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German Pages 344 [375] Year 2021
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 175 herausgegeben von
Rolf Stürner
Christian Krüger
Europäischer Rechtskraftbegriff Überlegungen zu Existenz, Reichweite und Erforderlichkeit
Mohr Siebeck
Christian Krüger, geboren 1991; Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung der Universität Konstanz; 2017 Stipendiat am Max Planck Institute Luxembourg for International, European and Regulatory Procedural Law; 2019 Forschungsaufenthalt am Institut international pour l’unification du droit privé; 2020 Promotion.
ISBN 978-3-16-159770-1 / eISBN 978-3-16-159796-1 DOI 10.1628/978-3-16-159796-1 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Times gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Für Karoline Marie und meine Familie
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2019/2020 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz als Dissertation angenommen worden. Das Manuskript wurde im Herbst 2019 fertiggestellt und ist hiernach lediglich punktuell aktualisiert worden. Herzlicher Dank gebührt zunächst meiner Doktormutter, Frau Professorin Dr. Astrid Stadler, die mich für die wissenschaftliche Arbeit begeisterte und früh mein Interesse für das (Europäische) Zivilprozessrecht und die Rechtsvergleichung weckte. Durch ihre stetige Betreuung und bereitwillige Förderung trug sie in erheblichem Maße zum Gelingen meines Forschungsvorhabens bei. Nicht nur ihr Fachwissen und ihre Erfahrung, sondern insbesondere ihre freundliche und menschliche Art haben mich während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl stets beeindruckt. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Michael Stürner, M.Jur. (Oxford). Er hat nicht nur die Zweitbegutachtung übernommen, sondern nahm sich bereits während meines gesamten Schreibprozesses immer wieder Zeit für Gespräche und Diskussionen, in denen er mir wertvolle Hinweise und Denkanstöße gab. Beiden bin ich zudem für ihre kontinuierliche Unterstützung bei zahlreichen weiteren Projekten und insbesondere der Realisierung meiner Forschungsaufenthalte in Luxembourg und Rom, welche mich sowohl fachlich als auch persönlich weitergebracht und geprägt haben, dankbar. Dem Max Planck Institute Luxembourg for International, European and Regulatory Procedural Law danke ich für die Möglichkeit, unter idealen Forschungsbedingungen zu arbeiten und die großzügige Förderung im Rahmen des Stipendienprogramms. Für die Aufnahme als Gastwissenschaftler bin ich dem Institut international pour l’unification du droit privé sowie dem DAAD für dessen Förderung im Rahmen eines Kurzstipendiums zu Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Dres. h. c. Rolf Stürner danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Für die schöne Zeit am Lehrstuhl möchte ich mich bei allen bedanken, die diesen Abschnitt mitgeprägt haben. Insbesondere Frau Julia Florian, Frau Dr. Doris Forster, Frau Gabi Reichle, Herrn Dr. Robert Leo Bergmann, Herrn Dr. Matthias Klöpfer und Herrn Karl Ole Rinck danke ich für die freundschaftliche Zusammenarbeit und viele gewinnbringende Diskussionen.
VIII
Vorwort
Mein herzlichster Dank gilt meiner Familie, insbesondere meinen Eltern, die mich in jeder Lebenslage unterstützt haben. Nicht genug danken kann ich schließlich meiner Verlobten. Ohne ihren Rückhalt und ihre unermüdliche Unterstützung wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ihr und meiner Familie widme ich diese Arbeit. Konstanz, im Oktober 2020
Christian Krüger
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zum Begriff der „objektiven Reichweite“ der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . 5
Erster Teil: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 A. Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 II. Mittelalter und Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft im deutschen und französischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 19 22 69
Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess . . . . . . . . . . . 71 A. Rechtskraft in abstrakt-generellen Überlegungen zu einem europäischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. ELI/UNIDROIT Projekt „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. Entstehungsgeschichte der EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Relevanter Bereich – Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Welche Vorgaben existieren aktuell? – Keine Existenz eines europäischen Rechtskraftbegriffes de lege lata . . . . . 91
C. Zusammenfassung Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht . . . . 142
X
Inhaltsübersicht
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung zur Rechtskraft von Entscheidungsgründen im deutschen und französischen Zivilprozessrecht und Überblick über die Tiefenwirkung der Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . 146 I. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskussion und Beiträge nach Inkrafttreten der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Praktikabilität enger Rechtskraftgrenzen, Ausnahmen und Korrektiv . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 154 174 205
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . 208 I. Grundsatz – Le dispositif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Bedeutung der Gründe abseits eigener Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 III. Isolierte Rechtskraft der Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 II. Italien und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente . . . . . 265 I. Abstrakte Abwägung zwischen engem und weitem Rechtskraftbegriff anhand der entwickelten Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 II. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Vierter Teil: Existenz, Erforderlichkeit und Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes – Übertragung der Ergebnisse des Rechtsvergleiches auf die europäische Ebene . . . . . . . 277 A. EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Weder Existenz noch (zwingende) Erforderlichkeit eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO . . . II. Vorteilhaftigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mögliche Lösung de lege ferenda – Ergänzung der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278 279 297 297
B. Rechtskraftbegriff innerhalb europäischer Gesamtsysteme und vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb des ELI/ UNIDROIT Projektes „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Inhaltsübersicht
XI
I. Zwingende Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 II. Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 III. Vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb der ELI/ UNIDROIT European Rules of Civil Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
C. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 D. Conclusion in Theses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zum Begriff der „objektiven Reichweite“ der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . 5
Erster Teil: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 A. Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Römisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legisaktionenverfahren – Altrömische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formularverfahren – Klassische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kognitionsverfahren – Klassische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kognitionsverfahren – Nachklassische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mittelalter und Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 8 10 13 14 15 16
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft im deutschen und französischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutsches Recht, § 705 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französisches Recht – Irrévocabilité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht – § 322 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht – Art. 1355 CC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweck der materiellen Rechtskraft im deutschen und französischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Natur und Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 18 19 19 21 22 24 24 24
25 27 28
XIV
Inhaltsverzeichnis
aa) Materielle Rechtskrafttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Prozessuale Rechtskrafttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) La conception classique – présomption de vérité . . . . . . . . . . . . . bb) La conception moderne – obstacle au recommencement de l’action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abgrenzung zu anderen Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vollstreckbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gestaltungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Tatbestandswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Urteilswirkung und Urteilseigenschaft – effet und attribut . . . . . bb) Efficacité substantielle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eintrittszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rechtskraftfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der materiellen Rechtskraft fähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der materiellen Rechtskraft nicht fähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Acte juridictionnel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der materiellen Rechtskraft nicht fähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Actes administratifs und donné acte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Prozessvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Jugements avant dire droit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Jugements gracieux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der materiellen Rechtskraft fähig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Negative Wirkung der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . (1) Negative Prozessvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unzulässigkeit von Klagen auf das kontradiktorische Gegenteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Präklusion von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft – Präjudizialität . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Negative Wirkung (effet négatif ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Prozesshindernis (fin de non-recevoir) . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Präklusion von Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Positive Wirkung (effet positif ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anerkennung des effet positif nur in Ausnahmefällen . . . . . .
28 29 30 30
33 34 34 34 35 35 35 36 37 39 39 39 40 40 40 42 42 43 44 44 44 45 46 47 48 49 49 49
49 51 52 53 53 53 54 56 58
Inhaltsverzeichnis
(2) Grundsätzliche Ablehnung eines effet positif der autorité de la chose jugée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Befürwortung eines effet positif der autorité de la chose jugée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Subjektive Reichweite der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Berücksichtigung im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
59
60 62 64 65 65 66 66 67 68 69
Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess . . . . . . . . . . . 71 A. Rechtskraft in abstrakt-generellen Überlegungen zu einem europäischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. ELI/UNIDROIT Projekt „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reichweite der Rechtskraft in den ALI/UNIDROIT Principles of Transnational Civil Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reichweite der Rechtskraft innerhalb des ELI/UNIDROIT Projektes „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen für die Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen . . b) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72 73 74 75 77
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. Entstehungsgeschichte der EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. EWGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EuGVÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. LugÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Relevanter Bereich – Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 36 ff. EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generelle Darstellung verschiedener Anerkennungstheorien . . . . . . . aa) Gleichstellungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Theorie der Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einschränkung der Wirkungserstreckung, Kumulationstheorie . . dd) Lex causae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkrete Ansichten zur Anerkennung nach der EuGVVO – Wirkungserstreckung als etablierter Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ansicht des EuGH – Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . .
