных в старых братских республиках, но еще существующих в молодых советских республиках.“ Ebd., l. 6f.
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1 1. 3 Super ag e nte n und Wund e rwa f f e n – F i kti o n a li si e r u n g e n des Gr oßen Va terländ is che n K r i e g e s 71 „In der sowjetischen schönen Literatur gibt es ein Gebiet, das dazu aufgerufen ist, eine große Rolle bei der Erziehung des sowjetischen Volkes zu spielen, aber bisher noch nicht genügend entwickelt worden ist [...] Dieses Literaturgebiet ist der Aufklärung und Gegenaufklärung gewidmet [...].“ Boris Solov’ev (1946)71
Die Produktion von Abenteuerliteratur über den laufenden Krieg setzte erst ab Ende 1942 allmählich ein, soweit man das Abenteuerliche hier überhaupt genau abgrenzen kann. Denn legt man die vor dem Krieg von einigen Autoren und Kritikern präferierte Definition zugrunde, dass Abenteuergeschichten auch psychologische Tiefe auszeichnet, lässt sich alle Kriegsliteratur, in der es auch um Gefechte, Kriegsstrategien und Kampftaktiken geht, als „abenteuerlich“ bezeichnen. Eine Literatur aber, die von dem zu enttarnenden „Geheimnisvollen“ und vermeintlichen „Wunderbaren“ handelt, das sich in unbekannten Waffen, dämonischen Angriffsplänen oder gelungenen Spionageaktionen äußert und damit den Blick auf die Abgründe oder Chancen einer möglicherweise anderen Welt eröffnet, gab es anfangs kaum. In dem hier behandelten Bereich der abenteuerlichen Jugendliteratur war Sergej Beljaev der erste, der unter dem Pseudonym E. Kramskoj die „nichtfantastische Erzählung“ Die heimtückische Waffe (Коварное оружие, 1942) verfasste, deren Handlung in der französischen Hauptstadt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs spielt.72 In Paris, wo man von dem deutschen Überfall noch nichts ahnt, in den Cafes weiter Absinth genießt und die Abendzeitungen studiert, experimentiert ein als Tourist verkleideter deutscher Mikrobiologe im Auftrag der Wehrmacht mit Unterstützung von französischen Kollaborateuren an bakteriologischen Waffen.73 Diesem kommt aber ein englischer Journalist der Times auf die Spur, so dass sowohl in Moskau als auch in New York die Wissenschaftler alarmiert sind. Während ausführlich die „Küche des Teufels“ (Кухня дъяволa) des deutschen Gelehrten beschrieben wird, der in Tierversuchen mit Pest-, Cholera- und anderen tödlichen Mikroben seine „heimtückische Waffe“ bastelt, testet er anhand harmloser Mikroben in Paris durch die künstliche Verbreitung von Staub, Blütenpollen und Dämpfenffektive Einsatzformen seiner Waffe.74 Währenddessen beschließen die zukünfti71 „В советской художественной литературе есть участок, призванный играть большую роль в
воспитании советского народа, но до сих пор еще не получивший достаточного развития [...]. Это участок литературы, посвященный нашей разведке и контрразведке […].“ Solov’ev, Boris: Za
professional’nuju i chudožestvennuju pravdu, in: Pograničnik 14 (1946), S. 76–80, S. 76. 72
Beljaev, Sergej [Kramskoj, E.]: Kovarnoe oružie. Nefantastičeskij rasskaz, Moskva/Leningrad 1942.
73
Ebd., S. 5ff.
74
Ebd., S. 14ff.
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gen Alliierten in Moskau und New York zusammenzuarbeiten bei der Entwicklung von Impfstoffen und Gegenmitteln bei möglichen Infektionen. Durch eine junge Moskauer Forschergruppe werden dabei ausführlich die mikrobiologischen und bakteriologischen Wissenszusammenhänge popularisiert und mögliche Wirkungen anhand eines Helden exemplifiziert, der sich versehentlich beim Experimentieren infiziert und an dem die ersten „Anti-Bakterien“ getestet werden.75 Als schließlich Frankreich von den Deutschen überfallen wird, fällt es nicht durch biologische Kampfstoffe, sondern weil das Land von Verrätern, Spionen und Kollaborateuren durchsetzt ist.76 So endet die Geschichte mit der Erschießung und Gefangennahme schuld- und ahnungsloser Pariser, während die „schlimmsten Feinde der ganzen Menschheit“ („злейшие враги всего человечества“) weiter ihr „heimtückisches“ Wirken treiben.77 Diese etwas längere Erzählung war noch deutlich vom Konzept der wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur der Vorkriegszeit geprägt, das fundierte wissenschaftliche Kenntnisse (Mikrobiologie), kollektive Forschungsarbeit (sowjetische Experimente mit Anti-Körpern) und eine gewisse Psychologisierung der Helden (Dramatik der Infektion eines positiven Helden) vorsah, aber in dem parallel laufenden Strang des deutschen diabolischen Hexenmeisters, des englischen Sensationsjournalisten und der Pariser Dekadenz auch schon wieder deutliche Züge der kommunistischen Pinkertonovščina trägt.78 Dass ausgerechnet die Deutschen beabsichtigen, durch Bakterien und Parasiten einen mikrobiologischen Krieg zu führen, stellte gewissermaßen eine „anti-biologistische“ „Entblößung“ der nationalsozialistischen rassistischen Propaganda gegen Parasiten und Schädlinge dar, die den „gesunden“ deutschen Volkskörper zu zersetzen drohten. Dieser „fantastische“ Wahn kommt in der „nicht-fantastischen“ Erzählung explizit nicht zum Einsatz, während als die wahren „Feinde“ die politischen Verräter und Spione in den eigenen Reihen genannt werden. In den Folgejahren entwickelte sich dann langsam auch eine „fantastische“ Abenteuerliteratur über den Krieg, in der der Schrecken über die deutschen Verbrechen leicht ins Schauerliche umschlagen konnte, wenn hinter dem Mord an einem tschechischen Ingenieur und Erfinder während der deutschen Besatzung die Jagd nach einer von ihm erfundenen Atomwaffe steht,79 wenn in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Jugoslawien untergetauchte SS-Offiziere den sow-
75
Ebd., S. 34ff.
76
Ebd., S. 51ff.
77
Ebd., S. 53f.
78
Die politisch bedingte positive Zeichnung Amerikas, die allerdings auch nur in wenigen Episoden vorkommt, passt natürlich keineswegs in dieses Bild. So ist die Erzählung nach dem Krieg auch nie mehr neu aufgelegt worden.
79
So in der posthum veröffentlichten Erzählung von I. Nečaev (Pseudonym von Jakov Solomonovič Pan, 1906–1941) über die Erfindung einer atomaren Superwaffe, die ähnlich wie die astronomischen „Weißen Zwerge“ zusammengesetzt sei, Sie erschien 1943 sowohl bei Technika – molodeži als auch als Buch in der „Bibliothek der Wissenschaftlichen Fantastik und Abenteuer“, vgl. Nečaev, I.: Belyj Karlik. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Technika – molodeži 6 (1943), S. 19–22.
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jetischen Soldaten wie bluthungrige Vampire (Wurdalaks) vorkommen80 oder man in einer gespenstischen Karpatenburg im befreiten Polen auf einen wunderlichen „Maestro“ trifft, der die ermüdeten Soldaten nachts mit audiovisuellen Gespensterbildern erschreckt.81 Die befreiten Länder Osteuropas erscheinen in diesen Geschichten als ein äußerst gefährliches und unzuverlässiges Territorium, auf dem die Befreier keineswegs nur freudig und friedlich begrüßt werden. Derjenige Autor aber, der diese fantastischen Überzeichnungen am weitesten trieb und sich gleichzeitig deutlich an Erzählmustern der Pinkertonovščina sowie der westlichen Science Fiction und Spionage-Geschichten über den Krieg orientierte, war Nikolaj Španov (vgl. Abschnitt 8.2).82 Španov, ausgebildeter Fliegerpilot und Offizier in der zaristischen Armee, wechselte schon 1918 zur Roten Armee, bei der er zwanzig Jahre lang bis 1939 in den Luftstreitkräften auf der mittleren Kommandoebene diente, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Schon 1925 hatte er als Autor des Vsemirnyj sledopyt angefangen über zukünftige Kriegsszenarien zu schreiben, veröffentlichte zahlreiche Broschüren über Luftfahrt, dann „fantastische Romane“ über geheime Nordpolmissionen und Reportagen über die Heldentaten der sowjetischen Flieger, ehe er 1939 mit Der Erstschlag unionsweite Bekanntheit erlangte. Dieser Roman beschrieb auf etwas mehr als 100 Zeitschriftenseiten, wie die Sowjetunion den Überfall eines kapitalistischen Feindes erfolgreich abwehrt und dessen Armee so sehr zusetzt, dass diese und das gegnerische Hinterland schon nach zwölf Stunden nahe dem Zusammenbruch stehen und die Sowjets in dem „gerechten Krieg“ endlich Ordnung im befreiten Europa schaffen können.83
80
„Sie sind wie Vampire, denen man kein menschliches Blut zu trinken gibt.“ („ Они – как вурдалаки, которым не дают пить человеческую кровь.“) Vgl. Tichonov, Nikolaj: Švab. Rasskaz, in: Vokrug sveta 1 (1946), S. 15–21, S. 16. Auch Lev Uspenskij beschreibt Jugoslawien als einen gespenstischen Ort, an dem ein von den Deutschen abgeschossener Fliegerpilot von einem skurrilen russischen Erfinder in dessen UBoot in der Adria gerettet wird, der seit Anfang des Jahrhunderts die unterirdischen Wasserläufe des Balkans erkundet und so an dem Untergrundkampf der serbischen Partisanen partizipiert, vgl. Uspenskij, Lev: Plavanie Zėty“. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Vokrug sveta 5–6 (1946), S. 18–22.
81
So in dem wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman Das Geheimnis der Unsichtbaren (Тайна невидимки) von Jurij Dolgušin, des Autors von Der Wundergenerator (vgl. Abschnitt 10.1), welches sein letztes belletristisches Werk blieb, das 1949 in einem Sammelband noch einmal erschien und zu dieser Zeit schon scharfer Kritik ausgesetzt war. Der Kurzroman ist deutlich an Jules Vernes Roman Le Château des Carpathes (1892) orientiert, in dem wie in seiner Vorlage am Ende alle fantastisch-unheimlichen Elemente rational erklärt und wissenschaftlich aufgelöst werden. Im Fall von Dolgušin handelt es sich um kinematographische 3-D-Effekte, die die sowjetischen Schlossgäste nachts in Schrecken versetzen, vgl. Dolgušin, Jurij: Tajna nevidimki. Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Znanie – sila 2–3 (1946), S. 18–22; 4–5, S. 27–33; 6, S. 9–12; Strukova, V.; Ševčenko, V.: Fantastičeskie izmyšlenija vmesto naučnoj fantastiki, in: Literaturnaja gazeta 5 (14.01.1950), S. 3.
82
Zu biographischen Angaben des Weiteren, vgl. Lepechin, M. P.: Španov Nikolaj Nikolaevič, in: Skatov, Nikolaj N. (Hg.): Russkaja literatura XX veka. Prozaiki, poėty, dramaturgi. Biobibliografičeskij slovar’, Bd. 3, Moskva 2005, S. 252–255. Zu den amerikanischen Pulp-Magazines, vgl. Luckhurst: Science Fiction, S. 50–75. Vgl. auch Abschnitt 8.2.
83
Vgl. Španov, Nikolaj: Pervyj udar. Povest’ o buduščej vojne, in: Znamja 1 (1939), S. 14–122.
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Während des Krieges wandte er sich dann dem Thema der Kriegsspionage zu. Ende 1942 veröffentlicht er in der Armeezeitung Krasnoarmeec (Der Rotarmist) den Fortsetzungsroman Das Geheimnis des Professor Burago (Тайна профессора Бураго), der im Verlag Molodaja Gvardija 1943 und 1944 in je drei Heftfolgen verlegt wurde, während er ab Januar 1944 auch in der Massenillustrierten Ogonek unter dem Titel Der Krieg der Unsichtbaren (Война невидимок) in Fortsetzungen erschien.84 Diese deutlich von Wells’ The Invisible Man (1897) inspirierte Geschichte spielt unmittelbar vor und während des Krieges, als der Kapitän 3. Ranges, Žitkov, und sein Freund Najdenov [dt. soviel wie „Der-Es-Gefunden-Hat“] zusammen mit ihrem „Lehrer“, Professor Burago, in einer Schwarzmeerstadt (in der unschwer Odessa zu erkennen ist) einen Lack erfunden haben, der Dinge unsichtbar macht. Dieser Lack soll zur Tarnung eines neuen UBoots eingesetzt werden, doch die Hafenstadt wird von den Deutschen zerstört und eingenommen, während Burago und einige unsichtbar gemachte Dinge entführt werden.85 Nun bricht Žitkov ins von den Deutschen okkupierte Europa auf, um den feindlichen Entführern auf die Spur zu kommen, es verschlägt ihn nach Amsterdam, Berlin, Norwegen, England, auf eine „Insel der Nebel“ (Остров Туманов), die als heimliches Rüstungslabor dient, und eine von Deutschen und Engländern umkämpfte Insel voller Geheimnisse (Helgoland). Sowohl Žitkov als auch seine Gegner benutzen wiederholt die Kunst des Sich-Unsichtbar-Machens, und so gerät er mehrmals in Gefangenschaft, Verfolgungsjagden und Schießereien, kann immer wieder fliehen, sich tarnen und untertauchen, trifft auf neue geheimnisvolle Dinge, enttarnt europaweit operierende Spione, bis der mehrmals für tot erklärte und dann wiederaufgetauchte Professor Burago endgültig stirbt und dessen Mörder, der „verfluchte Vitema“, endgültig gestellt werden kann. Diese „fantastischen“ Abenteuer Žitkovs im Zweiten Weltkrieg, dessen Gestalt eher an die Ende der dreißiger Jahre berühmt gewordenen amerikanischen Pulp-Fiction-Figuren Superman oder Badman erinnerte als an einen sowjetischen Helden, genossen während des Krieges ungemeine Popularität unter den Soldaten, stießen aber in der Nachkriegszeit sofort auf massiven literaturpolitischen Widerstand, so dass sie erst wieder in der Tauwetterzeit in stark bearbeiteter Form erscheinen konnten.86 Zwar ersetzte Španov den Kapitän Žitkov noch 1945 in dem Nachfolgeroman Das Geheimnis der Drei (Тайна трех) durch die sehr viel „realistischere“ Figur des Kriminalbeamten Nil Kručinin, der deutlich nach dem Vorbild von Sherlock Holmes gestaltet ist. Dieser jagte in dem Kurzroman in einem „nordeuropäischen“ Land deutsche Faschisten, die es nach einigen Abenteuern und Toten auch gelingt zu enttarnen. Doch aufgrund der nicht 84
Allerdings wurden hier nicht alle Folgen gedruckt, vgl. Španov, Nikolaj: Vojna nevidimok, in: Ogonek 1 (1944), S. 5–6, 12; 2–3, S. 13–15; 4, S. 11–13; 5–6, S. 13–14; 7, S. 13–15; 8, S. 13–15; 9–10, S. 11–12; 11, S. 11–12; 12–13, S. 13–14; 14–15, S. 13–14; 16, S. 13–15; 17–18, S. 13–14. Der Text wurde 1958 noch einmal in stark überarbeiterter Form verlegt, vgl. Španov, Nikolaj: Vojna nevidimok. Roman, Moskva 1958. Hier zitiert nach der Zeitschriftenfassung.
85
Vgl. Španov: Vojna nevidimok 1 (1944), S. 5f.; 2–3, S. 13ff.
86
Vgl. Španov, Nikolaj: Vojna nevidimok, Roman, Moskva 1958.
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nachlassenden Kritik, schrieb er vorerst keine weiteren Werke mehr in dem Bereich.87 Dabei kamen gerade aus der Kommission für Abenteuerliteratur schärfste Vorhaltungen, sah man doch in Španovs Pinkerton-Schablonen die „schlimmsten Eigenschaften des Boulevarddetektivs“ realisiert, die nur zur Diskreditierung des Genres beitragen würden.88 Doch Španov eröffnete mit diesen beiden Werken, die sich mit der Spionage und Gegenspionage innerhalb des Deutschen Reiches und der von ihm besetzten Territorien beschäftigten, als erster ein Thema, das letztlich das Überleben der Abenteuerliteratur als „Kriegsabenteuer“ sicherte. Schon 1946 erscheinen die ersten Abenteuerromane, die die sowjetischen Aufklärer direkt in die Führungsstäbe der Gestapo und zu Himmler führen89 oder sie getarnt als vermeintliche russische Überläufer in das Hauptquartier der deutschen Auslandspionage bringen. Abenteuergeschichten behandeln Verteidigungskämpfe zur See,90 gegen deutsche Diversanten im eigenen Lande oder die Partisanenkämpfe im weißrussischen Sumpfgebiet.91 Vor allem ehemalige Offiziere und Oberste der Sowjetarmee wie Georgij Michajlovič Brjancev (1904–1960) und Lev Aleksandrovič Lin’kov (1908–1971) schreiben ganze Abenteuerzyklen über Kriegs- und Spionageabenteuer.92 87
Vgl. Španov, Nikolaj: Tajna trech. Povest’, in: Ogonek 34 (1945), S. 5–6, 14; 35, S. 9–10; 36, S. 12–14; 37, S. 13–14; 38, S. 8–10. Zur Kritik vgl. Solov’ev: Za professional’nuju i chudožestvennuju pravdu, S. 78f.; Nil Kručinin wurde dann zum Haupthelden einer ganzen Serie äußerst populärer Kriminalerzählungen, die Španov ab 1955 veröffentlichte und unter dem Titel Die Abenteuer des Nil Kručinin (Похождения Нила Кручинина) in unterschiedlichen Zusammenstellungen zusammenfasste. Das Geheimnis der Drei veröffentlichte er in überarbeiteter Fassung erneut unter dem Titel Der Fall Ansen (Дело Ансена), vgl. Španov, Nikolaj: Pochoždenija Nila Kručinina (Bibliotečka voennych priključenij), Moskva 1955; Ders.: Iz pochoždenij Nila Kručinina, in: Ders.: Krasnyj kamen’. Povesti i rasskazy, Moskva 1957, S. 339–559. Zur Analyse einiger Kriminalgeschichten Španovs und zur Kritik an ihm in der Tauwetterzeit vgl. Franz: Moskauer Mordgeschichten, S. 93ff.,118ff.
88
Vgl. Ryss: Voprosy žanra, S. 2.
89
So veröffentlichte der Weggefährte von Daniil Charms, Igor’ Vladimirovič Bachterev (1908–1996) zusammen mit dem Dramaturgen Aleksandr Vladimirovič Razumovskij (1907–1980) unter dem Pseudonym B. Rajtonov 1946 in Ogonek einen entsprechenden Kurzroman, der die Leser direkt an den Intrigen und Psychopathologien der deutschen Besetzer teilnehmen ließ, vgl. Rajtonov, B.: Rovno v polnoč’. Povest’, in: Ogonek 2 (1946), S. 17–20; 3, S. 22–24; 5, S. 20–21; 6, S. 23–24; 7, S. 22–24; 8, S. 22–24; 9, S. 18–20; Solov’ev: Za professional’nuju i chudožestvennuju pravdu, S. 77f.
90
Lagin, Lazar’: Bronenosec „Anjuta“. Povest’ (Biblioteka krasnoarmejca), Moskva 1946.
91
Vgl. Matveev, German: Zelenye cepočki, Moskva/Leningrad 1945. German Ivanovič Matveev (1904–1961) baute die Geschichte Die grünen Kettchen von den jugendlichen Helden, die ihre Abenteuer während der Blockade Leningrads erlebten, später mit Der geheime Zusammenstoß (Тайная схватка, 1948) und Die Tarantel (Тарантул, 1957) noch zu einer Trilogie aus.
92 Brjancev
war bis 1951 im Armee- und Geheimdienst mehrmals bei Partisanen- und Aufklärungsaktionen im Einsatz, wofür er mit mehreren Orden ausgezeichnet wurde. 1948 erschien sein erster Erzählungsband über die Partisanen Uns entkommst du nirgendwohin (От нас никуда не уйдешь), 1952 folgten Das Ende des Wespennests (Конец осиного гнезда) und Geheime Pfade (Тайные тропы), vgl. Brjancev, Georgij: Konec osinogo gnezda. Povest’, Moskva/Leningrad 1952; Ders.: Tajnye tropy (Biblioteka priključenij i
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Es sind vor allem diese Abenteuerromane der Nachkriegszeit, in der das Bild der faschistischen deutschen Offiziere, SS- und Gestapo-Männer ihre markanteste Ausprägung bekam, die einerseits durch eine eiskalte und abstrakte Intellektualität gezeichnet sind, die erbarmungslos und mitleidslos funktioniert, andererseits aber von einem fanatischen Hass getrieben werden, der die scharfen Denker in jedem Augenblick in leicht reizbare und hochaggressive Bestien verwandeln kann: Sie verkörpern gewissermaßen die personifizierte Entfremdung zwischen Herz und Verstand, was ihre „Perversität“ nur noch steigert. Gleichzeitig wird das gesamte von den Deutschen besetzte Europa wie eine abenteuerliche Wildnis narrativiert, in der außer Kontrolle geratende moderne Technik sich mit archaisch-barbarischer Grausamkeit paart. Wie in einem „Wespennest“ sitzend, müssen die sowjetischen Aufklärer, Partisanen und Grenzschützer ihr ganzes physisches, intellektuelles und „menschliches“ Geschick aufwenden, um ans Ziel zu gelangen und nicht „gestochen“ zu werden.93 Diese fiktionale Verwandlung der Schrecken des Krieges in einen gefährlichen Dschungel, in dem die sowjetischen Krieger sich als „mutige Männer“ neu initiieren können, indem sie verschiedene Stufen der Gefahr durchlaufen, wurde noch durch den Erfolg zweier Abenteuerfilme, Boris Barnets Die Heldentat eines Aufklärers (Подвиг разведчика, 1947) und Konstantin Judins Mutige Menschen (Cмелые люди, 1950), verstärkt, die vom Publikum und auch in der Kritik begeistert aufgenommen wurden.94 In diesen Filmen ließen die Elemente aus Wildwest-Romantik, physischem und intellektuellem Kampf sowie liminalen Grenzüberschreitungen in der Konfrontation mit den Deutschen noch deutlicher den Einfluss „klassischer“ Abenteuerromane erkennen.95 Einen weiteren Schritt in Richtung Fiktionalisierung des Großen Vaterländischen Krieges leitete dann wiederum Španov mit seinem erstmals 1949 erschienenen Roman Die Brandstifter (Поджигатели) ein, der unzählige Neuauflagen und umgehend den Stalinpreis bekam, entfalnaučnoj fantastiki), Moskva/Leningrad 1953; Allein Geheime Pfade erschien 1953 bis 1954 in fünf Auflagen, wurde dann aber zeitweise verboten, da es auch die Befreiung Jugoslawiens behandelte, mit dem man gerade diplomatische Konflikte hatte. Lin’kov hatte seit den 1930er Jahren als Journalist unter anderem für die Komsomol’skaja pravda gearbeitet, diente im Krieg bei den Grenztruppen, ehe er mit dem Roman Der Kapitän der „Alten Schildkröte“ (Капитан „Старой черепахи“) über die sowjetischen Grenzschützer bei Odessa in den 1920er Jahren seinen Durchbruch erzielte. Vom Zweiten Weltkrieg handelten dann die Spionage- und Landesverteidigungsabenteuer Die mit dem Herzen Mutigen (Отважные сердцем, 1951) und Im Hinterland des Feindes (Война в тылу врага, 1951). 93
Vgl. Brjancev: Konec osinogo gnezda.
94
So schreibt Lev Šejnin eine begeisterte Rezension über den Film Heldentat des Aufklärers, der von der Arbeit sowjetischer Aufklärer im deutschen Hinterland handelt. In der Pravda wird der Film Mutige Menschen für seine Unterhaltsamkeit und Spannung gelobt. Der Film erzählt die Geschichte einer im Kaukasus befindlichen Pferdefarm, die vom Kriegsgeschehen überrascht wird. Beide Kritiken beklagen die Vernachlässigung und bisherige Geringschätzung des Abenteuergenres, vgl. Šejnin, Lev: „Podvig razvedčika“ (Kino), in: Krasnaja zvezda 232 (02.10.1947), S. 4; Šejnin: O priključenčeskom žanre, S. 3; Kuznecov, Pavel: Fil’m o smelych ljudjach (Kino), in: Pravda 251 (08.09.1950), S. 3.
95
Vgl. die Filme Smelye ljudi. Reg. Konstantin Judin. Mosfil’m, SSSR 1950; Podvig razvedčika. Reg. Boris Barnet. Kievskaja kinostudija, SSSR 1947.
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tete er doch die These, dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion eigentlich von den Amerikanern angestiftet worden sei.96 Diese These entwickelte er mit Hilfe eines spannenden Abenteuersujets, das die Leser in die Machtzentren und zu den bekannten Politikern der westlichen Welt führte und sie mit an einer Masse von bislang unbekannten Geheimdokumenten konfrontierte. Španov schrieb damit gewissermaßen eine Krypto-Abenteuergeschichte des Zweiten Weltkriegs, in der die historischen Personen und Daten fast alle „authentisch“ waren, ihre Handlungen aber mit neuen, offiziell „geheim gehaltenen“ Begründungen versehen wurden.97 Španovs Beispiel folgten bald weitere Autoren, die die Zusammenarbeit der ehemaligen Alliierten mit den Nazis schon während des Dritten Reiches in verschiedenen Varianten durchspielten.98 So hatte sich zum Ende der Stalinzeit ein eigener Literaturbereich der „Kriegsabenteuer“ etabliert, der mit der „ Kleine Bibliothek der Kriegsabenteuer“ ( Библиотечка военных приключений) 1951 im Verlag Voenizdat eine eigene Buchreihe bekam und auch nach Stalins Tod nicht nur weiter bestand, sondern letztlich die einzige sowjetische Abenteuerliteratur blieb, die noch geschrieben wurde. Dieses in der Spätstalinzeit etablierte neue Abenteuergenre konstituierte aber mit zunehmenden Abstand zum Krieg ein immer stärker retrospektiv geprägtes diskursives Feld. Die Darstellungen faschistischer Untergrundkämpfer suggerierten dem sowjetischen Leser keine plausibel erscheinende unmittelbare Gefahr mehr und verloren ihren aktuellen Gegenwartsbezug auf 96
Vgl. Španov, Nikolaj: Podžigateli. Roman, Moskva 1950.
97
Bereits 1951 schrieb Spanov eine Fortsetzung des Spionageromans mit Die Verschwörer (Заговорщики), die nach mehreren Neuauflagen aber 1954 wieder bis zum Ende der Sowjetunion aus allen Bibliotheken verschwand, da sie eine starke Tito-feindliche Ausrichtung hatte. Vgl. Lepechin: Španov, S. 753f. Die Grundlage für Španovs Verschwörungstheorien bildete das erstmals auf Englisch 1946 publizierte Buch The Great Conspiracy. The Secret War against Russia zweier amerikanischer Journalisten, das 1947 auch auf Russisch erschien, vgl. Sayers, Michael; Kahn, Albert E. [Sejers, Majkl; Kann, Al’bert]: Tajnaja vojna protiv Sovetskoj Rossii, Moskva 1947.
98
Valentin Dmitrievič Ivanov (1902–1975) variierte in seinem ersten wissenschaftlich-fantastischen Roman Wir beherrschen die Energie (Энергия подвластна нам) das Thema der „Todesstrahlen“, die jetzt in einem geheimen Labor versteckt im Rheingebirge von deutschen Faschisten im Auftrag der Amerikaner entwickelt werden zum Kampf gegen die Sowjets; Nikolaj Vladimirovič Toman (1911–1974), der schon in den dreißiger Jahren begonnen hatte wissenschaftlich-fantastische Abenteuergeschichten zu schreiben, veröffentlichte 1952 den Roman Die Notlandung (Вынужденная посадка), der von einer fingierten Notlandung amerikanischer Spione im sowjetischen Hinterland während des Zweiten Weltkriegs handelt. Von dem ukrainischen Autor Jakov Isaakovič Kal’nickij (1895–1949) erscheint posthum 1950 Das Ende der unterirdischen Stadt (Конец подземного города), das ebenfalls die geheime Zusammenarbeit der Amerikaner mit deutschen Faschisten behandelt, die in der Arktis diesmal mit Hilfe einer unterirdischen Rüstungsfabrik geheime Angriffe gegen die Sowjets planen. Der Roman scheint stark von Beljaevs Verkäufer der Luft (1929) und Grebnevs Arktanija (1938) inspiriert zu sein. Vgl. Ivanov, Valentin: Ėnergija podvlastna nam. Naučno-fantastičeskij roman, in: Znanie sila 8 (1949), S. 21–30; 9, S. 23–33; 10, S. 20–26; 11, S. 21–32; S. 19–26; 1 (1950), S. 23–30; 2, S. 26–33; 3, S. 26–33; 4, S. 23–29; Toman, Nikolaj: Vynuždennaja posadka (Bibliotečka voennych priključenij), Moskva 1952; Kal’nickij, Jakov: Konec podzemnogo goroda (1948), Char’kov 1950.
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den sich zuspitzenden Kalten Krieg. Bereits in der Tauwetterzeit entwickelten sich die „Kriegsabenteuer“ mehr und mehr zu einem nostalgischen und romantisierenden Schreiben über die guten alten Zeiten der Spionageabwehr und der wahren Heldentaten, die in der stabilisierten sowjetischen Gegenwart der Stagnationszeit und des Ost-West-Konflikts keinen Ort mehr hatten. Julian Semonovič Semenovs (1931–1993) seit 1966 erscheinende Spionagegeschichten über den sowjetischen Superagenten als Standartenführer der SS, Max Otto von Stierlitz, und insbesondere die nach einer gleichnamigen Romanvorlage von 1970 gedrehte Fernsehserie Siebzehn Augenblicke des Frühlings (Семнадцать мгновений весны, 1973) wurden in der späten Sowjetunion zum Sinnbild dieser nostalgisch-mythologisierenden Rückwärtsgewandtheit des Abenteuergenres: Die anderen Welten der „heroischen“ Abenteuer lagen nicht mehr weit draußen in der Ferne, im Kosmos oder in der Zukunft, sondern in der eigenen Vergangenheit und waren somit selber zu einem anachronistischen Phänomen geworden.
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12. D er gr o ß e W u n s c h t r a u m – D ie Wisse nscha ftli c h e Fa n t a s t i k d e r N a c h krie g sze it 1 „Und ich dachte dann: Vielleicht ist unsere Vorstellung von Fantastik, die wir seit langem haben, nicht ganz so richtig; vielleicht ist das, was wir für das am meisten Charakteristische in der Fantastik gehalten haben – das Werk Jules Vernes – in gewissem Maße schon eine zurückgelegte Etappe; vielleicht müssen wir alles noch einmal von Neuem durchdenken, was über Wissenschaftliche Fantastik gesagt worden ist, und überlegen, ob ein solcher Terminus überhaupt existiert.“ Kirill Andreev (1945)1
Als schon vor Ende des Zweiten Weltkriegs ein Teil der Schriftsteller, Journalisten und Kritiker aus der Evakuation oder von der Front wieder zurück nach Moskau kam, stand man nicht nur bei der Abenteuerliteratur vor einem grundlegenden Neuanfang, sondern auch im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik. Allein administrativ war durch die Aufgabe des Konzepts einer „wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur“, wie man sie nach 1937 propagiert hatte, eine entscheidende Richtungsänderung eingeleitet worden. Dadurch war man nun nicht mehr dem Bereich der Kinderliteratur zugeordnet, sondern so wie 1934 von Gor’kij und Maršak ursprünglich intendiert, mit den Wissenschaftspopularisatoren in der neu gegründeten „Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ zusammengefasst. Diese Sektion war nicht das Ergebnis von inhaltlichen Auseinandersetzungen gewesen, sondern ihr Entstehen stand teils im Zusammenhang mit der Forcierung des Verteidigungsthemas am Vorabend des deutschen Überfalls, teils resultierte sie aus internen Aushandlungsprozessen im Schriftstellerverband. So hatte die verstärkte Hinwendung zur Landesverteidigung und Kriegsvorbereitung bereits seit 1939 dazu geführt, dass man versuchte, die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur stärker an der Wissenschaftspopularisierung auszurichten. Es wurde gefordert, dass man sich thematisch ganz auf die militärischen Aspekte neuer technisch-wissenschaftlicher Erfindungen und deren Anwendung konzentrieren solle (vgl. Abschnitt 10.3). Als es dann im Schriftstellerverband zu dem Beschluss kam, den im Bereich der wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur tätigen Schriftstellern eine eigene Sektion zu geben, legte man sie aufgrund ihrer geringen 1 „И я тогда подумал: может быть наше предстaвление о фантастике, которое у нас сложилось давно,
не так уже и верно; может быть то, что мы считали наиболее харатерным для фантастики – творчествo Жюль Верна − это в какой-то степени пройденный этап; может быть по новому надо рассматривать все то, что говорилось о научной фантастике, и существует ли такой термин.“ Kirill Andreev im April
1945 auf einer internen Diskussionsveranstaltung des Schrifstellerverbandes, vgl. RGALI f. 361, op. 22, ed. 3, l. 8 (Prav-lenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Stenogramma zasedanija sekcii naučno-chudožestvennoj literatury (pervoe zasedanie). Obsuždenie problem naučnoj fantastiki, 14-go aprelja 1945 g.).
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Anzahl mit den ebenfalls nicht sehr zahlreichen Autoren der Wissenschaftspopularisierung zusammen. Die längerfristigen Konsequenzen dieser Beschlüsse waren in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht absehbar, so dass bei der überwiegenden Anzahl der Autoren und Kritiker vorerst die Euphorie überwog, endlich ernst genommen zu werden, überhaupt eine eigenständige Sektion bekommen zu haben und nicht mehr im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur als Literatur „zweiter Wahl“ ein lästiges Anhängsel zu sein (Abschnitt 12.1. Die Büchse der Pandora). Dieser Neuanfang wurde paradoxerweise insbesondere auch vom Verlag für Kinderliteratur Detgiz getragen, in dem der für Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik zuständige Lektor und Kritiker Kirill Andreev immer häufiger begann, auch konzeptionell die Entwicklung des Genres zu begleiten. Andreev sollte bis in die sechziger Jahre einer der maßgeblichen Propagandisten und Popularisatoren einer sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik werden, wobei er aber im Unterschied zu anderen keine einheitliche Linie vertrat, sondern sich sehr stark nach den jeweiligen literarischen Moden und politischen Vorgaben richtete.2 Hatte er vor dem Krieg noch eine Orientierung an der amerikanischen Science Fiction der Gegenwart gefordert, proklamierte er ab 1945 eine Abkehr von allen westlichen Vorbildern und auch von Jules Verne, ehe er in der Tauwetterzeit dann wieder einer der großen Anhänger einer Wissenschaftlichen Fantastik im Stile Jules Vernes werden sollte.3 Mit seiner pathetischen Forderung nach einer Fantastik, die sich nicht primär auf die Wissenschaftspopularisierung oder ein spannendes Abenteuersujet richten solle, sondern eine eigene Poetik der Romantisierung der Wissenschaften entwickeln müsse, traf er in der Nachkriegszeit anfangs auf große Zustimmung (Abschnitt 12.2. Die Erfüllung des Wunschtraums). Allerdings blieben diese Neustrukturierungen im Bereich des Schriftstellerverbandes und diese Neukonzeptualisierung in Bezug auf das Genre in der Alltagspraxis des Literaturbetriebs in den ersten Jahren nach Kriegsende noch recht folgenlos, hatten doch die meisten Autoren und auch die Verlagsredaktionen längst schon ihre Themen und Manuskripte in Arbeit. Schaut man sich die in jenen Jahren erschienenen wissenschaftlich-fantastischen Werke an, fällt auf, dass angesichts der insgesamt relativ geringen Anzahl an Neuerscheinungen mehrere Geschichten ihre Handlung teils oder gänzlich ins „kapitalistische“ Ausland verlegten. Diese in „anderen Welten“ spielenden Werke lassen dabei deutlich eine Tendenz erkennen, die schon vor dem Krieg in den auf die „Verzauberung der eigenen Welten“ (vgl. Kapitel 10) hin geschriebenen Texten zu erkennen war, nämlich eine „fantastische“ Auseinandersetzung mit den Folgen des Großen Terrors und der Schauprozesse der 1930er Jahre zu wagen (Abschnitt 12.3. Das Schicksal des Scharfsichtigen).
2
Kurze biobibliographische Angaben zu seiner Personen finden sich bei Charitonov: Nauka o fantastičeskom, S. 68–70.
3
Vg. Andreev, Kirill: Tri žizni Žjulja Verna (Žizn’ zamečatel’nach ljudej), Moskva 1956.
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1 2. 1 Di e Büchs e d e r Pand o ra – Die S e kti o n f ü r w issenschaftlich-k üns tle ris che L i te r a tu r 4 „Ich muss sagen, dass ich im Laufe ziemlich vieler Jahre nichts außer Ignoranz, außer dieser herablassenden, um es mal vorsichtig zu sagen, Beziehung von Seiten der anerkannten Stützen der Literatur, von Seiten der Schriftstellerpresse, der Kritik gegenüber unserem Genre begegnet bin.“ Jurij Dolgušin (1945)4
Bereits Ende 1943, als sich der Kriegsverlauf entscheidend zugunsten der Sowjetunion und ihrer Alliierten gewendet hatte, begann man in den Verlagen auch mit längerfristigen Plänen für die Nachkriegszeit. So konstituierte sich bei Detgiz im November eine eigene „Kommission für wissenschaftlich-künstlerische Literatur“,5 die schon im Dezember 1943 ihre Arbeit als „Kommission für wissenschaftlich-populäre Literatur“ mit der Zusammenstellung des Dreijahresplanes für 1944 bis 1946 aufnahm.6 Eine inhaltliche Neuorientierung nahm man im „Plan für Fantastik und Abenteuer“ aber nicht vor, vielmehr dominierten Neuauflagen von sowjetischen und ausländischen „Klassikern“, um die „Nachfrage nach Büchern, die sich schon empfohlen haben und zu denen es den Leser hinzieht“, zu befriedigen.7 Denn die Hauptaufgabe müsse im Moment darin bestehen, den Leser zu unterhalten, und dann erst komme es auch darauf an, ihm zu helfen, etwas über die Wissenschaften zu lernen.8 Dabei wollte man lieber auf „große Sachen“ sowjetischer Autoren als auf Jules Verne verzichten, denn:
4 „Я должен сказать, что на протяжении довольно многих лет ничего кроме игнорирования, кроме
эдакого снисходительного, деликатно выражаясь, отношения со стороны признанных литературных столпов, со стороны писательской прессы, критики наш жанр не встречал.“ So Dolgušin bei einer in-
ternen Diskussion des Schriftstellerverbandes im April 1945, vgl. RGALI f. 361, op. 22, ed. 3, l. 40. 5
RGALI f. 360, op. 5, ed. 80 (Narodnyj komissariat Prosveščenija R.S.F.S.R.; Gosudarstvennoe izdatel’stvo detskoj literatury; Stenogramma soveščanija Komissii po naučno-chudožestvennoj literature ot 15 nojabrja 1943g.).
6
RGALI f. 360, op. 5, ed. 84, l. 1–17 (Narkompros, Detgiz; Stenogramma zasedanija komissii po sostavleniju trechletnego perspektivnogo plana po naučno-populjarnoj literature, 24-go dekabrja 1943); RGALI f. 360, op. 5, ed. 86, l. 1–10 (Narkompros, Detgiz; Stenogramma zasedanija komissii po sostavleniju trechletnego perspektivnogo plana po naučno-populjarnoj literature, 30-go dekabrja 1943).
7 „[...] необходимо удовлетворить спрос на уже зарекомендовавшие себя книги, к которым тянется
читатель“, so „Genosse [Grigorij] Adamov“ in der Diskussion des Plans, vgl. ebd., l. 3.
8
Vgl. „Genosse Armand“ in der Gründungssitzung, vgl. RGALI f. 360, op. 5, ed. 80, l. 13.
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„Jules Verne sucht man, ihm jagt man nach, man sehnt sich nach ihm. Wenn man keinen Jules Verne verlegt, entsteht in drei Jahren eine riesige Lücke in der Kinderbibliothek. Kinder lieben Sachen mit Fabel, mit Helden, von denen man sich nicht so bald trennt, sie leiden sehr, wenn sie sich sehr schnell von ihren Helden trennen müssen, die sie lieb gewonnen haben.“9
Entsprechend bestand die Hälfte der drei bis sechs Bücher, die Detgiz 1943 bis 1946 jährlich in der „Bibliothek der Abenteuer“ herausbrachte, aus ausländischen „Klassikern des Genres“, während nur ein knappes Drittel aus neuen Titeln bestand. Bei den Werken von Maurice Renard (Les Vacances de Monsieur Dupont, 1905), Verne (Une fantaisie du docteur Ox, Erzählungen 1874; Les Indes noires, 1877), Arthur Conan Doyle (The Maracot Deep, 1929), H. G. Wells (The New Accelerator, Erzählungen 1901), Jack London (Smoke Bellew, Erzählungen 1912), Edgar Allan Poe (The Gold-Bug, 1843) und Robert Stevenson (The Pavilion on the Links, 1880) wählte man vor allem weniger bekannte, selten aufgelegte Texte aus. Außerdem druckte man Neuauflagen von Valerij Ioil’evič Jazvickij (1883–1957) (Der Apparat von Džon Inglis, russ. Аппарат Джона Инглиса, 1929) und Michail Rozenfel´d (Das Meeresgeheimnis, russ. Морская тайна, 1937) sowie insgesamt fünf Erstveröffentlichungen von Grigorij Adamov (Die Vertreibung des Herrschers, russ. Изгнание владыки, 1946), Sergej Beljaev (Der zehnte Planet, russ. Десятая планета, 1945), Ivan Efremov (Schatten des Vergangenen, russ. Тень минувшего, 1945), Vladimir Nemcov (Der sechste Sinn, russ. Шестое чувство, 1946), I. Nečaev (Der weiße Zwerg, russ. Белый карлик, 1943) und Nikolaj Plavil’ščikov (Das fehlende Glied, russ. Недостающее звено, 1945).10 Auch im Schriftstellerverband nahm man schon vor Kriegsende die reguläre Arbeit in Moskau wieder auf. Nachdem es auch vor dem deutschen Überfall Initiativen gegeben hatte, die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur aufzuwerten, indem man sie erneut aus dem Bereich der Kinderliteratur herauslöste und sie – wie in den Verlagen auch – wieder als belletristische Form beim populärwissenschaftlichen Buch ansiedelte, wurde diese Richtung noch vor Kriegsende weiter verfolgt. So nahm die „Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ (Секция научно-художественной литературы) bereits im März 1945 ihre Arbeit auf. Da in ihr nicht nur die Fantastikschriftsteller, sondern auch die Autoren populärwissenschaftlicher Bücher organisiert waren, denen in den Verlagen breiter Raum eingeräumt wurde, entfaltete die Sektion im Unterschied zur Abenteuerkommission eine sehr viel stärkere Aktivität.
9 „Жюль Верна ищут, за ним охотятся, о нем тоскуют. Если пропустить Жюль Верна, за три года
образуется огрoмный прорыв в детской библиотеке. Дети любят фабульные вещи, с героями которых не так быстро расстаются, они очень страдают, когда им приходится слишком быстро расставаться с героем, которого они полюбили.“ Adamov in RGALI f. 360, op. 5, ed. 86, l. 3.
10
Vgl. Berežnoj; Borisov: Bibliografija.ru. Diese in der „Bibliothek der Abenteuer“ erschienenen Werke waren jedoch längst nicht die einzigen wissenschaftlich-fantastischen Abenteuergeschichten, die Detgiz in jenen Jahren auflegte, sondern es erschienen auch im übrigen Programm eine Reihe weiterer Neuauflagen und Erstveröffentlichungen, vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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Die Sektion existierte die ersten zweieinhalb Jahre gemäß den allgemeinen Statuten des Schriftstellerverbandes mit einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern, einem Leitungsbüro und einem verantwortlichen Redakteur, ehe sie Ende 1947 auch ein eigenständiges Statut bekam, in dem ihre konkreten Aufgaben und finanzielle Ausstattung festgeschrieben wurden.11 Mit dieser Festschreibung der Aufgaben veränderte die Sektion auch ihre Funktion, die sich von einem Kommunikationsforum zur Weiterentwicklung und Popularisierung der wissenschaftlich-künstlerischen und wissenschaftlich-fantastischen Literatur immer stärker zu einem Kontrollorgan ihrer Mitglieder und ihrer Publikationsvorhaben entwickelte (vgl. Kapitel 14 und 15). Doch die ersten Jahre waren vor allem durch den Aufbruch gekennzeichnet, und man hoffte auf die vor dem Krieg geöffnete „Büchse der Pandora“, die es endlich erlaubte, das Genre ohne massive literaturpolitische Maßregelungen zu entfalten (vgl. Abschnitt 10.3). Schon auf der ersten Sitzung stellte man die Pläne für „künstlerische Abende“ mit Autorenlesungen und theoretischen Vorträgen zu einzelnen Themenbereichen zusammen, man arrangierte Treffen mit renommierten Wissenschaftlern und Akademiemitgliedern sowie Aussprachen mit den „Massenlesern“. Die Sektion bereitete Jubiläumsveranstaltungen vor, plante eine eigenständige Zeitschrift und Sammelbände. Zudem nahm man Kontakte mit der Presse auf, kontaktierte Verlage und Filmstudios, stellte Bibliografien zusammen und trat an potentielle Autoren mit Themen zur Bearbeitung heran.12 Während sich die Sektionsleitung mindestens einmal im Monat traf, veranstaltete man in der ersten Zeit, abgesehen von den Sommermonaten, zumeist wöchentlich donnerstags im „Klub der Schriftsteller“ des Hauses der Literaten an der Vorovskij-Straße 50 in Moskau einen „künstlerischen Abend“, an dem Autoren ihre neuen Projekte und Werke vorstellten, man strittige Themen und methodische Fragen diskutierte oder Journalisten, Redakteure, Kritiker und Wissenschaftler zu Aussprachen über Perspektiven der Zusammenarbeit und neue Forschungsthemen einlud.13 Diese rege Veranstaltungstätigkeit nahm aber schon gegen Ende 1946 merklich ab, zum einen, da es schlicht an neuen Werken und Themen fehlte, zu denen man einladen konnte, zum anderen aber vor allem, weil man mehr und mehr mit sich selber beschäftigt war. Diese Beschäftigung mit internen Meinungsverschiedenheiten und Konflikten um die inhaltlich-thematische Ausrichtung der Sektionsarbeit hatte zwar auch mit dem kulturpolitischen Kurswechsel der Ždanovščina zu tun. Die Konflikte waren aber vor allem mit einem Generationswechsel verbunden, bei dem eine Minderheit von jungen, äußerst aktiven Autoren mehr und mehr die Macht innerhalb der Sektion übernehmen konnte. So hatte die Sektion 1945 21 Mit11
RGALI, f. 361, op.15, ed. 816, l. 81–89 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat; Protokol No. 41 zasedanija Sekretariata Sojuza Sovetskich Pisatelej ot 17 oktjabrja 1947 goda).
12 RGALI,
f. 361, op. 22, ed. 1, l. 1–3 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury; Protokoly NoNo 1–5 zasedanij bjuro sekcii na-chud.lit-y, nač. 20. marta 1945, kon. 22. noja. 1945).
13
Vgl. zum Beispiel der Vierteljahresplan für November 1945 bis Januar 1946 RGALI, f. 361, op. 22, ed. 1, l. 11.
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glieder, von denen mehr als die Hälfte (elf Personen) erst seit 1941 Mitglied des Schriftstellerverbandes war, immerhin acht aber seit seiner Gründung 1934 ihm zugehörten, darunter Sergej Beljaev, Lev Gumilevskij, Michail Il’in, Jakov Rykačev, Mariėtta Šaginjan und Viktor Šklovskij.14 Allerdings schrieb nur ein gutes Drittel (sieben Personen) der Mitglieder Wissenschaftliche Fantastik, die übrigen arbeiteten im Bereich populärwissenschaftlicher Literatur beziehungsweise im so genannten wissenschaftlich-künstlerischen Genre oder als Kritiker. Unter den Fantastikschriftstellern hatten wiederum nur Sergej Beljaev und Mariėtta Šaginjan vor 1941 in dem Genre etwas publiziert, wobei Šaginjan seit ihrer Mess-Mend-Serie nichts mehr in dem Bereich geschrieben hatte und sich – wie dargestellt – vor allem für die Schaffung einer sowjetischen Detektivliteratur einsetzte. Beljaev publizierte zwar seit 1937 wieder regelmäßig wissenschaftlichfantastische Werke, war und blieb aber innerhalb der Sektion einflusslos. Auf diese Weise bekam eine sehr kleine Gruppe von recht jungen Fantastikautoren und Kritikern, die alle erst kurz vor oder nach Kriegsende in den Schriftstellerverband aufgenommen worden waren, durch die Sektionsmitgliedschaft relativ großen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Wissenschaftlichen Fantastik, den sie vermehrt auch mit administrativen Mitteln versuchte literaturpolitisch durchzusetzen (vgl. Kapitel 14). Allerdings hatte diese Gruppe außerhalb der Sektion nur sehr begrenzten Erfolg, da es ihr weder innerhalb des Schriftstellerverbandes noch in den Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen oder in den Verlagen gelang größeren Rückhalt für die von ihr vertretene Richtung zu gewinnen. So bekam die Sektion innerhalb des Schriftstellerverbandes schon nach wenigen Jahren einen äußerst schlechten Ruf: „Genossen! Es ist kein Geheimnis, dass es unter den Schriftstellern keine Fantastikschriftsteller gibt, dass im Verband über die Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur die Meinung verbreitet ist, es handele sich um eine Gesellschaft zur gegenseitigen Verzückung und zum Verschweigen von Misserfolgen und Fehlschlägen. [...] Obwohl es sich dabei um eine inoffizielle Anschuldigung handelt, ist sie doch ernsthaft genug, um sie ernsthaft zu bereden.“15
Aus der „Literatur des großen Wunschtraums“ (Литература большой мечты),16 wie sie 1945 Kirill Andreev für die Weiterentwicklung des Genres konzipierte, wurden innerhalb weniger Jahre „Wunschträume, die stark zur Seite hinken“ (мечты, которые хромают совершенно в 14
Vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 5, l. 1–57 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury; Delo N 4).
15 „Товарищи! Не секрет, что среди писателей не фантастов, в Союзе бродит такое мнение о секции
научно-художественной литературы, как об обществе взаимного восхищения и умалчивания неуспехов и неудач. [...] Это хотя и неофициальное обвинение но достаточно серьезное, чтобы серьезно о нем говорить.“ So Georgij Tuškan auf einer internen Diskussion im März 1951 über die Sek-
tionsarbeit, vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 41, l. 48. 16
So Kirill Andreev 1945 in seiner Konzeptualisierung der Wissenschaftlichen Fantastik, RGALI, f. 361, op. 22, ed. 2, l. 1–7 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury; Tezisy doklada K. A. Andreeva „Problemy naučnoj fantastiki“)
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сторону), wie es der Vorsitzende der Sektion, Nikolaj Michajlov, 1949 einmal formulierte. Die
ersten zwei Jahre nach Kriegsende war man hingegen noch durchaus optimistisch, dass es endlich gelingen könnte, die nunmehr von der Abenteuerliteratur losgelöste „Wissenschaftliche Fantastik“ als eigenständiges Genre in den Kanon des Sozialistischen Realismus zu integrieren.
1 2. 2 Di e Erf ü llung d e s Wuns chtra um s – K i r i ll A n d r e e vs Konz ept einer Wis s ens chaftlich e n F a n ta sti k Als der verantwortliche Redakteur für Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik beim Verlag Detizdat, Kirill Konstantinovič Andreev (1899–1967), im Februar 1941 seine Ausführungen zur amerikanischen Science Fiction im Schriftstellerverband vorgestellt hatte und anregte, einige dieser Werke auch in der Sowjetunion zu publizieren, brachen – wie dargestellt – die Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Vertretern des Genres noch einmal offen hervor (vgl. Abschnitt 10.3). Vier Jahre später, im April 1945, eröffnete derselbe Andreev mit 31 Thesen zum „Problem der Wissenschaftlichen Fantastik“ die erste inhaltliche Sitzung der neu gegründeten Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur.17 Dabei schloss er unmittelbar an seinen Vorkriegsvortrag über die amerikanische Science Fiction an, revidierte aber einige seiner damaligen Positionen grundlegend. Letztlich stellten seine Thesen einen erneuten Versuch dar, die Wissenschaftliche Fantastik mit der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur zu versöhnen. Dies zeigte schon seine erste Ausgangsthese, dass die Wissenschaftliche Fantastik eine „Literatur des großen Wunschtraums“ (Литература большой мечты) sei, die sowohl in Bezug auf die Kunst als auch auf die Wissenschaften in der sozialistischen Gesellschaft ein Existenzrecht habe. Denn das Genre spiele eine riesige Rolle bei der Formierung des Bewusstseins, führe am tiefsten in die Wissenschaften ein und zeige die zukünftige Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft.18 Wissenschaftliche Fantastik habe somit sowohl eine erzieherische als auch eine popularisierende und visionäre Funktion und sei insofern mit dem utopischen Roman und der Abenteuerliteratur genetisch verwandt, aber trotzdem vollkommen unabhängig von ihnen. Denn bei ihr müssen der Mensch und seine wissenschaftliche Erfindung thematisch im Zentrum stehen, während die „stoffliche Entfaltung des Themas mit künstlerischen Mitteln“ ( сюжетное раскрытие темы художественными средсвами)19 definitorisch die Abgrenzung zur populärwissenschaftlichen Literatur markiere. Entsprechend gehe es dem Genre nicht primär um die Popu17
RGALI, f. 361, op. 22, ed. 2, l. 1–7 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury; Tezisy doklada K. A. Andreeva „Problemy naučnoj fantastiki“).
18
Ebd., l. 2.
19
Ebd., l. 6.
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larisierung nützlichen Wissens, sondern um die „Romantisierung der Wissenschaft und Technik, die Erfüllung des Wunschtraums, der Wirklichkeit wird“ (романтизация науки и техники, воплощение мечты, ставшей явью).20 Das sei auch der Unterschied zur amerikanischen Science Fiction, die eigentlich nur eine in die Zukunft extrapolierte Abenteuerliteratur darstelle, für die die Fantastik nur ein Verfahren bilde und bei der es keine großen wissenschaftlichen Ideen gebe.21 Damit sollten nicht mehr das ungeklärte Naturrätsel oder die widerständigen Naturgesetze im Fokus des Interesses liegen, deren angestrebte Lösung beziehungsweise Überwindung im Sinne eines „Romans der Geheimnisse“ die Entfaltung des Abenteuersujets ermöglichten, sondern Andreev erklärte den „großen Wunschtraum“ des Menschen zum Ausgangspunkt der Handlung. Nicht die verstörende Konfrontation mit bislang unverständlichen Naturphänomenen, sondern die Vision des wahren Menschen als gesellschaftliche Wirklichkeit sollte entfaltet werden. Mit dieser Verschiebung des Fokus vom widerständigen Naturobjekt zum über alle Zweifel sich erhebenden menschlichen Subjekt verlor die Handlung, das „Abenteuersujet“, massiv an Bedeutung, und an ihre Stelle traten ausführliche Reflektionen und persönliche Befindlichkeiten der Helden. Anstatt auf spannungsvolle Unterhaltung setzte Andreev auf die „Romantisierung“ der Wissenschaften durch den Menschen, die er durch eine „realistische“ Darstellung der Wissenschaftler der Zukunft als Sympathieträger und Identifikationsfiguren erreichen wollte: „Die Helden der Wissenschaftlichen Fantastik sind keine Ungeheuer und keine Götter. Sie sind Menschen, die die Träume der Zeitgenossen vom morgigen Tag verkörpern.“22 Als einzige Werke, die dieser Genredefinition gerecht würden, nannte Andreev Jurij Dolgušins Wundergenerator und Aleksandr Kazancevs Romane Die brennende Insel sowie Die arktische Brücke. Alle anderen Werke beschritten lediglich „Seitenwege“ des Genres, die meist zu sehr das Abenteuersujet (авантюрный сюжет) betonten, wie es bei Aleksej Tolstoj, Aleksandr und Sergej Beljaev, Grigorij Adamov, Vladimir Obručev oder Nikolaj Španov der Fall sei.23 Damit verwarf er aber nicht nur die Option eines wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerromans, wie man sie in den Vorkriegsjahren propagiert hatte. In der Reminiszenz auf Gor’kijs Konzept des „Romantischen“ verortete Andreev den Kern des Genres im vom Wunschtraum erfüllten Inneren des Menschen, der die Fähigkeit besitze, diesen Wirklichkeit werden zu lassen. Damit stellte er ein „romantisiertes“ Menschenbild in den Vordergrund, bei dem die „innere“ schöpferische Einbildungskraft sowohl die „äußere“ Handlung dominiert als auch die „materielle“, wissenschaftlich erfassbare fiktionale Welt erst konstruiert.
20
Ebd., l. 7.
21
Ebd., l. 4f.
22
„Герои научной фантастики не чудовища и не боги. Они – люди, воплощающие в себе мечты современников о завтрашнем дне.“ Ebd., l. 7.
23
Ebd., l. 5.; RGALI, f. 361, op. 22, ed. 3, l. 20 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury; Obsuždenie problem naučnoj fantastiki, 14.4.1945)
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Mit der inneren „Erfüllung“ des Menschen durch einen Wunschtraum geriet diese Neudefinition Andreevs natürlich in gefährliche Nähe zur Literatur der Romantik. Bestand doch der einzige Unterschied zu den Nachtträumen der Romantiker darin, dass in Andreevs „realistischer“ Fantastik sowohl für die Figuren als auch für die Leser keine Unschlüssigkeit mehr bestehen sollte in Hinsicht auf die tatsächliche, erstrebenswerte „Wirklichkeit“ ihrer Tagträume. Anstelle der schauerlichen Inszenierung des Fantastisch-Unheimlichen sollten jetzt – in der Terminologie Todorovs – erhebende Gefühle des Fantastisch-Wunderbaren geweckt werden. Diese Berührungspunkte seines Fantastikbegriffs schienen auch Andreev bewusst zu sein, da er sich noch einmal explizit von der „romantischen Fantastik“ E.T.A. Hoffmanns und Edgar Allan Poes, aber auch der Fantastik eines Gilbert Keith Chesterton, Pierre Mac Orlan (1882–1970) und Aleksandr Grin abgrenzte.24 In der Diskussion von Andreevs Thesen rief diese deutliche Privilegierung der wissenschaftlichen Fantastik gegenüber dem abenteuerlicheren Sujet allerdings kaum Widerspruch hervor, vielmehr lobte man vor allem Andreevs Verdienst, erstmals in den Räumen des Schriftstellerverbandes (die Vorkriegsdiskussionen hatten noch in den Gebäuden von Detgiz stattgefunden) das Genre öffentlich zur Diskussion gestellt zu haben.25 Auch sein Bestreben, mit der Betonung des „großen Wunschtraums“ die menschliche Fantasie in der Genredefinition eindeutig gegenüber der Wissenschaftlichkeit privilegiert zu haben, fand großen Anklang, wie ein Diskussionsteilnehmer ausführte: „Es scheint, dass [...] das Wissenschaftliche hier schon eine schädliche Sache sei. Im Übrigen war ich von Anfang an davon überzeugt und bin, nachdem ich viele Genossen gehört habe, bei der Überzeugung geblieben, dass die Fantasie ein unausrottbares Gefühl der menschlichen Psyche ist. Und das muss man in jeder Weise entwickeln, genauso wie wir die Kräfte unseres seelischen Lebens entwickeln. Deshalb, scheint mir, wenn hier gefordert wird, dass der Schriftsteller, der ein Werk im Gebiet der Fantastik schafft, ein Wissenschaftler sein müsse, dass er wirklich beweisen können müsse, dass das keine Fantasie sei, sondern eine Tatsache, das ist doch nichts anderes als zu fordern, dass er kein Schriftsteller sein soll, sondern ein Wissenschaftler, Erfinder, Techniker, Edison, was auch immer. Das ist dann kein fantastischer Roman mehr, sondern eine künstlerische Nacherzählung einer Hypothese.“26 24
Ebd., l. 2f.
25
So Dolgušin, vgl. ebd., l. 40.
26 „Кажется, что [...] научность здесь – это уже вредная вещь. Между тем, с самого начала я был
убежден и после того, как я слушал многих товарищей я остался при том же убеждении, что фантазия это неистребимое чувство в человеческой психике. И ее следует всячески развивать также, как мы развиваем все силы нашей душевной жизни. Поэтому, мне кажется, требовать, чтобы писатель, создающий творения в области фантастики был ученым, чтобы он доказывал действительно на дел, что это есть не фантазия, а это есть факт, это все равно, что требовать, чтобы он не был писатель, а ученый, изобретатель, техник, Эдисон, все что угодно. Это уже не ялвяется фантастическим романом, а это является художественным пересказом гипотезы.“ So ein Genosse Ad’imjan gegen Ende der Dis-
kussion, vgl. ebd., l. 43f.
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Der in dieser zusammenfassenden Stellungnahme angesprochene Konflikt in Andreevs Neudefinition des Genres zwischen der Hervorhebung der kreativen Fantasie als Schöpfer des großen Wunschtraums und der Betonung der wissenschaftlichen Realisierbarkeit dieser Träume, zwischen romantischer Hybris und realistischem Anspruch sollte in den folgenden Jahren entscheidend werden für die Diskussion um den Status der Wissenschaftlichen Fantastik, wohingegen die Frage des abenteuerlichen Sujets und der „Technik des Geheimnisses“ kaum noch eine Rolle spielte. Damit hatte man bereits 1945 in der Konzeption einer „Literatur des großen Wunschtraums“ in der Sektion für künstlerisch-wissenschaftliche Literatur einen Weg eingeschlagen, der deutlich wieder in die Richtung ging, die zehn Jahre zuvor Maksim Gor’kij und Samuil Maršak propagiert hatten, nur dass man diesmal die „Wissenschaftliche Fantastik“ nicht außerhalb dieses Bereichs stellte, sondern sie als deren zentralen Bestandteil konzeptualisierte, während das Abenteuergenre eindeutig als westliche Schablone abgelehnt wurde. In der literarischen Praxis der unmittelbaren Nachkriegszeit spielte dieser erneute Richtungswechsel jedoch noch keine große Rolle, er sollte erst ein paar Jahre später zu massiven Konflikten in der Sektion führen. Bis dahin schrieben die meisten Autoren in dem Stil einer wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur weiter, wie man sie vor dem Krieg entwickelt hatte.
12.3 Das Schick s a l d e s Scharfs ich ti g e n – w isse ns cha ftlich-fa nta s tis c h e G r e n z ü b e r sc h r e i tu n g e n 27 „Die Menschen hielten über ihren Köpfen große Transparente. ‚Wir fordern ein Ende der Gerichtsfarce‘, – las ich auf einem. ‚Wir fordern feste Freundschaft mit den Russen‘, ‚Gegrüßt sei die Sowjetunion‘, – stand auf den anderen.“ Igor’ Vsevoložskij (1947)27
Nachdem in der Vorkriegszeit die Wissenschaftliche Fantastik bereits im Rahmen der Kinderliteratur wieder erhöhte Aufmerksamkeit bekommen hatte und in den ersten Monaten nach Kriegsende auch vermehrt in der unionsweiten Presse wie der Komsomol’skaja pravda oder der Literaturnaja gazeta erwähnt worden war, begannen in den Filialen des Schriftstellerverbandes auch allmählich einige Manuskripte im so genannten „Selbstfluss“ (самотëк) einzutreffen, die dann an die Moskauer Sektion für künstlerisch-wissenschaftliche Literatur weitergeleitet wur27
„Люди держали над головами большие транспарaнты. ‚Мы требуем прекращения судебного фарса‘, – прочел я на одном. ‚Мы требуем крепкой дружбы с русскими‘, ‚Да здравствует Советский Союз‘, – было на других.“ Vsevoložskij, Igor’: Sud’ba prozorlivca. Fantastičeskaja povest’, Dzaudžikau 1948, S. 55.
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den. Eines dieser Manuskripte bekam man im April 1946 von der Kirgisischen Filiale des Schriftstellerverbandes mit der Bitte um eine Beurteilung weitergeleitet, da man vor Ort keinen Experten habe, der sich mit wissenschaftlich-fantastischer Literatur auskenne.28 Erst auf wiederholte Nachfrage aus Kirgistan gab man das Werk im Herbst dem Sektionsmitglied Aleksandr Kazancev zur Begutachtung, der den fantastischen Roman Probleme des Friedens (Проблемы мира) allerdings für eine Publikation ablehnte.29 Der Roman Probleme des Friedens handle von einer urzeitlichen Hochzivilisation von vor über 35.000 Jahren, die zum Schutz vor wilden Tieren unterirdisch gelebt habe und ein Vorbild für die heutige Gesellschaft sein solle. Allerdings stelle der Roman mit der dort beschriebenen Gesellschaftsordnung, die sozialistische Vorstellungen mit christlicher Religion verbinde bei gleichzeitiger Trennung der Geschlechter, der Vernichtung kranker Kinder, der Verehrung der Vorfahren und eines kollektiven Weisenrates eine ideologisch gefährliche Mischung dar, deren Beschreibung literarisch armselig und voller Klischees sei.30 Der Autor des Romans, Trofim Luk’janovič Antonov, ein „alter Ingenieur“ aus Frunze, akzeptierte diese im Kontext der sowjetischen Literaturpolitik durchaus nachvollziehbare Ablehnung jedoch nicht und schrieb einen langen Brief an den „Patron der Verteidigungsschriftsteller“ (патрон оборонных писателей), Marschall Kliment Vorošilov, mit der Bitte ihm zu helfen.31 Denn der Roman sei in seiner Rehabilitierung von Christus als „Großen Humanisten“ – so Antonov – hoch aktuell, dessen Botschaft erst später von der Staatskirche verfälscht worden sei. Habe Christus doch gegen die römische Oligarchie gekämpft und als erster ein „Reich des Glücks auf Erden“ („царствo счастья на Земле“) vertreten, zu dem heute „mit harter Hand der Große Humanist I. V. Stalin die Menschheit“ führe („твердою рукою направляет человечество Великий Гуманист И.В.Сталин“).32 Auch die politische Botschaft hätten die „ungebildeten Kritiker des Schriftstellerverbandes“ („малограмотные критики из Союза писателей“) nicht verstanden: „[...] in einer Zeit, in der das christliche Thema für uns Kommunisten in der Art, wie es in den ‚Problemen des Friedens’ dargestellt wird, ein äußerst wichtiges, ich würde sogar sagen, gewinnbringendes ist, weil es die Heuchelei unseres grimmigsten Feindes, der christlichen Opferpriesterkaste, trifft und uns eine günstige Vergleichsposition verschafft, indem wir die Grundlagen des uns gegnerischen Lagers zersprengen.“33 28
Vgl. der Briefwechsel und die Rezension von Kazancev von T.A. Atonovs Roman Probleme des Friedens 1946–1947, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 11, l. 1–11.
29
Ebd., l. 2, 10–11.
30
Ebd., l. 10f.
31
Ebd., l. 3.
32
Ebd., l. 5.
33 „[...] в то время, как именно христианская тема для нас, коммунистов, в том виде, как она изображена
в ‚Проблемах мира‘, является наиболее важной, я бы сказал, выигрышной, т.к. бьет по лицемерию нашего самого лютого врага, христиано-жреческого сословия и дает выгодные нам сравнения, в корне подрывающие устои противного нам лагеря.“ Ebd., l. 6.
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Tatsächlich fühlte man sich im Ministerrat der UdSSR, dem Vorošilov in jenen Jahren vorsaß, gemüßigt, sich beim Schriftstellerverband für den Autor zu verwenden, indem man darum bat, die Ablehnung des Manuskripts zu überdenken und mit dem Autor in Kontakt zu treten, um durch Überarbeitungen die Publikation des Romans doch noch zu retten.34 Zwar widersetzte sich der Schriftstellerverband dieser Bitte, indem man sowohl an den Autor als auch an das Ministerium einen Brief mit einer ausführlicheren Begründung der Ablehnung schrieb, doch der Vorgang zeigt, wie ungesichert der Status der Wissenschaftlichen Fantastik noch war, denn dieses Manuskript stellte keineswegs eine Ausnahme dar.35 „Fantastik“ schien weiterhin bei den meisten Lesern die aus der Abenteuerliteratur übernommene Konnotation „anderer Welten“ zu assoziieren, die einem etwas über die eigene Gesellschaft sagen können, sei es als abschreckendes, anti-utopisches Schreckensbild oder als utopische Vision, wie in dem hier vorgestellten Beispiel.36 Neben der äußerst diffusen ideologischen Positionierung der Manuskripte – ihrer „politischen Naivität“ – und der notorisch schlechten Qualität war vor allem diese Faszination für alles, was außerhalb der Sowjetunion liegt, das augenfälligste Merkmal.37 Und dieses Merkmal zeichnete nicht nur abgelehnte Manuskripte, sondern bis 1947 auch einen Großteil der publizierten Texte aus. Zwar hatte man die Neubegründung des Genres 1937 explizit auf eine wissenschaftlichfantastische Verzauberung der eigenen Welt ausgerichtet, doch selbst in den in jenen Jahren publizierten Geschichten brach das „Andere“ immer wieder in die sowjetische Idealwelt als fantastischer Geist aus der Flasche (bei Lagin), aus dem arktischen Untergrund (bei Grebnev) oder als aufgetautes Mammut in Moskau (bei Obručev) ein. Entsprechend hatte auch Kirill Andreev 34
Ebd., l. 8–9.
35
Andere Autoren schreiben von Interplanetaren Reisen, auf denen „wissenschaftliche Expeditoren“ auf dem Mars die ideale Gesellschaftsform entdecken, oder von einem Gehirnintensifikator, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zur Vernichtung von Menschen nutzen, während er in der Sowjetunion unter Stalin in einem „Institut der Experimentalbiologie“ zur mehrfachen Steigerung der menschlichen Gehirntätigkeit eingesetzt wird, vgl. RGALI f. 631,op. 22, ed. 19, l. 1–7 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Recenzii S. M. Beljaeva na rasskaz P. G. Čerepanova „Mežplanetnoe putešestvie“. 24 oktjabrja 1948 g.); Ebd., f. 631, op. 22, ed. 27, l. 1–29 (Recenzii na proizvedenija členov SSP i otdel’nych lic; postupivšie v sekcija načnoj-chudožestvennoj literatury. Po alfavitu avtorov proizvedenij na bukvy „B“-„Š“. 1949 g.).
36
Dass in dem genannten Beispiel das utopische Moment stark an die Philosophie Nikolaj Fedorovs und entsprechende Überlegungen Konstantin Ciolkovskijs erinnert, die schon in den zwanziger Jahren in der Abenteuerliteratur nur noch als anti-utopische Visionen auftauchten, ist eine andere Frage (vgl. Kapitel 4). Womöglich hat die Rehabilitierung der Russisch-Orthodoxen Kirchen während des Krieges den Autor zum Verfassen seines Manuskripts motiviert.
37
Alle diese Werke werden meist abgelehnt, da sie vollkommen abstrakte oder längst literarisch verarbeitete Ideen oft politisch sehr naiv und schablonenhaft darstellen würden und vor allem in keiner Hinsicht den Vorstellungen des Sektionsbüros entsprachen, vgl. die Bücher-Rezensionen in RGALI, f. 631, op. 22, ed. 27, l. 1–29; Ebd., f. 631, op. 22, ed. 35, l. 1–5 (Recenzii na proizvedenija členov SSSP i otdel’nych lic, postupivšie v seksiju naučnoj-chudožestvennoj literatury, 20/VI 1950 – 20/XII 1950gg.).
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in seiner Konzeptualisierung der „Literatur des großen Wunschtraums“ im April 1945 explizit drei Werke als mustergültig hervorgehoben, deren Handlung zu einem wesentlichen Teil im Ausland spielte, und zwar Jurij Dolgušins Wundergenerator sowie zwei Romane von Aleksandr Kazancev, Die brennende Insel und das noch in der Druckvorbereitung befindliche Werk Die arktische Brücke. Beide Autoren waren in den Vorkriegsjahren von der Kritik noch als beispielhaft für die Neuausrichtung des Genres gelobt worden, da sie qualitative Sprünge in der Wissenschaft mit engem Bezug auf die sowjetische Gegenwart behandelten (vgl. Kapitel 10). Jetzt hingegen wurde die im faschistischen Deutschland (im Wundergenerator) beziehungsweise kapitalistischen Westen (in der Brennenden Insel) spielende Parallelhandlung aber zum Hauptgrund, weswegen diese Werke massive Publikationsschwierigkeiten bekommen sollten. So scheiterte die schon vor dem Krieg geplante Buchpublikation von Der Wundergenerator nach über einem Jahr Redaktionsarbeit, da sich Dolgušin weigerte, die im nationalsozialistischen Deutschland spielenden Handlungslinien vollkommen umzuschreiben. Denn die idealisierte Darstellung der „angeblich kristallreinen, für Gerechtigkeit, Moral und Ehre Wache stehenden deutschen Wissenschaftler“ („ якобы кристально-чистые, стоящие на страже справедливости, морали и чести немецкие ученые“),38 die sich allen Angeboten und Übergriffen der Faschisten standhaft verweigern und heimlich mit kommunistischen Arbeitern kooperieren, entsprach nicht mehr dem offiziellen Bild des nationalsozialistischen Deutschlands. Galten doch nun – wie im vorigen Abschnitt angedeutet – die deutschen Wissenschaftler und Ingenieure, die in geheimen Rüstungsprojekten an neuer Kriegstechnik wie der V-Rakete, der Atomwaffe und anderen „Wunderwaffen“ geforscht hatten, als besonders suspekt, da sie nicht nur die Nationalsozialisten unterstützt, sondern ihre Erfindungen sogar noch an die Amerikaner verraten hatten. So veranlasste das ZK des Komsomol in letzter Minute, dass die schon fertig gestellte Druckauflage wieder eingestampft wurde,39 da das Werk „von einem politisch blinden Menschen, der sich außerhalb der Zeit und der Ereignisse“ befände („политически слепым человеком, находящимся вне времени и событий“), verfasst sei.40 Aleksandr Kazancevs Roman Die arktische Brücke (Арктический мост) entsprach zum Zeitpunkt seiner Drucklegung angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den ehemaligen Alliierten USA und Sowjetunion und zu Beginn des Kalten Krieges ebenfalls nicht mehr dem politischen Zeitgeist. Diesen wissenschaftlich-fantastischen Roman hatte Kazancev zu schreiben begonnen, nachdem er als leitender Ingenieur des Industriesektors des sowjetischen Pavillons auf der Weltausstellung 1939 in New York gewesen war.41 Noch während des Krieges waren Kapitel des Romans in der Zeitschrift Technika – molodeži erschienen, dessen Sujet ganz im 38
D’jakov, B: Bol’še vnimanija žanru naučnoj fantastiki, in: Komsomol’skaja pravda (27.10.1946), S. 2.
39
Vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 26, l. 97–98 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury: Stenogramma zasedanija. Obsuždenie sbornika “Doroga bogatyrej“ (L. D. Lomaškina) i povesti L. Platova “Archipelag isčeznuvšich ostrovov”. 26 dekabrja 1949 g.).
40
D’jakov, B: Bol’še vnimanija žanru naučnoj fantastiki, S. 2.
41
Vgl. Britikov: Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 156.
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Zeichen der alliierten Zusammenarbeit stand.42 Das Werk stellte eine aktualisierte Version von Bernhard Kellermanns deutschem Erfolgsroman Der Tunnel (1913) dar und handelte von der Verlegung eines „schwimmenden Tunnels“, der die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika verbinden sollte (bei Kellermann verlief der Tunnel durch den Atlantischen Ozean von Westeuropa nach Nordamerika). Dieser – wie die Komsomol’skaja pravda schrieb – ein „unnützes, zweckloses, technisch analphabetisches Problem“ („проблемой нежизненной, бесцельной, технически безграмотной“)43 behandelnde Roman konnte zwar noch nach der ideologischen Kehrtwende von Ždanov 1946 bei Molodaja gvardija erscheinen, kostete aber dem verantwortlichen Leiter der Abteilung für Abenteuer und wissenschaftlich-fantastische Literatur anschließend seinen Posten.44 Doch auch die übrigen während des Krieges oder kurz danach geschriebenen wissenschaftlich-fantastischen Werke über „andere Welten“, die noch veröffentlicht werden konnten, beinhalteten – manchmal noch deutlicher als in der Vorkriegszeit – immer auch einen unmittelbaren Realitätsbezug auf die sowjetische Gegenwart. Schon 1945 veröffentlichte Sergej Beljaev, der als einziges Sektionsmitglied seit den 1920er Jahren ununterbrochen in dem Genre aktiv gewesen ist, gleich zwei fantastische Werke: den Roman Die Abenteuer von Sėmjul’ Pingl’ (Приключения Сэмюэля Пингля) und den Kurzroman Der zehnte Planet (Десятая планета, 1945).45 Während ersterer die Abenteuer eines einfachen Mannes in einem englischsprachigen westlichen Land beschreibt, dessen überflüssiges Leben von den Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten der kapitalistischen Welt gekennzeichnet ist,46 gegen die auch die chemisch-biologischen Menschenexperimente eines „verrückten Wissenschaftlers“ nichts auszurichten vermögen, erzählt Der zehnte Planet von einer imaginären Weltraumreise.47 Dieser Roman, der nach seiner Erstveröffentlichung 1945 nie wieder in der Sowjetunion verlegt wurde, lässt sich auch als ein programmatisches Traktat darüber lesen, dass fantastische „andere Welten“ immer auch die Spiegel- oder Schattenseiten der eigenen Geschichte verhandeln. So spielt die Handlung im Jahre 1956 und berichtet von einem Astronomieprofessor, der
42
Vgl. Berežnoj; Borisov (Hg.): Bibliografija.ru.
43
D’jakov: Bol’še vnimanija žanru naučnoj fantastiki, S. 2.
44
RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 19; Auch sein Vorkriegsroman Die brennende Insel, dessen Handlung zum Großteil im Westen spielte und zudem politisch naive russische Wissenschaftler zeigte, konnte im Kontext der Ždanovščina nicht mehr neu aufgelegt werden. Vgl. zur vernichtenden Kritik an dieser Abenteuerliteratur im Stil der Vorrevolutionszeit, vgl. Rubinštejn, Lev: A. Kazancev. „Arktičeskij most“; Ju. Dolgušin. „Generator čudes“ (Rez.), in: Znamja 1 (1947), S. 180–183.
45
Zu Beljaevs Nachkriegswerk vgl. [Anon.]: Večer S. Beljaeva (V Sojuze Sovetskich Pisatelej SSR), in: Literaturnaja gazeta 51 (15.12.1945), S. 4; Britikov: Russko-sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 206f.