78 78 78 79 80 81 83 84 84 85 86 88
89 89
XVI
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bb) Ansicht innerhalb der Literatur – Wirkungserstreckung als herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Welche Vorgaben existieren aktuell? – Keine Existenz eines europäischen Rechtskraftbegriffes de lege lata . . . . . 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) de Wolf/Cox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gothaer Allgemeine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Auffassung des Generalanwalts und verschiedener Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Rezeption der Entscheidung innerhalb der europäischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der vom EuGH entlehnte „Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“ . . . . . . a) Unterscheidung zwischen der Bindungswirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte und Rechtskraft von Entscheidungen nationaler Gerichte im Rahmen der Anerkennung nach Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtskraft von Entscheidungen nationaler Gerichte im Rahmen der Anerkennung nach der EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindungswirkung nach Art. 266 AEUV – kein geeignetes Modell für die Definition der Reichweite einer einheitlichen Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung nach der EuGVVO . . b) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rückschlüsse aus dem Streitgegenstandsbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Streitgegenstandsbegriff im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verständnis des historischen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materiellrechtliche Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . cc) Prozessrechtliche Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff . . . . . . . (2) Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff . . . . . . (3) Relative Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Streitgegenstand im französischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Identité d’objet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Identité de cause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verständnis der Rechtsprechung und Entwicklung – Konflikt mit fehlender Prüfpflicht nicht vorgetragener moyens de droit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90 90
91 92 92 93 94
94 97 98 100 102
103 103 104 107 107 108 108 109 109 110 110 112 113 114 114 116 116 117 122
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XVII
e) Streitgegenstandsbegriff innerhalb der EuGVVO – Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritik an der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Keine Rückschlüsse aus dem Streitgegenstandsbegriff für die (vertikale) Reichweite der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Differenzierung zwischen Breiten- und Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Streitgegenstandsbegriff und Tiefenwirkung der Rechtskraft . . . (1) Keine logisch zwingenden Vorgaben aus dem Streitgegenstandsbegriff für die Tiefenwirkung der Rechtskraft . . . . . . . (2) Keine teleologisch sinnvollen Vorgaben aus der Kernpunkttheorie für die Tiefenwirkung der Rechtskraft . . . (a) Übertragung der Kernpunkttheorie in den Bereich der Rechtskraft – Einheitlicher Streitgegenstandsbegriff für Rechtshängigkeit und Rechtskraft? . . . . . . . . . . . . . . . (b) Keine Vorgaben für die Tiefenwirkung aus der Kernpunkttheorie auch im Fall einer Übertragung in den Bereich der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rückschlüsse aus der Unvereinbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff der Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unvereinbarkeit als Rechtskraftkonflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis – Keine Rückschlüsse aus Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis der Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124 125 127 130 130 131 132 133 133 135 137 137 138 139 140 141
C. Zusammenfassung Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht . . . . 142
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung zur Rechtskraft von Entscheidungsgründen im deutschen und französischen Zivilprozessrecht und Überblick über die Tiefenwirkung der Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . 146 I. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Befürwortung einer eigenständigen Rechtskraft von Urteilsgründen – insbesondere Friedrich Carl von Savigny, 1847 und Bernhard Windscheid, 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ablehnung einer eigenständigen Rechtskraft von Urteilsgründen – insbesondere Joseph Unger, 1868 und Georg Wilhelm Wetzell, 1878 . . . 3. Gesetzgeber, 1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Diskussion und Beiträge nach Inkrafttreten der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 147 149 152 154
XVIII
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1. Rechtskrafterweiterung in „Sinn- und Ausgleichszusammenhängen“ – Zeuner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reaktionen und weitere Überlegungen zur Ausdehnung der bestehenden Rechtskraftgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Reaktionen auf Zeuner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kriterium des „wirtschaftlichen Werts“ – Henckel . . . . . . . . . . . . bb) Kriterium der „identischen Rechtsposition“ – Rimmelspacher . . cc) Kriterium der „Interessenidentität“ – Althammer . . . . . . . . . . . . . dd) Andere Lesart des § 322 Abs. 1 ZPO – Reischl . . . . . . . . . . . . . . ee) Teleologische Reduktion des § 322 Abs. 1 ZPO und Analogie zu § 322 Abs. 2 ZPO – Foerste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung und Bewertung – Schwierigkeit von Definition und Identifikation „tragender“ Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Praktikabilität enger Rechtskraftgrenzen, Ausnahmen und Korrektiv . . . . . 1. Keine Erforderlichkeit einer isolierten Rechtskraft von Entscheidungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei klageabweisenden Urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prozessurteil – Abweisung als unzulässig . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sachurteil – Abweisung als unbegründet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei nachfolgenden Klagen wegen neu eingetretener Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik an der Bejahung einer Bindung an Feststellungen aus dem Erstverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Streitgegenstandsinterne Bindungswirkung bei nur „modifiziertem“ Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bindungswirkung trotz Annahme verschiedener Streitgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei Teilklagen . . . . . . aa) Zulässigkeit der Nachforderungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zulässigkeit der Nachforderungsklage bei „offener“ Teilklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zulässigkeit der Nachforderungsklage bei „verdeckter“ Teilklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bindungswirkung zwischen Teilklage und Nachforderungsklage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidung über die Gegenforderung, § 322 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . aa) Direkte Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Analoge Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 157 157 160 161 162 163 165 166 167 174 175 175 176 178 180 181 182 182 185 186 186 187 188 189 191 193 193 193 194 194
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cc) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Unechte“ Ausnahmen – andere Formen der Bindungswirkung . . . . . . . a) § 33b GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 11 UKlaG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Korrektiv: Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abhängigkeit vom Hauptprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkung und Bedeutung in der Praxis – Vorteile gegenüber genereller Rechtskrafterweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX
196 197 198 199 202 202 202 203 204 205
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . 208 I. Grundsatz – Le dispositif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung der Gründe abseits eigener Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Gründe im Rahmen der Auslegung unklarer Tenorierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der Gründe für die Frage nach Streitgegenstandsidentität . . . 3. Keine Frage eigenständiger Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Isolierte Rechtskraft der Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Motifs décisoires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Motifs décisifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Décisions implicites und décisions virtuelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzgebung – Nouveau Code de procédure civile . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Motifs décisoires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Motifs décisifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Décisions implicites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Motifs décisoires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Motifs décisifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Décisions implicites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Keine Existenz allgemeiner Feststellungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
208 211 211 211 212 212 213 214 215 218 219 220 221 222 224 225 226 226 227 229 231 233
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck und dogmatische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eintrittszeitpunkt und Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einmaligkeitswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235 235 236 236 237
XX
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3. Objektive Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Ausnahmen im Gesetz – Entscheidung über die Gegenforderung bei Aufrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Ausnahmen in der Rechtsprechung – „Sonderfall-Judikatur“ des OGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Kompensation durch Zwischenfeststellungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Italien und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 III. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Rechtskraftähnliche Institute im englischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 a) Abuse of process . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 b) Res judicata estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 aa) Cause of action estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 bb) Issue estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union – „Brexit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 a) Politische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Auswirkungen auf das europäische Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 aa) Fortgeltung des Unionsrechts während des Übergangszeitraums 262 bb) Mögliche Szenarien nach Ende des Übergangszeitraums ohne weitere Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Fazit – Bedeutungseinbußen des common law im Rahmen europäischer Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente . . . . . 265 I. Abstrakte Abwägung zwischen engem und weitem Rechtskraftbegriff anhand der entwickelten Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Belange der Parteien im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefahr überraschender Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsempfinden – Bedürfnis nach Entscheidungskontinuität? . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortschreibung unrichtiger Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 266 267 268 269 270 270 272 274
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XXI
Vierter Teil: Existenz, Erforderlichkeit und Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes – Übertragung der Ergebnisse des Rechtsvergleiches auf die europäische Ebene . . . . . . . 277 A. EuGVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Weder Existenz noch (zwingende) Erforderlichkeit eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO . . . II. Vorteilhaftigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktion und Rolle der Rechtskraft innerhalb der Anerkennung . . . . . . . 2. Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes – Abwägung zwischen weitem und engem einheitlichen Rechtskraftbegriff . . . . . . . . a) Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Belange der Parteien – Wirkungserweiterung und Wirkungsbeschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systematik der EuGVVO und praktischer Ablauf des Anerkennungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO – Verbot der Wirkungserweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Praktischer Ablauf des Anerkennungsverfahrens – Vorliegende Dokumente in der Regel nicht ausreichend, um rechtskräftige Feststellungen in den Gründen identifizieren zu können . . . . . . . d) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vollständige Aufgabe der Wirkungserstreckung oder einheitliche „Sockel-Rechtskraft“ unter grundsätzlicher Beibehaltung der Wirkungserstreckung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abwägung zwischen Wirkungserstreckung und einheitlichem, engem Rechtskraftbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirkungserstreckung als etabliertes Prinzip ohne verbindliche Vorgabe durch die Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aspekte ohne eindeutigen Ausschlag für oder gegen die Beibehaltung der Wirkungserstreckung beziehungsweise die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes . . . . . . . aa) Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Als Argument für die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Als Argument für die Beibehaltung der Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erhöhte Gefahr widersprechender Entscheidungen im Anerkennungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Als Argument gegen die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Relativierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278 279 279 280 281 282 284 284 285 286 287 288 290 290 291 291 291 292 292 292 293 293
XXII
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(1) Als Argument für die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Als Argument für die Beibehaltung der Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorteile eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes – Nachteile der Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wegfall der Prüfung des Rechtskraftumfangs durch das Anerkennungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Nachteile eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes – Vorteile der Wirkungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entkopplung von Verfahrensrecht und Rechtskraftreichweite – Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterschiedliche Statute für positive und negative Wirkung der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Provokation unvereinbarer Entscheidungen? . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mögliche Lösung de lege ferenda – Ergänzung der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konkrete Frage nach rechtskräftigen Entscheidungsbestandteilen neben dem Tenor innerhalb der Bescheinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Indikative Wirkung der zusätzlichen Angaben des Ursprungsgerichts . . 3. Aufwand-Ertrags-Verhältnis; (kein) zusätzliches Antragserfordernis . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293 293 294 294 295 295 295 296 297 297 298 299 300 301
B. Rechtskraftbegriff innerhalb europäischer Gesamtsysteme und vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb des ELI/ UNIDROIT Projektes „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 I. Zwingende Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb der ELI/ UNIDROIT European Rules of Civil Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Generelle Kritik an der vorgeschlagenen Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . a) Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Belange der Parteien – Überraschende Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . c) Fortschreibung unrichtiger Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtssicherheit und Rechtsklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkrete Kritik an den aufgestellten Kriterien zur Identifikation der rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legal issue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Explicit decision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zuständigkeit des Gerichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Debate or opportunity of a debate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Necessary and incidental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
302 302 304 304 304 305 305 306 306 306 307 307 309 310
Inhaltsverzeichnis
XXIII
3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
C. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 D. Conclusion in Theses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Abkürzungsverzeichnis a. A. a. E. a. F. ABl. Abs. AcP AEUV AGB AGBG ähnl. allg. AktG ALI Am. Journ. Comp. Law Anm. Art. Aufl. Ausn. avr. BAG Bd. BeckOK BeckRS BGB BGH BGHZ BICC Brüssel Ia
Brüssel I-VO Bsp. BT-Drs.
andere/r Ansicht am Ende alte Fassung Amtsblatt Absatz Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ähnlich allgemein Aktiengesetz American Law Institute The American Journal of Comparative Law Anmerkung Artikel Auflage Ausnahme avril Bundesarbeitsgericht Band Beck’scher Online-Kommentar Beck-Rechtsprechung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bulletin d’information de la Cour de cassation Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Beispiel Bundestagsdrucksache
XXVI Bull. Ass. Plén.
Abkürzungsverzeichnis
Bulletin des arrêts des chambres civiles (de la Cour de cassation) – Assemblé Plénière Bull. Ch. Mixte Bulletin des arrêts des chambres civiles (de la Cour de cassation) – Chambre mixte Bull. Civ. Bulletin des arrêts des chambres civiles (de la Cour de cassation) BVerfG Bundesverfassungsgericht bzw. beziehungsweise Cass. Ass. Plén. Cour de cassation, assemblé plénière Cass. Ch. Mixte Cour de cassation, chambre mixte Cass. Civ. 1er Cour de cassation, première chambre civile Cass. Civ. 2e Cour de cassation, deuxième chambre civile Cass. Civ. 3e Cour de cassation, troisième chambre civile Cass. Com. Cour de cassation, chambre commerciale Cass. Soc. Cour de cassation, chambre sociale CC Code civil Clunet Journal du Droit International comm. commentaire CPC Code de procédure civile déc. décembre Dig. Digesten dt. deutsch EAG Europäische Atomgemeinschaft ECPIL European Commentaries on Private International Law Ed. Edition éd. édition EFTA European Free Trade Association EG Europäische Gemeinschaft EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Einl. Einleitung EIPR European Intellectual Property Review EL Ergänzungslieferung ELI European Law Insitute ELR European Law Report EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EuGVÜ Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen EuGVVO Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. EUV Vertrag über die Europäische Union EuZVR Europäisches Zivilverfahrensrecht EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWiR Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
f. Fasc. févr. ff. FG Fn. frz. FS Gaz. Pal. GG ggf. GPR GRUR Int GRUR-Prax GS GWB h. M. Hrsg. i. d. R. i. E. i. S. d. i. S. e. i. V. m. ICLQ IIC IJPL insb. IPRax IZPR IZVR jan. JBl. JCP jew. JPrL JR juill. JURA JuS JZ KapMuG KöKo krit. KTS lat. LEC lit. LMK
Abkürzungsverzeichnis
XXVII
folgende (Singluar) Fascicule février folgende (Plural) Festgabe Fußnote französisch Festschrift La Gazette du Palais Grundgesetz gegebenenfalls Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis Immaterial güter- und Wettbewerbsrecht Gedächtnisschrift Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen herrschende Meinung Herausgeber(in) in der Regel im Ergebnis im Sinne des/der im Sinne einer/eines in Verbindung mit International & Comparative Law Quarterly International Review of Intellectual Property and Competition Law International Journal of Procedural Law insbesondere/s Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht internationales Zivilprozessrecht internationales Zivilverfahrensrecht janvier Juristische Blätter Juris-Classeur Périodique (La Semaine Juridique) jeweils Journal of Private international Law Juristische Rundschau juillet Juristische Ausbildung Juristische Schulung JuristenZeitung Kapitalangeleger-Musterverfahrensgesetz Kölner Kommentar kritisch Konkurs, Treuhand, Sanierung lateinisch Ley de Enjuiciamiento Civil litera Recht Steuern Wirtschaft
XXVIII LQR LugÜ m. m. a. W. m. w. Nachw. MDR MüKo n° Nachw. NJW NJW-RR nov. Nr. NVwZ NZKart obs. oct. OGH ÖJZ OLG öst. öZPO öZPR p. RabelsZ RdTW Rev. crit. dr. internat. privé RGZ RIW Rn. RPflG Rs. RTD RTD civ. RTDEur Rz. s. S. sept. Slg. sog. sogl. span. st. Rspr. t. u.
Abkürzungsverzeichnis
Law Quarterly Review Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 21.12.2007 mit mit anderen Worten mit weiteren Nachweisen Monatsschrift für Deutsches Recht Münchener Kommentar numéro; number Nachweise Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report novembre Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Kartellrecht observations octobre Oberster Gerichtshof (Österreich) Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht österreichisch österreichische Zivilprozessordnung österreichisches Zivilprozessrecht page Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Transportwirtschaft Revue critique de droit international privé Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Randnummer Rechtspflegergesetz Rechtssache Revue trimestrielle Revue Trimestrielle de Droit civil Revue Trimestrielle de Droit Européen Randzeichen siehe Seite septembre Sammlung sogenannte(r/s) sogleich spanisch ständige Rechtsprechung tome und
u. a. u. U. UK UKlaG UNIDROIT Unterabs. usw. v. v. a. vgl. VO Vol. Vorbem. VVG w. wörtl. z. B. zahlr. ZEuP Ziff. ZJS ZPO ZPR ZPVergl. ZRG Rom. ZZP ZZPInt
Abkürzungsverzeichnis
unter anderem unter Umständen United Kingdom Unterlassungsklagengesetz Institut international pour l’unification du droit privé Unterabsatz und so weiter von vor allem vergleiche Verordnung Volume Vorbemerkung Versicherungsvertragsgesetz weitere, weiteren wörtlich zum Beispiel zahlreich Zeitschrift für europäisches Privatrecht Ziffer Zeitschrift für das Juristische Studium Zivilprozessordnung Zivilprozessrecht Zivilprozessvergleichung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung Zeitschrift für Zivilprozess Zeitschrift für Zivilprozess International
XXIX
Einleitung Vorliegende Arbeit wird der Frage nachgehen, ob die bislang praktizierte Wirkungserstreckung bei Anerkennung von Urteilen nach den Regeln der EuGVVO1 de lege ferenda durch ein europäisches, autonom definiertes Rechtskraftkonzept ersetzt werden sollte. Bislang verstand man unter Anerkennung nach den Regeln der EuGVVO die Erstreckung der Urteilswirkungen aus dem Urteilsstaat in den Anerkennungsstaat (Wirkungserstreckungstheorie).2 Konkret wurde die Reichweite der Rechtskraft also der lex fori des Urteilsstaates entnommen. Ein entscheidender Nachteil dieses Verfahrens ist, dass die Prüfung und Ermittlung der konkreten (positiven) Reichweite der materiellen Rechtskraft dem Gericht im Anerkennungsstaat auferlegt wird.3 Insbesondere wenn die lex fori des Urteilsstaates die materielle Rechtskraft nicht auf den Tenor beschränkt und insofern spezifischere Kenntnisse des angewandten (prozessualen und materiellen) Rechts zur Identifikation der rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile notwendig sind, werden mitunter schwierige und fehleranfällige Prüfungen und deshalb nicht selten zeit- und kostenintensive, externe Gutachten erforderlich.4 Diese Probleme be1 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. 2 Aus dem deutschen Schrifttum etwa Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 9; Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2; Rauscher/ Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 4; MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 12; Geimer/Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 13 ff.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2; Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 10 m. w. Nachw.; Adolphsen, EuZVR, 5. Kapitel Rn. 15; aus dem englischen Schrifttum Harder, ICLQ 2013 (62), 441, 447 f.; Barnett, Res Judicata, Rn. 7.59 ff.; Layton/Mercer, European Civil Practice, Vol. 1, Rn. 24.010; Briggs, Jurisdiction and Judgments, Rn. 7.24; aus dem französischen Schrifttum vgl. etwa Nioche, RCDIP 2013, 686, 698; Mayer/Heuzé, Droit international privé, n° 420 (für das autonome Anerkennungsrecht) zur EuGVVO n° 477; zum EuGVÜ Goldmann, RTDEur 1971, 1, 31; vgl. zum Ganzen auch Gaudemet-Tallon/Ancel, Compétence et exécution, 6e éd., n° 379; aus dem griechischen Schrifttum vgl. etwa Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 215. 3 Als (generelles) Argument für einen einheitlichen Rechtskraftbegriff sieht den Wegfall der Rechtskraftprüfung auch Bach, EuZW 2013, 56, 59; vgl. zum Ganzen unten vierter Teil A. II. 5. c) und die dortigen Nachw. 4 Vgl. auch Dickinson/Lein/Franzina, Brussels I, Art. 36, Rn. 13.44 f. unter Verweis auf OGH 6 Ob 247/12k.
2
Einleitung
stünden nicht, wenn ein einheitliches europäisches Rechtskraftkonzept existierte und ausländische Urteile bei der Anerkennung im Inland mit ebendieser europäisch-autonomen Rechtskraft ausgestattet würden.5 Anstoß für solche Überlegungen bot insbesondere die neuere Rechtsprechung des EuGH,6 in welcher er entgegen der Theorie der Wirkungserstreckung auf einen „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“7 abstellte8 und damit nach Meinung Einiger den Grundstein für ein solches einheitliches europäisches Rechtskraftkonzept geschaffen habe.9 Das Urteil erweckt teilweise sogar den Eindruck, es existiere bereits ein europäischer Rechtskraftbegriff, der sich schlicht ins Anerkennungsregime der EuGVVO transplantieren lasse. Vorliegende Arbeit wird diesen Gedanken jedoch widerlegen und zeigen, dass der vom EuGH verwandte „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ nicht in den Bereich der Urteilsanerkennung zu übertragen ist10 und de lege lata (noch) kein belastbares Rechtskraftkonzept besteht, das die Aufgabe der Wirkungserstreckung erlauben würde.11 Dieser Befund stellt die Weichen zur Untersuchung möglicher Konturen eines de lege ferenda einheitlichen europäischen Rechtskraftkonzeptes innerhalb der EuGVVO. Hierzu sollen in einer Bestandsaufnahme zunächst mögliche Vorgaben aus der Rechtsprechung des EuGH und der Verordnung selbst identifiziert werden. Zur Gewinnung abstrakt-funktionaler Argumente für die Reichweitenbestimmung einer europäischen Rechtskraft dient die rechtsvergleichende Aufarbeitung der Rechtskraftgrenzen im deutschen und französischen Recht sowie innerhalb weiterer Mitgliedsstaaten.12 Die auf diese Weise identifizierten Vor- und Nachteile enger oder weiter Rechtskraftkonzepte er5 So gehen etwa Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 19 von einer wesentlichen Anwendungserleichterung der EuGVVO durch einen einheitlichen Rechtskraftbegriff aus. 6 Insb. in EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012. 7 Ausführlich zur Herkunft dieses Konzeptes unten zweiter Teil, B. III. 2. und die dortigen Nachw. 8 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 9 So etwa Nioche, RCDIP 2013, 686, 693: „[…] posant ainsi les premières pierres d’un régime autonome de l’autorité de chose jugée.“ 10 Kritisch auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. 11 Dahingehend für das EuGVÜ bereits Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 209 f.; zur EuGVVO a. F. auch Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 87. 12 Freilich ist diesen Fragen bereits in der Vergangenheit in verschiedener Form nachgegangen worden, sodass eine erneute Untersuchung auf den ersten Blick gewissem Rechtfertigungsdruck unterliegen mag. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jedoch zweierlei: Zum einen beschränken sich viele der rechtsvergleichenden Beiträge – aufgrund des gewählten Formats teilweise schon zwangsläufig – auf einen groben Überblick. Zum anderen sind viele der – dessen ungeachtet bis heute zitierten – Bearbeitungen gerade zum französischen Recht infolge der dortigen Gesetzes- und Rechtsprechungsentwicklungen in der jüngeren Vergangenheit in wichtigen Teilen nicht mehr aktuell. Beides gilt nicht für die umfassende rechtsvergleichende Arbeit von Stapf, Rechtskraftlehre.