46
Vgl. Beljaev, Sergej: Priključenija Sėmjuėlja Pinglja. Naučno-fantastičeskij roman (1945), Moskva 1959.
47
Vgl. Beljaev, Sergej: Desjataja planeta (Biblioteka fantastiki i priključenij), Moskva/Leningrad 1945. Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Beljaev, Sergej [Beljaew, S.]: Der zehnte Planet, Berlin 1947.
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Abb 17
Umschlagbild des Romans Das Schicksal des Scharfsichtigen (Sud’ba prozorlivca) von Igor‘ Vsevoložskij (Dzaudžikau 1948).
kurz vor Mitternacht von einem ehemaligen, im Krieg verschollenen Studenten der Vorkriegszeit unerwarteten Besuch bekommt. Dieser berichtet ihm, er habe in seinem Laboratorium im Pamirgebirge den zehnten Planeten des Sonnensystems entdeckt, den bislang niemand gesehen habe, da er sich genau spiegelbildlich auf der gegenüberliegenden Seite der Erdumlaufbahn befinde und so immer von der Sonne verdeckt werde.48 In einem selbstgebauten, mit Lichtgeschwindigkeit fliegenden „Astroplan“ nimmt der ehemalige Student seinen Professor mit auf den fernen Planeten, auf dem sie mitten in der Nacht in einer Art Vergnügungspark landen.49 Hier sieht man mit Hilfe einer neuen Interferenztechnik hergestellte dreidimensionale Lichtbilder, die in überwältigend realistischer Darstellung vergangene blutige Schlachten und Kämpfe mit Halbmenschen zeigen.50 Wie sich herausstellt, sind diese ungewöhnlichen Projektionsbilder Teil eines Erinnerungsparks, der diejenige Geschichtsepoche des Planeten zeigt, als die barbari-
48
Ebd., S. 5ff.
49
Ebd., S. 31ff.
50
Ebd., S. 63ff.
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schen, kannibalischen Halbmenschen versuchten sich den ganzen Planeten untertan zu machen, bis sie von den menschenähnlichen Bewohnern endgültig vernichtet werden konnten.51 Als die Bewohner am kommenden Morgen den Besuchern aber ihre „Ideale Stadt“ zeigen wollen, müssen diese vorzeitig aufbrechen, da der Tank ihres Astroplan Leck geschlagen hat und sie Sehnsucht nach ihrer Heimat Erde bekommen, ehe sich die ganze Geschichte als Mitternachtstraum des Professors herausstellt.52 Nun ist in dieser Geschichte unverkennbar eine Verarbeitung der Kriegsereignisse zu erkennen, in denen die Deutschen als Halbmenschen auf eine evolutionär niedere Stufe zurückgesetzt werden, während die menschenähnlichen Bewohner des zehnten Planeten mit ihrer „Idealen Stadt“ unverkennbar die sowjetische Seite repräsentieren. Diese Lesart wird auch durch ein Nachwort des Autors unterstrichen, das den wissenschaftlichen Sinn des Fantasierens, die astronomischen Hintergründe der Hypothese und die Pavlovsche Erklärung solcher Tagträume hervorhebt: „Die Erlebnisse Solnzews sind die natürlichen eines sowjetischen Gelehrten, der die Epoche des Großen Vaterländischen Krieges tief empfunden und im Gedächtnis bewahrt hat. Nach 15 Jahren, also 1956, beherrschen ihn diese früheren Eindrücke und Erlebnisse noch sehr stark.“53
Beljaev konzeptualisiert damit die Fantastik über andere Welten deutlich als ein therapeutisches Schreiben, das „im so genannten Halbschlaf“ dem Vergessen der „Traumbilder“ aus der eigenen Vergangenheit entgegenwirkt. Diese erinnerungspolitische Fantastik wird aber als eine mehrfache Modifizierung und auch Mythologisierung der Vergangenheit vorgeführt: Erstens durch eine Extrapolation der eigenen Geschichte auf einen fremden Planeten, der gewissermaßen das unsichtbare Gegenbild zur Erde darstellt, zweitens durch eine Exotisierung des Krieges als eines darwinistischen Kampfes zwischen Zivilisation und Barbarei,54 drittens durch eine Musealisierung des grausamen Geschehens
51
Ebd., S. 82ff.
52
Ebd., S. 118ff.
53
Ebd., S. 136 („Переживания Солнцева – это естественнные переживания советского ученогопатриота, глубоко прочувствовавшего и помнящего эпоху Великой Отечественной войны. Через пятнадцать лет, в 1956 году, эти давние впечатления и чувства владеют им.“ Beljaev: Desjataja planeta, S. 71). „Solnzew“ – transliteriert „Solncev“ – (Eigenname abgeleitet vom Russischen Wort für „Sonne“) lautet der Name des Professors.
54
Wobei in den wilden Halbmenschen als Widergänger der Deutschen alle exotischen Stereotype der kolonialen Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts wieder auftauchen, wenn von ihnen als außereuropäischen, anachronistischen, primitiven und kannibalischen Wesen die Rede ist, vgl. „Aber es waren keine Menschen, sondern dieselben sonderbaren, widerlichen Geschöpfe./ Affenähnliche Jünglinge schwankten wie aufgezogene Figuren in einem Panoptikum, wo in der Schreckenskammer mittelalterliche Tyrannen und Menschenfresser, die irgendwann das Dickicht von Neuguinea bevölkert hatten, gezeigt werden.“ Ebd, S. 69.
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in Gestalt des Erinnerungsparks, viertens durch eine vollkommene Virtualisierung in Form der Simulation inszenierter Schreckensbilder und Schauerattraktionen sowie fünftens durch eine Psychologisierung der Kriegsgeschehnisse in der Person des fantasierenden Wissenschaftlers selber, der um seinen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Studenten trauert. Gerade diese mehrfach fantastisch verfremdete Umkodierung der Vergangenheit wird damit hier nicht mehr wie in der wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur der 1920er Jahre als ein bedrohliches Gefahrenmoment fiktionalisiert, das das Individuum bedroht, sondern im Gegenteil als eine Option, durch das persönliche Erinnern dem kollektiven Vergessen und Verdrängen entgegen zu wirken.55 Schaut man sich die in der Nachkriegszeit geschriebenen „fantastischen“ Werke, die ausdrücklich ihre Handlung in andere Welten verlegten, auf diese erinnerungspolitische Dimension hin an, dann sind es vor allem zwei im Jahr 1948 als Buch erschienene Werke, die die Grenzen dieses diskursiven Feldes markierten.56 Das eine stellte Lazar’ Lagins fantastischer Roman Das Patent „A.V.“ (Патент „АВ“) dar, der als politisches Pamphlet vielfach gelobt wurde, bei dem anderen handelte es sich um Igor’ Vsevoložskijs Das Schicksal des Scharfsichtigen (Судьба прозорливца), das scharfer Kritik ausgesetzt war. Von Lazar’ Lagin war bereits 1935 in der illustrierten Zeitschrift Ogonek sowie in einem Sammelband der Satirezeitschrift Krokodil eine kurze Erzählung mit dem Titel Das Elixier des Satans (Эликсир сатаны) erschienen, deren Ihr zu Grunde liegende Idee er nach dem Krieg zu einem fantastischen Roman mit dem Titel Das Patent „A.V.“ (Патент „АВ“) ausbaute, der im Erstdruck 1947 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Ogonek erschien, ehe 1948 und 1949 noch zwei Buchausgaben folgten.57 Dessen Handlung spielte – ähnlich wie Aleksandr Beljaevs Amphibienmensch (1928) – in einem fernen südamerikanischen Land mit Namen Aržanteja, in dem ein außergewöhnlich kleiner Liliputaner mit Namen Tomazo Magaraf als exotische Zirkusattraktion in einer Music Hall Karriere macht.58 Magaraf leidet jedoch unter seiner geringen Körpergröße, so dass er auf das Angebot eines Dr. Popf eingeht, dessen neueste Erfindung an ihm auszupro55
In dem Roman wird eine Frist von dreihundert Jahren genannt, bis „die Menschen die Schlussfolgerung gezogen“ haben, „wie man richtig leben soll, und drei Generationen sind dementsprechend erzogen worden.“ Erst danach könne das „Museum des Grauens“ geschlossen werden. Vgl. ebd., S. 118.
56
Auch Sergej Beljaevs 1947 veröffentlichter Roman Der Herrscher der Blitze (Властелин молний) lässt sich dieser Richtung zuordnen, vgl. Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 66. Auch Sergej Jakovlevič Rozvals Romanpamphlet Die Lebensstrahlen (Лучи жизни, 1949), das noch einmal das Thema der elektromagnetischen Strahlentechniken der zwanziger und dreißiger Jahre aufnahm, gehört zu dieser erinnerungspolitischen Fantastik „anderer Welten“, das in internen Rezensionen mit Lagins Patent „AV“ auf eine Stufe gestellt wurde, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 35, l. 28–44.
57
Vgl. Lagin, Lazar’: Ėliksir Satany (1935), in: Revič, Vsevolod (Hg.): Proisšestvie v Neskučnom sadu. Naučnofantastičeskie povesti, rasskazy, p’esa, poėma, Moskva 1988, S. 307–318. Lagins Roman wird hier zitiert nach der Neuauflage der Ausgabe von 1948, vgl. Lagin, Lazar’: Patent „AV“. Fantastičeskij roman (1948) (Serija Atlantida, Bd. 6), Moskva 2003.
58
Ebd., S. 23ff.
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bieren, ein „Elixier“, das durch eine Injektion in die Hypophyse ein beschleunigtes Wachstum herbeiführen kann.59 Endlich wächst er sich zu einem normal großen Mensch aus, der nicht nur zur Belustigung (im Zirkus) oder zum Gespött (außerhalb des Zirkus) anderer da ist, wird durch sein schnelles Wachstum zur Pressesensation und Attraktion der Musical Halls, ehe er als gewöhnlicher Mensch seine Arbeit verliert und ein elendes Dasein darben muss.60 Der idealistische Dr. Popf aber möchte – ähnlich wie der deutsche Professor aus Aleksandr Beljaevs Roman Das ewige Brot (Вечный хлеб, 1928) – seine Erfindung zur Bekämpfung der Armut und Hungersnot einsetzen, indem mit Hilfe des Elixiers durch beschleunigtes Wachstum der häuslichen Nutztiere die Lebensmittelknappheit kostengünstig beseitigt wird.61 Doch da diese Verbreitung des Elixiers einen Fall der exorbitant hohen Lebensmittelpreise bedeuten würde, setzen die profitgierigen Kapitalisten unter der Führung einer mysteriösen Firma „Die Bremse“ (тормоз) alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, Dr. Popfs Erfindung zu bekämpfen.62 Die manipulierte Presse startet zusammen mit der korrupten Kirche eine Kampagne gegen das dämonische „Elixier des Satans“. Es wird versucht, dessen Entdecker mit Hilfe von geheimen Polizeiaktionen, Schauprozessen und Gefängnisstrafen zu diskreditieren, während ihm gleichzeitig die Rechte an seiner Erfindung entwendet werden, indem man es einfach auf einen anderen Namen als das „Patent AV“ patentiert. Dieses Manöver gelingt auch, so dass der Erfinder ohne jede Handhabe dagegen verarmt, bis am Ende sich eine organisierte Arbeiterbewegung gegen die Unterdrückung der vom Volk so dringlich benötigten Erfindung formiert.63 Schon aus dieser sehr verkürzten Zusammenfassung von Lagins fantastischer „Satire des Außen-Bereichs“64 lässt sich erkennen, dass es nicht nur darum geht zu zeigen, wie im Kapitalismus dem Volk nützliche Erfindungen unterdrückt, körperlich auffällige Menschen – wie der Liliputaner – diskriminiert und die hehren Ideale von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzig den Profitinteressen weniger Menschen unterworfen werden. So spielt die Erfindung nur als Auslöser der Intrigen eine Rolle, während die Handlung fast ausschließlich um die ausführliche Darstellung der allgemeinen Bespitzelung, der Schauprozesse und der Gängelung von Wissenschaftlern kreist. Zentraler Bösewicht hinter all den Verfolgungen ist der vor allem im Verborgenen operierende Chef der Firma „Die Bremse“, Primo Padrele, der selbst vor einem kaltblütigen Mord an seinem kleinen Bruder nicht zurückschreckt und in seiner Skrupellosigkeit teils an Mariėtta Šaginjans Gregorio Čiče aus der ersten Mess-Mend‑Serie erinnert, ohne dass er mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet ist.65 59
Ebd., S. 27ff.
60
Ebd., S. 32ff., 46ff.
61
Ebd., S. 159ff.
62
Ebd., S. 152ff., 167ff.
63
Ebd., S. 352ff.
64
Zum Begriff, vgl. Ebding, Jörg: Tendenzen der Entwicklung des sowjetischen satirischen Romans (1919–1931), München 1981.
65
Vgl. Lagin: Patent „AV“, S. 124ff., 220ff., 263ff.
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Die unangekündigten nächtlichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen, inszenierte Vorfälle zur Überführung von Dr. Popf, gekaufte und erpresste Zeugenaussagen bei den Gerichtsverhandlungen, plötzlich verstorbene unliebsame Personen, über deren Ermordung kein Wort in der Presse steht, oder auch die Verhörmethoden der staatlichen Ermittlungsorgane lassen, ähnlich wie schon in dem Alten Chottabyč, dabei einen recht deutlichen Bezug auf die Zeit der Säuberungen vor dem Krieg erkennen. So heißt es in einem „gänzlich den Gerichtsverhandlungen gewidmeten Kapitel“ von einem Ersten Gehilfen des Staatsanwalts beispielsweise: „Völlig unerwartet nicht nur für sie beide, sondern auch für den dortigen Untersuchungsrichter selbst kam aus Battog der Erste Gehilfe des Staatsanwalts der Provinz, Herr Dan Pappula, ein Mann mit einem freundlich lächelnden Gesicht und einem gummiartigen Gewissen, der die Leitung der Untersuchung selbst übernahm. Gleich in den ersten Tagen entwickelte er eine phänomenale Arbeitsfähigkeit. Er gönnte weder den Verhafteten noch sich selbst Ruhe. Er klammerte sich an jedes von ihnen ungeschickt gebrauchte Wort, war bestrebt, sie zu verwirren, verlangte, dass sie sich an solche Tatsachen erinnern sollten, an die man sich nicht erinnern konnte, da sie überhaupt nicht bestanden, verlangte von ihnen das Eingeständnis von Vergehen, die sie niemals begangen hatten.“66
Lagin hat in seinem Roman einfach das Verhältnis von fantastischer Person und realem Ort, das er im Alten Chottabyč anwandte, ausgetauscht: in Patent „AV“ kommt nicht die Hauptperson aus einer anderen, fantastischen Märchenwelt, sondern es ist der Ort, dessen Hauptstadt den despektierlichen Namen „Stadt der Großen Kröten“ („Город Больших Жаб“) trägt, der in anderen Welten spielt, während die handelnden Personen äußerst wirklichkeitsnah gezeichnet sind. Entsprechend nimmt die Handlung auch ihren Anfang im Zirkuszelt, das aber nicht wie in Grins Funkelnder Welt, Bulgakovs Meister und Margarita oder eben im Alten Chottabyč dazu dient, die wunderbaren Zauberkräfte außergewöhnlicher Helden vorzuführen, sondern im Gegenteil, einen gewöhnlichen Menschen von geringem Wuchs aufgrund seiner Minderwertigkeit zum Unterhaltungsobjekt zu degradieren. Während in Lagins Altem Chottabyč der Bezug auf das Moskau des Großen Terrors in motivischen und metaphorischen Anspielungen als karnevaleske Verkehrung der Hierarchien hergestellt wurde, ist Patent „AV“ durch die Verlegung der Handlung in eine westliche Provinzstadt sehr viel deutlicher als eine „fantastische“ Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit markiert.
66
Lagin, Lazar’: Patent „A.V.“, Berlin 1948, S. 184f. („Неожиданно не только для них, но и для местного следователя прибыл из Баттога и взял следствие в свои руки старший помощник прокурора провинции господин Дан Паппула, человек с ласково улыбающимся лицом и гуттаперчевой совестью. С первых же дней он проявил чудовищную работоспособность. Он не давал покоя ни себе, ни арестованным. Он цеплялся за каждое их неудачное слово, старался сбить их с толку, требовал, чтобы они припомнили такие факты, которые невозможно было припомнить, потому что их не было в действительности, предлагал им признаться в таких поступках, которых они никогда не совершали.“ Lagin: Patent „AV“, S. 227f.).
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Entsprechend eröffnete Lagin den Roman in seinen „vorläufigen Erklärungen“ auch mit einer Reflexion über seine buchstäbliche Positionierung und ethische Verantwortung als Autor im Moskau des Jahres 1947: „Mein Schreibtisch steht direkt am Fenster. Während ich schreibe, sehe ich, wie einige Passanten an der Straßenkreuzung, dort an der Ecke des Blagoweschtschenski-Gäßchens, die auf dem grauen Holzzaun aufgeklebte Zeitung lesen. Dahinter heben sich vom trüben Winterhimmel die neuen, noch nicht verputzten Ziegelhäuser in der Bolschaja Sadowaja ab. Hie und da sieht man die Menschen mit hochgeschlagenem Mantelkragen, frierend, lautlos durch die schneebedeckten Straßen gehen. Ganz selten einmal rumpelt ein Auto vorbei, dann ist es wieder still. Langsam und träge fällt der trockene Schnee.“67
In diesem Eröffnungsabsatz wird jedoch nicht nur die Blickrichtung des Schreibtisches skizziert, sondern ist schon die gesamte Ausrichtung des Romans angelegt. Denn was sich hier dem Betrachter zwischen den auf graue Holzzäune geklebten Zeitungen des Maria-VerkündigungsGässchens (Blagoveščenskij pereulok) und den 1940 begonnenen Wohnungsneubauten an der Großen Gartenstraße (Bol’šaja Sadovaja Nr. 1–3) als Sichtachse eröffnet, ist genau jenes Bulgakovsche Moskau mit seiner letzten Wohnung (Haus Nr. 12), dem Park Aquarium und der Moskauer Music Hall (Haus Nr. 18), das ihm das Material für seinen fantastischen Roman Meister und Margarita lieferte.68 Lagin nimmt in dem Roman dasselbe „Material“, um es in der fantastischen Welt der Großen Kröten von Aržanteja erneut aufzurollen. Ausgehend von den fast menschenleeren, verschneiten Straßen Moskaus fährt Lagin im anschließenden Absatz fort: „Doch sobald ich etwas ins Träumen gerate, stehen die heißen Straßen des fernen Bakbuk [...] wieder vor meinem inneren Auge. Und wieder ziehen die Helden meiner Geschichte an mir vorbei – die, die ich gerne habe, andere, die ich sogar tief verehre, manche, die ich verachte, und solche, die ich hasse. Doch über sie alle will ich nur die Wahrheit, die reine Wahrheit berichten.“69
Patent „A.V.“, S. 5 („Мой письменный стол стоит у самого окна. Я пишу и вижу, как на перекрестке, на углу Благовещенского переулка, несколько прохожих читают наклеенную на сером дощатом заборе газету. Дальше на фоне хмурого зимнего неба высятся кирпичные, еще не облицованные новые дома Большой Садовой. Изредка по тротуарам переулка проходят неслышным шагом пешеходы, зябко подняв воротники. Совсем редко прогрохочет машина, и снва наступает тишина. Лениво падает сохой снежок.“ Lagin: Patent „AV“, S. 7).
67 Lagin:
68
In dem Gebäude der Music Hall war bis 1926 ein Zirkus untergebracht, das Bulgakov als Vorlage für das Varietétheater diente, in dem Voland seine Kunststücke in schwarzer Magie vorführt. Patent „A.V.“, S. 5 („Но стоит мне только задуматься, и я снова вижу знойные улицы далекого Бакбука [...]. Cнова передо мной проходят герои моего повествования. Некоторых из них я люблю, других не только люблю, но и уважаю, к иным отношусь с презрением, иных ненавижу. Но обо всех них я собираюсь писать правду и только правду.“ Lagin: Patent „AV“, S. 7).
69 Lagin:
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Dass diese reine Wahrheit auch zehn Jahre nach den Schauprozessen eine gefährliche Angelegenheit war, wusste Lagin, und so beendete er sein einleitendes Kapitel mit den Worten: „Indem ich mein Manuskript veröffentliche, nehme ich mir ein für allemal die Möglichkeit, Argentea noch einmal zu besuchen. Selbstverständlich würde das dortige Kriegsministerium, ganz zu schweigen von dem Herrn Primo Pádrele und einigen anderen sehr einflussreichen Persönlichkeiten, alles unternehmen, um meine Einreise zu verhindern. Es ist sogar sehr gut möglich, dass ein anderer noch weit aggressivere Absichten gegen den Schreiber dieser Zeilen im Herzen hegen wird. Ich bin mir dessen bewusst und weiß, was ich tue.“70
„Weit aggressivere Absichten“ blieben Lagin jedoch nicht nur erspart, sondern das Gegenteil war der Fall: Er konnte den Roman nach dem Vorabdruck in der auflagenstarken illustrierten Zeitschrift Ogonek sogar noch zweimal im zentralen Buchverlag des Schriftstellerverbandes Sovetskij pisatel’ (dt. Der Sowjetschriftsteller) veröffentlichen und bekam sowohl in der internen als auch in der publizistischen Kritik begeistertes Lob für das gelungene politische Pamphlet gegen den kapitalistischen Gegner.71 Nun lässt sich diese einhellige Zustimmung, die offensichtlich eine zentrale Stoßrichtung des Romans einfach überging beziehungsweise verschwieg, nicht nur aus einer gewissen Unklarheit darüber erklären, wie man „fantastische“ Literatur im Kontext des Sozialistischen Realismus schreiben und lesen solle, sondern es scheint hier erstmals in der Stalinzeit ein deutlicher Bruch sichtbar zu werden zwischen der politischen Führung und der offiziellen ideologischen Neuausrichtung der Literatur im Zeichen des Kalten Krieges und den zentralen Akteuren des literarischen Betriebes. Dieser Bruch äußerte sich darin, dass man eigene Vorbehalte in begeisterten Rezensionen von Werken wie denjenigen Lagins ausdrückte, deren Erscheinen auf diese Weise ohne sichtbare Schwierigkeiten möglich wurde. Das nach dem überstandenen Krieg gewonnene Selbstbewusstsein, wie es in den internen und zum Teil auch publizistischen Diskussionen zur Begründung einer abenteuerlichen Detektivliteratur und einer Wissenschaftlichen Fantastik des „großen Wunschtraums“ zum Ausdruck gekommen war, ließ sich durch die verstärkten literaturpolitischen Repressionen während der so genannten „Ždanovščina“ nicht einfach rückgängig machen. Mögliche repressive Folgen der Verbannung oder Erschießung, wie man sie noch in
Patent „A.V.“, S. 6 („Публикуя свою рукопись, я навсегда отрезаю себе возможность вторично побывать в Аржантейе. Тамошнее военное министерство не говоря уже о господине Примо Падреле и некоторых других весьма влиятельных персонах, примет, конечно, все меры, чтобы не допустить меня туда. Очень быть может, что кому-нибудь придут в голову и более агрессивные мысли в отношении автора этого повествования. Но я знаю, на что иду.“ Lagin: Patent „AV“, S. 8).
70 Lagin:
71
Vgl. Moran, R.: L. Lagin. Patent „AV“ (Rez.), in: Novyj mir 8 (1948), S. 274–276; Selbst die Sowjetische Militäradministration in Deutschland ließ bereits 1947 eine Übersetzung für ihren Berliner SWA-Verlag anfertigen, aus der hier auf Deutsch zitiert wurde.
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den dreißiger Jahren zu befürchten hatte, schienen zwar in den fantastischen Fiktionen omnipräsent zu sein, im Alltag der Schriftsteller aber keine unmittelbare Bedrohung mehr darzustellen.72 Noch sehr viel deutlicher ist diese erinnerungspolitische Realitätsreferenz in dem 1948 erschienenen Roman Das Schicksal des Scharfsichtigen von Igor’ Evgen’evič Vsevoložskij (1903– 1967) zu erkennen, der aber nur deshalb durch die Zensur gekommen ist, weil er ihn in einem kleinen nordossetischen Provinzverlag in Dsaudschikau (dem heutigen Wladikawkas) unterbrachte.73 Dieser ganz ähnlich wie Lagins Patent „AV“ aufgebaute Roman spielt ebenfalls in einem fiktiven südlichen Land im Westen und erzählt von einem männlichen Helden mit einer ungewöhnlichen Deformation. Diesmal handelt es sich jedoch um keinen Liliputaner, sondern um einen Matrosen, der nach einem Unfall die Fähigkeit des Gedankenlesens erworben hat.74 Nachdem dieser Held nach einer Reihe von Zwischenstationen ähnlich wie bei Lagin zunächst als Zirkusattraktion Karriere gemacht hat,75 wird auf ihn auch die Politik aufmerksam, um ihn für die eigenen Zwecke im Wahlkampf zu gebrauchen.76 So benutzt ihn zuerst die Oppositionspartei, um die an der Macht befindliche Herrschaftsriege öffentlich der Lüge zu überführen.77 Daraufhin startet die Staatspartei eine große Kampagne gegen den Scharfsichtigen, um ihn öffentlich der Scharlatanerie zu überführen, und droht ihm einen großen Prozess wegen Betrugs an, von dem er sich nur freikaufen kann, indem er sowjetische Diplomaten wegen versuchten kommunistischen Staatsstreichs denunziert.78 Als der Held dank seiner telepathischen Fähigkeiten dieses Komplott während des laufenden Schauprozesses offenlegt, gewinnt er zwar die Sympathien der gegen die juristische Farce demonstrierenden Arbeiter, doch am Ende wird er zu lebenslanger Zwangsarbeit am „Fluss der Krokodile“ verurteilt:79 „Ich wusste, was das heißt. An diesen Orten überlebten die an Schubkarren geketteten Zwangsarbeiter nicht länger als ein Jahr. Für die Krokodile im Fluss gab es immer genügend Nahrung.“80
72
Dieses fehlende Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung, das wohl auch daraus resultierte, dass nach den Schrecken des Krieges gewisse Repressionen im Alltag relativ ungefährlich zu sein schienen, zusammen mit dem gesteigerten Selbstbewusstsein der Schriftsteller als kultureller Elite waren sicherlich nicht zu unterschätzende Faktoren, um die teils „schizophrene“ Widersprüchlichkeit des Literaturbetriebs der späten Stalinzeit – der so genannten Ždanovščina – zu verstehen, vgl. zu diesem Kontext auch Antipina: Povsednevnaja žizn’ sovetskich pisatelej, S. 269ff.
73
Vgl. Vsevoložskij, Igor’: Sud’ba prozorlivca. Fantastičeskaja povest’, Dzaudžikau 1948.
74
Ebd., S. 3ff.
75
Ebd., S. 24ff.
76
Ebd., S. 30ff.
77
Ebd., S. 35ff.
78
Ebd., S. 40ff.
79
Ebd., S. 52ff.
80 „Я знал, что это значит. В этих местах прикованные к тачкам каторжники не выдерживали более года.
Крокодилам в реке всегда было достаточно пищи.“ Ebd., S. 61.
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Auch in Vsevoložskijs Roman geht es vordergründig um die Dekadenz des Westens, wobei diesmal nicht der Kapitalismus als solcher, sondern dessen verlogene Herrschaftsform der repräsentativen Demokratie im Zentrum der satirischen Polemik steht. Doch auch hier ist diese Demokratie vornehmlich als eine Welt der Bespitzelung, der staatlichen Überwachung und vor allem der inszenierten Schauprozesse gekennzeichnet, die unschwer auch als eine extrapolierte Beschreibung sowjetischer Herrschaftsmechanismen zu durchschauen ist.81 Im Unterschied zu den fantastischen Abenteuergeschichten der zwanziger Jahre werden die Kontrollmöglichkeiten des modernen Staates hier jedoch nicht mehr durch physiologische Manipulationen der Gedanken des „Neuen Menschen“ dargestellt, sondern der Mensch ist umgekehrt von vornherein ein physiologisch deformiertes Wesen, das durch seine „Scharfsichtigkeit“ des Gedankenlesens zur Herausforderung für den Überwachungsstaat wird. Nicht mehr das Phantasma medialer Manipulationen einer historischen „Wahrheit“ steht im Zentrum des Sujets, sondern die Allgegenwärtigkeit des Betrugs und des Vertuschens, bei der Wahrheit und Lüge, Klarsichtigkeit und Scharlatanerie nur eine Frage der Definitionshoheit sind.82 Entsprechend bleibt dem zum Sterben Verurteilten am Ende nur ein Ziel: Seine geheimen Gefängnisaufzeichnungen zur Publikation ins Ausland zu schmuggeln: „Mein Leben bekam ein Ziel – noch vor meiner Beerdigung am Fluss der Krokodile zumindest mit dem Rand des Ohres zu hören, dass sie in der Welt etwas von dem Scharfsichtigen erfahren hatten, der der Menschheit hätte nützen können, doch Opfer der erbitterten Intrigen der Politikaster wurde, die mehr an die Füllung ihres Magens mit Essen und ihrer Taschen mit Lorbeer denken als an das Glück des eigenen Volkes.“83 81
Und ganz ähnlich wie bei Lagin ist auch hier die korrupte Welt der Rechtstaatlichkeit der scheinbar herrschaftsfreien Zirkuswelt des reinen Unterhaltungsspektakels gegenübergestellt, die wie bei Grin und Bulgakov immer auch als eine karnevaleske Mikrowelt der großen Politik gedeutet werden kann.
82
So wird der „Scharfsichtige“ wiederholt seitens der staatlichen Organe der „Scharlatanerie“ angeklagt, wofür bestochene Zeugen bei öffentlichen Zirkusauftritten ihn der Falschaussage bezichtigen, vgl. ebd., S. 36, 58.
83 „У меня появилась цель в жизни – еще до своих похорон на реке Крокодилов хоть краем уха
услышать, что в мире узнали о прозорливце, который мог принести пользу человечеству, но пал жертвой ожесточенной возни политиканов, больше всего думающих о наполнении желудков едой и карманов лаврами и менее всего – о счастье своего народа.“ Ebd., S. 62. Wobei der „Fluss der Kroko-
dile“ natürlich kein unschuldiger Ort ist, sondern seit Rudyard Kiplings Just So Stories for Little Children (1902) ein Ort der Wahrheit im doppelten Sinn. Machte die kurze Geschichte über das Elefantenkind (The Elephant‘s Child, erstmals 1900), das unbedingt wissen wollte, was das Krokodil zu Mittag esse, doch den afrikanischen Fluss Limpopo in der Weltliteratur erst berühmt als diejenige Stätte, an der in Afrika die Krokodile wohnen. Das Elephantenkind wird für seine neugierige Suche nach Wahrheit von allen Tieren des Dschungels verprügelt, bis es ans Ziel kommt, vom Krokodil an der Nase geschnappt wird, sein Leben aber mit Hilfe einer Pythonschlange retten kann um den Preis, dass seine Nase zu einem Rüssel lang gezogen worden ist. So hat die absolute Wahrheitssuche nicht den von allen befürchteten Tod, sondern einen qualitativen evolutionären Sprung für den Elefanten gebracht, der dank des Rüssels nun in jeder Hinsicht besser gewappnet ist gegenüber den anderen Tieren Afrikas, vgl. Kipling, Rudyard: Das Elefantenkind, in: Ders.: Genau-so-Geschichten (dt. von Gisbert Haefs), Zürich 1990, S. 57–71; In der
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Vselovožskij hat mit dieser polemischen Anklage gegen die „erbitterten Intrigen der Politikaster“ die Grenzen des in den Nachkriegsjahren möglichen fantastischen Erzählens deutlich überschritten, und es war wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, dass in den zuständigen Behörden der Nordossetischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik keiner recht wusste, wie solche fantastischen Texte einzuschätzen sind, dass der Kurzroman als eine Kalter-KriegSatire auf den Westen noch erscheinen konnte. Als das Buch einige Zeit später in Moskau und Leningrad in Umlauf kam, fiel die publizistische und interne Kritik entsprechend heftig aus, ohne dass sie für den Autor weitergehende Konsequenzen hatte.84 Vergleicht man diese in der unmittelbaren Nachkriegszeit publizierten fantastischen Werke mit den zeitgleich erschienenen Kriegsabenteuern, dann lassen sich einige signifikante Gemeinsamkeiten feststellen. Erstens waren beide Richtungen nicht mehr an der Zukunft des kommunistischen Aufbaus orientiert, sondern verhandelten vergangene Erlebnisse, die dem Vergessen entrissen werden sollten. Und zweitens wird in beiden Strömungen das Thema der Überwachung, Spionage, Geheimhaltung, Verfolgung und des Verrats nicht als fantastische Bedrohung neuer Wunderwaffen und Psychomaschinen – wie noch in den zwanziger und dreißiger Jahren – verhandelt, sondern als „nicht-fantastische“ reale Bedrohung, die seitens feindlicher staatlicher und militärischer Machtstrukturen ausgeübt wird. Während die Literatur der Kriegsabenteuer diese Repressionsapparate aber als kriegerische Herausforderung für die Helden nimmt, sich als Spion und Aufklärer im feindlichen Hinterland zu behaupten, beschreiben die fantastischen Texte in umgekehrter Perspektive die bedrohlichen und gefährlichen Seiten dieser Herrschaftsinstrumente im Zivilleben. Diese auf die Verbrechen der Vergangenheit gerichtete erinnerungspolitische Fantastik versucht man zwar in den Folgejahren soweit wie möglich zu unterdrücken, doch selbst in den statt ihr verfassten ingenieurstechnischen Aufbauwerken der kommunistischen Zukunft kam das Thema der Scharfsichtigkeit, das alle Mauern des Verschweigens und Vergessens durchdringt, als Wissenschaftsphantasma wieder auf, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Kapitel 15).
sowjetischen Kinderliteratur ist der Fluss Limpopo vor allem jener Ort, an dem Kornej Čukovskijs Doktor Ajbolit (1929 als Gedicht, 1936 als Kurzroman) die Tiere Afrikas von ihren diversen Krankheiten heilt, also jene symbolische Arztpraxis, in der die sowjetischen Kinder lernen sollten, ihre Angst vor dem Mediziner zu überwinden. 84
So führt Sergej Ivanov in seiner Abrechnung mit der bisherigen Wissenschaftlichen Fantastik Vsevolož skijs Roman als schlimmstes Beispiel für eine Richtung an, die – im Sinne von Gor’kijs Kritik an der bürgerlichen Fantastik – losgerissen von der sowjetischen Wirklichkeit, abgeschieden im Arbeitszimmer Werke nach den Standards westeuropäischer und amerikanischer Science Fiction und Abenteuerromane verfasse. So entstehe anstelle einer realistischen Darstellung unserer überaus reichen Wirklichkeit ein „reines Hirngespinst“ (голая выдумка), vgl. Ivanov, Sergej: Fantastika i dejstvitel’nost’, in: Oktjabr’ 1(1950), S. 155–164, S. 158; Vsevoložskij verlegte sich nach dieser Kritik auf das Schreiben von Abenteuergeschichten, die von den Heldentaten junger Matrosen während des Zweiten Weltkriegs am Schwarzen Meer handelten, vgl. Vsevoložskij, Igor’: Zelenaja strela. Suchoputnye priključenija junogo morjaka (1945), Džajdžakau ²1949; Ders.: Neulovimyj. Byl’ (Biblioteka matrosa), Moskau 1950.
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13. D er h i n k e n d e W u n s c h t r aum – P oeti s i e r u n g s v e r s u c h e d e r Wisse nscha ft e n 1 „Pisarev spricht von einem Wunschtraum, er spricht davon, dass es zwei Arten von Träumereien gibt: es gibt Wunschträume, die den natürlichen Gang der Dinge einholen und es gibt Träume, die stark zur Seite hinken. Die ersten Wunschträume sind gut, die zweiten schlecht, und bisher hinkt in einer Reihe von Fällen die wissenschaftlich-fantastische Literatur, die sich unter großem Einfluss des Westens befindet, mit ihrer Thematik stark zur Seite. Ich meine, dass wir heute sagen können, dass in diesem Jahr in dieser Hinsicht bereits der bekannte Umbruch stattgefunden hat.“ Nikolaj Michajlov (1949) 1
Kirill Andreev hatte mit seiner Konzeptualisierung des „Großen Wunschtraums“ eine von den anwesenden Autoren und Kritikern enthusiastisch aufgenommene Neukonzeption des Genres angeboten, die endlich die Option zu eröffnen schien, die Gattung jenseits der Kinderliteratur als eine ernsthafte „wissenschaftliche“ Belletristik in den Kanon der Sowjetliteratur zu integrieren. Wie aber eine Literatur des „guten“ Wunschtraums in Nikolaj Michajlovs Sinne aussehen könnte, die den Gang der Ereignisse überflügelt, darüber herrschte aufgrund der verschärften kulturpolitischen Ideologisierung aller Wissensbereiche seit Anfang 1946 eine generelle Unsicherheit. Die Folge war, dass die Publikation von wissenschaftlich-fantastischen Werken gegenüber den Kriegsjahren nur unwesentlich anstieg.2 Nichtsdestotrotz erschien in den ersten Nachkriegsjahren eine ganze Reihe an Werken, die im Sinne von Andreevs Konzeptualisierung den sozialistischen Naturwissenschaftler als schöpferischen Menschen und positiven Helden in den Mittelpunkt ihres Sujets stellte, um zu zeigen, wie dieser den „großen Wunschtraum“ Wirklichkeit werden ließ. Diesen Poetisierungen des sowjetischen Forschers und Entdeckers soll im Folgenden anhand dreier ausgewählter Disziplinen näher nachgegangen werden: und zwar der Geographie, der Biologie und der Astronomie. Den vielleicht prominentesten Autor einer solchen Poetisierung stellte der Paläontologe und Geograph Ivan Efremov dar, den Andreev in seiner Rede 1945 zwar nicht erwähnte, der aber am
1 „Писарев говорит о мечте, говорит о том, что есть два рода мечтаний: есть мечты, которые обгоняют
естественный ход событий и есть мечты, которые хромают совершенно в сторону. Первые мечты − хорошие, вторые − плохие и до сих пор в ряде случаев научно-фантастическая литература, находясь под большим влиянием Запада, своей тематикой хромала совершенно в сторону. Я считаю, что сегодня мы можем сказать о том, что за этот год уже наметился известный перелом в этом отношении.“ Nikolaj Mi-chajlov auf einer Diskussion der Sektion zu neuer wissenschaftlich-künstleri-
scher Literatur, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 4. 2
Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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deutlichsten die Neuausrichtung auf die Figur des Wissenschaftlers als kreativen Genius gestaltete. Efremov bildete in mehrerer Hinsicht einen Sonderfall, weswegen seine „wissenschaftlichfantastischen“ Erzählungen hier etwas ausführlicher analysiert werden. Denn er hatte erstens einen Großteil seiner Werke bereits während des Großen Vaterländischen Krieges geschrieben und durch sie innerhalb kürzester Zeit eine für Wissenschaftliche Fantastik bislang vollkommen ungekannte weite Verbreitung gefunden. Zweitens stellten seine „Erzählungen vom Ungewöhnlichen“ eine Wissenschaftlerfigur ins Zentrum des Sujets, dessen Wunschträume in einem höchst ambivalenten Verhältnis zum sowjetischen Wissenschaftsverständnis und sozialistischen Menschenbild standen. Und drittens sollte Efremov ein gutes Jahrzehnt später derjenige sein, der als Initiator und Begründer einer nach-stalinistischen Wissenschaftlichen Fantastik in die Literaturgeschichte eingegangen ist, ohne dass dabei sein Frühwerk je näher betrachtet wurde (Abschnitt 13.1. Die Schatten des Vergangenen). Im Bereich der Wissenschaftspolitik der Nachkriegszeit stellte die Biologie diejenige Disziplin dar, die wie keine sonst für eine zu schaffende eigene „sowjetische Wissenschaft“ stand. Der „schöpferische Darwinismus“ als menschliche Intervention in die Abläufe der Natur fand in der Gestalt des Akademiemitgliedes Trofim Lysenko seinen prominentesten Vertreter, der wissenschaftliche Problem- und Themenstellungen zu einer Frage ideologischer Standfestigkeit machte. In der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur versuchte man daher insbesondere in diesem Bereich Autoren zu gewinnen, die zur Popularisierung der „Mičurinschen Biologie“ – wie der „schöpferische Darwinismus“ auch genannt wurde – beitragen konnten. Allerdings entsprachen die zu diesem Thema gelieferten Werke häufig keinesfalls den an sie gestellten Erwartungen, schienen sie doch weiterhin zu sehr unter dem „verhängnisvollen“ Einfluss des Westens zu stehen und nur „schlechte“ Wunschträume hervorzubringen (Abschnitt 13.2. Der schöpferische Darwinismus). Wenn die Biologie im Zentrum der Neuausrichtung der Wissenschaftspolitik in der Nachkriegszeit stand, bildete die Astronomie hingegen eher einen relativ unbedeutenden Randbereich in den wissenschaftspolitischen Debatten jener Jahre. Es gab in dieser Disziplin keine Grundsatzdebatte, wie sie in der Philosophie, Biologie, Physik, Linguistik oder Physiologie geführt wurde.3 Ihre prominentesten Popularisatoren kamen nicht aus Moskau und Leningrad, sondern aus Armenien oder Kasachstan. Gerade diese relative Bedeutungslosigkeit machte es aber möglich, dass in diesem Feld eine fiktionale und dann auch publizistische Beschäftigung mit außerirdischen Raumschiffen und extraterrestrischer Intelligenz aufkommen konnte, die nicht nur einen „hinkenden“ Wunschtraum offenbarte, sondern auch deutlich machte, wie wenig Rückhalt die offizielle Wissenschaftspolitik unter vielen Experten und Laien hatte. So bildete der schon in den zwanziger Jahren einmal kurz in den Fokus der Wissenschaftspopularisierung gerückte so genannte Tungusker Meteorit von 1908 das fiktionale Medium, um die Ängste, aber auch die Hoffnungen sichtbar zu machen, die die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki unter sowjetischen Wissenschaftlern und Wissenschaftsautoren ausgelöst hatten (Abschnitt 13.3. Gäste aus dem Kosmos). 3
Vgl. zu diesen Debatten ausführlich Pollock: Stalin and the Soviet Science Wars.
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1 3. 1 Di e Sc hatten des Ve rgang e nen – Iva n E f r e mo vs Erz ählung e n v om Ung e wöhnlich e n 4 „Und wieder richteten sich die Gedanken des Wissenschaftlers, wie eine Kompassnadel, auf die enträtselten Schatten der Vergangenheit. Das Gespenst hörte auf ein Rätsel zu sein, seine Erscheinung war dem Wissenschaftler klar verständlich. Es verschwand auch die leidenschaftliche Anspannung des Gedankens, die Erregung des Verstandes vor einem nicht zu durchdringenden Geheimnis der Natur. Der Gang der Gedanken wurde ruhig, kalt und tief.“ Ivan Efremov (1945)4
Auch wenn Kirill Andreev ihn nicht erwähnt, am nächsten kommt seinen Ausführungen zu einer „Literatur des großen Wunschtraums“ der bis dahin vollkommen unbekannte Autor Ivan Antonovič Efremov (1908–1972). Efremov ging in die Annalen der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik erst später durch seinen wissenschaftlich-fantastischen Roman Andromedanebel (Туманность Андромеды) ein, den er 1957 zeitgleich zu den ersten Sputnikflügen veröffentlichte. Im Zuge der Kosmosbegeisterung leistete er mit dieser Publikation den zentralen Beitrag zu einer grundlegenden Neuorientierung des Genres.5 Die literaturpolitische Bedeutung seines Frühwerks hingegen ist weitgehend vergessen. Als Sohn eines Holzhändlers in der Nähe von Petersburg geboren, verliert er früh seine Eltern, schlägt sich als Hafenarbeiter in Cherson durch, kämpft im Bürgerkrieg für die Rote Armee, ehe er 1921 nach Petrograd geht, um eine Schulausbildung als Steuermann für Küstenschifffahrt zu absolvieren.6 Er lebt von Geldern der American Relief Administration und von Jobs als Ladearbeiter, Sägearbeiter oder Lastwagenfahrer. Im Sommer 1924 beginnt er im Fernen
4 „И снова мысли ученого, подобно стрелке компаса, повернулись к разгаданной тени минувшего.
Призрак перестал быть загадкой, явление было ясно ученому. Исчезла и страстная напряженность мысли, возмущение разума перед непостижимой тайной природы. Ход размышлений стал спокоен, холоден и глубок.“ Efremov, Ivan: Ten’ minuvšego (1945), in: Ders.: Buchta radužnych struj. Naučno-
fantastičeskie rasskazy, Moskva 1959, S. 3–54, S. 36. 5
Vgl. Suvin: Ein Abriss der sowjetischen Science Fiction, S. 326f.; Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 130f.; zum Frühwerk vgl. Geller: Vselennaja za predelam dogmy, S. 317–336.
6
Zu den biographischen Angaben vgl. Brandis, Evgenij; Dmitrevskij, Vladimir: Čerez gory vremeni. Očerk tvorčestva I. Efremova, Moskva 1963; [Brandis, Evgenij]: Žizn’ učenogo i pisatelja. Interv’ju s I. A. Efremovym (Materialy k tvorčeskoj biografii I. A. Efremova) [1960], in: Voprosy literatury 2 (1978), S. 187–208; Čudinov, Petr: Ivan Antonovič Efremov. 1907–1972, Moskva 1987; Ders.: K portretu sovremennika, in: Bojko, N. V. (Hg.): Ivan Antonovič Efremov. Perepiska s učenymi. Neizdannye raboty, Moskva 1994, S. 5–28; Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 408–426; RGALI f. 2826, op. 1, ed. 2, l. 1–46 (Galis Adam Germanovič; Stenogramma besedy A. G. Galisa s Efremovym Ivanom Antonovičem o ego naučnoj dejatel’nosti, o naučnoj fantastike i belletrističeskich proizvedenijach I. A. Efremova i dr. Mašinopis’ [1961]).
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Osten eine Ausbildung zum Matrosen auf dem Stillen Ozean, die er ein Jahr später auf dem Kaspischen Meer fortsetzt. Anschließend nimmt er in Leningrad das Studium der Paläontologie auf. Von nun an nimmt er an zahlreichen geologischen und paläontologischen Expeditionen in Mittelasien, Sibirien, im Fernen Osten und in der Mongolei teil, wird 1935 Kandidat der Biologie am Leningrader Bergbauinstitut, 1941 macht er seinen Doktor am Moskauer Paläontologischen Institut, wobei er zahlreiche paläontologische und geologische Funde und Entdeckungen vorweisen kann. Seine Anfang der 1940er Jahre ausgearbeiteten wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Verschiebung der Erdschichten und damit einhergehendern Unregelmäßigkeiten in der Konservierung fossiler Organismen, die er 1950 unter dem Titel Taphonomie und die geologische Chronik (Тафономия и геологическая летопись) publizierte, bringen ihm 1952 einen Stalinpreis ein. Während des Krieges wird er zuerst nach Alma-Ata, dann nach Frunze evakuiert, wo ihm eine schwere Fieberkrankheit ein lebenslanges Herzleiden beschert. In dieser Zeit 1942 und 1943 beginnt er im Krankenbett seine ersten Erzählungen zu schreiben, die in den Jahren 1944 und 1945 noch während des Krieges sowohl in den Armeezeitschriften Krasnoarmeec (Der Rotarmist) und Krasnoflotec (Der Rotflottist) als auch in Technika – molodeži sowie in der zentralen Literaturzeitschrift Novyj mir publiziert werden. Zeitgleich erscheinen die insgesamt dreizehn Geschichten (ein Kurzroman und zwölf Erzählungen) in unterschiedlichen Zusammenstellungen in Buchform bei mehreren Verlagen mit wechselnden Titeln und Untertiteln in mindestens zwei Auflagen jährlich. So wurden sie das eine Mal schlicht als „Erzählungen“, das andere Mal als „wissenschaftlich-fantastische Erzählungen“ oder auch als „Erzählungen vom Ungewöhnlichen“ publiziert. Diese große Verbreitung seiner Texte innerhalb kurzer Zeit hatte Efremov auch der Fürsprache Aleksej Tolstojs zu verdanken, der einige Erzählungen noch kurz vor seinem Tode schon im Krankenhaus gelesen hatte und von ihnen äußerst angetan war.7 So erhielt Efremov von Anfang an eine Unterstützung seitens der Verlags- und Zeitschriftenredaktionen, von der andere Autoren der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik nur träumen konnten. Efremov selber hat in einer ersten Zusammenstellung seiner Werke für den Novyj mir sieben Erzählungen ausgewählt, von denen die ersten vier unter dem Titel Sieben Kompassstriche. Wissenschaftlich-fantastische Erzählungen (Семь румбов. Научно-фантастические рассказы) in der Aprilausgabe 1944 erschienen, bei den folgenden drei Erzählungen tauschte Efremov jedoch die Genrebezeichnung gegen den Untertitel Erzählungen vom Ungewöhnlichen (Рассказы о необыкновенном) aus.8 Von diesen sieben Erzählungen nahm er drei und zwei weitere bislang nicht publizierte in seine erste Buchveröffentlichung auf, den bei Molodaja gvardija im Herbst 7
Vgl. Efremov, Ivan: Na puti k romanu „Tumannost’ Andromedy“, in: Voprosy literatury 4 (1961), S. 142– 153; Praškevič: Kransyj sfinks, S. 412.
8
Vgl. Efremov, Ivan: Sem’ rumbov. Naučno-fantastičeskie rasskazy [Vstreča nad Tuskaroroj; Ozero Gornych Duchov; Golec Podlunnyj; “Katti Sark”], in: Novyj mir 4–5 (1944), S. 97–136; Ders.: Observatorija Nur-iDešt. Iz cikla rasskazov o neobyknovennom, in: Novyj mir 11–12 (1944), S. 120–130; Ders.: Rasskazy o neobyknovennom [Almaznaja truba; Ak-mjunguz (Belyj Rog)], in: Novyj mir 4 (1945), S. 64–85.
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1944 erschienenen Band Fünf Kompassstriche. Erzählungen vom Ungewöhnlichen (Пять румбов. Рассказы о необыкновенном).9 Die sieben bzw. fünf Erzählungen werden zusammengehalten durch eine kurze einführende Rahmung, die von einer Gruppe von Männern in der Gegenwart des Krieges berichtet, die aus verschiedenen Landesteilen nach Moskau gekommen sind, um eine neue Aufgabe bei der Landesverteidigung zu erhalten. Diese Gelegenheit nutzen sie, sich zu einem Abschieds-„Bankett“ (прощальный „банкет“) zu treffen, das von einem deutschen Bombenangriff unterbrochen wird.10 Nachdem die „Wellen des Waffendonners“ („Волны орудийного грома“) langsam verhallen, ist es schon nach zehn Uhr geworden, so dass der Hausherr – ein alter Kapitän – seine Gäste einlädt, bei ihm in seiner Wohnung über Nacht zu bleiben. Da sie sich vielleicht ein letztes Mal im Leben sehen, öffnet er die letzten Flaschen eines so guten Weines, wie sie ihn nie wieder trinken werden („Такого вина вам больше нигде не пивать“), und schlägt vor, dass bei offener Balkontür mit Blick auf den Gor’kij-Park jeder von ihnen den anderen „das aller interessanteste, aller prägnanteste Erlebnis“ (самое интересное, самое яркое переживание) seines Lebens erzählen möge. Denn wenn man das Besondere im Leben nicht mehr bemerke, gewöhne man sich an den Alltag aus Arbeit, Freude und Enttäuschung und werde zum Skeptiker, der mit „geschlossener Seele, erstarrt, durchs Leben“ gehe (с закрытой душой, закостеневшим, по жизни итти):11 „‚Schauen Sie‘, fuhr er fort, indem er auf die Wand zeigte, wo die von ihm selbst gezeichnete große Kartusche eines Kompasses hing, ‚folgen Sie von hier aus mit den Gedanken der Loxodrome über alle 32 Kompassstriche und seien Sie überzeugt, dass Ihnen auf jedem der Kompassstriche etwas Ungewöhnliches begegnen wird, – wenn die Möglichkeiten und Kräfte für den langen Weg reichen, der vielleicht auch ein gar nicht so langer Weg sein wird. [...] Wir alle, meine Freunde, haben unseren Lebensweg an einem anderen Kompassstrich entlang gelegt, – gab es da wirklich nichts Interessantes und Ungewöhnliches, wie ich es nenne? Ich schlage vor, dass wir uns austauschen, erzählen, was wem begegnet ist. Der Wein ist gut, Zeit haben wir viel, – soll unser Treffen auch ein ungewöhnliches werden und uns lange in Erinnerung bleiben.‘“12
9
Vgl. Efremov, Ivan: Pjat’ rumbov. Rasskazy o neobyknovennom, Moskva 1944.
10
Vgl. Efremov: Sem’ rumbov, S. 97.
11
Ebd.
12 „– Смотрите, – продолжал он, указывая на стену, где висела вычерченная им самим огромная
картушка компаса – продолжите отсюда мысленно локсодромии по всем тридцати двум румбам и будьте уверены, что по каждому из румбов вас встретит необычайное, – если хватит возможностей и сил на долгий путь, а может быть, и путь-то не будет долгим. [...] Все мы, друзья мои, по разным румбам в жизни курс прокладывали, – так неужели у нас ничего интересного или необычайного, как я называю, не было? Предлагаю поделиться, рассказать, что кому встретилось. Вино хорошее, времени впереди много, – пусть эта наша встреча тоже будет необыкновенной и надолго останется у нас в памяти.“ Ebd., S. 98.
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Diese des Nachts erzählten Geschichten vom Ungewöhnlichen hat der Rahmenerzähler aufgezeichnet. Bei den Binnenerzählern handelt es sich entweder um den alten Kapitän, der von seinen Abenteuern als Seemann berichtet (fünf Geschichten), oder aber um Naturwissenschaftler – meistens Geologen und Paläontologen –, die von ungewöhnlichen Entdeckungen und Begegnungen auf ihren Expeditionen erzählen (acht Geschichten). Der Kern der Geschichten kreist zumeist zum einen um ein vorgebliches Naturwunder, auf das der Erzähler trifft und das er im Laufe der Handlung wissenschaftlich zu erklären vermag, oder aber zum anderen um ein auf den ersten Blick unbezwingbares Naturhindernis, das der Erzähler dann aber doch durch eine nahezu übermenschliche Kraftanstrengung überwinden kann. So wird der Zyklus sowohl in der Zeitschriftenfassung (Sieben Kompassstriche) als auch in Buchform (Fünf Kompassstriche) von der Erzählung des alten Kapitäns, Treffen über Tuscarora (Встреча на Тускаророй), eröffnet, deren erster Teil von einem Schiffsunglück berichtet, das ihm 1926 auf dem Dampfschiff „Komintern“ zugestoßen ist. Eines Nachts sei auf der Route von Wladiwostok nach Petropawlowsk auf Kamtschatka mitten über dem über 8000 Meter tiefen Meerestief Tuscarora, das einen Teil des Kurilengrabens bildet, die Schiffsschraube plötzlich ins Stocken geraten. Wie sich herausstellt, war die „Komintern“ auf ein über 100 Jahre in den Weltmeeren treibendes, gekentertes Segelschiff aus dem 18. Jahrhundert mit Namen „St. Anna“ aufgelaufen. Bevor das Schiff gesprengt wird, um die Schiffsschraube wieder frei zu bekommen, untersuchen Taucher das Wrack und finden in der Kajüte Fragmente vom Tagebuch des Schiffskapitäns, Ėfraim Džessel’ton (Эфраим Джессельтон). Dieses hat er kurz vor seinem Tod im Jahre 1793 geführt, nachdem ein Hurrikan sein Schiff fast vollständig zerstört und die gesamte Mannschaft getötet hat und er, eingesperrt in seiner langsam mit Wasser voll laufenden Kajüte, als „armer Verrückter“ (жалкий безумец) auf sein nahes Ende wartet.13 In dem Tagebuch berichtet er darüber hinaus aber auch von seinen Forschungen zu Meeresstrudeln zwischen Australien und Afrika und von seiner letzten Entdeckung, eines Strudels, der Heilwasser aus den Tiefen des Indischen Ozeans hochspüle, das Krankheiten und schwere Verwundungen auf wundersame Weise in kurzer Zeit kuriere. Im zweiten Teil der Geschichte berichtet der Binnenerzähler von seinem nächsten Einsatz auf dem Frachtschiff „Enisej“, das ihn nach Schanghai, Singapur, ins ostafrikanische Point-Noire und ins südafrikanische Capetown verschlägt. Am letzten Abend vor seiner Rückfahrt begibt sich der Erzähler auf die andere Seite der Halbinsel von Capetown in den Küstenort Muizenberg, wo er in einer Hafenkneipe bei Pfeife, Rum und Wein sich seinem Abschiedsschmerz hingibt. Doch ein sehr leicht bekleidetes Mädchen mit schwacher, aber angenehmer Stimme, das traurige Liebeslieder singt, reißt ihn anfangs nur kurz aus seinen Träumen heraus, ehe sie plötzlich ein Lied „über den furchtlosen Kapitän Džessel’ton“ (о бесстрашном капитане Джессельтоне) anstimmt, der „bei der Insel der
13
Ebd., S. 104.
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Geheimnisse“ (около острова Тайн) „lebendes Wasser“ entdeckt habe, „das die Lebenden erheitert und die Toten belebt, worauf er aber spurlos mit seinem Schiff verschwunden“ sei.14 Aufgewühlt und erregt lädt der Erzähler die Sängerin, die sich als Ann Džessel’ton vorstellt, daraufhin zu einem Cocktail ein, erzählt ihr von dem Fund des Schiffes, um mehr zu erfahren, doch sie weigert sich irgendetwas von sich selbst zu erzählen, wundert sich über seine Grobheit und seine blühende Fantasie, nimmt auch kein Geld von ihm an, erlaubt ihm aber letztlich, sie nach Hause zu begleiten, ohne dass er Weiteres erfährt. Erst auf dem Schiff erreicht ihn ein Telegramm ohne Absenderadresse von Ann, dass sie ihn unbedingt wieder sehen müsse. Doch dazu ist es zu spät, und auch in der sowjetischen Heimat hält es ein ausgewiesener Meeresspezialist aufgrund der ungenauen Ortsangabe für unmöglich, die Entdeckung Džessel’tons zu überprüfen, worauf der Erzähler endet: „Als ich den Wissenschaftler verließ, empfand ich dieselbe Wehmut der Enttäuschung und des Verlustes, wie im fernen Capetown. Das, was mir unbedingt klar und wichtig erschien, wurde sofort irgendwie trüb, und ich verstand, dass je unwahrscheinlicher und wunderbarer das im Leben angetroffene Zufällige ist, desto schwerer ist es, über es zu erzählen...“15
Was an dieser Geschichte zuerst auffällt, ist die Parallelisierung des tragischen Schicksals des englischen Kapitäns aus dem 18. Jahrhundert mit den „ungewöhnlichen“ Erlebnissen des sowjetischen Seefahrers der Gegenwart. Doch wo jener, einsam in seine Schiffskabine eingesperrt, kentert, wird dieser verkannt, da er nicht überzeugend genug von dem Wunderbaren und Unwahrscheinlichen eines fast eineinhalb Jahrhunderte zurückliegenden Lebens zu erzählen weiß. Nicht die inhaltliche Wahrscheinlichkeit, sondern nur die gelungene Form wird hier als Kriterium für künstlerische und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit veranschlagt. Gleichzeitig weist die traditionelle Rahmung die ungewöhnliche Entdeckung in mehrfacher Hinsicht als ein mögliches Produkt der Fantasie aus. So kann das „Lebenswasser“ sowohl eine Wahnidee des „verrückt“ gewordenen Kapitäns Džessel’ton sein, ein romantisches Liedmotiv der Folkloresängerin oder auch ein Wunschtraum des vom Rum berauschten Erzählers, der sein erotisches Begehren nach der jungen Sängerin mit seinen wissenschaftlichen Fantasien von ewigem Leben und ewiger Gesundheit verbindet. Auch die Rahmung des Erzählzyklus insgesamt als Nachtgespräch bei gutem Wein im von deutschen Bombenangriffen attackierten Moskau verweist eindeutig auf die Traditionslinie der deutschen Romantiker und deren fantastische Geschichten, insbesondere natürlich aber auf E.T.A. Hoffmanns Serapionsbrüder (1819–1821) und
14 „[...] веселящей живых и оживляющей мертвых, но вслед за тем исчез без следа со своим кораблем.“
Ebd., S. 107. 15 „Уходя от ученого, я ощутил такую же грусть разочарования и утраты, как в далеком Кейптауне. То,
что казалось мне безусловно ярким и важным, как-то сразу потускнело, и я понял, что чем невероятнее и чудеснее встреченная в жизни случайность, тем труднее убедительно рассказать о ней...“ Ebd., S. 109.
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deren russische Adaptionen, wie beispielsweise Vladimir Odoevskijs Russische Nächte (Русские ночи, 1844).16 Wobei es Efremov nicht um die schlichte Tradierung eines romantischen Fantasiekonzepts geht, sondern eher um deren Revision in Bezug auf das in ihm vermittelte Menschenbild, wie noch auszuführen sein wird. Entsprechend motiviert der Binnenerzähler am Anfang der Geschichte seine Liebe zur Seefahrt bezeichnenderweise nicht mit der Suche nach ungewöhnlichen Abenteuern, sondern durch die Möglichkeit, viel Zeit zum Nachdenken zu haben: „Ich schaute mir mit Vergnügen meine Kajüte an – die winzige ‚Villa‘, die in einer Höhe von zwanzig Fuß über der schrecklichen grünen Untiefe des Stillen Ozeans lag, – und ich dachte, dass mich der Beruf des Seemanns vor allem deshalb interessierte, weil er mir viel Zeit zum Nachdenken ließ, wozu ich schon immer neigte.“17
Dieses Vergnügen beim Anblick der eigenen Kajüte markiert aber nicht einfach nur eine Privilegierung des uneingeschränkten Nachdenkens gegenüber den beruflichen Herausforderungen der Seefahrt, des im Angesicht des Todes verfassten Tagebuchs oder im Alkoholrausch gesungenen Liedes vor den eigentlichen Reiseerlebnissen. Vielmehr funktioniert die „winzige ‚Villa’“ inmitten der „schrecklichen [...] Untiefe“ auch als eine Metapher für den „Reichtum“ der künstlerischen Einbildungskraft, die die Entdeckung des „ungewöhnlichen“ Schiffes unterhalb der unscheinbaren Oberfläche des „stillen“ Ozeans erst ermöglicht.18 Diese hier angedeutete poeti16
So lässt sich beispielsweise in der Erzählung Auf den Wegen der alten Bergleute (Путями старых горняков, 1944) deutlich eine literarische Auseinandersetzung mit Hoffmanns Bergwerken zu Falun (1819) erkennen. Hoffmanns melodramatische Liebesgeschichte bekommt bei Efremov, der die Erzählung in den stillgelegten Bergwerkstollen nahe Orenburg im Jahr 1929 situiert, eine politische und gleichzeitig eine existenzialistische Bedeutung. Wie bei Hoffmann werden die grausamen Arbeitsbedingungen und ihre Gefahren in den Bergwerken des 18. und 19. Jahrhunderts thematisiert. Gleichzeitig aber bekommt die Figur des Bergmanns auch eine metaphorische Bedeutung, die seine Erkundungen unterirdischer Tunnelsysteme und Höhlenwege auch als Entfaltung unbewusster Seelenzustände lesbar machen, vgl. Efremov, Ivan: Putjami starych gornjakov [1944], in: Ders.: Buchta radužnych struj. Naučno-fantastičeskie rasskazy, Moskva 1959, S. 192–223.
17 „Я с удовольствием осмотрел свою каюту – крошечный ‚особняк‘, несущийся на двадцатифутовой
высоте над страшной зеленой глубиной Тихого океана, – и подумал, что профессия моряка увлекла меня прежде всего тем, что она оставляла мне много времени на размышления, к которым я всегда был склонен.“ Ebd., S. 98.
18
Betrachtet man die Wunderquellen des Glücks und der Gesundheit, die das zentrale Phantasma von Džessel’ton und des Erzählers im Treffen über Tuscarora bilden, auf solch einer metaphorischen Ebene im größeren Kontext der „Klassiker“ der Abenteuerliteratur, dann stellt Tuscarora auch eine literarische Antwort auf den Topos des Malstroms dar, wie ihn Jules Verne, Edgar Alan Poe oder Hermann Melville entwickelt haben: Jenes Meeresstrudels also, der alles Leben in seine Untiefen herabzieht und vernichtet, so dass bis auf die narrative Fiktion keinerlei weitere Spuren und Reste auf der Oberfläche des Meeres sichtbar bleiben. Das Treffen über Tuscarora aber beinhaltet das fantastisch-abenteuerliche Glücksversprechen, dass die Seewracks und Totenschiffe der Seefahrt wieder aus den Tiefen der Weltmeere geborgen werden
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sche Konzeption des Ungewöhnlichen tritt in der zweiten Erzählung des Zyklus noch sehr viel deutlicher hervor. In Der See der Berggeister (Озеро горных духов) erzählt der bekannte Erforscher unzugänglicher Gebiete Sibiriens, ein mongolisch aussehender Geologe, eine Geschichte, bei der angeblich „das Hauptverdienst dem Verstand und der nüchternen Analyse“ gehöre („главная заслуга принадлежит разуму и трезвому анализу“).19 So habe er einmal eine Expedition in den Altai gemacht auf der Suche nach Gold, doch obwohl die Forschungsreise keinerlei Erfolg gebracht habe, sei in ihm doch eine unerwartete und starke Liebe zur Natur des Altai ausgebrochen. Schon gegen Ende der Expedition habe er dann über Umwege davon erfahren, dass der bekannte einheimische Landschaftsmaler Čorosov in der Gegend wohne, den er daraufhin besuchte. Insbesondere von einem Bild – betitelt als der „See der Berggeister“ – sei er begeistert gewesen, das einen unzugänglichen Hochgebirgssee im Altai zeige, auf dem man das Motiv der Berggeister allerdings erst nach mehrmaligem Hinsehen erkennen könne. Der Legende nach würden diese Geister über dem See wohnen, und jeder, der ihn besuche, sterbe kurze Zeit später eines qualvollen Todes. Dieses Gemälde von den todbringenden Berggeistern lässt dem Erzähler auch nach seiner Rückkehr von der Forschungsexpedition keine Ruhe, und nach langjährigem Nachdenken kommt er zu dem Schluss, dass es sich um einen Quecksilbersee handeln müsse. Erst daraufhin macht er sich zusammen mit einem Assistenten Jahre später und nach dem Tod des Malers auf die Suche nach dem geheimnisvollen Quecksilbersee und findet seine Hypothese bestätigt. So hat sich der Erzähler zwar schwer vergiftet, aber von nun an kann der „Wundersee“ den Quecksilberbedarf der ganzen Sowjetunion bedienen: „Und ich behielt für immer die dankbare Erinnerung an den wirklichen Künstler, den furchtlosen Sucher der Seele der Berge, dessen feine und treffende Beobachtungen mir in den Farben seiner Bilder den Reichtum des Sees der Berggeister eröffneten – an den Künstler Čorosov.“20 Es ist auch in dieser Geschichte nicht die wissenschaftliche Expedition, die geologische Erforschung des Altaigebirges, die die Entdeckung bringt, sondern zuallererst die künstlerische Einbildungskraft in Gestalt der Folklore der Einheimischen, deren Legende von den Berggeistern den Maler zu seinem Gemälde inspiriert, das wiederum den Erzähler in seiner plötzlich ausgebrochenen Liebe zur Natur des Altai anspricht und ihn zu jahrelangem Nachdenken
können. Ähnlich wie Vajnštoks Jacques Paganel in dem Film Die Kinder des Kapitän Grant (1936) am Ende von seiner Insel der Glückseligkeit träumt anstatt sich wie Vernes Abenteuerheld dem Schicksal der bürgerlichen Ehe zu ergeben, eröffnet auch Efremovs Meerestiefe Tuscarora einen Glück und Seligkeit versprechenden fiktionalen Wasserstrudel nahe der Insel der Geheimnisse jenseits aller Realitäten des Krieges und der irdischen Grausamkeiten. 19
Ebd., S. 109.
20 „А я навсегда сохранил признательную память о правдивом художнике, бесстрашном искателе души
гор, чьи тонкие и верные наблюдения открыли в красках его картины богатство Озера Горных Духов – о художнике Чоросове.“ Ebd., S. 117.
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bringt, ehe er in den „genauen und wahren Beobachtungen“ der Kunst das eigentliche Wesen der Berggeister zu entschlüsseln vermag. So wie der „furchtlose Kapitän“ Džessel’ton das Wasser des Lebens in den Strudeln der Ozeane entdeckt hat, hat hier der „furchtlose Sucher“ die „Seele der Berge“ erfasst. Diese Rede von der „Seele der Berge“ verweist aber auch darauf, dass es Efremov hier nicht einfach um eine utilitaristische Ästhetik geht, nach der das Nützliche auch das Schöne sei, sondern vielmehr um eine Poetik der fiktionalen Animierung des Menschen und der Natur. Die künstlerische „Stimmung“ des Seelischen ist demnach die Voraussetzung dafür, dass der Mensch instinktiv das „wahre Wesen“ der Natur erfassen kann. So stellt der von seiner Liebe zu den Schneegipfeln des Altai ergriffene Erzähler fest: „Ich wollte nur sagen, dass der Anblick der Schneeberge bei mir ein feineres Verständnis der Schönheit der Natur hervorrief. Diese fast musikalischen Übergänge des Lichts, der Schatten und der Blumen teilten der Welt eine Glückseligkeit der Harmonie mit. Und ich, der ganz irdische Mensch, wurde anders gestimmt in der Bergwelt, und zweifelsohne, meine Entdeckung, von der ich jetzt erzählen werde, verdanke ich in einem bestimmten Maße genau dieser hohen Stimmung.“21
Es muss demnach dafür, dass der menschliche Verstand durch „nüchterne Analyse“ zu einem verbesserten Verständnis der Natur und der imaginären Entschlüsselung des Geheimnisses des Bergsees kommen kann, zuerst die menschliche Seele darauf eingestimmt werden, die „erhabene seelische Verfassung“ der Natur richtig zu erfassen. In dem Kurzroman Schatten der Vergangenheit (Тени минувшего, 1945)22 präzisiert der Erzähler diese Auffassung anhand des Haupthelden wie folgt: „Nikitin dachte daran, dass die Natur unendlich reicher als alle unsere Vorstellungen von ihr sei, doch ihr Verständnis erhält man niemals umsonst. In engem Austausch, in ständigem Kampf mit der Natur kommt der Mensch ihren verborgenen Geheimnissen sehr nahe. Doch auch dann ist es notwendig, dass die Seele klar und rein sei, ähnlich einem fein gestimmten Musikinstrument, damit sie auf die Schwingungen der Natur reagiert...“23 21 „Мне хотелось бы только сказать, что вид снеговых гор вызывал во мне обостренное понимание
красоты природы. Эти почти музыкальные переходы света, теней и цветов сообщали миру блаженство гармонии. И я, весьма земной человек, по-иному настроился в горном мире, и, без сомнения, моим открытием, о котором я сейчас расскажу, я обязан в какой-то мере именно этой высокой настроенности.“ Ebd., S. 211.
22
Efremov, Ivan: Teni minuvšego. Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Krasnoarmeec 2 (1945), S. 22–24; 3–4, 29–31; 5, 20–22. Hier zitiert nach Ders.: Ten’ minuvšego (1945), S. 3–54. Der Kurzroman ist noch 1945 in zwei Buchausgaben bei Molodaja gvardija und Detgiz erschienen, die beide schon nicht mehr die Genrebezeichnung „wissenschaftlich-fantastisch“ im Untertitel trugen und die „Schatten“ in den Singular setzten.
23 „Никитин думал о том, что природа безмерно богаче всех наших представлений о ней, но познание
ее никогда не дается даром. В тесном общении, в постоянной борьбе с природой человек подходит вплотную к ее скрытым тайнам. Но и тогда нужно, чтобы душа была ясной и чистой, подобно тонко
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In diesem Bild tritt die Bedeutung des menschlichen Verstandes noch weiter zurück, denn die Natur wird hier nicht nur als „unendlich reicher als alle unsere Vorstellungen von ihr“ beschrieben, sondern ihr „Verständnis“ ist rein rational überhaupt nicht möglich. Vielmehr tritt die Natur hier selber als das eigentliche Agens der Geschichte auf, das auf dem Musikinstrument der menschlichen Seele spielt. Dieses muss aber „klar und rein“ gestimmt sein, damit die ungezähmten Klänge der Natur direkt in die menschliche „Seele“ eindringen können. Damit aber propagiert Efremov hier ein Natur- und Wissenschaftsverständnis, das zwar einerseits deutliche Parallelen zu Kirill Andreevs „romantischer“ Konzeption einer Literatur des großen Wunschtraums aufweist. Andererseits aber formulieren Efremovs Poetisierungen der Natur geradezu ein Gegenmodell zur sozialistisch-realistischen Konzeption eines Menschen, der sich nicht nur zum Beherrscher der ungezähmten Natur, sondern auch zum bewussten Bezwinger der willkürlichen Naturgesetze selber aufschwingen sollte. In diesem Gegenmodell firmiert die Natur als ein kosmisches Bezugssystem, das man nur verstehen kann, wenn man sich in „seelischer“ Kontemplation und mit Hilfe künstlerischer Intuition ganz auf deren „musikalische Stimmungen“ und „Glückseligkeit der Harmonie“ einlässt. Dabei ist die Natur nicht einfach nur ein rätselhaftes Zeichensystem, das der Mensch dekodieren kann, sondern umgekehrt ist sie die eigentliche evolutionäre Kraft der Geschichte, die schon alles vom Menschen Gesuchte und Erstrebte in sich trägt, sei es das ewige Leben, irdisches Glück oder die reichliche Versorgung mit Rohstoffen. So heißt es in Treffen über Tuscarora: „Und wie oft schon zuvor erschienen mir all meine Unannehmlichkeiten so geringfügig zu sein im Angesicht des Ozeans...“24 Doch die Natur vermag in Gestalt der Berge oder des Meeres die menschliche Seele nicht nur zu verzücken, sondern gleichzeitig – sei es durch Quecksilberdämpfe oder Meeresunwetter – den menschlichen Körper physisch zu zerstören. Diese destruktive Semantik verstärkt den sentimentalisch-romantischen Zug von Efremovs Poetik noch zusätzlich: Auch wenn es äußerlich immer auch um die Nutzbarmachung von Rohstoffen zum Wohle der Sowjetunion geht, besteht der imaginäre Kern seiner Texte doch in der Transzendierung der menschlichen Seele mit Hilfe berauschend-giftiger Stoffe und natürlicher Energien. Am deutlichsten wird diese Konzeption der Natur als „narkotisches“ Medium zur Reinigung der menschlichen Seele vielleicht in der ebenfalls zum Zyklus gehörenden Erzählung Das Observatorium Nur-i-Dešt (Обсерватория Нур-и-Дешт, 1944), in der der Binnenerzähler davon berichtet, wie er als Kriegsverletzter zur Kur nach Mittelasien geschickt wird, durch einen Zufall aber auf einer archäologischen Ausgrabungsstätte mitten in der Wüste landet, an der ein alter Professor und dessen junge usbekische Assistentin mit der Freilegung eines antiken Observatoriums mit dem Namen „Licht der Wüste“ (so die altertümliche Bedeutung von „Nur-i-Dešt“) beschäftigt sind. Merkwürdige Erschöpfungszustände, glückliche Abende am Lagerfeuer oder настроенному музыкальному инструменту, и она отзовется на звучание природы...“ Efremov: Ten’
minuvšego, S. 18. 24 „И, как много раз до этого, мелкими показались мне все мои огорчения перед лицом океана...“
mov: Vstreča nad Tuscaroroj, S. 108.
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Efre-
mit der Assistentin allein an einem nahe gelegenen Fluss sowie eine bei Nacht leuchtende altertümliche Vase bringen den Erzähler zu der Erkenntnis, dass das Observatorium aus einem radioaktiv strahlenden Material gebaut sein muss, dessen Strahlen sowohl eine heilende und euphorisierende Wirkung auf Menschen ausüben als auch eine ungewöhnliche klare Sicht auf den Sternenhimmel ermöglichen: „Und plötzlich stellte sich heraus, dass die Ursache von all dem das Radium war – und nur... Das heißt, wenn das Radium nicht gewesen wäre, [...] hätte es auch nicht die wundervolle Verzauberung jener Tage in dem antiken Observatorium gegeben...“ 25 Und so heilt das radioaktive „Licht der Wüste“ am Ende nicht nur die Kriegsverletzungen des Erzählers, es belebt ihm auch die Wüste seiner Seele, so dass sie sich am Ende auch für die junge Assistentin Tanja „öffnen“ kann: „‚Tanja, meine Liebe‘, sagte ich, ‚hier belebte sich meine Seele, und sie öffnete sich... Ihnen gegenüber.‘/ Tanja erhob sich und stürzte zu mir. In den klaren Augen des Mädchens spiegelte sich das aschgraue Sternenlicht./ In der Höhe über uns leuchtete der weitausgestreckte Schwan, die Lichtwolken der Milchstraße durchstoßend, wobei er seinen langen Hals im ewigen Flug ausstreckte.“26
Damit werden aber nicht nur die menschlichen Gefühle als durch die „natürliche“ radioaktive Strahlung bedingt dargestellt, sondern es werden menschliche Befindlichkeiten letztlich nur als ein Abglanz des ewigen „aschgrauen Sternenlichts“ geschildert, das alle Handlungsoptionen schon in sich trägt. Dass das Sternbild Schwan bekanntlich in der antiken Mythologie Zeus verkörpert, der in dieser Gestalt unerkannt jungen Frauen nachstellt, unterstreicht diese „kosmische“ Semantik des ungewöhnlichen Liebesabenteuers in exotischer Umgebung noch zusätzlich.27 25 „И вдруг оказывается, что всему причиной этот радий – и только... Значит, если бы не было радия,
[...] не было бы и дивного очарования этих дней на древней обсерватории...“ Efremov: Observatorija
Nur-i-Dešt, S. 130. 26 „ – Таня, дорогая, – говорил я, – здесь ожила моя душа, и она открылась... навстречу вам./ Таня
поднялась и порывисто подошла ко мне. В ясных глазах девушки отразился пепельный звездный свет./ В высоте над нами, прорезая световые облака Млечного Пути, сиял распростертый Лебедь, вытянув длинную шею в вечном полете.“ Ebd.