Einleitung
3
möglichen – nach einer Übertragung der entwickelten Argumente auf die europäische Ebene – Aussagen zum zu bevorzugenden Umfang einer europäischen Rechtskraft.13 Die hier gefundenen Ergebnisse sind dabei nicht nur für die EuGVVO, sondern auch dann relevant, wenn über ein de lege ferenda zu schaffendes einheitliches, europäisches Zivilprozessrecht nachgedacht wird.14 Auf Überlegungen zur Erforderlichkeit eines autonom bestimmten Rechtskraftkonzeptes im Rahmen der EuGVVO einerseits und innerhalb (de le ferenda zu etablierender) europäischer Gesamtsysteme andererseits folgen Diskussion und Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Frage, ob die Aufgabe der Wirkungserstreckung zugunsten eines einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriffes möglicherweise vorteilhaft wäre.15 Darüber hinaus wird ein Vorschlag entwickelt, wie de lege lata bestehende Defizite der Wirkungserstreckung de lege ferenda einfach und praktikabel gelöst werden könnten.
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Ebendiese Frage klammert Stapf ausdrücklich aus, vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 4. langfristige Ziel verfolgen Projekte wie etwa die Arbeiten an European Rules of Civil Procedure des European Law Institute (ELI) und des International Institute for the Unification of Private Law (UNIDROIT). Vgl. ausführlicher zu diesem Projekt unten zweiter Teil, A. I. 15 Vgl. unten vierter Teil, A. II. 14 Dieses
Zum Begriff der „objektiven Reichweite“ der materiellen Rechtskraft Eine Arbeit, die nach Grundlinien für die „objektive Reichweite“ der materiellen Rechtskraft im deutschen, französischen und europäischen Zivilprozess sucht, kommt nicht umhin, zu erklären, was (zumindest innerhalb dieser Untersuchung) genau mit dem Begriff der „objektiven Reichweite“ der materiellen Rechtskraft gemeint ist. Objektive Reichweite unterscheidet sich zunächst von ihrem Antonym, der subjektiven Reichweite: Grob gesagt, während die subjektive Reichweite die Frage betrifft, wer von der Rechtskraftwirkung betroffen ist, bezieht sich die objektive Reichweite auf die Frage, was von der Rechtskraftwirkung betroffen ist. Was von der Rechtskraftwirkung betroffen ist, hängt von der konkreten Wirkung (negativ oder positiv) der materiellen Rechtskraft ab.1 Die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft verhindert, dass über einen bereits entschiedenen Streitgegenstand erneut entschieden wird.2 Damit hängt wiederum die Frage, was von der negativen Rechtskraftwirkung betroffen ist, maßgeblich vom jeweils zugrunde gelegten Streitgegenstandsbegriff ab: Die objektive Reichweite der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft (Breitenwirkung3 oder horizontale Wirkung) wird daher von der Reichweite des Streitgegenstandsbegriffes prädestiniert.4 Ein weiter Streitgegenstandsbegriff führt zu einer weiten Sperrwirkung; ein enger Streitgegenstandsbegriff zu einer engen Sperrwirkung. Die Rechtskraft fungiert als sperrendes Vehikel, während der Streitgegenstandsbegriff den zu sperrenden Bereich absteckt. Die Frage, was von der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft betroffen ist, beantwortet daher der jeweilige Streitgegenstandsbegriff.5 1
Vgl. hierzu unten erster Teil, B. III. 7. a) (zum dt. Recht) b) (zum frz. Recht). dt. Recht vgl. etwa Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 12; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 10; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 12; BGH NJW 2004, 1252, 1253; BGH NJW 1995, 1757, 1757; zum frz. Recht vgl. etwa Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 10; Chainais/Ferrand/ Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1162; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 564 ff.; Vincent/Guinchard, n° 179. 3 Diesen Begriff verwenden auch Foerste, ZZP 1995, 167, 167; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 95; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125. 4 Ebenso z. B. Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 95, Fn. 474. 5 Vgl. zum Ganzen unten zweiter Teil, B. III. 3. f ) aa). 2 Zum
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Zum Begriff der „objektiven Reichweite“ der materiellen Rechtskraft
Die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft macht rechtskräftige Entscheidungen innerhalb nachfolgender Verfahren verbindlich.6 Mit der Frage, was von der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft betroffen ist, ist also gemeint, welche Urteilsbestandteile (Tenor/dispositif und ggf. auch Gründe/ motifs) rechtskräftig werden. Eben dieser Frage nach der objektiven Reichweite der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft (Tiefenwirkung7, vertikale Wirkung) soll im Folgenden für deutsches, französisches und europäisches Recht nachgegangen werden. Dabei wird insbesondere zu untersuchen sein, ob die Tiefenwirkung mit der (durch den Streitgegenstandsbegriff vorgegebenen) Breitenwirkung korreliert8 oder – und das wird eines der Ergebnisse dieser Arbeit sein – ob die Reichweite der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft vom Streitgegenstandsbegriff unabhängig und daher anhand abstrakt-funktionaler Argumente zu bestimmen ist.9
6 Zum dt. Recht vgl. etwa BGH NJW, 1993, 3204, 3205; BGH NJW 1995, 2993; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 15; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 9; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322; Rn. 17 ff.; zur Diskussion um diesen Begriff im frz. Recht vgl. unten erster Teil, B. III. 7. b) bb) und die dortigen Nachw. 7 Diesen Begriff verwenden auch Foerste, ZZP 1995, 167, 167; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 95; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125. 8 Dies verneinen auch Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125; ähnlich Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554; vgl. zum Ganzen unten zweiter Teil, B. III. 3. f ). 9 Die Arbeit versteht sich insofern auch ausdrücklich nicht als Studie zu den Konturen eines europäischen Streitgegenstandsbegriffes.
Erster Teil
Grundlagen A. Historischer Überblick „Wenn ein wissenschaftliches Gebiet, so wie das unsrige, durch die ununterbrochene Anstrengung vieler Zeitalter angebaut worden ist, so wird uns, die wir der Gegenwart angehören, der Genuß einer reichen Erbschaft dargeboten. […] alle Bestrebungen der Vorzeit, mögen sie fruchtbar oder verfehlt seyn, kommen uns zu gut als Muster oder Warnung, und so steht es in gewissem Sinn bey uns, mit der vereinigten Kraft vergangener Jahrhunderte zu arbeiten.“1
Mit diesen Worten leitete Savigny im Jahr 1840 sein „System des heutigen römischen Rechts“2 ein und bis heute – nahezu zwei Jahrhunderte später – haben diese Zeilen nicht an Bedeutung verloren.3 In der Tat bildet das römische Recht in weiten Teilen die Grundlage der heutigen (kontinental-)europäischen Rechtsordnungen.4 Nachdem das römische Recht schon während der Antike stetigen Entwicklungen unterlag, ist es im Mittelalter von den Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten durchdrungen und aufgearbeitet worden und diente in der Neuzeit den meisten europäischen Prozessordnungen als Vorbild.5 Auch die Geschichte des Institutes, das wir heute mit dem Begriff der materiellen Rechtskraft beziehungsweise autorité de la chose jugée belegen, reicht bis in das Recht der altrömischen Periode zurück und so wirken Vorstellungen und Strukturen über Funktion und Wesen der materiellen Rechtskraft bis heute fort, die bereits im römischen Recht entwickelt worden sind.6 1
V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Vorrede, S. IX. V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 8 Bände, Berlin 1840–1849. 3 Das unterstreicht jüngst auch Gaul, JZ 2018, 1013, 1014. 4 Vgl. nur Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 1, 25 ff., 35 ff.; zum Einfluss des römischen Rechts auf die Zivilprozessrechte des deutschen Rechtskreises vgl. Sturm, Cahier n° 4 – L’autorité de la chose jugée, S. 47; zur Bedeutung des Grundsatzes „res iudicata pro veritate accipitur“ im Common Law, vgl. Walters, Cahier n° 4 – L’autorité de la chose jugée, S. 63. 5 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 6; zur Bedeutung des römischen für das heutige Recht vgl. etwa Kaser, JuS 1967, 337; Honsell, FS Hattenhauer (2003), 245; Honsell, GS Mayer-Maly (2011), 225; Knütel, ZEuP 1994, 244; Zimmermann, JZ 2007, 1; Zimmermann, JZ 1992, 8. 6 Dies gilt sowohl für grundlegende Prinzipien wie Einmaligkeit und Endgültigkeit gerichtlicher Entscheidungen als auch für konkrete Erscheinungen: So hat etwa die zur Bestim2
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Erster Teil: Grundlagen
I. Römisches Recht Das römische Prozessrecht stellte kein „systematisches Ganzes“ dar.7 Vielmehr erscheinen die Regeln als „unkodifizierte, im Bewusstsein des Volkes lebende und von Rechtskundigen geformte Ordnung“.8 Das Privatrecht und das Instrumentarium zu dessen Durchsetzung und Geltendmachung wurden von den Römern als Einheit angesehen.9 Daraus ergibt sich auch, dass das Prozessrecht parallel zur Entwicklung des Privatrechts selbst stetiger Veränderung unterlag. Diese Entwicklungen gingen mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Änderungen der jeweiligen Zeit einher.10 Die römische Rechtsgeschichte lässt sich grob in drei Phasen einteilen, die diese Veränderungen spiegeln: Die altrömische Periode bis in die Mitte des dritten Jahrhunderts vor Christus; die klassische Periode bis zum dritten Jahrhundert nach Christus und die nachklassische Periode bis zum Ausgang der Antike.11 Schon für den Zivilprozess während der altrömischen Periode war anerkannt, dass in derselben Sache (eadem res) kein weiteres Urteil ergehen durfte.
1. Legisaktionenverfahren – Altrömische Periode Während der altrömischen Periode war Rom noch ein bäuerlicher Gemeindestaat;12 eine „agrarische Wirtschaftsstruktur mit nur geringer Überschussproduktion für den Marktgebrauch“13. Dieser Umstand prägte das gesellschaftliche Leben ebenso wie Kultur, Politik und freilich das Recht.14 Ausgangs- und Kernpunkt der geltenden Gesetze war dementsprechend die Regelung der Beziehungen innerhalb des Hausverbandes und dessen Beziehungen zu anderen Familienverbänden.15 Die Hauptquelle für das damalige Recht bildeten die XII Tafeln, eine um 450 vor Christus kodifizierte Rechtssammlung, welche in Form von zwölf mung identischer Streitgegenstände maßgebliche règle de la triple identité im französischen Recht (vgl. hierzu unten zweiter Teil, B. III. 3. c)) ihren Ursprung ebenfalls im römischen Recht, vgl. Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 208 und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 18. Ähnliches gilt für die Theorie der présomption de vérité im französischen Recht (vgl. hierzu unten erster Teil, B. III. 3. b) aa)), die auf die viel zitierte Digestenstelle „res iudicata pro veritate accipitur“ (Dig. 1, 5, 25 = 50, 17, 207) zurückgeht, kritisch hierzu v. a. Tomasin, Chose jugée, n° 324 ff. 7 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 11. 8 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 3. 9 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 3 und 11. 10 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 3. 11 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 3 ff. 12 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 4; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 25. 13 So Horak, ZRG Rom. 1976, 261, 262, Fn. 5 m. w. Nachw.; ebenso Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 25. 14 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 4. 15 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 4.