27
Diese „kosmische“ Semantik ist in der Zeitschriftenfassung von 1944 zwar deutlich erkennbar, explizit kann Efremov sie jedoch erst in den Ausgaben seit der Tauwetterzeit formulieren, in denen der Erzähler nach seinem Eingeständnis der Zuneigung zu Tanja fortfährt: „‚Wer weiß, vielleicht versteht man bei weiteren Forschungserfolgen den Einfluss radioaktiver Teilchen auf uns noch besser. Und wer bürgt dafür, dass uns nicht noch viele andere Strahlungen beeinflussen – und seien es die kosmischen Strahlen. ,Dort oben‘ – ich stand auf und hob die Hand zum Sternenhimmel – ‚gibt es vielleicht ganz unterschiedliche Energieströme, die aus den schwarzen Tiefen des Raums strahlen... Teilchen ferner Sternenwelten.‘“ („Кто знает, может быть, в дальнейших успехах науки влияние радиоактивных веществ на нас будет понято еще более глубоко. И кто поручится, что на нас не влияют еще многие другие излучения – ну, хотя бы космические лучи. Вот там, – я встал и поднял руку к звездному небу, – может быть, есть потоки самой различной энергии, изливающейся из черных глубин пространства... частицы далеких звездных миров.“) Vgl. Efremov, Ivan: Observatorija Nur-i-Dešt, in: Ders.: Buchta radužnych struj.
Naučno-fantastičeskie rasskazy, Moskva 1959, S. 55–83, S. 82f.
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Die Durchdringung und Prägung des Menschen durch natürliche Energien und „Stimmungen“ wird bei Efremov jedoch nicht nur räumlich in kosmische Dimensionen erweitert, sie reicht bei ihm auch zeitlich bis in die menschliche Urzeit zurück. Genauso wie die Sterne, die Berggeister des Altai oder die radioaktive antike Vase als „leuchtende Schale längst vergangener, doch nicht gestorbener menschlicher Hoffnungen“ („светящаяся чаша давно минувших, но не умерших человеческих надежд“)28 tendenziell ewig strahlen, sind auch bestimmte Charakterzüge des Menschen unvergänglich und schon immer vorhanden gewesen. Efremovs Poetik des Ungewöhnlichen besteht nun darin, diese „vergangenen, doch nicht gestorbenen“ Charakterzüge des Menschen bloßzulegen, ähnlich wie der Paläontologe und Geologe die Erdschichten abträgt und interpretiert, um zum Ursprung des Menschen und des Lebens zu gelangen. Das in dieser literarischen Suche nach dem Ursprung freigelegte Ungewöhnliche zeigt einen Menschen, der als vollkommenes Sinnes- und Verstandeswesen seit seinen Anfängen vorhanden gewesen ist. Im Laufe seiner Entwicklung hat er sich zwar viele technische und wissenschaftliche Fertigkeiten neu angeeignet, aber gleichzeitig sind ihm gerade sinnlichemotionale Fähigkeiten wieder abhanden gekommen. Ähnlich wie der zeitgenössische Mensch sich seine natürliche Umwelt wieder neu aneignen muss, gibt es eine innere Vorherbestimmung, die durch eine Schulung der Gefühls- und Sinneswahrnehmungen erst wieder neu „auszugraben“ ist. Diese Vorherbestimmung offenbart sich dem Helden anfangs nur als ein infantiler Wunschtraum, ein unbestimmtes Begehren nach einer Heldentat, als der Wille, ein Hindernis um alles in der Welt zu überwinden, ein Verlangen, das sich dann im Nachhinein als intuitiv erfasster innerer Kompass des „Wirklichen“ herausstellt. So wird in der dritten Erzählung des Zyklus, die man mit Der „irdische“ kahle Berg oder von der Wortsemantik her auch Der „sublunare“ Nackte (Голец „подлунный“) übersetzen könnte, das Titelthema der Kompassstriche noch einmal einleitend aufgenommen: „Das Ungewöhnliche, dem fast jeder von uns begegnet ist, entspricht wohl dem inneren Suchen und Träumen eines jeden von uns...Sind nicht diese Begegnungen mit dem Ungewöhnlichen das Ergebnis jahrelanger, vielleicht unbewusster Suchbemühungen unseres Wunschtraums? Das geduldige Bestreben zu ihm trainiert unseren Scharfsinn, verleiht uns die Fähigkeit, das Wirkliche von dem Zufälligen zu trennen – das ist in seiner Art ein innerer Kompass, der uns im erforderlichen Moment zeigt, dass wir uns auf dem richtigen Kompassstrich bewegen... Und, wer weiß, – vielleicht sind wir deshalb im Leben dem Ungewöhnlichen begegnet, weil wir ständig diesem unserem Kompass gefolgt sind...“29 28
Efremov: Observatorija Nur-i-Dešt (1944), S. 130.
29 „Необычайное, встреченное почти каждым из вас, как бы соответствует внутренним исканиям и
мечтам каждого... Разве эти встречи с необычайным – не результат многолетних, может быть, бессознательных, поисков своей мечты? Терпеливое стремление к ней тренирует нашу чуткость, дает умение отделить настоящее от случайного – это своего рода внутренний компас, который в нужную минуту подскажет вам, что вы на верном румбе... И, кто знает, – быть может, мы потому и
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Der Weg zum Ungewöhnlichen ist demnach der Weg zu der inneren Vorherbestimmung, die ähnlich wie die Richtung der Kompassnadel schon von der irdischen Natur vorgegeben ist. Die innere Kompassnadel aber zeigt auf die Wiege der Menschheit selber, die in der Metaphorik des Zyklustitels gewissermaßen das erdmagnetische Feld dieser Kompassstriche bildet, auf den Ursprung der menschlichen Zivilisation und damit auch jedes Individuums, in das dieser Anfang alles menschlichen Lebens „magnetisch“ eingeschrieben ist. Wenn der Held der Erzählung daher davon spricht, dass er seit seiner Kindheit dank der Abenteuerromane und Reiseberichte Afrika geliebt habe, um diesen „Schwarzen Kontinent, voll von Rätseln“ zu erforschen, dann zeigt sich hierin schon eine erste Äußerung eines inneren Wunschtraums von einem „mächtigen, alles besiegenden altertümlichen Leben“: „Später, als Geograf und Archäologe, sah ich in Afrika die Wiege der Menschheit – das Land, woher die ersten Menschen in die nördlichen Länder gekommen sind, zusammen mit der Flut der in den Norden umsiedelnden Tiere. Das Interesse des Wissenschaftlers verstärkte noch die Jugendträume von der Seele Afrikas, – von dem mächtigen, alles bezwingenden Leben im Altertum, das sich entlang der Räume großer Fruchtbarkeit, der Gewässer und mächtigen Flüsse ausbreitete, entlang der von Winden umwehten Ufer und der zwei entdeckten Ozeane...“30
Doch dieser Wunschtraum des Erzählers erfüllt sich nicht, stattdessen muss er beruflich die „trübe und raue Natur“ (хмурая и суровая природа) Sibiriens erforschen. Aber sein innerer Kompass führt ihn eines Tages mit einer Expedition in den äußersten Nordosten Sibiriens, wo er in der Neujahrsnacht bei Minus 62° Celsius eine kaum zugängliche Höhle in einem unbewaldeten kahlen Felsen entdeckt, die nach Überzeugung der Einheimischen von bösen Geistern und Dämonen bewohnt wird, in der sich aber tatsächlich ein Massengrab von Mammuts befindet und an deren Wänden die Expeditionsteilnehmer urzeitliche Höhlenzeichnungen entdecken, wie man sie sonst nur aus Afrika kennt: „Es geschah etwas wirklich Ungewöhnliches: Als ich in den frostigen Höhlen Sibiriens von Afrika träumte, entdeckte ich hier ein Stückchen Erde, das im Altertum Afrika gewesen war und sich unberührt bis in die Gegenwart erhalten hatte.“31
встречали в жизни необычайное, что постоянно следовали этому своему компасу...“ Efremov: Sem’
rumbov [Golec Podlunnyj], S. 117. 30 „Позднее, как географ и археолог, я видел в Африке колыбель человечества – ту страну, откуда
первые люди проникли в северные страны, вместе с потоком переселявшихся на север животных. Интерес ученого еще более укрепил юношеские мечты о душе Африки, – о могучей все побеждающей древней жизни, разлившейся по просторам высоких плоскогорий, водам мощных рек, по овеваемым ветрами побережьям, открытым двум океанам...“ Ebd., S. 119.
31 „Случилось действительно необычайное: тоскуя по Африке в морозных ущельях Сибири, я открыл в
них кусочек земли, в древности бывшей Африки и сохранившейся нетронутой с того времени.“ Ebd.,
S. 126.
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Noch deutlicher als in den vorhergehenden Geschichten ist es in dieser Erzählung der innere Wunsch nach dem Ungewöhnlichen, der die äußere Wirklichkeit als einen seit dem Altertum unberührten „Flecken Erde“ erst hervorbringt. Dieses Ungewöhnliche aber ist das vermeintlich vollkommen Ferne und Fremde, das sich als das bislang unberührte und unbekannte Andere oder auch Ursprüngliche der eigenen Identität herausstellt, seien es nun die afrikanische Wiege Sibiriens, die Berggeister des Altai, das „Licht der Wüste“ oder die „Insel der Geheimnisse“. Andreevs Definition der „Literatur des geflügelten Wunschtraums“ findet damit in Efremov einen seiner Hauptvertreter, bei dem der Mensch oder eher die Suche nach der Bestimmung des Menschen mehr und mehr zum „magnetischem“ Kern des Sujets wird, während gleichzeitig die romantisch-fantastische Konzeption der kreativen Einbildungskraft als ein Wesen der Nacht, des Rausches und des Wahnsinns motivisch und metaphorisch die Geschichten prägt. Diese „verrückten“ Wunschträume führen jedoch nicht in die nahe oder ferne Zukunft der Sowjetunion oder menschlicher Entwicklungen, sondern in die umgekehrte Richtung zu den verborgenen, vergessenen, verschütteten Schichten der Menschheitsgeschichte. Die romantisch-fantastische Sehnsucht nach dem Aufgehen und Transzendieren des Subjekts in seiner universalen Bestimmung und kosmischen Einheit wird bei Efremov als geologischer diesseitiger Traum von den ursprünglichen, ewig gültigen, allumfassenden Fähigkeiten des „nackten Menschen“ als vollendetes Lebewesen, als zu allen Zeiten vollkommene Schöpfung ersetzt.32 Damit partizipiert Efremov zwar ebenfalls an der generellen Tendenz der Kriegs- und Nachkriegszeit, statt einer auf die Zukunft gerichteten Wissenschaftlichen Fantastik eine rückwärtsgewandte, erinnerungspolitische Fantastik zu schreiben. Allerdings geht es bei Efremov nicht um eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der nahen Kriegs- oder Vorkriegsvergangenheit, sondern um eine grundlegende anthropologische Neubestimmung des Menschen. Diese Neubestimmung des Humanen als poetischer Kern von Efremovs Erzählen wird vielleicht am deutlichsten in der Geschichte Ak-Mjunguz (Das weiße Horn) (Ак-Мюнгуз [Белый рог], 1945). In ihr versucht ein Geologe anfangs vergeblich eine kaum zugängliche steile Felsklippe in den mittelasiatischen Hochgebirgen an der Grenze zu China zu erklimmen, an deren Spitze er aufgrund ihrer weißen Färbung ein seltenes Mineral vermutet. Als ihm eine Kollegin begeistert von einem Buch über die letzten gescheiterten Mount-Everest-Bezwingungen erzählt und zu dem Schluss kommt, dass schließlich jeder Mensch seinen eigenen Mount Everest bezwingen müsse, kommt der Erzähler ins Nachdenken. Aber erst als ein Einheimischer eine 300 Jahre alte Ujgursker Legende über das auf Ujgurisch „Ak-Mjunguz“ genannte „Weiße Horn“ erzählt, wird der Ehrgeiz
32
Entsprechend stellt auch der titelgebende irdische, wörtlich „sublunare“ Felsen, dessen „unter dem Mond“ befindliche Seite durch die Anführungszeichen zusätzlich hervorgehoben wird, der also wie Wehrwölfe, Hexen und andere dämonische Gestalten ausdrücklich ein Nachtwesen ist, ein Kind des Mondes, einen kahlen, entwaldeten Berg dar, der morphologisch gesehen „nackt“ (von „ голый“, „nackt, der Nackte“) dasteht. Damit ist der „sublunare“ (russ. „подлунный“) Nackte aber auch ein Sinnbild für den entblößten echten, authentischen (russ. „подлинный“) Menschen, dessen bloße „Seele“ erst so in voller Größe als Kern alles Menschlichen erscheint.
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des Geologen Usol’cev geweckt. Die Legende berichtet von einem nördlichen Chan, der eine Räubertochter von exotischer Schönheit erbeutet hat und diese als Geliebte seinen drei Söhnen überlässt, bis eines Tages ein Fremder auftaucht, der im Schwertkampf alle besiegt, so dass ihm der Chan seine Adoptivtochter verspricht, wenn er das unbezwingbare „Weiße Horn“ erklimme und auf dem Gipfel ein Schwert mit goldenem Knauf hinterlege. Und tatsächlich erklimmt der Fremde – das Schwert um den nackten Oberkörper gebunden – die Felsklippe und bekommt die exotische Schöne zugesprochen. Als er sie das erste Mal in seine Arme schließt, sticht er ihr jedoch ein Messer in den Rücken, da sie sich ehrlos mit den Söhnen des Chans eingelassen habe. Aufgrund dieser Legende unternimmt der Geologe Usol’cev im Morgengrauen des nächsten Tages heimlich erneut einen Anlauf das Weiße Horn zu erklimmen, fast nackt wie der Held aus der Legende, nur mit einem Hammer bewaffnet. Er schafft es tatsächlich mit Hilfe ihn stützender starker Windböen den steilen Felsen zu erklimmen, wo er nicht nur einen sehr dichten und festen „milchweißen Quarzstein“ vorfindet, sondern auch das goldene Schwert: „Usol’cev erstarrte. Das Bild des Kriegers – des Bezwingers des Weißen Horns aus der Volkslegende – stand vor ihm wie lebend. Der Schatten des Vergangenen, das Gefühl wirklicher Unsterblichkeit menschlicher Errungenschaften verblüfften Usol’cev anfangs. Ein wenig später fühlte der Geologe, wie neue Kräfte in seinen ermüdeten Körper eindrangen. Als ob sich hier, auf dieser von niemandem zu erreichenden Höhe, ein Freund mit Worten des Wohlwollens an ihn wandte. Usol’cev warf die Schlinge um einen kleinen Vorsprung der weißen Gesteinsschicht. Vorsichtig hob er das wertvolle Schwert auf, band es fest an seinen Rücken und legte sein Geologenhämmerchen lächelnd auf die kleine Erhöhung ...“33
Auch beim anschließenden Abstieg „betrügt“ der Wind den Menschen nicht, indem er ihn stützt.34 So kommt der Geologe blutig und barfuß als ein veränderter Mensch zurück, den jetzt nicht nur die einheimischen Ujgurer ehrfürchtig als „Recken“ (Батур) anreden, sondern auch die junge Kollegin verabschiedet sich mit dieser Anrede von ihm, als sie zur „Leitung“ aufbricht, umgehend eine tiefgreifende Erforschung des Weißen Horns zu veranlassen. Auch hier wird die Entdeckung einer seltenen Rohstoffquelle gekoppelt mit der Heldentat eines Einzelnen, die nur dank der Hilfe der Natur in Gestalt des personalisierten Windes und des legendären Recken als freundschaftlicher „Schatten des Vergangenen“ möglich wird und die „Seele“ des Protagonisten grundlegend verändert: 33
„Усольцев оцепенел. Образ воина – победителя Белого Рога из народной легенды – встал перед ним,
34
Vgl. ebd.
как живой. Тень прошлого, ощущение подлинного бессмертия достижений человека вначале ошеломили Усольцева. Немного спустя геолог почувствовал, как новые силы вливаются в его усталое тело. Будто здесь, на этой не доступной никому высоте, к нему обратился друг со словами одобрения. Усольцев накинул веревочную петлю на небольшой выступ белой породы. Осторожно поднял драгоценный меч, крепко привязал его за спину и, улыбаясь, положил на площадку свой геологический молоток...“ Efremov: Rasskazy o neobyknovennom [Almaznaja truba; Ak-mjunguz (Belyj Rog)], S. 84.
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„Und dann dachte er noch daran, dass, wenn es ihm gegeben ist, ins Leben zurückzukehren, er als ein anderer als zuvor zurückkehren wird. Die übernatürliche Anspannung, die er in das Erreichen des Ziels gelegt hatte, veränderte seine Seele irgendwie... er ist jetzt für immer mit dem Stempel des schrecklichen Berges gezeichnet...“35
Dieser ist aber gewissermaßen ein ähnlich ursprünglicher und „übernatürlicher“ Kompass menschlicher Inspiration wie die afrikanische „Wiege der Menschheit“ in der vorhergehenden Erzählung: Ein „Flecken Erde“ aus unvergänglichem Felsen, der jenseits von jedem technischen Fortschritt, rationaler Planbarkeit und gesellschaftlicher Entwicklung dem Menschen nur nackt und allein zugänglich ist. Anstelle des nackten Felsens, der dem Menschen im Moment der äußersten Kraftanstrengung sein Innerstes entblößt, ist es hier der nackte Mensch selber, der durch Besteigen des Berges mit Hilfe „übernatürlicher“ Kräfte seine Seele verändert und so zu einem geläuterten Menschen, einem altertümlichen Recken wird. Ähnlich wie im „See der Berggeister“ formuliert die volkstümliche Legende hier ein tieferes Wissen von Mensch und Natur, das explizit religiös-mythische Konnotationen trägt, auch wenn diese bei Efremov immer in ein (sozialistisch)-realistisches Narrativ eingebunden bleiben. So ist denn zum Beispiel in dem Motiv des geologischen Hämmerchens, das an die Stelle des goldenen Schwertes tritt, deutlich eine Geste der sowjetischen Überlegenheit eingeschrieben, symbolisiert doch der Hammer die Nutzbarmachung der Natur, während das Schwert dazu diente, einem mittelalterlichen Ehrenkodex zwischen Menschen zu genügen, doch gleichzeitig heißt es von dem „himmelblauen Stahl“ der Schwertscheide, es sei „das Stahl der legendären persischen Waffenschmiede, deren Geheimnis der Herstellung heute verloren gegangen ist.“36 Mit diesem Nachsatz aber signalisiert Efremov, dass die legendären persischen Waffenschmiede selbst in jenem Handwerk den Zeitgenossen voraus sind, das metaphorisch zum unverzichtbaren symbolischen Inventar des sowjetischen Menschenbildes gehörte – in der Kunst, Stahl zu härten. Neben der fiktionalen Rekonstruktion anthropologischer Konstanten der menschlichen Seele geht es in den Texten somit auch um die Ausgrabung heute verloren gegangener technischer Fertigkeiten und um ein nur noch in den Volkslegenden und in „wahrer Kunst“ erhaltenes Wissen über die Natur- und Menschheitsgeschichte, das als „Schatten der Vergangenheit“ gewissermaßen „fotografisch“ in die Erdnatur eingebrannt ist. Am deutlichsten ist dieses Konzept in dem einzigen Kurzroman jener Jahre, dem schon erwähnten Werk Schatten der Vergangenheit ausgearbeitet, der erstmals Anfang 1945 in Fortsetzun-
35 „И еще он подумал о том, что, если ему суждено будет вернуться в жизнь, он вернется другим – не
прежним. Сверхъестественное напряжение, вложенное им в достижение цели, как-то изменило его душу... он теперь навсегда отмечен печатью страшной горы...“ Ebd.
36 „[...] драгоценная голубая сталь – та сталь легендарных персидских оружейников, секрет
приготовления которой ныне утрачен.“ Ebd., S. 85.
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gen in der Armeezeitschrift Krasnoarmeec veröffentlicht worden ist.37 Hier bricht eine paläontologische Expedition in drei Autos zu einer mittelasiatischen Wüste auf, wo sie nach der Begegnung mit mehreren Fata Morganas endlich einen ganzen Friedhof an urzeitlichen Tierskeletten entdeckt. Als der Expeditionsleiter Nikitin den Mitreisenden seine Version der urzeitlichen Evolutionsgeschichte erzählt und beklagt, dass die Paläontologie ihre „schwache Seite“ in der Lückenhaftigkeit fossiler Überlieferungen habe, weswegen oft nichts anderes übrig bleibe als zu den Fantasien der Schriftsteller zurückzugreifen, wie zu Conan Doyles Roman Lost World oder zu seinem „Lieblingsschriftsteller“ J.-H. Rosny dem Älteren (1856–1940) mit seinem fantastischen Abenteuerroman über das Leben der Neandertaler, La Guerre du Feu (russ. Борьба за огонь, 1909), erscheint vor den Anwesenden plötzlich das riesige Lichtbild eines Dinosauriers. Nikitin führt diese Erscheinung auf urzeitliche fotografische Imprägnationen von Teerablagerungen zurück, die bei einem bestimmten Lichtwinkel der Sonne reproduziert werden können. „Das sind reale Schatten der Vergangenheit aus solchen Tiefen der Zeit, die wir sogar mit unserem Verstand nicht begreifen können. Wir haben von ihrer Existenz nichts geahnt. Niemandem ist es in den Sinn gekommen, dass die Natur sich selber fotografieren kann, weil wir diese Lichtabdrucke auch nicht gesucht haben.“38
Auch hier steht am Anfang jedes Verstehens die Erkenntnis, dass die Natur mit dem Verstand nicht zu begreifen sei. Erst die intensive halluzinogene (die Trockenheit und Hitze der Wüste, die suggestiven Illusionsbilder der Fata Morgana) und künstlerische (Fantasie des Schriftstellers) Auseinandersetzung mit der ungewohnten Umgebung erzeugen narrativ die entsprechende Atmosphäre für die „ungewöhnliche“ Begegnung. Erst im zweiten Teil des Kurzromans setzen dann die jahrelangen fotophysikalischen Studien und paläontologischen Nachforschungen Nikitins ein, dank derer er unter Gefährdung seiner wissenschaftlichen Reputation den Nachweis seiner Hypothese erbringen kann, dass es sich bei der Erscheinung um keine Fata Morgana, sondern genauso wie bei den physisch fassbaren Skeletten in Museen um tatsächliche „fossile Relikte“ der Vergangenheit handele. An einer nicht näher lokalisierten Steilküste aus rotem Stein irgendwo auf dem „Territorium unserer Heimat“ findet er endlich am Ende eines abseits gelegenen Bergwerkstollens eine Höhle aus versteinertem Harz, die eine ähnliche Imprägnierung wie die inzwischen zerstörten Teerplatten in der Wüste aufweisen. Mit Hilfe eines speziell hierfür entwickelten Apparates mit äußerst lichtstarken Magnesiumlampen gelingt es Nikitin nicht nur in dieser „Kammer“ (камера) die „Schatten der Vergangenheit“ künstlich wieder zu beleben, sondern auch fotografisch aufzuzeichnen: 37
Efremov, Ivan: Teni minuvšego. Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Krasnoarmeec 2 (1945), S. 22–24; 3–4 (1945), 29–31; 5 (1945), 20–22. Hier zitiert nach Ders.: Ten’ minuvšego, in: Ders.: Buchta radužnych struj, S. 3–54.
38 „Это реальные тени минувшего из таких глубин времени, которых мы даже не можем охватить своим
разумом. Мы не подозревали об их существовании. Никому и в голову не приходило, что природа может фотографировать самое себя, поэтому мы и не искали этих световых отпечатков.“ Ebd., S. 32.
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„Als er die Abbildung anschaute, erzitterte Nikitin – aus den violetten Pilzen, die den Körper in ihrem Dickicht verbargen, trat ein breiter parabolischer Kopf hervor, der mit einer schleimigen lilafarben-graubraunen Haut bedeckt war. Riesige hervorstehende Augen schauten direkt auf Nikitin, sinnlos, unbeugsam und bösartig. Riesige Zähne traten aus dem Unterkiefer hervor, entblößt in den Tiefen am Rand des Maules. [...] Lange schaute Nikitin durch dieses Zauberfenster in die Vergangenheit in das Leben der Welt der Steinzeit. Dreihundertfünfzig Millionen Jahre lagen schon zwischen der Gegenwart und der Zeit, als in einem seltenen Spiel des Zufalls die Lichtstrahlen ihr Abbild hinterlassen hatten. [...] Nikitin schien es, dass er den Verstand verliert. Er trat einen Schritt von dem Apparat zurück. [...] Als er die Beherrschung wieder gefunden hatte, machte der Wissenschaftler eilig die Kamera bereit und machte einige Farbaufnahmen.“39
Dieses „Zauberfenster in die Vergangenheit“ ermöglicht jedoch nicht nur eine exakte und fotografisch fixierbare visuelle Rekonstruktion der erdgeschichtlichen Epoche des Karbons (каменноугольной эпохи), sondern es liefert letztlich auch ein Bild für Efremovs Poetik des Ungewöhnlichen. Es ist das Bild der Höhlenkammer, das ja in den vorigen Erzählungen auch schon wiederholt auftauchte, sei es im Inneren des Kahlen Berges oder als Schiffskajüte, das hier gleich in doppelter Gestalt auftritt: Zum einen als Bergwerkhöhle, in der die „Schatten“ vergangener Wissensbestände fixiert sind, zum anderen aber als Unterkiefer des Urzeitmonsters, aus dessen „Höhlungen am Rande des Maules“ riesige Zähne hervortreten. In diesen Bildern ist natürlich unschwer ein Rekurs auf das Platonsche Höhlengleichnis aus der Politea zu erkennen. Diese intertextuelle Referenz auf Platon funktioniert bei Efremov auf mehreren Ebenen. Zum einen ist es ähnlich wie in seinen Rückgriffen auf die romantische Konzeption der Einbildungskraft eine explizite Anknüpfung an die dahinter stehende Metaphysik. 40 Diesen Verweis auf die Platonsche Ideenlehre benutzt Efremov aber zum anderen dazu, diese materialistisch umzukodieren. Denn auf der Wand der Höhle spiegeln sich bei Efremov nicht die ungenauen und schemenhaften Schatten einer jenseits von Raum und Zeit befindlichen höheren Welt der Ideen, sondern das alle Grenzen von Zeit und Raum überdauernde fotografische Negativ der materiellen Beschaffenheit der irdischen Natur. Zur „wahren“ Erkenntnis des „Wirklichen“ kommt man daher nicht, indem das Denken wie bei Platon versucht die irdische Umwelt zu 39 „Всматриваясь в изображение, Никитин вздрогнул – из-под фиолетовых грибов, скрывая тело в их
гуще, выступала широкая параболическая голова, покрытая слизистой лиловато-бурой кожей. Огромные выпуклые глаза смотрели прямо на Никитина, бессмысленно, непреклонно и злобно. Огромные зубы выступали из нижней челюсти, обнажаясь во впадинах края морды. [...] Долго смотрел Никитин в это волшебное окно в прошлое, в жизнь мира каменноугольной эпохи. Триста пятьдесят миллионов лет легли уже между настоящим и тем временем, когда в редкой игре случая световые волны запечатлели свой снимок. [...] Никитину показалось, что он сходит с ума. Он отшатнулся от аппарата. [...] Овладев собой, ученый поспешно приготовил камеру и сделал несколько цветных снимков.“ Ebd., S. 53.
40
So lässt sich in seinen Rekonstruktionen des nackten Menschen und seiner wahren Seele unschwer das Konzept von Platons Ideenlehre wiedererkennen, wonach hinter aller Verschiedenheit der menschlichen „Schatten“ eine einzige, transzendente Idee vom Menschen stehe.
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transzendieren, sondern umgekehrt, indem sich der Mensch durch ausgiebiges Nachdenken und unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden physischen Kräfte ganz dem „seltenen Zufall des Spiels“ der Natur aufopfert. Betrachtet man diese „Poetik des Ungewöhnlichen“ im Kontext der sowjetischen Ästhetik der Nachkriegszeit, dann fällt auf, dass bei ihm fast vollkommen der Evolutionsgedanke sowie die daraus abgeleitete Grundannahme des historischen Materialismus fehlte, dass sich die menschliche Gesellschaft in internen Klassenkämpfen sowie im äußeren Kampf gegen die übermächtige Natur weiterentwickelt habe.41 Die bei Efremov beschriebenen Kampfesszenen markieren keine Entwicklungsschritte auf ein historisches Ziel hin, sondern sind immer Urszenen der menschlichen Selbstfindung. Das zeigt sich am deutlichsten in den fotografischen Bildern, die in der platonischen Höhle als Schatten der Vergangenheit aufscheinen. Denn diese zeigen nicht einfach nur urzeitliche Dinosaurier, sondern die „riesigen Zähne“ und die „riesigen, hervorstehenden Augen“ eines Monsters, die „sinnlos, unbeugsam und bösartig“ direkt auf den Betrachter gerichtet sind, so dass er fast „den Verstand verliert“.42 Zwar kann man dieses Bild auch als Ausdruck der urzeitlichen Grausamkeit des Daseinskampfes interpretieren, doch der alle Grenzen von Zeit und Raum überbrückende, direkt auf den menschlichen Betrachter gerichtete Blick des Ungeheuers markiert auch die Zeitlosigkeit dieser Urszene. Solche Urszenen eines sinnlosen und bösartigen, noch „nie gesehenen Geschöpfs“ („невиданной твари“)43 sind in allen Geschichten Efremovs auf unterschiedliche Weise unmittelbar präsent (sei es als ozeanischer Orkan, als urzeitliches Geschöpf, als schrecklicher Berg, tödliche Quecksilberdämpfe oder atomare Strahlung). Betrachtet man sie vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, sind sie umso auffälliger, wenn man bedenkt, dass alle Texte während des Großen Vaterländischen Kriegs geschrieben worden sind. Auf diesen Entstehungszusammenhang wird zwar in der Rahmung des Zyklus und als Ausgangspunkt einiger Erzählungen Bezug genommen, doch ansonsten glänzen diese Geschichten vor allem durch eine manifeste Abwesenheit des Kriegsalltags. So beschreibt die Rahmengeschichte von Das Observatorium Nur-iDešt einen Seemann, der der Erzählung eines Majors der Artillerie zuhört: „Der Seemann lag auf der oberen Pritsche gegenüber dem Major und hörte die Erzählung, er war noch nicht in der ihn
41
Gleichzeitig passte diese materialistische Umkodierung der Ideenlehre in Grenzen auch zur Revision des sozialistisch-realistischen Menschenbildes, wie es seit Ende der 1930er Jahre vermehrt propagiert wurde, das eine fast schon anthropologische Konstanz des progressiven russischen Menschen angefangen von Ivan dem Schrecklichen und den Helden der Folklore bis in die sowjetische Gegenwart behauptete (vgl. Kapitel 14).
42
Auch in dieser Geschichte ist wie in Observatorium Nur-i-Dešt ein intertextueller Bezug auf antike Mythen angelegt, allerdings nicht auf diejenigen des alten Griechenlands, sondern auf die chinesische Mythologie, nach der Drachentiere die Verbindung zwischen Himmel und Erde repräsentieren. Im Sinne seiner materialistischen Poetik transferiert Efremov auch hier den mythischen, metaphysischen Zusammenhang von Himmel und Erde in eine materialistische Verbindung zwischen Natur und Mensch.
43
Ebd., S. 53.
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umgebenen Situation angekommen, so dass sich zeitweise sein Bewusstsein gleichsam spaltete, indem es in ein fernes, sonniges und weiträumiges Land fort flog...“44 Diese „Realitätsferne“ tritt noch deutlicher hervor, wenn man bedenkt, dass die Erzählungen zu einem großen Teil direkt in den Zeitschriften der Roten Armee und der Roten Flotte veröffentlicht worden sind. Sie offerieren den kämpfenden Soldaten eine den Schlachtfeldern entgegengesetzte, von ihnen weit entfernte Welt, in der nicht nur der Krieg, sondern auch der sowjetische Arbeitsalltag, die politischen und sozialen Kollektive, gesellschaftliche Feste und kulturelles Leben vollkommen fehlen. Stattdessen greift Efremov narrativ auf das Repertoire klassischer Abenteuertexte zurück, wobei er insbesondere das Motiv des menschlichen Subjekts, das sich außerhalb der eigenen Zivilisation inmitten einer unbekannten, ihm fremden Wildnis neu positionieren muss, und das der Begegnung mit einer exotischen, naturverbundenen, dem Helden zugeneigten jungen Frau sowie mit einem kuriosen, aber von tiefer uralter Weisheit erfassten alten Mann variiert. Diese Begegnungen rekonstituierten aber nicht die Überlegenheit des weißen maskulinen kolonialen Subjekts, sondern im Gegenteil offenbaren sie dessen emotionale Begrenztheit und kulturgeschichtliche Vergesslichkeit.45 Die exotische Frau und der kuriose Wilde werden in Efremovs Erzählungen vom Ungewöhnlichen nicht mehr wie noch in den sowjetischen Texten der 1930er Jahre als imperiale Konstruktion durch das sich selbstbewusst neu konstituierende sowjetische Subjekt entblößt, sondern hier im Gegenteil als eigentlicher Schlüssel des „Geheimnisses“ zu anderen Welten kodiert. Nichtsdestotrotz stellt Efremovs Poetik nicht einfach einen Rückfall in romantische und auch koloniale Stereotype über das Exotische und Kuriose dar, sondern vielmehr findet sich in den intertextuellen Referenzen auf die „Klassiker“ der Abenteuerliteratur eine explizite Abgrenzung seiner Poetik des Ungewöhnlichen von ihren Vorgängern. Das zeigt sich nicht nur in den Figuren der schönen Frau und des gelehrten Mannes, die bei ihm zu Sinnbildern und Ideen eines wahren Menschen stilisiert werden, sondern auch in der Tatsache, dass diese Figuren in keinerlei Abenteuersujet mehr eingebunden sind. Der ewige Kampf zwischen den Menschen und gegen die feindliche Natur, den Čukovskij noch als Inbegriff des Pinkertontums nach kolonialem Muster definiert hatte, fehlt bei ihm völlig – er tritt nur noch in Gestalt fossiler Tiere und legendärer Menschen auf. Damit nimmt Efremov eine „Historisierung“ des Abenteuergenres vor, wie sie auf 44 „Моряк лежал на верхней полке против майора и слушал рассказ, до того не подходящий к
окружающей обстановке, что временами сознание как бы раздваивалось, улетая в далекую, солнечную и просторную страну...“ Efremov: Observatorija Nur-i-Dešt, S. 119.
45
Nicht zufällig zählten zu Efremovs Lieblingslektüre neben dem schon genannten Werk von Rosny dem Älteren vor allem spätkoloniale Abenteuerromane vom Anfang des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise Werke von Jack London, Rider Haggard oder auch Aleksandr Grin. Denn auch diese Werke kennzeichnet schon eine Reflexion über die Verlogenheit und imperiale Vergänglichkeit des Unausweichlichen weißen Mannes (The Inevitable White Man, 1908), wie der Titel einer der Südsee-Erzählungen von London lautete. Der Überlieferung nach soll Efremov dank seines phänomenalen Gedächtnisses in der Lage gewesen sein, mehr als ein Dutzend dieser Abenteuerromane aus dem Gedächtnis auswendig wiederzugeben. Vgl. Brandis: Žizn’ učenogo i pisatelja, S. 194.
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ganz andere Weise auch Vajnštok in seinen Verne-Verfilmungen versucht hatte. Doch wo Vajnštok im Sinne der „Zerstörung der Exotik“ alle kolonialen und imperialen Stereotypen über die schönen und grausamen Wilden aus seiner Filmästhetik verbannt, ontologisiert Efremov das Exotische und Ungewöhnliche als anthropologische Konstante, indem er es aus seinem historischen Zusammenhang herausreißt und in der sowjetischen Gegenwart neu verortet.46 In dieser Rehabilitierung des Exotischen und der Geschlechterdifferenz als eine tiefer liegende poetische Wahrheit stellte Efremov in der Nachkriegszeit jedoch keine Ausnahme dar, sondern antizipierte eine Tendenz, die analog zur nationalpatriotischen Mystifizierung alles Russischen sich schon seit Ende der dreißiger Jahre abgezeichnet hatte. Diese beförderte eine generelle Renaissance eines essentialistischen Differenzdenkens, das in der Spätstalinzeit immer häufiger – nicht nur in den antisemitischen Kampagnen gegen den Kosmopolitismus – zu beobachten war. Die Feinde und Spione waren nicht mehr primär durch ihre Klassenherkunft, sondern immer stärker auch national gekennzeichnet. Efremov interessieren solche nationalen Differenzen jedoch höchstens als gesellschaftlich bedingte Entfremdungsprozesse, die es zu überwinden gilt. Ihm geht es vor allem um eine radikale Abgrenzung von den bisherigen Konzeptionen des Neuen Menschen, wie sie in der sowjetischen Literatur seit dem Ersten Schriftstellerkongress vielfach propagiert worden sind. Das „Ungewöhnliche“ ist in Efremovs Poetik der Mensch,
46
Diese Historisierung der literarischen Prätexte und gleichzeitige poetische Neuverortung einiger ihrer Figuren ist schon programmatisch im Titel der ersten Erzählung des Zyklus, Treffen über Tuscarora, angelegt, die eine weiterreichende Symbolik nahe legt. So verweist der Titel der Erzählung zwar geografisch auf den Namen einer unbekannten Meerestiefe vor dem Kurilen-Archipel, doch die Bezeichnung Tuscarora ist vor allem bekannt als Name eines Indianervolkes in Nordamerika, das durch die europäischen Siedler weitgehend vernichtet und aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten vertrieben worden ist. Allein diese Herkunft des Namens macht das gefährliche Meerestief auch zu einem „schwarzen Flecken“ zivilisatorischer Grausamkeiten. Hinzu kommt, dass der bekannteste literarische Vertreter des Indianerstammes wiederum der Tuscarora Arrowhead aus Fenimore Coopers Roman Pathfinder ist, aus jenem Werk also, das für die sowjetische Abenteuerliteratur bis in die 1920er Jahre einen zentralen Referenztext darstellte. Arrowhead ist bei Cooper ein Grenzgänger zwischen den Welten, der in dem blutigen Konflikt zwischen den indianischen Ureinwohnern, den englischen und französischen Siedlern versucht mit beiden Seiten zusammenzuarbeiten, wodurch er zum Verräter aller wird, was er mit dem Tod büßen muss. Über dem Grab des Ermordeten – bei einem „Treffen über Tuscarora“ – spricht der weiße männliche Pfadfinder gegen Ende des Romans die entscheidenden Worte über den Toten, der zwar seinen eigenen Weg gegangen sei, aber gegen den Verstand verstoßen habe: „You‘ve seen the last of him, for his path cannot be the path of the just.“ Vgl. Cooper, James Fenimore: The Pathfinder or the Island Sea (1840), New York 2006, S. 466; Auch der Ort der Handlung beinhaltet direkte Referenzen von Efremovs Erzählung auf Coopers Pathfinder. So wird Arrowhead bei Cooper als Führer eines alten Kapitäns eingeführt, der erfahren muss, dass es sehr viel gefährlicher sein kann über ein unscheinbares Binnengewässer wie den Ontariosee zu reisen als über den „alten Atlantik“. Denn die entscheidende Klimax des Romans mit dem Tod Arrowheads findet auf den Thousand Islands im Otariosee statt, während das japanische Wort für das Kurilenarchipel eben „Archipel der Tausend Inseln“ (Chishima-rettō) lautet. Über die Tausend-Inseln aber heißt es bei Cooper: „Lord bless you, Master Cap, nobody knows all about them or anything about them. They are a puzzle to the oldest sailor on the lake, and we don‘t pretend to know even their names.“ Cooper: Pathfinder, S. 245
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dessen „Natur“ oder Seele sich der historischen Entwicklung und dem materiell-technischen Fortschritt entzieht. In der Kritik der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde diese Neuakzentuierung der Wissenschaftlichen Fantastik, wie sie Efremovs Poetik des Ungewöhnlichen vornahm, jedoch nicht thematisiert. Im Gegenteil betonte man in den Rezensionen seiner Werke die Kontinuitäten zu den Klassikern, seine Verdienste in dem „schwierigen Genre der fantastisch-abenteuerlichen Novelle“ („в трудном жанре фантастическо-приключенческой новеллы“)47, das so viele Anhänger habe, doch so wenig von sowjetischen Schriftstellern bedient werde: „Die Erzählungen Efremovs versammelten in sich die besten Muster des fantastischen Elements bei Jules Verne, Mayne Reid und Wells, doch dieses Element wird in den rezensierten Erzählungen nur als schöpferische Methode gebraucht.“48 Diese Methode erlaube es ihm, mit „viel Poesie und gesunder unterhaltsamer Romantik“ („много поэзии и здоровой увлекательной романтики“)49 das Interesse daran zu wecken, das „Erdinnere und die Berge unserer Heimat zu erforschen“ („исследовать недра и горы нашей родины“).50 Ungeachtet dieses einhelligen Lobes in der Presse und fast ununterbrochener Neuauflagen seiner Erzählungen in unterschiedlichen Zusammenstellungen in verschiedenen Verlagen bekommt er intern schon ab 1945 Probleme. Sein erster historischer Abenteuerkurzroman Am Rand der Oikumene (На краю Ойкумены), den er als Tribut an seinen Lieblingsschriftsteller Haggard geschrieben und schon 1945 fertig gestellt hatte, konnte erst vier Jahre später 1949 bei Molodaja gvardija erscheinen, da seine Handlung außerhalb des Territoriums der Sowjetunion im antiken Mittelmeerraum spielte.51 Zwar wurde Efremov 1945 noch Mitglied des Schriftstellerverbandes und beteiligte sich Anfang 1946 an Buchpräsentationen neuer wissenschaftlichfantastischer Bücher,52 doch aufgrund wachsender Schwierigkeiten bei der Publikation Wissenschaftlicher Fantastik und Abenteuerliteratur stellte er ab 1948 seine schriftstellerische Tätigkeit für die nächsten Jahre ein und widmete sich wieder seiner Arbeit als Paläontologe.53 Eine dezi47
[Anon.]: o.T. [Rez. Efremov I. Pjat’ rumbov. Rasskazy o neobyknovennom. M. „Molodaja gvardija“. 1944; Efremov I. Vstreča nad Tuskaroroj. Rasskazy. M.-L. Voenmorizdat. 1944], in: Oktjabr’ 5–6 (1945), S. 261.
48 „Рассказы Ефремова cобрали в себя лучшие образцы элемента фантастики Жюля Верна, Майн-Рида,
Уэллса, но этот элемент в рецензируемых рассказах использован лишь в качестве творческого метода.“ Kosteljanec, Evgenij: I. Efremov. Sem’ rumbov [Rez.], in: Zvezda 1 (1946), S. 138–139, S. 138.
49
Ebd., S. 139.
50
Ebd., S. 138. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch der Kritiker des Novyj mir, der Efremovs Abenteuerliteratur vor allem durch die Werke von Verne, London und Conan Doyle beeinflusst sieht. Vgl. Evgen’ev, B.: Rasskazy o neobyknovennom, in: Novyj mir 1–2 (1946), S. 197–202, S. 197.
51
Vgl. Efremovs Ausführungen hierzu im Gespräch mit Adam Galis 1961, RGALI, f. 2826, op. 1, ed. 2, l. 20ff.
52
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 5, l. 11; Ebd., 631, op. 22, ed. 7, l. 4.
53
So konnte die ebenfalls schon während der Kriegszeit geschriebene Erzählung Das Geheimnis der Hellenen (Эллинский секрет) erst 1966 nach der Absetzung von Trofim Lysenko erscheinen, weil er hier seine Idee
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dierte publizistische Kritik an seinem Frühwerk wird jedoch ebenfalls unterdrückt.54 So ist Efremov als Autor der Erzählungen vom Ungewöhnlichen zwar weiterhin präsent, doch eine kritische interne oder publizistische Auseinandersetzung mit der Spezifik seiner Poetik findet nicht statt.
13.2 Der schöpfe ris che Darwinismu s – P a le js u n d S tu d i tski js Prosa a uf Abwe g e n 5 5 „Weißt Du, was das Spannendste an der Wissenschaft ist? Dass es für sie nie ein Ende gibt. Sie ist wie die Zaubertüte im Märchen: Hast du nur eine Münze aus ihr herausgeholt, klingelt in ihr schon die nächste.“ Abram Palej (1948)55
Efremovs Poetik des Ungewöhnlichen stand in den ersten Nachkriegsjahren außerhalb jeder Kritik vor allem wohl auch deshalb, weil weder die Paläontologie noch die Geologie wissenschaftstheoretisch strittige Themen betrafen. Sowohl das Vorkommen reicher bislang ungehobener Schätze als auch die Möglichkeit, dass es in den Weiten Sibiriens durchaus noch Schwermetalle und Gesteinssorten gab, die man bisher nicht kannte, die aber nach der Mendeleevschen Periodentafel vorhanden sein könnten, gehörte zu gängigen Annahmen des populärwissenschaftlichen und künstlerisch-wissenschaftlichen Diskurses.56 Efremov befand sich mit seinen paläontologischen und geologischen Hypothesen im Rahmen des offiziellen Diskurses und war zudem ein angesehener Wissenschaftler, so dass man seine ungewöhnlichen anthropo- und kosmologischen Hypothesen zur Natur des Menschen lieber ignorierte. Ganz anders verhielt es sich auf dem wissenschaftspolitischen Feld der Biologie, denn diese stellte als „Wissenschaft vom Leben“ diejenige Disziplin dar, die mit Abstand am stärksten von
einer anthropologischen Unveränderlichkeit des Menschen seit seinen Anfängen explizit genetisch begründet, vgl. Brandis: Žizn’ učenogo i pisatelja, S. 189ff. Selbst von ihm verfasste Artikel zur Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftlichen Fantastik wurden Anfang der 1950er Jahre nicht mehr zur Publikation in der Literaturnaja gazeta zugelassen. Vgl. die Mappe zu Efremov in RGALI, f. 631, op. 3, ed. 210, l. 247–349. 54
RGALI, f. 631, op. 3, ed. 302, l. 26–30 (D. Danin: Im pomog slučaj. 25 aprelja 1951).
55 „− Ты знаешь, чтó самое привлекательное в науке? Что ей нет конца. Она − как в сказке волшeбный
кошелек: только вынешь из него монету, а в нем уже шевелится другая.“ Palej, Abram: Ostrov Tausena.
Naucno-fantastičeskaja povest’ (Biblioteka priključenij), Moskva, Leningrad 1948, S. 20f 56
Fersman, Aleksandr: Mečty učenogo, in: Znanie – sila 10 (1948), S. 16–17.
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der Neuausrichtung einer sowjetischen Wissenschaft betroffen war.57 Konnte man sich doch in diesem Feld am deutlichsten von dem westlichen Feind mit seinem „faschistischen“ und idealistischen Weltbild abgrenzen.58 Die Propagierung der „Mičurinschen Biologie“, die „schöpferisch“ die Natur in ihren Grundfesten der Erbanlagen veränderte, und die Popularisierung von Trofim Lysenko als dem herausragenden Wissenschaftler, stand entsprechend im Mittelpunkt der wissenschaftlich-künstlerischen Publikationen zu dem Thema.59 Diese zentrale Rolle des „schöpferischen Darwinismus“ für die Wissenschaftspopularisierung hatte man schon früh auch in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur erkannt und bemühte sich daher, nicht nur populärwissenschaftliche Aufsätze und Skizzen zu dem Thema zu verfassen, wofür man eine ganze Reihe von Autoren hatte, sondern auch wissenschaftlich-fantastische Texte zu rekrutieren. Als man Ende der vierziger Jahre endlich zwei Werke vorliegen hatte, zeigte sich jedoch noch stärker als in Efremovs Geschichten, wie wenig die bisherige Konzeption der Wissenschaftlichen Fantastik mit der „Literatur der Konfliktlosigkeit“ und den ästhetischen Doktrinen des späten Stalinismus vereinbar war. So wurden die beiden Autoren in der Kritik intern und publizistisch verrissen und man nahm deren Werke zum Anlass, ab 1949 erneut einen grundlegenden Richtungswechsel in der Wissenschaftlichen Fantastik einzuleiten (vgl. Kapitel 14). Ein Autor war der Professor für Biologie, Aleksandr Studitskij, der 1948 mit dem in Fortsetzungen in Znanie – sila abgedruckten Kurzroman Die Schlucht Batyrlar-Džol (Ущелье Батырлар-джол) sein literarisches Debüt vorlegte, das 1949 auch die titelgebende Geschichte für den Sammelband Der Weg der Recken (Дорога богатырей) bildete. Der andere Autor war Abram Palej, der Ende der 1920er Jahre als einer der ersten versuchte eine Definition der sowjetischen Wissenschaftlichen Fantastik in Abgrenzung zu westlichen Literaturformen zu liefern (vgl. Kapitel 5), dann aber in den dreißiger Jahren bis auf drei Erzählungen nichts mehr in dem Genre veröffentlichte.60 Mit dem Kurzroman Die Insel Tausens (Остров Таусена) legte er nun seinen ersten Roman seit 18 Jahren vor, der dann auch sein einziges wissenschaftlich-fantastisches Werk für die nächsten 20 Jahre blieb.61 57
Safonov, Vadim; Ruseckij, Aleksej: Nauka o žizni, in: Znanie – sila 9 (1948), S. 1–11; Zu den Auseinandersetzungen im Bereich der Biologie vgl. Pollock: Stalin and the Soviet Science Wars, S. 41ff.
58
Vgl. Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 101ff.
59
Vgl. Dolgušin, Jurij: Prevraščenie vida, in: Znanie sila 10 (1948), S. 13–14; Ders.: Rasskaz o nastojaščem biologe, in: Znanie – sila 4 (1949), S. 1–6; Popovskij, Mark: Osuščestvlennaja mečta, in: Znanie – sila 12 (1949), S. 16–18.
60 Palej
hatte in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre noch einmal versucht, seine Genredefinition in Artikeln und einer Monografie zur Wissenschaftlichen Fantastik darzulegen, scheiterte aber an der internen Zensur, wobei ihm vor allem vorgeworfen wurde, dass er dem Genre vollkommen willkürlich, aber auf scholastische Weise vorschreiben wolle, was es zu tun und zu lassen habe. So solle sie eine Literatur des Faktischen darstellen, die reale Wissenschaften und Menschen mit politischer Färbung zeige. Vgl. RGALI, f. 634, op. 1, ed. 454, l. 7–15; Ebd., f. 631, op. 15, ed. 143, l. 71–73.
61
Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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Palejs Roman erzählt die Geschichte des bekanntesten Endokrinologen Westeuropas, Professor Tausen, der angeblich 1939 nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris Selbstmord begangen hatte.62 Tatsächlich ist dieser Verehrer des „großen Sečenov“, der extra Russisch gelernt hatte, um bei Pavlov zu studieren, angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Vormarschs Hitlers durch Vermittlung von befreundeten Seefahrern auf eine abgeschiedene Insel im Eismeer nördlich von Schweden geflüchtet, auf der dank eines bislang noch nicht bekannten Nebenzweiges des Golfstroms ein mildes Klima herrscht.63 Hier hat er abgeschnitten von aller Zivilisation und ohne Informationen darüber, dass die Deutschen und Japaner den Krieg verloren haben, zusammen mit einem befreundeten Wissenschaftler und den einheimischen Saamen auf der Insel lebend, weiter seine Experimente betrieben.64 Diese bestehen vor allem in operativen Eingriffen in die „innere Sekretion“ von Lebewesen und in deren Hypophyse sowie in Selektionsverfahren, die die Größe der Tiere in „Zwerge und Riesen“ („Карлики и гиганты“) verwandeln können. So hat Tausen Hunde in der Größe von Bären und Katzen so groß wie Tiger gezüchtet oder Enten aufgezogen, die vollständig ihre Federn verlieren.65 Diese federlosen Enten bilden den Ausgangspunkt der Romanhandlung, als zwei im Moskauer Sommer gelangweilte Zeitungskorrespondenten die „Zeitungsente“ (газетная утка) über eine im Norden des Landes von einem Jäger abgeschossene federlose Ente entdecken.66 Auf der Suche nach der Herkunft dieser Ente reisen die beiden Journalisten bis ans Weiße Meer zur nördlichsten Fischfangkolchose des Landes, von wo aus sie auf einem alten Kutter die Spur der Enten, die von der See her geflogen kommen, aufnehmen, in einen Sturm geraten und kentern und erst aus der Bewusstlosigkeit wieder erwachen, als sie sich schon auf der Insel Tausens befinden.67 Hier lernen sie nun die Geschichte des einsamen „Sonderlings“ (чудак) kennen, seine Züchtungs- und Transplantationserfolge, während sie ihm von den „wundervollen“ militärischen und wissenschaftlichen Erfolgen der Sowjetunion erzählen.68 Ungläubig nimmt Tausen das Gehörte zur Kenntnis und erklärt sich bereit, dieses Land selber einmal kennen zu lernen. Nachdem man Kontakt mit der Heimat aufgenommen hat und ein „Raketoplan“ die Helden von der Insel holt, ruft er erstaunt aus:
62
Vgl. Palej, Abram: Ostrov Tausena. Naučno-fantastičeskaja povest’ (Biblioteka priključenij), Moskva/Leningrad 1948, S. 70ff.
63
Ivan Michajlovič Sečenov (1829–1925) gilt als Begründer der russischen Physiologie, vgl. ebd., S. 66ff., 71ff.
64
Ebd., S. 94ff.
65
Ebd., S. 112ff.
66
Ebd., S. 5ff.
67
Ebd., S. 15ff.
68
Ebd., S. 67, 86ff.
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„Ja, die Menschheit ist weit fortgeschritten, und ich bin auf der Insel sitzen geblieben. Es gab Wilde, die auf fernen Inseln lebten. Die Kultur entwickelte sich, doch sie blieben fast auf dem Niveau des Steinzeitalters. Und ich habe mich selber in die Lage so eines Wilden gebracht.“69
Auf der Kolchose „Pobeda“ und auf einem Rundflug über die Umgebung lernt Tausen dann die neuesten technischen, kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Sozialismus kennen, in dem der Unterschied zwischen Stadt und Land immer mehr schwindet.70 Der wissenschaftliche Leiter der Kolchose, Professor Raškov, erklärt Tausen daraufhin die Erfolge der Mičurinschen Biologie, die nicht nur nach dem Vorbild des großen russischen Botanikers Kliment Timirjazev Züchtungserfolge bei neuen Pflanzensorten aufweisen kann, sondern auch bei Nutztieren erfolgreich ist, deren Hormonspiegel Raškov mit Hilfe von ultravioletten Strahlen und biochemischen Injektionen manipuliert, so dass man ihre Größe, Fellfarbe oder den Fettgehalt nach Bedarf ändern kann.71 Auch bei der Verlängerung des Lebens, der Wiederbelebung der Toten, dem Kampf gegen ehemals tödliche Krankheiten, der Emanzipation der Frauen und der Automatisierung der Fabriken sowie der vollständigen Umgestaltung der Natur kann man erste Erfolge aufweisen, so dass Tausen beeindruckt zugibt: „‚Ja‘, sagte er, ‚jede wissenschaftliche Entdeckung wenden Sie zum Nutzen der Menschen an, und ich ... ich habe mich mit der Schöpfung von Kuriositäten befasst: habe gigantische Hunde gezüchtet, Elche und Walrosse im Miniaturformat ...‘“72 Und so erkennt Tausen am Ende seiner Gespräche mit Raškov den ganzen Sinn der neuen sowjetischen Wissenschaften, deren Hauptziel es sei, dem Volke zu dienen, während er zehn Jahre seines Lebens sinnlos verloren habe.73 Nun erfüllt der Roman von der Anlage her generell die Ansprüche der Neukonzeption des Genres: Auf der einen Seite das renommierte deutsche Akademiemitglied der Vorkriegszeit als eine anachronistische Wissenschaftlerfigur, die durch die Nazis wie ein „Wilder“ von jeder Entwicklung abgeschnitten worden ist und als verrückter „Sonderling“ auf der einsamen Insel ein Exil gefunden hat. Auf der anderen Seite die neuen sowjetischen Wissenschaftler, die nach Kriegsende „schöpferisch“ in enger Verbindung mit dem einfachen Volk die pflanzliche und animalische Natur sich zu nutze machen. Paradigmatisch wird dieser Gegensatz an den Ehefrauen der beiden Forscher festgemacht. Während Tausens Gattin, der er bis heute nachtrauert, an Magenkrebs gestorben ist, einer Krankheit, die heute in der Sowjetunion heilbar sei, wurde Raškovs Ehefrau im Großen Vaterländischen Krieg so schwer verletzt, dass man sie schon für 69 „– Да, человечество шло вперед, а я засел на острове. Были дикари, которые жили на отдаленных
островах. Культура развивалась, а они оставались почти на уровне каменного века. И я сам себя поставил в положение такого дикаря.“ Ebd., S. 149.
70
Ebd., S. 150ff.
71
Ebd., S. 181ff., 185.
72 „– Да, – сказал он, – каждое научное открытие вы обращаете на пользу человека, а я... я увлекался
созданием курьезов: выводил гигантских собак, миниатюрных оленей и тюленей...“ Ebd., S. 168.
73
Ebd., S. 189ff.
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klinisch tot erklärt hatte, ehe sie dank neuester Errungenschaften der sowjetischen Medizin wieder belebt werden konnte.74 Während Tausens Experimente nutzlose Ergebnisse fürs Kuriositätenkabinett hervorbringen, dienen die sowjetischen Wissenschaften in der Nachfolge von Sečenov, Pavlov, Mičurin und Timirjazev dem individuellen Überleben genauso wie der kollektiven Volkswirtschaft. Das einzige Manko, das Palejs Roman hatte, war jedoch, dass der vor den Nazis geflohene deutsche Wissenschaftler zwar vollkommen nutzlose „Zwerge und Riesen“ schuf, doch ungeachtet dessen hierbei erfolgreich war. Die Methode aber, die ihm zu diesem Erfolg verhalf, war nicht die Mičurinsche Biologie des „schöpferischen Darwinismus“, sondern selbstredend die gegenteilige, nämlich diejenige der Selektion und „formalen“ Genetik, die man als idealistische und reaktionäre Wissenschaft des „Weismanismus-Morganismus“ in jenen Jahren mit allen Mitteln bekämpfte. Dieses Manko wurde noch verstärkt durch das Nachwort des Akademiemitglieds und Biologen Boris Michajlovič Zavadovskij (1895–1951), der anfangs ein Unterstützer von Trofim Lysenko gewesen war, aber nach dem Krieg Lysenkos Angriffe gegen die Genetik offen, auch öffentlich kritisierte, weswegen er 1948 auch aller Posten enthoben und sein eigenes Forschungslaboratorium für Endokrinologie an der Akademie der Wissenschaften geschlossen wurde.75 So bekam Palejs Roman allein aufgrund dieses Nachworts vernichtende Rezensionen, unter anderem in der Literaturnaja gazeta.76 Hinzu kam die Konzeption des einsam forschenden Wissenschaftlers, die man ebenfalls als vollkommen unzeitgemäß verwarf.77 Deshalb kommt auch Kirill Andreev in einem öffentlichen Vortrag zur Wissenschaftlichen Fantastik des Jahres 1948 im Januar 1949 mit Bezug unter anderem auf Palejs Roman zu dem Fazit: „Anstelle des Kampfes mit uns fremden Theorien werden die Autoren selber zu Gefangenen der feindlichen bourgeoisen Ideen, wie das mit dem Roman von Palej, ‚Die Insel Tausen‘, geschehen ist.“78 74
Deswegen gilt sie heutzutage als „ehemals Verstorbene“ („Бывший покойник“), vgl. ebd., S. 170.
75
So hatte Zavadovskij auch im Nachwort ausdrücklich die Genetik als „allgemeinanerkannte“ Wissenschaft gelobt, die die Fantasie der Biologen beflügele und die Züchtung neuer Tierarten möglich mache, vgl. Zavadovskij, V. M.: Realnost’ i fantastika v povesti „Ostrova Tausena“, in: Ebd., S. 195–210, S. 196.
76
Vgl. RGALI, f. 634, op3, ed. 243, l. 349–353 (Redakcija „Literaturnaja gazeta“, otdel nauki: Rukopisi proizvedenij, opublikovannych v „LG“ v 1944–1953 godach [Gra A. – Gruško L.]).
77
Aleksandr Kazencev griff auf einer internen Diskussion im Mai 1949 sowohl den wissenschaftlichen Inhalt als auch die „literarischen Verfahren“ Palejs scharf an, die in der Darstellung der Figur des „unveränderlichen einsamen Menschen“ („неизменный человек-одиночка“) vollkommen anachronistisch seien, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 2, l. 53f. (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučnochudožestvennoj literatury: Stenogramma zasedanija Sekcii. Doklad V. A. Safonova “Sovetskaja naučnochudožestvennaja literatura “ za 1947–1948 gg., 21 maja 1949 g.).
78 „Вместо борьбы с чуждыми нам теориями авторы сами попадают в плен враждебных буржуазных
идей, как это случилось с романом Палея ‚Остров Таусенa‘.“ Dieses Urteil begründet der inzwischen
zum Verlag Molodaja gvardija gewechselte Redakteur und Kritiker Andreev vor allem damit, dass Tausen als Einzelgänger sich auf seiner einsamen Insel der ganzen Welt entgegenstelle, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 22, l. 11–12 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Steno-
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Ein ähnliches Schicksal sollte auch den zweiten Autor ereilen, der sich in einer wissenschaftlich-fantastischen Popularisierung der Biologie versuchte, auch wenn er dies mit gänzlich anderen Voraussetzungen tat. Aleksandr Nikolaevič Studitskij (1908–1991) hatte in den dreißiger Jahren schnell Karriere gemacht: Nach einem Studium der Biologie spezialisierte er sich auf Histologie (die Lehre von den biologischen Geweben) und war bereits in den dreißiger Jahren zum Stellvertretenden Direktor des Instituts für Evolutionsmorphologie und Tierökologie an der Akademie der Wissenschaften aufgestiegen. Nach dem Krieg bekam er eine Professur für Histologie an der Moskauer Staatsuniversität und 1952 für ein Werk über die Histogenese der Knochenmuskulatur einen Stalinpreis.79 Zeitgleich war er von Anfang an vielfach als Wissenschaftspopularisator tätig und schrieb unter anderem regelmäßig Beiträge für die Pravda und den Ogonek.80 Aufgrund dieser publizistischen Präsenz hatte man ihn von der Sektion für künstlerisch-wissenschaftliche Literatur gezielt für die Wissenschaftliche Fantastik angeworben, da man sich von ihm ein gelungenes Werk über den „schöpferischen Darwinismus“ versprach.81 Doch das erste Romanmanuskript, das Studitskij zu diesem Thema Mitte 1946 vorlegte, war so unzureichend, dass die geplante Buchproduktion im Verlag Molodaja gvardija annulliert wurde.82 Da man aber keine weiteren Werke zu dem Thema hatte, ließ man es auf Initiative des Chefredakteurs von Znanie – sila, Oleg Pisarževskij, grundlegend überarbeiten, und nach zwei gramma soveščanija v Central’nom Dome Literatorov. Obsuždenie proizvedenij naučno-fantastičeskoj literatury 1948 goda. 28. janv. 1949 g.); Vgl. auch die in die gleiche Richtung zielende Rezension Andreevs von Palejs Roman vom Februar 1949 in RGALI, f. 361, op. 22, ed. 17, l. 24–28 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury: Recenzii na proizvedenija členov SSP i otdel’nych lic; postupivšie v sekciju. Po alfavitu avtorov proizvedenij na bukvy „B“-„Š“. 1949 g.). 79
Vgl. Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 543.
80
Vgl. Studitskij, Aleksandr: Rasskaz o velikom fiziologe (I. A. Pavlov), in: Znanie – sila 10–12 (1946), S. 33– 37; Mucholjuby-čelovekonenavistniki, in: Ogonek 11 (1949), S. 14–16; Ders.: Živoe veščestvo, in: Ogonek 31 (1950), S. 25–26.
81
Vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 18f.; Ebd., f. 631, op. 22, ed. 26, l. 62f., 75f.
82
Vom Schicksal der ersten Fassung berichtet der zuständige interne Rezensent Popovskij auf einer Sektionssitzung im Oktober 1946 folgendes: „Es ist von ‚Molodaja Gvardija‘ angenommen worden. Es handelt von Biologie – einem Thema, das Sie kennen. [...] Als ich das Buch las, erfasste mich Entsetzen. Es kommt vor, dass zu viel Wissenschaft und zu wenig Literatur drin ist, es kommt auch umgekehrt vor – zu wenig Wissenschaft und zu viel Literatur. Hier ist nicht das eine und nicht das andere. Und alles ist beleidigend vulgär. Ich rufe an und sage: dieses Buch liegt jenseits der Literatur. Ich rufe bei ‚Molodaja Gvardija‘ an. Nach einigen Tagen ruft mich Ljubanenko an und fragt: Warum sind sie so hart zu dem Buch? Pisarževskij hat es gelesen und es positiv beurteilt. Das Buch ist angenommen. Das ZK des Komsomol hat in Bezug auf es einige bittere Urteile gefällt. Jetzt ist das Buch wieder rausgenommen worden.“ („Она набрана в ‚Молодой Гвардии‘. Она трактует о биологии – теме, которую вы знаете. [...] Когда я прочел книгу, я пришел в ужас. Бывает, что есть много науки и мало литературы, бывает наоборот – мало науки и много литературы. Тут – ни того, ни другого. И все – оскорбительно пошло. Я звоню сюда и говорю: эта книга стоит по ту стороны литературы. Звоню в ‚Молодую Гвардию‘. Через несколько дней мне звонит Любаненко и спрашивает: почему Вы так резко относитесь к этой книге? Ее читал Писаржевский и отнесся положительно. Книга была набрана. ЦК комсомола по отношению
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Jahren konnte es ab Juli 1948 unter dem Titel Die Bergschlucht Batyrlar-Džol (Ущелье Батырларджол) in dessen Zeitschrift erscheinen. Viktor Saparin nahm den wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman dann ein Jahr später sogar als Titelgeschichte in einen von ihm herausgegebenen Sammelband auf.83 Dieser Kurzroman handelt von den Abenteuern auf einem biologischen Forschungslabor im kirgisischen Bergland, in dem man versucht, eine größere und vor allem ertragreichere Kautschukpflanze zu züchten, als sie in der Natur vorkommt. Hier begegnet der Moskauer Zoologe Boris Karcev, der den Anschluss an seine Expeditionsgruppe verpasst hat, seinem ehemaligen Studienfreund Pavel Berezov, der wenig von der monotonen Laborarbeit hält und stattdessen lieber abenteuerliche Entdeckungsreisen im umliegenden Tjan-Shan-Gebirge unternimmt.84 Dabei folgt er der Legende kirgisischer Einheimischer, die von einer abgelegenen Hochgebirgsschlucht mit Namen „Weg der Recken“ („Дорога богатырей“, kirgisisch „Bayrlar-džol) erzählt, die ihren Besuchern Krankheit und Tod bringe.85 Unter großen Gefahren entdeckt der „anarchistische“ Pavel auch die hinter hohen Felsklippen versteckte Schlucht, in der die gesamte Vegetation, aber auch die dort lebenden Tiere und Vögel dank spezieller Umweltbedingungen sich zu „gigantischen“ Maßstäben vergrößert haben, worunter sich tatsächlich auch Kautschukpflanzen befinden.86 Dank des zur Hilfe geholten Boris gelingt der lebensgefährliche Weg zurück, auf dem man die ausgegrabene Kautschukwurzel opfern muss und nur einige Samen ins Labor retten kann.87 Im Labor ist es inzwischen zwar gelungen, genauso große Kautschukpflanzen wie in der Wildnis durch Kreuzungen zu züchten, doch deren Kautschukanteil ist unverändert gering. Aus den von Boris mitgebrachten Samen hingegen wachsen genauso kleine Pflanzen wie sonst auch, woraus man den Schluss zieht, dass es die äußeren Umweltbedingungen der Bergschlucht, nicht aber ihr genetisches Erbgut ist, die ihre Größe ausmachen.88 Um diese genetische Disposition zu verändern – das „Erbgut aufzurütteln“ (расшатать наследственность) – beschließt man im zweiten Teil des Kurzromans, aus der Schlucht Blütenк ней вынес несколько очень горьких суждений. Теперь книга разобрана.“) RGALI, f. 631, op. 15, ed.
787, l. 18f. 83
Vgl. Studitskij, Aleksandr: Uščel’e Bartyrlar-džol. Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Znanie sila 7 (1949), S. 29–34; 8, S. 29–36; 9, S. 27–36; Ders.: Uščel’e Batyrlar-džol (Doroga bogatyrej), in: Saparin, Viktor (Hg.): Doroga bogatyrej. Sbornik naučno-fantastičeskich povestej, Moskva 1949, S. 188–362. Hier zitiert nach der Zeitschriftenfassung.
84
Studitskij: Uščel’e Bartyrlar-džol, 7 (1949), S. 29ff.
85
Ebd., S. 32ff.
86
Ebd., 8 (1949), S. 32ff.; Neben dem Hochgebirgsklima scheint insbesondere eine starke Kontaminierung des Wassers die Ursache zu sein, das für Menschen hochgiftig ist – wie Pavel leidvoll erfahren muss. So nimmt der zur Hilfe gekommene Boris die Schlucht als „Gebiet gigantischer Lebensformen“ (Среда гигантских форм жизни) wahr, die aussahen „wie die fantastischen Ungeheuer aus Kindermärchen“ (с фантастическим обликом чудовищ из детских сказок). Vgl. ebd., 9 (1949), S. 28.
87
Ebd., S. 34ff., 10 (1949), S. 30ff.
88
Ebd., S. 33.
524 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
staub der Riesenpflanzen zu sichern und damit die Laborpflanzen zu bestäuben, wofür man eine erneute, diesmal besser vorbereitete Expedition ins „Tal der Wunder“ (долина чудес) unternimmt.89 Diese endet jedoch ebenfalls fast in einer Katastrophe: Riesenkrokodile schließen die Forscher ein und nur durch Sprengung einer Gebirgswand gelingt die Flucht mit dem gesicherten Blütenstaub. Die Sprengung führt zu einer Überflutung der Schlucht, so dass keiner der pflanzlichen und tierischen „Ungeheuer“ (чудовищы) überlebt.90 Dafür gelingt im Labor die Bestäubung der „künstlichen“ Gewächse mit „wildem“ Blütenstaub, so dass man eine wesentlich ertragreichere Kautschukpflanze gewonnen hat, wie der Laborleiter Grigorij Petrenko berichtet: „[...] ‚Der Blütenstaub dieser Pflanzen erwies sich als das einzige Mittel, um das Erbgut bei den Nachkommen der von uns gezüchteten Form aufzurütteln. Gerade weil wir die Pflanze so leicht gezwungen hatten, die Kautschukhaltigkeit zu erhöhen. Und außerdem...‘, Petrenko lächelte träumerisch, ‚denn der Name ‚Batyrlar-džol‘ bedeutet ‚Weg der Recken‘. Ein wundervoller Name! Wie angenehm ist es zu träumen, dass es eine Zeit geben wird, wenn alle Pflanzen, die der Mensch für die Wirtschaft braucht, von den Menschen in Giganten von beeindruckender Kraft und Produktivität verwandelt werden können! Wir öffnen den Weg zu dieser Zeit. Warum sollen wir nicht unsere Sorte ‚Batyrlar-džol‘ nennen!‘“91
Von den natürlichen „Recken“ des kirgisischen Hochgebirgstals bleibt hingegen nur ein Riesenziegenschädel übrig, den Boris für das Moskauer Zoologische Museum mitgenommen hat. Aleksandr Studitskij versuchte in diesem Werk ganz offensichtlich das „klassische“ Abenteuertopos einer von der übrigen Zivilisation und Evolution vollkommen isolierten „vergessenen Welt“, in der sich außergewöhnliche Entwicklungen vollzogen haben, mit den aktuellen Erfordernissen der Wissenschaftspopularisierung zu verbinden.92 Sein deutlich an Conan Doyles Roman Lost World – der von einer hinter hohen Felsen auf einer einsamen Insel versteckten paläontologischen Erdstufe berichtet – orientiertes Werk stellt dabei den Versuch dar, den „schöpferischen Darwinismus“ Mičurins belletristisch zu verarbeiten, indem er ihm anhand des „Tals 89
Ebd., S. 34ff.
90
Ebd., S. 11 (1949), S. 27ff.
91 „[...] пыльца этих растений оказалась тогда единственным средством расшатать наследственность в
потомстве выведенной нами формы. Именно потому мы так легко заставили растение повысить каучуконосность. А кроме того... – Петренко мечтательно улыбнулся, – ведь название ‚Батырларджол‘ означает – Дорога богатырей. Чудесное название! Как приятно мечтать, что будет время, когда все растения, необходимые человеку для его хозяйства, руками ученых будут превращены в гигантов потрясающей мощи и продуктивности! Мы открываем дорогу к этому времени. Почему же нам не назвать наш сорт ‚Батырлар-джол‘!“ Ebd, S. 35; zum Konzept des „Wachrüttelns in der Lysenko-Biolo-
gie, vgl. Polianski, Igor J.: Das Lied vom Anderswerten. Lysenko und die politische Semantik der Vererbung, in: Osteuropa 10 (2009), S. 69–88. 92
Zu dieser in die ideologisch opportune Richtung gehenden Intention des Kurzromans vgl. Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 103f.
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der Recken“ den „natürlichen Darwinismus“ entgegenstellt, der für die gleiche Entwicklung einer kautschukhaltigen Riesenpflanze sehr viel länger gebraucht habe, wie Petrenko ausführt: „‚Erinnern Sie sich, bei Mičurin steht geschrieben:/ ‚Wir müssen die Zeit vernichten und das Leben der Geschöpfe der Zukunft hervorrufen‘?‘, Petrenko strich sich träumerisch den Schnauzbart. ‚In der Bergschlucht Batyrlar-Džol hat die Natur im Laufe von Hunderten von Jahrtausenden diese erstaunliche Welt geschaffen. Aber wir haben es in sechs Jahren geschafft – sicherlich, nur mit einer Pflanze – das, wofür die Natur Jahrtausende brauchte. Das ist ein wirkliches Geschöpf der Zukunft!‘“93
Allerdings traf diese Form der Popularisierung des „schöpferischen Darwinismus“ bei den Sektionsmitgliedern auf noch schärfere Kritik als Palejs Roman, wobei man sowohl die „abenteuerliche“ Form als auch den fantastischen Inhalt ablehnte. So habe die Form des wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerromans auch die ursprüngliche Intention dieses „fehlerhaften Kurzromans“ (порочная повесть) in ihr Gegenteil verkehrt.94 Denn dem Tal der Giganten läge eine „anti-mičurinsche Idee“ zugrunde, die den Leser dazu anhalte, in der wilden Natur eine Welt der Wunder und märchenhaften Wesen zu suchen, anstatt im Labor in stetiger Arbeit sein Ziel zu erreichen. Gleichzeitig würden die Menschen hier letztlich nicht als der Natur überlegen dargestellt, sondern als ihr unterlegen gezeigt: „Die tie rische Angst zwingt sie, an der Überlegenheit des Menschen über die Natur zu zweifeln.“ 95 Dadurch sei eine „prinzipiell leichtsinnige Schundlektüre“ (принципиально легкоe, бульварноe чтивo)96 entstanden, in der es nur noch um eine „verbrämte Wissenschaft“ gehe, „die um des Vergnügens willen mit angemalten Tapeten der Unterhaltsamkeit und der Abenteuer bedeckt“ sei („наука подкрашенная, которая для приятности, прикрыта разрисованными обоями занимательности и проиключений“).97 Anstelle des „formal-genetischen“ Mystizismus der Zauberschlucht fordere und brauche der Leser aber eine unverbrämte Darstellung der Wissenschaft.98
93 „– Помните, у Мичурина сказано:/ ‚Мы должны уничтожить время и вызвать в жизнь существа
будущего’? – Петренко мечтательно погладил усы. – В долине Батырлар-джол природа в течение сотен тысяч лет создавала этот удивительный мир. А мы за шесть лет сумели сделать – правда, с одним только растением – то, на что природе нужны были тысячелетия. Это настоящее существо будущего!“ Studitskij: Uščel’e Batyrlar-džol, 11 (1949), S. 35.
94
So Ivanov auf einer Diskussionsveranstaltung im Dezember 1949, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 31. Vgl. auch dessen Kritik in einer Rezension des Bandes vom Oktober 1950, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 35, l. 6–13.
95 „Животный страх заставляет их усомниться в превосходстве человека над природой“ So Ševčenko auf
einer internen Diskussion im März 1951, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 41, l. 11. 96
So Pisarževskij im Oktober 1946 auf einer internen Sitzung, vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 6.
97
So die Lektorin Strukova im Dezember 1949, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 39.
98
Vgl. ebd., l. 44.
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Nun muss man diese vor allem ideologische und ideelle Kritik an Studitskij – aber auch an Palej – vor dem unmittelbaren wissenschaftspolitischen Hintergrund der Zeit sehen. Denn genau zum Zeitpunkt des Erscheinens der beiden Kurzromane fand Ende Juli, Anfang 1948 die für die weitere Entwicklung der Biologie in der Spätstalinzeit entscheidende Sitzung in der Allunionsakademie für Landwirtschaftswissenschaften statt, auf der die Genetik endgültig als westliche, bürgerliche und anti-sowjetische Wissenschaftsrichtung vollkommen verworfen wurde.99 Dieser Triumph der von Trofim Lysenko propagierten „Mičurinschen Biologie“ wurde ideologisch vor allem durch eine scharfe Trennung eines sowjetischen beziehungsweise russischen gegen ein westliches, bourgeoises, später auch „kosmopolitisches“ Wissenschaftsverständnis diskursiv durchgesetzt.100 Zwar propagierten beide Werke einhellig eine von Lamarck abgeleitete Mičurinsche Biologie, doch allein die Tatsache, dass sie vermeintlich typisch „ausländische“ Motive der Abenteuerliteratur („Lost world“, einsame Insel, übermächtige Naturerscheinungen, verrückter „Sonderling“) verwendeten, reichte in diesem Kontext, um sie als Irrwege abzulehnen. Die Konsequenz dieser Kritik war, dass Studitskij – genauso wie Palej – bis in die Tauwetterzeit davon absah, weitere wissenschaftlich-fantastische Romane zu schreiben, während man in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur die Konsequenz zog, keine weiteren Wissenschaftler mehr anzuwerben. Denn Studitskij war nicht der einzige Naturwissenschaftler, der sich für das Genre interessierte und offensichtlich unter ihm eher eine unterhaltsame Abenteuerliteratur verstand als eine wissenschaftlich-künstlerische Literatur des „großen Wunschtraums“, wie sie Andreev und die Mehrheit der Sektionsmitglieder propagierte. Auch das Akademiemitglied Aleksandr Ivanovič Oparin (1894–1980), Biochemiker und Autor des biologiegeschichtlichen Grundlagenwerks über Die Herkunft des Lebens (Происхождение жизни, 1924) oder der Professor der Moskauer Staatsuniversität und bekannte Entomologie, Nikolaj Nikolaevič Plavil’ščikov (1892–1962) widmeten sich intensiv der Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftlichen Fantastik.101 Und beide präferierten als überzeugte Lysenkoisten eine Wissenschaftliche Fantastik, die vor allem unterhaltsam und abenteuerlich war. Dieser Konflikt trat auch anhand anderer in den späten vierziger Jahren publizierter Werke auf, wie beispielsweise bei Vladimir Bragins erstem großen Roman Im Land der undurchdringlichen Gräser (В стране дремучих трав, 1948), der anfangs sogar für den Stalinpreis vorgeschlagen worden war, ehe er wegen seiner Herabsetzung des Menschen und anti-sowjetischen Wis-
99
Vgl. ausführlich zu diesen wissenschaftspolitischen Hintergründen Polock: Stalin and the Soviet Science Wars, S. 41–71.
100
Vgl. ebd., S. 61ff.
101
Plavil’ščikov veröffentlichte sogar 1945 selber in der „Bibliothek der Abenteuer“ einen wissenschaftlichfantastischen Kurzroman, Das fehlende Kettenglied (Недостающее звено), über die Begegnung mit einem Affenmenschen, der die fehlende evolutionäre Zwischenstufe zwischen Affen und Menschen darstelle. Vgl. Plavil’ščikov, Pavel: Nedostajuščee zveno. Fantastičeskaja povest’ (1945), Novosibirsk 2004.
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senschaftsauffassung verworfen wurde.102 Die Kontroverse resultierte aus zwei unterschiedlichen Genrebegriffen: Demjenigen einer wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur, wie sie zwischen 1937 und 1941 propagiert worden war, und derjenigen einer „wissenschaftlich-künstlerischen“ Wissenschaftlichen Fantastik, wie sie Andreev erstmals 1945 formuliert hatte und wie sie in der Sektion für künstlerisch-wissenschaftliche Literatur immer stärker zum einzig akzeptablem Muster erklärt wurde (Kapitel 14). Am deutlichsten trat dieser Widerspruch aber auf dem Feld der Astronomie auf, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll.
13.3 „ Gäste a us dem Kos mos “ – U n b e ka n n te F lu g o b je kte a u s anderen We lte n 1 0 3 „Vieles in unserer Wissenschaft und Technik ist geheim, es gibt eine ganze Reihe verbotener Themen. [...] oft darf man nicht die genauen Umstände mit den Details nennen, die man zeigen möchte. Heißt das, dass man dem Menschen Dinge nicht zeigen soll, die an der Grenze zum Geheimen stehen? Nein, in jeder Frage, selbst der schweren, kann man die richtigen Wege finden, damit der Leser fühlt, wie die Aufgabe gelöst wird; man kann einer Vulgarisierung ausweichen und zeigen, wie eine Idee geboren wird. Es gibt keine geheime Idee, obwohl die Frucht der Idee oft zur Geheimsache erklärt worden ist.“ Boris Ljapunov (1951)100
Eines der brisantesten Themen in der Nachkriegszeit stellte die Popularisierung der Astronomie und insbesondere der Raumfahrt dar, handelten doch beide Wissenschaftsbereiche explizit von 102
Bragins Roman war ganz ähnlich angelegt wie Studitskijs Roman, nur dass bei ihm nicht die Natur um ein vielfaches vergrößert wurde, sondern umgekehrt der Mensch hunderfach verkleinert, so dass ihm Tiere und Pflanzen ebenfalls wie Giganten vorkamen. Und auch hier liefert, wie bei Studitskij, die Natur in Jahrmillionen geschaffene technische Vorbilder, die der Mensch sich in beschleunigter Zeit „schöpferisch“ in wenigen Jahren aneignet. Vgl. Bragin, Vladimir: V strane dremučich trav (Biblioteka priključenij), Moskva, Leningrad 1948. Ausführlich zu einer Interpretation dieses Romans vgl. Schwartz: Im Land der undurchdringlichen Gräser, S. 415–456.
103 „Многое в нашей науке и технике секретно, существует целый ряд запретных тем. [...] часто нельзя
дать конкретную обстановку с теми подробностями, которые хотелось бы показать. Значит ли это, что не нужно показывать человеку вещей, стоящих на грани секретности? Нет, в каждом вопросе, даже сложном, можно найти правильные пути для того, чтобы почувствовал читатель, как решается задача; можно избегнуть вульгаризации, показать, как рождается идея. Идея не бывает секретной, хотя плод идеи часто засекречен.“ So Boris Ljapunov auf einer Diskussionsveranstaltung zur Wissen-
schaftlichen Fantas-tik im April 1951, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 41, l. 41.
528 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
„anderen“, außerirdischen Bereichen. Zudem war der Sternenhimmel als Himmelszelt, Göttersitz und Schicksalsmacht schon immer ein zentraler Ort metaphysischer und in der Neuzeit zunehmend säkularisierter Weltanschauungsdiskurse. In der Moderne bildete der Weltraum spätestens seit H. G. Wells’ War of the Worlds und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg ein zentrales Imaginationsfeld der Abenteuerliteratur, wo vergangene und zukünftige Kriege in apokalyptischen Szenarien als Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei, aber auch zwischen hochtechnisierten Superzivilisationen untereinander durchgespielt wurden.104 Zwar stellte die Verwandlung der überirdischen Götter in außerirdische Invasoren auch eine gewisse Profanisierung des Universums dar, jedoch partizipierten all diese Geschichten bis in die Gegenwart an dem „ersatzreligiösen“ Mythos der Neuzeit, wonach die „Konfrontation mit extraterrestrischen Lebensformen von vergleichbarer oder höherer Intelligenz oder ‚Art‘“ auch etwas über die „kosmische“ Bestimmung des Menschen aussagen könne.105 Dies war der Grund gewesen, weshalb in den 1930er Jahren in der Sowjetunion Raumfahrt und Astronomie keine zentrale Rolle in der Wissenschaftspopularisierung mehr spielten, konnten sie doch zudem keinen unmittelbaren Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten. Wenn man sich in den populärwissenschaftlichen Publikationen oder Zeitungen trotzdem mit ihnen beschäftigte, war es vor allem ein von außerirdischen Invasoren und Sternenkriegern entleerter Weltraum, der sich den Lesern präsentierte. Man betonte vor allem die Expansionsmöglichkeit des fortschrittlichen Menschen, wofür insbesondere Konstantin Ciolkovskij als Raumfahrtpionier die zentrale Bezugsperson darstellte.106 Aleksandr Beljaev schrieb in diesem Sinne noch zwei Romane zu dem Thema, 1933 den dem sowjetischen Raketenpionier und Ciolkovskij-Schüler Fridrich Arturovič Cander (1887–1933) gewidmeten Roman Der Sprung ins Nichts (Прыжок в ничто)107 und 1936 den dem ein Jahr zuvor verstorbenen Ciolkovskij selber gewidmeten Roman Der Stern KĖC (Звезда КЭЦ).108 1935 kam nach einigen kulturpolitischen und organisatorischtechnischen Schwierigkeiten auch der erste sowjetische „fantastische“ Film über einen Weltraumflug zum Mond, Der Kosmosflug (Космической рейс), von Vasilij Žuravlev in die Kinos, zu dem Ciolkovskij noch kurz vor seinem Tod Konstruktionsskizzen der Weltraumraketen
104
Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.3 dieses Buches.
105
Vgl. ausführlich hierzu Guthke, Karl S.: Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction, Bern/München 1983, hier zitiert S. 344. Die russischen „Kosmisten“ wie Fedorov oder auch Ciolkovskij standen natürlich direkt in dieser Tradition, vgl. Hagemeister: Die Eroberung des Raums und die Beherrschung der Zeit, S. 257–284.
106
Vgl. Andrews: Red Cosmos, S. 79–96.
107
Vgl. Beljaev: Pryžok v ničto (1933).
108 Vgl.
Beljaev: Zvezda KĖC (1936). KĖC sind die Initialen von Ciolkovskijs Vor-, Vaters- und Nachnamen.
Poetisierungsversuche der Wissenschaften | 529
geliefert hatte (vgl. Kapitel 8). Und noch 1940 wurde ein wissenschaftlich-fantastischer Kurzroman über einen sowjetischen Marsflug die Titelgeschichte von Znanie – sila.109 Auch nach dem Krieg blieb das Thema in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften präsent, wobei es in den wissenschaftlich-fantastischen Texten auch wieder – wie sich bei Efremov schon angedeutet hatte – eine philosophisch-weltanschauliche Dimension bekam, die deutlich von dem ansonsten propagierten sowjetischen Menschenbild abwich. Den Anfang hierfür machte niemand anderes als Aleksandr Kazancev, dessen erster Roman – wie dargestellt – als Durchbruch einer wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur gefeiert worden war, dessen „hypothetische Erzählung“ (рассказ-гипотеза) Die Explosion (Взрыв) in der Januarnummer 1946 von Vokrug sveta kein halbes Jahr nach der ersten Atombombe über Hiroshima im August 1945 veröffentlicht wurde.110 Diese Erzählung war nicht nur die Titelgeschichte der Zeitschrift, sondern ihre erstmalige öffentliche Lesung war der Literaturnaja gazeta sogar einen eigenen Bericht wert.111 Die Erzählung beschäftigte sich mit dem so genannten Tungusker Meteoriten, der 1908 im mittelsibirischen Bergland Tunguska niedergegangen war. Er wurde in den 1920er Jahren dank der Berichte der Zeitschrift Vsemirnyj sledopyt über den sowjetischen Meteoritenforscher Leonid Alekseevič Kulik (1883–1942) populär, der vergeblich versucht hatte, den Einschlagsort des Himmelskörpers in der Taiga aufzufinden (vgl. Abschnitt 2.3).112 Kazancev nahm genau diesen bislang nicht aufgefundenen Meteoriten zum Ausgangspunkt seiner hypothetischen Erzählung, die das Ereignis als exotisches Rätsel und spannendes Abenteuer zusätzlich mystifizierte. So startet die Erzählung mit der Kindheitserinnerung eines Zeitschriftenredakteurs an eine Schiffsfahrt auf dem gleichnamigen Fluss durch die sibirische Taiga, die ihm für immer in Erinnerung geblieben sei: „Unser Boot fuhr die Obere Tunguska herauf, wie hier der Fluss Angara heißt. An einer seichten Stelle des Flussbettes waren nur noch ich und der Steuermann auf dem Boot. [...] Ich ließ mich an der Spitze nieder und fühlte mich als Kapitän. Das ist eine Rudergaleere. Wir sind mutige Seeräuber und entdecken neue Länder hinter dem Ozean, Hey, wer ist dort auf dem Mars? Was ist das für eine Insel hinter dem Horizont?“113 109
Anibal: Morjaki Vselennoj (1940). Zu dem Text vgl. Kapitel 10.
110
Kazancev, Aleksandr: Vzryv. Rasskaz-gipoteza, in: Vokrug sveta 1 (1946), S. 39–46.
111
Vgl. den Umschlag von Vokrug sveta im Januar 1946; Über die an die Lesung anschließende Diskussion im Klub der Schriftsteller berichtet die Literaturnaja gazeta: „Die Beteiligten hoben einstimmig den Mut des Gedankens des Autors, die Spannung des Sujets und die wissenschaftliche Aktualität der Erzählung hervor.“ („Выступавшие единодушно отметили смелость авторского замысла, остроту сюжета и научную актуальность рассказа.“) Vgl. [Anon.]: Novyj rasskaz A. Kazanceva (V Sojuze sovetskich pisatelej SSSR), in: Literaturnaja gazeta 50 (08.12.1945), S. 4.
112 Kulik ist 1942 in deutscher Kriegsgefangenschaft verstorben, vgl. zu ihm Krinov, E.: Tungusskoe divo, in:
ZS 8/1951, S. 12–14. Siehe auch hierzu Zigel’, F.: Nerazgadannaja TAJNA, in: ZS 6/1959, S. 40. 113 „Наша лодка поднимается по Верхней Тунгуске, как здесь зовут Ангару. Не перекатах только я да
рулевой остаемся в лодке. [...] Я устроился на носу и чувствую себя капитаном. Это гребная галера.
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Diese von kindlichen Abenteuerträumereien überlagerte Flussfahrt bricht in dem Moment abrupt ab, als das Boot durch zwei gigantische Erschütterungen ungeklärter Herkunft zum Kentern gebracht wird: „Und plötzlich ein schrecklicher Schlag. Ich ziehe den Kopf in die Schultern. Ich weine, ich vergesse die Seeräuber. Der Floßmann fällt vor Überraschung auf die Knie. Sein Mund ist geöffnet [...] und dann – der zweite Schlag, noch schrecklicher. In der kleinen Kate öffnet sich stoßweise eine Tür, doch niemand zeigt sich in ihr. Links, hinter der Taiga, blitzt etwas auf, im Streit mit der Sonne.“114
Schon diese Eröffnungsszene als Kindheitserinnerung weist darauf hin, dass es sich bei dem Ereignis um ein para-religiöses Ereignis handelte: der Kniefall mit geöffnetem Mund, von Geisterhand geöffnete Türen und ein die Sonne herausforderndes Blitzen. Nach dieser Eröffnung erhält der Erzähler am 3. April 1945 Besuch von einem Ethnographen und einem theoretischen Physiker, die sich auf eine Expedition in eben jenes Gebiet begeben wollen, um ihre unterschiedlichen Forschungshypothesen zu belegen: Der Ethnograph möchte nachweisen, dass die Ureinwohner Sibiriens von „afrikanischen Negern“ abstammen, während der Physiker behauptet, der Meteorit sei kurz vor seinem Aufprall in einer atomaren Kettenreaktion explodiert. Die ersten Nachrichten aus Sibirien erhält der Erzähler dann per Telegramm ab dem 14. August, nur wenige Tage nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, ehe die völlig „verwilderten“ Forscher zurück in Moskau ihm ausführlich persönlich über ihre vor Ort gewonnenen Erkenntnisse berichten.115 Wie sich herausstellt, sind die in der Region des angeblichen Meteoritenabsturzes lebenden Eweken sämtlich an einer seltsamen Krankheit verstorben. Einzig eine vollkommen schwarzhäutige, nur mit einem Lendenschurz bekleidete Schamanin hat überlebt, die offensichtlich etwas von der gigantischen Explosion von 1908 weiß.116 Als der Physiker sie auf sowjetische Raumfahrtpläne anspricht, bricht sie plötzlich zusammen, möchte den Forschern auf dem Sterbebett aber noch etwas mitteilen, doch sie nimmt ihr Geheimnis mit ins Grab – sie bekommen lediglich ihre letzten Herztöne zu hören, wobei sie feststellen, dass sich das Herz bei ihr nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite befindet.117
Мы отважные корсары и идем открывать новые земли за океаном. Эй, кто там на Марсе? Что за остров на горизонте?“ Kazancev: Vzryv, S. 39. 114 „И вдруг страшный удар. Я втягиваю голову в плечи. Я плачу, я забыл о корсарах. Плотовщик от
неожиданности падает на колени. Рот у него открыт. [...] и тут – второй удар, более страшный. В избушке порывисто открывается дверь, но никто не показывается из нее. Слева, за тайгой, что-то сверкает, споря с солнцем.“ Ebd.
115
Ebd., S. 43.
116
So wird sie von unterschiedlichen Zeugen als ein körperlich und charakterlich eigenartiger und „unverständlicher“ Mensch beschrieben, vgl. ebd., S. 40, 44.
117
Ebd., S. 45f.
Poetisierungsversuche der Wissenschaften | 531
So zerreißt der Ethnograph am Ende der Erzählung das populärwissenschaftliche Manuskript, in dem er die afrikanische Herkunft der sibirischen Ureinwohner behauptet, während der theoretische Physiker seiner Hypothese einer atomaren Explosion noch einen letzten Absatz hinzufügt, mit dem die Geschichte endet: „Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, dass die Explosion nicht in einem Uranmeteoriten stattfand, sondern in einem interplanetaren Raumschiff, das mit Atomenergie betrieben wurde. Die Reisenden wollten auf den Höhen der Steinernen Tunguska landen zur Erforschung der umliegenden Taiga, als es auf ihrem Schiff irgendeine Katastrophe gab. [...] Dabei schlug die geregelte Kettenreaktion der Atomenergie in eine Reaktion des plötzlichen Uranzerfalls oder eines anderen radioaktiven Brennstoffes um, der auf dem Schiff in ausreichendem Umfang für eine Rückkehr zu einem unbekannten Planeten vorhanden war.“118
Der Zusammenhang zwischen der Explosion und der ungefähr zu diesem Zeitpunkt erstmals in der Region aufgetauchten Schamanin mit der seltsamen Anatomie, die anfangs noch nicht sprechen konnte, wundersame Heilkräfte hat und „vorhistorische Lieder“ singt, wird in der Geschichte nicht weiter expliziert, verstärkt aber noch den Eindruck geheimnisvoller Vorgänge, die auf eine mystische Begegnung dritter Art, einen ersten Kontakt mit „Außerirdischen“ hindeuten. Kazancev nimmt hier zentrale Elemente des „klassischen“ Abenteuerromans und verlegt sie in die sowjetische Gegenwart: So ermöglicht die gefährliche Fahrt an einen unbekannten Ort in der Wildnis, an dem die zwei Forscher der exotischen Wilden begegnen und ihre wundervolle Entdeckung machen, eine liminale Grenzerfahrung, die sie als körperlich „verwilderte“, aber geistig „erleuchtete“, veränderte Menschen in die Redaktionsräume des populärwissenschaftlichen Journals zurückkehren lässt.119 Dabei entsteht eine seltsam „anachronistische“ Verschiebung: Die sowjetische „konventionelle“ Kriegsbeteiligung, die ansonsten omnipräsent in allen fiktionalen und publizistischen Texten jener Jahre ist, wird genauso wenig wie das in jener Zeit noch am Anfang stehende, absolut geheime sowjetische Atomprojekt erwähnt. Dieses wird aber als abenteuerliche Grenzerfahrung in kosmische, außerirdische Dimensionen extrapoliert und kann somit doch verhandelt werden.120
118 „Не исключена возможность, что взрыв произошел не в урановом метеорите, а в межпланетном
корабле, использовавшем атомную энергию. Приземлившиеся в верховьях Подкаменной Тунгуски путешественники могли разойтись для обследования окружающей тайги, когда с их кораблем произошла какая-то авария. [...] При этом реакция постепенного выделения атомной энергии перешла в реакцию мгновенного распада урана или другого радиоактивного топлива, имевшегося на корабле в количестве, достаточном для его возвращения на неизвестную планету.“ Ebd., S. 46.
119
Symptomatisch ist die Beschreibung der Rückkehr des „theoretischen Physikers“, der in der Wildnis sogar seine Brille – den Inbegriff der Intellektualität – verloren hat und äußerlich vollkommen „verwildert“ ist, vgl. ebd., S. 42f.
120
Ende Dezember 1946 hatte man den ersten kleinen Atomreaktor fertiggestellt, die erste erfolgreiche Zündung einer Atombombe fand Ende August 1949 statt.
532 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Abb 18 Titelillustration
zu Boris Ljapunovs Skizze Aus der Tiefe des Weltalls (Iz glubiny Vselennoj) von Znanie – sila, Nr. 10 (1950)
Stattdessen verleiht die Parallelisierung der amerikanischen Atombomben des Jahres 1945 mit dem Meteorit des Jahres 1908 sowie der „vorhistorischen“ Lieder der Schamanin mit den Kindheitserinnerungen des Erzählers dem titelgebenden Thema der „Explosion“ eine überzeitliche, quasi kosmische Dimension der Ewigkeit. Die maximale Destruktionskraft der vom Menschen geschaffenen Atombombe wird hier fiktional in eine vorrevolutionäre Zeit auf sowjetisches Territorium transferiert, wobei ihr gleichsam eine erkenntnisphilosophische Dimension zukommt. Ähnlich wie bei Efremov werden die Menschen angesichts des kosmischen Schauspiels aus ihren gesellschaftspolitischen oder sozialen Zusammenhängen herausgerissen, ja sogar jenseits des „natürlichen Darwinismus“ der Evolution gestellt und mit einer ihnen bis dato unbekannten kosmischen Kraft konfrontiert. Genauso wie bei Efremov die künstlerisch-wissenschaftliche Seele mit den Schwingungen der Natur in Einklang gebracht werden muss, wird bei Kazancev die erste Begegnung der Forscher mit der Schamanin – die zeitgleich zu den amerikanischen Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki stattfindet – beschrieben:
Poetisierungsversuche der Wissenschaften | 533
„Über der schwarzen abfallenden Linie des Waldes, umgeben von einer kleinen Aureole, leuchtete der Morgenstern./ Die Schamanin und ihre Begleiterinnen standen inmitten des Moors mit erhobenen Armen. Dann hörte ich einen tiefen, langen Ton. Und wie zur Antwort erklang das ferne Echo des Waldes, das die Note einige Oktaven höher wiederholte. Ich verstand, dass sie dort sang – die Schamanin./ So begann ein nicht wiederzugebendes Duett einer Stimme mit einem Waldesecho, wobei sie oft zusammen erklangen, indem sie sich zu einer unverständlichen, aber verzaubernden Harmonie verbanden./ Das Lied endete. Ich wollte mich nicht und konnte mich nicht bewegen.“121
Die „seltsame, unklare Melodie“ verzaubert hier buchstäblich den Zuhörer, der sich nicht mehr bewegen kann und will, und setzt ihn in eine andere, kosmische oder – in der Terminologie von Mircea Eliade – „heilige Zeit“. Gleichzeitig ist die Szenerie deutlich durch die Venus als Morgenstern markiert, der in der christlichen Symbolik sowohl für die lichtvolle Erscheinung Christi in der Nacht der Welt als auch für Luzifer, den gefallen Engel, steht. Eben diese ambivalente Symbolik weist Kazancevs Erzählung auch der Atombombenexplosion zu, die in der Figur des explodierenden Raumschiffs zum einen eine epiphanische Option der Erlösung der Menschheit durch außerirdische Wesen verheißt, zum anderen aber auch als Höllensturz des Satans lesbar ist, der wie ein Blitz vom Himmel fällt. Nur eineinhalb Jahre später knüpft Ivan Efremov direkt an diese kurze Erzählung an und veröffentlicht seinen zweiten wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman, Die Sternenschiffe (Звездные корабли), der in der zweiten Jahreshälfte 1947 in Fortsetzungen in Znanie – sila erscheint, ehe er 1948 bei Detgiz auch als Buch publiziert wird.122 Dieser Kurzroman erweitert Kazancevs Hypothesen in buchstäblich kosmische Dimensionen, da er ganz offensichtlich auch eine fiktionale Auseinandersetzung mit den religionsphilosophischen Ideen eines Nikolaj Fedorov und dem „Monismus des Weltalls“ eines Konstantin Ciolkovskij darstellt. Er erzählt von zwei alt und müde gewordenen Professoren, dem Paläontologen Šatrov und dem Geologen Davydov, deren Lebensgeister durch die Hinterlassenschaften ihrer im Zweiten Weltkrieg gefallenen Schüler wieder geweckt werden. Der eine Schüler, der russische Astronom Viktor, der in einer Panzerschlacht gegen die Deutschen 1943 bei Kursk umgekommen ist, hat in seinem Panzer ein Manuskript hinterlassen, in dem er errechnet hat, dass sich vor 70 Millionen Jahren das
121 „Над черной уступчатой линией леса, окруженная маленьким ореолом, сияла утренняя звезда./
Шаманша и ее спутницы стояли посредине болота с поднятыми руками. Потом я услышал низкую длинную ноту. И, словно в ответ ей, прозвучало далекое лесное эхо, повторившее ноту на какой-то многооктавной высоте. Потом эхо, звуча уже громче, продолжило странную, неясную мелодию. Я понял, что это пела она – шаманша./ Так начался этот непередаваемый дуэт голоса с лесным эхом, причем часто они звучали одновременно, сливаясь в непонятной, но околдовывающей гармонии./ Песня кончилась. Я не хотел, не мог двигаться.“ Kazancev: Vzryv, S. 44.
122
Hier zitiert nach der Zeitschriftenfassung, vgl. Efremov, Ivan: Zvezdnye korabli. Naučno-fantastičeskaja povest’, in: Znanie – sila 7 (1947), S. 25–30; 8, S. 4 Beilage, S. 29–36; 9, S. 30–35; 10, S. 28–32, S. 4 Umschlag.
534 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
irdische Sonnensystem dem Zentrum der Galaxis und damit anderen Sternensystemen genähert habe. Der andere ist ein chinesischer Paläontologe mit Namen Tao-Li, der 1940 auf einer Expedition in die Hochlandsteppen der osttibetischen Region Kham Dinosaurierknochen mit Einschusslöchern ausgegraben hat, von denen er zwei seinen Freunden in Moskau zugeschickt hat, ehe er im Kampf gegen die japanischen Faschisten gefallen ist. Der Paläontologe geht daraufhin im nach dem Krieg neu aufgebauten Pulkovo-Observatorium der Frage nach dem Zusammenhang des Universums nach: „Manchmal nähern sich die Sterne und entfernen sich wieder auf Milliarden Jahre – die Raumschiffe der Galaxis. Und in einem noch größeren Raum sind einzelne Galaxien ebenfalls ähnlich großen Raumschiffen, die mit ihren Feuern einander zuleuchten in dem grenzlosen Ozean der Finsternis und der unvorstellbaren Kälte./ Ein Gefühl, das an Grauen glich, bemächtigte sich Šatrov, als er sich lebhaft und klar das Weltall vorstellte, das mal von dieser hoffnungslosen, tödlichen Kälte der Leere, mal von den nicht weniger todbringenden Massen der zu unvorstellbaren Temperaturen erhitzten Materie durchdrungen war.“123
Diesem kosmischen Schrecken einer todbringenden kosmischen Welt der Finsternis stellt Šatrov aber das Licht des Verstandes, der Gedanken entgegen: „Und dann jagte eine stolze Begeisterung für den Verstand des Menschen das schreckliche Bild des Weltalls der Sterne fort. Das Leben, das schnell vergehende, so zerbrechliche, kann nur auf Planeten existieren, die der Erde ähneln, ähnlich einem feinen Netz, das sich über die Oberfläche des Planeten ausbreitet, gebiert es den Gedanken. Und der Gedanke erfasste den Raum des Weltalls, durchmaß ihn, analysierte seine Gesetze und mit ihrer Hilfe wiederum besiegte er die Natur, schuf sich ein Ebenbild der Sterne für seine Ziele, indem er die höchste Energie der Materie benutzte.“ 124
In dieser Gegenüberstellung des alles durchdringenden und sich unterwerfenden Gedankens, der die destruktiven Kräfte des Kosmos in Gestalt der Kernkraft als „höchste Energie“ sich zu Nutze macht, sind deutlich Anklänge an Ciolkovskijs Monismus des Weltalls und dessen Überle123 „Иногда звезды сближаются и снова расходятся на миллиарды лет – звездные корабли Галактики. А
в еще более огромном пространстве отдельные Галактики также подобны еще большим кораблям, светящим друг другу своими огнями в неизмеримом океане тьмы и невообразимого холода./ Чувство, похожее на ужас, овладело Шатровым, когда он живо и ярко представил себе вселенную, дышащую то безнадежным, смертельным холодом пустоты, то не менее смертоносными массами материи, раскаленной до невообразимых температур“ Ebd., 7 (1947), S. 29.
124 „И в то же время, гордое восхищение перед умом человека прогоняло страшный облик звездной
вселенной. Жизнь, скоротечная, настолько хрупкая, что может существовать только на планетах, подобных Земле, похожая на тонкую сетку, стелящуюся на поверхности планеты, рождала мысль. И мысль понимала пространство вселенной, измеряла его, анализировала его законы и с помощью их же побеждала природу, создавала подобие звезд для своих целей, используя высшую энергию вещества.“ Ebd.
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gungen zur menschlichen Unterwerfung des kosmischen Raumes mit Hilfe des Verstandes zu erkennen, die auch schon bei Fedorov zu finden waren.125 Gleichzeitig studiert der Geologe Davydov vor Hawaii riesige Tsunami-Wellen und entwickelt dabei ganz ähnliche Gedanken wie sein Kollege, indem er deren Ursache auf unterirdische atomare Kettenreaktionen zurückführt, die wahrscheinlich eine Erklärung nicht nur für die Erdgeschichte, sondern auch für die Entstehung des gesamten Weltalls liefern: „Und was, wenn in der Masse der erkalteten Materie der Erde noch instabile Elemente geblieben waren, Überreste irgendwelcher früheren Prozesse atomarer Umwälzungen aus der Epoche, als unser Planet noch ein Klumpen zersplitterter Sternenmaterie war? [...] Doch wenn das so ist, wenn die Bergbildung auf der Erde einer tiefen atomaren Reaktion zu verdanken ist, dann besteht die Hoffnung, dass wir in der Zukunft die Herde dieser atomaren Reaktionen beherrschen können. Man muss sie bei den durch Faltung entstandenen Bergen und in Vulkangebieten suchen, wie hier, im Stillen Ozean.../ Davydov spürte mit dem Instinkt eines Wissenschaftlers die Wichtigkeit seiner Mutmaßungen.“126
„Instinktiv“ erkennt der Wissenschaftler hier die kosmischen Zusammenhänge, deren Schlüssel in der Beherrschung der Atomkraft als „höchste Energie der Materie“ durch den Verstand liegt. Diesen kosmischen Zusammenhängen der Erdgeschichte widmen sich die beiden geistig inspirierten Wissenschaftler im Folgenden, indem sie nach „Ankömmlingen von den Sternen“ („Звездные пришельцы“) suchen, die vor 70 Millionen Jahren aus einem anderen Sternensystem die Erde besucht haben und mit atomaren Waffen den Dinosauriern tödliche Schusslöcher in Schädel und Knochen zugefügt haben. Diese Suche wird jedoch nicht primär als ein physisch-technischer Kampf gegen die Natur, sondern zuvorderst als ein harter Weg geistiger Erkenntnis formuliert: „Ein schwerer Weg ist der Weg neuer Forschungsbemühungen! Seltene Gedankenflüge – wie märchenhaft leichte Sprünge über den Abgründen schwerer Fehler.“127 Dieses Erkenntnisinteresse folgt aber immer – wie Efremov es schon in dem Bild der Fünf Kompassstriche (Abschnitt 13.1) formuliert hat – einer persönlichen Vorherbestimmung, die sich deutlich von dem auf rein technisch-ingenieurswis125
Vgl. die ausgewählten Schriften Ciolkovskijs zu dem Thema, beispielsweise seine „Ideen des Monismus“ von 1924 in: Ciolkovskij, Konstantin: Genij sredi ljudej, Moskva 2002, S. 181–188. Zu Fedorov ausführlich vgl. Hagemeister, Michael: Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung, München 1989.
126 „А что, если в массе остывшего вещества Земли остались еще неустойчивые элементы, огарки
когда-то бывших процессов атомных превращений той эпохи, когда наша планета была сгустком раскаленной звездной материи? [...] Но если это так, если горообразование на Земле обязано глубинным атомным реакциям, то у нас есть надежда в будущем овладеть этими очагами атомных реакций. Искать их возле поднимающихся складчатых гор и вулканических областей, вот как здесь, на Тихом океане.../ Давыдов инстинктом ученого чувствовал важность своих догадок.“ Efremov:
Zvezndye korabli, 8 (1947), S. 30. 127 „Тяжелая дорога – путь новых исканий! Редкие взлеты мысли – как сказочно легкие прыжки над
пропастями грубых ошибок.“ Ebd., S. 36.
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senschaftliche Fragen konzentrierten kollektivistischen Wissenschaftsverständnis der Stalinzeit unterscheidet: „‚Es gibt Menschen‘, begann langsam der Professor, ‚denen ihr wissenschaftlicher Weg gleichgültig ist. Zufall, Nutzen – sie beschäftigen sich mit was auch immer. Und sogar mit großem Erfolg, mit guten Resultaten. Doch ich halte sie nicht für wirkliche Wissenschaftler. Denn nichtsdestotrotz ist die Wahl der Wissenschaften, was man auch sagt, von persönlichen Neigungen bestimmt, Fähigkeiten und Vorlieben. Nur dann, wenn Ihr Verstand das Wissen fängt, es herausfordert wie die Luft zum Atmen, – dann werden Sie zu wirklichen Schöpfern der Wissenschaft. Indem sie ihre Kräfte bei der Bewegung vorwärts nicht schonen, ihre Persönlichkeit mit der Wissenschaft verschmelzen.‘“128
Erst nachdem die Forscher in ausführlichen Dialogen und Monologen über die paläontologische Frühgeschichte anhand plutonistischer Theorien, über die Verschiebung der Erdplatten und Entstehung der Kontinente sowie das Aussterben der Dinosaurier diskutiert haben und am Schreibtisch durch reines Nachdenken zu dem Schluss gekommen sind, dass die Außerirdischen das gleiche Aussehen wie die Menschen haben müssen – da der Verstand sich weltweit die gleichen perfekten Formen des menschlichen Körpers suche –, finden sie auch auf einer gigantischen Ausgrabungsstätte von Dinosaurierknochen im sowjetischen Mittelasien den Schädel eines „Ankömmlings von den Sternen“129 Anschließend graben sie noch eine schwere Metallplatte aus, die mit einer unbekannten chemischen Legierung versehen ist. Auf ihr zeigt sich nachts im Kabinett der beiden Gelehrten eine dreidimensionale Darstellung des Außerirdischen: „‚Doch hier, ich schwöre es bei Satan, ist die Abbildung!‘, rief Šatrov erregt. ‚Ich habe es gesehen, mit Augen gesehen!‘ [...] Es wirkte, als ob ein lebendes Wesen schaute, abgetrennt nur durch das durchsichtige Glas der optischen Linse. Und vor allem, was alle anderen Eindrücke überlagerte, blickten riesige hervorstechende Augen sie direkt an. Sie waren – wie Seen des ewigen Geheimnisses der Erschaffung der Welt, durchdrungen vom Verstand und dem angespannten Willen, von zwei mächtigen Strahlen, die vorwärts strebten, durch das gläserne Hindernis hindurch, in die unendlichen Weiten des Raumes. In diesen Augen war das Licht der grenzenlosen Kühnheit des Verstandes, der die gnadenlosen Gesetze des Weltalls kannte, ewig kämpfend in Leid und Freude der Erkenntnis./ Und die Blicke der Wissenschaftler der Erde, die sich mit diesem ungewöhnli-
128 „– Есть люди, – медленно начал профессор, – безразличные в выборе научного пути. Случай,
выгода – и они будут заниматься чем угодно. И даже с большим успехом, с хорошими результатами. Но я не считаю их настоящими учеными. Все-таки выбор науки, что там ни говорите, определяется личными склонностями, способностями и вкусами. Только тогда, когда ваш ум будет ловить знание, требовать его, как задыхающийся – воздух, – тогда вы будете подлинными творцами науки. Не щадящими сил в своем движении вперед, сливающими свою личность с наукой.“ Ebd. 9 (1947),
S. 31. 129
Ebd., S. 33ff.
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chen Blick aus den Tiefen der Zeit kreuzten, senkten sich nicht aus Bestürzung. Šatrov und Davydov erfasste ein Gefühl der Freude.“130
In diesen Schlussabsätzen des Kurzromans finden sich noch einmal die weltanschaulichen Elemente von Efremovs Poetik des Ungewöhnlichen, wie er sie schon in seinem im Krieg geschriebenen Erzählungen entwickelt hatte, die hier jedoch deutlich mit Fedorovs Philosophie des gemeinsamen Werks, der universellen Befreiung des Menschen von der blinden, todbringenden Natur und der Eroberung des Universums zusammengebracht werden. Dabei erweitert Efremov die von Fedorov geforderte „Bruderschaft“ aller lebenden und toten Menschen in Form der irdischen (lebenden) Gelehrten und der außerirdischen (toten) Darstellung in interplanetare Dimensionen: „Die große Geistes- und Verstandesbruderschaft mit den Erdenmenschen drückte sich instinktiv beim Blick auf die Darstellung aus. Šatrov und Davydov sahen darin einen Beweis dafür, dass die Bewohner unterschiedlicher Sternenschiffe einander verstehen werden, wenn man den die Welten teilenden Raum besiegt hat, wenn endlich das Aufeinandertreffen der Gedanken zustande kommt, die auf die fernen Planeteninselchen des Weltalls verstreut worden sind.“131
So stößt der Gedanke als eine universelle, „satanische“ Kraft – einem neutestamentarischen „Heiligen Geist“ gleich – bis zum „ewigen Geheimnis des Weltgebäudes“ vor, der hier nicht als metaphysische, transzendierende Kraft wirkt, sondern ganz materiell die Grenzen von Zeit und Raum überwindet und sich endlich mit anderen, ihm gleichen „Gedanken“ trifft. Zwar befand sich Efremov mit dieser kosmischen Poetik der Sternenschiffe formal noch in den Grenzen des von Andreev proklamierten „großen Wunschtraums“, nach dem es in der Wis-
130 „– А здесь, клянусь сатаной, есть изображение! – возбужденно воскликнул Шатров. – Я видел,
видел глаза! [...] Казалось, живое существо смотрит, отделенное только прозрачной стенкой оптической линзы. И прежде всего, подавляя все остальные впечатления, в упор смотрели громадные выпуклые глаза. Они были – как озера вечной тайны мироздания, пронизанные умом и напряженной волей, двумя мощными лучами, стремящимися вперед, через стеклянную преграду, в бесконечные дали пространства. В этих глазах был свет безмерного мужества разума, сознающего беспощадные законы вселенной, вечно бьющегося в муке и радости познания./ И взгляды ученых Земли, скрестившись с этим необычайным взором, глядевшим из бездны времен, не опустились в смущении. Шатрова и Давыдова пронизало радостное торжество.“ Ebd., 10 (1947), S. 32.
131 „Великое братство по духу и мысли с людьми Земли безотчетно сказывалось при взгляде на
изображение. Шатров и Давыдов увидели в этом залог того, что обитатели различных звездных кораблей поймут друг друга, когда будет побеждено разделяющее миры пространство, когда состоится наконец встреча мысли, разбросанной на далеких планетных островках во вселенной.“
Ebd. Auch das zentrale Fedorovsche Versprechen einer Wiedererweckung der toten Väter durch die lebenden Söhne wird hier „spirituell“ in umgekehrter Richtung realisiert: Sind es doch die Berechnungen und Ausgrabungen der im Krieg gefallenen geistigen „Söhne“ der älteren Gelehrten, deren intellektuelles Erbe durch die Väter als „echte Schöpfer der Wissenschaft“ zu neuem universalen Leben erweckt wird.
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senschaftlichen Fantastik gerade um die Figur des Wissenschaftlers bei der Arbeit gehen soll, der durch seine schöpferischen Gedanken die materielle Welt verändert (vgl. Abschnitt 12.2). Allerdings stellt die sowjetische Wirklichkeit, wie sie sich ansonsten in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften präsentiert, sowohl bei Kazancev als auch bei Efremov nur noch das für selbstverständlich genommene Umfeld, die jederzeit zur Verfügung stehende Infrastruktur dar. Efremovs Gelehrte sind keine verrückten, außerhalb oder am Rand der (westlichen) Gesellschaft stehenden „Mad scientists“, sondern verdiente und hoch geschätzte Professoren der sowjetischen Gesellschaft, für deren in kosmischen Dimensionen gerichtete Gedanken die wissenschaftspolitischen und ideologischen Konflikte der sowjetischen Gegenwart keinerlei Rolle spielen. Entsprechend gab es intern auch massive Kritik und Vorbehalte gegen Efremovs Sternenschiffe, die aber öffentlich nicht geäußert wurden. Im Gegenteil, ein paar Jahre später wurde das Thema außerirdischer Besuche auf der Erde erneut das Titelthema einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift, diesmal von Znanie – sila, die 1950 die Skizze Aus der Tiefe des Weltalls (Из глубины вселенной) des bekannten Wissenschaftsjournalisten und Kritikers Boris Valer’janovič Ljapunov (1921–1972) veröffentlichte.132 Ljapunov beschreibt einleitend die Katastrophe von Tunguska aus der Perspektive des abstürzenden interplanetaren Raumschiffes, ehe er mit Verweis auf neue Forschungsergebnisse ausführlich erörtert, dass das Raumschiff möglicherweise von anderen Planeten des Sonnensystems oder gar einer anderen Galaxis gekommen sein könnte. Diesen Erörterungen sind eine Karte der Einschlagsskizze und eine Redaktionsnotiz beigefügt, die explizit auf Kazancevs Erzählung verweist und Ljapunovs Hypothese als „interessante Vermutung“ preist, „die auf Fakten gegründet ist und Platz in der Wirklichkeit hat“.133 Damit hatte aber das Thema den Bereich der wissenschaftlichen „Fantastik“, dem Kazancevs und Efremovs „wirklichkeitsfremde“ Belletristik noch eindeutig zugeordnet war, verlassen und den populärwissenschaftlichen Diskurs erreicht. Das „Medium“ zur Legitimierung dieses Diskurses blieb aber die Fiktion. So veröffentlichte ein halbes Jahr später Technika – molodeži im Frühjahr 1951 eine weitere wissenschaftlich-fantastische Erzählung von Aleksandr Kazancev, Der Gast aus dem Kosmos (Гость из космоса), die ebenfalls der Hypothese gewidmet ist, dass der „Tungusker Meteorit“ ein interplanetares Raumschiff gewesen sei.134 In ihr besteigt ein Astronom ein Polarschiff, um die Klimabedingungen der Arktis zu erforschen. Den verwunderten Mitreisenden erläutert er in der Kapitänskajüte bei einem Glas Kognak die mit neuen Fakten gesicherte Erkenntnis, dass der Meteorit wahrscheinlich ein havariertes Marsianisches Raumschiff gewesen sei, das auf dem Rückflug von der Venus aus bislang unbekannten Gründen eine Zwischenlandung auf der Erde habe machen wollen. Um nun die Lebensbedingungen auf dem Mars besser erfassen zu können, untersuche er die ähnlichen klimatischen Bedingungen am
132
Vgl. Ljapunov, Boris: Iz glubiny Vselennoj, in: Znanie – sila 10 (1950), S. 4–7.
133
Vgl. [Red.]: Ot redakcii, in: Znanie – sila 10 (1950), S. 7.
134
Vgl. Kazancev, Aleksandr: Gost’ iz Kosmosa. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Technika – molodeži 3 (1951), S. 28–34.
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Nordpol.135 Bevor man den Astronom auf der Polarinsel Nowaja Zemlja absetzt, beschreibt dieser seinen Zuhörern noch das wahrscheinliche Äußere der Marsianer, das ganz den von Efremov propagierten Vorstellungen entspricht, ehe er die Bedeutung vergangener und zukünftiger „Marsoppositionen“ erklärt:136 „Im Jahr 1924, als die große russische Erfindung des Radios allgemeinen Gebrauch fand, empfingen während der Marsopposition viele Radiostationen seltsame Signale! Es tauchte die Vermutung auf, dass die Radiosignale vom Mars kämen. Niemand hat diese Signale dechiffriert.../ – Die nächste Marsopposition wird im Jahr 1954 sein. Wir, die sowjetischen Menschen, beherrschen schon die Atomenergie.... Unser Land ist die Heimat des Raketenantriebs in der notwendigen Schnelligkeit. Eben wir, die Bolschewiki, können uns morgen ernsthaft mit interplanetaren Flügen beschäftigen. [...] Die Entwicklung intelligenter Wesen, die Entwicklung der Wissenschaft auf der Erde verläuft unter ungleich angenehmeren Bedingungen als auf dem Mars. Wir werden zu ihnen früher fliegen und werden das erfolgreicher tun als sie...“137
Mit diesen wissenschaftlich-fantastischen Erörterungen verwischt Kazancev aber die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wunschtraum und Realität weitgehend: Beziehen sich die „seltsamen Signale“ vom Mars aus dem Jahr 1924 doch auf die Werbekampagne zu Protazanovs Aėlita-Verfilmung aus dem gleichen Jahr, während die Ankündigung, dass man schon in wenigen Jahren nicht nur Kontakt mit den Marsianern aufnehmen, sondern auch selber dorthin fliegen werde, wiederum einen dezidierten Realitätsbezug reklamiert. Dieser Realitätsbezug wird auch durch die redaktionelle Rahmung der Erzählung, die neben einer Vorbemerkung und zahlreichen Karten, Fotos, Graphiken und Illustrationen ein Glossar zu den Planeten Mars und Venus, dem Tungusker Meteoriten, der Frage, ob es Leben auf anderen Planeten gebe, den Marskanälen und zur Astrobotanik umfasst, das sehr viel länger ist als die Erzählung selber.138 Neben den Leistungen des Astronomen und Präsidenten der Armenischen 135
Ebd., S. 31ff.
136
Marsoppositionen bezeichnen in der Astronomie denjenigen Moment, in dem sich die Planeten Erde und Mars auf ihren Umlaufbahnen um die Sonne so nah wie möglich kommen. Diese Begegnungen wiederholen sich im Durchschnitt alle 780 Tage, also alle 2,2 Jahre.
137 „В 1924 году, когда широко вошло в жизнь великое русское изобретение радио, во время
противостяния многие приемные радиостанции прняли странные сигналы! Возникли предположения о радиосигналах с Марса. Никто не расшифровал этих сигналов.../ – Следующее противостоянеие Марса будет в 1954 году. Мы, советские люди, уже овладели атомной энергией... Наша страна – родина реактивного движения нужных скоростей. Именно мы, большевики, сможем завтра вплотную заняться межпланетными полетами. [...] Развитие разумных существ, развитие науки на Земле протекает в неизмеримо более благоприятных условиях, чем на Марсе. Мы полетим к ним раньше и сделаем это удачнее, чем они...“ Ebd., S. 34.
138
Vgl. Kazancev, Aleksandr; Bobrov, M.S.; Sytin, V. S.: Tungusskij meteorit. Est’ li žizn’ na drugich planetach? Planeta Mars. Kanaly Marsa. Planeta Venera. Čto takoe astrobotanika? Kak možno rešit’ zagadku Tungusskogo meteorita?, in: Technika – molodeži 3 (1951), S. 28–34.
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Akademie der Wissenschaften, Viktor Amazaspovič Ambarcumjan (1908–1996), der 1946 das Astrophysikalische Observatorium von Bjurakan gründete und sich 1947 mit der Entdeckung der so genannten „Sternenassoziationen“ einen Namen gemacht hatte, war es vor allem der Astronom, Mitbegründer der Kasachischen Akademie der Wissenschaften (1946) und Popula risator der von ihm selbst geschaffenen Wissenschaftsdisziplin der „Astrobotanik“, Gavriil Adrianovič Tichov (1875–1960), dem das Verdienst zugerechnet wurde, dass die sowjetische Astronomie „äußerst weit“ voran geschritten sei.139 Deren Leistungen hätten den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Sergej Ivanovič Vavilov (1891–1951) zu der treffenden Bemerkung veranlasst – so die Redaktion –, dass das Problem interplanetarer Reisen „bald aus der verantwortungslosen Leitung der Schriftsteller in die verantwortungsvollere Leitung der Ingenieure“ übergehen könne.140 Damit war das Thema interplanetarer Reisen und außerirdischer, menschenähnlicher Intelligenzen mit Hilfe des „Tungusker Wunders“ („Тунгусское диво“) innerhalb von fünf Jahren in drei zentralen populärwissenschaftlichen Zeitschriften publik gemacht worden. Die Resonanz auf diese Publikationen war erheblich und zog eine Reihe weiterer Texte zum Thema interplanetarer Raumflüge, Raketentechnik und intelligentes Leben auf anderen Planeten nach sich.141 Ein sowjetischer Kritiker schrieb später, dass allein Ljapunovs Artikel die „Aufmerksamkeit von Millionen von Lesern“ auf sich gezogen habe.142 Berichte über Außerirdische wurden jedoch nicht nur von breiten Leserkreisen mit Interesse aufgenommen, sondern selbst unter professionellen Wissenschaftlern ernsthaft diskutiert.143 So wurden beispielsweise im Moskauer Planetarium jahrelang Vorlesungen zum „Rätsel“ des Tungusker Meteoriten gehalten. Die „kollektive Erforschung“ der „Gäste aus dem Kosmos“ wurde unter einem interessierten Laienpublikum, etablierten Wissenschaftlern und Akademiemitgliedern so populär, dass sich
139
Vgl. ebd., S. 28; Ambarcumjan und das Observatorium von Bjurakan spielten bis in die sechziger Jahre eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung der These, dass es außerirdische intelligente Zivilisationen im Weltraum gebe, vgl.: Schwartz, Matthias: Die Erfindung des Kosmos, S. 81; In Kazancevs Hauptheld aus Der Gast aus dem Kosmos ist unschwer Gavriil Tichov als Prototyp zu erkennen, der mit optischen Geräten versuchte biologisches Leben auf anderen Planeten zu bestimmen – ein Verfahren, das er anfangs Astrobotanik (Астроботаника, 1949), dann Astrobiologie (Астробиология, 1953) nannte und nicht nur in Publikationen der Kasachischen Akademie der Wissenschaften, sondern auch im Parteiverlag Pravda popularisieren konnte, vgl.: Tichov, Gavriil: Novejšie issledovanija po voprosu o rastitel’nosti na planete Mars, Mosvka 1948.
140
Vgl. [Red.]: o.T. [Gost’ iz Kosmosa], in: Technika – molodeži 3 (1951), S. 28.
141
Vgl. Krinov, E.: Tunguskoe divo, in: Znanie – sila 8 (1951), S. 12–14.
142
Brandis, E.: Puti razvitija i problemy, in: Makarova: O fantastike i priključenijach, S. 48. Einer dieser Leser war der noch junge polnische Autor Stanisław Lem, der auf Grundlage der These vom Tungusker Meteoriten als interplanetares Raumschiff seinen ersten großen Science-Fiction-Roman Die Astronauten (Astronauci, 1951) schrieb, der 1960 als erster deutsch-polnischer Science-Fiction-Film unter dem Titel Der schweigende Stern in die Kinos kam (in den USA lief er unter dem Titel First Spaceship on Venus).
143 [Anon.]:
Iz glubiny Vselennoj (Nauka i fantastika), in: Znanie – sila 8 (1951), S. 11.
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die Meteoritenkommission der Akademie der Wissenschaften der UdSSR dazu veranlasst sah, sich an das Sekretariat des Schriftstellerverbandes der UdSSR zu wenden mit der Bitte, der Popularisierung dieses Themas unverzüglich Einhalt zu gebieten, da sie „unter dem Anschein wissenschaftlich begründeter Vermutungen“ rein „fantastische Ideen“ verbreite. Diese „lügenhafte“ Propaganda habe dazu geführt, dass „in weiten Kreisen der Bevölkerung sich die Meinung verbreitet habe, dass die Vermutung Ljapunovs eine begründete wissenschaftliche Schlussfolgerung“ darstelle. Alarmiert von dieser Entwicklung, wurde im Herbst 1951 auch das Präsidium der Akademie der Wissenschaften und die Wissenschaftsabteilung des Zentralkomitees der VKP (b) eingeschaltet, woraufhin vorerst keine weiteren Artikel mehr zum Tungusker Meteoriten und zu außerirdischen Lebensformen in der Presse erscheinen konnten.144 Betrachtet man diese fiktionalen und publizistischen Texte über außerirdische Gäste aus dem Kosmos und havarierte Raumschiffe in einem größeren kulturgeschichtlichen Kontext, stellen sie ein ähnlich seltsames Phänomen dar wie die ein wenig später, erstmals ab 1947 in den Vereinigten Staaten auftauchenden Berichte über Unbekannte Flugobjekte, so genannte UFOs, die angeblich ebenfalls aus dem Weltraum kamen. Während in den USA traumatische Kriegserfahrungen, Ängste vor einer vollkommen technisierten Welt und um sich greifende anti-kommunistische Verschwörungstheorien in der McCarthy-Ära als mögliche Gründe für das Aufkommen dieser populärkulturellen Narrationen genannt werden,145 lassen sich für die Sowjetunion ähnliche Argumente unter anderen Vorzeichen finden. Allerdings spielte in der späten Stalinzeit das in den Vereinigten Staaten so dominante Entführungsmotiv keine Rolle, hingegen ist in den Werken Efremovs und Kazancevs viel stärker das Motiv einer imaginären Flucht akzentuiert und die Parallelisierung mit der Kernenergie als einer dämonisch-transzendierenden Kraft, die als „kosmische Energie“ den Menschen gedanklich mit dem Weltraum verbindet. Geheime Atombombenversuche und geheimnisvolle Raumschiffe, intellektuelle Dissidenz und extraterrestrische Intelligenz gehen hier eine höchst ambivalente Allianz ein, deren Auftauchen in der populärwissenschaftlichen Presse um so erstaunlicher ist, da die Jahre 1947 bis 1951 als diejenigen gelten, in denen stärker noch als in der Vorkriegszeit der ideologische Diskurs zu einer „konfliktlosen“ Meistererzählung homogenisiert und alle abweichenden Narrationen umgehend unterdrückt wurden. Dass die Explosion von Tunguska trotzdem so lange von Autoren der Wissenschaftlichen Fantastik popularisiert werden konnte und Millionen von Lesern faszinierte, bestätigt letztlich, was sich in den vorangegangenen Abschnitten und Kapiteln auch
144
Als Ivan Efremov ein Jahr später einen Grundsatzartikel zu den bisherigen Fehlern der Wissenschaftspopularisierung für die Literaturnaja gazeta schrieb, nannte er als ein Beispiel auch den Umgang der Akademie der Wissenschaften mit der Hypothese, der Meteorit sei ein Raumschiff. Ohne irgendwelche Beweise zu haben, habe man die beiden Fantastikschriftsteller Kazancev und Ljapunov zerschmettert („разгромлены“), was symptomatisch für den generellen Umgang sei. Aufgrund dieses Verweises konnte der gesamte Artikel nicht erscheinen. Vgl. RGALI, f. 631, op. 3, ed. 210, l. 339–349.
145
Vgl. Luckhurst, Roger: The Science-Fictionalization of Trauma. Remarks on Narratives of Alien Abduction, in: Science Fiction Studies 25 (1998), S. 29–52.
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zeigte, nämlich wie wenig ideologischen Rückhalt die Ždanovščina nicht nur unter Schriftstellern, sondern insbesondere auch unter der technischen Intelligenz und bei Wissenschaftlern hatte. Als die spätstalinistische Neuerfindung des Tungusker Meteoriten dann ein paar Jahre nach Ende der Stalinzeit als „ungelöstes Geheimnis“146 nicht nur in der Sowjetunion, sondern weltweit zu einem festen Bestandteil der UFO-Literatur und populärwissenschaftlichen Beschäftigung mit so genannten SETI-Phänomenen wurde, hatte man dessen Entstehungsgeschichte in den ersten Nachkriegsjahren bald vollkommen vergessen.147 Vergessen und von den Zeitgenossen kaum beachtet war auch, dass lediglich ein FantastikAutor dieser erstmals von Kazancev vorgeschlagenen Lesart des Tungusker Meteoriten dezidiert widersprochen und auf die ideologische Häresie hingewiesen hat, die diesem Thema innewohne – und zwar Vladimir Nemcov, jener Autor, der ein paar Jahre später einer der entschiedendsten Befürworter einer „wissenschaftlich-künstlerischen Wissenschaftlichen Fantastik“ wurde. Nemcovs Name sollte in der Tauwetterzeit neben dem von Kazancev zum Inbegriff der später so genannten „Fantastik des Nahziels“ der Stalinzeit werden (vgl. Kapitel 15). 1946 jedoch, am Anfang seiner literarischen Karriere, ein halbes Jahr nach Kazancevs Veröffentlichung der Erzählung Explosion, publizierte Nemcov in der gleichen Zeitschrift seinen ersten wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman Der Feuerball (Огненный шар), der eine explizite Polemik gegen Kazancevs hypothetische Erzählung darstellte. Diesen Kurzroman eröffnete er mit den Worten: „Meine Fahrt in die Taiga vergangenen Sommer kann man in keinem Fall eine Reise nennen. Ich hatte die allergewöhnlichste Aufgabe zu erfüllen, die ohne jegliche Romantik war. Doch nichtsdestotrotz hatte ich gerade während dieser alltäglichen Fahrt die alleraußergewöhnlichsten Abenteuer durchzustehen, die vielleicht befremdlicher waren, als es sich die Fantasie eines Romanschriftstellers ausdenken kann, der seine Helden auf irgendeinen fernen Planeten schickt.“148
Schon dieser Anfang signalisierte deutlich, dass es Nemcov um einen literarischen Gegenentwurf zu Kazancev ging: um die Aufhebung der noch bei Kazancev so konstitutiven Dichotomie
146
Vgl. Zigel’, Feliks: Nerazgadannaja TAJNA, in: Znanie – sila 6 (1959), S. 40–41.
147
Vgl. Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 98ff.; Einzig Vladimir Sorokin, der 2002 bis 2005 eine Trilogie über das Tungusker Phänomen schrieb, das allerdings nicht von außerirdischen Raumschiffen, sondern von kosmischem Eis handelt, das eine begrenzte Gruppe Auserwählter erleuchtet, hat diese Verbindung von kosmischer Energie und geistiger Erleuchtung, wie sie bei Kazancev und Efremov hier erstmals konzipiert wird, zur Grundidee seines Zyklus gemacht, vgl. Sorokin, Vladimir: Trilogija, Moskva 2005. Die Abbreviatur SETI steht für „Search for extraterrestrial intelligence“.
148 „Моя поездка в тайгу прошлым летом никак не могла называться путешествием. Я выполнял самое
обыкновенное задание, в котором не было никакой романтики. И тем не менее именно во время этой будничной поездки мне пришлось пережить самые необыкновенные приключения, быть может, даже более страные, чем может выдумать фантазия романиста, посылающего своих героев на какую-нибудь отдаленную планету.“ Nemcov, Vladimir: Ognennyj šar. Naučno-fantastičeskaja povest’,
in: Vokrug sveta 8–9 (1946), S. 20–29; 10, S. 45–54, hier S. 20.
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zwischen Alltag und Romantik, zwischen gewöhnlicher Dienstreise und außergewöhnlicher Abenteuerreise, zwischen gewohnter Umwelt und fantastischen fernen Welten. Diese Aufhebung konzeptualisierte Nemcov vor allem als eine ideologische Bändigung des Außergewöhnlichen, Fantastischen und Abenteuerlichen, indem er die sibirische Taiga als genuinen Bestandteil der sowjetischen Wirklichkeit, des eigenen Alltags präsentiert, in die es einen jungen Funktechniker beruflich verschlägt. Dieser sieht eines Abends von seinem Hotelzimmer aus eine Sternschnuppe und überlegt, was er sich wohl wünschen solle, ehe er plötzlich eine ferne Explosion hört und kurz darauf mit seinem selbst entwickelten, besonders sensiblen Radioapparat seltsame Notrufe empfängt.149 Es stellt sich heraus, dass der Absturz des Himmelskörpers in der Taiga einen riesigen Flächenbrand ausgelöst hat und sein ehemaliger Lehrer und Professor dort auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees mit seiner Tochter eingeschlossen ist, wo er Experimente mit Radioempfangsgeräten für extraterrestrische Signale anstellt.150 Da man mit Rettungsflugzeugen nicht in der brennenden Taiga landen kann, wird beschlossen, einen Panzer umzurüsten, der statt mit leicht entzündlichem Benzin mit Elektroakkumulatoren betrieben und gegen die Hitze durch eine Asbestverkleidung geschützt wird. In diesem Panzer, den man „Phönix“ (Феникс) tauft, macht sich der Ich-Erzähler zusammen mit einem Erfinder und einem Majoringenieur auf die Suche nach den Vermissten.151 Die Fahrt durch die lichterloh brennende Taiga gleicht einer apokalyptischen Höllenfahrt, man findet auch den Professor auf der Insel, dessen Tochter bleibt jedoch vermisst.152 Erst als sie ihren „Phönix“ nach langen Irrfahrten verlassen, stößt der Erzähler auf den „Ariadnefaden“, der ihn im Waldeslabyrinth ans mythische Ziel leitet, zu einem „rätselhaften Feuerball“: „Plötzlich erhob er den Kopf und hielt ein. Durch den dunklen verrauchten Vorhang, wie durch verrußtes Glas, durch das man während einer Finsternis blickt, leuchtete vor ihm die Sonne auf, die unten, ganz am Grund der Schlucht lag. [...] Ich konnte meine Augen nicht losreißen von diesem Geschenk des Himmels. Ich gelangte aus irgendeinem Grund zu der festen Überzeugung, dass ich vor mir den gestern niedergegangenen Stern sehe. Nein, das war kein gewöhnlicher Meteorit – er verbrannte nicht, ist nicht zersplittert, nicht in die Erde eingedrungen. Vielleicht war das ein Geschenk von einem anderen Planeten, eine interplanetare Rakete der Marsianer?“153
149
Ebd., S. 20f.
150
Ebd., S. 22f.
151
Ebd., S. 23ff.
152
Ebd., S. 25ff.
153 „Вдруг он поднял голову и остановился. Сквозь черную дымовую завесу, как через закопченное
стекло, в которое смотрят во время затмения, перед ним просвечивало солнце, лежавшее внизу, на самом дне оврага. [...] Я не мог оторвать глаз от этого подарка с неба. У меня почему-то появилась твердая уверенность, что я вижу перед собой вчерашнюю падающую звезду. Нет, это не был обычный метеорит, – он не сгорел, не разбился, не ушел в землю. Быть может, это подарок с другой планеты, междупланетная ракета марсиан?“ Ebd., S. 47.
544 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Als er daraufhin auch noch „seltsame Wesen, die keinem Menschen ähneln“ („ странные существа, не похожие на людей“), antrifft, wird der Erzähler von Schrecken erfasst, ehe sich die „geheimnisvollen Einwanderer aus einer anderen Welt“ (таинственные пришельцы из другого мира) als die vermisste Tochter und als ein Kollege zu erkennen geben, das „Himmelsgeschenk“ hingegen als die verglühende Kugel des abgestürzten Himmelskörpers, der den Waldbrand ausgelöst hat, gedeutet wird. Diesen beschließt man mit einem Tau an den Panzer hinten anzubinden. Mit letzter Kraft können sie sich aus der brennenden Taiga retten.154 Daraufhin entbrennt eine wissenschaftliche Diskussion über den Einfluss des Flammenmeers auf Funkwellen sowie die Bewertung des Feuerballs, der am Ende zu einem Häufchen hochwertiger künstlicher Diamanten zusammenschmilzt, worauf der Erzähler begeistert ausruft: „Denkt nur daran, Freunde [...], dass Tausende billiger Diamanten einen völligen Umbruch in der Technik bewirken können. Stellen Sie sich vor, dass an den Schneide-Enden der Drehbänke und automatischen Werkbänke große Diamanten von Dutzenden von Karat leuchten werden!“155 Diesen begeisterten Ausruf erwidert ein Oberstleutnant: „Doch der Hauptwert besteht in anderen Diamanten [...], festen und ausdauernden, die niemals brennen [...]. In der Maschine, die Sie sich erdacht haben [...], im ‚Phönix‘, haben sich wie in einem Feuerball Menschen aus Diamant herauskristallisiert, die wertvoller sind als die besten Diamanten der Welt“156
Mit dieser kristallinen Transformation zu „neuen Menschen“ hat sich auch der anfängliche Wunsch des Ich-Erzählers erfüllt: Er ist am Ende der Geschichte – wunschlos glücklich – durch die außergewöhnliche Begebenheit in die sowjetische Wirklichkeit integriert worden: „Zusammen mit ihnen zu arbeiten, sich etwas auszudenken, zu streiten – das war mein Wunsch. Und wieder fiel an dem schwarzen Augusthimmel eine Sternschnuppe, um ihren Weg auf der Erde zu beenden. Doch ich träumte nicht mehr von Reisen hinter den Wolken und rätselte nicht mehr über meine Wünsche“157
154
Ebd., S. 47ff.
155 „Подумайте и о том, друзья, [...] что тысячи дешевых алмазов могут создать полный переворот в
технике. Представьте себе, что у токарных станков, у станков-автоматов на концах резцов стали бы светиться крупные алмазы в десятки карат!“ Ebd., S. 54.
156 „А главная ценность заключается в иных алмазах, [...] твердых и стойких, которые никогда не горят.
[...] В машине, что вы придумали, [...] в ‚Фениксе‘, как в огненном шаре, кристаллизовались алмазы – люди, которые стоят дороже лучших в мире алмазов.“ Ebd., S. 54.
157 „Работать вместе с ними, выдумывать и спорить, – вот было мое желание./ И снова в черном небе
августовской ночи падали звезды, чтобы закончить свой путь на Земле. Но я уже не мечтал о заоблачных путешествиях и не загадывал желаний“ Ebd.
Poetisierungsversuche der Wissenschaften | 545
Mit diesem Ende formuliert Nemcov aber bereits 1946 eine direkte Gegenposition zu der von Kazancev, Efremov und Ljapunov vertretenen Auffassung, erst durch eine „kosmische“ Neuverzauberung der Welt könne man auch die fantastische Einbildungskraft des Menschen für den „großen Wunschtraum“ gewinnen. Nemcov formuliert stattdessen eine „wissenschaftlich-künstlerische“ Ästhetik, deren Kernpunkte in Folgendem bestanden: Erstens sollen sich Erfindungsgabe und Einbildungskraft der Menschen nicht auf abenteuerliche Reisen und kosmische Begegnungen, sondern ganz auf die diesseitige Welt richten; Zweitens werden tradierte religiöse Vorstellungen wie die Schicksalhaftigkeit der Sternschnuppen hier nicht ideologisch bekämpft, sondern im Gegenteil buchstäblich profanisiert: Eine reale Sternschuppe fällt auf die Erde und ermöglicht konkret durch ihre sinnliche Präsenz die Wunscherfüllung für die Protagonisten; Drittens funktioniert diese Wunscherfüllung nicht als ein mythisches Initiationserlebnis, das den Menschen Zugang zu anderen, „heiligen“ Zeit- und Raumdimensionen eröffnet, sondern lediglich als realisierte Metapher: So wie der Feuerball am Ende für die Industrieproduktion nützliche Diamanten produziert, wird auch der Mensch durch seine Heldentat zu einem „diamantharten“ Wesen; Viertens wird dabei die griechische Mythologie ganz im Sinne von Gor’kijs auf dem ersten Schriftstellerkongress 1934 entfalteten Verständnis antiker Märchen und Mythen angewandt: Der altgriechische Feuervogel „Phönix“, welcher der Legende nach erst durch die Selbstvernichtung sich immer wieder neu regeneriert, wird als der kreative Wunschtraum antiker Menschen gedeutet, um sich gegen die Natur zu behaupten, der in den sowjetischen Panzern endlich Realität geworden ist; Und fünftens werden hier klassische Topoi der westlichen Abenteuerliteratur, wie der auf einer einsamen Insel forschende verschrobene Wissenschaftler (wie H.G. Wells Dr. Moreau) oder gestrandete Reisende (wie Daniel Defoes Robinson Crusoe), als anachronistische und äußerst gefährliche Forscher- und Abenteurerfiguren verworfen, die das Kollektiv der Panzerfahrer durch das Flammenmeer zurück in die sowjetische Wirklichkeit holt. Genau diese, hier erstmals programmatisch vorgeführte Neukonzeption der Wissenschaftlichen Fantastik sollte Vladimir Nemcov ein paar Jahre später im Rahmen der „wissenschaftlichkünstlerischen“ Literatur versuchen allgemeinverbindlich durchzusetzen, wie in den folgenden beiden Kapiteln gezeigt wird.
546 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
14. A s c h en p u t t e l v e r l ä s s t d en B a ll – Di e Du r c h s e t z u n g w i s s e n scha ft lichk ü n s tle r i s c h e r L i t e r a t u r 1 „Ich erinnere mich an einen Artikel in der ‚Literaturnaja gazeta‘, der weder aus der Feder von Orlov noch von Il’in kam, über Wissenschaftliche Fantastik unter dem Titel ‚Aschenputtel‘. Was für ein, zum Teufel, Aschenputtel! Eine schlimmere Literatur gibt es nicht, niemand kann schreiben!“ (Igor’ Chalturin, 1946)1
Als der Verlagslektor, Wissenschaftspopularisator und Parteigenosse Igor’ Chalturin in einer internen Aussprache im Schriftstellerverband Ende Oktober 1946 seinen Frust über die Wissenschaftliche Fantastik äußerste, die sich – wie sie Aleksandr Beljaev 1938 in einem Artikel für die Literaturnaja gazeta apostrophiert hatte – als Aschenputtel geriere, aber nicht die entsprechende Qualität aufweise, stand diese Äußerung auch im engen Zusammenhang mit den ZK-Beschlüssen zu den Literaturzeitschriften Zvezda und Oktjabr’ vom August desselben Jahres. Denn es ging nun darum, wie man sich in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur zu diesen Vorgaben verhielt, die eine sehr viel stärkere Regulierung und Uniformierung der gesamten Literaturproduktion intendierten als es während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Fall gewesen war. Handlungsbedarf sah Chalturin vor allem im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik, die zwar ungeahnte Aufmerksamkeit erfahren, aber keinerlei akzeptable Resultate hervorgebracht habe: „Wenn ein Buch nicht der wissenschaftlich-fantastischen Literatur zugehört, würde man über es gar nicht reden. Im Gegenteil, es gibt ein sehr gönnerhaftes Verhalten. Sie können kein einziges Buch nennen, das man nicht bemerkt hätte. Jede Erscheinung, jeder frische Gedanke wird umgehend aufgegriffen, wird zum Gegenstand von irgendeinem Gespräch. Was ist das für eine ewige Manier sich als Aschenputtel darzustellen, wenn die Menschen ihre Vorzüge nicht richtig nutzen, die andere nicht genießen. Man muss sich das abgewöhnen.“2 1
„Я помню статью в ‚Литературной газете‘, которая принадлежала ни Орлову ни Ильину, о научнофантастической литературе под названием ‚Золушка‘. Какая, к чeрту, Золушка! Хуже литературы не бывает, никто писать не умеет!“ So Chalturin auf einer Diskussion zur wissenschaftlich-künstlerischen
Literatur im Oktober 1946, vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 24. 2
„Если бы книга не принадлежала к научно-фантастической литературе, о ней разговаривать бы не
стали. Наоборот, существует очень покровительное отношение. Вы не можете назвать ни одной книги, которая не была бы замечена. Каждое явление, каждая свежая мысль непременно подхватывается, является предметом какого-то разговора. Что это за вечная манера представляться Золушкой, когда люди неправильно пользуются благами, которыми другие не пользуются! Надо от этого отвыкнуть.“ Ebd., l. 24.
Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur | 547
Diese Zeit der falsch genutzten Wohltaten wollte die Sektionsleitung beenden, indem man im Sinne von Il’in und Orlov – auf die ich noch zu sprechen komme – die Wissenschaftliche Fantastik wieder in die „richtige“ Richtung der wissenschaftlich-künstlerischen Wissenschaftspopularisierung brachte. Allerdings änderte sich de facto an dem von Chalturin diagnostizierten Zustand wenig, wie in den beiden vorangegangenen Kapiteln dargestellt wurde. Die wenigen Autoren des Genres schrieben weiter im Stil der wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur oder folgten dem von Kirill Andreev proklamierten Konzept des „Großen Wunschtraums“. Die Kritiker und Sektionsmitglieder ließen dem Genre weiter ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen, indem man die meisten Werke als ideologische „Abwege“ und „hinkende“ Wunschträume verwarf, während die „ernsthafte“ literarische Öffentlichkeit sie mit Ausnahme von Ivan Efremovs Prosa weiterhin so gut wie nicht beachtete. Dass diese vornehmlich intern geäußerten Kritiken die ersten Jahre bis 1949 kaum Konsequenzen für die Publikationspraxis nach sich zogen, hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen lag es daran, dass der Aufgabenbereich und die Einflussmöglichkeiten der neu gegründeten Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur für die Beteiligten anfangs noch unklar waren. Zum anderen war die Sektion durch ihre eindeutige thematische Ausrichtung auf die Wissenschaftspopularisierung nicht nur von literaturpolitischen Entscheidungen abhängig, sondern musste auch den Ansprüchen der unterschiedlichen mit den exakten Wissenschaften befassten Institutionen und Organisationen genügen. Diesen aber wurde in der Nachkriegszeit eine außerordentliche politische Bedeutung beigemessen, was sich vor allem in einem erhöhten ideologischen Druck auf die Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung und Fragestellungen niederschlug. Doch während im Bereich der Belletristik mit dem Sozialistischen Realismus ein „bewährtes“ und kanonisiertes ideologisches Handwerkszeug vorhanden war, mit dem die zuständigen Funktionäre und Zensurinstanzen den Literaturbetrieb innerhalb kurzer Zeit uniformieren konnten, war die Lage in den Naturwissenschaften längst nicht so eindeutig. Manche Wissenschaftshistoriker haben die nach dem Krieg vorgenommene stärkere Ideologisierung der exakten Wissenschaften daher auch als „Wissenschaftskriege“ („Science wars“), andere als „Spiele der Stalinschen Demokratie“ („Games of Stalinist democracy“) bezeichnet.3 Auch wenn die Metaphoriken von Krieg und Demokratie deutlich divergierende Bewertungen implizieren, ist beiden Charakterisierungen doch gemeinsam, dass sie die Möglichkeit wenn auch stark reglementierter, so doch kontroverser Positionen innerhalb des wissenschaftlichen Feldes beschreiben, eine Möglichkeit, die für das Feld der Literatur seit August 1946 kaum noch gegeben war.4 3
Vgl. Kojevnikov, Alexei: Games of Stalinist Democracy. Ideological Discussions in Soviet Sciences, 1947– 52, in: Fitzpatrick, Sheila (Ed.): Stalinism. New Directions, London/New York 2000, S. 142–175; Pollock: Stalin and the Soviet Science Wars.
4
Was den konkreten Ablauf dieser Auseinandersetzungen anbelangt, überließ man dies weitgehend den betroffenen Wissenschaftsdisziplinen, gab aber seitens der Parteileitung immer wieder durch Zeitungsartikel und Konferenzbeiträge Vorschläge und Hinweise, in welche Richtung man die Debatte gerne
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Diese Wissenschaftsdebatten konnten sich oft jahrelang hinziehen, wurden aber alle gegen Ende der vierziger Jahre beendet, indem man seitens der Parteileitung einer Richtung den Vorzug gab, die von nun an die Diskurshoheit innehatte.5 Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, werden auch die recht widersprüchlichen Befunde hinsichtlich der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur verständlicher, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben worden sind. Einerseits war sie seitens der Leitung des Schriftstellerverbandes dem Uniformierungsdruck im Feld der Literatur ausgesetzt, andererseits aber wurde sie immer wieder mit Wissenschaftlern und Wissenschaftsautoren konfrontiert, die sehr viel selbstbewusster auf einer relativen Eigenständigkeit der Wissenschaftspopularisierung beharrten. Diese Überschneidung zweier Diskursfelder bescherte der so oft als Aschenputtel der Literaturkritik bezeichneten Wissenschaftlichen Fantastik in den Jahren 1946 bis 1949 eine erhöhte Aufmerksamkeit, führte aber auch Infolge der „Demokratiespiele“ zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Sektion. Erst mit ihrer Reorganisation Ende der 1940er Jahre konnte sie zumindest auf der Oberfläche ins ruhige Fahrwasser der Literatur der „Konfliktlosigkeit“ gebracht werden. Diese Unschärfen im Verhältnis von Literatur und Wissenschaften, deren Klärung wesentlich sein sollte für ein neues Verständnis der Wissenschaftlichen Fantastik in den letzten Jahren der Stalinzeit, werden in diesem Kapitel etwas eingehender vorgestellt, um zu zeigen, wie vielschichtig und für die Akteure häufig auch unübersichtlich die in diesem Bereich zu Tage tretenden Konflikte sich gestalteten. Im ersten Abschnitt wird der Frage nachgegangen, wie sich die Reorganisation der Sektion 1948/49 auf der Ebene der Akteure darstellte, wobei es nicht so sehr um einen Konflikt zwischen Fantastikschriftstellern und Wissenschaftspopularisatoren ging, sondern neben prinzipiellen Differenzen vor allem auch ein Generationskonflikt zum Ausdruck kam (Abschnitt 14.1. Der Wunschtraum der Ingenieure). Diese Differenzen kreisten auf inhaltlicher Ebene um die Frage der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Sachverhalte: Kam der Wissenschaftspopularisierung, der ideologischen Einbindung wissenschaftlicher Aussagen oder der künstlerischen Formgebung vorrangige Bedeutung zu? In diesen Differenzen
gelenkt hätte. Nahm die Umsetzung der Prämissen eine von der Partei als falsch beziehungsweise gefährlich eingeschätzte extreme Richtung, konnte die politische Einflussnahme, wie in dem berühmten Beispiel der an dem Linguisten Nikolaj Marr orientierten Konzeption der Sprachwissenschaften, sogar soweit gehen, dass Stalin persönlich sich in die Auseinandersetzungen einmischte. Andere grundsätzliche Neuausrichtungen von Wissenschaftsdisziplinen, wie beispielsweise Lysenkos allmählicher Aufstieg zum Hauptideologen des „Schöpferischen Darwinismus“ und der „Mičurinschen Biologie“, wurden hingegen gefördert. 5
Zwar spielten, was den Ablauf der einzelnen Debatten anbelangt, in jeder Disziplin unterschiedliche Faktoren eine Rolle, doch grundsätzlich lässt sich beobachten, dass in den für die Rüstungsbetriebe und Großindustrie wichtigen Wissenschaftsbereichen, wie der Physik oder der Chemie, die Ideologisierung sehr viel harmloser für die konkrete Forschung ausfiel als in anderen für die konkrete Anwendung relativ unbedeutenden Bereichen, wie beispielsweise bei dem Kampf gegen die „bürgerliche Pseudowissenschaft“ Kybernetik, deren ursprüngliche interdisziplinäre Ausrichtung ja tatsächlich eher einen theoretischen Überbau als ein anwendungsbezogenes Forschungsprogramm darstellte.
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äußerte sich auch ein den Populärwissenschaften seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert zugrunde liegender Widerspruch zwischen Weltanschauung und Objektivitätsanspruch, der nun einer eindeutigen Lösung zugeführt werden sollte (Abschnitt 14.2. Das Phantasma der Belletrisierung). Auf diskursiver Ebene der künstlerisch-wissenschaftlichen Narrative machten sich diese inhaltlichen Differenzen insbesondere an der Darstellung der „Natur“ fest. Denn dem seit den 1930er Jahren weltanschaulich und wissenschaftstheoretisch etablierten – in dieser Studie schon mehrmals beschriebenen – Naturbegriff hatte sich verstärkt durch die antideutsche Kriegspropaganda eines patriotischen Heimatbegriffs ein gegensätzliches Narrativ untergeschoben. Dieses Narrativ stellte dem „konstruktivistischen“ Terminus eine eher „essentialistische“ Notation entgegen, die man nun versuchte mit dem 1948 beschlossenen „Stalinplan zur Umgestaltung der Natur“ entgegenzuwirken (Abschnitt 14.3. Die Eroberung der Natur). Erst das Zusammenspiel all dieser Faktoren – der Generationswechsel, der revidierte Populärwissenschaftsbegriff und die Ausrufung des Stalinplans – legte die Grundlage für die Durchsetzung eines neuen Fantastikbegriffs, wie er dann im anschließenden, letzten Kapitel 15 beschrieben wird. Den von Chalturin beklagten Aschenputtel-Status hatte die Wissenschaftliche Fantastik damit endgültig verloren.