A. Historischer Überblick
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Bronzetafeln öffentlich ausgestellt war.16 Obgleich diese Sammlung kein Prozessrecht im heutigen Sinn enthielt – vielmehr wird das Bestehen von Einrichtungen oder Verfahren zur Rechtsverfolgung vorausgesetzt17 – ermöglichen die ersten drei Tafeln entscheidende Einblicke in damalige Prozessabläufe.18 Zentrales Instrument zur Rechtsverfolgung waren die legis actiones.19 Durch feierliches, von symbolischen Handlungen untermaltes Sprechen bestimmter Spruchformeln trugen die Prozessparteien ihre Begehren vor einem Gerichtsherrn vor.20 Die Vorgaben für diese rituellen Handlungen waren dermaßen starr und formal, dass schon geringste Abweichungen den Prozessverlust bedeuten konnten.21 Während dieser Zeit bildete sich eine Aufteilung des Prozesses in zwei Abschnitte heraus22: Im ersten Schritt des Prozesses (in iure)23 wurde vor dem Gerichtsmagistrat in einer Vorentscheidung die Zulässigkeit der Einsetzung eines Verfahrens und gegebenenfalls das zuständige Gericht des zweiten Abschnittes festgelegt.24 In einem zweiten Schritt (apud iudicem)25 erfolgte dann die Beweisführung und rechtliche Subsumtion des im ersten Abschnitt festgelegten Prozessstoffes.26 Anschließend wurde das Urteil gefunden und verkündet.27 In iure wurde auch festgestellt, ob für das Begehren des Klägers ein Rechtsbehelf (legis actio) zur Verfügung stand und damit das Streitprogramm – vergleichbar mit dem heutigen Streitgegenstand – definiert.28 Die Konkretisierung des genauen Prozessstoffes erfolgte durch die oben erwähnte, feierliche Rezitation von Spruchformeln.29 Vor diesem gemeinsamen Akt riefen die Parteien Zeugen auf, die dem Prozess beiwohnen sollten (litis contestatio)30.31 Die litis 16 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 5; vgl. hierzu Flach, Zwölftafelgesetz, S. 3 ff. 17 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 4. 18 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 13. 19 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 4 u. 34 ff. 20 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 34; Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 53. 21 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 35; Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 56. 22 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 32 f. u. 45 a. E. f. 23 Benannt nach dem Ort (ius), an dem die Verhandlungen vor dem Prätor stattfinden, vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 43. 24 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 45 u. 69 ff. 25 Wörtl. „bei einem/in Gegenwart eines Richters“. 26 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 45. 27 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 45 u. 115 ff. 28 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 70. 29 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 75. 30 Zu Herkunft und Bedeutung des Begriffes vgl. ausführlich Jahr, Litis contestatio, S. 5 ff. 31 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 76 ff., dieses Verfahren erklärt sich u. a. vor dem Hintergrund einer zu dieser Zeit noch wenig entwickelten Schriftlichkeit.
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Erster Teil: Grundlagen
contestatio bewirkte zweierlei: Zum einen unterwarfen sich die Parteien durch sie einem Verfahren vor Gericht – das Verfahren wurde sozusagen rechtshängig.32 Zum anderen schloss die litis contestatio ein weiteres Verfahren über denselben Streitgegenstand aus, da sie zum Verbrauch (consumptio)33 des Forderungsrechtes (obligatio) führte.34 In der Ausschlusswirkung der litis contestatio lassen sich also bereits Grundstrukturen der heutigen Rechtskraftlehre erkennen.35
2. Formularverfahren – Klassische Periode Während der Zeit vom dritten bis zum ersten Jahrhundert vor Christus durchlief das gesellschaftliche Leben in Rom eine deutliche Veränderung: Die römische Macht breitete sich territorial ungemein aus. Es entwickelten sich großstädtische Lebensformen sowie Handel und Gewerbe.36 In Reaktion auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung wandelte sich auch das Recht. Durch die Anwendung aus der griechischen Philosophie entlehnter Methoden konnte sich langsam ein in sich stimmiges Rechtssystem und damit der Beginn einer Wissenschaft entwickeln.37 Ihre Blütezeit erreichte die Rechtswissenschaft während der ersten beiden Jahrhunderte nach Christus.38 Diese Veränderungen wirkten sich auch auf das Verfahrensrecht aus: Das Legisaktionenverfahren wurde allmählich durch ein abgewandeltes Verfahren – das Formularverfahren – ersetzt.39 Die von starrem Formalismus und strengen, fast rituellen Vorgaben geprägte Verhandlung vor dem Magistrat wurde insgesamt gelockert und vereinfacht.40 Im Mittelpunkt des Verfahrens in iure stand nun eine Verhandlung in freier Rede ohne Formzwang und Riten, an deren Ende den Streitparteien eine sogenannte formula ausgehändigt wurde.41 Die formula42 fasste gleich einem Protokoll die Ergebnisse der Verhandlung zusammen und diente damit zum einen der Fixierung des Streitprogrammes, zum anderen bildete sie die Hauptinformationsquelle für das im zweiten Verfahrens32
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 79. zur Konsumption der Klage im römischen Recht vgl. Liebs, ZRG Rom. 1969, 169. 34 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 81; Liebs, ZRG Rom. 1969, 169, 180. 35 Dahingehend auch Wenger, Institutionen, S. 204; in diese Richtung auch Stein, FG Fitting (1903), 333, 415; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 9. 36 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 6. 37 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 7. 38 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 9. 39 Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 110 ff.; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 151. 40 Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 110 ff.; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 151 f. 41 Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 112. 42 Zu Inhalt und Bestandteilen der formula vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 308 ff. 33 Ausführlich
A. Historischer Überblick
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abschnitt – die Zweiteilung des Verfahrens wurde aus dem Legisaktionenverfahren beibehalten – entscheidende Urteilsgericht.43 Die Herauslösung aus dem starren System des Legisaktionenverfahrens machte den Prozess flexibler und veränderte auch den Einfluss des Prätors: Dieser war befugt, dort, wo bislang keine Klagen bestanden, neue zu schaffen, um den Klägern eine Möglichkeit zur Rechtsverfolgung zu bieten.44 Dieser Umstand ermöglichte eine fortschreitende Entwicklung und Anpassung des Zivilprozesses an die Veränderungen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens.45 Im Formularverfahren ebenfalls beibehalten wurde das förmliche Einverständnis der Parteien, sich mit dem in der formula definierten Prozessstoff dem Urteilsgericht zu unterwerfen (litis contestatio).46 Mit der litis contestatio wurde das Verfahren in iure beendet und in das Verfahren apud iudicem überführt; der Streit wurde rechtshängig.47 Gleichsam ging mit der litis contestatio eine Prozessstoffkonservierung einher, da im Verfahren vor dem Urteilsgericht derjenige Rechtszustand zugrunde zu legen war, der im Zeitpunkt der litis contestatio bestanden hatte.48 Nach der litis contestatio auftretende, die Rechtlage möglicherweise beeinflussende Umstände durften im Grundsatz nicht mehr berücksichtigt werden.49 Die schon im Rahmen des Legisaktionenverfahrens angesprochene50 Ausschlusswirkung der litis contestatio wurde ebenso beibehalten: Auch innerhalb des Formularverfahrens schloss die litis contestatio weitere Prozesse über denselben Streitgegenstand aus.51 Während bei den actiones in personam eine Konsumption der Klage eintrat, kam insbesondere für actiones in rem ein anderes Instrument zur Verhinderung einer Verfahrenswiederholung hinzu52: Der Prätor konnte das Verfahren denegieren oder aber die formula mit der exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae erteilen.53 Letzteres zwang das Urteilsgericht, im Falle des Bestehens dieser Ausnahme – namentlich also, wenn bereits eine Entscheidung in dieser Sache vorlag (iudicata) oder die Sache bereits 43
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 152. Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 114. Keller/Wach, Römischer Zivilprozess, S. 114 f.; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 4 f. 46 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 290 f. mit weiteren Hinweisen zur Natur der litis contestatio. 47 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 295 f.; Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 15 f. 48 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 296. 49 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 296, 298. 50 Siehe oben erster Teil, A. I. 1. 51 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 301. 52 Zum Verhältnis zwischen Konsumption und exceptio vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 303. 53 Jörs/Kunkel, Römisches Privatrecht, S. 378; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 302, 311, 320. 44 45
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Erster Teil: Grundlagen
vor dem Urteilsgericht anhängig war (in iudicium deducta) – den Beklagten freizusprechen.54 Der Ausschluss erneuter Verfahren über denselben Streitgegenstand wurde im Formularprozess also sowohl durch die litis contestatio als auch durch die exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae erreicht.55 Ausgeschlossen wurden dabei solche Verfahren, die sich auf denselben Klagegrund (causa) stützten und dasselbe Klageziel verfolgten.56 Nicht erforderlich war demgegenüber, dass sich der Kläger auf dieselbe actio stützte.57 Klagegrund war entweder der zugrundeliegende Vertrag58 beziehungsweise das zugrundeliegende Delikt (so bei den actiones in personam) oder das dingliche Recht (so bei den actiones in rem).59 Das Ziel der Klage bestand im Ausgleich des durch den klagebegründenden Sachverhalt eingetretenen Nachteils.60 Weniger stringent und eindeutig erweist sich der Umgang mit der Frage, inwieweit ein nachfolgendes Gericht bei der Beurteilung von Vorfragen an bestehende Entscheidungen gebunden war.61 Eine allgemeine, einheitliche Regel, welche die Wirkung von Präjudizien bestimmt, scheint es nicht gegeben zu haben.62 Nichtsdestotrotz sind Fälle überliefert, in denen der Inhalt eines bestehenden Urteils innerhalb eines nachfolgenden Verfahrens zugrunde gelegt wurde.63 So konnte der Prätor ein eigentlich einzusetzendes Verfahren suspendieren (einstweilige denegatio), ein bereits anhängiges Verfahren aufschieben oder eine Vorfrage aus einem Verfahren ausnehmen (exceptio praeiudicialis)64, bis dieselbe Vorfrage in einem ebenfalls anhängigen Verfahren entschieden wurde.65 Der Richter des nachfolgenden Prozesses war in diesen Fällen an die Vorfragenentscheidung aus dem anderen Verfahren gebunden.66 Uneinheitlich sind darüber hinaus sowohl die Verwendung67 des Begriffs praeiudicium als auch die für eine positive Bindung bewerkstelligten Begründungen: Gestützt wurde eine Bindungswirkung teilweise auf eine „faktische 54 55
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 302. Levy, Konkurrenz der Aktionen, Bd. 1, S. 53 f.; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 299. 56 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 304; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 10. 57 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 303. 58 Oder ein vertragsähnliches Verhältnis. 59 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 304; Levy, Konkurrenz der Aktionen, Bd. 1, S. 53 f. 60 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 304. 61 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 379; Liebs, Klagenkonkurrenz im römischen Recht, S. 218. 62 Liebs, Klagenkonkurrenz im römischen Recht, S. 218; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 379. 63 Für Bsp. vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 381 f. 64 Vgl. hierzu ausführlich Hackl, Praeiudicium, S. 55 ff. 65 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 380 f. 66 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 381. 67 Vgl. hierzu Hackl, Praeiudicium, S. 17 ff.