14.1 Der Wuns chtraum d e r Ing e n i e u r e – D i e R e o r g a n i sa ti o n der S e k tion 6 „Als ich hierher kam, habe ich nicht gedacht, dass im Schriftstellerverband eine Diskussion über die Frage der wissenschaftlich-fantastischen Literatur sich in einen Kampf verwandeln kann. Heute geht, wie mir scheint, hier ein Kampf vor sich.“ Lev Lin’kov (1949)6
Nachdem noch vor Ende des Großen Vaterländischen Krieges im April 1945 die neue Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur euphorisch mit dem Vortrag von Kirill Andreev zur Lage der Wissenschaftlichen Fantastik eröffnet worden war, traten schon bald die alten Konfliktlinien aus der Vorkriegszeit wieder offen zu Tage und verschärften sich zu einem jahrelang andauernden Machtkampf. Hinzu kamen die genannten Unklarheiten im Feld der Wissenschaften, in dem für die einzelnen Disziplinen die ersten Jahre oft noch recht undeutlich war, welche 6 „Когда я шел сюда, я не предполагал, что в Союзе писателей обсуждение вопроса о научно-
фантастической литературе может превратиться в борьбу. Сегодня, как мне представляется, у нас происходит борьба.“ RGALI, f. 361, op. 22, ed. 22, l. 65.
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Richtung sich letztlich durchsetzen würde, so dass man unterschiedliche Impulse und Ratschläge seitens der wissenschaftlichen Experten bekam. Gleichzeitig war die Sektion aber gerade dazu da, eben diese sich im „Kriegszustand“ befindlichen Wissenschaften „künstlerisch“ zu popularisieren und ideologisch auf eine uniforme Linie im Sinne der Ždanovschen Kulturpolitik zu bringen. Entsprechend bestand – ihrem im Statut festgeschriebenen Selbstverständnis nach – die Hauptaufgabe der Sektion darin, die Zusammenarbeit zwischen den Öffentlichkeitsabteilungen der Wissenschaftsinstitutionen, den Redaktionen der Verlage, Zeitschriften und Tageszeitungen sowie den im Bereich der Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftlichen Fantastik tätigen Autoren zu optimieren und inhaltlich zu koordinieren. Insbesondere ging es darum, für die einzelnen Disziplinen und Themenfelder neue Autoren bei Zeitschriften und Verlagen zu etablieren, ihnen Kontakte zu den Wissenschaftsorganisationen zu verschaffen und sie vor allem inhaltlich zu unterweisen. Ziel dieser Koordinationsarbeit war es, ein den aktuellen politischen Anforderungen gemäßes Propagandamaterial zu liefern, das sowohl unter jugendlichen als auch unter erwachsenen Lesern Interesse am Thema erweckt und Nachschub für die wissenschaftlichtechnische Intelligenz des Landes rekrutiert.7 Um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigte man anfangs ein „dickes Journal“ für wissenschaftlich-künstlerische Literatur zu etablieren, da es für Wissenschaftsautoren nahezu unmöglich sei, in den „dicken“ Literaturzeitschriften wie Novyj mir, Znamja oder Zvezda unterzukommen, während andererseits prominentere Schriftsteller sich weigerten in den populärwissenschaftlichen „dünnen Journalen“ wie Vokrug sveta, Znanie – sila oder Technika – molodeži zu schreiben. So hätten beispielsweise die wichtigsten Autoren wissenschaftlich-künstlerischer Literatur von Anfang der dreißiger Jahre, Konstantin Paustovskij und Michail Il’in, seit Jahren nichts mehr in den dünnen Zeitschriften publiziert.8 Diesen Plan gab man aber nach fünf Jahren resigniert wieder auf, vor allem weil man nicht genug Personen fand, die solch ein „dickes Journal“ aufbauen und regelmäßig beliefern hätten können. Denn die circa 30 Autoren, die in dem Bereich arbeiteten, waren vollständig damit ausgelastet, die bestehenden drei populärwissenschaftlichen Zeitschriften so wie die Verlage mit Texten zu beliefern. Neue Autoren konnte man kaum hinzu gewinnen. 7
So forderte das Mitglied des Büros der Sektion, Oleg Pisarševskij, in einem Rechenschaftsbericht über die bisherige Arbeit der Sektion Ende 1946, dass man unbedingt mehr Leser gewinnen müsse. Es gelte die Vorgaben des laufenden Fünfjahresplans zu erfüllen und man solle versuchen in den nächsten Jahren eine halbe Million neue Studierende für die technischen und Ingenieurswissenschaften zu gewinnen. Vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 8.
8
Vgl. die interne Diskussion im Januar 1947 über die Ergebnisse des Jahres 1946 und die darin angestellten Überlegungen, eine neue „Massenzeitschrift“ zu schaffen, die sich an der in den Vorkriegsjahren unter der Redaktion von Feliks Jakovlevič Kon (1864–1941) erschienenen „Über die Natur, die Reichtümer und den sozialistischen Aufbau in der UdSSR informierenden Monatszeitschrift“ („ Ежемесячный журнал, знакомящий с природой, богатствами и социалистическим строительством в СССР“) Naša strana (Unseres Land, 1937–1941) orientieren könne, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 16, l. 1–18.
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Dieser Personalmangel war jedoch nicht nur einem Nachwuchsproblem geschuldet, sondern hatte auch mit der inneren Verfasstheit der Sektion und dessen Leitungsbüro zu tun. So zog der Wissenschaftsautor Aleksandr Popovskij bei einer Aussprache über die Sektionsarbeit bereits im Oktober 1946 eine vollkommen desillusionierte Bilanz: „Die ganze Arbeit der Sektion war so abstoßend, die Leitung so sehr nicht vorhanden, und alles war so ungut, dass man einfach nicht mehr hierher kommen wollte. Ich werde nicht viel Worte machen, sonst wäre das respektlos gegenüber dem Büro (das ich allerdings nicht gewählt habe)./ Die Sektion hat natürlich nichts getan und konnte auch nichts tun aus dem einfachen Grund, dass es seiner Leitung erstens vollkommen an Autorität fehlte, und zweitens weil die Leitung sich mit ihren eigenen Dingen und nicht mit den Angelegenheiten der Sektion befasste, und drittens beschäftigte sie sich nur damit, sich gegenseitig zu bekämpfen. Heute haben wir erfahren, dass ein Mitglied der Leitung dem anderen etwas in den ‚Izvestija‘ ausgewischt hat, und am zweiten Tag erfahren wir, dass man einem anderen etwas in der ‚Literaturnaja gazeta‘ ausgewischt habe. Dabei hat alles damit angefangen, dass buchstäblich vom ersten Tag an deutlich war, dass die Sektion uneinheitlich ist, das heißt es gibt die Genossen Il’in, Pisarževskij, Michajlov und Kazancev, die offensichtlich eine gemeinsame Gruppe darstellen, und dann gibt es die andere Gruppe. [...] Gumilevskij und Safronov – das ist die Verteidigergruppe, und die Gruppe, die ich vorher nannte, das ist die Angreifergruppe.“9
Diese hier von Popovskij in aller Deutlichkeit benannte Spaltung der Sektion stellte in der Tat ein wesentliches Charakteristikum ihrer Tätigkeit dar, das bis zum Ende des Untersuchungszeitraums seine Gültigkeit behielt, wobei die „angreifende Gruppe“ das Schicksal der Wissenschaftlichen Fantastik maßgeblich bestimmen sollte. Deren Leiter war formal gesehen Nikolaj Nikolaevič Michajlov (1905–1998), der 1945 vom Führungsgremium des Schriftstellerverbandes zum Sektionsleiter bestimmt wurde und dies bis 1950 auch blieb. Michajlov hatte seit 1933 eng mit Gor’kij in dessen Zeitschrift Naši dostiženija mitgearbeitet, bereits 1933 den Terminus einer „Neuen Geografie“ geprägt (vgl. Abschnitt 7.1) und wurde insbesondere in der Nachkriegszeit mit Werken wie Die russische Erde (Земля русская, 1946), Die Weiten und Reichtümer unserer Heimat (Просторы и богатства нашей 9
„Вся работа секции была настолько отвратительно, руководство настолько не на своем месте, и все
было так нехорошо, что просто не хотелось сюда ходить. Я не буду многословен, потому что иначе это было бы непочтительно к бюро (которое я, правда не выбирал)./ Секция, конечно, ничего не сделала, и сделать не могла по одной простой причине, потому что руководство ее было во первых, глубоко не авторитетно, и во вторых руководство занималось больше делами своими, а не делами секции и в третьих, занимались тем, что дрались друг с другом. Сегодня мы узнавали, что один член руководства лягнул другого в ‚Известиях‘, а на второй день мы узнавали, что лягнули другого в ‚Литературной газете‘. Причем началось с того, что буквально с первого дня выяснилось, что секция неоднородна, то есть т.т. Ильин, Писаржевский, Михайлов, Казанцев, это очевидно группа одного порядка, и есть группа другого порядка. [...] Гумилевский и Сафронов – это группа защищающаяся, а группа, которую я упоминал раньше, это – группа нападающая.“ RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 16.
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родины, 1946) oder Auf der Karte der Heimat (Над картой Родины, 1947) gewissermaßen zum
offiziellen Geografen der Sowjetunion. Eigentlicher Inspirator und Leitfigur der Sektion war aber der seinerzeit von Gor’kij und Maršak protegierte Begründer der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur, Michail Il’in, der sich in den Diskussionen zwar nur selten zu Wort meldete, dessen in den 1930er Jahren geschriebene Werke aber in fast allen Initiativen der Sektionsleitung als Vorbild propagiert wurden. Für die praktische Alltagsarbeit war im Bereich der Wissenschaftspopularisierung der ehemalige Generalmajor Oleg Nikolaevič Pisarževskij (1908–1964) zuständig, der aufgrund seiner Redakteurstätigkeit bei Technika – molodeži und später bei Znanie – sila einen gewissen Einfluss ausüben konnte.10 Hinsichtlich der Wissenschaftlichen Fantastik trug der ehemalige Oberst Aleksandr Kazancev die Verantwortung.11 Neben dieser Kerngruppe gehörte zu den „Angreifern“ aber auch der leitende Redakteur von Technika – molodeži, Vladimir Ivanovič Orlov (1916–1974), der ebenfalls ein Protegé Il’ins war und als Mitglied des Sektionsbüros zum engeren Kreis von Michajlovs Gruppe zählte.12 In der Redaktion des dritten zentralen populärwissenschaftlichen Journals, Vokrug sveta, waren mit Michajlov und Kazancev gleich zwei zentrale Protagonisten der „Angreifer“ vertreten. Nachdem Il’in sich auch aufgrund einer schweren Krankheit 1947 weitgehend aus der Sektionsarbeit zurückzog, übernahm neben Pisarževskij vor allem der Wissenschaftsautor Viktor Aleksandrovič Sytin (1907–1989) die ideologische Ausrichtung der „Angreifergruppe“.13 In den Verlagsredaktionen hatte die Gruppe hingegen kaum „eigene“ Leute, auch im Bereich der Literaturkritik hatte sie lediglich in der Wissenschaftsredaktion der Literaturnaja gazeta Sympathisanten, während sie in den „dicken Journalen“ eher auf große Vorbehalte traf. Die Dominanz dieser Gruppe ergab sich jedoch nicht nur aufgrund des literaturpolitischen Rückhalts in der Leitung des Schriftstellerverbandes, sondern auch aus der Mitgliederstruktur 10 Pisarževskij
hatte erst 1944 begonnen zu schreiben mit zwei offiziellen Biografien der Akademiker Kapica und Krylov, vgl. RGALI, f. 631, op.22, ed. 5, l. 51; Ebd., ed. 7, l. 5.
11
Für Angaben zu Kazancevs Biografie ist man – wie für die Vorkriegszeit auch – vor allem auf dessen eigene Auskünfte angewiesen, wonach er offensichtlich aufgrund seiner ingenieurswissenschaftlichen Kenntnisse und politischen Zuverlässigkeit während des Krieges in einer Sonderkommission tätig war, die hinter der Front für die Sowjetunion geheime Rüstungs- und Industrieprojekte der Deutschen sichern sollte, wodurch er beispielsweise auch mit der deutschen V2-Rakete zu tun hatte. Nach dem Krieg leitete er im besetzten Österreich als Vorsitzender die Kommission zur Demontage der Industrieanlagen, ehe er sich nach deren Auflösung wieder seinen literarischen Vorlieben zuwandte, vgl. Kazancev; Kazancev: Fantast (Bd. 1), S. 427ff.
12 Il’in
und Orlov arbeiteten im Büro der Sektion eng zusammen, im September 1947 hielten sie beispielsweise einen gemeinsame Vortrag zu 30 Jahren wissenschaftlich-künstlerischer Literatur, vgl. das Protokoll der Sektionssitzung vom 27.09.1947, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 15, l. 1.
13
Sytin stieg nach der Reorganisation der Sektion 1949 auch zu einem der stellvertretenden Vorsitzenden des Büros auf. 1952 veröffentlichte Sytin seinen einzigen wissenschaftlich-fantastischen Kurzroman, Die Bezwinger der ewigen Stürme (Покорители вечных бурь), der zuerst in Technika – molodeži in Fortsetzungen erschien, ehe Detgiz ihn 1955 auch als Buch veröffentlichte, vgl. Berežnoj; Borisov: Bibliografija.ru; Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 546.
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der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur. Denn von der Anzahl her stellten in der Sektion von Anfang an diejenigen Autoren, Redakteure und Kritiker die große Mehrheit dar, die im populärwissenschaftlichen Bereich arbeiteten. Entsprechend war in den ersten Jahren im Leitungsbüro der Sektion neben fünf bis sieben Wissenschaftsautoren, zwei bis vier prominenten Naturwissenschaftlern sowie zwei bis drei Wissenschaftsredakteuren aus den Verlagen und Zeitschriften lediglich Aleksandr Kazancev als einziger Fantastikschriftsteller vertreten. Die „Verteidiger“ stellten hingegen keine homogene Gruppe dar, sondern umfassten eigentlich alle übrigen Sektionsmitglieder, die aus unterschiedlichen Motiven in verschiedenen Konstellationen ihre „Abwehrkämpfe“ führten. So gab es Wissenschaftsautoren wie Lev Ivanovič Gumilevskij (1890–1976) oder Aleksandr Danilovič Popovskij (1897–1982), die schon seit Jahrzehnten in dem Bereich arbeiteten, Akademiemitglieder wie Aleksandr Oparin und Vladimir Obručev, denen vor allem an der Popularisierung ihrer Disziplin gelegen war, und Fantastikschriftsteller wie Grigorij Adamov und Sergej Beljaev, die insbesondere um die Ende der 1930er Jahre durchgesetzten Gestaltungsmöglichkeiten einer „wissenschaftlich-fantastischen Abenteuerliteratur“ kämpften. Hinzu kamen die einflussreichen Kritiker der 1930er Jahre, Aleksandr Ivic und Jakov Rykačev, die ebenfalls Mitglieder des Sektionsbüros waren und mit vielen ihrer Thesen Il’ins Gruppe sehr nahe standen, aber wenig Einfluss hatten und aufgrund der antisemitischen Kampagne gegen Kosmopolitismus 1949 dann als Juden kaum mehr in Erscheinung traten.14 Gemeinsam war diesen Sektionsmitgliedern lediglich, dass sie zumeist schon länger, oft bereits seit den 1920er Jahren in ihrem Bereich arbeiteten, während die „Angreifer“, bis auf Il’in und Michajlov, erst seit kurzem zu schreiben angefangen hatten, meist von der Ausbildung her Ingenieure waren und übereinstimmten in der Befürwortung der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ als verbindliches ästhetisches Programm.15 Damit zeichnete sich in der Sektion 14
Allerdings verlief die Kampagne im Bereich der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur relativ harmlos. So konnte ein Artikel in der Pravda im Oktober 1949 zwar verkünden: „Die Partei hat die antipatriotische Gruppe der kosmopolitischen Kritiker entlarvt: Die Unterwürfigkeit vor dem Ausland wird von unserem Volk hart verurteilt. Gegen das Auftreten der Unterwürfigkeit in der sowjetischen wissenschaftlich-fantastischen Literatur haben wir noch nicht den nötigen Widerstand geleistet.“ („Партия разоблачила антипатриотическую группу критиков-космополитов: низкопоклонство перед заграницей сурово осуждено нашим народом. Но проявления низкопоклонства в советской научнофантастической литературе еще не получили должного отпора.“) Ševčenko, Vladimir: Iskat’ i nacho-
dit’. Za vysokuju idejnost’ i chudožennost’ v naučno-fantastičeskoj literatury, in: Komsomol’skaja pravda (08.10.1949), S. 2; Auffällig an dieser Meldung war jedoch, dass keine Namen genannt wurden, und tatsächlich musste sich einzig Ivič intern im Schriftstellerverband gegenüber dem Vorwurf des Formalismus verantworten, weil er sich in einem 20 Jahre alten Werk positiv auf den amerikanischen Mikrobiologen Paul de Kruif (1890–1971) bezogen habe. Und selbst diese Kritik wurde nach einer Aussprache mit ihm abgemildert. Vgl. die Protokolle der Sektionssitzungen vom 15.05.1949 und 12.05.1949, RGALI, f. 361, op. 22, ed. 21, l. 6–9. Rykačev hingegen trat im Unterschied zur Vorkriegszeit kaum mehr als Kritiker in Erscheinung, blieb aber die ganze Zeit über Mitglied des Sektionsbüros, vgl. RGALI 631, 22, 43, l. 2ff. 15
Schon in der ersten Sektionssitzung stellte man die Aufgabe, die Problematik der wissenschaftlichkünstlerischen Literatur herauszuarbeiten, vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 20.03.1945,
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ein Generationswechsel ab, wie er in anderen Gesellschaftsbereichen – forciert durch Säuberungen und den Großen Terror – bereits in den dreißiger Jahren stattgefunden hatte, bei dem die oft noch in der Vorrevolutionszeit sozialisierte „alte“, eher kulturell geprägte „Intelligenz“ durch eine neue Generation der „Aufsteiger“ (выдвиженцы) abgelöst wurde, die vornehmlich aus der so genannten „technischen Intelligenz“ kam. Deren literatur- und wissenschaftspolitische Vorstellungen trafen jedoch nicht nur bei den Fantastikschriftstellern, sondern auch bei vielen älteren Wissenschaftsautoren auf breiten Widerstand. Die Folge war, dass sich die bekämpfenden Seiten gegenseitig blockierten. Dies machte die Arbeit des Sektionsbüros äußerst uneffektiv, da es sich in inneren Konflikten aufrieb, während die eigentliche Publikationstätigkeit immer wieder behindert wurde. Daher beklagten die für Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftliche Fantastik unter jugendlichen Lesern zuständigen Verlage Molodaja gvardija und Detgiz regelmäßig, dass ihnen entsprechende Werke fehlen. Molodaja gvardija konnte für ihren Arbeitsplan 1948/1949 beispielsweise nur zwei „wissenschaftlich-künstlerische“ Werke vorschlagen, wissenschaftlich-fantastische Neuerscheinungen hatte er mangels Angebot gar nicht im Programm.16 Kazancev konnte für die Wissenschaftliche Fantastik in den ersten Jahren nur drei neue Autoren rekrutieren, wobei er sich – wie dargestellt – mit dem Biologieprofessor Studitskij einen Fehlgriff leistete. Auch die beiden jungen Ingenieure Vladimir Nemcov und Vadim Ochotnikov fanden vor ihren älteren Schriftstellerkollegen und den Kritikern anfangs keine Gnade und entwickelten sich erst dank der massiven Förderung der Sektionsleitung seit Ende der 1940er Jahre zu den Hauptprotagonisten für die Reorganisation der Wissenschaftlichen Fantastik. Auf diese Ineffektivität und Zerstrittenheit der Sektion reagierte das Sekretariat des Schriftstellerverbandes im November 1948, indem es der Sektion einen neuen verantwortlichen Sekretär zuteilte, das Parteimitglied Michail Lejbovič Zlatogorov (1909–1968), und deren bisherige Leitung zwang, einen ihrer stärksten Opponenten, Popovskij, im Büro zu „kooptieren“.17 Unter RGALI, f. 631, op. 22, ed. 1, l. 1–3; Im Dezember 1945 hielt Il’in einen programmatischen Vortrag zur wissenschaftlich-künstlerischen Literatur, vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 01.11.1945, Ebd. ed. 1, l. 11; Anfang April 1946 bevollmächtigte man Il’in nach außen im Namen der Sektion aufzutreten und setzte die Problematik der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur erneut zur internen Besprechung am 26.04.1946 auf die Tagesordnung, vgl. ebd., ed. 8, l. 1; Pisarževskij hielt am 15.05.1946 einen Vortrag zum gleichen Thema und plante bei Technika – molodeži eine eigene Rubrik zu wissenschaftlich-künstlerischer Literatur einzurichten, vgl. ebd., ed. 7, l. 5f.; Im ersten Quartal 1947 hielten Pisarževskij am 20.01. zur wissenschaftlich-künstlerischen Skizze und Andreev am 05.03. zur wissenschaftlich-künstlerischen Literatur im Westen Vorträge, doch danach scheint die Arbeit des Sektionsbüros in diese Richtung bis zum Kurswechesel Ende desselben Jahres nachzulassen, vgl. der Rechenschaftsbericht zur Sektionsarbeit des Jahres 1947 vom 15.12.1947, Ebd., ed. 14, l. 1–17. 16
Vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 17.12.1947 über das geplante Verlagsprogramm von Molodaja gvardija für die Jahre 1948 und 1949, RGALI, f. 631, op. 22, ed.15, l. 7–9; Auf den Vorwurf, der Verlag würde die Wissenschaftliche Fantastik vernachlässigen, antwortete die Verlagsvertreterin, dass dies nicht stimme, man aber schlicht keine Autoren habe finden können, vgl. ebd., l. 9.
17
Vgl. das Sitzungsprotokoll des Sektionsbüros vom 3.11.1948, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 18, l. 4.
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diesem neuen Sekretär wurden Einzelaussprachen mit allen Autoren arrangiert und man verschärfte die ideologische Arbeit.18 Um den Neuanfang auch ideologisch abzusichern, engagierte man erneut Kirill Andreev als assoziiertes Mitglied des Sektionsbüros, der im Januar 1949 im Zentralen Haus des Literaten einen öffentlichen Vortrag zur Lage der „wissenschaftlich-fantastischen Literatur des Jahres 1948“ hielt. Zu diesem Vortrag hatte man gezielt Autoren auch aus anderen Städten eingeladen, um in der anschließenden Aussprache den eingeleiteten Richtungswechsel nach den „Regeln“ der Stalinistischen „Demokratiespiele“ auch öffentlich abzusichern.19 In seiner Rede verwies Andreev zum einen auf die enormen Fortschritte gegenüber dem Zustand der Wissenschaftlichen Fantastik vor zwanzig Jahren – das heißt während des ersten Fünfjahresplans Ende der zwanziger Jahre –, als „einige Enthusiasten dieses Genres [...] sich in Privatwohnungen versammelten, fast im Geheimen, und beinahe im Flüsterton einander ihre Werke vorlasen.“20 Zum anderen betonte er, dass man sich heute zwar noch im Stadium der „Laborversuche“ („лабораторных испытаний“) befinde,21 aber schon die ersten Züge einer neuen Wissenschaftlichen Fantastik erkennbar seien, auch wenn die zehn von ihm für seinen Vortrag analysierten Werke insgesamt unbefriedigend blieben. Deswegen müsse es jetzt einen riesigen qualitativen Sprung geben, um das Genre noch zu retten: „Das Genre der Wissenschaftlichen Fantastik befindet sich in so einem Zustand, dass man, um es zu retten, einen riesigen Sprung machen muss – nicht einen quantitativen, sondern einen qualitativen. Man muss das Genre im Wesentlichen neu schaffen und zwar nur dahingehend, dass man die Aufgaben löst, vor denen wir heute stehen.“22
18
Vgl. die Sitzungsprotokolle von Februar bis April 1949, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 21, l. 1–7.
19
So wurde beispielsweise Lev Uspenskij zur Besprechung seiner Werke von Michajlov und dem neuen Sekretär, Zlatogorov, gezielt zum Termin von Andreevs Vortrag nach Moskau eingeladen, vgl. der Briefwechsel der Sektionsleitung von 1949 RGALI, f. 631, op. 22, ed. 29, l. 3.Siehe ebf. das Protokoll vom 10.1.1949 mit der entsprechenden Beschlussfassung, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 21, l. 1.
20 „Лет двадцать тому назад отдельные энтузиасты этого жанра [...] собирались на часных кватирах,
почти в тайне, и едва ли не шопотом читали друг другу свои произведения.“ RGALI, f. 631, op. 22,
ed. 22, l. 5. Andreev spielte damit auf die Zeit des ersten Fünfjahresplans an, als die Kritiker der RAPP die ersten scharfen Angriffe gegen die Abenteuerliteratur und den sich gerade etablierenden Terminus „Wissenschaftliche Fantastik“ starteten (vgl. Kapitel 5). 21
Ebd., l. 6.
22 „Жанр научной фантастики сегодня находится в таком положении, что для того, чтобы его спасти
нужно сделать огромный прыжок – не количественный, а качественный. Нужно по существу создать этот жанр заново и только в плане решения тех задач, которые перед нами стоят сегодня.“ RGALI, f.
631, op. 22, ed. 22, l. 23.
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Während Andreevs Grundsatzvorträge in den Jahren 1941 und 1945 aber noch visionäre Versuche waren, die „Wissenschaftliche Fantastik“ in den Kanon der sowjetischen Literatur zu integrieren, schien diese Rede eher ein letzter verzweifelter Versuch zu sein, das Genre überhaupt noch als eigenständige literarische Form bewahren zu können, der eher beschwörend als überzeugend klang. So wiederholte Andreev noch einmal die fundamentale Kritik an Studitskij und Palej, die absterbende westliche Abenteuermuster imitierten, indem sie mit einer falschen „Poesie des Ungewöhnlichen“ („с поэзией необыкновенного“) eine „exotische“ fremde Welt schaffen würden, anstatt „unsere gewöhnliche Welt, die Welt, die uns umgibt“ („наш обыкновенный мир, тот мир, который окружает нас“) zu beschreiben.23 In wiederholter Bezugnahme auf lange ŽdanovZitate hob er mehrmals hervor, dass für die Wissenschaftliche Fantastik die gleichen Kriterien zu gelten hätten wie für die übrige Belletristik, was den sozialpolitischen Ideengehalt, die Darstellung der Helden und der „objektiven Wirklichkeit“ anbelange.24 Das aber heiße, anstatt ausgedachte Konflikte oder überdimensionierte Erfindungen zu beschreiben, so nah wie möglich am Leben glaubwürdige Synthesen aus lebendigen Menschen und technisch-wissenschaftlichen Details zu finden.25 In der äußert kontrovers geführten Diskussion zu Andreevs Vortrag kam dann noch einmal die gesamte Frustration über die bisherige Sektionsleitung zur Sprache, wobei in den Stellungnahmen der „angreifenden“ Gruppe um Michajlov, Sytin und Kazancev deutlich wurde, dass sie die bisherige Linie eher noch verschärfen als abschwächen wollten.26 Und in der Tat fällte man drei Wochen nach der Veranstaltung in der Sektionsleitung dann den Beschluss, dass es auf ihr, neben ideologisch richtigen Äußerungen, auch einige „reaktionäre und schädliche Auftritte“ („реакционные и вредные выступления“) vor allem von den anwesenden Leningrader Schriftstellern gegeben habe. Deshalb schickte man zwei Büromitglieder nach Leningrad, um die untragbare Lage in der Ende 1947 gegründeten Filiale der Sektion innerhalb von zwei Wochen in Ordnung zu bringen.27 Auch griff man jetzt erstmals aktiv in die Redaktionsarbeit von Verlagen
23
Ebd., l. 17.
24
„Ich muss unterstreichen, dass für uns bei dem Terminus ‚wissenschaftlich-fantastische Literatur‘ die Betonung auf dem dritten Wort liegt. Wir beurteilen sie als literarische Werke, analysieren vor allem ihre sozialpolitischen Ideen, die Gestaltung der Helden und den Realismus der Offenlegung der objektiven Wirklichkeit.“ („Должен подчеркнуть, что для нас в термине ‚научно-фантастическая литература‘
сегодня ударение стоит на 3-м слове. Мы судим их как литературные произведения, анализируя в первую очередь их социлаьно-политические идеи, образы героев, и реализм раскрытия объективной действительности.“) Ebd., l. 9. 25
Ebd., l. 20ff.
26
Vgl. das Stenogramm der Diskussion in RGALI, f. 631, op. 22, ed. 22, l. 1–90.
27
Vgl. das Sitzungsprotokoll des Sektionsbüros vom 18.2.1948, RGALI, f. 361, op. 22, ed. 22, l. 2.
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und Zeitschriften ein, bei denen es in letzter Zeit „ernsthafte Hintertreibungen“ („ серьезные срывы“) gegeben habe.28 Gleichzeitig beschloss man eine Untersektion für das wissenschaftlich-fantastische Genre zu gründen, deren Vorsitz die Genossen Ochotnikov und Nemcov übernehmen sollten.29 Dieser Beschluss stellte letztlich sogar ein Kompromissergebnis dar, gab es doch einflussreiche Autoren, zu denen auch Michail Il’in gehörte, die die Wissenschaftliche Fantastik für vollkommen überflüssig hielten und sie weiterhin ganz abschaffen wollten.30 So stieg einer der produktivsten und erfolgreichsten Autoren wissenschaftlich-künstlerischer Werke, Genadij Semenovič Fiš (1903– 1971) zu einer „dämonischen Figur“ („демоническая фигура“) auf, da das Mitglied des Sektionsbüros mehrmals nachdrücklich gefordert hatte, die „wissenschaftliche Fantastik zu schließen“ („закрыть научную фантастику“).31 Allerdings konnte die Wissenschaftliche Fantastik im Unterschied zur wissenschaftlich-künstlerischen Literatur weiterhin auf eine große Lesergunst selbst „missglückter“ Werke verweisen, während „wissenschaftlich-künstlerische“ Bücher kaum freiwillige Abnehmer, beispielsweise in den Bibliotheken, fanden. Daher versuchte man das populäre „Genre“ mit dieser Beschlussfassung zu behalten, knüpfte seine Existenzberechtigung im Kanon des Sozialistischen Realismus aber an eine erneute Neuausrichtung. Um hierfür die nötige Autorität zu haben, stieg Vladimir Nemcov noch im selben Jahr zu einem der drei stellvertretenden Vorsitzenden der Sektion auf, Vadim Ochotnikov folgte ihm 1950, so dass erstmals neben dem Vorsitzenden Michajlov und dem ersten Stellvertreter und Chefideologen der Sektion Sytin sich gleich zwei Fantastikschriftsteller in der Sektions-
28
Ebd., l. 3. Schon am 28.12.1948 lud man zusammen mit der Sektion für die literarische Skizze (секция очерка) die leitenden Redakteure der „dünnen Journale“ Ogonek, Smena, Technika – molodeži, Vokrug sveta und Technika – molodeži zu einem Gespräch über das Thema „Wie wir über Wissenschaft und ihre Schöpfer schreiben“ („Как мы пишем о науке и ее творцах“) ein, in dem beschlossen wurde, diese Zeitschriften als Basis für die wissenschaftlich-künstlerische Literatur auszubauen, damit diese an Ansehen gewännen, so dass deren Autoren später auch Chancen bekämen, in den „dicken Journalen“ gedruckt zu werden. Denn es gehe darum, so Michajlov, dafür zur sorgen, dass die Kritik „uns“ überhaupt erst einmal bemerke. Vgl. das Sitzungsprotokoll RGALI, op. 361, op. 22, ed. 18, l. 9–15. Knapp ein Jahr später traf man sich dann mit den Vertretern der Verlage Molodaja gvardija, Detgiz, Gostechizdat und Goskul’tprosvet, um dafür zu sorgen, dass diese der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur mehr Aufmerksamkeit widmeten. Vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 31.10.1949, RGALI, f. 361, op. 22, ed. 25, l. 1–79.
29
Vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 21, l. 2.
30
Vgl. ebd., ed. 18, l. 1–15.
31
So Lev Uspenskij über die über Fiš im Umlauf befindlichen Gerüchte, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 22, l. 39; vgl. auch das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 28.12.1948, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 18, l. 13; Fiš hatte sich bereits 1939 mit dem „realistischen Märchen“ Die schädliche Schildkröte und Telenomus (Вредная черепашка и теленомус) über Lysenko einen Namen gemacht, in der Nachkriegszeit einen weiteren Kurzroman über den Argrarbiologen geschrieben (Die Volksakademie, Народная академия, 1948) sowie den Kurzroman Der steinerne Nadelwald (Каменный бор) verfasst, der von dem heroischen Überlebenskampf einer Kolchose in Karelien während des sowjetisch-finnischen Krieges 1940 handelte.
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leitung befanden.32 Als Michajlov dann Ende Oktober 1950 aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niederlegte, wurde Nemcov einstimmig zum neuen Vorsitzenden der Sektion gewählt.33 Kazancev agierte hingegen weiterhin vor allem im Hintergrund, ohne sich unmittelbar in der organisatorischen Arbeit zu engagieren.34 Die ehemaligen Ingenieure Nemcov und Ochotnikov – auf die ich noch in Kapitel 15 eingehender zu sprechen komme – waren damit am Höhepunkt ihrer Macht angelangt und bekamen nun für die nächsten drei Jahre bis zu Stalins Tod die Möglichkeit, die Wissenschaftliche Fantastik von allen ideologischen Abweichungen zu säubern und nach ihrem Verständnis auf eine neue methodologische Grundlage zu stellen. Das Ergebnis dieser „Ausarbeitung der grundlegenden methodologischen Leitsätze des Genres“ (выработкa основных методологичеких положений жанра)35 aber war eine Literatur, die als „Fantastik des Nahziels“ („ Фантастика ближнего прицела“) in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Es war eine Fantastik, die nicht mehr als ein eigenständiges Genre mit spezifischen künstlerischen Verfahren, sondern als eine thematische Untergruppe der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur konzeptualisiert wurde. Ehe diese im nächsten Kapitel 15 eingehender dargestellt wird, soll daher zuerst in den folgenden beiden Abschnitten ein genauerer Blick auf dieses Gebilde gerichtet werden, in deren unmittelbarem Kontext die Reorganisation der Wissenschaftlichen Fantastik stattfand.
32
Vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 01.03.1950, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 30, l. 7.
33
Vgl. das Sitzungsprotokoll der Sektion vom 30.09.1950, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 30, l. 18, 22.
34
So blieb Kazancev, auch nach der Ernennung Nemcovs und Ochotnikovs zu Leitern der Untersektion für Wissenschaftliche Fantastik und nach deren Wahl zu stellvertretenden Vorsitzenden, im Büro der Verantwortliche für Fragen der Fantastik und für die internen Rezensionen von neuen wissenschaftlichfantastischen Werken, welche entscheidend waren für die Annahme der Manuskripte in den Verlags- und Zeitschriftenredaktionen. Vgl. ebd.
35
Vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 21, l. 2.
Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur | 559
14.2 Das Phantas ma d e r B e lle tri si e r u n g – D i e Id e o lo g i si e r u n g der Wis s ens chafts p o p ula risi e r u n g 36 „In der Literatur, insbesondere [...] in der populärwissenschaftlichen, gibt es wie überall eigene besondere Phantasmen [...]. Zur Zahl solcher literarischen Phantasmen ist vor allem das nicht aussterbende Phantasma zu zählen, dass ein Aufklärungsbuch für die emotionale Wirkung auf den Leser in eine belletristische Form gegossen werden muss. Es ist dafür sogar ein eigener Terminus entstanden – ‚Belletrisierung‘.“ Lev Gumilevskij (1939)36
Das „Phantasma“, dass man aus populärwissenschaftlichen Schriften anspruchsvolle Belletristik „erster Wahl“ machen könnte, bestimmte seit der entsprechenden Forderung von Maksim Gor’kij Anfang der dreißiger Jahre nicht nur die Beschäftigung mit populärwissenschaftlicher Literatur, sondern – wie die Vorkriegszeit gezeigt hat – übte es auch massiven Einfluss auf die Debatten über Wissenschaftliche Fantastik und Abenteuerliteratur aus. Dabei war dieses von Gumilevskij so bezeichnete „belletristische Phantasma“ (беллетристическая фантазма) letztlich ein Erbe der künstlerischen Avantgarden der 1920er Jahre mit ihren diversen Versuchen, eine sujetlose Prosa des Faktes zu schaffen, in der die moderne Welt der Dinge und des industriellwissenschaftlichen Fortschritts dominieren sollte. Doch als der schon seit der Vorrevolutionszeit tätige, prominente Wissenschaftspopularisator Lev Gumilevskij 1939 seine grundsätzlichen Vorbehalte gegen das „nicht aussterbende Phantasma“ artikulierte und dezidiert forderte, dass das populärwissenschaftliche Buch eine Literatur „zweiter“ oder sogar „dritter Wahl“ bleiben solle, war er guter Dinge, dass man dieses Phantasma der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ überwinden werde, hatte sich doch seit 1937 schon die Wissenschaftliche Fantastik ihrem Zugriff entziehen können (vgl. Kapitel 8).37 Denn dieses Phantasma verfälsche die Komplexität der Wissenschaften zugunsten einer oberflächlichen Anschaulichkeit, die der mühevollen Pflicht nicht nachkomme, schwierige Sachverhalte in populärer Form zu erklären und stattdessen die Dinge unzulässig vereinfache.38 Daher gelte es
36 „В литературе, особенно [...] научно-популярной, есть, как и везде, свои собственные фантазмы [...].
К числу таких литературных фантазм следует отнести прежде всего неумирающую фантазму о том, что просветительная книга для эмоциолнального воздействия на читателя должна быть облечена в беллетристическую форму. Появился даже специальный термин – ‚беллетризирование’.“ Gumilevs-
kij, Lev: Neumirajuščaja fantazma, in: Detskaja literatura 8 (1939), S. 22–25. S. 22. 37
Ebd., S. 25.
38
Ebd., S. 23f.
560 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
diese „Belletrisierung“ zugunsten einer Wissenschaftspopularisierung hinter sich zu lassen, die das Schreiben selber als einen „Prozess des Forschens“ („процесс исследования“) begreife:39 „Wir haben auch Bücher, die es wert sind nachzuahmen, wir haben sogar schon eine klare Vorstellung davon, wie unser sowjetisches populärwissenschaftliches Buch aussehen soll. Doch um eine weitere Entwicklung in diese Richtung zu fördern, muss man ein für allemal das belletristische Phantasma überwinden, das die Autoren und Redakteure so leicht und einfach von der Arbeit befreit, das von uns gebrauchte populärwissenschaftliche Buch zu schaffen.“40
Doch Gumilevskij sollte sich – wie dargestellt – geirrt haben. Anstatt die „wissenschaftlichkünstlerische Literatur“ zu begraben, bekam sie sogar eine eigene Sektion, in der die aus der Kinderliteratur kommenden Fantastik-Autoren und die insbesondere auch für Kinder und Jugendliche schreibenden Wissenschaftspopularisatoren vereint wurden. Und das Phantasma gelangte noch einmal zu ungeahnter Blüte, beinhaltete es doch das verheißungsvolle Versprechen, endlich eine belletristische Form oder gar ein literarisches Genre gefunden zu haben, das als eine „Literatur der Zukunft“ („Литература будущего“)41 über den bekannten Kanon der verschmähten bürgerlichen Literaturformen hinausging und ein genuiner künstlerischer Ausdruck der neuen Entwicklungsstufe des sozialistischen Aufbaus sein könnte. Zwar hatte die wissenschaftlich-künstlerische Literatur dieses Versprechen in den 1930er Jahren bis auf wenige Ausnahmen kaum erfüllt und war über die vorhandenen Verfahren der Reportage, der dokumentarischen Prosa, der Reiseskizze und des populären Lehrbuchs nicht hinaus gekommen (vgl. Kapitel 7). Auch stellte wissenschaftlich-künstlerische Literatur in keiner Weise einen ausreichenden Ersatz für populärwissenschaftliche Schriften wie Perel’mans oder Fersmans „unterhaltsame“ Einführungen in die Naturwissenschaften, geschweige denn für wissenschaftlich-fantastische Abenteuerromane dar. Doch das „nicht aussterbende Phantasma“ einer dialektischen Synthese des Künstlerischen und des Wissenschaftlichen lebte weiter und konnte nach der Umstrukturierung der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur Ende 1948 in den nächsten Jahren bis zu Stalins Tod noch einmal zur vollen Entfaltung kommen. Der qualitative Sprung, den diese Belletrisierung im Sinne einer marxistischen Dialektik versprach, bestand vor allem in einer noch stärkeren Verwischung der Grenzen zwischen dem Fiktionalen und Faktischen, als sie im Sozialistischen Realismus vorhanden war. Auch bei Michail Il’in bestand das Hauptspezifikum seiner in den 1930er Jahren entstandenen wissen39
Ebd., S. 23.
40 „У нас есть и книги, достойные подражания, есть уже и ясное представление о том, какой должна
быть наша советская научно-популярная литература. И для дальнейшего продвижения по этому пути нужно насвегда добить беллетристическую фантазму, так легко и просто осовоблождающую авторов и редакторов от труда над созданием нужной нам научно-популярной книги.“ Ebd., S. 25.
41
So der Arbeitstitel eines geplanten, aber nie erschienenen Buches über wissenschaftlich-künstlerische Literatur von B. Begak und A. Narkevič, vgl. RGALI, f. 361, op. 22, ed. 21, l. 4.
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schaftlich-künstlerischen „Erzählungen“ in der visionären Überhöhung, insbesondere der großen Industrie- und Infrastrukturprojekte jener Jahre, in der die Grenze zwischen tatsächlich Realisiertem, noch Geplantem und theoretisch Möglichem oft kaum mehr zu erkennen war. In der Nachkriegszeit ging diese Fiktionalisierung der Wirklichkeit noch sehr viel weiter und richtete sich im Zuge des ausufernden Personenkults vor allem auch auf die Biografien und Leistungen russischer Wissenschaftler und Entdecker. Am markantesten bringt diese ingenieurswissenschaftliche Verschiebung im Menschenbild wohl das von Michail Il’in und dessen Ehefrau Elena Segal (Geburtsname von Elena Aleksandrovna Maršak, 1905–1980) gemeinsam verfasste Werk Wie der Mensch zum Riesen wurde (Как человек стал великаном) zum Ausdruck, dessen erster Teil noch vor dem Kriege, 1940, dessen zweiter Band 1946 erstmals erschien.42 In diesem Buch besteht der Leitgedanke darin, dass der Mensch sich seit seinem Ursprung im Unterschied zu allen anderen Lebewesen Schritt für Schritt aus dem Gefängnis der Natur befreit habe, indem er sich mit Hilfe von künstlichen Werkzeugen seine eigene „zweite Natur“ schuf und die ganze Erde untertan machte.43 Dieser Gedanke ergab sich aber auch aus der sowjetischen Lesart des dialektischen Materialismus der Natur, nach dem für jede evolutionäre Entwicklungsstufe eigene, qualitativ unterschiedliche Gesetze galten, die nicht einfach von einer Wissensdisziplin in eine andere übertragen werden konnten. Insbesondere in den Polemiken der Ždanovzeit gegen das aus sowjetischer Sicht reduktionistische Naturverständnis der bürgerlichen Wissenschaften spielte die dialektische Auffassung von Mensch, Natur und Umwelt eine zentrale Rolle.44 Doch Il’ins Gruppe ging es nicht nur um die Etablierung dieses neuen Literaturgenres, sie wollte deren Paradigmen auch für populärwissenschaftliche Texte und Wissenschaftliche Fantastik verbindlich machen.45 Hierbei konnte sie sich auch auf das im Statut von 1947 verabschie42
Der erste Band war noch von Gor’kij angeregt worden und ist ungeachtet teils scharfer interner Kritik noch 1940 auch als verbindliche Schullektüre empohlen worden, vgl. RGALI, f. 630, op. 1, ed. 287, l–65 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“: Stenogramma soveščanija po obsušdeniju knigi Il’ina M. i Segal E. „Kak čelovek stal velikanom“. 2 ijunja 1940 g.).
43
Vgl. Il’in, Michail; Segal, Elena [Iljin, M; Ssegal, E.]: Wie der Mensch zum Riesen wurde. Bd. 1 (1940), Berlin 1949, S. 68f. Der Begriff der „zweiten Natur“ geht auf Gor’kij zurück, vgl. Oushakine, Serguei A.: The Flexible and the Pliant. Disturbed Organisms of Soviet Modernity, in: Cultural Anthropology 19:3 (2004), S. 392–428.
44
Grundlegend für das sowjetische Verständnis der Naturwissenschaften war Friedrich Engels 1925 erstmals in Moskau aus dem Nachlass herausgegebene, unvollendete Schrift Die Dialektik der Natur. Vgl. Kedrow, Bofanatij: Über Engels’ Werk „Dialektik der Natur“ (1952), Berlin 1954; Graham: Science, Philosophy, S. 25– 67; Zur grundlegenden philosophischen, ideengeschichtlichen, kulturgeschichtlichen und anthropologischen Bedeutung von Il’ins und Segals Buch für die Neubestimmung des Menschen im Kontext des historischen Materialismus der Spätstalinzeit aus einer stark apologetischen Periode vgl. Ivič: Tvorčestvo M. Il’ina, S. 71–89.
45
Während diese Absicht für die Populärwissenschaften tatsächlich als ein Phantasma der Belletrisierung beschrieben werden kann, wirkte es für die Fantastik eher als ein Phantasma der Deliterarisierung der Texte, wie Popovskij in einer Polemik einmal feststellte, vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 21f.
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dete „Hauptziel der Sektionsarbeit“ berufen, das „im Kampf für die Erhöhung“ erstens „des ideellen Gehalts“, zweitens „der erzieherischen Bedeutung“ und drittens „des künstlerischen Niveaus der Werke“ bestehen sollte.46 Diese drei Zielstellungen des Kampfes nutzte man auf unterschiedliche Weise. So artikulierte man unter Berufung auf die erzieherische Bedeutung der Werke sowohl gegen die traditionelle Wissenschaftspopularisierung als auch gegen die Wissenschaftliche Fantastik häufig den Vorwurf, beide vereinfachten unzulässig die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und trügen dadurch zu einer schon von Lenin scharf kri tisierten „Vulgarisierung“ (вулгаризация) der Wissenschaften bei.47 Diesbezüglich tendierten einige Autoren zu einer „gefährlichen Abweichung“ (опасный уклон), die zur „Verflachung“ ihrer Werke geführt habe und letztlich die Leser erniedrige.48 Mit einer verlogenen „Unterhaltsamkeit“ versuchten die Verfasser „populärer Literatur“ zudem häufig, ihr gesellschaftspoli tisches Unwissen und ihre „unwissenschaftliche Herangehensweise“ ( ненаучный подход) zu verbergen.49 Um eine solche „Verflachung“ des Lesers zu vermeiden, müsse man sich genau überlegen, welche Reaktion man bei ihm hervorrufen wolle und „in wessen Namen“ man schreibe.50 Dabei setzte man ein Rezeptionsverhalten voraus, das eine ungebrochene Identifizierung des Lesers mit den Hauptprotagonisten und damit auch die potenzielle Imitierung der Helden unterstellte. Gleichzeitig sollte dieser Leser nicht mehr nur auf das Feld der Kinder- und Jugendliteratur beschränkt sein, sondern man wollte eine Literatur der „ersten Wahl“ schreiben, die
46
Entsprechend formulierte das Ende 1947 verabschiedete Statut die Aufgaben der Sektion. Vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 816, l. 86.
47
Vgl. Zacharčenko, Vasilij: Za vysokoe kačestvo knig po istorii nauki i technniki, in: Pravda (11.07.1951), S. 2.
48
So sei beispielsweise in Bezug auf die Wissenschaftliche Fantastik die falsche Meinung weit verbreitet, es brauche unterhaltsame und anspruchslose Erzählformen, damit der Massenleser sich überhaupt für das Thema interessiere. Vgl. Oleg Pisarževskij in seinem Rechenschaftsbericht des Sektionsbüros im Oktober 1946, RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 5.
49
Vgl. zum Beispiel: „Leider gibt es unter der populären Literatur zur Wissenschafts- und Technikgeschichte Bücher, die schwere Mängel und Fehler aufweisen. [...] Den Mangel an Kenntnis des Gegenstandes versuchen deren Autoren durch eine literarische Verschönerung, verlogene ‚Unterhaltsamkeit‘, ‚Scherze und Redensarten‘ zu verbergen.“ („К сожалению, среди пoпулярной литературы по истории
науки и техники имеются книги, содержающие крупные недостатки и ошибки. [...] Недостаток знаний предмета такие авторы пытаются прикрыть литературным украшатоньством, ложной ‚занимательностью‘, ‚шуточками и прибауточками‘.“) Zacharčenko: Za vysokoe kačestvo knig po isto-
rii nauki i technniki, S. 2. 50
„[...] die Hauptfrage, die gestellt wurde: In wessen Namen wird die Arbeit geführt und wie ist die Reaktion der Leser, die auf die eine oder andere literarische Arbeit erfolgen soll.“ („[...] основой вопрос
который был поставлен: во имя чего ведется работа, и какова реакция читателя, которая должна последовать на ту или иную литературную работу.“) Ebd.
Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur | 563
„jeden sowjetischen Menschen“ erreicht, „sei das ein Intelligenter, ein Arbeiter, ein Kolchosbauer, ein junger, erwachsener oder alter Mensch“.51 Um dieses Erziehungsziel bei den Lesern zu erreichen, kam dem primären Kriterium des Statuts, dem ideellen Gehalt – wie generell in jenen Jahren – zentrale Bedeutung zu. Dieser bestand für das Sektionsbüro vor allem in der Abgrenzung von vermeintlich westlichen Erzählformen und „bourgeoisen Pseudowissenschaften“.52 Deren „idealistischer“ Geist sei aber immer noch in einer Reihe von Werken zu finden und zeige sich insbesondere in der Darstellung der Wissenschaftler und Ingenieure selber. Diese habe man wie im Westen schemenhaft als intellektuelle Einzelgänger oder „verrückte Wissenschaftler“ dargestellt, die den wissenschaftlichen Fortschritt hervorbringen, anstatt das intellektuelle Umfeld und die politischen und materiellen Hintergründe zu zeigen. In diesem Sinne kritisierte man häufig biografische Darstellungen von russischen Wissenschaftlern, wie beispielsweise Aleksandr Popovskijs Inspirierte Sucher (Вдохновенные искатели, 1945) und Im Namen des Menschen (Во имя человека, 1948), Lev Gumilevskijs Russische Ingenieure (Русские инженеры, 1947) und Meister der Technik (Мастера техника, 1949) oder auch Aleksandr Dovženkos „dummen“ Film über Mičurin, der diesen als „Sonderling“ (чудак) zeige.53 Gleichzeitig vermisste man in vielen Darstellungen den deutlichen Bezug auf die gegenwärtige politische Lage, was gerade bei wissenschaftshistorischen Darstellungen ein immer treffender Vorwurf war.54
51 „[...] всякий советский человек, будь это интеллигент, рабочий, колхозник, молодой, взрослый или
старый человек.“ So Vadim Safonov in seinen Ausführungen zur „Sowjetischen wissenschaftlich-künstle-
rischen Literatur“ der Jahre 1947 und 1948, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 23, l. 26. 52
„In den besten Werken, die genannt wurden, sehen wir einen angreifenden bolschewistischen Geist hinsichtlich der bürgerlichen Pseudowissenschaft.“ („В лучших произведениях, которые здесь назывались, мы видим наступательный боьшевистиский дух в отношении буржуазной лже-науки.“) So Sytin auf einer Diskussionsveranstaltung zur „Sowjetischen wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ der Jahre und 1947 und 1948. Vgl. das Stenogramm der Sektionssitzung vom 21.05.1949, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 23, l. 61.
53
Zu Dovženkos Film Mičurin (Die Erde blüht) (Мичурин [Земля в цвету], 1948) vgl. das Sektionsprotokoll über E. Zlatovas Vortrag „Das Bild des Biologen in der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ („Образ биолога в научно-художественной литературе“) vom 03.11.1948, RGALI, op. 22, ed. 18, l. 5–6; Vasilij Zacharčenko wirft sowohl Gumilevskij als auch Popovskij in einem Artikel für die Pravda beispielsweise vor, sie zeichneten in ihren Büchern die porträtierten Wissenschaftler nur oberflächlich, indem sie deren „Wunderlichkeit“ (чудачество) oder „Ingenieursintuition“ (инженерная интиуция) ohne jeden Zeitbezug hervorheben würden, vgl. Zacharčenko: Za vysokoe kačestvo knig po istorii nauki i technniki, S. 2; Popovskij wurde noch in zwei weiteren Artikeln aus Anlass seiner Auftritte bei einer Lesereise durch das Baltikum in der Pravda scharf angegriffen, was ihm eine Rüge seitens des Schriftstellerverbandes einbrachte. Vgl. hierzu auch das Stenogramm der Diskussion in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur vom 1. November 1951 über Zacharčenkos Artikel und der entsprechende Beschluss des Sektionsbüros, RGALI, f. 631, 22, 43, l. 1–108.
54
Vgl. Zacharčenko: Za vysokoe kačestvo knig po istorii nauki i technniki, S. 2.
564 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Der „Ideenkampf“ gegen die bourgeoise Weltsicht wurde noch verstärkt durch den Kampf für den „russischen Vorrang“ (русское первенство) in den Wissenschaften.55 Dieser in fast allen wissenschaftlich-künstlerischen Texten jener Jahre dominante patriotisch-nationale Aspekt stellt vielleicht den wesentlichen Unterschied gegenüber entsprechenden Werken der Vorkriegszeit dar, der sich auch in Buchserien wie Russische Reisende (Русские путешественники) oder Buchtiteln wie Erzählungen vom russischen Vorrang (Рассказы о русском первенстве, 1950) niederschlug.56 Was in der Konzeptualisierung des Sozialistischen Realismus der 1930er Jahre die Darstellung der Wirklichkeit in ihrer „revolutionären Tendenz“ war, kehrte hier als Vision einer russischen Wissenschaftstradition wieder, die ihrer „Seele“ nach schon immer fortschrittlicher und fortgeschrittener gewesen sei als ihre westliche Konkurrenz. Diese Seele der russischen Wissenschaft (Душа русской науки) – so ein weiterer Titel57 – bestand in der permanenten „künstlerischen“ Fiktionalisierung russischer Forschungsleistungen bei gleichzeitiger Herabsetzung natürlicher und wissenschaftlicher Barrieren. Auf diese Weise propagierte man eine wissenschaftlich-künstlerische Literatur, in der die Biografien der fiktionalisierten Helden der russischen Wissenschaftsgeschichte einem immer gleichen Narrativ folgten. Machtlos in ihrem Widerstand gegen das zaristische System und abhängig von den sie behindernden reaktionären gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Strukturen, kämpfen sie zusammen mit wenigen ihnen verbundenen Freunden in uneingeschränkter Leidenschaft und Hingabe für das von ihnen konstruierte oder erforschte Objekt. Erst nach der Revolution können diese Ingenieure des Fortschritts im wissenschaftlichen Arbeitskollektiv ihre „neue Seele“ formen, die in der Fertigstellung ihrer Erfindungen und Bauwerke oder in der endgültigen Beherrschung der Natur ihre historische Bestimmung findet. Am unklarsten war jedoch der dritte Aspekt des Hauptziels der Sektionsarbeit, der die „Erhöhung“ der künstlerischen Qualität betraf, von der man anfangs noch keine klare Vorstellung hatte. So wurden in dem zitierten Sektionsstatut nicht zufällig die „literarischen Genres“ ausschließlich thematisch-inhaltlich mit deutlichem Bezug auf die aktuellen propagandistisch-ideologischen Aufgaben bestimmt, ohne dass weitere formale Kriterien genannt wurden. Da diese 55
So Vadim Safonov in seinen Ausführungen zur „Sowjetischen wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ der Jahre 1947 und 1948, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 23, l. 19.
56
Vgl. die seit 1947 im Staatsverlag für geographische Literatur (Государственное издательство географической литературы) erscheinende gleichnamige Buchreihe, in der Titel wie Lidija Korneevna Čukovskajas (1907–1996) Biographie N. N. Mikljucho-Maklaj (Н. Н. Миклухо-Маклай, 1948) über den russischen Ethnographen und Weltreisenden oder I. I. Babkovs Durch Afrika (По Африке, 1949) über russische Pioniere der Entdeckung Afrikas im 19. Jahrhundert erschienen; Bolchovitinov, V.; Bujanov, A.; Zacharčenko, Vasilij; Ostroumov, G.: Rasskazy o russkom pervenstve, Moskva 1950.
57
Professor I. V. Kuznecov hielt 1947 einen gleichnamigen Vortrag zu dem Thema, der einen Auszug aus seinem ein Jahr später erscheinenden, zweibändigen Werk Menschen der russischen Wissenschaft (Люди русской науки, 1948) „über herausragende Vertreter aus Naturwissenschaft und Technik“ („о выдающихся деятелях естествознания и техники“) darstellte, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 15, l. 2; Kuznecov, I. V.: Ljudi russkoj nauki. Očerki o vydajuščichsja dejateljach estestvoznanija i techniki (2 Bde.), Moskva 1948.
Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur | 565
Themen und ideologischen Ziele aber auch allgemein in den großen Produktions- und Industrialisierungsromanen der Nachkriegszeit vorherrschend waren, musste man zugeben, dass die Abgrenzung der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur von der übrigen „künstlerischen Literatur“, das heißt der Belletristik (художественная литература), nur noch „bedingt“ (условно) möglich sei und man durchaus auch Alltags- und Arbeitsromane mit technisch-wissenschaftlichen Visionen, wie Vasilij Nikolaevič Ažaevs (1915–1968) Fern von Moskau (Далеко от Москвы, 1946–1948) über den Bau einer Erdölleitung im Fernen Ostens während des Zweiten Weltkriegs, zu dem Genre zählen könne.58 Die Besonderheit wissenschaftlich-künstlerischer Prosa gegenüber der übrigen Belletristik lag vielmehr darin, dass sie gleichzeitig populärwissenschaftliche Aufgaben übernehmen sollte.59 Sie sollte anstelle der generell sujetlosen Wissenschaftspopularisierung als ein zentrales Narrativ den Menschen als Schöpfer – als „Riesen“ bei Il’in und Segal – aller technisch-wissenschaftlichen Innovationen entfalten, der sich die ihn umgebende Welt untertan macht. Dieses Phantasma implizierte, dass man den russischen Gelehrten fast alle Pioniertaten der menschlichen Technik- und Wissenschaftsgeschichte zuschrieb. Während es in der klassischen Wissenschaftspopularisierung immer auch darum ging zu zeigen, wie neue Erkenntnisse über die Natur unser Menschenbild verändern, zielte die wissenschaftlich-künstlerische Literatur hingegen auf die Darstellung des von seiner Seele her unveränderten (russischen) Menschen, der das Bild der Natur verändert und entzaubert. Die Natur und ihre Gesetze bergen hier keine unbekannten Geheimnisse und ungewöhnlichen Entdeckungen mehr, die unser Weltbild revolutionieren könnten, sondern sind lediglich zu unterwerfende Objekte menschlicher Allmachtphantasien. So konstituiert sich in den Texten auf Grundlage der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur nach und nach eine Überlegenheitsrhetorik des russischen Ingenieurs, der schon in der vorrevolutionären Zeit in der Lage gewesen sei, zukünftige sowjetische Entwicklungen zu antizipieren.
58
Vgl. Vadim Safonovs Vortrag über die „Sowjetische wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ der Jahre 1947 und 1948 am 21.05.1949, RGALI, f. 631, op. 22, ed.23, l. 7–9. Ausführlich zur Entstehung des Romans, die ebenfalls davon zeugt, wie wenig die sozialistisch-realistischen Paradigmen letztlich als verbindlich-kanonische Form etabliert waren, vgl. Lahusen, Thomas: How Life Writes the Book. Real Socialism and Socialist Realism in Stalin‘s Russia, Ithaca 1997.
59
Nachdem man anfangs in den Jahren 1949 und 1950 sogar bestrebt war, die populärwissenschaftliche vollkommen durch wissenschaftlich-künstlerische Literatur zu ersetzen, erkannte man ihr nach kontroversen internen Diskussionen auch mit den Verlagen 1951 zwar eine Existenzberechtigung zu, verpflichtete sie aber thematisch und ideologisch auf der „Grundlage“ der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur aufzubauen und den gleichen Anforderungen der „künstlerischen Meisterschaft“ (художественное мастерство) zu genügen. Vgl. die Schlussstatements von Ivanov und Nemcov zu der Diskussionsveranstaltung „Über die Rolle und Bedeutung der populärwissenschaftlichen Literatur“ am 26.04.1951, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 42, l. 92–98.
566 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
An die Stelle von Aleksandr Ivičs Definition eines „Abenteuers der Erfindung“ tritt jetzt bei russischen Geistesgrößen die Fähigkeit der „Vorhersehung“.60 In Bezug auf die populärwissenschaftliche Literatur lässt sich diese Verschiebung auch wie folgt pointieren: Bestand das als „Vulgarisierung“ denunzierte „Populäre“ in den „unterhaltsamen“ Populärwissenschaften primär in einer rhetorischen Vereinfachung komplexer Sachverhalte, so negierte das „Künstlerische“ in den wissenschaftlich-künstlerischen Texten die Komplexität und Experimentalität wissenschaftlicher Forschung weitgehend und richtete sich vor allem auf das „Visionäre“ und die ideologische „Wahrhaftigkeit“ wissenschaftlicher Forschungstätigkeit: Was die russischen Wissenschaftler der Zarenzeit gegen alle politischen und administrativen Widerstände entdeckt und erfunden hatten, sollte in der sozialistischen Gegenwart selbst dem Kolchosbauern verständlich und zugänglich gemacht werden. Damit wandelte sich auch das Verhältnis des Wissenschaftlichen zum Künstlerischen radikal: Stand in der populärwissenschaftlichen Literatur bislang noch die Autorität der Wissenschaften an oberster Stelle, die für die „niederen“ Ebenen „popularisiert“ wurde, so rückten jetzt ihrem Selbstverständnis nach die Künste in den Vordergrund, die mit Hilfe einer „Belletrisierung“ der wissenschaftlichen Tätigkeit dieser erst zu einfacher Größe und verständlicher Wahrheit verhalfen. Die visionäre Kraft der Künste sollte nicht die popularisierende Funktion ergänzen, sondern sie in der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur letztlich ersetzen.61 Mit dem politisch herbeigeführten Ende der Richtungskämpfe im Feld der Wissenschaften gegen Ende der 1940er Jahre konnte auch die „Gesellschaft zur gegenseitigen Verzückung und zum Verschweigen von Misserfolgen und Fehlschlägen“ (обществo взаимного восхищения и умалчивания неуспехов и неудач)62 – wie Georgij Tuškan die Sektion für wissenschaftlichkünstlerische Literatur noch 1951 nannte – die ersten Erfolge aufweisen. 1948 und 1949 bekamen mit Michajlovs Buch Über der Karte der Heimat (Над картой родины, 1948) und Vadim Andreevič Safonovs (1904–2000) wissenschaftlich-künstlerischem Werk Die blühende Erde (Земля в цвету, 1949) über die Mičurinsche Biologie zum ersten Mal seit Bestehen der Aus60
Entsprechend formulierte Aleksandr Ivič seine Thesen aus dem Buch Abenteuer der Erfindung 1948 um, wobei er weiter daran festhielt, der Kunst der Erfindung auf die Spur zu kommen, sie nun aber nicht mehr „Abenteuer“ der Erfindung nannte, sondern sie mit einer besonders hart erarbeiteten Fähigkeit des Verstandes erklärte, mögliche Lösungen vorhersehen zu können, vgl. Ivič, Aleksandr: Predvidenie, in: Znanie – sila 7 (1948), S. 1–4. Zu Ivičs Thesen vgl. auch Abschnitt 10.1.
61
Wobei Igor J. Polianski zutreffend feststellt, dass diese Dominanz visionärer Wahrheiten als „potenzielle Virulenz“ den Populärwissenschaften in der weltanschaulichen Mission ihrer Autoren von Anfang an inhärent war, aber „erst im politischen System der Sowjetunion zur vollen Geltung“ gekommen sei. Entsprechend konstatiert Polianski: „Überwog in ihren Austauschkanälen ursprünglich der induktive Wissensstrom von den Naturwissenschaften hin zu einem synthetischen Weltbild, so wurde diese Strömung durch den deduktiven Gegenfluss der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in die einzelnen Wissenszweige unterdrückt.“ Vgl. Polianski: Das Unbehagen der Natur, S. 92.
62
So Tuškan während einer Diskussion zur Entwicklung der wissenschaftlich-fantastischen Literatur vom 26.03.1951, vgl. das Stenogramm der Sektionssitzung, RGALI, f. 361, op. 22, ed. 41, l. 48.
Die Durchsetzung wissenschaftlich-künstlerischer Literatur | 567
zeichnung zwei Werke einen Stalinpreis in der Kategorie „Belletristik“ (wörtlich „Künstlerische Prosa“, „Художественная проза“) verliehen, die keinen Roman und keinen Kurzroman darstellten.63 Damit war die wissenschaftlich-künstlerische Literatur erstmals auch als Belletristik „erster Wahl“ offiziell nobilitiert worden. Entsprechend begannen nun auch die „dicken“ Literaturzeitschriften wie Novyj mir oder Zvezda nach jahrelanger Abstinenz Werke aus diesem Bereich zu drucken.64 Nun standen diese Auszeichnungen im engen Zusammenhang mit dem im Herbst 1948 verabschiedeten so genannten „Stalinplan zur Umgestaltung der Natur“, der neben seinen unmittelbaren volkswirtschaftlichen Zielen auf einer diskursiven Ebene vor allem eine Neubestimmung des Naturbildes mit sich bringen sollte, wie es sich während des Großen Vaterländischen Krieges bei einigen zentralen Autoren des Sozialistischen Realismus herausgebildet hatte. Die Auszeichnung der „künstlerisch-wissenschaftlichen Literatur“ als eine Prosagattung „erster Wahl“ stellte in diesem Sinne nicht nur eine Aufwertung des Genres dar, sondern zielte auch direkt auf eine Umgestaltung der „künstlerischen Prosa“ selber, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird.
63
Das nächste prämierte Werk, das nicht in Romanform geschrieben war, stellten Mariėtta Šaginjans Reiseskizzen Reise durch das sowjetische Armenien (Путешествие по Советской Армении, 1950) dar, die als wissenschaftlich-künstlerisches Werk ebenfalls in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet wurden. Der Stalinpreis stellte seit 1941 die höchste zivile Auszeichnung in der Sowjetunion dar. Er wurde für die Bereiche, Wissenschaften, Erfindungen und Produktionsoptimierung sowie Literatur und Künste vergeben. Im letzteren Bereich gab es wiederum elf bis zwölf Unterkategorien, von denen eine die Künstlerische Prosa (Belletristik) darstellte. Allerdings wurden in den Jahren 1941 bis 1947 nur vier bis sechs Werke in der Kategorie Belletristik in zwei Stufen ausgezeichnet, ab 1948 fügte man eine dritte Preisstufe hinzu und erweiterte die Anzahl der prämierten Werke in manchen Jahren auf mehr als 20 Werke. Michajlov und Safonov bekamen beide einen Preis der dritten Stufe.
64
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 23, l. 19–23, 35–36.
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1 4. 3 Di e Eroberung der Na tur – Die N e u a u sr i c h tu n g der sowje tis chen Ge o g rafie 6 5 „Dem Wesen nach schafft der sowjetische Mensch, geführt von Stalin, [...] eine neue Geologiegeschichte, weil in der kommunistischen Gesellschaft [...] erneut die heutigen Wüsten zu blühenden Gegenden werden. Darin sehe ich die riesige Poetik der gigantischen Arbeit in unserem Stalinplan zur Umgestaltung der Natur.“ Aleksandr Kazancev (1951)65
Als am 20. Oktober 1948 der gemeinsame Beschluss des Ministerrats der UdSSR und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei „Über den Plan zu Schutzwaldstreifen, zur Einführung von Futtergrassaatfolgen, zum Bau von Teichen und Gewässern zur Sicherung hoher wetterfester Ernteerträge in den Steppen- und Waldsteppengebieten des Europäischen Teils der UdSSR“ („О плане полезащитных лесонасаждений, внедрения травопольных севооборотов, строительства прудов и водоемов для обеспечения высоких устойчивых урожаев в степных и лесостепных районах Европейской части СССР“) gefällt wurde, der als „Stalinplan zur Umgestaltung der Natur“ („Сталинский план преобразования природы“) in die Geschichte eingegan-
gen ist, war dieser Schritt aus der Not geboren. Hatte doch eine längere Trockenperiode im Jahr 1946 in den zentralen europäischen Getreideanbaugebieten zu einem so gravierenden Ernteausfall geführt, dass man 1947 in einer Hungersnot weit mehr als eine Million Todesopfer zu beklagen hatte.66 Man muss diese durch natürliche Witterungsbedingungen ausgelöste und durch politische Entscheidungen verstärkte, verheerende Hungerkatastrophe nur zwei Jahre nach Kriegsende berücksichtigen, wenn man die phantasmatische Hypertrophie des spätstalinistischen Diskurses über die „Eroberung der Natur“ zu fassen bekommen möchte. So kam selbstverständlich nicht nur die Hungerkatastrophe selber mit keinem Wort in der Publizistik vor, sondern man beließ es auch nicht bei der Propagierung der Ziele, mit künstlichen Schutzwaldungen und Bewässe65 „По сушеству – советский человек, руководимый Сталиным, [...] создает новую геологическую
историю, потому что при коммунистичеком обществе [...] вновь станут цветущими краями теперешние пустыни. В этом я вижу огромную поэтичность гигантской работы в нашем Сталинском плане преобразования природы.“ So Aleksandr Kazancev auf der gemeinsamen Sitzung der Sektionen
für wissenschaftlich-künstlerische Literatur und für Skizze und Publizistik am 22.12.1950, die dem „Stalinplan zur Umgestaltung der Natur und der Arbeit der Schriftsteller auf den Baustellen des Kommunismus“ gewidmet war, vgl. das Sitzungsstenogramm, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 34, l. 54f. 66
Ausführlich zu den Ausmaßen und zur enormen politischen Bedeutung dieser Hungerkatastrophe in der Spätstalinzeit vgl. Ellman, Michael: The 1947 Soviet Famine and the Entitlement Approach to Famines, in: Cambridge Journal of Economoics 24 (2000), S. 603–630; Ganson, Nicholas: The Soviet Famine of 1946–47 in Global and Historical Perspective, New York 2009.
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rungssystemen dieses periodisch wiederkehrende Dürreproblem endgültig in den Griff zu bekommen. Vielmehr ging man über diese für die sowjetische Presse jener Jahre übliche Diskrepanz zwischen Realität und Propaganda noch hinaus, indem man den Abwehrkampf gegen ein unwegsames Klima in einen Eroberungskrieg zur Unterwerfung des Klimas umschrieb. Statt als Sicherung des Lebensnotwendigen deklarierte man die eingeleiteten Notfallmaßnahmen zu einem 15-Jahresplan für den Aufbau des Kommunismus. Dieser aber versprach die Umleitung der sibirischen Flüsse, das Schmelzen des arktischen Eises, die Schaffung neuer Binnenmeere sowie die Steuerung des Golfstroms. Das waren gigantische Pläne, die nun in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften des Landes als ingenieurstechnisch nahe liegende Zukunftsprojekte von erdgeschichtlichem Maßstab deklariert wurden, wie auch Aleksandr Kazancev in seinen eingangs zitierten Sätzen ausführt, die er wie folgt begründet: „Wir leben jetzt am Ende der letzten Eiszeitperiode, in der eine allgemeine Erwärmung der Arktis stattfindet und eine Verwüstung einiger Erdregionen. [...] Das ist für viele westliche Wissenschaftler – in ihrer Vorstellung – ein unvermeidlicher Gang der Geschichte. Die sowjetischen Menschen aber haben sich an die Verwirklichung des großen Plans zur Umgestaltung der Natur gemacht, des Stalinplans zur Umgestaltung der Natur.“67
Dieses Leben „am Ende der letzten Eiszeitperiode“ aber implizierte einen Naturbegriff, wie er für die Wissenschaftsdiskurse im vorigen Abschnitt dargestellt wurde: Einen Naturbegriff, in dem Hungersnöte nicht nur unmöglich werden sollten, sondern in der „Natur“ als eine eigenwertige, nicht von Menschen geschaffene, diesen „inspirierende“ Lebensqualität negiert wurde. Dieser Naturbegriff aber kollidierte fundamental mit demjenigen, wie er sich während des Großen Vaterländischen Krieges in Bezug auf die sowjetische Heimat als mütterliches Territorium herausgebildet hatte. So waren Ivan Efremovs Erzählungen vom Ungewöhnlichen „ungewöhnlich“ in Bezug auf die Neubewertung des in ihr propagierten Menschenbildes. Was die Darstellung der Natur aber anbelangte, fügten sie sich durchaus in diesen „essentialistischen“ Naturbegriff, der sich gewissermaßen im Windschatten des offiziellen Diskurses zur Verteidigung der sowjetisch-russischen „Mutter Heimat“ (Родина-мать) gegen die deutschen Invasoren entwickelt hatte. Zentrale Propagandatexte der Kriegszeit – wie beispielsweise Michail Šolochovs Schule des Hasses (Школа ненависти, 1942) oder Aleksandr Tvardovskijs populäres Poem Vasilij Tërkin (Василий Теркин, 1941–1945) betrieben die Mythologisierung der sowjetischen Natur als Wald, Flüsse, Wiesen und Sümpfe oder Jahres- und Tageszeiten, die den kämpfenden Soldaten Kampfeskraft und Heldenmut verliehen und sie sterbend in ihren Schoß aufnahmen. Dabei war dieses Naturbild 67 „Мы живем сейчас в конце последнего ледникого периода, когда происходит общее потепление
Арктики и опустошение некоторых районов земли. [...] Это для многих западных ученых, – в их представлении – неизбежный ход истории. А советские люди приступили к осуществлению великого плана преобразования природы, Сталинского плана преобразования природы.“ RGALI, f. 631, op. 22,
ed. 34, l. 54f.
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eng verknüpft mit einem verklärten Bild der Vorkriegszeit als eines meist dörflichen Heimatidylls, in dem Mensch und Natur in Frieden und Eintracht ohne innere und äußere Aggressoren leben konnten. Dieses imaginäre Wunschbild als Kernstück der patriotischen Kriegspropaganda trat damit aber auch nach und nach an die Stelle des vor dem Krieg propagierten Gesellschaftsbildes, das die unzivilisierte Natur vor allem als zu beherrschendes und besiegendes widerständiges Objekt menschlicher Arbeit konzeptualisierte.68 Dieser Paradigmenwechsel ist prominent an Autoren wie Leonid Leonov oder Konstantin Paustovskij ablesbar. Leonov hatte sich Anfang der 1930er Jahre durch seine Industrialisierungsromane – wie den zitierten Weg zum Ozean (vgl. Abschnitt 7.3) – einen Namen gemacht, die einen radikalen menschlichen Eingriff in die Abläufe der Natur und Umwelt als nicht nur nützlich, sondern auch ästhetisch schön propagiert hatten. Nun sorgte er Ende 1947 mit einem in den Izvestija publizierten Aufruf Zur Verteidigung eines Freundes (В защиту Друга) für Aufsehen, in dem er zum Schutz der russischen Waldbestände aufrief.69 Und auch Paustovskij, der Anfang der 1930er Jahre mit Karas Bugas und Kolchida zwei der zentralen Propagandawerke zur Umgestaltung der Natur durch die Industrialisierung des Landes geschrieben hatte, änderte schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre seine Einstellung zum Verhältnis Mensch und Natur grundlegend, wie es sich in seinen Kurzromanen über Issak Levitan (Исаак Левитан, 1937) oder die in Zentralrussland liegende Metschora-Tiefebene Die Mečera-Seite (Мещерская сторона, 1938) schon abgezeichnet hatte. In Paustovskijs während des Krieges und unmittelbar danach geschriebenen Neuen Erzählungen (Новые рассказы, 1946) entdeckt er dann ganz explizit in dem zurückgezogenen und schlichten Leben der einfachen Dorfbevölkerung Russlands ein unentfremdetes und harmonisches Dasein im Einklang mit der Tradition und der Natur, das dem Stadtleben abhanden gekommen ist.70 Auch in seinem 1948 veröffentlichten Kurzroman über die Wälder (Повесть о 68
Zu dieser „Naturalisierung“ und Poetisierung der Heimat vgl. Rothstein, Robert A.: Homeland, Home Town and Battlefield. The Popular Song, in: Stites, Richard (Hg.): Culture and Entertainment in Wartime Russia, Bloomington/Indianapolis 1995, S. 77–10; Zur Naturalisierung und damit Ethnifizierung des Russischen im Zuge des Krieges vgl. Weiner, Amir: Nature and Nurture in a Socialist Utopia. Delinaeating the Soviet Socio-Ethnic Body in the Age of Socialism, in: Hoffmann, David L.: Stalinism. Essential Readings, Malden, MA/Oxford 2003, S. 243–274.
69
Vgl. Borejko, Vladimir: Belye pjatna prirodoochrany, Kiev 2003, S. 177ff.; Ein paar Jahre später schrieb Leonov dann den Roman Der russische Wald (Русский лес, 1953), der den Schutz der Natur gegen volksfremde Moskauer Akademiker direkt mit der deutschen Invasion und deren Politik der Verbrannten Erde verbindet. Da dieses bereits 1950 fertiggestellte Werk aber direkt in den in diesem Abschnitt beschriebenen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Naturdarstellung fiel, konnte es erst nach Stalins Tod Ende 1953 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Znamja erscheinen, vgl. ebd., S. 183.