A. Historischer Überblick
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Autorität“ des Richterspruchs, teilweise auf prozessökonomische Erwägungen und schließlich auf Billigkeit.68
3. Kognitionsverfahren – Klassische Periode Während des dritten Jahrhunderts nach Christus verschwand der Formularprozess allmählich.69 Schon unter Augustus ist für Situationen, in denen die vom Formularverfahren bekannten Ansprüche nicht ausreichend waren, ein außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit stehendes Entscheidungsverfahren entwickelt worden (cognitio extra ordinem).70 Die so geschaffene Verfahrensart gewährte den Entscheidungsträgern – in der Regel „staatliche Funktionäre“ – einen weitreichenden Ermessensspielraum.71 Dies wohl auch deshalb, weil das Kognitionsverfahren in weiten Teilen von Formlosigkeit geprägt war.72 Auch der Umstand, dass das Kognitionsverfahren – im Gegensatz zum Legisaktionen- und Formularverfahren – „ein rein amtliches“ Verfahren war, führte zu prozessualen Veränderungen.73 So verlor insbesondere die litis contestatio stark an Bedeutung, da eine gemeinsame Unterwerfung der Parteien unter Gericht und Verfahren überflüssig wurde, wenn die Parteien ohnehin einer generellen, staatlichen Gerichtshoheit unterlagen.74 Die litis contestatio verlor zudem ihre Konsumptionswirkung75 und die Verhinderung einer erneuten Klage über denselben Streitgegenstand wurde infolgedessen allein durch die exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae bewerkstelligt.76 All dies verschob letztlich auch den Anknüpfungspunkt der Präklusionswirkung: Während im Legisaktions- und Formularverfahren an die – durch die litis contestatio eintretende77 – Rechtshängigkeit angeknüpft wurde, stellte die exceptio rei iudicatae unmittelbar auf das Urteil ab.78 Parallel zu diesen Veränderungen erhöhte sich innerhalb des Kognitionsprozesses auch die Bedeutung von Präjudizien, obwohl sich weiterhin keine ein68
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 380 f. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 436. 70 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 5. 71 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 5. 72 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 438: „Alles Kognitionsverfahren ist im wesentlichen vom Prinzip der Formlosigkeit beherrscht […]“. 73 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 442. 74 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 442, 490. 75 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 491. 76 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 499; Jörs/Kunkel, Römisches Privatrecht, S. 378; Liebs, ZRG Rom. 1969, 169, 169. 77 Im Kognitionsprozess verschob sich der Eintritt der Rechtshängigkeit i. S. e. Prozessbegründung wohl auf den Zeitpunkt, in dem der Beklagte das Vorbringen des Klägers vor dem Gerichtsherrn bestritt, vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 490. 78 Die exceptio rei in iudicium deductae musste freilich weiterhin an die Rechtshängigkeit anknüpfen, Liebs, Klagenkonkurrenz im römischen Recht, S. 218; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 499. 69
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Erster Teil: Grundlagen
heitliche Regelung herausbildete, welche die positiven Wirkungen von Urteilen regelte.79 Vom weiten Ermessensspielraum des Kognitionsrichters begünstigt, folgte die Annahme einer positiven Bindungswirkung der entschiedenen Sache (res iudicata) weiterhin Billigkeitserwägungen und ihr Anwendungsbereich blieb heterogen.80
4. Kognitionsverfahren – Nachklassische Periode Ab dem dritten Jahrhundert nach Christus bedingten politische Umbrüche den Niedergang der klassischen Jurisprudenz.81 Während die Verwaltungsreform Diokletians den Zivilprozess weitgehend unberührt ließ,82 erfuhr die Prozessordnung unter Konstantin weitere Veränderungen und wurde vor allem unter Justinian zum Gegenstand gesetzgeberischer Aktivitäten.83 Im Ergebnis verfestigte sich die „Staatlichkeit“ des Verfahrens und die Autorität der Gerichtsbarkeit weitete sich aus.84 Um die Mitte des vierten Jahrhunderts wurde das Formularverfahren, das schon zuvor weitgehend an Bedeutung verloren hatte, formell abgeschafft.85 Nichtsdestotrotz galt auch im nachklassischen Kognitionsverfahren weiterhin der Grundsatz fort, wonach der Inhalt eines bestehenden Urteiles nicht erneut anhängig gemacht werden konnte.86 Wie auch bereits im klassischen Kognitionsverfahren wurde dieses Prinzip durch die exceptio rei iudicatae verwirklicht.87 Überhaupt scheinen die bestehenden Regelungen innerhalb des Bereiches, den wir heute als Rechtskraftlehre bezeichnen, auch unter Justinian vergleichsweise wenige Veränderungen erfahren zu haben.88 Dies gilt wohl ebenso für die positiv-bindende Wirkung gerichtlicher Urteile89, wenngleich teilweise auch davon ausgegangen wird, der Umstand, dass Justinian den auf Ulpian zurückgehenden – zum Statusverfahren entwickelten – Text res iudicata 79 80
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 499 f. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 499 f.; Jörs/Kunkel, Römisches Privatrecht, S. 378 f. 81 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 12; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 5, 517. 82 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 518, die aber von einer Angleichung des „zu einem Amtsverfahren denegierten“ Formularprozesses einerseits und des Kognitionsprozesses andererseits ausgehen, S. 519. 83 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 519 ff.; Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 12 ff. 84 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 519 f. 85 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 436. 86 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 615. 87 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 615. 88 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 13; ebenso Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 616; dahingehend auch v. Bethmann-Hollweg, Römischer Civilprozeß, Bd. 3, S. 296. 89 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 616: „Im ganzen bleibt es mithin dabei, daß Justinian in diesem heiklen Fragenkreis keine Reform gewagt hat […].“
A. Historischer Überblick
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pro veritate accipitur innerhalb der Digesten90 unter dem Abschnitt de diversis regulis iuris antiqui aufführen ließ, bedeute eine Verallgemeinerung des Rechtssatzes.91 Eben jene, im Corpus Iuris Civilis enthaltenen Regeln zu Prozessrecht und Rechtskraft, bilden den Gegenstand weiterer Bearbeitungen und Entwicklungen während des Mittelalters und der Neuzeit.92
II. Mittelalter und Neuzeit Gegen Ende des elften Jahrhunderts nach Christus erlebte das römische Recht – insbesondere in Gestalt der im Corpus Iuris Civilis enthaltenen Regelungen – erneuten Aufschwung: Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten durchdrangen die Sammlung unter Anwendung neuer, der Theologie entlehnter Denkmethoden und unterzogen den Inhalt einer theoretischen und dogmatischen Neuordnung.93 Nachdem das Recht des Corpus Iuris Civilis zunächst innerhalb der romanischen Länder an Bedeutung gewonnen und das Entstehen einer „rechtswissenschaftliche[n] Hochkultur“ befördert hatte, wurde das römische Recht seit dem dreizehnten Jahrhundert nach Christus auch in Deutschland rezipiert.94 Im Verlauf der nachfolgenden Jahrhunderte beeinflusste das rezipierte römische Recht (sogenanntes ius commune, gemeines Recht) die bestehenden Landesrechte und fand mit diesen Eingang in die Gesetzgebungen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts.95 Auch die Rechtskraftlehre erfuhr während dieser Zeit tiefere dogmatische Durchdringung und infolgedessen weitere Entwicklung. Insgesamt scheint sich eine abstraktere Vorstellung des Begriffes res iudicata herausgebildet zu haben, die schließlich in Teilen zu einer Herauslösung aus dem Urteilsbegriff führte: Res iudicata wurde nicht mehr nur als Bezeichnung für eine „entschiedene Sache“, also als Urteil im weiteren Sinne verstanden, sondern ebenfalls als Begriff für die an das Urteil anknüpfende Ausschluss- und Bindungswirkung, entsprechend unserem heutigen Verständnis von Rechtskraft96.97 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich auch die Auffassung, die dem Urteil zukommende 90 Dig. 1, 5, 25 = 50, 17, 207. Vgl. hierzu auch Wacke, GS Mayer-Maly (2011), 489. 91 So Pugliese in Enciclopedia del Diritto, XVIII, Giudicato civile, S. 755 f.; vgl. hierzu
auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 14. 92 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 6 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 13. 93 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 27 ff.; vgl. zum Ganzen auch Pugliese in Enciclopedia del Diritto, XVIII, Giudicato civile, S. 762 ff. 94 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 29. 95 Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, § 1 Rn. 29 ff. 96 Ähnlich erscheint vor diesem Hintergrund die heute im französischen Recht geläufige Terminologie von chose jugée und autorité de la chose jugée, vgl. hierzu unten erster Teil, B. I. 2. 97 Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 206; vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 16 ff.