70
So erreicht in der bekanntesten Erzählung aus diesem Zyklus, dem Telegramm (Телеграмма), selbst die Nachricht über die im Sterben liegende Mutter die in Leningrad lebende Tochter nicht mehr, da diese mental völlig in ihrer Kunstwelt aus egoistischem Karrierestreben, eitlen Gesellschaftsintrigen und oberflächlichen Berufsbeziehungen gefangen ist. Vgl. Paustovskij, Konstantin: Novye rasskazy, Moskva 1946; Auch in der Erzählung Der Hirtenjunge (Подпасок) wird eine abgelegene Provinzwelt beschrieben, in der
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лесах) geht es um die Geist und Seele inspirierende Kraft der ländlichen Natur, der unter ande-
rem Petr Čajkovskij seine Musik verdanke.71 So formierte sich anfangs an den Rändern des sowjetischen Naturdiskurses fern von Moskau und dann im Kampf um die Heimat während des Zweiten Weltkriegs ein gegenläufiges Dispositiv, das zunehmend an Einfluss gewann als eine „sentimentalische“ Sehnsucht nach einem naturverbundenen und unentfremdeten Landleben in der Heimatprovinz. Diese diskursive Verschiebung des Naturbildes bildete aber auch den kulturpolitischen und ideologischen Rahmen, in dem die Gründung der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur 1945 stattgefunden hat. Und vor diesem Hintergrund war es sicher kein Zufall, dass ausgerechnet Nikolaj Michajlov, der in den dreißiger Jahren entscheidend ein diesem Heimatverständnis dezidiert entgegengesetztes Naturbild mit geprägt hatte, in enger Abstimmung mit Il’in zum ersten Vorsitzenden der Sektion ernannt worden ist. Offensichtlich hatte man bei der Neuaufstellung des Schriftstellerverbandes schon zu Kriegsende die problematischen Seiten der Konzeptualisierung der mütterlichen Heimat als ein „natürliches“ Residuum des Menschen erkannt. Doch blieb diese Sektion in den ersten Nachkriegsjahren relativ unbedeutend. Erst als sich in den Debatten um eine ideologisch richtige Ausrichtung der Wissenschaften in den maßgeblichen Disziplinen eine eindeutig „anti-essentialistische“ Naturkonzeption durchgesetzt hatte und man zeitgleich nach der Hungerskatastrophe 1947 sich an eine forcierte Industrialisierung der Landwirtschaft machte, gerieten mit dem Stalinplan zur Umgestaltung der Natur auch Nikolaj Michajlov und seine Sektion Ende der vierziger Jahre in den Fokus des literatur- und wissenschaftspolitischen Interesses. Michajlov war von der Ausbildung her Volkswirtschaftler, schrieb aber schon seit 1927 in diversen populärwissenschaftlichen Zeitschriften vor allem über wirtschaftsgeografische Themen. 1935 verfasste er auf Initiative Gor’kijs das Buch Die sowjetische Geografie (Советская география), das gewissermaßen die offizielle „Landkarte“ zur industriellen und ökonomischen Umgestaltung der Sowjetunion lieferte und sofort in alle großen westeuropäischen Sprachen übersetzt wurde.72 Erst 1941 wird er aber Mitglied des Schriftstellerverbandes und ist maßgeblich mit seinen populären Schriften Die russische Front (Русский фронт), Erzählung von Russland (Повесть о России) und vor allem mit dem Manifest Unsere Heimat (Наша родина) an der ideologischen Formierung des großrussischen Patriotismus gegen die deutschen Invasoren beteiligt. Diese im Auftrag staatlicher, ziviler, und militärischer Behörden während des Krieges geschriebenen Propagandawerke stellten aber auch einen Versuch dar, dem oben beschriebenen Stadt und Land, reisender Schriftsteller und provinzieller Schäfer, getrennt voneinander leben und arbeiten und einzig über die von westlicher Abenteuerliteratur inspirierten Wunschträume eines anderen Lebens miteinander verbunden sind, vgl. Ders.: Podpasok, in: Ebd., S. 53–59. 71
Vgl. Paustovskij, Konstantin: Povest’ o lesach (1948), in: Ders.: Sobranie sočinenij v devjati tomach, Bd. 3, Moskva 1982, S. 5–162.
72
Vgl. beispielsweise die englische Ausgabe: Michajlov, Nikolaj [Mikhaylov, N.]: Soviet Geography. The Industrial and Economic Distributions of the U.S.S.R., London 1935.
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naturverbundenen Heimatdiskurs einen auf die kommunistische Zukunft gerichteten staatstragenden Heimatbegriff entgegenzusetzen.73 Genau diese Aufgabe kam nach dem Krieg auch der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur zu: den großrussischen Heimat- und Naturdiskurs mit den Erfordernissen der weiteren industriellen und ökonomischen Umgestaltung der Sowjetunion zu versöhnen, die sie aber mangels Unterstützung bis Ende 1948 nur sehr beschränkt umsetzte. Nachdem der Plan der Sektionsleitung, eine eigenständige wissenschaftlich-künstlerische Zeitschrift im Stile des Vorkriegsperiodikums Naša strana (Unser Land, 1937–1941) zu gründen, sehr schnell auf Eis gelegt worden war,74 belebte man 1946 das 1941 eingestellte „Journal für revolutionäre Romantik, Abenteuer, Wissenschaftliche Fantastik, Regionalkunde, Expeditionen und Reisen“ Vokrug sveta wieder, das bis dahin der Leningrader Komsomol herausgegeben hatte. Jetzt wurde die Zeitschrift beim ZK des Komsomol in Moskau angesiedelt und erhielt den Untertitel „Geografische wissenschaftlich-populäre und literarisch-künstlerische Monatszeitschrift“ (Ежемесячный географический научно-популярный и литературно-художественный журнал).75 Die Grundidee der Neugründung von Vokrug sveta – so Michajlov – bestand darin, ein „Massenjournal“ (массовый журнал) der „geografischen Romantik“ (геогафической романтики) zu schaffen, das eine neue „Front“ der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur aufmachen sollte:76 „Das Zeitalter der geographischen Entdeckungen endete vor unseren Augen. [...] Und die Zeitschrift ‚Vokrug sveta‘ muss sich ein Thema suchen, um dem Leser nicht eine Geographie der Entdeckung der Erde, sondern der Umgestaltung des Landes zu geben. [...] Doch auf der Kolonialexotik gründeten sich viele Nummern des alten ‚Vokrug sveta‘, von dem ich keine hohe Meinung habe. Das ist oberflächlicher und halbwissenschaftlicher Schund. [...] Wir müssen eine Literatur des Anti-BOUSSENARD, des Anti-KIPLING schaffen.“77 73
Auftraggeber waren die VOKS (Abk. für „Всесоюзное общество культурной связи с заграницей“, dt. Allunionsgesellschaft für Kulturverbindungen mit dem Ausland), die in enger Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst vor allem für die Außendarstellung der Sowjetunion zuständig war, sowie das Sovinformbjuro (Abk. für „Советское информационное бюро“, dt. Sowjetisches Informationsbüro), das während des Krieges extra zur Informationsbeschaffung für die Soldaten an der Front und im Hinterland geschaffen worden war.
74
Vgl. RGALI, f. 631, op.22, ed. 1, l. 5–8.
75
1946 erschien das Periodikum nur achtmal (in vier einfachen und vier Doppelnummern, die alle je 60 Seiten umfassten), ehe es ab 1947 in einen monatlichen Turnus überging. Neben dem Chefredakteur Inozemcev waren in der Redaktion Efremov, Kazancev, Michajlov und des Akademimitglied Obručev vertreten, die im ersten Jahr mit Ėrenburg, Šklovskij, Šaginjan, Nikolaj Tichonov, Il’in, Prišvin oder Paustovskij durchaus prominente Autoren gewinnen konnten.
76
So Nikolaj Michajlov auf der Aussprache über die Arbeit der Zeitschrift Vokrug sveta im Jahr 1946, vgl. das Stenogramm der Sektionssitzung vom 03.01.1947, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 16, l. 1, 18.
77 „Век географических открытий закончился на наших глазах [...] И журнал ‚Вокруг света‘ должен
искать тему, чтобы дaвать для читателя не географию открытий земли, а преобразований страны. [...] Нo этой же колониальной экзотике держались многие номера старого ‚Вокруг света‘, о котором я
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Neben der Umgestaltung des eigenen Landes und neben Texten über neu hinzugekommene Gebiete der Sowjetunion, wie die Kurilleninseln,78 lag ein weiterer Schwerpunkt naturgemäß auf den befreiten Ländern (Ost-)Europas,79 während die übrige Welt vor allem in historischer Perspektive vorkam: Entscheidend war, dass sie einerseits auf formaler Ebene jegliche Abenteuerelemente im Stile eines Louis-Henri Boussenard oder Rudyard Kipling kategorial ausschloss und die „geologische Romantik“ nur noch inhaltlich definierte. Diese Romantik war aber andererseits von den Inhalten her eher eine Anti-Romantik, die vor allem auf eine Historisierung und Entexotisierung kolonialer Landschaften zielte, wobei sie insbesondere die von den westlichen Imperialisten verdrängten und verkannten russischen Entdecker und Weltreisenden der außereuropäischen Welt des 17. bis 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des Interesses rückte.80 Auch druckte man in jeder Nummer von Vokrug sveta zahlreiche journalistische bzw. „wissenschaftlich-künstlerische“ Texte zur menschlichen Umgestaltung der sowjetischen Geografie ab,81 allerdings fehlte diesen die angestrebte „Romantik der Geografie“, für die man einfach keine Autoren fand: „[...] eine Romantik der Geografie gibt es in der Zeitschrift noch nicht. [...] Die Hauptquelle dieser Schwierigkeiten liegt darin, dass unsere wissenschaftlichen Fantastikschriftsteller Menschen sind, die vom Ingenieurberuf in die Literatur gekommen sind, die technische Artikel gewohnt sind. Unsere sowjetische Fantastik geht bestenfalls den Weg des technischen Fantasierens.“82
невысокого мнения. Это поверхностная и полунаучная халтура. [...] Мы должны создавать литературы анти-БУСЕНАР, анти-КИПЛИНГ.“ So Nagornyj auf der gleichen Sektionssitzung, Ebd., l. 15f. 78
Vgl. Markov, Sergej: Kuril’skie ostrova, in: Vokrug sveta 1 (1946), S. 60–61.
79
So stellte Chalturin auf der Sektionssitzung vom 03.01.1947 fest, dass die Sowjetbürger heutzutage einzig die Lage in den neuen sozialistischen Staaten Osteuropas interessiere, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 16, l. 16.
80
Kam die Rede auf westliche Pioniere der Entdeckung der Welt, wie Columbus, wurde dezidiert auf deren in kolonialen Vorurteilen befangenes Vorgehen verwiesen. So beispielsweise in dem Auszug aus dem zweiten Buch von Wie der Mensch zum Riesen wurde von Il’in und Segal, der der Entdeckung Amerikas durch Columbus gewidmet ist, vgl. Il’in, Michail, Segal, Elena.: Čelovek šagaet čerez okean (iz novych glav knigi „Kak čelovek stal velikanom), in: Vokrug sveta 3–4 (1946), S. 20–24; Auf den letzten Seiten der Zeitschrift druckte man in jeder Nummer das Porträt eines russischen Weltreisenden; vgl. z.B. Jakubovič, Vladimir: Choždenie za tri morja, in: Vokrug sveta 2 (1946), S. 60; Muratov, M.: Skvoz’ tumany i l’dy (Pochod Semena Deženeva), in: Vokrug sveta 3–4 (1946), S. 62–63.
81
So hatte man die erste Nummer mit einem Auszug aus dem neuen Buch von Nikolaj Michajlov Über der Karte der Heimat eröffnet, der sich der Umgestaltung des Landes widmete, ausgehend von Moskau als Zentrum bis zur Peripherie, vgl. Michajlov, Nikolaj: Moja strana, in: Vokrug sveta 1 (1946), S. 2–10; Die dritte Nummer wurde aus Anlass von dessen einjährigem Todestag mit einem ganz ähnlich gelagerten Text von Fersman eröffnet, Fersman, Aleksandr: Novaja geografija Sojuza, in: Vokrug sveta 3–4 (1946), S. 2–3.
82 „[...] романтики географии в нашем журнале еще нет. [...] Основной источник этих трудностей в том,
что наши научные фантасты, это люди, пришедшие в литературу от инженерии, привыкшие к
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Dieses Problem verschärfte sich in den folgenden Jahren noch, da die Ingenieure im Bereich der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur zunehmend an Dominanz gewannen, während andere Fantastikschriftsteller, die noch am ehesten zu einer geografischen Romantik hätten beitragen können – wie Efremov oder Studitskij –, sich wie dargestellt aus dem Literaturbetrieb wieder zurückzogen. So blieb die Zeitschrift mit einer halb so hohen Auflage wie vor dem Kriege unter den drei „dünnen“ populärwissenschaftlichen Zeitschriften das kleinste Periodikum, das in der Presse kaum beachtet wurde.83 Nikolaj Michajlov selber hingegen und auch Michail Il’in arbeiteten weiter an ihren großen wissenschaftlich-künstlerischen Werken zur neuen Geografie beziehungsweise zur Umgestaltung des Landes. Michajlov veröffentlichte 1946 das Überblickswerk Räume und Reichtümer unserer Heimat (Просторы и богатства нашей родины) im Verlag Gospolizdat, das die geografische, ökonomische und politische Struktur der Sowjetunion in emphatischer Weise schilderte. 1947 folgte die sehr viel massenwirksamer beziehungsweise „künstlerischer“ gehaltene, schon erwähnte Festschrift zum 30. Jubiläum der Oktoberrevolution Über der Karte der Heimat (Над картой родины) bei Molodaja gvardija, für das er 1948 den Stalinpreis zugesprochen bekam. Diese „Karte der Heimat“ wird in der Einleitung als ein Gebiet beschrieben, das von einer „roten Linie“ umgeben werde, „der heiligen Grenze des Sowjetlandes“ („красная линия – священный рубеж советской земли“): „Das ist nicht nur die Grenze des größten Landes der Welt, – das ist eine Linie, durch die Rechtlosigkeit, Willkür und Ausbeutung eintreten. Dort, auf der anderen Seite der Linie, – sind Finsternis und Sklaverei, Macht des Geldes, Gewalt gegen die Massen. Hier, auf unserer sowjetischen Erde, – freie Bürger eines freien Landes, Freude, schöpferische Arbeit, große Aufbauwälder des Kommunismus.“84
Die „Baugerüste des Kommunismus“ befänden sich dabei übers ganze Land von Moskau bis an die äußerste Peripherie verteilt, so dass es keine „kolonialen Randgebiete“ oder „zurückgebliebeтехническим статьям. Наша советская фантастика, в лучшем случае, идет по пути технического фантазирования.“ So der leitende Redakteur der Zeitschrift auf der Sektionssitzung vom 03.01.1947, vgl.
RGALI, f. 631, op. 22, ed. 16, l. 2, 4; Als „geografische Romantik“ hatte man in jenen Jahren einzig den historischen „Meereskurzroman“ (морская повесть) über den Seefahrer und Weltreisenden Vassilij Golovin aus dem 19. Jahrhundert von Ruvim Fraerman und Pavel Zajkin zu bieten, vgl. Fraerman, Ruvim; Zajkin, Pavel: Žizn’ i neobyknovennye prključenija kapitan-lejtenanta Golovnina, putešestvennika i morechodca. Morskaja povest’, in: Vokrug sveta 1 (1946), S. 47–55; 2, S. 46–53; 3–4, S. 41–48; 5–6, S. 41– 49; 7, S. 35–43; 8–9, S. 38–45. 83
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 16, l. 2.
84 „Это не только граница величайшей из стран мира, – это линия, через которую не переступают бес-
правие, произвол, угнетение. Там, по ту сторону черты, – тьма и рабство, власть денег, насилие над массами. Здесь, на нашей, на советской земле, – свободные граждане свободной страны, радость созидательного труда, великие строительные леса коммунизма.“ Michajlov, Nikolaj: Nad kartoj rodiny.
1917–1947, Moskva 1947, S. 6.
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nen Völker“ mehr gebe, sondern sich planmäßig nach und nach die Geografie des Landes und damit auch seine Menschen ändern.85 Die angestrebten Ergebnisse dieser Veränderungen konnte man in dem 1949 wiederum bei Gospolizdat erschienenen Buch Unsere große Heimat (Наша великая родина) genauer nachlesen, das mit der für die damalige Zeit extrem hohen Auflage von 350.000 Exemplaren gedruckt wurde. Während der erste Abschnitt eine überarbeitete Version von Räume und Reichtümer unserer Heimat darstellte und die mittleren Abschnitte die „Große Vergangenheit des sowjetischen Volkes“ von der Kiewer Rus’ bis zur Revolution, den sozialistischen Staatsaufbau und den Großen Vaterländischen Krieg beschrieben, waren im letzten Teil zwei Kapitel dem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus gewidmet.86 Diese Schlusskapitel versprachen ein prosperierendes freies und demokratisches Land, das den Kapitalismus in seiner Arbeitsproduktivität überholt habe, so dass es Waren in Überfluss geben werde, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen leben könne und der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, zwischen Stadt und Land aufgehoben sei, man aber weiter an der ideologischen und politischen Erziehung der Werktätigen arbeiten müsse und die Bedeutung des Staates und der Partei unter Führung Stalins noch steigen werde, solange die „kapitalistische Einkreisung“ nicht liquidiert sei.87 Das zentrale argumentative und imaginäre Phantasma zur Schaffung dieses ökonomisch und geistig blühenden Staates aber stellte der „Stalinplan zur Umgestaltung der Natur“ dar, den man 1950 sogar zu einem Zentralthema der gesamten sowjetischen schönen Literatur erklärt hatte. In dessen Darstellung hätten die Schriftsteller – so Michajlov – vor allem drei Aspekte zu beachten: Erstens den „riesigen Maßstab“ der Baustellen des Kommunismus; zweitens müsse man bei ihrer künstlerischen Ausgestaltung das „Thema der Zukunft“ mit berücksichtigen, in deren Kategorien die auf ihnen arbeitenden und lebenden Menschen schon heute denken würden; 88 und drittens änderten sich damit auch die „ästhetischen Wahrnehmungen der Bevölkerung“ (эстетические воззрения населения): „Wirklich, die Steppe verwandelt sich in Steppenstreifen, eingezäunt von Wäldern, und es entsteht ein neues Verhältnis des Volkes zu dieser Landschaft, es entsteht eine neue Liebe zum alten Ort in neuer Gestalt... Und dieses neue Thema der Schönheit, von Menschen geschaffen, erscheint als ein vollständig neues Thema, das noch von niemandem ausgearbeitet worden ist.“89 85
Ebd., S. 7ff.
86
Vgl. Michajlov, Nikolaj: Naša velikaja rodina, Moskva 1949.
87
Ebd., S. 527–557.
88
So Michajlov in seinem Einführungsvortrag auf der Sektionssitzung zum „Stalinschen Plan der Umgestaltung der Natur und der Arbeit der Schrifsteller auf den Baustellen des Kommunismus“ am 22.12.1950, vlg. das Stenogramm, RGALI, f. 631, op.22, ed. 34, l. 8–10.
89 „Действительно, степь превращается в степные полосы, перегороженные лесами и возникает новое
отношение народа к этому пейзажу, возникает новая любовь к старому месту в его новом виде... И эта новая тема красоты, созданной человеком, она является совершенно новой, никем не разработанной.“ Ebd., l. 11.
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Genau diese bislang „von niemandem ausgearbeitete“ neue Schönheit der vom Menschen geschaffenen Landesgeografie stellte aber auch den zentralen Begründungszusammenhang für die neu zu definierende Wissenschaftliche Fantastik seit 1949 dar. Sie sollte ein sowjetisches Naturbild liefern, das weder einer idealisierten Naturschönheit noch einer imperalen Exotik, weder sentimentalem Heimatdiskurs noch kolonialer Urwaldromantik folgt, sondern – wie Viktor Šklovskij es auf einer Diskussion zu dem Thema formulierte – der Natur den Skalp (cкальп) abziehe, um dahinter die „kommunistische Größe des Menschen“ zu sehen: „Die Möglichkeit die Natur zu verändern – das ist das Gefühl der Epoche, und man muss unbedingt die Einflussstufen dieser Veränderung vorhersehen, die Stufen des kommunistischen Aufstiegs des Menschen./ Der sozialistische Realismus des großen Plans besteht nun darin, dass das ein Plan nicht nur der Umgestaltung der Natur, sondern auch ein Plan des Sehens der Natur ist, des Erfassens derjenigen Eigenschaften, für die wir kämpfen, dafür, dass wir diese Natur umgestalten.“90
Auch Konstantin Paustovskij revidierte infolge massiven literaturpolitischen Drucks Anfang der fünfziger Jahre seine noch unlängst vertretenen Ansichten zur inspirierenden Kraft der natürlichen Geografie.91 Stattdessen stellte er ähnlich wie Šklovskij und in Anschluss an seine Anfang der dreißiger Jahre geschriebenen Werke die zentrale Rolle der Einbildungskraft bei der Schaffung einer neuen Naturpoetik heraus: „Dem Wesen nach wird das eine titanische Arbeit der Umgestaltung der Natur, und ich meine, dass wir der Zeit mit unserer Einbildungskraft helfen müssen, denn diese Werke sind zu einem bestimmten Teil auch von der Mächtigkeit der menschlichen Einbildung bestimmt. Wir dürfen keine Verbraucher der Zeit sein und von dieser Zeit das Material nehmen, nein, wir müssen das Unsere geben... Doch ich möchte noch eine Seite dieses Gedankens unterstreichen, dass je mehr wir wissen, desto stärker und freier unsere Einbildungskraft arbeitet.“92
90 „Возможность переделывать природу – это ощущение эпохи и необходимо историческое предвидение
степени влияния этой переделки, степени коммунистического роста человека./ И вот социалистический реализм великого плана заключается в том, что это есть план не только переделки природы, но и план видения природы, выхватывания из нее тех черт, за которые мы боремся, для того, чтобы переделывать эту природу.“ RGALI, f. 631, op.22, ed. 34, l. 18f.
91
Zu den biographischen Umständen, vgl. Pavlovskij: Paustovskij, S. 31ff.; Vevickij, V. A.: Konstantin Georgievič Paustovskij, in: Nikolaev, Petr A. (Hg.): Russkie pisateli XX veka. Biografičeskij slovar’, Moskva 2000, S. 541–543.
92 „По существу это будет титаническая работа по преобразованию природы, и я считаю, что помогать
времени мы должны своим воображением, потому что эти работы вызваны в известной мере могуществом человеческого воображения. Мы не должны быть потребителями времени и брать от этого времени материал, нет, мы должны давать и свое... Но я хотел бы подчеркнуть одну сторону этой мысли, что чем больше у нас знаний, тем сильнее и свободнее работает наше воображение.“
Ebd., l. 41.
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Gemäß diesem Diktum veröffentlichte er 1952 das Auftragswerk Die Geburt eines Meeres (Рождение моря) über den durch den Bau des Wolga-Don-Kanals nahe Stalingrad entstehenden riesigen Stausee, der die Energie- und Wasserversorgung für die ganze Region sichern sollte.93 Noch stärker als in Kara-Bugas verwoben sich hier die in Gesprächen und Beobachtungen zusammengetragenen Eindrücke von der „Stalinschen Großbaustelle des Kommunismus“, inspiriert durch die „genialen Gedanken Stalins,“ mit der „starken und freien“ Einbildungskraft des enthusiastischen Erzählers.94 Den imaginären Rahmen für solche von Menschen geschaffenen „Naturvisionen“ gab wiederum kein anderer als Michail Il’in selber mit seinen Erzählungen von der Eroberung der Natur (Рассказы о покорении природы) vor. Diese eröffnete er 1948 mit seinem Werk Der Mensch und das Element (Человек и стихия), dem 1950 das Buch Die Eroberung der Natur (Покорение природы) folgte, ehe er 1951 Die Umgestaltung des Planeten (Преобразование планеты) schrieb und alle drei Texte in einem Band als Die Umgestaltung des Planeten. Erzählungen von der Eroberung der Natur zusammenfasste.95 Dieses Werk knüpfte unmittelbar an sein Buch Berge und Menschen. Erzählungen vom Umbau der Natur von 1935 an, radikalisierte den Duktus aber erheblich. Denn genauso wie Šklovskijs Metaphorik des Skalps, den man der Natur abziehen müsse, ist auch in dem Titel „Eroberung des Planeten“ unverkennbarer ein kolonialer Sprachgestus vorhanden, der sich fremde Welten unterwirft und sie ausbeutet. Ging es in der bis Ende der 1930er Jahre vorherrschenden Rhetorik vornehmlich um eine Entexotisierung, Historisierung und Entzauberung kolonialer Sprachregelungen und imperialer Vorstellungen, konzipiert Il’in hingegen den „Neuen Blick“ („Новое видение“) des Menschen letztlich als einen kolonialen Blick, der sich jedoch nicht gegen den unterdrückten Menschen, sondern auf die unterjochte Natur richtet. So schließt er sein Werk ganz explizit mit einem Vergleich der „kolonialen“ Versklavung des Menschen mit der „kommunistischen“ Unterwerfung der Natur: „Die ganze Welt lauscht aufgeregt dem Krachen der Maschinen, dem überzeugten Auftritt der Menschen, die zum Angriff übergehen, nicht um fremde Länder und fremde Reichtümer zu erbeuten, sondern um unbewohnte Wüsten zu erobern, um mit der mächtigen Kraft der Luft- und 93
Vgl. Paustovskij, Konstantin: Roždenie morja, in: Znamja 4 (1952), S. 8–64; 5, S. 95–143. Im gleichen Jahr erschien der Kurzroman auch in Buchform, der Paustovskij neben einer guten Bezahlung vor allem eine neue größere Wohnung in Moskau einbrachte, vgl. Gestwa, Klaus: Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrotechnische Archipel Gulag, 1931–1958, in: Osteuropa 6 (2007), S. 239–266, S. 255.
94
Vgl. Paustovskij: Roždenie morja, in: Znamja 5 (1952), S. 95–143; Westerman: Ingenieure der Seele, S. 218ff.; Nach 1952 ist dieser Text von Paustovskij für die Publikation gesperrt worden. Für seine 1957 und 1958 erschienene sechsbändige Werksausgabe überarbeitete er den Kurzroman grundlegend und publizierte ihn nun unter dem Titel Der heldenhafte Südosten (Героический Юго-восток), der alle zeitpolitischen Anspielungen und auch das hier propagierte Naturverständnis einer gründlichen Revision unterzog, vgl. Westerman: Ingenieure der Seele, S. 162ff.
95
Vgl. Il’in, Michail: Preobrazovanie planety. Rasskazy o pokorenii prirody, Moskva 1951.
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Wasserströme zu kämpfen. [...] Doch leblos bleiben die Wüsten Amerikas, Afrikas und Australiens. Ihre Herren denken auch nicht daran, die Wüstenländer sich anzueignen, die sich in ihrer Macht befinden. Sie stellen Pläne auf, doch es sind Pläne der Zerstörung und nicht des Schöpfertums. Sie wollen die Erde nicht mit Lebenswasser, sondern mit menschlichem Blut durchtränken.“96
Doch nicht nur in der antithetischen Parallelisierung von sowjetischer und imperialer Eroberung des Planeten nahm Il’in deutlichen Bezug auf die Abenteuerliteratur der Kolonialzeit, auch in der Intention seiner Poetik folgte er letztlich deren Vorbild. Genauso wie die „Klassiker“ der Abenteuerliteratur wesentlich dazu beigetragen haben, die imperiale Eroberung und Unterdrückung der kolonialen Welt zu legitimieren, indem sie sie als exotische, geheimnisvolle und archaische Wildnis verzauberten, wird hier in den fantastischen Geschichten von der Umgestaltung des Klimas und des Kampfes mit den Luft- und Wasserströmen die grausame Realität der „schwarzen Orte“ des auf Blut gebauten „hydrotechnischen Archipel Gulag“ mit Hilfe der menschlichen Einbildungskraft umgeschrieben.97 Damit hatte sich aber eine wesentliche diskursive Verschiebung gegenüber den wissenschaftlich-künstlerischen und auch den Abenteuertexten der 1930er Jahre ergeben. War jenen in der Entexotisierung und Entkolonisierung außersowjetischer Welten noch eine deutlich anti-koloniale Rhetorik eingeschrieben, taucht in diesen ab Ende der vierziger Jahre entstandenen Werken die außersowjetische Welt – wie in dem zitierten Ausschnitt aus Michajlov – nur noch als ein mythisches Reich der Finsternis und der Sklaverei auf, gegen das man sich schützen oder das man durch eine Eroberung des Planeten überwinden müsse, indem man eine neue Geografie des Planeten am Ende der Eiszeitperiode schafft. Will man das hier in Hinsicht auf die „Belletrisierung“ der populärwissenschaftlichen Literatur und der Neubestimmung des Naturbegriffs Gesagte in Bezug auf die 1949 vollzogene Neuausrichtung der Wissenschaftlichen Fantastik zusammenfassen, lassen sich folgende höchst ambivalente Konstitutionsbedingungen festhalten: Zum einen galt es auf mehreren Ebenen einen immer noch, nach sowjetischer Terminologie „idealistischen“ Naturbegriff zu überwinden. Schon in den in Kapitel 13 (Der hinkende Wunschtraum) diskutierten wissenschaftlichfantastischen Texten eines Efremov, Palej oder Studitskij hatte sich gezeigt, dass hier ein Naturverständnis vorherrschte, das ihr „außergewöhnliche“ Naturwunder und den menschlichen 96 „Весь мир с волнением прислушивается к грохоту машин, к уверенной поступи людей, выступивших
в поход не для захвата чужих земель и чужих богатств, а для завоевания безлюдных пустынь, для борьбы с могучей силой воздушных и водных потоков. [...] Но безжизненными остаются пустыни в Америке, в Африке, в Австралии. Их хозяева и не помышляют об освоении пустынных земель, которые находятся в их власти. Они составляют планы, но это планы разрушения, а не созидания. Они хотят оросить землю не живительной водой рек, а человеческой кровью.“ Ebd., S. 599;
97
Ob der Zynismus solcher Äußerungen wie die von Il’in zitierte für die Zeitgenossen jederzeit manifest gewesen ist, muss offen bleiben, waren doch die Großbauten des Kommunismus vornehmlich durch Zwangsarbeit von Hunderttausenden an Strafgefangenen entstanden, was Klaus Gestwa als einen „hydrotechnischen Archipel Gulag“ beschreibt, vgl. Gestwa: Auf Wasser und Blut gebaut, S. 253ff.
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Geist inspirierende (vorbildhafte) Wirkungen zuschrieb. Doch diese der Natur besondere „kosmische“ (Efremov, Kazancev) Energien apostrophierenden Konzeptualisierungen waren keineswegs die Marotten einzelner, auf Abwege geratener Fantastikschriftsteller, sondern stellten vielmehr nach dem Krieg eine generell in der Belletristik weit verbreitete Naturpoetik dar, die im engen Zusammenhang mit der in der Kriegspropaganda entwickelten Metaphorik einer gewissen „Naturalisierung“ und damit auch Essentialisierung der russischen „Mutter Heimat“ stand. Die im Bereich der Naturwissenschaften geführten „Wissenschaftskriege“ gegen ein „idealistisches“ Naturverständnis erhielten vor diesem Hintergrund eine zusätzliche außerwissenschaftliche Dimension, die einen generellen Konflikt innerhalb des sowjetischen Menschen- und Naturverständnisses zur Sprache brachte. Daher versuchte man zum anderen ab 1948/1949 im Bereich der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur mit Hilfe einer „Belletrisierung“ der Populärwissenschaften einen Begriff des (russischen) Wissenschaftlers zu etablieren, der durch seine kreative Einbildungskraft eine Revision nicht nur der sowjetischen Geografie, sondern der Natur des Planeten insgesamt in die Wege leiten sollte. Die Vision der Naturveränderung sollte als künstlerische Formgebung die eigentliche popularisierende Funktion der wissenschaftlichen Erklärung der Naturgesetze überlagern. Dieses weltanschauliche Wissenschaftsphantasma einer Karte der Heimat, die von außen von Finsternis umgeben ist und nach innen ein Land der Freiheit und des Wohlstands verspricht, genauso wie die Allmachtsfantasien von Il’ins Umgestaltung des Planeten, die keine natürlichen Grenzen menschlichen Ingenieursgeistes mehr kennen, waren jedoch angesichts des Alltags der „Großbauten des Kommunismus“ höchst ambivalent, suggerierten sie doch eine vermeintlich unmittelbar bevorstehende Zukunftsvision, die kaum noch mit der außerliterarischen Wirklichkeit vereinbar war. Liest man jedoch die in der kurzen Periode von ungefähr 1949 bis 1953 entstandenen wissenschaftlich-fantastischen Werke vor diesem höchst prekären Hintergrund, bekommen diese seit der Tauwetterzeit als äußerst langweilige „Fantastik des Nahziels“ verworfenen Visionen einer unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Zukunft eine durchaus polyvalente und hybride Metaphorik, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll.
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15. D i e In s e l d e r E n t t ä u s c h ung – D ie Fa nt a st ik des „ N a h z i e l s “ 1 „Die wissenschaftlich-fantastische Literatur hörte unter dem entscheidenden Einfluss der Ideen Gor’kijs auf eine Abzweigung, ein Stiefkind des Abenteuer-, des ‚Unterhaltungs‘-Genres zu sein, sondern wurde eine wahrhafte Literatur über die Zukunft, eine Abteilung der ‚lehrhaften‘ wissenschaftlich-künstlerischen Literatur.“ (Vladimir Ševčenko, 1951)1
Die „Erhebung“ populärwissenschaftlicher Literatur aus den Untiefen der Vulgarisierung, Erniedrigung und Verflachung mit Hilfe der „künstlerischen Meisterschaft“ fand gemäß der im vorigen Kapitel skizzierten Konzeption ihre eigentliche Vollendung in der Wissenschaftlichen Fantastik. Erst indem diese Literatur aufhörte, ein „Stiefkind des ‚unterhaltsamen‘ Abenteuergenres“ zu sein, wie der Literaturkritiker Vladimir Ševčenko in dem vorangestellten Zitat schreibt, konnte sie „wahrhaftig“ zeigen, wie die Wissenschaften in der nahen Zukunft des Kommunismus ihre höchste Vollendung erreichen werden. So wie das Phantasma der Belletrisierung nach und nach die rational nachvollziehbaren und gleichsam unterhaltsamen Aufklärungsnarrationen der Wissenschaftspopularisierung verdrängte, okkupierte das „lehrhafte“ wissenschaftlich-künstlerische Element einer normierten Zukunftsdarstellung auch mehr und mehr die wissenschaftlich-fantastische Einbildungskraft.2 Doch in der Alltagspraxis des Literaturbetriebs gestaltete sich die Umsetzung dieser Idealvorstellungen sehr viel komplizierter als man es sich erhofft hatte. So hatte man in der Sektion Anfang 1949 deutliche Kriterien formuliert, wie diese wissenschaftliche „Fantastik des nahen Tages“ auszusehen habe, und auch Kritiker engagiert, die diese Ideen in der Öffentlichkeit publik machen sollten (Abschnitt 15.1. Der Aufruf an die Zukunft). Allerdings fanden sich nur äußerst wenige Autoren, die nach diesen Vorgaben auch bereit waren, wissenschaftlich-fantastische Werke zu schreiben, was zu einem massiven Rückgang an Neuerscheinungen führte. Die wenigen erschienenen Geschichten zeichneten ein Bild der Umgestaltung der Natur, das der von Nikolaj Michajlov proklamierten „Neuen Geographie“ der Sowjetunion sehr nahe kam. Be-
1 „Научно-фантастическая литература под направляющим воздействием идей Горького перестала быть
ответвлением, падчерицей приключенческого, ‚развлекательного‘ жанра, а стала правдивой литературой о будущем, разделом ‚учительной‘ научно-художественной литературы.“ So Vladimir
Ševčenko in seinem Vortrag auf der Sektionssitzung über die „Entwicklung der wissenschaftlich-fantastischen Literatur“ am 26.03.1951, vgl. RGALI, f. 631, op.22, ed. 41, l. 19. 2
Entsprechend charakterisierte ein Kritiker diese „lehrhafte“ Belletrisierung des Genres als eine „schädliche Konzeption“, da der typische Ingenieur als Autor – wie Nemcov oder Kazancev – auf diese Weise sein eigentlich gutes Popularisierungswerk verderbe, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 42, l. 82f.
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trachtet man sie jedoch genauer, dann zeigt sich selbst bei den prominentesten Vertretern dieser Richtung, bei Vladimir Nemcov und Vadim Ochotnikov, eine seltsame Ambivalenz, indem hinter der Vision einer lichten kommunistischen Zukunft doch wieder die dunklen Schatten der Vergangenheit zum Vorschein kommen (Abschnitt 15.2. Schatten unter der Erde). Die fehlende Akzeptanz für die von Michajlov, Il’in (bis zu dessen Tod 1953), Nemcov und anderen vertretene Ächtung der Abenteuerliteratur und Anbindung der Wissenschaftlichen Fantastik an die Wissenschaftspopularisierung führte nach Stalins Tod dazu, dass schneller noch als in anderen Bereichen der Literatur man eine grundlegende Revision der bisherigen Positionen vollzog. Diese zunehmend prinzipieller formulierte Ablehnung des Konzepts der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur, die in der Tauwetterzeit dann mit dem prägnanten Terminus der „Fantastik des Nahziels“ bedacht wurde, bedeutete jedoch nicht einen vollkommenen Neuanfang, sondern bestand vielmehr in einer Aktualisierung von im Laufe der Stalinzeit entwickelten Positionen zur Konzeption einer sowjetischen Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik. So verließ man das „unbesiedelte Gebiet“ wieder, auf dem die Brüder Il’ja Maršak und Michail Il’in mit Unterstützung Maksim Gor’kijs seit 1934 als „Neue Robinsons“ eine wissenschaftlich-künstlerische Literatur hatten aufbauen wollen, und ließ eine „Insel der Enttäuschung“ zurück, wie der Titel eines 1951 erschienenen Romans von Lazar’ Lagin lautete3 (Abschnitt 15.3. Das Ende der Illusionen).
15.1 Der Aufruf a n d ie Zuk unft – D i e E li mi n i e r u n g des Fantas tis chen Während die wissenschaftlich-künstlerische Literatur zwar im Bereich der Wissenschaftspopularisierung zunehmend einen breiteren Raum einnehmen konnte, ohne dass sie je ganz die populärwissenschaftlich-unterhaltsamen und didaktisch-erklärenden Texte zu einzelnen technischen und wissenschaftlichen Sachverhalten ersetzen konnte, hatte die Durchsetzung der wissenschaftlich-künstlerischen Prinzipien für die Wissenschaftliche Fantastik von Anfang an sehr viel schwerwiegendere Konsequenzen. Führte die Vorgabe erzieherischer, ideologischer und künstlerischer Erfordernisse in den Populärwissenschaften aber zu einer Fiktionalisierung wissenschaft3
Dieser Roman Lagins, der 1951 erstmals bei Molodaja gvardija publiziert wurde, wird in diesem Abschnitt nicht weiter besprochen, da er nicht von der Darstellung der kommunistischen Zukunft handelt, sondern eine politische Satire auf die ehemaligen Alliierten der Sowjetunion darstellt, die auf einer einsamen Pazifikinsel bereits 1944 mit den Faschisten zusammenarbeiten. Ob nicht nur der Titel, sondern der Roman als Ganzes trotzdem als metaphorisch verschlüsseltes Sinnbild für die „Insel“ der sowjetischen Neuen Robinsons und Fantastik- und Abenteuerschriftsteller gelesen werden kann, müsste eine genauere Lektüre zeigen. Vgl. Lagin, Lazar’: Ostrov Razočarovanija (1951), in: Ders.: Starik Chottabyč. Patent „AV“. Ostrov Razočarovanija, Moskva 1956, S. 443–816.
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licher Sachverhalte, so war ihr Ziel im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik vor allem eine Domestizierung des Fantastischen: Entsprechend groß war der Widerstand unter denjenigen Autoren, Kritikern und Redakteuren, die sich mit Wissenschaftlicher Fantastik befassten. Als daher 1946 die ersten Werke von Kazancev, Nemcov und Studitskij auftauchten, die im Sinne von Il’ins Gruppe geschrieben waren, trafen sie von allen Seiten auf massive Ablehnung. Der Kritiker Igor’ Chalturin formulierte seine Geringschätzung wie folgt: „Was für eine Armseligkeit der Fantasie muss man haben, um das zu schreiben, und was für eine Verachtung, was für eine Geringschätzung gegenüber der Wissenschaft! Und wenn dann solche fantastischen, ungeschickten Dinge erdacht werden, wenn die Fäulnis beginnt zu wachsen, dann spucken sie auf Lysenko, auf Mičurin, auf alle Menschen, die ihr Leben der Wissenschaft gewidmet haben. Solche Dinge lenken von der wirklichen Wissenschaft ab, anstatt die Menschen für sie zu gewinnen.“4
Genau das aber war die Aufgabe wissenschaftlich-künstlerischer Literatur: Sie sollte – wie oben dargestellt – die Leser nicht zu den ungeklärten Forschungsfragen der „wirklichen Wissenschaften“ hinführen, sondern deren Aufmerksamkeit auf den „ideellen Gehalt“ der wissenschaftlichen Ergebnisse lenken und ihnen Visionen russischer Pioniere und Alltagshelden der Wissenschaften präsentieren. Eben diese Abkehr vom bisherigen Wissenschaftsverständnis hin zur Akzentuierung des ideellen Gehalts markierte den Umbruch, der seit 1949 auch im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik durchgesetzt wurde. Wie weit dieser Ausschluss „wissenschaftlicher“ Frage- und Themenstellungen gehen sollte, hatte sich bereits bei den Diskussionen um Kirill Andreevs Rekonzeptualisierung der Wissenschaftlichen Fantastik Anfang 1949 gezeigt, als dieser den Hauptgegenstand der Wissenschaftlichen Fantastik wie folgt definierte: „Ihr Hauptgegenstand ist diese hohe Synthese, wo Wissenschaft und Poesie aneinander grenzen, wo die Romantik der wissenschaftlichen Suche beginnt, der wissenschaftlichen Arbeit, das ist die schöpferische Fantasie, über die einmal Vladimir Il’ič Lenin sehr treffend gesagt hat: ‚Das ist die schöpferische Fantasie, ohne die es unmöglich ist, die Differenzialrechnung zu erfinden.‘“5
4 „Какое убожество фантазии надо иметь, чтобы все это написать и какое это презрение, пренебрежение
к Науке! И когда выдумываются такие фантастические, нелепые вещи, когда пни начинают расти, вы плюете в Лысенко, в Мичурина, во всех людей, которые свою жизнь за науку положили. Такие вещи от настоящей науки отвлекают, а не привлекают к ней.“ Vgl. RGALI, f. 631, op. 15, ed. 787, l. 25.
5 „Ее главный предмет – тот высокий синтез, где граничат наука и поэзия, где рождается романтика
научных поисков, научного труда, это та творческая фантазия, о которой когда-то очень хорошо говорил Владимир Ильич Ленин – ‚Это та творческая фантазия без которой невозможно создать дифференциальное исчисленение.‘“ RGALI, f. 631, op. 22, ed. 22, l. 16.
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Diese schöpferische Fantasie realisiere sich – so Andreev – in den Werken als „Poesie des Ungewöhnlichen“, die man aber nicht in der Exotik, sondern im Alltag zu suchen habe: „Nur sehr wenige vermögen mit der Poesie des Ungewöhnlichen umzugehen. Andere suchen dieses Ungewöhnliche in der Exotik. [Wissenschaftliche Fantastik] soll die Romantik im Einfachen finden und unsere gewöhnliche Welt im vollen Glanz und voller Größe zeigen, diejenige Welt, die uns umgibt.“6
Mit dieser Verortung des Ungewöhnlichen im Alltag versuchte Andreev letztlich zumindest einen Teil seiner Überlegungen von 1941 zum „abenteuerlichen Alltagsroman“ und zur „Literatur des großen Wunschtraums“ von 1945 weiterzuverfolgen, indem er diesmal in Anspielung auf Efremovs Werke das Ungewöhnliche an die Stelle des Abenteuers und des großen Wunschtraums setzte. Gemeinsam blieb all diesen Ausführungen aber die im Leninzitat anklingende Metaphorik des Anderen, Differenten, das man als neues Element mit Hilfe der Wissenschaften durch „schöpferische Fantasie“, durch künstlerische Einbildungskraft in den Alltag einbringt. Doch gerade eine solche dem Fantastischen inhärente Differenz-Rhetorik wollte man nun mit allen Mitteln eliminieren. Und so schützte Andreev auch nicht der Verweis auf Lenin und die exakten Wissenschaften (Differenzialrechnung) vor massiver Kritik seitens der Protagonisten der Neuausrichtung, die seine Überlegungen zum „Ungewöhnlichen“ als grundlegend falsch verwarfen: „Das ist grundlegend falsch und prinzipiell unrichtig, denn die Poesie des Ungewöhnlichen ist ja gerade ein Prärogativ der kapitalistischen Literatur, der westeuropäischen Literatur.“7 Genau dieses poetische Vorrecht, mit Hilfe von metaphorisierten Differenzialquotienten, Grenzwerten und Ableitungen einen „anderen Aspekt“ der Welt aufzudecken, sollte von nun an durch den „ideellen Gehalt“ ersetzt werden. Zur Ausformulierung des Konzepts engagierte man 1949 zwei junge Kritiker, die beide b islang nichts mit der Sektion und den Autoren des Genres zu tun gehabt hatten. Den einen Kritiker hatte man vom Sekretariat des Schriftstellerverbandes über den renommierten Nekrasovforscher und Literaturprofessor an der Leningrader Universität, Vladislav Evgen’evič Evgen’ev-Maksimov (1883–1955), vermittelt bekommen: Vladimir Ivanovič Ševčenko,8 der für die Gesellschaft für Wissensverbreitung (Общество по рапространению знания) als Dozent arbeitete und seit dem Frühjahr 1949 Vortragsreisen zur „realistischen Richtung“ in der Wissenschaftlichen Fantastik
6 „Очень немногие умеют соприкасать с поэзией нeобыкновенного. Иные ищут это необыкновенное в
экзотике. [Научная фантастика] должна найти романтику в простом и показать в полном блеске и великолепии наш обыкновенный мир, тот мир, который окружает нас.“ Ebd., l. 17.
7 „Это – глубоко неверно и принципиально неправильно, ибо поэзия необыкновенного является как
раз прерогативой капиталистической литературы, литературы западно-европейской.“ So der Fantas-
tikschriftsteller Valentin Ivanov auf der Aussprache über Andreevs Vortrag, vgl. ebd., l. 47. 8
Vgl. RGALI, f. 631,op. 22, ed.41, l. 29; Ebd., ed. 36, l. 17.
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veranstaltete,9 ehe er im Auftrag des Komsomol die Gelegenheit bekam, unter der Überschrift „Suchen und finden“ (Искать и находить) in der Komsomol’skaja pravda einen Grundsatzartikel „Für hohe Ideenhaftigkeit und Kunstfertigkeit der wissenschaftlich-fantastischen Literatur“ (За высокую идейность и художественность научно-фантастической литературы) zu schreiben.10 Anfang 1950 konnte er mit Unterstützung der Sektionsleitung auch in der Zeitung des Schriftstellerverbandes, der Literaturnaja gazeta, einen ähnlichen Artikel platzieren.11 Diese „ketzerischen“ Traktate brachten Ševčenko jedoch unter den von ihm kritisierten Redakteuren und Fantastikautoren innerhalb kurzer Zeit den Ruf ein, ein „Mörder des Genres“ zu sein – die Gesellschaft zur Wissensverbreitung kündigte ihm daraufhin die Arbeit und die Verlage weigerten sich seine Manuskripte anzunehmen.12 Den anderen jungen Kritiker, den Vladimir Nemcov rekrutiert hatte, ließ man aufgrund dieser Erfahrung seine Thesen zuerst Ende 1949 innerhalb der Sektion vorstellen, ehe Sergej V. Ivanov seinen Grundsatzartikel zu „Fantastik und Wirklichkeit“ (Фантастика и действительность) in der Januarausgabe der Literaturzeitschrift Oktjabr’ unterbringen konnte und ab März im Sektionsbüro für Kritik und Theorie der Wissenschaftlichen Fantastik zuständig war.13 Allerdings musste sich Ivanov schwere faktische Fehler und Plagiatsvorwürfe gefallen lassen, blieb aber weiter dank der Rückendeckung durch die Sektionsleitung zusammen mit Ševčenko für die Konzeptualisierung des „ideellen Gehalts“ des Genres zuständig.14 Mit Unterstützung dieser beiden jungen Kritiker konnte man so im Laufe der Jahre 1949 und 1950 eine weitgehend kohärente Definition der Wissenschaftlichen Fantastik im Rahmen der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur liefern, die Ivanov sogar noch durch eine Reintegration eines vollkommen seiner Bedeutung entleerten Begriffs der Abenteuerliteratur in die Genrebestimmung versuchte zu erweitern. Diese Neudefinition des Genres ging einher mit polemischen Angriffen gegen einen Großteil der Fantastikschriftsteller und ihrer Werke, die zusätzliche rhetorische Schärfe dadurch gewannen, dass sie im Namen der zu dieser Zeit in allen Gesellschaftsbereichen geführten Kampagne gegen den Kosmopolitismus geführt wurden. Auch wenn diese Kampagne im Bereich der wissenschaftlich-künstlerischen Literatur – wie oben er 9
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22., ed. 26, l. 78.
10
Ševčenko, Vladimir: Iskat’ i nachodit’. Za vysokuju idejnost’ i chudožennost’ v naučno-fantastičeskoj literatury, in: Komsomol’skaja pravda (08.10.1949), S. 2.
11
Diesen Artikel veröffentlichte er zusammen mit der „Ingeneurin“ V. Strukova, vgl. Strukova, V.; Ševčenko, Vladimir: Fantastičeskie izmyšlenija vmesto naučnoj fantastiki, in: Literaturnaja gazeta 5 (14.01.1950), S. 3.; Die Redaktion von Novyj mir lehnte einen Artikel von ihm hingegen aufgrund der Niveaulosigkeit kategorisch ab, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 37, l. 11–12.
12
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22., ed. 30, l. 14ff.
13
Vgl. Ivanov: Fantastika i dejstvitel’nost’, S. 155–164; das Stenogramm der Sektionssitzung über neue Werke der Wissenschaftlichen Fantastik vom 26.12.1949, auf der Ivanov den Eröffnungsvortrag hielt, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 9–37; das Sitzungsprotokoll vom 01.03.1950, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 30, l. 7–8; die internen Rezensionen von Ivanov zu neuen Werken im Jahr 1950, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 35, l. 6–39.
14
Vgl. RGALI, f. 631, op. 22., ed. 30, l. 14.
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wähnt – vornehmlich ein mediales Oberflächenphänomen blieb, diente sie doch dazu, die der Definition zugrunde gelegten Antagonismen noch prägnanter zu formulieren. Diese Definition beinhaltete vor allem drei zentrale Kriterien, die erstens eine genaue Festlegung von Handlungsort und -zeit der Geschichten, zweitens die literaturgeschichtliche Herleitung des Genres aus der russischen Kultur und drittens die inhaltliche Themenbegrenzung dieser Literatur betrafen, wie im Weiteren kurz ausgeführt wird. Am wichtigsten für die weitere Entwicklung des Genres war das erste Kriterium der Eingrenzung möglicher Zeiträume und Handlungsorte: Den Ausgangspunkt für diese Überlegung bildete der alte Vorwurf gegen die Fantastik der Romantik, sie sei abstrakt und wirklichkeitsfremd, der jetzt pauschal auf die bourgeoise Fantastik und westliche Science Fiction im Ganzen übertragen wurde. Demgegenüber müsse die Fantastik des entwickelten Sozialismus realitätsnah und konkret sein, das hieß, sie sollte die sowjetische Wirklichkeit und deren mögliche Entwicklung in den nächsten Jahren zeigen. Auch wenn dieser Gedanke schon zuvor immer wieder geäußert worden war, verband ihn erst der Sektionsvorsitzende Michajlov erstmals öffentlich im Januar 1949 mit einer ultimativen zeitlichen Festlegung: „Zur ersten Frage – betreffs ferner und naher Themen. Hier ist die Frage ganz klar. Das, was schon entstanden ist und wächst – genau das soll das Thema der Wissenschaftlichen Fantastik sein, und das, was in der nächsten Zukunft entstehen wird.“15 Ende 1950 brachte er diese Definition auf folgende Formel: „Wenn früher die Wissenschaftliche Fantastik weit in die Zukunft geblickt hat, besteht jetzt der ganze Sinn, der ganze künstlerische und politische Sinn des wissenschaftlich-fantastischen Romans darin, das Feuer dichter an sich selber zu halten, wobei allgemein der Sinn von jedem Roman darin besteht, die Zukunft zu beleuchten.“16
Mit dieser Definition grenzte Michajlov jedoch nicht nur den möglichen Erzählzeitraum ein, sondern auch den Erzählort, sollte doch das „Feuer dichter an sich selber“ gehalten, und das hieß, die Sowjetunion illuminiert werden: „Die Partei und Regierung zeichnen täglich in der praktischen Arbeit die Perspektive der Zukunft vor uns. Sind etwa die historischen Hinweise von Genosse Stalin über die Entwicklung unserer Industrie für die nächsten Fünfjahrespläne keine überaus reichhaltigen Themen für die Schriftsteller?“17 15 „Вопрос первый – на счет далеких или близких тем. Здесь вопрос совершенно ясен. То, что уже
зародилось и растет – вот что должно быть темой научной фантастики и то, что вырастет в ближайшем будущем.“ RGALI, f. 361, op. 22, ed. 22, l. 86.
16 „Если раньше научная фантастика уходила далеко вперед, то сейчас весь смысл, весь художественный
и политичeский смысл научно-фантастического романа заключается в том, чтобы перенести огонь ближе на себя, как равно у романа всякого смысл в том, чтобы осветить будущее.“ RGALI, f. 631, op.
22, ed. 34, l. 12. 17 „Партия и правительство каждодневно практическими делами рисуют перед нами перспективу
будущего. Разве исторические указания товарища Сталина о развитии нашей промышленности на
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Fiktive Handlungsorte auf anderen Planeten oder auch in fernen kapitalistischen Ländern, wie Beljaevs Zehnter Planet oder Vsevoložskijs Schicksal eines Scharfsichtigen waren damit von vornherein ausgeschlossen. Einzig deutlich identifizierbare feindliche Länder der nahen Vergangenheit oder Gegenwart, wie das nationalsozialistische Deutschland, das postfaschistische Westdeutschland oder die imperialistischen USA konnten im politisch-fantastischen Pamphlet noch dargestellt werden, wobei eigentlich nur ein Autor in diesem Genre reüssierte, und zwar Lazar’ Lagin mit seinen Romanen Das Patent „AV“ und Die Insel der Enttäuschungen.18 Selbst Kriegsszenarien der „Verteidigungsfantastik“, die im Stile von Španovs Erstem Schlag oder Dolgušins Wundergenerator ein mögliches oder drohendes Umschlagen des Kalten Krieges in einen „heißen“ ausmalten, gab es in diesen Jahren nicht mehr. Strittig an dieser Definition blieb lediglich noch, wie weit man den Scheinwerfer in die Zukunft richten dürfe. Als Sytin auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung über die Entwicklung der wissenschaftlich-fantastischen Literatur im März 1951 erstmals die Formel von der „Fantastik des nahen Tages“ („фантастика ближнего дня“) gebrauchte, gekoppelt an die Feststellung, dass man nur innerhalb der Grenzen des laufenden Fünfjahresplans fantasieren könne, da man sonst an den Kompetenzen Stalins und der Partei rüttelte, löste das zwar noch einmal einen internen Proteststurm aus, änderte aber nichts am Wesen der Definition.19 So verwies man darauf, dass selbst Stalin jetzt einen Fünfzehnjahresplan aufgestellt habe und es daher möglich sein müsse, 20 bis 30 Jahre vorauszusehen. Doch entscheidend sei, dass die Zukunft keine prinzipiell neuen Entwicklungen mehr bringen werde: „Die Menschen, die wir in der Zukunft sehen, in 10 Jahren, können sich nicht von den fortschrittlichen Menschen unseres heutigen Tages unterscheiden. Man muss nicht fantasieren, dass die Menschen andere sein werden. Das Wichtigste besteht darin, dass unsere Leute sogar heute schon die Züge unserer Stalinschen Epoche tragen und dass der beste Vertreter unserer Epoche, Gen. Stalin, zweifelsohne der beste Mensch ist.“20 ближайшие несколько прятилеток не являются огромнейшей темой для писателей?“ Ivanov: Fantas-
tika i dejstvitel’nost’, S. 154. 18
Vgl. hierzu Pisarževskij, Oleg: Osvoenie žanra, in: Literaturnaja gazeta (16.08.1952), S. 3.
19
Für die Sektionssitzung, in der Sytin diese Forderung aufstellte, ist kein Stenogramm überliefert, allerdings existiert ein Stenogramm der Diskussion über Sytins Thesen, vgl. das Stenogramm zu der Diskussion „Über die Entwicklung der wissenschaftlich-fantastische Literatur [Ende. Ohne Anfang]“ vom 26.03.1951, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 41, l. 62.
20 „Люди – которых мы увидим в будущем, через 10 лет, не могут отличаться от передовых людей
нашего сегодняшнего дня. Не нужно фантазировать, что люди будут иные. Cамоe главное заключается в том, что наши люди даже сегодня несут черты нашей сталинской эпохи и лучший представитель нашей эпохи, тов. Сталин, несомненно является лучшим человеком нашего будущего. [...] и естественно, что выдумывать людей для завтрашнего дня мы не будем – этого не будет делать ни один писатель научно-фантастического жанрa.“ So Vladimir Nemcov in seinem Schlusswort zur
Diskussion „Über die Entwicklung der wissenschaftlich-fantastischen Literatur“ vom 26.03.1951, vgl. das Stenogramm der Sektionssitzung, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 41, l. 106f.
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Mit dieser kategorischen Festlegung, dass man schon fast am Ende der Geschichte angekommen sei, hatte sich die Frage nach den genauen Jahreszahlen erübrigt. Sytins Formel von der „Fantastik des nahen Tages“ entwickelte sich hingegen sowohl bei Gegnern als auch bei Befürwortern dieser Definition schnell zum geflügelten Wort, das nach Stalins Tod in der Polemik gegen diese zeitliche Begrenzung zur „Fantastik des Nahziels“ wurde, wobei der Urheber der Formel schnell in Vergessenheit geriet (vgl. Abschnitt 15.3). Nicht weniger folgenschwer war das zweite Kriterium zur Genretradition, für die Michajlov auf der Diskussion im Januar 1949 ebenfalls eine klare Richtung vorgab: „Ich denke, dass wir natürlich die Arbeiten früherer westeuropäischer Schriftsteller, wie, sagen wir, Jules Verne, berücksichtigen müssen, und wir müssen sie kennen, aber die Seele unserer Arbeit müssen wir an unserem Ort finden. Die Rede ist davon, dass unsere wissenschaftlich-fantastische Literatur die russische Literatur fortsetzen muss.“21
Diese noch sehr unscharfe Vorgabe konkretisierte Ivanov in seinem Grundsatzartikel zu „Fantastik und Wirklichkeit“.22 In einem ähnlichen Gestus, wie Gor’kij seinerzeit auf dem ersten Schriftstellerkongress dem Sozialistischen Realismus im dezidierten Gegensatz zur bourgeoisen Literatur das progressive Erbe der Folklore und Mythen zuschrieb, ordnete Ivanov nun die Literaturgeschichte als einen antagonistischen Gegensatz zwischen russischer und westlicher Literatur neu, der bis zur „russischen klassischen Literatur“ des 18. und 19. Jahrhunderts zurückreiche: „In der [russischen klassischen Literatur] sehen wir einen Unterschied der russischen wissenschaftlich-fantastischen und Abenteuerliteratur zu analogen Genres im Westen, einen Unterschied, der aussagt, dass die russische Literatur seit langem einen selbständigen, originellen Weg geht. Und mehr noch: diese Unterschiede sind so groß, dass man von einem Gegensatz der russischen literarischen Fantastik und Abenteuerliteratur zur analogen Literatur des bourgeoisen Westens sprechen kann.“23
21
„Я считаю, что, конечно, мы должны учитывать работы прежних западноевропейских писателей,
22
Diese nahmen – ohne ihn zu erwähnen – einige der von Ivič vor dem Krieg aufgestellten Thesen zur Genretradition wieder auf und radikalisierten sie noch (vgl. Abschnitt 10.3)
скажем, Жюля Верна, мы должны их знать, но душу нашей работы мы должны находить в другом месте. Речь идет о том, что наша научно-фантастическая литература должна продолжать русскую литературу.“ RGALI, f. 631, op. 22, ed. 22, l. 87.
23 „В [русской классической литературе] мы видим отличие русской научно-фантастической и
приключенческой литературы от аналогичных жанров на Западе, отличие, говорящее о том, что русская литература с давних пор шла самобытным, оригинальным путём. Более того: эти различия настолько велики, что можно говорить о противопоставлении русской литературы фантастики и приключения аналогичной литературе буржуазного Запада.“ Ivanov: Fantastika i dejstvitel’nost’,
S. 155.
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Begründer der Wissenschaftlichen Fantastik war demnach Michail Lomonosov mit seinen Schriften zur Seeroute durch das Nördliche Eismeer, die der „bemerkenswerte russische Dichter und Wissenschaftler“ in seinen poetischen Schriften schon beschrieben habe, noch ehe diese „bemerkenswerte Prognose“ Wirklichkeit geworden sei: „Charakteristisch ist, dass Lomonosov diese Prognose ausgerechnet mit dem russischen Volk, mit dem russischen Menschen verbunden hat; nur das russische Volk konnte, nach Meinung Lomonosovs, die so genial vom Leben selbst bestätigte, grandiose Heldentat vollbringen, ‚wo sich der russländische Ruhm verdoppeln kann, vereint mit grenzenlosem Nutzen...‘“24
Lomonosov verkörpert in diesem Sinne alle wesentlichen Eigenschaften der russischen wissenschaftlich-fantastischen Tradition: Als Wissenschaftler und Dichter verknüpft er die „fantastischen“ Elemente seiner poetischen Schriften auf „geniale“ Weise mit den Wissenschaften, indem er in ihnen exakt prognostiziert, in welchem Bereich die Wissenschaften in naher Zukunft ihre nächsten großen Erfindungen und Entdeckungen machen werden, ohne sich dabei in komplizierten Spekulationen zu verlieren; zugleich verbindet er Dichtung und Wissenschaften „mit dem Leben“, indem er diese Prognose mit der nationalen Charakteristik des russischen Volkes begründet, das zu solchen Entdeckungen und Erfindungen mehr als alle anderen Völker befähigt sei. All diese Eigenschaften besitze „die westliche bourgeoise Fantastik“ nicht, die „von dem Moment ihrer Geburt an oft einen kosmopolitischen Charakter“ getragen habe, „von kosmischen Fernen“ handelte und „sich außerhalb von Zeit und Raum“ befand, „auf jedes beliebige Land, auf jedes Volk übertragbar“.25 Entsprechend dieser Definition ist der „große russische revolutionäre Demokrat“ Nikolaj Černyševskij dank der „glänzenden Seiten“ Wissenschaftlicher Fantastik in seinem Roman Was tun? (Что делать?, 1863) der wichtigste Vertreter dieser Linie im 19. Jahrhundert, habe er in dem Werk doch schon vieles vorhergesehen, was erst jetzt im Land der Sowjets verwirklicht werde.26 Auch für die Abenteuerliteratur konstatiert Ivanov eine genuin russische, nationale Tradition, wobei er unspezifisch auf Puškin, Gogol’, Lermontov, Tolstoj und Odoevskij verweist,27 die sich aber am deutlichsten in Nikolaj Nekrasovs zusammen mit Avdot’ja Jakov24 „Характерно, что Ломоносов связывал этот прогноз именно с русским народом, с русским человеком;
только русский народ, по мнению Ломоносова, так гениально подтверждённому самой жизнью, мог совершить грандиозный подвиг, ‚где усугубиться может российская слава, соединённая с беспримерною пользою...‘“ Ebd., S. 156. Auch diese Klassifizierung Lomonosovs ist schon bei Ivič zu
finden, vgl. Ivič: Naučno-fantastičeskaja povest’, 146–175. 25 „[...] западная буржуазная фантастика с самого момента ее рождения носила часто космополитический
характер, трактовала о космических далях, витала вне времени и пространства, была приложима к любой стране, к любому народу [...].“ Ebd., S. 156.
26
Ebd., S. 156f.
27
Ebd., S. 157; Odoevskij war schon Mitte der 1930er als ein Mitbegründer der russischen Wissenschaftlichen Fantastik durch sein Werk Das Jahr 4438 gehandelt worden, und es gab Versuche, diese These zu
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levna Panaeva (1820–1893) geschriebenem Werk Die drei Himmelsrichtungen (Три страны света, 1848) wiederfinde, denn hier werde das Heldentum des russischen Volkes sowohl in der Arbeit als auch im Kampf gezeigt: „Als Gegengewicht zur Literatur des Westens, mit seinen unendlichen Morden, Diebstählen, Verfolgungsjagden usw. usf., geht die russische demokratische Abenteuerliteratur vom realen Leben aus, zeigt den Charakter des russischen Menschen, des russischen Volkes.“28 Konsequenz dieser Erfindung einer rein russischen Genredefinition war vor allem, dass nun die westlichen „Klassiker“ des Genres wie Cooper, London, Mayne Reid, Verne oder Wells, die bislang jährlich in sowjetischen Verlagen Neuauflagen erlebten, kategorisch aus der eigenen Tradition ausgeschlossen wurden und in den Jahren 1951 bis Anfang 1953 nicht mehr erscheinen konnten. Dies betraf auch diejenigen sowjetischen Autoren, die sich an deren Erzählmustern orientierten und zuvor regelmäßig Neuauflagen erfahren hatten. Selbst ein bislang unstrittiger Pionier des Genres in der Sowjetunion wie Aleksej Tolstoj wurde in den publizistischen und internen Diskussionen mit keinem Wort mehr erwähnt. Die Hauptschuld an der „Amerikanisierung“ des Genres auch in der Sowjetunion aber wies Ivanov auf einem Vortrag im März 1951 Aleksandr Beljaev zu, der eine Reihe von Jahren „faktisch das gedankliche und künstlerische Oberhaupt der sowjetischen wissenschaftlichen Fantastikschriftsteller gewesen“ sei („фактически являлся идейным и художественным главою советских научных фантастов“:29 „Man kann mit Sicherheit sagen, dass der falsche Weg einiger Fantastikschriftsteller, der künstlerische Stillstand im Genre im Laufe einiger Jahre – dass daran im großen Maße die Tradition des in den 20er–30er Jahren populären Fantastikschriftstellers A. R. Beljaev schuld ist.“30
reaktivieren, die man aber aufgrund der dominanten „westlichen“ Einflüsse in seinem Werk nicht weiter verfolgte. Vgl. der Vortrag des Historikers Virginskij im Sektionsbüro zu „Odoevskij als Stammvater des wissenschaftlich-fantastischen Genres in der russischen Literatur“ (Одоевский, как родоначальник научно-фантастического жанра в русской литературе) im Frühjahr 1950, Sitzungsprotokoll der Sektion vom 27.3.1950, RGALI, op. 631, op. 22, ed. 30, l. 9. 28 „В противовес литературе Запада, с ее бесконечными убийствами, грабежами, погонями и проч. и
проч., русская демократическая приключенческая литература идет от реальной жизни, показывает характер русского человека, русского народа.“ Ivanov: Fantastika i dejstvitelnost’, S. 158; Panaeva hatte
sich für die ursprüngliche Publikation das Pseudonym „N. Stanickij“ zugelegt. Der Roman war 1948 erstmals ungekürzt (nach einer stark bearbeiteten Fassung in einer Werksausgabe 1930) in der Sowjetunion im Rahmen einer Werksausgabe Nekrasovs erschienen. 29
So Ivanov in seinem Eröffnungsvortrag zur Diskussion „Über die Entwicklung der wissenschaftlich-fantastischen Literatur“ am 26.3.1951, vlg. das Stenogramm der Sektionssitzung, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 41, l. 24.
30 „Можно с уверенностью сказать, что в неверном пути некоторых фантастов, в творческом застое в
жанре в течение ряда лет – повинны в сильной степени традиции популярного в 20–30-х г.г. фантаста A.Р. Беляева.“ Ebd., l. 21.
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Die Konsequenz dieser Ablehnung aller Elemente des westlichen „Fantastischen“ (фантаст ичность) und der „Unwahrscheinlichkeit der Abenteuer“ (неправдоподобность приключений)31 aber war letztlich das Gegenteil von dem, was man vorgab zu erreichen: Anstatt eine tragfähige Traditionslinie bis ins 18. Jahrhundert aufzuzeigen, bewirkte diese Neukonzeptualisierung letztlich den vollständigen Verlust des sowjetischen Erbes, denn bis auf die Nachkriegswerke der jungen Ingenieure wie Valentin Ivanov, Kazancev, Nemcov, Ochotnikov, Saparin oder Sytin blieben keine Texte mehr, auf die man sich positiv hätte berufen können. Selbst Efremov war durch seinen Kurzroman Sternenschiffe, mit dem er sich – wie dargestellt – imaginär auf kosmische Fernen bezogen hatte, in Verruf geraten. Dieser Bruch mit der Vergangenheit und die Neudefinition des Genres „Wissenschaftliche Fantastik“ als wissenschaftlich-künstlerische Prognostik wurden noch verstärkt durch das dritte Kriterium, das sich auf die künstlerische Gestaltung des Inhalts bezog. Hier entwickelte man vor allem unter Bezugnahme auf die Werke der genannten „Ingenieure“ und in der Kritik an einigen anderen Werken der unmittelbaren Nachkriegszeit bestimmte Kriterien, die bei der Darstellung der nahen Zukunft der Sowjetunion zu beachten seien. Dies betraf zum einen eine weitgehende Egalisierung jeglicher Unterschiede innerhalb der Gesellschaft im Angesicht der kommunistischen Zukunft: Es sollte immer weniger Differenzen geben zwischen den verschiedenen Bildungsschichten, zwischen Arbeitern und Akademikern, Handwerkern und Wissenschaftlern, aber auch zwischen Land und Stadt, Arbeit und Freizeit. Zum anderen forderte man die absolute Planbarkeit des Alltagslebens mit Hilfe der menschlichen Schöpferkraft: Der Mensch als Schöpfer seiner Umwelt sollte als gesetzmäßiger Ausdruck der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit gezeigt werden: „[...] das Allerschlimmste, das es im sowjetischen wissenschaftlich-fantastischen Genre gibt, sind zwei Dinge, die wir einfach ein für allemal durchstreichen müssen. Das ist die Existenz eines Übermenschen. Der geniale Erfinder, der wissenschaftliche Wunder schafft. [...] Wir aber brauchen einfache sowjetische Menschen, die man nachahmen kann. Das ist die erste Sünde, die in der wissenschaftlich-fantastischen Literatur existiert./ Und die zweite Sünde ist nicht geringer – das Wunder in der Natur. Genossen entdecken zufällig in der Natur ein Wunder. [...] Das ist eine schreckliche Sache. [...] aber das Wunder, das in der Natur zufällig geschaffen wird, das ist eine überflüssige Sache und darüber lohnt es sich nicht zu schreiben.“32
31
Ebd., l. 22.
32 „[...] самое страшное, что есть в научно-фантастическом советском жанре – это две вещи, которые мы
должны просто раз и навсегда вычеркнуть. Это существование сверхчеловека. Гениальный изобретатель, который творит научные чудеса. [...] А нам нужны простые советские люди, которым можно подражать. Это первый грех, который в научно-фантастической литературе существовал./ И второй грех не меньший – это чудо в природе. Товарищи обнаружили случайно чудо в природе. [...] Это страшная вещь. Чудо в научно-фантастическом произведении должно быть создано руками человека. [...] но чудо, совершенное в природе случайно – это ненужная вещь и не стоит об этом писать.“ So Vadim Ochotnikov auf einer Diskussionsveranstaltung zur Wissenschaftlichen Fantastik am
26.12.1949, vgl. das Stenogramm der Sektionssitzung, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 26, l. 47f.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 591
Die kollektive Arbeit, die Beherrschung der Natur mit Hilfe der Technik und die immer umfassendere Bildung des gesamten Volkes zeigten demnach zwar wissenschaftlich-technische „Wunder“ und gesellschaftspolitische „Wunschträume“, die aber nicht mehr als solche, sondern als etwas Selbstverständliches und Alltägliches dargestellt werden sollten. Entsprechend ging es bei der Beschreibung ingenieurstechnischer Erfindungen oder wissenschaftlicher Entdeckungen primär um deren praktische Anwendung, deren Vorhersehbarkeit und Gewöhnlichkeit man ständig betonte, ohne deren Funktionsmechanismen oder theoretische Prämissen näher zu erklären. Denn die kommunistischen Zukunftsprojekte sollten keinerlei qualitative Differenz zur „sozialistisch-realistischen“ Gegenwart mehr markieren, sondern nur noch eine quantitative Vergrößerung der Maßstäbe darstellen. Man betrieb – wie es der Literaturkritiker Anatolij Britikov einmal formulierte – eine permanente „Enthüllung des Fantastischen“ (разоблачение фантастического) und ersetzte den „Roman der Geheimnisse“ durch die „neumodischen Verfahren des Antigeheimnisses und des Antidetektivs“ ( новомодными приемами антитайны и антидетектива).33 Diese „Verfahren des Antigeheimnisses“ bezeichneten, betrachtet man die „Fantastik des nahen Tages“ in einem größeren Zusammenhang, wohl auch am treffendsten den qualitativen Bruch, der gegenüber den vorhergehenden Genredefinitionen angefangen von Bucharins „kommunistischen Pinkertons“ bis zu Andreevs „großem Wunschtraum“ stattgefunden hatte. Denn all den bisherigen Poetiken ging es um die Entzauberung, Entexotisierung, Desakralisierung des Ungewöhnlichen, Wunderbaren, Geheimnisvollen: Sie brauchten das Geheimnis, um von ihm aus das Sujet im sowjetischen Sinne zu entwickeln. Die „Fantastik des nahen Tages“ hingegen beschwor eine Welt, in der es auch keine scheinbaren, vorgetäuschten oder vorläufigen Geheimnisse oder nicht vorhersehbaren Zufälle mehr geben sollte, sondern in der alles von Anfang an für den Menschen transparent und verständlich ist: Wenn Begriffe wie „Fantastik“, „Abenteuer“, „Ungewöhnliches“ oder „Wunder“ noch vorkamen, dann waren sie ihrer bisherigen Bedeutung entleert und semantisch im Sinne des Alltäglichen domestiziert worden. Selbst in den „politischen Pamphleten“ Lagins gab es keine angeblichen Wunder und exotischen Fremden mehr, sondern alle Taten und Protagonisten sind von Anfang an in ihrer kapitalistischen Niederträchtigkeit, ambivalenten Korruptheit, politischen Naivität oder sozialistischen Heldenhaftigkeit eindeutig zuzuordnen. In der phantasmatischen Welt des kommunistischen Morgen schienen jegliche Ambivalenzen und Konflikte gelöst zu sein. Daher konnte sich Ivanov auch mit seinem Vorschlag, die Abenteuerliteratur wieder mit der Wissenschaftlichen Fantastik zusammenzubringen, in der Sektionsleitung nicht durchsetzen, sah er doch als den gelungensten Abenteuerroman der Gegenwart Španovs Brandstifter über die Tätigkeit deutscher und westlicher Spione in der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg an (vgl. Abschnitt 11.3). Damit stellte er aber einen Zusammenhang zwischen jüngster Vergangenheit und kommunistischer Zukunft, zwischen kriegerischen Angstträumen und menschlichen Allmachtsfantasien, zwischen Verschwörungsparanoia und Paradiesphantasma her, den man auf alle Fälle vermeiden beziehungsweise verdrängen wollte. 33 Britikov:
Russkij sovetskij naučno-fantastičeskij roman, S. 198, 207.
592 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
1 5. 2 Sc hat t e n unte r d e r Erd e – Ne mc o vs u n d O c h o tn i ko vs Poet ik der Scha rfs ichtig k eit 3 4 „Was haben sich die Romanschriftsteller nicht alles über die Zukunft ausgedacht, die die Menschheit erwarte! Sowohl unsichtbare Menschen als auch denkende Dinge als auch die vierte Dimension./ Und in Wirklichkeit wurde die Zukunft ganz anders: hundertmal besser, als es sich selbst die mutigsten Fantastikschriftsteller gedacht haben. Alles umgekehrt: eine Welt der freien Menschen, die Maschinen bauen, die dem Menschen dienen, sein Leben erleichtern, für ihn Zeit sparen.“ Viktor Saparin (1950)34
Die fantastische Welt der nahen Zukunft setzte sich zu einem großen Teil aus ingenieurstechnischen Ideen und Gedankenspielen zusammen, deren Inhalte zumeist schon seit den 1920er Jahren in publizistischen und wissenschaftlich-fantastischen Texten kursierten. Aber erst jetzt wurden sie mit Bezug auf den laufenden Fünfzehnjahresplan zur vollkommenen Unterwerfung der Natur in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt, in dem sie als letzte große Etappenziele auf dem Weg zum Kommunismus konzeptualisiert wurden. Entsprechend dominierten bestimmte Projekte die Fantasien, während andere populäre Themen der 1920er Jahre in den Hintergrund traten. Dabei waren es vor allem drei Themenfelder, die die fiktionalen Aneignungen des Stalinplans zur Umgestaltung der Natur dominierten: Erstens die Veränderung des Klimas, zweitens die Erschließung der natürlichen Rohstoffe und drittens die weitgehende Automatisierung der Produktion, die hier einleitend kurz skizziert werden, ehe anschließend auf die sich zu diesem Zukunftsbild seltsam ambivalent verhaltende „Poetik der Scharfsichtigkeit“ der beiden Autoren Nemcov und Ochotnikov eingegangen wird. Betreffs des ersten Themenbereichs der Klimaveränderung richteten sich die Fiktionen häufig auf die Erwärmung der riesigen Gebiete des nördlichen Sibirien und deren Verwandlung in blühende Nutzlandschaften. Der erste, der sich dieses Themas nach dem Krieg annahm, war der sibirische Kinderarzt Aleksej Viktorovič Podsosov (1879–1956), mit seinem schon vor dem Krieg begonnenen Roman Der neue Golfstrom (Новый гольфстрим, 1948), welcher von dem Ingenieur Izmail Bekmulatov erzählt, der das gesamte Klima des Landes umgestalten möchte, indem Wasser aus dem Nordmeer in riesigen mittelasiatischen Stauseen zur Erwärmung gesammelt
34 „Чего только не выдумывали романисты про будущее, ожидающее человечество! И люди-невидимки,
и мыслящие вещи, и четвертое измерение./ А на самом деле будущее оказалось совсем другим: в сто раз лучше, чем воображали самые смелые фантасты. Все наоборот: это мир свободных людей, которые создают машины, подчиняющиеся человеку, облегчающие его жизнь, сберегающие его время.“ Saparin, Viktor: Den’ Zoi Vinogradovoj, in: Ders.: Novaja planeta. Naučno-fantastičeskie rasskazy
i očerki (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva 1950, S. 18–70, S. 35.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 593
wird, das dann als „neuer Golfstrom“ wieder in die nördlichen Gebiete Sibiriens bis in die Arktis zurückfließt und zu einem milderen Klima beiträgt.35 Aleksandr Kazancev brachte in seinem Werk Der Norddamm (Мол северный, 1952) den schon von Abram Palej in seinem Roman Der Golfstrom 1928 entwickelten Gedanken auf den aktuellen wissenschaftlichen und ingenieurstechnischen Stand, mit Hilfe der Umleitung des Golfstroms die nördlichen Küstengebiete der Sowjetunion zu erwärmen.36 Kazancev variierte Palejs Gedanken, indem er einen gigantischen Staudamm entwarf, um das Eis von den Nordküsten Sibiriens fernzuhalten und so längerfristig zu einem günstigeren Klima in den nördlichen Breitengraden zu kommen.37 Für die mittelasiatischen Gebiete waren die Pläne zur Bewässerung und Fruchtbarmachung der Wüsten das dominante Thema. Hinter all diesen Projekten stand die Utopie, durch massive Eingriffe in geografische und natürliche Gegebenheiten das Klima selber so zu beeinflussen, dass überall im Lande mildere und ausgeglichenere Temperaturen herrschten und sämtliche Gebiete der Sowjetunion für die Landwirtschaft nutzbar würden. Aleksandr Kazancev beschrieb ausführlich in seinen Erzählungen – bei denen er jetzt auf das Attribut „wissenschaftlich-fantastisch“ verzichtete –, wie sich diese Umgestaltung der Natur an der sowjetischen Arktisküste vollzog.38 Nikolaj Toman schilderte in dem Kurzroman Der Fehlschlag des Mister Bergoff (Prosčet Mistera Bergoffa, 1950), wie sich die Steppengebiete der Ukraine in blühende Landschaften entwickelt haben, deren hohe Ernteerträge ein „nihilistischer“ amerikanischer Wissenschaftler durch im Labor gezüchtete, bösartige Parasiten vernichten möchte.39 Durch diese Kultivierung einstmals unwirtlicher Gebiete hat sich die Erde so sehr verändert, dass die Helden in Viktor Saparins Erzählung Der Neue Planet (Новая планета, 1949) erste Satellitenfotos der umgestalteten Erde für Aufnahmen vom Planeten Mars halten. Und so endet die Geschichte mit einer
35
Vgl. Podsosov, Aleksej: Novyj Gol’fstrim. Naučno-fantastičeskij roman, Sverdlovsk 1948; zur Entstehungsgeschichte des Romans vgl. Bugrov: 1000 likov mečty, S. 209–213; Chalymbadža, Igor’: Odisseja doktora Podsosova. Iz istorii ural’skoj fantastiki, in: Knižnyj klub 12 (1999), 7–8. Der erste Roman, der sich nach dem Krieg dieses Themas der Anlage künstlicher beziehungsweise der Umleitung vorhandener Flüsse annahm, war das 1946 posthum publizierte Werk Die Vertreibung des Herrschers des 1945 verstorbenen Autors Grigorij Adamov, das er bereits 1938 bis 1942 geschrieben hatte. Adamov widmete sich der Umlenkung der sibirischen Flüsse Richtung Süden, so dass dadurch die zentralenasiatischen Wüsten fruchtbar gemacht werden könnten, vgl. Adamov: Izgnanie Vladyki.
36 Bevor
Der Norddamm gedruckt wurde, überarbeitete Kazancev sein in der Nachkriegszeit begonnenes Manuskript mehrmals. Vgl. hierzu auch das Stenogramm der Sektionssitzung zu Kazancevs Roman Künftige Werke (Дела грядущие), so der damalige Arbeitstitel, vom 30.05.1949, RGALI, f. 631, op. 22, ed. 24; In späteren, wesentlich überarbeiteten Auflagen des Romans hieß er Polartraum. Der Norddamm (Полярная мечта. Мол северный), vgl. Berežnoj; Borisov: Bibliografija.ru.
37
Gleichzeitig wird in dem Roman die Möglichkeit diskutiert, das vorhandene Eis durch die Sprengung von Atombomben unterhalb der Eisdecke zum Schmelzen zu bringen, vgl. Kazancev, Aleksandr: Mol severnyj. Roman-mečta, Moskva 1952.
38
Vgl. Kazancev, Aleksandr: Obyčnyj rejs. Rasskazy, Moskva 1951.
39
Toman, Nikolaj: Prosčet mistera Bergoffa. Povest’, in: Vokrug sveta 1 (1950), S. 48–56; 2, S. 41–49.
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Spekulation darüber, wie die Astronomen und Wissenschaftler vom Mars diese Veränderungen wohl interpretieren werden: „Die Gelehrten vom Mars kommen mit ihren Hypothesen nicht hinterher. Eine Entdeckung folgt der nächsten: nicht existente Kanäle, künstliche Seen, eine andere Farbe des Planeten auf einem großen Teil seiner Oberfläche – und all das in nur ungefähr drei Jahrzehnten, wohingegen davor sich nichts verändert hatte. Natürlich, vom Standpunkt der Bewohner des Mars und der Venus kommt das der Entdeckung eines neuen Planeten gleich.“40
Ein weiterer Aspekt der Eroberung der Natur bestand in der Erschließung der natürlichen Ressourcen und Rohstoffe. Hierfür schlug die Wissenschaftliche Fantastik verschiedene Verfahren vor, schneller und effektiver an die Rohstoffe heran zu kommen. So entwickelte Nemcov in seinem Roman Der goldene Grund (Золотое дно, 1948) ein unterirdisches Laboratorium im Stile von Jules Vernes Unterseeboot Nautilus, das mit Hilfe höchst sensibler Radargeräte in der Lage war, Ölquellen am Grund des Kaspischen Meeres zu orten.41 Vadim Ochotnikov hingegen projektierte in mehreren Erzählungen und in dem Roman Дороги в глубь (Wege in die Tiefe, 1950) ein Panzerfahrzeug, das sich ähnlich wie Adamovs Schildkrötenpanzer in dem Roman Die Bezwinger des Erinnern (1937) im Erdinnern bewegen kann auf der Suche nach Rohstoffen.42 Auch Valentin Ivanov beschreibt in seinem Roman In den Karsthöhlen (В карстовых пещерах, 1950), wie junge Geologen in unterirdischen Höhlengängen auf große Gold- und Diamantvorkommen und andere Rohstoffe im Südural stoßen.43 40 „Марсианские ученые не успeвают выступать с гипотезами. Открытия сыплются одно за другим: не
существовавшие прежде каналы, искусственные озера, другая окраска планеты на значительной части ее поверхности – и все это за каких-нибудь три десятка лет, тогда как до этого ничего не менялось. Конечно, с точки зрения жителей Марса и Венеры, это равносильно открытию новой планеты.“ Saparin, Viktor: Novaja planeta (1949), in: Ders.: Novaja planeta. Naučno-fantastičeskie rasskazy
i očerki (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva 1950, S. 3–17, S. 16. In der Erzählung geht die Umgestaltung des Planeten einher mit den ersten Weltraumflügen des Menschen, die nun auch zur Venus und zum Mars fliegen wollen, über deren mögliche Bewohner man nichts Genaues weiß. Doch scheint dem Erzähler die Erde ohnehin der viel interessantere Planet zu sein, da er sich so schnell verändert, vgl. ebd. 41
Vgl. Nemcov, Vladimir: Zolotoe dno (1948), in: Ders.: Naučno-fantastičeskie povesti, Moskva 1951, S. 3–302; Der Kurzroman war erstmals in Fortsetzungen in Technika – molodeži 1948 veröffentlicht worden, vgl. Vel’činskij: Bibliografija fantastiki.
42
Vgl. Ochotnikov, Vadim: Dorogi v glub’, Moskva 1950. In anderen Werken Ochotnikovs unternimmt man die Erkundung der Rohstoffe mit Hilfe von Strahlung, deren Ultrakurzwellen tief ins Erdinnere oder in Ozeantiefen vordringen und durch ihre Reflexion genaue Auskunft über das dort vorhandene Vorkommen geben können, ohne dass die Menschen selber hinabsteigen müssen. Zu den Erzählungen Ochotnikovs vgl. die Ausführungen weiter unten.
43
Ivanov, Valentin: V karstovych peščerach, in: Lukin, A. I. (Hg.): Golos morja. Naučno-fantastičeskie povesti, Moskva 1952, S. 87–150. In Viktor Saparins Erzählung „Der blaue Vogel“ („Синяя птица“, 1949) stoßen junge Geologen bei der Suche nach Nickel in der sibirischen Taiga in einer abgelegenen Gegend auf große
Die Fanatik des „Nahziels“ | 595
Ermöglicht wurde die Ausbeutung solcher Rohstofffunde oder die Umsetzung der an gestrebten Klimaveränderung in diesen Geschichten allerdings erst durch eine enorme Verbesserung der Maschinentechnik, so dass die Großbauten des Kommunismus teils gigantische Ausmaße annahmen: In Kazancev Norddamm beispielsweise wuchsen die Wasserstaudämme des Sozialismus zu einem riesigen nördlichen Damm an der Nordküste der Sowjetunion an, und in Fedor L‘vovič Kandybas (1903–1948) posthum erschienenen Roman Die heiße Erde (Горящая земля, 1950) gelang es, die Länge der Bohrtürme so weit zu verlängern, dass sie bis ins Innerste der Erde reichten.44 Doch neben dem Gigantischen war es vor allem die Automatisierung der Maschinen, die den Weg in den Kommunismus öffnen sollte. Diese Maschinen nahmen den Menschen nicht nur schwere körperliche Arbeit ab, sondern auch die Verbindung der unterschiedlichen Produktions- und Steuerungsschritte untereinander, so dass die Menschen nur noch als Kontrolleure in Schaltzentralen sitzen mussten, ohne selber physisch einzugreifen. Aleksandr Kazancev beschrieb in seinen den Erfolgen der Landwirtschaft gewidmeten „Erzählungen über Maschinen, ihre Schöpfer und ihre Kommandeure“ Die Maschinen der Felder des Kommunismus (Машины полей Коммунизма, 1953) ausführlich, wie die Landwirtschaft zunehmend industrialisiert und automatisiert wird, so dass selbst die schweren landwirtschaftlichen Maschinen – wie Traktoren oder Mähdrescher – von einer Schaltzentrale ferngesteuert Saat-, Dünge- und Erntevorgänge ausführen können.45 Die Titelheldin aus Viktor Saparins Kurzroman Ein Tag der Zoja Vinogradova (День Зои Виноградовой, 1950) ist als junge Journalistin einen ganzen Tag lang vergeblich auf der Suche nach einem berühmten Moskauer Ingenieur und Professor für ein Interview unterwegs, doch trifft sie in dessen Privatvilla, an dessen Arbeitsplatz und auf den von ihm betreuten Fabriken und Wasserkraftwerken keinen einzigen Menschen an, sondern ausschließlich miteinander kommunizierende Maschinen.46 Erst am Abend bringt das ebenfalls sich selbst steuernde Auto des Professors sie zu einer Vorlesung von ihm im Moskauer Polytechnischen Museum, so dass sie begeistert ausrufen kann:
Taubenschwärme, die – wie sich herausstellt – sich an dem Magnetfeld der hier konzentrierten Nickelvorkommen orientieren, vgl. Saparin, Viktor: „Sinjaja ptica“, in: Ders.: Novaja planeta. Naučno-fantastičeskie rasskazy i očerki (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva 1950, S 128–156; Auch für einen Großteil von Efremovs Erzählungen bilden Rohstoffe die äußere Handlungsmotivation (vgl. Abschnitt 13.1). 44
Vgl. Kandyba, Fedor: Gorjaščaja zemlja. Naučno-fantastičeskij roman, Moskva 1950.
45
Vgl. Kazancev, Aleksandr: Na poljach Kommunizma, in: Ders.: Mašiny polej Kommunizma. Rasskazy o mašinach, ich sozdateljach i komandirach, Moskva 1953, S. 192–208.
46
Vgl. Saparin: Den’ Zoi Vinogradovoj, S. 18–70. Der Kurzroman ist zuvor bereits in Fortsetzungen in Znanie – sila (1948, Nr. 5–6) sowie in der Anthologie Der Weg der Recken (Дорога богатырей, 1949) unter dem Titel Das Verschwinden des Ingenieurs Bobrov (Изчезновение инженера Боброва) erschienen.
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„Das sind sie, die Repräsentanten der sowjetischen Technik, die neue Generation der Ingenieure! Für sie ist nichts unmöglich. Eine Frage der Technik! Wenn es nötig ist, automatisieren sie die Steuerung von Dutzenden von Wasserkraftwerken, zwingen Autos auf die Stimme der Menschen zu reagieren, – es muss nur zweckmäßig sein und den Menschen von mechanischer Anstrengung befreien, befreien für die schöpferische Arbeit.“47
So zeigen diese Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre geschriebenen Erzählungen und Romane eine Welt, in der die Orte Moskau, Baku oder Komsomolsk austauschbar geworden sind, da der Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie weitgehend eliminiert ist – abgesehen von der symbolischen Bedeutung der Hauptstadt als Mittelpunkt des Landes – und eine Exotik abgelegener Randgebiete keine Rolle mehr spielt. Selbst das Erdinnere (Ochotnikovs Wege in die Tiefe), das arktische Eis (Kazancevs Norddamm) oder der kaspische Meeresgrund (Nemcovs Goldener Grund) stellen keine Gefahren mehr da, sondern vornehmlich ingenieurstechnische Herausforderungen zur Urbar- und Nutzbarmachung der Natur. Sowohl die weiblichen als auch die männlichen Helden sind durchweg rational handelnde Menschen, denen gegenüber einzig gelegentlich auftauchende ausländische Spione oder Diversanten (Tomans Fehlschlag des Mister Bergoff) durch ihre von irrationalem Hass getriebenen Handlungen negativ auffallen. Doch gibt es neben diesen utopischen Werken über die organisatorisch-technische Ausgestaltung der kommenden kommunistischen Gesellschaft auch eine Reihe an Texten, die auf den ersten Blick eine ideologisch und thematisch vollkommen adäquate Entfaltung des Sujets aufweisen, aber bei näherem Hinsehen doch einen deutlichen Alteritätsdiskurs zu diesen staatstragenden Narrationen der nahen Zukunft formulieren. Am deutlichsten lassen sich diese abweichenden Fiktionalisierungen an den beiden Hauptprotagonisten einer wissenschaftlich-künstlerischen Fantastik festmachen, den schreibenden Ingenieuren und führenden Fantastikschriftstellern jener Jahre, Vladimir Nemcov und Vadim Ochotnikov, auf deren spezifische Poetik im weiteren etwas näher eingegangen wird. Vladimir Ivanovič Nemcov (1907–1993) war auf dem Lande im Gebiet Tula aufgewachsen, hatte nach der Schule sich zuerst als Maler versucht, ehe er sich nach der Revolution als Proletkul’t-Dichter in den Gebietszeitschriften von Tula einen Namen machte. 48 Nach einer Begegnung mit Vladimir Majakovskij 1926 wurde er einer seiner enthusiastischen jungen An47 „Вот они, представители советской техники, новое поколение инженеров! Для них нет ничего
невозможного. Вопрос техники! Если будет нужно, они автоматизируют управления десятками гидростанций, заставят машину слушаться голоса человека, – лишь бы это было целесообразно и освобождало человека от механических усилий, освобождало для творческой работы.“ Ebd., S. 69. In
Saparins und auch Kazancevs Werken ist eine deutliche Rezeption der offiziell als „Pseudowissenschaft“ verbotenen neuen interdisziplinären Wissenschaftsdisziplin der Kybernetik zu erkennen, wie sie sich vornehmlich in den USA in der Nachkriegszeit entwickelte, vgl. hierzu Gerovitch, Slava: From Newspeak to Cyberspaek. A History of Soviet Cybernetics, Cambridge, Mass. 2002. 48
Zu den biographischen Angaben vgl. Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 391–407; RGALI, f. 631, op. 22, ed. 5, l. 50.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 597
hänger, nahm in Moskau ein Literaturstudium an der Moskauer Staatsuniversität auf, das er aber bald zugunsten seiner Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist abbrach. Seit 1928 beschäftigte er sich dann in Aleksej Gastevs Zentralinstitut der Arbeit (Центральный институт труда) intensiv – wie es in späteren biographischen Angaben heißt – als „Konstrukteur, Ingenieur und Erfinder“ mit Funk- und Radiotechnik.49 Aufgrund einiger von ihm entwickelter, militärisch relevanter Zubehörteile für mobile Radiofunkstationen begann er ab 1938 für die Armee zu arbeiten, wo er um die 20 Erfindungen für sich reklamieren konnte. Daher wurde er Ende 1942 zum Chefingenieur einer in Baku errichteten Fabrik für mobile Funkgeräte befördert, eine Arbeit, die ihm 1944 einen Orden des Roten Sterns einbrachte. Bereits in Baku begann er wissenschaftlich-fantastische Erzählungen zu schreiben, trat 1945 der Partei bei und wurde nach seiner Demobilisierung auf Empfehlung des ehemaligen Proletkul’t-Kritikers Jakov Rykačev 1946 in den Schriftstellerverband aufgenommen. Hier machte er zusammen mit Ochotnikov – wie beschrieben – innerhalb weniger Jahre eine schnelle Karriere, stieg in die Leitung der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur auf und war zu Ende der Stalinzeit der meistpublizierte Schriftsteller im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik.50 Vadim Dmitrievič Ochotnikov (1905–1964) hatte ebenfalls eine Karriere als erfolgreicher Ingenieur hinter sich, als er in der Nachkriegszeit zu schreiben anfing.51 Nach einem Studium am Leningrader Institut für Ingenieure der Tontechnik konnte er in den 1930er Jahren über 50 von ihm erfundene Patente im Bereich der Elektronik, Elektroakustik und Kriegstechnik vorweisen, darunter auch das erste sowjetische Patent zur Tonaufzeichnung für Kinofilme, mit deren Hilfe die ersten sowjetischen Filme synchronisiert wurden. Nachdem er zuvor schon populärwissenschaftliche Texte publiziert hatte, brachte ihn der mit Michail Il’in eng verbundene verantwortliche Redakteur von Technika – molodeži, Orlov, dazu, sich auch einmal in Prosatexten zu versuchen. Und so erschienen in dessen Zeitschrift ab April 1946 die ersten wissenschaftlich-fantastischen Erzählungen von Ochotnikov, die ab 1947 in mehreren Sammelbänden verlegt wurden. Einige kompilierte er 1950 auch zu dem Roman Wege in die Tiefe, 1953 legte er noch den Kurzroman Erste Kühnheiten (Первые дерзания) vor, ehe er sich nach Stalins Tod aufs Land nahe der Alten Krim zurückzog und bis auf einen Kurzroman 1957 nichts mehr veröffentlichte.52 49
Schon zuvor hatte er sich intensiv journalistisch mit Radiotechnik auseinandergesetzt und seit den dreißiger Jahren dann einige populäre Broschüren wie Das fröhliche Radio (Веселое радио, 1939) oder Die unsichtbaren Wege (Незримые пути, 1945) zu dem Thema verfasst, vgl. RGALI, f. 631, op. 22, ed. 5, l. 50; Praškevič: Krasnyj sfinks, S. 395ff.
50
Seine militärische Karriere und die entsprechenden Kontakte beförderten möglicherweise diesen Aufstieg, genauso wie seine enge Freundschaft zu dem Generalsekretär und Leiter des Schriftstellerverbandes, Aleksandr Fadeev, vgl. ebd., S. 401f. Von Nemcov erschienen in den Jahren 1949–1952 neben unzähligen Zeitschriftenpublikationen ein bis zwei Bücher jährlich mit der in diesem Bereich maximalen Auflage von bis zu 90.000 Exemplaren pro Buch, vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki. Nur Ivan Efremov hatte in den Jahren 1944 bis 1948 höhere Auflagenzahlen an Büchern zu verzeichnen.
51
Zu den biographischen Angaben, vgl. Gakov: Ėnciklopedija fantastiki, S. 434.
52
Vgl. Vel’činskij: Bibliografija sovetskoj fantastiki.
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Abb 19
Links: Umschlagbild der Anthologie Der Weg der Recken (Doroga bogatyrej) mit Kurzromanen von Jurij Dolgušin, Viktor Saparin, Sergej Boldyrev und Aleksandr Studitskij (Moskau 1949); Rechts: Umschlagbild des Kurzromans Das Verschwinden des Ingenieurs Bobrov (Izčesnovenie inženera Bobrova) von Viktor Saparin (Moskau/Leningrad 1949).
Bemerkenswert an diesen Autoren ist jedoch vor allem, wie sie ihr radio- und tontechnisches Ingenieurswissen in ihren Werken fiktionalisieren. Denn weder das Radio noch der Tonfilm spielen bei ihnen eine große Rolle, sondern was beide am meisten fasziniert zu haben schien, ist – wie es Ochotnikov programmatisch in dem Titel einer seiner Erzählungen formuliert hat – ein „Neues Sehen“ der sowjetischen Wirklichkeit mit Hilfe elektromagnetischer Wellen. Schon in Ochotnikovs bekanntester und meist publizierter Erzählung Die Geschichte einer Explosion (История одного взрыва, 1947), die er erstmals 1946 unter dem Titel Gespräch über das Wesentliche (Разговор по существу) veröffentlichte, geht es darum, wie es einem „wunderlichen“ Professor während der Blockade von Leningrad mit Hilfe einer „Resonanzmaschine“ gelungen ist, durch bestimmte akustische Wellen mehrere deutsche Junkers-Kampfflugzeuge zum Absturz zu bringen.53 Damit schreibt Ochotnikov zwar nicht den heroischen Verteidigungskampf des von den Deutschen belagerten Leningrads um, bietet aber gewissermaßen eine ingenieurstechnisch
53
Vgl. Ochotnikov, Vadim: Razgovor po suščestvu. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Technika – molodeži 4 (1946), S. 22–24; Ders.: Istorija odnogo vzryva (1947), in: Ders.: V mire iskanij. Naučno-fantastičeskie povesti i rasskazy (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva/Leningrad 1952, S.149–182.
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inspirierte „alternative“ Geschichte der Blockade, nach der auch sowjetische „Wunderwaffen“ letztlich zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg mit beigetragen haben. Andere Geschichten handeln von der Erschließung unterirdischer Rohstofflager mit Hilfe elektromagnetischer Wellen, der Ortung radioaktiver Uranbestände oder von der Herstellung hocheffektiver Kohlegeneratoren und Hochleistungsakkumulatoren.54 Immer geht es dabei um unsichtbare Strahlentechniken, die entweder gegebene chemische oder physikalische Zustände verändern (feindliche Bomber zum Absturz bringen, künstliche Kugelblitze herstellen u.a.) oder aber eine undurchschaubare, undurchdringliche Materie transparent und durchsichtig machen. Entsprechend handelt die Geschichte Neues Sehen (Новое зрение, 1952) von einem jungen Ingenieurstudenten, der zu einem Praktikum in einem Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für elektroakustische Meerestechnik ans Schwarze Meer fährt.55 Dessen Blick auf die Wirklichkeit stellt sich anfangs als vollkommen „falsch“ heraus: Eine Leningrader Kommilitonin hält er für ein dummes Provinzmädchen, den Institutsleiter betrachtet er als einen kranken, fast erblindeten Mann und seine eigenen komplizierten ingenieurstechnischen Konstruktionspläne und Berechnungen stellen sich als überflüssig heraus, da der sehschwache Professor sie nicht lesen kann.56 Es ist die fehlende Aufmerksamkeit als „altes Sehen“, die dem jungen Studenten hier zum Verhängnis wird und seiner beruflichen Karriere (in Gestalt des Direktors) und dem privaten Liebesglück (in Gestalt der Kommilitonin) im Wege stehen. Gleichzeitig wird das „neue Sehen“ durch die wissenschaftliche Arbeit an der Ultrakurzwellentechnik ermöglicht, mit deren Hilfe man unter Wasser auf große Entfernungen nicht nur das Vorhandensein, sondern auch die Substanz von Objekten erkennen können möchte, ganz unabhängig davon, wie die Licht- und Witterungsverhältnisse sind. So heißt es über den fast blinden Direktor Buranov: „Er möchte seiner Heimat eine neue Art des Sehens schenken, um unsere wissenschaftlichen Expeditionen, die das Meer erforschen, und unsere Taucher, die nach versunkenen Schiffen suchen, mit einer neuen, mächtigen Waffe zu bewaffnen. Damit die Schifffahrt noch sicherer werde. Damit unsere Kriegsschiffe sich überhaupt nicht mehr vor feindlichen Mienen fürchten müssen. Buranov arbeitet an einem neuen Sehen, ohne auf seine eigene Sehkraft zu achten...“57 54
So die Erzählungen Geräusche unter der Erde (Шорохи под землей, 1947), Elektrische Geschosse (Электрические снаряды, 1947) und Der Kohlegenerator (Угольный генератор, 1948), vgl. der Sammelband Ochotnikov, Vadim: V mire iskanij. Naučno-fantastičeskie povesti i rasskazy (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva/Leningrad 1952, S. 183–241.
55
Vgl. Ochotnikov, Vadim: Novoe zrenie (1952), in: Ders.: V mire iskanij. Naučno-fantastičeskie povesti i rasskazy (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva/Leningrad 1952, S. 5–75.
56
Ebd., S. 5–22.
57
„Oн хочет подарить своей родине новый способ зрения, чтобы вооружить наши научные экспедиции,
исследующие море, водолазов, ищущих потонувшие корабли, новым могучим оружием. Чтобы еще безопаснее стало вождение кораблей. Чтобы нашим военным судам совсем не были страшны вражеские мины. Буранов работает над новым зрением, не считаясь со своим собственным...“ Ebd., S. 57.
600 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Abb 20
Links: Umschlagbild des Bandes mit Erzählungen von Vladimir Nemcov Der sechste Sinne (Šestoe čuvstvo), veröffentlicht in der umbenannten Buchreihe „Bibliothek der Fantastik und Abenteuer“ im Verlag Detgiz (Moskau 1946); Rechts: Umschlagbild der Anthologie wissenschaftlich-fantastischer Erzählungen und Kurzromane Am Rande des Möglichen (Na grani vozmožnogo) mit Werken von Nemcov, Georgij Gurevič, Ivan Efremov, Vadim Ochotnikov und Viktor Saparin (Gor’kij 1950).
Erst als es im Kollektiv gelingt, auf dem Fernsehbildschirm mit Hilfe der eingefangenen akustischen Wellenresonanz die Meeresstrukturen genau abzubilden, das „Neue Sehen“ des Meeres zu verwirklichen, finden auch die beiden jungen Kommilitonen wieder zueinander, während sich der Direktor auf eine Kur begeben kann. Das Neue Sehen besteht demnach nicht wie bei den Formalisten in einer neuen Perspektivierung bekannter Sachverhalte, die eine Intensivierung der Wahrnehmung ermöglicht, sondern in einem durchdringenden, transparent machenden Blick. Dieser neue Blick wird dabei explizit in Abgrenzung zur gewöhnlichen Wahrnehmung der Gegenstände und Menschen konstruiert, die nur die trügerischen „Silhouetten“ und Oberflächen der Dinge sehe.58 Diese aber gelte es zu „durchleuchten“, indem man die dahinter liegenden Gefahren und Unwegsamkeiten enttarnt.
58
Vgl. ebd., S. 19.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 601
Eine maschinell ermöglichte Wahrnehmung, die ein falsches oder unvollständiges Bild der Wirklichkeit revidiert, stellt auch das zentrale Thema von Vladimir Nemcovs Prosa jener Jahre dar. Schon in seiner ersten Erzählung, Der sechste Sinn (Шестое чувство, 1945) geht es um die fiktionale Verifizierung der These, dass Bienen wahrscheinlich mit Hilfe elektromagnetischer Strahlen über große Distanzen miteinander kommunizieren.59 In dem Kurzroman Der Apparat „SL–1“ (Аппарат „СЛ–1“, 1948) testen junge Ingenieure im Uralgebirge einen von ihnen gebauten „Geruchssinnverstärker“, der seltene Metalle auf Entfernung „riechen“ kann.60 Zwar finden sie nicht das gesuchte Metall, stattdessen stoßen sie im Wald aber auf den Wissenschaftler Omegin, der an Kunststoffen forscht und sich dort ein ganzes Haus aus Plastik gebaut hat.61 Omegin ist ein „Enthusiast“ des „Zeitalters des Kunststoffs“ („век пластмассы“), das das des Eisens ablösen werde.62 Denn Plastik lasse sich mit Hilfe von Ultraschallwellen beliebig bearbeiten, verfeinern, verfestigen und elastisch machen. So zeigt er den erstaunten jungen Ingenieuren sein Kunststoffhaus ohne scharfe Kanten, das stabil, rostfrei und komplett durchsichtig ist, deren Wände aber beliebig eingefärbt werden können, genauso wie die Temperatur des Plastikstoffes optimal reguliert werden kann.63 Gleichzeitig experimentiert der Forscher aber auch mit Ultraschallwellen, um beispielsweise die Molekülstruktur von Eisen so zu verändern, dass es nicht mehr rostet, oder um die Substanz und Farbe von Häuserwänden so zu bearbeiten, dass sie nicht mehr altern oder bleichen. Auf diese Weise macht er aus dem örtlichen Kulturhaus eine regelrechte Wunderkammer.64 Nun ist diese Figur des im Ural forschenden Omegin höchst ambivalent, schon allein aufgrund seines Namens, der deutlich an den „überflüssigen Menschen“ aus Aleksandr Puškins gleichnamigem Versroman Evgenij Onegin erinnert. Auch trägt dieser „Fanatiker“ des Kunststoffzeitalters deutlich die Züge eines verbannten Wissenschaftlers, der zurückgezogen ein Haus im Waldgebiet des Urals besitzt und ungern an die Vergangenheit denkt und den Optimismus der Jugend verloren hat: „Der Hausherr mochte, wie ich aus dem Ton der Unterhaltung heraushörte, nicht gern an das Vergangene erinnert werden, nannte mir aber eines der größten Forschungsinstitute, in dem man sich mit der komplexen Untersuchung neuer Bau- und Nutzmaterialien für unsere Volkswirtschaft befasste. / ‚Oh, diese Jugend!‘ sagte Omegin seufzend. ‚Man könnte euch um euren Wissensdurst und Optimismus beneiden. Euch erscheinen das Leben schön und die Wissenschaft als lichter und wolkenloser Himmel. Ihr glaubt, alles liege klar auf der Hand. Euch hat eben, wie man zu sagen
59
Vgl. Nemcov, Vladimir: Šestoe čuvstvo. Naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Pioner 7 (1945), S. 18–22.
60
Vgl. Nemcov, Vladimir: Apparat „SL–1“ (1947), in: Ders.: Naučno-fantastičeskie povesti, Moskva 1951, S. 427–565.
61
Ebd., S. 446–465.
62
Ebd., S. 465.
63
Ebd., S. 465–479.
64
Ebd., S. 541–553.
602 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
pflegt, noch kein gebratener Hahn gezwackt.‘ Er verzog sein Gesicht, als wehre er eine unangenehme Erinnerung ab, schien sich aber dennoch aussprechen zu wollen und fuhr, während er sich auf einen dünnbeinigen Stuhl fallen ließ, fort.“65
Auch seine zentrale Erfindung – der Beginn des Plastikzeitalters, das das Zeitalter des Eisens ablösen werde – beinhaltet angesichts der zentralen symbolischen Bedeutung des Eisens in der Kultur der Stalinzeit eine doppeldeutige Metaphorik. Noch stärker ist diese ambivalente Metaphorik der Durchsichtigkeit und der alles durchleuchtenden Strahlentechnik in dem Kurzroman Schatten unter der Erde (Тень под землей, 1948) angelegt, der in den nächsten Jahren noch vier weitere Neuauflagen erfuhr.66 Dieser Kurzroman spielt in der sowjetischen Gegenwart in einer südlichen Hafenstadt, die noch stark von den Kriegszerstörungen der Deutschen gezeichnet ist und in der eine junge Forschergruppe in dem alten Hotel „Europa“ einquartiert ist, um ein neues Gerät ihres physikalischen Forschungsinstituts zu testen. Dieses „Universalauge“ („всевидящий глаз“) genannte Gerät kann mit Hilfe von Röntgenstrahlentechnik durch alle (nicht eisernen) Gegenstände wie Gebäudewände, Fußböden oder dicke Gesteinsschichten hindurch sehen und so alles dem menschlichen Auge Verborgene als „Schatten“ orten.67 Auf diese Weise können die Protagonisten in die Innenräume ärztlicher Praxen wie auch in Privatquartiere blicken, indem sie durch die Resonanzwellen auf dem „grünen Bildschirm“ das hinter den Mauern in bestimmten Entfernungen Verborgene sichtbar machen.68 Eigentlich soll das Instrument dazu eingesetzt werden, noch nicht detonierte Bomben oder andere im Schutt versteckte Gegenstände zu sichern, doch schon am ersten Abend begegnen die Helden einem deprimierten Architekten, der in den Trümmern die verloren gegangenen Zeichnungen eines berühmten Kollegen sucht.69 Dieser habe vor dem Kriege in der Stadt ein einzigartiges Sanatorium, ein so genanntes „Luftschloss“ (Воздушный дворец)70 bauen wollen, sei aber während der deutschen Angriffe gestorben. Zwar wisse man, dass der von den Deut65
Nemcov, Vladimir [Nemzow, Wladimir]: Die ersten Versuche, in: Ders.: Goldener Grund. Wissenschaftlich-fantastische Erzählungen, Berlin 1956, S. 275–516, S. 429f. („Хозяину дома не хотелось вспоминать
о прошлом, это я почувствовал по тону его разговора, однако он назвал мне один из крупнейших исследовательских институтов, где проводилось комплексное изучение новых строительных и поделочных материалов, необходимых для нашего хозяйства./ – Эх, молодежь! – со вздохом сказал Омегин. – Позавидуешь вашей любознательности, оптимизму. И жизнь хороша, и наука светла и безоблачна, и все в ней вы видите, будто на ладони. Как говорится, не клевал вас жареный петух. Он поморщился, словно не желая вспоминать о каких-то неприятностях, но ему все же хотелось высказаться, и он продолжал, тяжело опускаясь на тонкий стул.“ Nemcov: Apparat „SL–1“, S. 471). 66
Vgl. Nemcov, Vladimir: Ten’ pod zemlej (1948), in: Ders.: Naučno-fantastičeskie povesti, Moskva 1951, S. 307–426.
67
Ebd., S. 322–333.
68
Ebd., S. 323ff.
69
Ebd., S. 307–322.
70
Ebd., S. 310.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 603
schen gefangen genommene und nach langer Folter ermordete Architekt seinen Nachlass in einem stählernen Safe sicher verwahrt habe, könne diesen aber nirgends finden.71 Mit der Suche dieses Safes beginnt die eigentliche Handlung und führt die Helden durch die ganze Stadt. Doch ungeachtet ihrer weitgehenden Durchleuchtung ist der Safe nirgends zu orten. Erst als ein alter Kriegspartisan den jungen Ingenieuren zufällig zur Hilfe kommt und zeigt, in welchen Katakomben man sich im Umland vor den Deutschen versteckt habe,72 findet man den Safe, und ergeht sich in Zukunftsvisionen, was man mit dem „Universalauge“ noch alles finden könne. „Die Erde bewahrt noch viele Geheimnisse in ihrem Innern. Unser Universalauge sieht vorläufig noch nicht alles; aber es ist unser Wille, alles zu sehen und zu erfahren. Und wenn wir heute nur das erblicken, was unmittelbar unter uns liegt, so wollen wir darüber nachdenken und daran arbeiten, morgen vielleicht auch den Kern unserer Erde zu erkennen.“73
Schon diese sehr verkürzte Zusammenfassung der Handlung weist eine seltsame Ambivalenz auf. Zwar folgt die Funktion des Universalauges ganz dem naturwissenschaftlichen Gestus der Stalinzeit, der Natur die letzten Geheimnisse zu entreißen, um sie dann umgestalten zu können, doch richtet sich hier der Blick dezidiert auf die menschliche Geschichte, deren Vergangenheit er auf mehreren Ebenen zu enträtseln verspricht. Erstens ermöglicht das Universalauge den Helden, einem perfekten Detektiv gleich, sämtliche Mitbürger zu durchleuchten, wovon sie auch besessen von ihren „Pinkertonträumereien“ („пинкертоновские бредни“) Gebrauch machen;74 Zweitens können Sie dank des Apparates in den unterschiedlichen Erdschichten die menschliche Geschichte wie in einem „Buch der Vergangenheit“ (книга о прошлом) lesen, wobei sie bis in die Bronzezeit zurückblicken.75 So ist das Universalauge nicht nur ein alles räumlich durchleuchtendes Sichtungsgerät, sondern auch ein zeitlich bis in die Anfänge des Menschen reichendes Aufklärungsmedium; und drittens erfährt es seine eigentliche Bewährungsprobe in der Suche nach einem „Luftschloss“, nach einem Sanatorium selber als „wahres Wunder der Architektur“ („чудо архитектурного искусства“), das jedoch nie gebaut worden ist.76 Genau diese zentrale Sujetlinie des (infolge der deutschen Invasion) nicht realisierten Architekturprojekts, für das mit dem „Universalauge“ als Transparenzme-
71
Ebd., S. 314ff.
72
Ebd., S. 389ff.
73
Nemcov: Die ersten Versuche, S. 368 („Нам еще неизвестны многие тайны земли. Наш ‚Всевидящий глаз‘ пока близорук. Но мы хотим все видеть, все знать. И если сегодня мы увидели то, что лежит у нас под ногами, то будем мечтать и работать над тем, чтобы завтра взглянуть, ну... скажем, на ядро Земли.“ Nemcov: Ten’ pod zemlej, S. 425).
74
Vgl. Nemcov: Ten’ pod zemlej, S. 372.
75
Ebd., S. 426.
76
Ebd., S. 313.
604 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
dium alle realisierten Gebäude und Gegenstände durchleuchtet werden, machte das zentrale Faszinationsmoment des Kurzromans Schatten unter der Erde aus. Denn anstelle der Großbauten des Kommunismus und des Stalinplans zur Umgestaltung der Natur setzt Nemcov hiermit ein Projekt der Vorkriegszeit in den Mittelpunkt des Sujets, das er als ein orientalisches Märchen apostrophiert. So erfährt man über das gescheiterte Architekturprojekt: „In Brodovs Projekt verband sich die strenge Schönheit klassischer Formen mit den neuesten Errungenschaften der Bautechnik. Besonders eindrucksvoll war die kühne Konstruktion einer großartigen Kuppel, wie sie bisher noch nirgends angewandt worden ist. Es war eine geniale Erfindung dieses russischen Baumeisters. Ich will nicht im Einzelnen auf die Schönheit dieser projektierten Architekturschöpfung eingehen – ihre leichten, schlanken Säulen, ihre Gärten auf den ungeheuren, das ganze Gebäude umziehenden Balkonen. Wir nannten sie im Scherz ‚die hängenden Gärten der Semiramis‘. Ja, es war in der Tat kein Sanatorium mehr, sondern ein Märchen, an das man nur schwer zu glauben vermochte. Der Architekt hatte sein Werk ‚Luftschloss‘ genannt.“77
Dieses nicht realisierte Märchen aber war als ein Sanatorium geplant, das heißt als eine Erholungs- und Heilanstalt für Kranke und Alte, die einer Regeneration ihrer Gesundheit bedurften. Diese Pläne für eine Gesundungsanstalt der eigenen Gesellschaft sind nun jedoch in den Ruinen und Trümmern des Krieges begraben, wo sie von den Protagonisten als „Luftschloss“ mit ihrem alles sehenden Auge gesucht werden, doch was sie finden, sind immer nur weitere Relikte der Grausamkeiten und der Opfer menschlicher Kriege, Überreste derjenigen Menschen, die keiner Heilung mehr bedürfen. Anstelle des siebten Weltwunders der assyrischen Königin bewegen sich die Helden in den Ruinen des Krieges. So formen das „Neue Sehen“ bei Ochotnikov und das „Universalauge“ bei Nemcov eine ganz seltsame Poetik der Scharfsichtigkeit, in der die Helden dank der technischen Apparate anstatt der von ihnen proklamierten kommunistischen Zukunft die „Schatten“ der Vergangenheit hinter den Dingen, unter der Erde sichtbar machen, nämlich das bislang Verborgene und Verschüttete. Und diese Sichtbarmachung des hinter den Zukunftsvisionen Verborgenen wird dann bei beiden gewissermaßen als eine „materialistische“ Adaption von Platons Höhlengleichnis narrativiert, die in der Beschäftigung mit unterirdischen Höhlen, Katakomben und Bergwerken, dem permanenten Suchen im kontinentalen oder maritimen Untergrund zum Ausdruck
77
Nemcov: Erste Versuche, S. 284f. („В проекте Бродова строгое изящество классических форм сочеталось с новейшими достижениями строительной техники. Особенно поражала совершенно исключительная по смелости инженерной мысли конструкция грандиозного куполообразного свода, до сего времени нигде не применявшаяся в строительстве. Это было гениальное изобретение русского зодчего. Я не буду рассказывать о красоте этого архитектурного творения – с легкими прозрачными колоннами, уходящими к облакам, с садами на огромных балконах, опоясывающих все здание. Мы их в шутку называли ‚Висячими садами Семирамиды’. Да, действительно это был не санаторий, а сказка, в которую даже трудно поверить. Архитектор назвал свое детище ‚Воздушным дворцом‘.“ Nemcov: Ten’ pod zemlej, S. 313).
Die Fanatik des „Nahziels“ | 605
kommt: Schon die Titel Wege in die Tiefe, Das Geheimnis der Karsthöhle (Ochotnikov) und Der goldene Grund (Nemcov) weisen auf diese Metaphorik der Schattenwelt hin. Was diese Schatten aber zeigen ist eine Welt des Krieges, der Bedrohung und der Trauer: „Schweigend wanderten wir über die Anhöhe und beobachteten die zitternden Schatten. Ich überdachte Koloskovs Worte... Schon längst wuchs Gras auf den Feldern, über die der Krieg hinweggegangen war. Erde verdeckte die Spuren der Schlachten. Dennoch sah ich, während ich über diese Erde ging, im Geiste mehr, als uns der erstaunlichste Apparat hätte zeigen können./ Mir war, als seien auf dieser Erde die Tränen der Frauen und das Blut der Kameraden noch nicht getrocknet, die für das Glück der Menschheit gefallen waren. [...] Auf dem Bildschirm flogen die Schatten sonderbarer eckiger Gegenstände vorüber, vielleicht die Schatten eines noch älteren Krieges.“78
Die Fähigkeit des Geistes, mehr zu sehen als der technische Apparat, richtet sich in diesem Kurzroman aber gerade nicht auf die kommunistische Zukunft – wie ansonsten die Rhetorik des Wunschtraums und der Wissenschaftlichen Fantastik proklamiert –, sondern auf die „Spuren vergangener Schlachten“. Hinter den stählernen Großbaustellen des Kommunismus werden die „Tränen der Ehefrauen und das Blut meiner Genossen“ sichtbar. Der Untergrund als eine Welt der Schatten, die schon immer mythologisch das Reich der Toten und der Hölle gewesen ist, wird bei Nemcov und Ochotnikov zwar „materialistisch“ als eine archäologische Fundgrube der menschlichen Geschichte und ein geologisches Rohstofflager für nützliche Energieträger und Substanzen thematisiert. Doch gleichzeitig bleibt diesen Erzählungen und Kurzromanen eine anti-utopische Metaphorik des Scheiterns, des Sterbens, des Krankseins und der Weltflucht inhärent. Ochotnikov hat diese Ambivalenz des eigenen Schreibens zwischen offizieller Propaganda und ingenieurstechnischer Wirklichkeit, ideologischer Konformität und individueller Alterität programmatisch in der Erzählung Die Automaten des Schriftstellers (Автоматы писателя, 1947) zum Ausdruck gebracht, die er dreien seiner Sammelbände mit Erzählungen (1947, 1949, 1952) als Abschlussgeschichte beigefügt hat.79 Sie handelt von einem jungen Ingenieur, der mit Hilfe immer neuer technischer Schreibhilfen versucht seine Schreibhemmungen zu überwinden: einem automatischen Füllfederhalter, einem Diktaphon, einem Rechtschreibeprogramm, einem Schreibautomaten sowie zum Schluss einer Gedankenlesemaschine, die auch seine Träume auf78
Nemcov: Erste Versuche, S. 373 („Мы молча бродили по холму, смотря на дрожащие тени, и я думал тогда о словах „Колоскова... Давно уж поросли травой поля, где прокатилась война, земля скрыла следы минувших битв, а все же, проходя по этим местам, я мысленно видел куда больше, чем самый совершенный аппарат./ Мне казалось, что на этой земле до сих пор еще не высохли слезы женщин и кровь моих товарищей, погибших за счастье человечества. [...] На экране мелькали тени каких-то странных угловатых предметов, может быть тени войны еще более давних лет.“ Nemcov: Ten’ pod zemlej, S. 410f.).
79
Vgl. Ochotnikov, Vadim: Avtomaty pisatelja (1947), in: Ders.: V mire iskanij. Naučno-fantastičeskie povesti i rasskazy (Biblioteka naučnoj fantastiki i priključenij), Moskva/Leningrad 1952, S. 261–271.
606 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
zeichnen kann.80 Diese mechanischen Hilfsmittel setzen jedoch keine kreativen Kräfte frei, sondern führen zur völligen nervlichen Zerrüttung des Autors. Erst als er wie Puškin, Lermontov, Gogol’, Shakespeare und Dante auch mit einer einfachen Vogelfeder zu schreiben beginnt und seinen Text 36-mal überarbeitet, gelingt ihm der literarische Durchbruch.81 Man kann diese Geschichte durchaus auch als eine Parabel für das Schreiben wissenschaftlich-fantastischer Texte unter den Bedingungen der wissenschaftlich-künstlerischen „Belletrisierung der Wissenschaften“ lesen, geschrieben von einem ihrer Hauptprotagonisten. Und wie auch in Alekandr Beljaevs Werken der 1920er und 1930er Jahre lässt sich hier das TechnischWissenschaftliche als Metapher für das Ideologisch-Politische deuten. Denn von der ideologischen und technischen Seite her hatte man mit dem Konzept einer wissenschaftlich-künstlerischen Wissenschaftlichen Fantastik spätestens seit 1949 eine äußerst homogene und kohärente Schreibanleitung für die Autoren entwickelt. Doch die besten ideologischen Apparaturen zur Steuerung und Regulierung der Gedanken konnten das individuelle Differenzmoment der einzelnen Autoren nicht ersetzen. Und so schrieb man weiter An der Grenze des Möglichen (На грани возможного, 1947), wie Ochotnikov einen seiner Erzählungsbände nannte, und produzierte alterierende fantastische Narrationen in der Nachfolge von Dante bis Puškin. Vergleicht man diese Geschichten mit den wissenschaftlich-fantastischen Abenteuergeschichten der 1920er und der späten 1930er Jahre, dann hat sich das Fantastische – wenn man es zugespitzt formulieren möchte – von der Seite des Paranoiden hin zu derjenigen des Manischen verschoben, es taucht nicht mehr als Technikangst, sondern als Wissenschaftsenthusiasmus auf. Dies lässt sich sehr deutlich an den unterschiedlichen Semantiken elektromagnetischer Strahlen festmachen. Während diese in den Texten der zwanziger Jahre noch vor allem als ein Medium der Gedankenkontrolle, der Gehirnwäsche und der Bewusstseinsmanipulation diktatorischer Herrscherfiguren massiv angstbesetzt waren (vgl. Abschnitt 4.2), änderte sich dies schon in den späten dreißiger Jahren grundlegend: Die Wundergeneratoren der technischen Intelligenz waren zwar weiterhin Medien primär zur Manipulation und Kontrolle des menschlichen Gehirns, doch wurden sie jetzt zunehmend positiv kodiert, statt (faschistischen) Todesstrahlen wollte man nun „Lebensstrahlen“ schaffen, die eine Wiedergeburt der Toten und eine Verlängerung des Lebens möglich machen sollten (vgl. Abschnitt 10.1). Elektromagnetische Strahlen wurden gewissermaßen zunehmend „medikalisiert“ in Hinblick auf den Menschen; nicht mehr die einzig auf Unterwerfung zielende Psychopathologie des mad scientist, sondern das ingenieurstechnische „Sanatorium“ des sowjetischen Gelehrten bildete ihren imaginären Referenzpunkt. In der Spätstalinzeit der im Zentrum der gesellschaftspolitischen Anerkennung stehenden technischen Intelligenz hingegen sind die Agenten der Strahlentechnik keine bedrohlichen (mad scientist) oder ambivalenten (vereinzelte ältere Wissenschaftler) Figuren, sondern junge, im Kollektiv arbeitende Ingenieure, die sie als „Wahrheitsmedium“ der umfassenden Aufklärung der eigenen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch der Zukunft benutzen. Sie radikalisieren ge80
Ebd., S. 261ff.
81
Ebd., S. 270f.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 607
wissermaßen die konstitutive Ambivalenz aller publizierten Texte der Spätstalinzeit, deren „konfliktlose“ Traumwelt kaum noch narrative Spielräume für eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen gesellschafts- und sozialpolitischen Katastrophen der außerliterarischen Wirklichkeit zulässt. Anstatt die weitgehende ideologische Kontrolle der Gedanken durch die Zensur und die insbesondere die Intelligenz betreffende umfassende geheimdienstliche Überwachung der Personen zu thematisieren, „materialisieren“ diese Geschichten gewissermaßen die das Ideelle und Psychische betreffenden Seiten der Disziplinargesellschaft, indem sie technische Apparaturen schaffen, die genau dieses konstitutive Moment eines modernen Staates auf stofflicher Ebene als wissenschaftliche Fantasie realisieren. Der „gläserne Mensch“ wird zum Fanatiker eines vollkommen durchsichtigen Plastikzeitalters und die staatlichen Abhör- und Überwachungsorgane werden zu einem „Universalauge“, das keine Barrieren mehr kennt. Und so endet Nemcovs Kurzroman Der Schatten unter der Erde auch mit dem „mutigen Wunschtraum“ des Erzählers, alles wissen zu wollen: „Ich träumte davon, dass uns dieser Apparat das Bronzezeitalter unserer fernen Vorfahren zeigen würde. Ich wünschte mir, in den Erdschichten wie im Buche der Vergangenheit blättern zu können, wünschte mir, dass sie für den Blick des ‚Universalauges‘ und den kühnen Gedanken durchsichtig wären. [...] Vielleicht würden wir versunkene Städte und verborgene Schätze entdecken... Nichts würde unseren Augen verborgen bleiben!“82
Der von der Weltherrschaft träumende wahnsinnige Gelehrte als bedrohliches Angstphanatasma ist hier zum gottgleichen, allwissenden Subjekt des Textes selber geworden, das manisch davon besessen ist, die gesamte Vergangenheit sehen zu wollen.83
82
Nemcov: Erste Versuche, S. 387 („Я мечтал о том, чтобы наш будущий аппарат смог увидеть бронзовый век далеких предков. Я хотел перелистывать земные слои, как страницы книги о прошлом, чтобы они стали прозрачными под взглядом ‚Всевидящего глаза‘ и смелой мечты. [...] Может быть, мы откроем исчезнувшие города, запрятанные клады... Ничто не скроется от наших глаз!“ Nemcov: Ten’ pod zemlej, S. 426).
83
Dass Nemcov als Beispiel für die Dinge, die sich nicht mehr vor den Augen seiner Helden verbergen sollen, ausgerechnet zwei klassische Motive der „westlichen“ Abenteuerliteratur nimmt – versunkene Städte und verborgene Schätze –, spricht dafür, dass er sich der Ambivalenz seiner „Schatten unter der Erde“ durchaus bewusst war: Nimmt man diesen Traum des Erzählers buchstäblich, beinhaltet er auch den nostalgischen Wunsch, wieder Abenteuergeschichten „wie früher“ schreiben zu können.
608 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
1 5. 3 Das Ende der Illus ione n – Deba tte n u n d N e u a n f ä n g e nac h St alins Tod 8 4 „– Das alles gleicht der Wahrheit, – sagte der Heizer, – doch noch mehr gleicht es einem Abenteuerroman.“ Lazar’ Lagin (1951)84
Als Iosif Vissarionovič Stalin im März 1953 starb, bedeutete das auch für die Wissenschaftliche Fantastik eine Kehrtwende, die sogar noch schneller als in anderen Bereichen der Literatur vollzogen wurde. War doch das Konzept einer wissenschaftlich-künstlerischen „Fantastik des nahen Tages“ (Viktor Sytin), wie sie die Leitung der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur zum alleingültigen Prinzip des Genres erklärte, von der übergroßen Mehrzahl der Autoren nie getragen worden. So konnte der „Stalinpreisträger“ („лауреат Сталинской премии“) Ivan Efremov bereits im März 1953, keine drei Wochen nach dem Tod des Diktators, einen Grundsatzartikel Über eine umfassende Wissenschaftspopularisierung (О широкой популяризации науки) in der Literaturnaja gazeta unterbringen, dessen Manuskript noch im Dezember 1952 als inakzeptabel abgelehnt worden war.85 In diesem Beitrag stellte Efremov fest, dass seit 1950 im ganzen Land – bis auf den Bereich der Astronomie – kein einziges gutes Buch der Wissenschaftspopularisierung mehr erschienen sei, sondern nur bekannte und gesicherte Sachverhalte naiv illustrierende Werke oder biographische Darstellungen, die die russische Vorherrschaft in den einzelnen Disziplinen hervorheben.86 Dies sei aber eine „äußerst schädliche“ Entwicklung, bestehe doch die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftspopularisierung im Aufzeigen von Verbindungen zwischen den Spezialdisziplinen, in der Darstellung offener Fragen, im Herausarbeiten zentraler wissenschaftlicher Ideen zu deren Lösung, denn nur ein solches Vorgehen stelle „die hoffnungsvolle Garantie“ dafür dar, „dass die weitere Spezialisierung der unterschiedlichen Wissensdisziplinen nicht zu einem scholastischen Absterben und einer Unfruchtbarkeit des wissenschaftlichen Gedankens führt.“87 Gerade in dieser Hinsicht sei aber die Wissenschaftliche Fantastik von entscheidender Bedeutung, die unter dem falschen Popularisierungsbegriff besonders gelitten habe:
84 „– Все это походит на истину, – сказал кочегар, – но еще больше на роман приключений.“
Lagin, Lazar’: Ostrov Razočarovanija (1951), in: Ders.: Starik Chottabyč. Patent „AV“. Ostrov Razočarovanija, Moskva 1956, S. 443–816, S. 760.
85
Efremov, Ivan: O širokoj populjarizacii nauki, in: Literaturnaja gazeta 36 (24.03.1953), S. 3; zur Ablehnung und Kritik an dem Aufsatz, vgl. RGALI, f. 361, op. 3, ed. 210, l. 339–349.
86
Efremov: O širokoj populjarizacii nauki, S. 3.
87 „[...] служит надежной гарантией того, что дальнейшая специализация разных отраслей знания не
приведет к схоластическому омертвлению и бесплодию научной мысли.“ Ebd.
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„Wirklich, die Rückständigkeit unserer Fantastik kann man nicht leugnen. Sie erklärt sich daraus, dass eine Reihe guter Schriftsteller dem wissenschaftlich-fantastischen Genre ferngeblieben sind, neue Kader fast nicht in diese ‚gefährliche‘ Literaturart gekommen sind und dass die Bücher uninteressant geworden sind, da sie abseits von den Hauptlinien der Entwicklung der Wissenschaft und der Technik stehen.“88
Um diese Lage zu ändern, müssten insbesondere die Wissenschaftler die Fantastikautoren mit neuen Gedanken beliefern, wobei durchaus auch Ideen gefragt seien, die niemals umgesetzt werden könnten, aber eine neue Sichtweise und Zusammenhänge aufzeigen würden.89 Daher liege die Hauptarbeit zur Verbesserung der Wissenschaftspopularisierung heutzutage bei der Leitung der Akademie der Wissenschaften, die entscheidende Maßnahmen ergreifen müsse, den desolaten Zustand zu beheben.90 Auch wenn Efremov in diesem Beitrag die „wissenschaftlich-künstlerische Literatur“ und die entsprechende Sektion des Schriftstellerverbandes mit keinem Wort erwähnte, war aus den Ausführungen und den genannten Literaturbeispielen und Namen überdeutlich, gegen wen seine Kritik gerichtet war. Gleichzeitig führte er erstmals eine Argumentation ein, die für die Durchsetzung der Wissenschaftlichen Fantastik als eines der populärsten Genres der Sowjetunion in der Tauwetterzeit von entscheidender Bedeutung sein sollte: nämlich dass es die Wissenschaftler selber seien, die eine solche Literatur forderten und brauchten.91 In Efremovs Fall kam diese Rehabilitierung der Autorität der Wissenschaften im Feld der schönen Literatur – sowohl in Hinsicht auf die Wissenschaftspopularisierung als auch betreffs der Wissenschaftlichen Fantastik – aber einem offenen Affront gegen die in der Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur durchgesetzte Position gleich, dass es gerade die weltanschauliche und künstlerische Erfassung der Welt sei, der sich die Wissenschaften angesichts des verschärften ideologischen Kampfes unterzuordnen haben (vgl. Kapitel 14). Tatsächlich eröffnete Efremov mit diesem Beitrag gleich zwei Konfliktlinien, die in der Sektion seit ihrer Gründung 1945 bestanden hatten. Nämlich erstens die Frage, wie eine populärwissenschaftliche Literatur auszusehen habe, in der es um den Konflikt zwischen dem „Phantasma der Belletrisierung“ auf der einen und einer eher „unterhaltsamen Wissenschaft“ auf der anderen Seite ging, und zweitens um die thematische und formale Bestimmung der Wissenschaftlichen 88 „Действительно, отставaние нашей фантастики нельзя отрицать. Оно объясняется еще и тем, что ряд
хороших писателей отстранился от нaучно-фантастического жанра, новые кадры почти не идут в этот ‚опасный‘ род литературы, книги получаются неинтересными, стоящими в сторoне от главной линии развития науки и техники.“ Ebd.
89
Ebd.; Im Manuskript hatte Efremov als Beispiel hierfür das Gedankenexperiment des Tungusker Meteoriten als Raumschiff genannt, das von vielen Astronomen unterstützt worden sei. Im veröffentlichten Beitrag blieb von diesem Hinweis nur die Bemerkung stehen, dass einzig in der Astronomie gute populärwissenschaftliche Bücher erschienen seien, vgl. RGALI, f. 361, op. 3, ed. 210, l. 345f.
90
Efremov: O širokoj populjarizacii nauki, S. 3.
91
Vgl. ausführlich hierzu Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 108–130.
610 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Fantastik. Beide Literaturformen hatte man in der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ zu einem Genre vereinen wollen, was aber nur von äußerst wenigen Autoren akzeptiert wurde. Gleichzeitig begann man ebenfalls bereits 1953 zu ergründen, warum die Entwicklung der Abenteuerliteratur in den letzten Jahren so massiv behindert worden sei.92 Dabei knüpfte man dezidiert an die von Mariėtta Šaginjan und Lev Šejnin in den ersten Nachkriegsjahren entwickelten Ideen zu einem sowjetischen Abenteuerroman an, der im Detektivgenre die Arbeit der staatlichen Ermittlungsbehörden gegen jede Art von antisowjetischen Verbrechern darstellen sollte (vgl. Kapitel 11).93 Gleichzeitig sollte das Kriegs- und Spionageabenteuer, wie es Nikolaj Španov, Georgij Brjancev und Lev Lin’kov verfassten, rehabilitiert werden, und die Leser forderten, endlich wieder einen „sowjetischen Pfadfinder“ (советский следопыт) zu schaffen.94 So entwickelten sich, sobald die Debatte am Vorabend des zweiten unionsweiten Kongresses der sowjetischen Schriftsteller ab Mitte 1954 noch offener geführt werden konnte, nicht nur die Bereiche der Wissenschaftlichen Fantastik und Wissenschaftspopularisierung sehr schnell auseinander, sondern gleichzeitig wurde die Abenteuerliteratur erneut neben die Wissenschaftliche Fantastik gestellt. Dies führte dazu, dass die Sektion für wissenschaftlich-künstlerische Literatur ihre Arbeit für die nächsten Jahre weitgehend einstellte.95 In Bezug auf die Wissenschaftliche Fantastik wurden in diesen Debatten bereits 1954 die wesentlichen Positionen der wissenschaftlich-künstlerischen Richtung eines Kazancev, Nemcov oder Ochotnikov infrage gestellt. So eröffnete der Kritiker Sergej Poltavskij in der zweiten Jahreshälfte eine Debatte mit der Forderung, dass das Genre nicht „an der Schwelle zur Fantastik“ („У порога фантастики“) stehen bleiben dürfe, wie es bei Ochotnikov, Nemcov und einigen anderen der Fall sei, die eher eine „wissenschaftlich-populäre Belletristik“ (научно-популярная беллетристика) schreiben würden als eine wissenschaftlich-fantastische.96 Anstelle einer Fantas-
92
Vgl. Toman, Nikolaj: O sjužetach priključenčeskich proizvedenij, in: Iskusstvo kino 5 (1953), S. 65–72; Koroteev, V.: Čto mešaet razvitiju priključenčeskoj literatury, in: Literaturnaja gazeta 135 (14.11.1954), S. 3.
93
Ebd., S. 3.
94
Vgl. [Div.]: Čto mešaet razvitiju priključenčeskoj literatury (Čitatel’ prodolžaet razgovor), in: Literaturnaja gazeta 147 (12.12.1953), S. 3.
95
Im Bereich der Wissenschaftspopularisierung forcierten die neu ausbrechenden Richtungskämpfe um die ideologisch begründete Regulierung der einzelnen Disziplinen, wie sie insbesondere im Bereich der Biologie und Physik geführt wurden, diese Entwicklung noch. Da die Verfechter einer wissenschaftlich-künstlerischen Ausrichtung meist gegen den gefährlichen „Objektivismus“ einer angeblich „reinen Wissenschaft“ eine eher „stalinistische“ Position vertraten, verlor die Sektion zusätzlich an Autorität, vgl. Fiš, Genadij: Pisatel’ i nauka, in: Literaturnaja gazeta 128 (26.10.1954), S. 3; Eher eine Gegenposition zu Fiš formulieren beispielsweise Sustanov, M.; Pjatnickij, A.: O naučno-populjarnoj techničeskoj literature, in: Novyj mir 10 (1954), S. 273–277; Allgemein zu dieser Übergangsphase von der Stalin- zur Chruščevzeit, allerdings oft recht undifferenziert, vgl. auch Marsh, Rosalind J.: Soviet Fiction since Stalin. Science, Politics and Literature, Totowa, NJ 1986.
96
Vgl. Poltavskij, S.: U poroga fantastiki, in: Literaturnaja gazeta 94 (07.08.1954), S. 3.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 611
tik des heutigen Tages und der Wirklichkeit gewordenen Märchen brauche es mutige Entwürfe, die durchaus auch eine „ungeheuerliche Sinnlosigkeit“ („чудовищная бессмыслица“) darstellen könnten, wenn sie den Leser fesselten und für wissenschaftliche Ideen faszinierten, wie es auch mit vielen Ideen Jules Vernes der Fall sei. Als einziges positives Beispiel für eine solche Fantastik nannte Poltavskij Ivan Efremovs Kurzroman Sternenschiffe (vgl. Abschnitt 13.3), der das Thema der Bewohntheit der Sternenwelten so darstelle, dass der Leser ungewollt in Erstaunen versetzt werde, was zum Nachdenken und zu Fragen anrege.97 Statt der falsch verstandenen „Prinzipien“ des Sozialistischen Realismus gelte es eine romantische Zuspitzung und Dynamik des Sujets voller Kontraste und Widersprüche zu forcieren, um die ungewöhnliche und unwahrscheinliche Welt der Fantastik interessant zu machen.98 Als die Literaturnaja gazeta dann zwei Monate später noch einen Leserbrief abdruckte, der Zur Verteidigung des geliebten Genres (В защиту любимого жанра) aufrief und nicht nur fantastische Abenteuerliteratur im Stile von Jules Verne, Aleksandr Beljaev und Ivan Efremov forderte, sondern auch Zeitschriften wie die 1932 beziehungsweise 1930 verbotenen Periodika Vsemirnyj sledopyt oder Mir priključenij wünschte, waren alle in den letzten Jahren aufgestellten Prinzipien einer Wissenschaftlichen Fantastik infrage gestellt worden.99 Zwar versuchte Vladimir Nemcov unter dem Titel Traditionen und Neuerertum (Традиции и новарторство) noch einmal seine Position zu verteidigen, indem er der „Mehrheit der Kritiker“ wie auch Poltavskij vorwarf, sie würden die „schematischen Traditionen“ der westlichen Science Fiction propagieren.100 Diese Auftragsliteratur hypnotisiere in ihrer unbegrenzten Fantasie mit weltfremden galaktischen Kriegen die Leser, während das „Neuerertum“ der sowjetischen Fantastik gerade darin bestehe, im Sinne Gor’kijs ihre Einbildungskraft „auf das alte Mütterchen Erde“ („на старушке Земле“) zu richten. Doch fand er mit solchen Positionen kaum noch Unterstützer.101 Im Gegenteil provozierte er entschiedene Widerworte, wie die von Efremov, 97
Ebd.
98
Ebd.
99
Vnukov, N.: V zaščitu ljubimogo žanra (Pis’mo v redakciju), in: Literaturnaja gazeta 121 (09.10.1954), S. 2.
100
Nemcov, Vladimir: Tradicii i novatorstvo, in: Literaturnaja gazeta 129 (28.10.1954), S. 2; Der Titel war eine deutliche Anspielung auf Jurij Tynjanovs 1929 erschienenes Buch Archaisten und Erneuerer (Архаисты и новаторы) über die Richtungskämpfe in der russischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, wobei die eher national eingestellten „Archaisten“ für die konservative Bewahrung etablierter Traditionen standen, wohingegen die eher westlich orientierten Erneuerer wie Puškin oder Karamzin für eine Weiterentwicklung der Prosaformen und der Sprache kämpften. Nemcov kehrt dieses Verhältnis im sowjetischen Sinne um, indem er das sowjetische Neuerertum dem „traditionellen“ Westen mit seinen „archaischen“ Kriegsszenarien gegenüberstellt.
101
Einige – wie Vadim Ochotnikov – zogen sich ganz aus dem Literaturbetrieb zurück, andere – wie Vasilij Zacharčenko – revidierten sehr schnell ihre Positionen. Nemcov hingegen beteuerte mit einem Mal, dass er gar nicht den Anspruch habe, anderen seine Maßstäbe einer Wissenschaftlichen Fantastik vorzuschreiben. Vielmehr behauptete er nun mit Verweis auf die – literaturpolitisch geförderten – extrem hohen
612 | Die Belletrisierung der Wissenschaften
Studitskij und dem Stellvertretenden Chefredakteur von Znanie – sila, Lev Viktorovič Žigarev (1910–1983), verfasste Antwort Über die Literatur des geflügelten Wunschtraums (О литературе крылатой мечты) zeigte.102 In ihr verwahrten sich die drei Autoren entschieden gegen die Einlassungen der „Grenzzieher“ (предельщики), die in den letzten Jahren die Wissenschaftliche Fantastik mit der Wissenschaftspopularisierung als wissenschaftlich-künstlerische Literatur parallelisiert und das Fantasieren am liebsten ganz verboten hätten. Diese hätten den Zeitraum auf die laufenden Fünfjahrespläne und die Handlungsorte auf die sowjetische Wirklichkeit begrenzt: „Irgendwer von diesen Grenzziehern, ähnlich wie Nemcov, überredete uns, dass [...] es besser wäre, überhaupt nicht zu fantasieren. [...] Infolge dessen wurde der Versuch, einen fantastischen Roman zu verfassen, ein eigenartiger Hürdenlauf. Und warum sollte man verheimlichen, dass die Geschicktesten, die alle Hürden übersprangen, sich viel zu viel mit den Sprüngen beschäftigten und viel zu wenig über die künstlerische Umsetzung des Vorhabens nachdachten.“103
Statt solch widersinniger Hürden forderten die drei Autoren eine Erweiterung des Fantastikbegriffs auch über die Grenzen der „wissenschaftlichen“ Thematik hinaus und rechneten Werke wie François Rabelais’ La vie de Gargantua et de Pantagruel (1532–64, auf Russisch zuletzt 1940 neu aufgelegt), Alain-René Lesages (1668–1747) Le Diable Boiteux (1707, russ. Хромой бес, zuletzt 1937 neu aufgelegt) oder Anatole Frances L’Île des Pingouins (1908, zuletzt 1951 neu aufgelegt) explizit dem Genre zu.104 Diesen „enormen Reichtum“ des Genres gelte es zu nutzen, um neue „schöpferische Kräfte“ für eine „wissenschaftlich-fantastische und Abenteuerliteratur“ zu sammeln und eine neue „Spezialzeitschrift“ („специальный журнал“) in der Form des früher einmal erschienenen Mir priključenij (Welt der Abenteuer, 1922–1930) zu schaffen.105 Auflagen seiner Werke, dass es gerade die Leser in der Provinz und in den Fabriken seien, die seine fantasielose und wirklichkeitsnahe „Massenliteratur“ bräuchten und forderten, da sie mit der komplizierten Fantastik der Hauptstädte nichts anfangen könnten, vgl. Nemcov, Vladimir: Kniga i čitatel’, in: Literaturnaja gazeta 148 (14.12.1954), S. 4. 102
Efremov, Ivan; Studitskij, Aleksandr; Žigarev, Lev: O literature krylatoj mečty (Preds’ezdovskaja tribuna), in: Literaturnaja gazeta 147 (11.12.1954), S. 3.
103 „Кое-кто из этих предельщиков, подобно Немцову, уговаривал нас, что [...] лучше – совсем не
фантазировать. [...] В результате попытки сoздать фантастический роман превратились в своеобразный барьерный бег. И что греха таить, ловкачи, которые перепрыгивали все барьеры, слишком много занимались прыжками, слишком мало думали о художественном воплощении замысла.“ Ebd.
104
Ebd.; vgl. Kalmyk: Bibliografija zarubežnoj fantastiki v perevodach na russkij jazyk. Die Zeitschrift V zaščitu mira (Zur Verteidigung des Friedens) hatte bereits im Oktober 1954 in einem größeren Artikel die sozialkritische Science Fiction im Westen äußerst positiv vorgestellt, wie sie beispielsweise Ray Bradbury schrieb, vgl. Verdier, Jean [Verd’e, Žan]: Naučno-fantastičeskaja literatura i bor’ba za mir, in: V zaščitu mira 41 (1954), S. 96–99.
105
Efremov; Studitskij; Žigarev: O literature krylatoj mečty, S. 3.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 613
In Stellungnahmen wie diesen hatte sich bereits am Vorabend des Zweiten Schriftstellerkongresses Ende Dezember 1954 deutlich abgezeichnet, dass man nicht nur im Bereich der Wissenschaftspopularisierung, sondern auch für die Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik die in der Nachkriegszeit sukzessive durchgesetzten Positionen grundlegend revidieren würde. Zwar versuchte Boris Nikolaevič Polevoj (1908–1981) in seinem zentralen Koreferat zur „Sowjetischen Literatur für Kinder und Jugendliche“ auf dem Schriftstellerkongress noch einmal eine Kompromisslösung im Sinne der Kontinuität zu formulieren, indem er die in den letzten zwei Jahrzehnten erzielten Erfolge in diesem vollkommen neu zu schaffenden Genre hervorhob, wobei er sowohl Kazancev und Ochotnikov als auch Adamov, Sergej Beljaev, Ivan Efremov und andere als positive Beispiele nannte.106 Doch in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Verlagen hatte man sich inzwischen intensiv daran gemacht, die literaturpolitischen Zuordnungen, Grenzziehungen und Prioritätensetzungen der Stalinzeit teilweise grundsätzlich infrage zu stellen.107 Bereits im Juli desselben Jahres hatte die von Vasilij Dmitrievič Zacharčenko (1915–1999) geleitete Zeitschrift Technika – molodeži einen unionsweiten Wettbewerb für die beste wissenschaftlich-fantastische Erzählung ausgeschrieben, die die „überaus weiten Perspektiven der Wissenschaft und Technik, die Vorwärtsbewegung des mutigen schöpferischen Gedankens“ und die „Romantik des wissenschaftlich-technischen Schöpfertums“ aufzeigen sollte, für den man bis April 1955 über 950 Zuschriften erhielt.108 Im Oktober 1954 zog Znanie – sila nach, indem die Zeitschrift eine ganze Nummer ausschließlich der wissenschaftlich-fantastischen und Abenteuerliteratur widmete.109 Und im August 1955 erschien die bereits im Januar fertiggestellte erste Ausgabe des von Efremov und Studitskij angekündigten Zeitschriftenprojekts Mir priključenij (Die Welt der Abenteuer), das unter der Leitung der Fantastikschriftsteller Aleksandr Kazancev 106
Denn deren Werke bildeten erst den Anfang möglicher Themen, die der Sozialismus dem Genre noch biete: „Man kann sie nur als Aufklärung in dem Genre, als geglückte Aufklärung ansehen, die offenbart, dass wir alle Möglichkeiten haben, es weiträumig weiterzuentwickeln.“ („ Их можно рассматривать
лишь как разведку в этот жанр, удачную разведку, обнаружившую, что у нас есть все возможности широко его развивать.“) Dezidiert nicht nannte er die polarisierenden Namen eines Aleksandr Beljaev –
als zu „westlich“ – und des Propagandisten der wissenschaftlich-künstlerischen Richtung, Nemcov, vgl. Polevoj, Boris: Sovetskaja literatura dlja detej i junošestva (Sodoklad B. N. Polevogo, Vtoroj den’ s’’ezda, Utrennee zasedanie, 16.12.1954), in: Vtoroj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej. 15–26 dekabrja 1954 goda. Stenografičeskij otčet, Moskva 1956, S. 38–57, S. 48f. 107
So machte Polevoj auch noch einmal mit Verweis auf den im Jahr zuvor verstorbenen Michail Il’in den Versuch, die wissenschaftlich-künstlerische Literatur zu retten, ein Versuch, der jedoch weitgehend folgenlos blieb, vgl. ebd., S. 48.
108
[Red.]: Žurnal CK VLKSM „Technika – molodeži“ ob-javljaet: Konkurs na naučno-fantastičeskij rasskaz, in: Technika – molodeži 7 (1954), S. 40; [Žjuri konkursa]: Ot žjuri konkursa, in: Technika – molodeži 8 (1955), S. 22.
109
Dieser Ausgabe lag eine 18-seitige Sondernummer aus dem Jahr 1974 bei, die dem ersten Mondflug des Menschen gewidmet war, vgl. Gil’zin, R; Chlebčevič, Ju. u.a.: Znanie – sila 11 (1974), in: Znanie – sila 11 (1954), S. 15–32.
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und Lazar’ Lagin sowie der Abenteuerautoren Nikolaj Toman und Mariėtta Šaginjan als Almanach von Detgiz verlegt wurde.110 Was sich in Hinsicht auf die Wissenschaftliche Fantastik damit in den ersten zwei Jahren nach Stalins Tod abzeichnete, war ein immer deutlicher werdender Abgrenzungsdiskurs gegen den seinerzeit von Aleksandr Popovskij als „Angreifergruppe“ bezeichneten Kreis von Autoren, deren weitgehende literaturpolitische Dominanz im Bereich der Fantastik letztlich jedoch nicht sehr viel länger als vier Jahre (von Ende 1948 bis Anfang 1953) anhielt. Nachdem Efremov, Studitskij und Žigarev sie 1954 als „Predel’ščiki“ („Grenzzieher“) charakterisiert hatten, die für einen „flügellosen“ und „gestutzten Wunschtraum“ („куцая мечта“)111 stünden, sprach der Literaturkritiker Sergej Poltavskij in einem Grundsatzartikel zur Bestimmung des Sujets der Wissenschaftlichen Fantastik ein Jahr später von den Anhängern einer „Fantastik der Gegenwart“ („фантастика настоящего“), die das Genre in den letzten zwei Jahrzehnten, das heißt seit dem Ersten Schriftstellerkongress 1934, dominiert hätten, wobei er namentlich Nemcov, Ochotnikov und Saparin nannte.112 Deren prinzipieller Fehler habe darin bestanden, dass sie die Spezifik des Sujets der Wissenschaftlichen Fantastik nicht verstanden, weswegen sie letztlich populärwissenschaftliche Bücher geschrieben hätten, wo doch eine „Fantastik des ‚Fernziels’“ („Фантастика ‚дальнего прицела’“) nötig sei.113 Mit dieser Ausweitung der kurzen Periode der Dominanz der „Fantastik der Gegenwart“ auf die gesamte Stalinzeit nahm Poltavskij aber eine polemische Zuspitzung vor, die sich im Zuge der partiellen gesellschaftspolitischen Destalinisierung und der relativen kulturpolitischen Liberalisierung nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 schnell zu einem Allgemeinplatz in den Debatten um die Wissenschaftliche Fantastik entwickeln sollte. Und so wurde aus Sytins Diktum über eine „Fantastik des nahen Tages“ („фантастика ближнего дня“) vom März 1951, die ihre Fantasie auf den laufenden Fünfjahresplan zu begrenzen habe, und Poltavskijs Forderung nach einer Fantastik des „Fernziels“, die im Zuge der ersten Sputnikflüge und von Gagarins 110
Das Redaktionskolleg setzte sich neben den vier genannten Autoren noch aus zwei Redakteurinnen vom Verlag Detgiz zusammen, die auch als Herausgeberinnen fungierten, vgl. Maksimova, N. A.; Morozova, V. A. (Hg.): Mir priključenij. Al’manach, Bd. 1, Moskva 1955, S. 255.
111
Vgl. Efremov; Studitskij; Žigarev: O literature krylatoj mečty, S. 3; Nemcov: Tradii i novatorstvo, S. 2.
112
Poltavskij, S.: O sjužete v naučnoj fantastike, in: Makarova, V. A. (Hg.): O literature dlja detej (Bd. 1), Leningrad 1955, S. 123–152, S. 139. Poltavskij leitete das Genre sowohl aus dem Zaubermärchen als auch aus den utopischen Romanen der Neuzeit und den „klassischen“ Vorläufern wie Jules Verne her. In der Präsentation seiner Beispiele entwickelte er in dem Aufsatz recht ausführlich in Anlehnung an Gor’kij und einige Lenin-Zitate einen „materialistischen“ Fantastikbegriff, dessen Hauptfunktion es sein müsse, zum Denken anzuregen, wozu auch gänzlich paradoxe oder vollkommen unmögliche fantastische Kunstgriffe angewandt werden könnten. Damit propagierte er bereits 1955 einen Fantastikbegriff, der sich in der literarischen Praxis erst Mitte der 60er Jahre als so genannte „philosophische Fantastik“ bei Stanisław Lem und den Brüdern Arkadij und Boris Strugackij in der Sowjetunion durchsetzen konnte, vgl. ebd., S. 139; Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 122ff.