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Erster Teil: Grundlagen
Ausschluss- und Bindungswirkung trete nicht bereits mit dem Urteilsspruch, sondern vielmehr erst mit Unanfechtbarkeit ein.98 Während sich letztere Ansicht heute im deutschen Zivilprozessrecht verwirklicht sieht, orientiert sich das französische Zivilprozessrecht demgegenüber am Zeitpunkt des Urteilsspruches.99 Die seit jeher stärker bearbeitete Ausschlusswirkung der Rechtskraft wurde um theoretische Überlegungen zu deren Eintrittsvoraussetzungen erweitert.100 Insbesondere die Grundlinien der französischen Streitgegenstandslehre101 lassen sich bis heute auf damalige Überlegungen zurückführen.102 Für die Voraussetzungen der positiv bindenden Wirkung der Rechtskraft wurden zahlreiche Kategorien und Unterkategorien103 entwickelt, die in ihrer Gesamtheit jedoch weiterhin uneinheitlich und heterogen blieben und daher nicht zur Herausbildung allgemein gültiger Vorstellungen führten.104
III. Zusammenfassung Schon das Prozessrecht der altrömischen Periode enthielt den Grundsatz, dass über ein und denselben Streitgegenstand nur ein Prozess geführt und infolgedessen ein neues Verfahren mit identischem Streitgegenstand nicht begonnen werden durfte. Dieses Phänomen, das wir nach heutiger Terminologie mit dem Begriff der negativen Rechtskraftwirkung105 beziehungsweise dem effet négatif de l’autorité de la chose jugée106 beschreiben, ist bis heute eines der Grundprinzipien aller (europäischen) Prozessordnungen.107 Ungeachtet dieser Beständigkeit haben sich die konkreten Vorstellungen insbesondere vom Wesen und den Wirkungen der materiellen Rechtskraft innerhalb der nationalen Prozessrechte stetig fortentwickelt und präzisiert. Die Idee, ein Urteil müsse auch in seinem Inhalt verbindlich und daher in Verfahren mit anderem Streitgegenstand zugrunde zu legen sein, etablierte sich dagegen erst später und insbesondere die Frage nach dem Umfang der eintretenden positiven Bindungswirkungen wurde lange Zeit nicht einheitlich be98 So
Stapf, Rechtskraftlehre, S. 17 f. deutschen Recht vgl. unten erster Teil, B. III. 5. a); zum französischen Recht vgl. unten erster Teil, B. III. 5. b). 100 Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 208. 101 Vgl. hierzu unten zweiter Teil, B. III. 3. c). 102 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 18; ähnlich auch Stürner, FS Schütze (1999), 913, 914. 103 Vgl. hierzu ausführlich Buchka, Die Lehre vom Einfluß des Processes auf das materielle Rechtsverhältniß, Bd. 2, § 23, S. 168 ff. 104 Ebenso Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, S. 208; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 18. 105 Vgl. hierzu unten erster Teil, B. III. 7. a) aa). 106 Vgl. hierzu unten erster Teil, B. III. 7. b) aa). 107 Ebenso Stürner, FS Schütze (1999), 913, 913. 99 Zum
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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antwortet – ein Umstand, der möglicherweise bis heute in den kontroversen Diskussionen um positive Rechtskraftwirkungen und rechtskräftige Entscheidungselemente im deutschen,108 französischen109 und nun auch im europäischen Prozessrecht110 Niederschlag findet.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft im deutschen und französischen Zivilprozessrecht Auf der Suche nach Vorgaben für die vertikale Reichweite der materiellen Rechtskraft ist es erforderlich, das „Gesamtsystem Rechtskraft“ innerhalb der jeweiligen Rechtsordnungen zu beleuchten, um Aufschluss darüber zu erhalten, inwieweit das jeweilige Grundkonzept die Reichweite der materiellen Rechtskraft beeinflusst oder vorgibt. Im Folgenden soll daher ein Überblick über Grundlagen und Wirkungsweise der materiellen Rechtskraft innerhalb des deutschen und des französischen Zivilprozessrechts geschaffen werden. Nach begrifflichen Klarstellungen (I.) und einem kurzen Blick auf die formelle Rechtskraft/irrévocabilité (II.) sollen die Antworten, die deutsches und französisches Recht auf fundamentale Grundfragen ihrer Rechtskraftkonzeptionen geben, unmittelbar gegenübergestellt werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu identifizieren (III.). Es wird deutlich werden, dass sich französisches und deutsches Recht in einigen Bereichen zumindest im Ergebnis ähneln. Übereinstimmung lässt sich vor allem hinsichtlich der negativen Wirkungsrichtung der materiellen Rechtskraft konstatieren: Beide Rechtsordnungen kennen die Ausschlusswirkung der Rechtskraft bei identischem Streitgegenstand. In Anbetracht der positiven Rechtskraftwirkungen unterscheiden sich die Rechtsordnungen weniger im Hinblick auf deren grundsätzliche Existenz als vielmehr bezüglich deren dogmatischer Verankerung.
I. Begriff 1. Deutsches Recht Nach deutschem Verständnis bezeichnet der Begriff Rechtskraft sowohl die Unangreifbarkeit einer Gerichtsentscheidung (formelle Rechtskraft) als auch die inhaltliche Bindungswirkung einer Gerichtsentscheidung (materielle Rechtskraft).111 108
Vgl. hierzu unten dritter Teil, A.
111
Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 2, 11; Rosenberg/
109 Vgl. hierzu unten dritter Teil, B. 110 Vgl. hierzu unten zweiter Teil, B. III.
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Erster Teil: Grundlagen
2. Französisches Recht Obwohl oder vielleicht gerade weil die entscheidenden Vorschriften im Bereich der Rechtskraft seit 1804 unverändert geblieben sind, entwickelte sich eine umfassende Diskussion um zahlreiche Aspekte der Materie112 während der sowohl dogmatisch als auch begrifflich viele Änderungsvorschläge erarbeitet wurden, die sich teilweise zur herrschenden Meinung entwickeln konnten. Zahlreiche Unterschiede in Terminologie und Dogmatik bestehen jedoch bis heute fort.113 Diese Uneinheitlichkeit erschwert die Auseinandersetzung mit der Thematik und es scheint daher an dieser Stelle geboten, einige Grundbegriffe zu erläutern und zu ordnen. Der Begriff chose jugée meint zunächst einmal nur rechtskräftig entschiedene Sache.114 Auch das französische Recht unterscheidet sodann zwischen der Unangreifbarkeit einer Entscheidung – also dem, was im deutschen Recht als formelle Rechtskraft bezeichnet wird – und der inhaltlichen Verbindlichkeit einer Entscheidung – also dem, was im deutschen Recht unter materieller Rechtskraft verstanden wird.115 Französischer Begriff für materielle Rechtskraft ist autorité de la chose jugée;116 der Begriff für die Unangreifbarkeit der Entscheidung ist irrévocabilité de la chose jugée.117 Während des Zeitraums, in dem die Entscheidung nur noch mit außerordentlichen Rechtsmitteln, aber nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angefochten werden kann, kommt der Entscheidung die sogenannte force de chose jugée zu.118 Die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung wird force exécutoire genannt.119 Diese ist – wie im deutschen Recht auch120 – zwar Urteilswirkung, aber nicht originär Rechtskraftwirkung.121 Unter dem ebenfalls in diesem Zusammenhang aufkommenSchwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 1 ff.; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 1a. 112 Dies konstatiert auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 34. 113 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 39; bezeichnend auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 29 f.: „So wird zutreffend von der Lehre behauptet, dass ein klarer und deutlicher Begriff der französischen autorité de chose jugée aus keinem Zivilprozessrechts-(Kurz)Lehrbuch entnommen werden kann.“ 114 Doucet/Fleck, Dictionnaire juridique et économique, 6. Aufl., Bd. 1. 115 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 11 ff.; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 2; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 37, die jedoch darauf hinweist, dass eine Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rechtskraft dem französischen Recht fremd ist. 116 Doucet/Fleck, Dictionnaire juridique et économique, 6. Aufl., Bd. 1. 117 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 36; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 38. 118 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 36. 119 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33; Doucet/Fleck, Dictionnaire juridique et économique, 6. Aufl., Bd. 1. 120 Siehe unten erster Teil, B. III. 4. a) aa). 121 Vgl. Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1190; Aubry/Rau/ Esmein, Bd. 12, S. 371; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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den Begriff der efficacité substantielle du jugement122 ist die durch das Urteil eintretende Rechtsänderung zu verstehen.123 Obwohl das französische Recht keine der deutschen Dogmatik gleichende Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rechtskraft kennt,124 nimmt auch das französische Zivilprozessrecht eine Unterscheidung zwischen Unangreifbarkeit der Entscheidung (irrévocabilité) und inhaltlicher Geltung des Entscheidungsinhaltes (autorité de la chose jugée) vor.125 Wann immer im Folgenden lediglich von „Rechtskraft“ ohne nähere Bezeichnung die Rede sein wird, soll die materielle Rechtskraft – also l’autorité de la chose jugée – gemeint sein.