113
Poltavskij: O sjužete v naučnoj fantastike, S. 141.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 615
Kosmosflug immer größere räumliche und zeitliche Dimensionen annahm, die Wendung „Fantastik des Nahziels“ („фантастика ближнего прицела“), die später von einigen Literaturhistorikern des Genres auch noch zu einer „Theorie des Nahziels“ („теория ближнего прицела“) ausgebaut wurde.114 Dieser prägnante Terminus des „Nahziels“, der in seiner militaristischen Metaphorik die negative Akzentuierung der hiermit bezeichneten Periode noch verstärkte,115 beförderte aber eine weitgehende Entdifferenzierung in der Wahrnehmung der Stalinzeit, die einer jungen, nachwachsenden Generation an Fantastikschriftstellern nur noch als eine negative Abgrenzungsfolie diente. So dominierte in der Tauwetterzeit eine Rhetorik der Tabula rasa und eines Neuanfangs in der Wissenschaftlichen Fantastik, für die lediglich einige wenige Autoren der zwanziger Jahre wie Aleksej Tolstoj und Aleksandr Beljaev noch als sowjetische Vorläufer akzeptiert wurden.116 Die Stalinzeit wurde hingegen nur äußerst selektiv in Hinsicht auf einzelne Werke und die in ihnen propagierten technisch-wissenschaftlichen Ideen rezipiert.117 Was in dieser Rhetorik des fundamentalen Umbruchs und radikalen Neuanfangs im Bereich der Wissenschaftlichen Fantastik aber in Vergessenheit geriet beziehungsweise auch gewollt verschwiegen wurde, waren die anhaltenden Kontinuitäten zur Entwicklung des Genres in der Stalinzeit, ja seine Herkunft aus dem Bereich der Abenteuerliteratur. Zwar blieben Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik bis zum Ende der Sowjetunion organisatorisch in den Verlagen durch gemeinsame Redaktionen und Buchreihen, aber auch im Schriftstellerverband
114
Für den erstmaligen Gebrauch dieses Terminus lässt sich bislang kein eindeutiger Urheber ausmachen. Er kursierte mündlich wahrscheinlich spätestens seit Anfang der sechziger Jahre, vielleicht aber auch schon sehr viel früher, die Erinnerungen Beteiligter an jene Jahre sind diesbezüglich jedoch unscharf. Für die Publizistik ist der bislang früheste Nachweis ein Artikel von Lazar’ Lagin für die Literaturnaja gazeta vom Februar 1961, vgl. Lagin, Lazar’: Bez skidok na žanr! Zametki o naučnoj fantastičeskoj literature, in: Literaturnaja gazeta (11.02.1961), S. 1–2; von einer „Theorie des Nahziels“ spricht beispielsweise Revič: Perekrestok utopij, S. 291; Elena Gomel spricht von einer „doctrine of ‚close targeting’“, vgl. Gomel, Elana: Gods like Men. Soviet Science Fiction and the Utopian Self, in: Science Fiction Studies 31:3 (2004), S. 358–377, S. 361; Gelegentlich wurde in der Sekundärliteratur auch die Wendung Fantastik „der engen Grenze“ („близкого предела“), „Theorie der Grenze“ („теория предела“) oder „Theorie der engen Grenzen“ verwendet, vgl. Larin: Literatura krylatoj mečty, S. 14; Rjurik: Čerez 100 i 1000 let, S. 22; Suvin: Ein Abriss der sowjetischen Science Fiction, S. 326.
115
Dass der Terminus des „Nahziels“, auf das man sein Zielfernrohr (оптический прицел) richten oder ein Gewehr anlegen (прицеливаться ружьем) kann, nicht ein Begriff der Protagonisten dieser Definition war, spielte in den Diskussionen der Tauwetterzeit dann keine Rolle mehr, eignete sich die kriegerische Metaphorik doch ideal zu dessen Diskreditierung
116
An dieser „Kanonisierung“ Tolstojs und Beljaevs als Begründer einer sowjetischen Science Fiction in der Tradition Jules Vernes hatten in der Stalinzeit groß gewordene Verlagsredakteure und Kritiker wie Kirill Andreev und Boris Ljapunov wesentlichen Anteil. Boris Ljapunov war beispielsweise der Herausgeber der 1957 bei Molodaja gvardija erschienenen, dreibändigen Werksausgabe von Beljaev. Zur „Kanonisierung“ Tolstojs, vgl. Schwartz: Atlantis oder der Untergang der russischen Seele, S. 159ff.
117
Vgl. Larin: Literatura krylatoj mečty; Ljapunov: V mire fantastiki, S. 58–69.
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durch eine 1959 neu ins Leben gerufene Sektion für Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik, weiterhin miteinander verbunden, inhaltlich aber gingen sie getrennte Wege.118 Diese Wege waren aber fast alle bereits in der Stalinzeit gebaut worden, wie sich sehr gut an der Zusammensetzung der Redaktion der ersten Nummer des 1955 erstmals erschienenen und bis zum Ende der Sowjetunion weiter erscheinenden Almanachs Mir priključenij zeigen lässt. Denn die vier am Herausgeberkollektiv beteiligten Autoren – Aleksandr Kazancev, Lazar’ Lagin, Nikolaj Toman und Mariėtta Šaginjan – standen gewissermaßen programmatisch für vier wesentliche Richtungen, in die sich die Wissenschaftliche Fantastik und Abenteuerliteratur in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln sollten.119 Mariėtta Šaginjan stand für die zusammen mit Matvej Rojzman und Lev Šejnin entwickelte Richtung eines sowjetischen „Detektivs“, der die Arbeit sowjetischer Ermittlungsorgane gegen jede Art von Verbrechen zum zentralen Gegenstand hatte. Diese in der unmittelbaren Vorkriegs- und Kriegszeit für ein paar Jahre diskutierte und publizierte Richtung stieß in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch auf erheblichen Widerstand und konnte sich erst in der Tauwetterzeit als selbständiges Genre des Detektivs mehr und mehr auch außerhalb der Abenteuerliteratur etablieren.120 Die zweite Richtung war die von Nikolaj Toman repräsentierte Ausrichtung des Abenteuerromans vornehmlich auf die Periode des Großen Vaterländischen Krieges, der als Spionageroman die Arbeit sowjetischer Aufklärer im Kampf gegen die Faschisten zeigte und als Kriegsabenteuer sowjetischer Soldaten und Partisanen bereits seit Anfang der fünfziger Jahre einen fest etablierten Begriff darstellte. Die dritte Richtung stellte der wissenschaftlich-fantastische Abenteuerroman dar, wie er ebenfalls in der Vorkriegszeit konzipiert worden war und in dessen Bereich Kazancev seine ersten beiden Romane verfasst hatte. Diese Richtung übernahm, was die enge ideologische Anbindung an das kommunistische Gesellschaftsprojekt, die Hervorhebung des wissenschaftlichen Anspruchs (ähnlich wie die amerikanische Hard Science Fiction), aber auch was die Ausgestaltung der positiven Helden mit einem unbeugsamen eisernen Willen und die Konzeptualisierung feindlicher kosmischer oder irdischer Welten als zu unterwerfenden Objekten anbelangt, weitgehend die in der Stalinzeit etablierten Muster der Wissenschaftlichen Fantastik.121 Dabei entwickelte sie auch – wie Kazancev in seinen Hypothesen zum Tungusker Meteoriten – abenteu-
118
Vgl. Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 108ff.
119
Natürlich gab es noch weitere Richtungen und Strömungen, so existierte selbst die wissenschaftlichkünstlerische Literatur weiter, zu deren prominentesten Protagonisten Daniil Semenovič Danin (1914– 2000) werden sollte, vgl. Kuchment, Mark: Bridging the Two Cultures: The Emergence of Scientific Prose, in: Graham, Loren (Hg.): Science and Soviet Social Order, Cambridge, Mass/London 1990, S. 325– 324. Kuchment weiß allerdings über die Vorgeschichte in der Stalinzeit bis auf den Hinweis, das der Terminus von Gor’kij komme, nichts zu berichten und geht davon aus, dass diese Richtung erst Anfang der sechziger Jahre in der Sowjetunion aufkam, vgl. ebd., S. 325.
120
Vgl. Franz: Moskauer Mordgeschichten.
121
Vgl. hierzu Schwartz: Die Erfindung des Kosmos, S. 166–171; Gomel: Gods Like Men, S. 358–377.
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erliche und abwegig anmutende Entwürfe zur Verfasstheit der Menschheit und des Universums, die häufig an ähnliche „parawissenschaftliche“ Diskurse im Westen erinnerten. Die vierte Richtung schließlich repräsentierte Lazar’ Lagin mit seiner sozialen Fantastik, die ihren kritischen Blick auf die individuelle und gesellschaftliche Verfasstheit des Menschen nach 1953 nicht mehr ausschließlich als fantastische Teufeliade in Moskau (Der Alte Chottabyč) oder als antikapitalistisches Pamphlet (Patent „A.V.“, Die Insel der Enttäuschung) verkleiden musste, sondern seit den ersten Sputnikflügen auch immer häufiger fremden Zivilisationen auf fernen Planeten ihre Aufmerksamkeit schenkte. Diese soziale oder „philosophische Fantastik“, wie sie seit Anfang der 1960er Jahre auch häufig genannt wurde, schaffte in den Werken von Autoren wie den Brüdern Arkadij und Boris Strugackij dann auch als einzige Strömung den Sprung zu einer Literatur „erster Wahl“, die selbst in den „ernsthaften“ Literaturgeschichten gelegentlich Erwähnung findet.122 Diese in der Stalinzeit entstandenen populärliterarischen Paradigmen existierten zwar in den folgenden Jahren als wichtige Strömungen weiter, doch sollte ihre Herkunft durch die schon ein Jahr nach Erscheinen von Mir priključenij auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 eingeleiteten Veränderungen weitgehend in den Hintergrund gedrängt werden.123 Denn die populäre Massenkultur erlebte in den ersten Jahren des kulturpolitischen Tauwetters einen Umbruch, der fast genauso radikal und nachhaltig sein sollte, wie es die Oktoberrevolution seinerzeit gewesen war. Westliche Filme eroberten bereits vor dem Parteitag die sowjetischen Kinos, westliche zeitgenössische Autoren wurden wieder vermehrt übersetzt, Ausstellungen mit westlichen Gegenwartskünstlern eröffneten in Moskau, westliche Moden und Musikstile wurden populär und 1957 kam mit dem 6. Internationalen Jugendfestival dann das erste Mal seit Jahrzehnten wieder „die ganze Welt“ in die sowjetische Hauptstadt zu Besuch. Und auch die außersowjetische Welt schien im Zeichen der „friedlichen Koexistenz“ in einem grundlegenden Wandel begriffen, in der mit der seit 1957 einsetzenden Dekolonisation Schwarzafrikas endgültig die für die klassische Abenteuerliteratur so konstitutive imperiale Kolonialordnung zusammenzubrechen schien. Hinzu kam ebenfalls im Jahr 1957 mit den ersten Sputnikflügen der sowjetische Aufbruch in den Weltraum, der zu einem entscheidenden Katalysator für eine Neubegründung der Wissenschaftlichen Fantastik werden und das Lebensgefühl einer ganzen Generation prägen sollte.124 122
So widmet die von Klaus Städtke herausgegebene Russische Literaturgeschichte (2002) den beiden A utoren einen Absatz. Außerdem findet sich unter dem Stichwort „naučnaja fantastika“ noch ein Absatz zur Entwicklung der sowjetischen „Sciencefiction“ seit den späten fünfziger Jahren, der drei Sätze aus Ingrid Oswalds Studie kompiliert und Ivan Efremovs Roman Andromedanebel (Туманность Андромеды, 1957) eine sinnentleerte Charakterisierung gibt. Ein dritter Absatz zu dem Stichwort beschäftigt sich mit Andrej Sinjavskijs (Abram Terc) Erzählung Pchenc (Пхенц, 1957), vgl. Engel, Christine: Vom Tauwetter zur postsozialistischen Ära (1953–2000), in: Städtke, Klaus: Russische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 2002, S. 349–406, S. 390f.; Oswald: Der Staat der Wissenschaftler.
123
Vgl. Laß, Karen: Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion (1953–1991), Köln/Weimar/Wien 2002.
124
Vgl. Schwartz: Die Erfindung des Kosmos; Ders.: Ein glühender Block irdischer Hoffnungen. Das kosmische Gefühl in der sowjetischen Science Fiction nach 1957, in: Polianski, Igor J.; Schwartz, Matthias
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So eröffnete das kulturpolitische Tauwetter der Chruščevzeit auch im Bereich der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik neue Möglichkeiten und Perspektiven, die dazu führten, dass die alten Konflikte und vorhandenen Kontinuitätslinien zunehmend in den Hintergrund rückten und die Stalinzeit manchmal nur als Kontrastfolie in Erinnerung blieb (wie sie sich in der Metaphorik einer Fantastik des „Nahziels“ niederschlug). Am deutlichsten markierte diesen Umbruch ein Roman, dessen Figurendarstellung und Sujetgestaltung zwar noch deutlich von den ästhetischen und ideologischen Positionen der Stalinzeit geprägt waren, dessen „Poetik des Ungewöhnlichen“ aber seit dem Erscheinen der ersten Fortsetzungsfolgen als Beginn eines neuen Zeitalters auch in der populären Unterhaltungsliteratur begrüßt wurde: Ivan Efremovs Roman Andromedanebel (Туманность Андромеды), der seit Januar 1957 in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Technika – molodeži das ganze Jahr über in Fortsetzungen publiziert wurde.125 Efremovs Roman erzählte von gottgleichen Menschen des 31. Jahrhunderts mit Namen wie Veda Kong, Dar Veter, Erga Noora und Mven Mass, die das eigene Sternensystem längst kolonisiert hatten und sich nun aufmachten, in anderen Galaxien und Sternennebeln eine „sehr weit entfernte, vollkommen fremde Welt“ (очень далекий, совсем чужой мир) zu entdecken.126 Dieser kosmische Aufbruch in „vollkommen fremde“ Welten bedeutete aber letztlich ungeachtet seiner weiterhin omnipräsenten kommunistisch-ideologischen Rahmung einen Bruch mit dem in den letzten Jahrzehnten entwickelten Anspruch, eine genuin sowjetische Poetik der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik zu schaffen, deren Intention sich in erster Linie auf eine radikale Dekonstruktion von Alterität richtete. Diese paradigmatische Verschiebung hatte sich unter anderem bei Efremov bereits in seinen während des Krieges geschriebenen Erzählungen abgezeichnet, war aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit bald wieder unterdrückt worden. Nun sollte diese exotisierende Wiederverzauberung eigener und fremder Welten innerhalb von wenigen Jahren zu einem neuen Paradigma der poststalinistischen Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik werden.127
(Hg.): Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a. M./New York 2009, S.267–291. 125
Efremov, Ivan: Tumannost’ Andromedy. Naučno-fantastičeskij roman, in: Technika – molodeži 1 (1957), S. 26–31; 2, S. 25–29; 3, S. 22–27; 4, S. 22–27; 5, S. 22–27; 6, S. 27–32; 8, S. 28–33; 9, S. 30–35; 11, S. 25–29 (Gekürzte Fassung).
126
Ebd., 11 (1957), S. 29.
127
Vgl. ansatzweise hierzu: Schwartz, Matthias: Odysseen zu den Sternen. Die fiktionale Kolonisation des Kosmos im Zeichen des Kalten Krieges, in: Myrach, Thomas; Weddigen, Tristan; Wohlwend, Jasmin; Zwahlen, Sara Margarita (Hg.): Science & Fiction. Imagination und Realität des Weltraums (Berner Universitätsschriften, Bd. 55), Bern/Stuttgart/Wien 2009, S. 241–273; Ders.: Wunder mit wissenschaftlicher Begründung. Verzauberter Alltag und entzauberte Ideologie in der sowjetischen Science Fiction der Nachkriegszeit, in: Berliner Osteuropa Info 23 (2005), S. 100–109.
Die Fanatik des „Nahziels“ | 619
Zu s ammenf a s s u n g Eine moderne, kommerzielle Massenliteratur kam in Russland genauso wie in den übrigen führenden Industrienationen Europas und Nordamerikas im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. Dies geschah etwas später und in geringerem Ausmaße als bei den westlichen Nachbarn, und so drang sie nachhaltig erst nach der gescheiterten Revolution von 1905 ins Bewusstsein einer kritischen Öffentlichkeit – der kulturellen Intelligenzija – , als infolge einer weiteren Liberalisierung des Buchmarktes 1907 populäre Groschenheftserien in Hunderten von Folgen die Herzen der Leserinnen und Leser eroberten. Ihr Inhalt handelte nach damaligem Verständnis zum Großteil von „Abenteuern“: Abenteuern in den Zwischen- und Unterwelten moderner Großstädte oder in der geheimnisvollen und gefährlichen, exotischen und „barbarischen“ Welt der Kolonien, auf Seereisen und an den „weißen Flecken“ der imperialen Geographie; die Akteure waren verrückte Erfinder, tollkühne Entdecker und wagemutige Pfadfinder. Der populärste Held aber war der New Yorker Privatdetektiv Nat Pinkerton, den sich der einflussreiche Literaturkritiker und spätere Kinderbuchautor Kornej Čukovskij 1908 zum Gegenstand einer Aufsehen erregenden Polemik auserkor, in der er diesen „Gott der Hottentotten“ zum Symptom und Synonym des kulturellen Verfalls und gesellschaftlichen Niedergangs seiner Epoche erklärte. Abenteuerliteratur hatte damit als aus dem Westen kommendes „Pinkertontum“ innerhalb der kulturellen Intelligenzija ein ressentimentgeladenes Emblem bekommen, welches die Rezeption noch bis in die Nachrevolutionszeit entscheidend prägen sollte (Kapitel 1). So blieb Abenteuerliteratur auch nach der Oktoberrevolution 1917 in der Wahrnehmung der kulturellen und politischen Eliten ein aus dem Westen importiertes Phänomen, obwohl es von Anfang an auch russische Formen und Adaptionen dieser Massenliteratur gegeben hat. Insbesondere ab 1921 mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik – die nach den Jahren des Kriegskommunismus eine Rückkehr zu beschränkten Marktmechanismen und liberaleren Positionen in allen Bereichen bedeutete – entstand ein kontinuierlich wachsender Anteil einheimischer Produktionen, die genauso wie vor 1917 vor allem auf spannende Unterhaltung, außergewöhnliche Reisen und exotische Abenteuer in anderen Weltgegenden ausgerichtet waren. Allerdings wurden diese Abenteuer von nun an auf die politisch-gesellschaftlichen und technischwissenschaftlichen Herausforderungen des sowjetischen Umbruchs bezogen. Der Wilde Westen wurde in das ukrainische Grenzland des Bürgerkriegs verlegt, anstelle von Rothäuten und Weißgesichtern kämpften jetzt Rotarmisten gegen Weißgardisten, und die koloniale Welt geriet zum Schauplatz antikolonialer Aufstände unter dem Vorzeichen der Weltrevolution (Kapitel 2). Neben solchen utopischen Versprechen befasste sich die sowjetische Abenteuerliteratur aber auch mit den katastrophalen Folgen und beängstigenden Effekten gesellschaftlicher Umbrüche und moderner Kriege. Nicht nur die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs finden sich als globaler „Kampf der Welten“ in diesen Geschichten wieder, sondern auch all die an neue Maschinen und technisch-wissenschaftliche Erfindungen geknüpften Angstphantasmen tauchen hier als fiktionalisierte Menschenexperimente von verrückten Wissenschaftlern und größenwahnsinnigen
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Potentaten auf. Häufig handelte es sich dabei auch um autoreflexive Bezugnahmen auf die neuen Propagandamedien der Revolution wie das Radio und insbesondere das Kino. Viele Werke verwiesen bereits in den Untertiteln auf ihren intermedialen Status etwa als „kinematographischer Roman“, so dass die recht schemenhaft und grob gezeichneten Darstellungen der Weltrevolution oder eines globalen Krieges auch als ironische Distanznahmen zum Erzählten lesbar werden (Kapitel 3 und 4). Wenn sich das gelegentliche literaturpolitische und künstlerische Interesse auf diese Massenliteratur richtete, nahm es nur das Übertriebene, Klischeehafte, Gewalttätige und Primitive der Darstellungen wahr, hielt sie aber für politisch ungefährlich und künstlerisch unbedeutend. Eine der wenigen Ausnahmen stellt diesbezüglich Nikolaj Bucharins in einer Rede auf einer Komsomolversammlung Ende 1922 aufgestellte Forderung dar, man solle eine neue revolutionäre Abenteuerliteratur, so genannte „kommunistische Pinkertons“, schaffen (Abschnitt 2.1). Dieser Terminus wurde bis zum Ende der 1920er Jahre zum Synonym für die postrevolutionäre Abenteuerliteratur, der nach heutigem Verständnis sowohl Kriminal- und Abenteuergeschichten als auch Science Fiction umfasste. Insbesondere inspirierte Bucharins Aufruf jedoch einen kleinen Kreis von „avancierteren“ Schriftstellern, sich mit dieser Form von Unterhaltungsliteratur zu beschäftigten und einige Parodien auf das Genre zu schreiben, die dann als „rote Pinkertons“ in die Forschung eingegangen sind. Doch gerade da man das Genre höchstens noch als Parodie, nicht als lebendige künstlerische Form wahrnahm, erlahmte das Interesse schnell wieder (Kapitel 3). Die recht indifferente Koexistenz einer populären Abenteuerliteratur – die man als „kommunistische Pinkertonovščina“ ignorierte – und einer wenig rezipierten, eher avancierten Hochliteratur änderte ihren Charakter erst mit dem „Großen Umbruch“ 1928, als im Zuge der gewaltsamen Industrialisierung und Kollektivierung des Landes während des ersten Fünfjahresplans auch die Literatur- und Kulturpolitik radikal umgebaut wurde. Abenteuerliteratur wurde als eskapistisches und weltfremdes Genre scharf kritisiert. In diesem Kontext geriet das Kompositum der „Wissenschaftlichen Fantastik“ in den Mittelpunkt des Interesses, ein Begriff, der zwar als modisches Schlagwort schon seit 1925 kursierte, aber bis auf wenige Ansätze keinerlei kritische oder theoretische Reflexion erfahren hatte. Nun wurde er plötzlich zum Kampfbegriff, um zumindest einen Teil der populären Unterhaltungsliteratur noch für die Zeit des Aufbaus des Sozialismus akzeptabel zu machen (Kapitel 5). Zwar scheiterte dieser Versuch, die Auseinandersetzungen führten aber innerhalb kurzer Zeit zu einer festen Etablierung des Terminus Wissenschaftliche Fantastik, der von nun an weiterhin in den Debatten präsent blieb. Die Auflösung und Zentralisierung aller literaturpolitischen Institutionen bis 1932 kam schließlich einem weitgehenden Verbot von Abenteuerliteratur gleich. Fast alle Publikationsorgane des Genres wurden geschlossen, entsprechende Werke aus den Bibliotheken entfernt (Kapitel 6). Doch war es mit einem Verbot nicht getan, denn man musste den Lesevorlieben der breiten Massen Alternativen anbieten. Die verantwortlichen Literaturpolitiker unter führender Rolle von Maksim Gor’kij hatten diesbezüglich eine klare Vorstellung, als sie 1934 den Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress der UdSSR in Moskau einberiefen. Anstelle exotischer Expeditionen in andere Welten bot man eine „wissenschaftlich-künstlerische
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Literatur“ an, die die Abenteuer der neuen Zeit auf den Großbaustellen des Sozialismus suchte, und anstatt Verfolgungsjagden, Weltkriegen und exotischen Geheimnissen Akkordarbeit, Produktionsrekorde und technisch-wissenschaftliche Wunder in den Mittelpunkt des Sujets stellte. Abenteuer und Reisen sollten keine Alteritätsfantasien mehr bedienen, sondern in den Dienst des sozialistischen Aufbaus gestellt werden. „Wissenschaftliche Fantastik“ sollte nur noch in diesem Rahmen zugelassen sein als eine Literaturform, die die offizielle Aufbruchs- und Fortschrittssemantik aufnahm und die mögliche Erfüllung des nächsten Fünfjahresplans antizipierte. Andere Varianten der Abenteuerliteratur galten als konterrevolutionäre „Schmuggelware“, die nicht mehr akzeptiert werden durften (Kapitel 7). Nun befand man sich 1934 gerade im Bereich der Literatur noch am Anfang einer Entwicklung, die später als Stalinismus und Sozialistischer Realismus in die Geschichte eingegangen ist. Insbesondere im Bereich der Jugendliteratur gab es erhebliche Schwierigkeiten, die auf dem Schriftstellerkongress verkündeten, teils recht allgemeinen Prinzipien in der Praxis umzusetzen. Vor allem hatte man abgesehen von sehr wenigen Autoren, deren Werke immer wieder als mustergültig proklamiert wurden, niemanden, der solch eine Literatur schreiben wollte. Ganz anders sah die Lage im Filmbereich aus, wo der verantwortliche Kulturpolitiker Boris Šumjackij genau das gegenteilige Konzept angewandt hatte, indem er die populären Genreformen „aus dem Westen“ nicht als Schmuggelware verdammte, sondern „Hollywood“ zum Vorbild nahm, um ein „Kino für Millionen“ mit sozialistischem Inhalt zu schaffen. Und so entstand bereits ab 1935 eine Reihe äußerst beliebter Abenteuerfilme, die zu belegen schienen, dass das Genre durchaus mit dem Sozialistischen Realismus vereinbar sei. Diese Erfolge wirkten ihrerseits auf die Literatur zurück, so dass man 1936 begann, im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur auch wieder Formen der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik zuzulassen. Diese literaturpolitische Kehrtwende wurde paradoxerweise durch die Stalinschen Säuberungen noch forciert, so dass Aleksandr Beljaev 1938 von einer Rückkehr des „Aschenputtels“ des Sozialistischen Realismus – wie er die wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur bezeichnete – auf den großen „Ball“ der sowjetischen Literatur sprechen konnte (Kapitel 8). Infolgedessen begann man zwischen 1937 und 1941 eine Abenteuerliteratur und Wissenschaftliche Fantastik im Rahmen des Sozialistischen Realismus zu schaffen, die äußerst beliebte Werke hervorbrachte. Die in engen Grenzen tolerierte Abenteuerliteratur machte sich an eine erneute Poetisierung der sowjetischen Peripherie, die jetzt aber nicht als prekäres Grenzgebiet exotisiert, sondern als eine zu sichernde und zu verteidigende Grenze stilisiert wurde. In „heroischen“ Abenteuern kämpften die Helden gegen ausländische Spione und Diversanten, die sich das Exotische für konterrevolutionäre Ziele zunutze machten und welche zu „entzaubern“ und zu enttarnen waren (Kapitel 9). Hinsichtlich der Wissenschaftlichen Fantastik zeichnete sich dabei eine Tendenz ab, die nach dem Zweiten Weltkrieg von zentraler Bedeutung werden sollte. In dieser ist zu erkennen, dass nun vermehrt Autoren an dem Genre beteiligt waren, die aus der neu entstehenden Generation der „technischen Intelligenz“ kamen. Ihre Prosa unterschied sich von den „kommunistischen Pinkertons“ vornehmlich darin, dass die wunderbaren Erfindungen und Entdeckungen
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nicht nur Schreckensszenarien evozierten, sondern auch zu einer gewissen „Verzauberung“ der eigenen sowjetischen Wirklichkeit führen konnten (Kapitel 10). Diese heroische und wissenschaftlich-fantastische Abenteuerliteratur verhandelte aber so deutlich wie kein anderer Bereich der Literatur der Stalinzeit auch die „Schattenseiten“ der gewaltsamen sowjetischen Modernisierung. Der Terror und die Verfolgungen der dreißiger Jahre nahmen in Wundergeneratoren zur Wiederbelebung der Toten und in Verschwörungsgeschichten um gefährdete Grenzgebiete, als „blinde Gäste“ und „Geist aus der Flasche“ teils fantastische, teils paranoide Formen an. Der Zweite Weltkrieg führte schließlich zu einer ähnlich abrupten Zäsur wie der Erste Weltkrieg. Wie dieser seinerzeit für das von Čukovskij diagnostizierte „Pinkertontum“ seinen Untergang bedeutet hatte, verhinderte der deutsche Überfall eine Fortentwicklung und mögliche Kanonisierung der im Entstehen begriffenen „sozialistisch-realistischen“ Form der Abenteuerliteratur und Wissenschaftlichen Fantastik. Zwar schien es in der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer kurzen, enthusiastischen Übergangsphase möglich zu sein, an die ersten Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen oder gar die Abenteuerliteratur und die Wissenschaftliche Fantastik mit eigenständigen Sektionen im Schriftstellerverband fest im Kanon der sowjetischen Literatur zu verankern. Doch die im Zeichen des Kalten Krieges in der zweiten Jahreshälfte 1946 beginnende, so genannte „Ždanovščina“ machte diesen Hoffnungen ein baldiges Ende und veränderte die literaturpolitischen Vorzeichen grundlegend. Bis dahin fand das „heroische“ Abenteuer allerdings im Kampf gegen die deutschen Invasoren während des Krieges ein neues Themenfeld, ähnlich wie der Bürgerkrieg konstituierend für die sowjetische Abenteuerliteratur der zwanziger Jahre war. Dabei konzentrierten sich die Geschichten zum einen auf das Thema der zu enttarnenden Feinde im eigenen Land, dem man ein neu zu begründendes Detektivgenre widmen wollte. Zum anderen drangen die Erzählungen imaginär tief in das Innere des von Deutschland besetzten Europa ein, um hier die subversiven und konspirativen Tätigkeiten sowjetischer Helden zu beschreiben. Die Phantasmen ausländischer Spione und Diversanten im eigenen Land aus den dreißiger Jahren wendete man in den abenteuerlichen Spionagegeschichten über den Zweiten Weltkrieg nach außen, wo jetzt sowjetische Aufklärer und Partisanen das faschistische Hinterland mit teils ähnlichen Techniken der Maskerade und Verstellung unsicher machten, wie sie die „Roten Teufelchen“ im Bürgerkrieg angewandt hatten. Allerdings hatten es diese „Kriegsabenteuer“ des Großen Vaterländischen Krieges in Zeiten der Ždanovščina äußerst schwer und konnten bald nur noch ohne das Attribut „Abenteuer“ publiziert werden. Dank einiger sehr erfolgreicher Spielfilme zu dem Thema kehrte der Begriff „Kriegsabenteuer“ jedoch Anfang der 1950er Jahre wieder in die Diskussion zurück und legte die Grundlage für die Entstehung einer spezifisch sowjetischen Abenteuerliteratur, die letztlich der einzige Bereich blieb, in dem der Begriff als Genre bis zum Ende der Sowjetunion noch fortexistierte, nämlich als eine Literatur, die von den Abenteuern sowjetischer Helden in den Frontgebieten und im Hinterland des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs handelte. Die ebenfalls in der frühen Nachkriegszeit entwickelte Konzeption einer abenteuerlichen Detektivgeschichte etablierte sich hingegen in der Tauwetterzeit als eigenständiges Genre ohne das Attribut „Abenteuer“ (Kapitel 11).
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Innerhalb der Wissenschaftlichen Fantastik galt hingegen jede Form von Abenteuer seit Mitte 1946 erneut als imperialistische „Schmuggelware“, weswegen man das Genre nochmals wie schon auf dem Ersten Schriftstellerkongress dem Bereich der „wissenschaftlich-künstlerischen Literatur“ unterordnete, teils unter der Ägide der gleichen Protagonisten wie schon 1934. Im Unterschied zu der Lage ein Jahrzehnt zuvor gab es jetzt aber einen strukturell und ideologisch etablierten Literaturbetrieb, der die literaturpolitischen Vorgaben sehr viel konsequenter umsetzte als es in den Jahren 1934 bis 1937 der Fall gewesen war. Doch zeigte sich in der literarischen Praxis, dass auch bei einer Vereinigung von Wissenschaftspopularisierung und Fantastik noch eine Vielzahl an Poetiken des „Ungewöhnlichen“ existieren konnte, die imaginäre Grenzüberschreitungen in andere Welten möglich machten (Kapitel 12 und 13). Erst Anfang 1949 gelang es im Zuge des „Stalinplans zur Umgestaltung der Natur“, die wissenschaftlich-künstlerische Literatur zur allgemein verpflichtenden Doktrin zu erklären, deren Prinzipien sich die Fantastikschriftsteller unterzuordnen hatten (Kapitel 14). Diesen Vorgaben folgten aber nur noch wenige Autoren, die in den Jahren bis zu Stalins Tod eine „Fantastik des nahen Tages“ („фантастика ближнего дня“) über den Aufbau des Kommunismus und die Zähmung und Unterwerfung der Natur schrieben, die später reziprok als „Fantastik des Nahziels“ („фантастика ближнего прицела“) in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Betrachtet man die in diesem Feld tätigen Autoren aber genauer, entwickelten selbst diese Schriftsteller in ihrer Fokussierung auf ein „Nahziel“ eine ganz eigene Poetik der alles durchdringenden Scharfsichtigkeit, Transparenz und Durchleuchtung, die angesichts einer vollkommenen Kontrolle und Disziplinierung des Individuums durch den „totalitären“ Staat den Texten eine höchst ambivalente „fantastische“ Semantik verleiht (Kapitel 15). Zwar blieben Abenteuer und Wissenschaftliche Fantastik organisatorisch in den Verlagen und im Schriftstellerverband bis zum Ende der Sowjetunion den gleichen Abteilungen und Sektionen zugeordnet, thematisch und personell gingen sie jedoch seit der späten Stalinzeit getrennte Wege. Abenteuerliteratur blieb einer retrospektiven Ausrichtung verpflichtet mit dem zentralen Fokus auf die „andere Welt“ des „anachronistischen“ Verbrechens sowie auf die Glorifizierung des Großen Vaterländischen Krieges. Wissenschaftliche Fantastik hingegen blickte in die fortschrittskonnotierte „andere Welt“ der kosmischen Ferne, die sich aber nicht erst mit dem verlorenen Wettlauf zum Mond zusehends verdüsterte und jenseits des utopischen Zukunftsversprechens von Anfang an immer auch eine selbstreflexive Beschäftigung mit der eigenen Gesellschaft beinhaltete.
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An h an g 1. Abk ü r z u n g e n Das Verzeichnis enthält nur Abkürzungen, die mehrmals im Text gebraucht werden. Einmalig verwendete Abkürzungen werden an der jeweiligen Zitationsstelle in den Fußnoten erläutert. Detizdat
Detskoe izdatel’stvo (Kinderverlag, 1936–1941, unter Leitung des ZK des Komsomol) Detgiz Detskoe gosudarstvennoe izdatel’stvo (Staatlicher Kinderverlag, 1933–1936 Sitz in Moskau und Leningrad, Teil von OGIZ; 1941–1963 Leitung beim Volkskommissariat für Bildung/Ministerium für Bildung) GOĖLRO Gosduarstvennaja komissija po ėlektrifikacii Rossii (Staatskommission zur Elektrifizierung Russlands, 1920 gegründet) Gosizdat [RSFSR] Gosudarstvennoe izdatel’stvo (Staatsverlag [der RSFSR]) Goslitizdat Gosudarstvennoe literaturnoe izdatel’stvo (Staatlicher Literaturverlag) Izd. Izdatel’stvo (Verlag) Komintern Kommunističeskij International (Kommunistische Internationale, 1919–1943) Komsomol (KSM) Kommunističeskij sojuz molodeži (Kommunistischer Jugendverband, gegründet 1918 als Russländischer (RKSM), 1924 unbenannt in Russländischer Leninscher (RLKSM), ab 1926 Unionsweiter Leninscher Kommunistischer Jugendverband (VLKSM)) NÖP Neue Ökonomische Politik (russ. NĖP, Novaja ėkonomičeskaja politika) OGIZ Ob’edinenie gosudarstvennych knižno-žurnal’nych izdatel’stv (Vereinigung der staatlichen Buch- und Zeitschriftenverlage, 1930–1949) Proletkul’t Proletarskaja kul’tura (Proletarische Kultur, 1917–1932) RAPP Rossijskaja Associacija proletarskich pisatelej (Russländische Assoziation der proletarischen Schriftsteller) RSFSR Rossijskaja Social’ističeskaja Federacija Sovetskich Respublik (Russländische Sozialistische Föderation der Sowjetrepubliken) VKP/b Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija/bol’ševikov (Kommunistische Allunionspartei/der Bolschewiki, 1925–1952) ZiF Zemlja i fabrika (Erde und Fabrik), Verlag ZK Zentralkommitee
Abkürzungen | 627
2. Q u ell e n 2. 1 Arc hiv ma terialien Die Archive sind nach der Systematik Bestand (russ. „Fond“, Abk. „f.“), Inventarliste (russ. „Opis’“, Abk. „op.“), Einheit (russ. „Edinica“, Abk. „ed.“) und Blatt (russ. „List“, Akl. „l.“) geordnet. Die in der deutsch- und englischsprachigen geschichtswissenschaftlichen Forschung übliche Angabe der russischen Abkürzungen wird hier übernommen. Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i isskustva (Abk. RGALI) / Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst Bestände: f. 360, op. 1 (CK VLKSM, Fond Gosudarstvennogo izdatel’stva „Detskaja literatura“) f. 360, op. 5 (Direkcija Izdatel’stva destkoj literatury, Central’nyj komitet Vsesojuznogo Leninskogo Kommunističeskogo Sojuza molodeži, Narodnyj komissariat Prosveščenija R.S.F.S.R.) f. 631, op. 8 (Sojuz Sovetskich Pisatelej SSSR, Sekcija detskoj literatury) f. 361, op. 15 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekretariat SSP) f. 361, op. 22 (Pravlenie Sojuza Sovetskich Pisatelej, Sekcija naučno-chudožestvennoj literatury) f. 364, op. 1 (Redakcija „Literaturnaja gazeta“, otdel kritiki i bibliografii) f. 364, op. 3 (Redakcija „Literaturnaja gazeta“, otdel nauki) f. 2809, op. 1 (Rojzman, Matvej Davidovič [1896–1975] – pisatel’) f. 2826, op. 1 (Galis, Adam Germanovič) Rossijskij Gosudarstvennyj archiv social’no-politicˇeskoj istorii (Abk. RGASPI) / Russländisches Staatsarchiv der sozial-politischen Geschichte Bestände: f. 17, op. 125 (Central’nyj komitet VKP (b), Upravlenie propagandy i agitacii)
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[Red.]: Konkursnyj plagiat, in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1929), S. 240. [Red.]: Litkonkurs „Sledopyta“ 1928 g., in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1929), S. 148–149. [Red.]: o.T. [Gost’ iz Kosmosa], in: Technika – molodeži 3 (1951), S. 28. [Red.]: Ot redakcii (Golova professora Douėlja), in: Vsemirnyj sledopyt 3 (1925), S. 16–17. [Red.]: Tov. Čitatel’! Naša anketa, in: Vokrug sveta 1 (1935), S. 3 Umschlag. [Red.]: Vsemirnyj sledopyt. Programma žurnala, in: Vsemirnyj sledopyt 2 (1925), S. 2 Umschlag. [Red.]: Redakcija žurnala „Vsemirnnogo sledopyta“ ob’’javljaet Vsesojuznyj literaturnyj konkurs 1928 g., in: Vsemirnyj sledopyt 5 (1928), S. 392–393. [Red.]: Žurnal CK VLKSM „Technika – molodeži“ ob-javljaet: Konkurs na naučnofantastičeskij rasskaz, in: Technika – molodeži 7 (1954), S. 40. [Žjuri]: O literaturnom konkurse „Vsemirnogo sledopyta“, in: Vsemirnyj sledopyt 12 (1928), S. 956. [Žjuri konkursa]: Ot žjuri konkursa, in: Technika – molodeži 8 (1955), S. 22. Adamov, Grigorij: Moja sledujuščaja problema, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 26–27. –: Na zapuščennom učastke detskoj literatury, in: Molodaja gvardija 3/1936, S. 163–166. Aksenov, I. A.: Il’ja Ėrenburg. Istorija gibeli Evropy, in: Pečat’ i revoljucija 3 (1924), S. 261–262. Aleksov, G: „Vsemirnyj sledopyt“, in: Kniga i revoljucija 24 (30.12.1929), S. 48–51. Andreev, Andrej: O detskoj literature. Reč’ sekretarja CK VKP (b) tov. A. Andreeva na 1-m soveščanii po detskoj literature pri CK VLKSM 19 janvarja 1936 g., in: Pravda 28 (29.01.1936), S. 4. Andreev, Kirill: Tri žizni Žjulja Verna (Žizn’ zamečatel’nych ljudej), Moskva 1956. B-ev, Sergej: Džek London, in: Knigonoša 2 (1926), S. 11–12. Babuškina, A.: Do konca vykorčevat’ vražeskuju agenturu v komsomole, in: Detskaja literatura 1 (1939), S. 19–25. Bachtin, Michail: Ėpos i roman. O metodologii issledovanija romana, in: Ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, Moskva 1975, S. 447–483. –: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung (1941), in: Wegner, Michael; Hiller, Barbara u.a. (Hg.): Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion, Berlin 1988, S. 490–532. Balabucha, Andrej; Britikov, Anatolij: Kommentarii. Golova professora Douėlja, in: Beljaev, Aleksandr: Sobranie sočinenij v pjati tomach, Bd. 1, Leningrad 1983, S. 280–281. Barančikov, P.: Po kinoėkranam (Teatr – muzyka – kino), in: Izvestija (24.03.1929), S. 5. Baskakov, N.: Ne čudo li ėto?, in: Vokrug sveta 5 (1934), S. 18–21. Bechterew, Wladimir: Die Bedeutung der Suggestion im sozialen Leben, Wiesbaden 1905. –: Steifigkeit der Wirbelsäule und ihre Verkrümmung als besondere Erkrankungsform, in: Neurologisches Centralblatt 12 (1893), S. 426–434. Beljaev, Aleksandr: O moich rabotach, in: Detskaja literatura 5 (1939), S. 23–25. –: Sozdadim sovetskuju naučnuju fantastiku, in: Detskaja literatura 15–16 (1938), S. 1–8.
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672 | Anhang
Pe r s on en i n d e x A Abakumov, Viktor Semenovič (1908–1954) 452 Adalis, Adelina Efimovna (1900–1969) 115, 198 Adamov, Grigorij (Pseudonym von Grigorij Borisovič Gips, 1886–1945) 331, 332, 338, 357, 358, 364, 367, 371, 372, 374, 378, 379, 380, 381, 385, 390, 391, 394, 395, 431, 433, 434, 473, 474, 478, 554, 594, 595, 614 Adorno, Theodor W. (1903–1969) 653 Aimard, Gustave (1818–1883) 74, 93, 263, 265 Aleksandrov, Grigorij Vasil’evič (1903–1983) 452 Aleksov, G. 234 Ambarcumjan, Viktor Amazaspovič (1908– 1996) 541 Amundsen, Roald Engelbregt Gravning (1872–1928) 398 Andreev, Andrej Andreevič (1895–1971) 354, 434 Andreev, Kirill Konstantinovič (1899–1967) 336, 337, 339, 391, 392, 393, 394, 435, 436, 471, 472, 476, 477, 478, 479, 480, 483, 495, 497, 509, 522, 527, 528, 538, 548, 550, 555, 556, 557, 584, 616 Antonov, Trofim Lukjanovič 481 Archangelskij, Aleksandr Grigorevič (1889– 1938) 262 Aristoteles (384–322 v. Chr.) 270, 287 Arsenev, Vladimir Klavdievič (1872–1930) 117, 119, 235, 303 Aseev, Nikolaj Nikolaevič (1889–1963) 309
Auslender, Sergej Abramovič (1888–1943) 108, 109, 110, 121, 196, 356 Ažaev, Vasilij Nikolaevič (1915–1968) 31, 566 B Babel, Isaak Emmanuilovič (1894–1940) 449, 462 Bachterev, Igor Vladimirovič (1908–1996) 467 Bachtin, Michail Michailovič (1895–1975) 393, 394, 427 Bacon, Francis (1561–1626) 250 Balzac, Honoré de (1799–1850) 453 Banerjee, Anindita 39 Barnet, Boris Vasil’evič (1902–1965) 192 Bechterev, Vladimir Michajlovič (1857–1927) 91, 158, 159, 161, 162, 202, 208, 212, 228, 244, 416 Beljaev, Aleksandr Romanovič (1884–1942) 78, 184, 186, 201, 203, 214, 215, 217, 219, 227, 229, 230, 232, 233, 255, 269, 278, 280, 282, 283, 333, 355, 361, 378, 404, 433, 434, 469, 529, 547, 590, 612, 614, 616, 623 Beljaev, Sergej Michajlovič (1883–1953) 69, 203, 417, 434, 436, 441, 463, 474, 476, 478, 484, 487, 554, 614 Benoit, Pierre (1886–1962) 81, 82, 123, 172, 341 Ben-Salim, Kador 99 Berdjaev, Nikolaj Aleksandrovič (1874–1948) 171 Berger, Hans (1873–1941) 202 Berija, Lavrentij Pavlovič (1899–1953) 451 Bestužev-Marlinskij, Aleksandr Aleksandrovič (1797–1837) 17, 114, 391 Bhabha, Homi K. (*1949) 21
Personenindex | 673
Bianki, Vitalij Valentinovič (1894–1973) 238 Blagoj, Dmitrij Dmitrievič (1893–1984) 247, 250, 392, 393 Bljachin, Pavel Andreevič (1886–1961) 78, 84, 93, 94, 96, 97, 100, 101, 104, 186, 196, 260, 351, 356 Bljum, Arlen Viktorovič (1933–2011) 62, 263 Bobrov, Sergej Pavlovič (1889–1971) 198 Bogdanov, Aleksandr Aleksandrovič (1873– 1928) 70, 169, 183, 186, 212, 264, 355 Bogoslovskij, Nikita Vladimirovič (1903– 2004) 344, 352 Bourdieu, Pierre (1930–2002) 21 Boussenard, Louis-Henri (1847–1910) 70, 74, 263, 367, 574 Brentano, Clemens (1778–1842) 165 Breško-Breškovskij, Nikolaj Nikolaevič (1874–1943) 130 Britikov, Anatolij Fedorovič (1926–1996) 374, 411, 592 Brjancev, Georgij Michajlovič (1904–1960) 467, 611 Brooks, Jeffrey 19, 40, 62 Bucharin, Nikolaj Ivanovič (1888–1938) 43, 62, 84, 85, 86, 87, 90, 91, 93, 103, 106, 131, 132, 133, 143, 145, 146, 147, 166, 167, 182, 245, 259, 263, 355, 365, 457 Budennyj, Semen Michajlovič (1883–1973) 94, 95 Bulgakov, Michail Afanas’evič (1891–1940) 34, 206, 207, 424, 429, 490, 493 Bulgarin, Faddej Venediktovič (1789–1859) 17 Burroughs, Edgar Rice (1875–1950) 29, 72, 73, 109, 110, 142, 144, 170, 173, 175 C Cander, Fridrich Arturovič (1887–1933) 218 Čapek, Karel (1890–1938) 378
674 | Personenindex
Carroll, Lewis (1832–1898) 154, 155 Čarskaja, Lidija Alekseevna (1875–1937) 130 Čechov, Anton Pavlovič (1860–1904) 56, 454 Čerkasov, Nikolaj Konstantinovič (1903– 1966) 349 Černyöevskij, Nikolaj Gavrilovič (1828– 1889) 56, 128, 589 Chalturin, Igor’ 547, 548, 550, 574, 583 Charms, Daniil Ivanovič (1905–1942) 467 Chesterton, Gilbert Keith (1874–1936) 479 Chruščev, Nikita Sergeevič (1894–1971) 38, 611 Chvolson, Orest Danilovič (1852–1934) 270 Ciolkovskij, Konstantin Eduardovič (1857–1935) 169, 173, 183, 207, 212, 218, 317, 333, 334, 339, 344, 355, 356, 363, 365, 482, 529, 534 Collins, Wilkie (1824–1889) 138 Conrad, Joseph (1857–1924) 22 Cooper, James Fenimore (1789–1851) 9, 11, 15, 18, 27, 53, 70, 79, 83, 84, 85, 93, 94, 99, 101, 102, 103, 104, 117, 118, 119, 259, 265, 278, 283, 324, 341, 358, 366, 369, 391, 421, 428, 454, 516, 590 Cooper, Merian C. (1893–1973) 419 Coryell, John R. (1848–1924) 71 Čukovskaja, Lidija Korneevna (1907–1996) 565 Čukovskij, Kornej Ivanovič (1882–1969) 47, 48, 49, 50, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 60, 66, 71, 74, 80, 81, 83, 84, 85, 87, 90, 91, 99, 106, 131, 133, 174, 175, 180, 185, 187, 266, 267, 282, 340, 494, 515, 621, 624 Cummings, Ray (1887–1957) 74 Curwood, James Oliver (1878–1927) 75, 76, 298, 299 Čužak, Nikolaj Fedorovič (1876–1937) 304
Cypin, Grigorij Evgen’evič (1899–1938) 336, 339, 369 Cyrano de Bergerac, Savinien (1619–1655) 363 D Danin, Daniil Semenovič (1914–2000) 617 Dante Alighieri (1265–1321) 607 Defoe, Daniel (1660–1731) 28, 546 Dickens, Charles (1812–1870) 138, 141 Dinamov, Sergej Sergeevič (1901–1939) 105, 106, 107, 127, 133, 208, 247, 248, 250 Dobryj, Roman (Pseudonym von Roman Lukič Andropov, 1876–1913) 71 Dolgušin, Jurij Alekseevič (1896–1989) 402, 411, 412, 413, 414, 416, 417, 419, 420, 423, 465, 473, 478, 479, 483, 587 Dostoevskij, Fedor Michajlovič (1821–1881) 9, 50, 56, 103, 131, 141, 454, 458, 459 Dovženko, Aleksandr Petrovič (1894–1956) 564 Doyle, Arthur Conan (1859–1930) 15, 18, 22, 27, 29, 54, 76, 116, 120, 122, 123, 130, 131, 138, 141, 142, 246, 341, 350, 359, 420, 455, 474, 517 Dubrovina, Ljudmila Viktorovna (1901– 1977) 437 Dumas, Alexandre (1802–1870) 9, 15, 19, 23, 68, 70, 73, 123, 128, 130, 131, 141, 157, 341, 358, 392, 453 Dunaevskij, Isaak Osipovič (1900–1955) 344, 349 Durov, Vladimir Leonidovič (1863–1934) 212 E Edison, Thomas Alva (1847–1931) 479 Efremov, Ivan Antonovič (1908–1972) 74, 357, 474, 495, 496, 497, 498, 502,
503, 504, 505, 506, 507, 509, 511, 513, 514, 515, 516, 517, 518, 519, 530, 533, 534, 536, 538, 539, 540, 542, 543, 546, 548, 570, 573, 575, 579, 580, 584, 591, 596, 598, 609, 610, 612, 614, 615, 618, 619 Ėjchenbaum, Boris Michajlovič (1886–1959) 75, 135, 139, 143, 193, 194, 340 Ėjges, Iosif Romanovič (1887–1953) 252, 253 Ėjzenštejn, Sergej Michajlovič (1898–1948) 195, 405, 455, 456 Ėkk, Nikolaj Vladimirovič (1902–1976) 375 Eliade, Mircea (1907–1986) 534 Engels, Friedrich (1820–1895) 244, 562 Ėrenburg, Ilja Grigor’evič (1891–1961) 34, 129, 132, 133, 143, 171, 175, 176, 177, 179, 194, 204, 247, 305, 573, 648 Esenin, Sergej Aleksandrovic (1895–1925) 448 Esikovskij, Pavel Maksimovič (1900–1961) 99 Evgenev-Maksimov, V. E. (Pseudonym von Vladislav Evgenevič Maksimov, 1883– 1955) 584 F Fadeev, Aleksandr Aleksandrovič (1901–1956) 119, 293, 421, 598 Fajnberg, Evgenij L’vovič (1904–1937) 336, 339 Fedin, Konstantin Aleksandrovič (1892– 1977) 133, 238, 283 Fedorov, Nikolaj Fedorovič (1829–1903) 169, 173, 207, 482, 529, 534, 536, 538 Fersman, Aleksandr Evgen’evič (1883–1945) 116, 240, 242, 308, 326, 574 Filimonov, Aleksandr Aleksandrovič (1904–?) 344
Personenindex | 675
Fiš, Genadij Semenovič (1903–1971) 558, 611 Fitzpatrick, Sheila (*1941) 152 Flammarion, Nicolas Camille (1842–1925) 168, 169, 309 Foucault, Michel (1926–1984) 21 Fraerman, Ruvim Isaevič (1891–1972) 353, 437, 575 France, Anatole (1844–1924) 613 Frank, Semen Ljudvigovič (1877–1950) 171 Furmanov, Dmitrij Andreevič (1891–1926) 260, 294 G Gagarin, Jurij Alekseevič (1834–1968) 47, 615 Gajdar, Arkadij Petrovič (1904–1941) 332 Gastev, Aleksej Kapitonovič (1882–1939) 128, 155, 183, 212, 244, 598 Gernsback, Hugo (1884–1967) 236, 249, 252 Gireli, Michail (1893–?) 203, 207, 208, 252 Gladkov, Fedor Vasil’evič (1883–1958) 309 Gogol, Nikolaj Vasilevič (1809–1852) 9, 68, 96, 101, 123, 124, 206, 252, 342, 589, 607 Gončarov, Viktor Alekseevič 199, 203, 204, 207, 367 Gorbačev, Georgij Efimovič (1897–1937) 174 Gorbunov, Ivan Fedorovič (1831–1896) 454 Gorkij, Maksim (Pseudonym von Aleksej Maksimovič Peškov, 1868–1936) 66, 72, 73, 79, 83, 103, 118, 123, 173, 237, 243, 245, 272, 276, 277, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 296, 301, 304, 305, 306, 307, 308, 312, 313, 322, 325, 331, 334, 337, 345, 362,
676 | Personenindex
363, 368, 369, 373, 395, 399, 403, 419, 454, 458, 471, 478, 480, 494, 499, 546, 552, 553, 560, 562, 572, 581, 582, 588, 612, 615, 617, 622 Graffigny, Henry de (1863–1942) 74 Grebnev, Grigorij (Pseudonym von Grigorij Nikitič Gribonosov, 1902–1960) 357, 358, 398, 417, 469, 482 Greenblatt, Stephen (*1943) 30 Green, Martin 21, 22, 27 Grigorev, Sergej (Pseudonym von Sergej Timofeevič Patraškin, 1875–1953) 210, 211, 251 Grin, Aleksandr (Pseudonym von Aleksandr Stepanovič Grinevskij, 1880–1932) 34, 35, 255, 333, 424, 479, 493, 515 Groys, Boris (*1947) 216 Gruzdev, Il’ja Aleksandrovič (1892–1960) 194, 293 Gubkin, Ivan Michajlovič (1871–1939) 308 Gumilevskij, Lev Ivanovič (1890–1976) 369, 476, 552, 554, 560, 561, 564, 632 H Haggard, Henry Rider (1856–1925) 15, 66, 70, 74, 116, 515, 517 Harte, Francis Bret (1836–1902) 72, 75, 347 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831) 270 Heine, Heinrich (1797–1856) 165 Henry, O. (Pseudonym von William Sydney Porter, 1862–1910) 75 Herder, Johann Gottfried von (1744–1803) 162 Hloucha, Karel (1880–1957) 120 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776–1822) 252, 502, 571 Homer 39, 325, 400 Hugo, Victor-Marie (1802–1885) 64
I Ilf, Il’ja (Pseudonym von Il’ja Arnol’doviv Fajnzil’berg, 1897–1937) 152, 270, 272 Ilin, Michail (Pseudonym von Ilja Jakovlevič Maršak, 1896–1953) 238, 244, 272, 275, 276, 303, 304, 306, 307, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 316, 317, 318, 320, 323, 324, 330, 332, 334, 369, 393, 476, 547, 548, 551, 552, 553, 554, 555, 558, 561, 562, 566, 572, 573, 574, 575, 578, 579, 582, 598, 614 Itin, Vivian Azar’evič (1894–1938) 184 Ivan IV. Vasil’evič, der Schreckliche (1530– 1584) 514 Ivanov, Sergej V. 585, 587, 588, 589, 590, 592 Ivanov, Valentin Dmitrievič (1902–1975) 469, 584, 591, 595 Ivič, Aleksandr (Pseudonym von Ignatij Ignat’vič Bernštejn, 1900–1978) 310, 311, 369, 388, 402, 403, 425, 431, 432, 433, 434, 435, 436, 554, 562, 567, 588, 589, 661 J Jacolliot, Louis (1837–1897) 74, 367 Jakovlev, Aleksandr Sergeevič (1906–1989) 9, 454 Jan, Vasilij (Pseudonym von Vasilij Grigor’evič Jančevickij, 1874–1954) 326 Jasieński, Bruno (1901–1938) 333 Jazvickij, Valerij Ioil’evič (1883–1957) 474 K Kalnickij, Jakov Isaakovič (1895–1949) 469 Kandyba, Fedor L’vovič (1903–1948) 596 Kant, Immanuel (1824–1804) 287
Kapica, Petr Leonidovič (1894–1984) 410, 553 Karpov, Nikolaj Aleksandrovič (1887–1945) 415 Kassil’, Lev Abramovič (1905–1970) 304, 306, 336, 346, 437 Kataev, Valentin Petrovič (1897–1986) 34, 91, 132, 143, 177, 178, 180, 204, 305, 309 Katharina II., die Große (1729–1796) 17 Kaverin, Veniamin Aleksandrovič (1902– 1989) 194, 238, 395 Kazancev, Aleksandr Petrovič (1906–2002) 357, 359, 372, 387, 395, 402, 406, 407, 408, 410, 411, 412, 413, 414, 417, 420, 434, 478, 481, 483, 530, 532, 533, 534, 539, 540, 541, 542, 543, 546, 552, 553, 554, 555, 557, 559, 569, 570, 573, 580, 581, 583, 591, 594, 596, 597, 611, 614, 617 Kažinskij, Bernard Bernadovič (1890–1962) 202, 212 Kellermann, Bernhard (1879–1951) 309, 484 Kim, Roman Nikolaevič (1899–1967) 459 Kipling, Rudyard (1865–1936) 23, 70, 71, 73, 95, 110, 249, 294, 332, 493, 574 Kolcov, Michail Efimovič (1898–1940) 421 Komarov, Vladimir Leont’evič (1869–1945) 308 Kon, Feliks Jakovlevič (1864–1941) 551 Koni, Anatolij Fedorovič (1844–1927) 454 Korolenko, Vladimir Galaktionovič (1853– 1921) 86, 454 Kosarev, Aleksandr Vasil’evič (1903–1939) 337, 407 Krupskaja, Nadežda Konstantinova (1896– 1939) 263, 447 Kubikov, Ivan (Pseudonym von Ivan Nikolaevič Dement’ev, 1877–1944) 57, 71
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Kulešov, Lev Vladimirovič (1899–1970) 35, 192, 415 Kulik, Leonid Alekseevič (1883–1942) 116, 530 Kurosawa, Akira (1910–1998) 119 L Lagin, Lazar’ (Pseudonym von Lazar’ Iosifovič Ginzburg, 1903–1979) 357, 359, 417, 421, 425, 426, 427, 428, 429, 460, 461, 482, 487, 489, 490, 491, 492, 493, 582, 587, 609, 615, 616, 617, 618 Lapirov-Skoblo, Michail Jakovlevič (1889– 1947) 308 Larri, Jan Leopol’dovič (1900–1977) 184, 245, 246, 269, 356, 639 Lasswitz, Kurd (1848–1910) 25, 169, 309, 398 Laurent, Marie (1826–1910) 230 Laurie, André (Pseudonym von Paschal Grousset, 1844–1904) 51, 74, 172 Leacock, Stephen (1869–1944) 199 Lebedev-Kumač, Vasilij Ivanovič (1898– 1949) 344, 352 Leblanc, Maurice (1864–1941) 290 Le Faure, Georges (1856–1953) 74 Legošin, Vladimir Grigor’evič (1904–1954) 345 Lelevič, G. (Pseudonym von Labori Gilelevič Kalmansòn, 1901–1945) 144, 145, 167, 252, 253 Lem, Stanisław (1921–2006) 37, 541, 615 Lenin, Vladimir Il’ič (1870–1924) 48, 62, 86, 92, 93, 100, 106, 107, 112, 128, 157, 159, 160, 186, 187, 201, 215, 216, 228, 270, 308, 403, 563, 583, 584, 615 Leonov, Leonid Maksimovič (1899–1994) 298, 334, 571
678 | Personenindex
Lermontov, Michail Jur’evič (1814–1841) 589, 607 Lesage, Alain-René (1668–1747) 613 Leščiner, E. D. 339 Leskov, Nikolaj Semenovič (1831–1895) 454 Leuchin, Sergej Il’ič (?–1898) 58 Levitan, Isaak Il’ič (1860–1900) 571 Ležnev, A. (Pseudonym von Abram Zacha rovič Gorelik, 1893–1938) 247, 248 Lin’kov, Lev Aleksandrovič (1908–1971) 467, 468, 550, 611 Ljapunov, Boris Valer’janovič (1821–1972) 73, 539, 542, 546, 616 Lobačevskij, Nikolaj Ivanovič (1792–1856) 310, 313 Lomonosov, Michail Vasil’evič (1711–1765) 589 London, Jack (1876–1916) 22, 52, 66, 69, 72, 73, 80, 203, 358, 474, 515, 517, 590 Loskutov, Michail Petrovič (1906–1940) 319, 320, 326, 330, 357, 358, 367, 388, 389 Lowell, Percival (1855–1916) 168 Lukács, Georg (1885–1971) 342, 393 Lunačarskij, Anatolij Vasil’evič (1875–1933) 86, 150, 156, 244, 652 Lunc, Lev Natanovič (1901–1924) 15, 16, 20, 81, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 135, 138, 179, 402, 437, 458 Lysenko, Trofim Denisovič (1898–1976) 432, 496, 517, 519, 522, 525, 527, 558, 583, 666 M Mačeret, Aleksandr Veniaminovič (1896– 1979) 99, 450 Machno, Nestor Ivanovič (1888–1934) 95, 96 Mac Orlan, Pierre (Pseudonym von Pierre Dumarchais, 1882–1970) 479
Maguire, Muireann 38, 223, 224 Majakovskij, Vladimir Vladimirovič (1893– 1930) 179, 597 Major Helders (Pseudonym von Robert Knauss, 1892–1955) 408 Makarenko, Anton Semenovič (1888–1939) 375 Mamedkulizade, Džalil (1866–1932) 386 Marinetti, Filippo Tommaso (1876–1944) 150, 156 Marryat, Frederick (17921848) 75 Maršak, Samuil Jakovlevič (1887–1964) 236, 237, 238, 245, 272, 275, 276, 282, 284, 292, 293, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 306, 307, 309, 311, 312, 316, 331, 333, 334, 338, 356, 369, 393, 418, 471, 480, 553, 562, 582 Marx, Karl (1818–1883) 68, 71, 270 McCarthy, Joseph (1908–1957) 542 Mejerchold, Vsevolod Ėmil’evič (1874–1940) 55 Menaker, Leonid Isaakovič (1929–2012) 226 Mendeleev, Dmitrij Ivanovič (1834–1907) 270 Meščerjakov, Nikolaj Leonidovič (1865– 1942) 146, 147, 148, 167, 199, 457 Michajlov, Nikolaj Aleksandrovič (1906– 1982) 312, 430, 477, 495, 552, 554, 556, 557, 558, 559, 568, 572, 573, 574, 575, 576, 579, 581, 582, 586, 588 Michajlov, Nikolaj Nikolaevič (1905–1998) 552, 553 Michajlovskij, Boris Vasil’evič (1899–1965) 431 Mičurin, Ivan Vladimirovič (1855–1935) 522, 526, 564, 583 Miklucho-Maklaj, Nikolaj Nikolaevič (1846–1888) 565
Mirskij, D. (Pseudonym von Dmitrij Petrovič Sjatopolk-Mirskij, 1890–1939) 72, 73 Mišakova, Ol’ga Petrovna (1906–1980) 430 Molotov, Vjačeslav Michajlovič (1890–1986) 451 Morus, Thomas (1478–1535) 215, 318 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von (1720–1797) 261, 458 Murašov, Jurij (*1952) 200 Mussolini, Benito (1883–1945) 150, 156 N Nečaev, I. (Pseudonym von Jakov Solomonovič Pan, 1906–1941) 464, 474 Nekrasov, Nikolaj Alekseevič (1821–1878) 68, 590 Nemcov, Vladimir Ivanovič (1907–1993) 474, 543, 544, 546, 555, 558, 559, 566, 581, 582, 583, 585, 587, 591, 593, 595, 597, 598, 602, 605, 606, 608, 611, 612, 613, 614, 615 Nikol’skij, Vadim Dmitrievič (1886–1941) 184 Nikulin, Lev Veniaminovič (1891–1967) 197, 198 Nosov, Nikolaj Nikolaevič (1908–1976) 206 O Obrazcov, Vladimir Nikolaevič (1874–1949) 308 Obručev, Vladimir Afanas’evič (1863–1956) 119, 120, 252, 255, 319, 320, 331, 333, 366, 367, 418, 419, 420, 478, 482, 554, 573 Ocep, Fedor Aleksandrovič (1895–1949) 192 Ochotnikov, Vadim Dmitrievič (1905–1964) 555, 558, 559, 582, 591, 593, 595, 597, 598, 599, 605, 606, 607, 611, 612, 614, 615
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Odoevskij, Vladimir Fedorovič (1803–1969) 364, 589, 590 Okunev, Jakov Markovič (1882–1932) 184 Oparin, Aleksandr Ivanovič (1894–1980) 527, 554 Orlovskij, Vladimir (Pseudonym von Vladimir Evgen’evič Grušvinckij, 1889–1942) 203, 208, 209, 215, 251 Orlov, Vladimir Ivanovič (1916–1974) 547, 548, 553, 598 Ostroumov, Lev Evgen’evič (1892–1955) 78, 84, 93, 101, 103, 104, 354, 356, 565, 630 Ostrovskij, Nikolaj Aleksandrovič (1904– 1936) 305 Ovalov, Lev (Pseudonym von Lev Sergeevič Šapovalov, 1905–1997) 451, 456 P Palej, Abram Ruvimovič (1893–1995) 263, 264, 267, 268, 269, 282, 309, 338, 356, 518, 519, 520, 522, 523, 526, 527, 557, 579, 594, 636 Panaeva, Avdot’ja Jakovlevna (1820–1893) 590 Panov, Nikolaj Nikolaevič (1903–1973) 453 Pasteur, Louis (1822–1895) 230 Paustovskij, Konstantin Gerogievič (1892– 1968) 303, 304, 306, 321, 322, 325, 328, 330, 334, 551, 571, 572, 573, 577, 578 Pavlenko, Petr Andreevič (1899–1951) 359 Pavlov, Ivan Petrovič (1849–1936) 183, 218, 270, 520, 522 Penclin, Ėduard Adol’fovič (1903–1990) 345 Perelman, Jakov Isidorovič (1882–1942) 173, 236, 240, 241, 242, 243, 249, 303, 561 Perestiani, Ivan Nikolaevič (1870–1959) 94, 100
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Pervuchin, Michail Konstaninovič (1870– 1928) 130 Peter I., der Große (1672–1725) 17, 126 Petrov, Evgenij (Pseudonym von Evgenij Petrovič Kataev, 1903–1942) 152, 270, 272, 277 Pinthus, Kurt (1886–1975) 175 Piotrovskij, Adrian Ivanovič (1898–1937) 193, 194, 197 Pisarev, Dmitrij Ivanovič (1840–1868) 56, 495 Pisarževskij, Oleg Nikolaevič (1908–1964) 523, 526, 552, 553, 555 Platonov, Andrej (Pseudonym von Andrej Platonovič Klimentov, 1899–1951) 34, 35, 103, 207 Plavilščikov, Nikolaj Nikolaevič (1892–1962) 474, 527 Podsosov, Aleksej Viktorovič (1879–1956) 593 Poe, Edgar Allan (1809–1849) 18, 97, 119, 120, 123, 138, 252, 341, 363, 364, 402, 403, 425, 453, 474, 502 Polevoj, Boris Nikolaevič (1908–1981) 614 Polianski, Igor J. 236, 243, 567, 668 Poltavskij, Sergej 611, 612, 615 Ponson du Terrail, Pierre Alexis (1829–1871) 23, 70, 71 Popovskij, Aleksandr Danilovič (1897–1982) 523, 552, 554, 555, 562, 564, 615 Popov, Vladimir Alekseevič (1875–1942) 64, 107, 121, 250, 251, 255 Pospelov, Gennadij Nikolaevič (1899–1992) 342, 365, 393 Protazanov, Jakov Aleksandrovič (1881–1945) 189, 190, 191, 192, 540 Ptuško, Aleksandr Lukič (1900–1973) 343 Pudovkin, Vsevolod Illarionovič (1893–1953) 112 Puškin, Aleksandr Sergeevič (1799–1837) 9, 18, 68, 114, 123, 342, 589, 607, 612 Putilin, Ivan Dmitrievič (1830–1893) 71, 454
R Rabelais, François (1483–1553) 613 Radcliffe, Ann (1764–1823) 138, 141 Razumnyj, Aleksandr Efimovič (1891–1972) 351 Razumovskij, Aleksandr Vladimirovič (1907–1980) 467 Reid, Thomas Mayne (1818–1883) 9, 11, 68, 70, 71, 72, 75, 76, 93, 95, 101, 236, 245, 246, 259, 265, 278, 341, 347, 366, 369, 454, 517, 590 Remarque, Erich Maria (1898–1970) 458 Renard, Maurice (1875–1939) 75, 474 Rieder, John 25 Rojzman, Matvej Davidovič (1896–1975) 446, 447, 448, 452, 617, 628 Romm, Michail Il’ič (1901–1971) 345 Rošal, Grigorij L’vovič (1899–1983) 343 Rosny Aîne, J.-H. (Pseudonym von Joseph Henri Honoré Boex, 1856–1940) 80, 512, 515 Rossini, Gioachino (1792–1868) 427 Rozenfeld, Michail Konstantinovič (1906– 1942) 199, 358, 367, 372, 404, 408 Rozval, Sergej Jakovlevič (1897–1964) 487 Rubakin, Nikolaj Aleksandrovič (1862–1946) 236, 240, 241 Rublev, Andrej (1360–1430) 123 Rykačev, Jakov Semenovič (1893–1976) 259, 261, 431, 435, 476, 554, 598 Rynin, Nikolaj Alekseevič (1887–1942) 243, 339 Ryss, Evgenij Samojlovič (1908–1973) 359, 372, 380, 381, 384, 387, 390, 638 S Safonov, Vadim Andreevič (1904–2000) 564, 565, 567, 568 Šaginjan, Mariėtta Sergeevna (1888–1982) 34, 78, 88, 91, 132, 133, 134, 143,
144, 145, 146, 148, 149, 152, 153, 154, 156, 157, 160, 162, 163, 164, 165, 167, 178, 179, 180, 192, 196, 199, 202, 305, 332, 356, 367, 408, 443, 444, 446, 447, 452, 453, 455, 456, 457, 458, 459, 476, 488, 568, 573, 611, 615, 617, 669 Salgàri, Emilio (1862–1911) 75 Saltykov-Ščedrin, Michail Evgrafovič (1826– 1889) 454 Saparin, Viktor Stepanovič (1905–1970) 524, 591, 593, 615 Šapiro, Izrail’ Solomonovič (1901–1976) 359, 406, 407, 633 Ščerbakov, Aleksandr Sergeevič (1901–1945) 353 Schiaparelli, Giovanni Virginio (1835–1910) 168 Schlögel, Karl (*1948) 397, 398, 399 Schoedsack, Ernest B. (1893–1979) 419 Scott, Walter (1771–1832) 18, 358, 369 Sečenov, Ivan Michajlovič (1829–1905) 256, 520, 522 Segal, Elena (Geburtsname von Elena Aleksandrovna Maršak, 1905–1980) 562, 566, 574 Šejnin, Lev Romanovič (1906–1967) 441, 443, 444, 445, 446, 448, 449, 450, 451, 452, 455, 459, 468, 611, 617 Senkovskij, Osip Julian Ivanovič (1800– 1858) 17, 56, 125 Sergeev, Ivan Vladimirovič (1903–1964) 115, 198 Ševčenko, Taras Grigor’evič (1814–1861) 447 Ševčenko, Vladimir Ivanovič 526, 554, 581, 584, 585 Shakespeare, William (1564–1616) 84, 87, 107, 607 Shelley, Mary (1797–1851) 26, 233
Personenindex | 681
Šklovskij, Viktor Borisovič (1893–1984) 72, 91, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 141, 142, 143, 177, 178, 179, 180, 192, 193, 194, 204, 238, 291, 304, 305, 356, 368, 369, 388, 402, 429, 431, 432, 433, 435, 436, 437, 455, 456, 457, 458, 476, 573, 577, 633 Smirnov, Nikolaj Ivanovič (1893–1937) 332 Šnejderov, Vladimir Adol’fovič (1900–1973) 342, 343, 455, 456 Sojkin, Petr Petrovič (1862–1938) 15, 16, 63, 74, 75, 76, 234, 240, 241 Šolochov, Michail Aleksandrovič (1905– 1984) 305, 570 Solovev, Boris Ivanovič (1904–1976) 253, 463 Španov, Nikolaj Nikolaevič (1896–1961) 202, 203, 251, 360, 465, 466, 467, 468, 469, 478, 592, 611 Spengler, Oswald (1880–1936) 162, 171, 172 Stalin, Iosif Vissarionovič (1878–1953) 9, 10, 16, 31, 42, 44, 62, 77, 91, 216, 229, 235, 263, 270, 276, 281, 305, 306, 320, 322, 359, 380, 430, 432, 435, 441, 443, 447, 452, 454, 462, 469, 481, 482, 549, 559, 561, 569, 571, 576, 578, 582, 586, 587, 588, 598, 609, 611, 615, 625 Stavisky, Alexandre (1886–1934) 290 Steinweg, Dagmar 40 Stepanov, M. 341, 649 Stepun, Fedor Avgustovič (1884–1965) 171 Stevenson, Robert Louis (1850–1894) 9, 11, 15, 70, 71, 73, 95, 130, 131, 160, 161, 163, 254, 263, 332, 344, 345, 350, 351, 358, 421, 428, 474 Stoker, Bram (1847–1912) 23, 70, 225 Strugackij, Arkadij Natanovič (1925–1991) 32, 37, 615, 618
682 | Personenindex
Strugackij, Boris Natanovič (1933–2012) 32, 615 Studitskij, Aleksandr Nikolaevič (1908–1991) 518, 519, 523, 525, 527, 528, 555, 557, 575, 579, 583, 613, 614, 615, 638 Subockij, Lev Matveevič (1900–1959) 462 Sue, Eugène (1804–1857) 18, 19, 70, 71, 341 Šumjackij, Boris Zacharovič (1886–1938) 341, 345, 352, 623 Švarc, Evgenij L’vovič (1896–1958) 238 Swift, Jonathan (1667–1745) 343, 432 Sytin, Ivan Dmitrievič (1851–1934) 234 Sytin-Turkestanskij, A. 114, 115 Sytin, Viktor Aleksandrovič (1907–1989) 553, 557, 558, 564, 587, 588, 591, 609, 615 T Termen, Lev Sergeevič (1896–1993) 258 Theweleit, Klaus 216 Tichov, Gavriil Adrianovič (1875–1960) 541 Timirjazev, Kliment Arkad’evič (1843–1920) 521, 522 Todorov, Tzvetan (*1939) 29, 155, 197, 253, 479 Tolstoj, Aleksej Nikolaevič (1882–1945) 18, 68, 73, 131, 132, 168, 172, 173, 177, 184, 191, 203, 207, 309, 334, 433, 616 Tolstoj, Lev Nikolaevič (1828–1910) 9, 18, 56, 101, 159 Toman, Nikolaj Vladimirovič (1911–1974) 469, 594, 615, 617 Toudouze, Georges Gustave (1877–1972) 75 Trauberg, Leonid Zacharovič (1902–1990) 455, 459 Tretjakov, Sergej Michajlovič (1892–1937) 119, 304, 313
Trockij, Lev Davidovič (1879–1940) 15, 83, 84, 86, 88, 94, 100, 106, 107, 128, 173, 183, 186 Tumannyj, D. 182 Tur-Brüder (Pseudonym von Leonid Davydovič, 1905–1961, und Petr L’vovič Ryžej, 1908–1978) 450, 451, 452, 455 Turgenev, Ivan Sergeevič (1818–1883) 56, 256, 419, 454 Turlygin, Sergej Jakovlevič 414, 415 Tuškan, Georgij Pavlovič (1906–1965) 367, 371, 372, 387, 391, 395, 396, 430, 476, 567 Tvardovskij, Aleksandr Trifonovič (1910– 1971) 570 Twain, Mark (Pseudonym von Samuel Langhorne Clemens, 1835–1910) 14, 137, 154, 155, 243, 332 Tynjanov, Jurij Nikolaevič (1894–1943) 129, 132, 135, 168, 174, 175, 179, 194 U Uranov, I. A. 64 Uspenskij, Lev Vasil’evič (1900–1978) 465, 556, 558 V Vajnštok, Vladimir Petrovič (1908–1978) 344, 345, 346, 350, 351, 352, 353, 378, 516 Vasilev, Leonid Leonidovič (1891–1966) 414, 415 Vavilov, Sergej Ivanovič (1891–1951) 541 Verevkin, V. 63 Vernadskij, Vladimir Ivanovič (1863–1945) 116, 242 Verne, Jules (1828–1905) 9, 22, 26, 53, 54, 72, 73, 74, 119, 120, 137, 140, 141, 165, 172, 177, 186, 190, 197,
204, 217, 218, 219, 236, 243, 245, 247, 248, 249, 250, 252, 259, 261, 263, 265, 267, 278, 279, 282, 283, 294, 302, 308, 309, 332, 334, 338, 341, 344, 347, 348, 349, 358, 361, 363, 364, 366, 372, 373, 374, 376, 378, 379, 380, 410, 418, 433, 435, 465, 471, 472, 473, 474, 502, 503, 517, 588, 590, 595, 612, 615, 616 Vertov, Dziga (1895–1954) 112 Voevodin, Vsevolod Petrovič (1907–1973) 359, 372, 380, 381, 384, 387, 390 Vladko, Vladimir Nikolaevič (1900-1974) 359, 364, 365 Vogt, Oskar (1870–1959) 228 Voronskij, Aleksandr Konstantinovič (1884–1937) 63, 75, 87, 131 Vorošilov, Kliment Efremovič (1881–1969) 481, 482 Voynich, Ethel Lilian (1864–1960) 14, 76, 77, 94, 95, 101, 104 Vsevoložskij, Igor’ Evgen’evič (1903–1967) 443, 480, 487, 492, 494 Vygodskij, David Isaakovič (1893–1943) 381 Vyšinskij, Andrej Januar’evič (1883–1954) 443, 449, 450 W Wells, Herbert George (1866–1946) 25, 26, 29, 51, 52, 53, 62, 65, 66, 68, 69, 72, 73, 76, 77, 79, 122, 123, 169, 175, 184, 197, 203, 206, 207, 213, 215, 216, 243, 247, 248, 249, 250, 252, 253, 268, 278, 332, 364, 366, 403, 408, 433, 435, 466, 474, 517, 529, 546, 590 Whale, James (1889–1957) 420 Wright, Sydney Fowler (1874–1965) 408
Personenindex | 683
Z Zacharčenko, Vasilij Dmitrievič (1915–1999) 564, 565, 612, 614, 630 Zajkin, Pavel Dmitrievič (1876-?) 575 Zamjatin, Evgenij Ivanovič (1884–1937) 34, 77, 155, 203, 249, 250, 365, 650 Zavadovskij, Boris Michajlovič (1895–1951) 522 Ždanov, Andrej Aleksandrovič (1896–1948) 444, 461, 484, 557 Žigarev, Lev Viktorovič (1910–1983) 613, 615 Zinovev, Grigorij Evceevič (1883–1936) 91, 92, 449
684 | Personenindex
Žitkov, Boris Stepanovič (1882–1938) 238, 466 Zlatogorov, Michail Lejbovič (1909–1968) 555, 556 Žoseffi, Sofija (1906–1982) 99 Zuev-Ordynec, Michail Efimovič (1900– 1967) 121, 122, 123, 124, 126, 196, 235, 306, 319, 321, 322, 325, 326, 327, 328, 330, 356, 390 Žuravlev, Vasilij Nikoalevič (1904–1987) 344, 345, 529 Zweig, Stefan (1881–1942) 238