II. Formelle Rechtskraft 1. Deutsches Recht, § 705 ZPO Formelle Rechtskraft wird als die Unangreifbarkeit einer Entscheidung verstanden, mithin als der Zustand, ab dem eine Gerichtsentscheidung nicht mehr mit ordentlichen Rechtsbehelfen angegriffen und auch von höheren Instanzen nicht mehr überprüft oder aufgehoben werden kann.126,127 Die formelle Rechtskraft beendet den Rechtsstreit und schützt die Prozessbeteiligten vor einer ständigen Fortsetzung des Verfahrens.128 Sie trägt maßgeblich zu Rechtsfrieden und Rechtssicherheit bei.129 Die formelle Rechtskraft ist Voraussetzung für den Eintritt der materiellen Rechtskraft.130 § 705 ZPO regelt, dass die formelle Rechtskraft nicht vor Ablauf der für die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels131 oder des zulässigen Einspruchs be122
Siehe hierzu unten erster Teil, B. III. 4. b) bb). Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1150; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33 f. 124 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 37; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 35. 125 Vgl. hierzu Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 2; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 14. 126 Ausnahmen bilden außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Wiedereinsetzung nach § 233 ZPO und die Wiederaufnahmeklage, § 578 ZPO; vgl. Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 705, Rn. 6; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 4. 127 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 1,5; Zöller/Seibel, ZPO, 33. Aufl., § 705, Rn. 3; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 2; MüKo/Götz, ZPO, 5. Aufl., § 705, Rn. 1. 128 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 2; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 3; Zöller/Seibel, ZPO, 33. Aufl., § 705, Rn. 3. 129 Lüke, ZPR, 10. Aufl., Rn. 348. 130 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 6; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 3; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 13. 131 Rechtsmittel sind gegen Endurteile der ersten Instanz die Berufung (§ 511 ZPO); gegen Endurteile der Berufungsinstanz die Revision (§ 542 ZPO); außerdem die sofortige Beschwer123
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Erster Teil: Grundlagen
stimmten Frist eintritt. Anders formuliert: Sie tritt ein, wenn die Frist für die Einlegung statthafter Rechtsmittel abgelaufen ist.132 Sind von vornherein keine Rechtsmittel gegen die Entscheidung statthaft, tritt die formelle Rechtskraft mit Verkündung ein.133 Auch ein beiderseitig gegenüber dem Gericht erklärter Verzicht auf Rechtsmittel führt die formelle Rechtskraft herbei.134 Hierfür genügt jedoch weder ein einseitig erklärter Rechtsmittelverzicht135 noch der Verzicht auf den materiellen Anspruch.136 Der Eintritt der Rechtskraft wird durch die rechtzeitige Einlegung eines Rechtsmittels oder des Einspruchs gehemmt, § 705 Satz 2 ZPO. Eine Teilanfechtung hemmt den Eintritt der Rechtskraft für die gesamte Entscheidung.137 Der nicht angefochtene Teil der Entscheidung wird rechtskräftig, sobald die Einlegung weiterer Anschlussrechtsmittel nicht mehr möglich ist.138 War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, die Rechtsmittelfrist einzuhalten, kann sie nach § 233 ZPO die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen und die versäumte Prozesshandlung nachholen (§ 236 ZPO). Bei Erfolg wird die Fristversäumung geheilt und die Prozesshandlung gilt als rechtzeitig bewirkt.139 Der formellen Rechtskraft fähig sind Endurteile, welche einem ordentlichen Rechtsmittel oder befristeten Rechtsbehelf unterliegen.140 Ebenfalls in formelle Rechtskraft erwachsen selbstständig anfechtbare Zwischenurteile.141 Nicht selbstständig anfechtbare Zwischenurteile werden nicht isoliert formell rechtskräftig, sondern zusammen mit dem Urteil, dem sie zugrunde liegen.142 Über de (§ 567 ZPO) und die Rechtsbeschwerde (§ 574 ZPO). Vgl. hierzu etwa Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, 18. Aufl., §§ 134 ff.; für einen funktionalen Vergleich mit dem englischen Recht ausführlich Stürner, Anfechtung von Zivilurteilen, passim. 132 Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 6 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 151, Rn. 3 ff.; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 3, 7; Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 10. 133 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 9; Saenger/Kindl, ZPO, 8. Aufl., § 705, Rn. 5. 134 BGH NJW 1989, 170; BAG NJW 2008, 1610; Zöller/Seibel, ZPO, 33. Aufl., § 705, Rn. 9; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 6; Wieczorek/Schütze/ Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 13. 135 Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 7; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 705, Rn. 5; Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 13. 136 BGH NJW 1989, 170. 137 St. Rspr. RGZ 56, 31, 33 f.; BGHZ 7, 143, 144 = NJW 1952, 1295, 1295; BGH NJW 1992, 2296, 2296; BGH NJW 1994, 2896, 2897; Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 14 m. w. Nachw.; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 10; Musielak/ Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 705, Rn. 7. 138 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 14 m. w. Nachw.; Thomas/ Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 10; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 705, Rn. 7. 139 MüKo/Stackmann, ZPO, 6. Aufl., § 233, Rn. 4. 140 MüKo/Götz, ZPO, 5. Aufl., § 705, Rn. 2; BeckOK ZPO/Ulrici, 37. Ed., § 705, Rn. 1. 141 BeckOK ZPO/Ulrici, 37. Ed., § 705, Rn. 1. 142 MüKo/Götz, ZPO, 5. Aufl., § 705, Rn. 2; Saenger/Kindl, ZPO, 8. Aufl., § 705, Rn. 2; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 151, Rn. 1.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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den Wortlaut von § 705 ZPO („[…] Rechtskraft der Urteile“) hinaus können auch Beschlüsse in formelle Rechtskraft erwachsen.143 Durch die stattgebende Entscheidung über die Wiedereinsetzung gemäß § 233 ZPO sowie durch eine Wiederaufnahme gemäß § 578 ZPO wird die formelle Rechtskraft durchbrochen.144 Auch die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung wegen schwerwiegender Verfassungsverstöße beseitigt die formelle Rechtskraft.145 Im Hinblick auf die Rechtssicherheit und das Vertrauen in den Bestand des Urteiles sind die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beseitigung der Rechtskraft jedoch sehr hoch.146 So kommt etwa die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 578 ZPO auch nur durch Nichtigkeits- oder Restitutionsklage und damit unter Beschränkung auf die in § 579 ZPO und § 580 ZPO aufgeführten Gründe in Betracht.147 Die dortigen Anfechtungsgründe setzen eine derart gravierende Verletzung des Rechts voraus, dass der betroffenen Partei nicht zugemutet werden kann, das Urteil hinzunehmen und eine Durchbrechung der Rechtskraft ausnahmsweise gerechtfertigt erscheint.148 Die materiellrechtliche Unrichtigkeit der Entscheidung allein reicht hierfür jedoch nicht aus.149
2. Französisches Recht – Irrévocabilité Die Unabänderlichkeit (irrévocabilité) einer Gerichtsentscheidung tritt – wie im deutschen Recht auch – ein, wenn kein Rechtsmittel150 (voie de recours) mehr gegen die Entscheidung eingelegt werden kann.151 Dieses Rechtsinstitut ist daher mit der formellen Rechtskraft des deutschen Zivilprozessrechts vergleichbar.152 143 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 151, Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 4 m. w. Nachw. 144 Außerdem durch erfolgreiche Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO und Klagen nach §§ 323, 324, 654 ZPO, vgl. Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 705, Rn. 4; Musielak/Voit/ Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 578, Rn. 1. 145 Wieczorek/Schütze/Hess, ZPO Bd. 8, 4. Aufl., § 705, Rn. 16. 146 Vgl. auch Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 578, Rn. 1. 147 Vgl. hierzu auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 160, Rn. 1 ff. 148 MüKo/Braun, ZPO, 5. Aufl., Vorbem. zu § 578, Rn. 2; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 580, Rn. 1. 149 Vgl. hierzu auch MüKo/Braun, ZPO, 5. Aufl., Vorbem. zu § 578, Rn. 8 f. 150 Rechtsmittel sind gegen Urteile der ersten Instanz das appel (Art. 542 ff. CPC) und gegen Urteile der letzten Instanz der pourvoi en cassation (Art. 604 ff. CPC). Vgl. hierzu etwa Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1225 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 784 ff.; Wiederkehr, RID comp. 1989, numéro spécial, vol. 11, S. 225; in deutscher Sprache Sonnenberger/Classen/Ferrand, n° 207. 151 Vgl. hierzu ausführlich Bouty, Irrévocabilité, n° 300 ff.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 11. 152 Ebenso Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 36: „Dieser Begriff entspricht der formellen Rechtskraft des deutschen Rechts.“; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 2; anders offenbar Stapf, Rechtskraftlehre, S. 39, welche davon ausgeht die force de la
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Erster Teil: Grundlagen
Deutlich verschieden sind jedoch die mit der Unangreifbarkeit einhergehenden Wirkungen: Nach deutschem Verständnis ist die formelle Rechtskraft Voraussetzung für den Eintritt der materiellen Rechtskraft.153 Umgekehrt formuliert bedingt die formelle Unangreifbarkeit also gleichzeitig die materielle Geltung des Entscheidungsinhaltes. Im französischen Recht wirkt sich das Eintreten der irrévocabilité – anders als etwa auch im österreichischen und italienischen Recht154 – jedoch nicht auf den Eintritt der autorité de la chose jugée aus.155 Die materielle Rechtskraft tritt im französischen Recht vielmehr schon vor der Unanfechtbarkeit ein.156 Während die materielle Rechtskraft nach französischem Verständnis den Beginn eines neuen Prozesses über denselben Streitgegenstand verhindern soll, zielt die Unabänderlichkeit darauf ab, den geführten Prozess wirksam und endgültig zu beenden.157 „[…] on distingue l’impossibilité de continuer le procès [irrévocabilité de la chose jugée] de l’impossibilité de le recommencer [autorité de la chose jugée]“.158 Nichtsdestotrotz dient auch die irrévocabilité letztlich denselben Zielen wie die autorité de la chose jugée, namentlich Rechtssicherheit und Rechtsverlässlichkeit.159
III. Materielle Rechtskraft Materielle Rechtskraft in Deutschland und autorité de la chose jugée in Frankreich unterscheiden sich an vielen Stellen erheblich. Eine weitgehende Übereinstimmung der beiden Systeme lässt sich nur in wenigen Punkten konstatieren: Lediglich subjektive Reichweite und Zweck der materiellen Rechtskraft sowie die Frage, welche Entscheidungen in Rechtskraft erwachsen, werden in weiten Teilen zumindest ähnlich beurteilt.160 chose jugée würde der formellen Rechtskraft „am nächsten kommen“; so auch di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 94 Fn. 52. 153 Siehe unten erster Teil, B. III. 5. a). 154 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 534. 155 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 39; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 35. 156 Siehe hierzu unten erster Teil, B. III. 5. b). 157 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 12; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 38 bezeichnet die Wirkung der irrévocabilité als „nach innen“ und die Wirkung der autorité de la chose jugée demgegenüber als „nach außen“ gerichtet. 158 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 13. 159 So auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 12. 160 Zum Vergleich der Rechtsordnungen innerhalb der – inzwischen ebenfalls ähnlich behandelten – Frage nach einer isolierten Rechtskraft von Urteilsgründen, siehe unten dritter Teil, A. (Deutschland), B. (Frankreich), C. (weitere Mitgliedstaaten der EU).
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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So entsprechen sich die mit der materiellen Rechtskraft innerhalb beider Rechtsordnungen verfolgten Ziele bei abweichender Konnotation verschiedener Aspekte im Wesentlichen (2.). Das Institut der materiellen Rechtskraft soll Rechtssicherheit schaffen, indem der jeweilige Streit beendet und dessen rechtlicher Ausgang verbindlich werden. Zusätzlich zu dieser generellen und eher rechtspolitischen Bedeutung dient die materielle Rechtskraft den streitenden Parteien, indem sie deren subjektive Rechte sichert. Gerade die Bedeutung der autorité de la chose jugée als Instrument zur Durchsetzung individueller Rechte scheint in der französischen Doktrin stärkere Betonung zu erfahren als im deutschen Recht. Dies zeigt sich nicht zuletzt innerhalb der Regelungen zur Berücksichtigung der Rechtskraft im Prozess und in den unterschiedlichen Antworten, die die jeweiligen Rechtsordnungen auf die Frage finden, ob die streitenden Parteien über die Rechtskraft disponieren können oder nicht (9.). In beiden Rechtsordnungen ist die materielle Rechtskraft grundsätzlich auf die Streitparteien beschränkt und wirkt nur in Ausnahmefällen gegenüber Dritten (8.). Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland erwachsen grundsätzlich nur Gerichtsentscheidungen in Rechtskraft und hier wie dort sind sowohl Sachals auch Prozessurteile der materiellen Rechtskraft fähig (6.). Die Unterschiede zwischen den Systemen beginnen dagegen schon beim Aufbau der jeweils maßgeblichen Norm und deren Stellung im Gesetz (1.): Die Norm zur materiellen Rechtskraft findet sich im deutschen Recht innerhalb der Zivilprozessordnung, während die maßgeblichen Vorschriften zur autorité de la chose jugée im französischen Recht nicht im Code de procédure civile (CPC), sondern im Code civil (CC) geregelt sind. § 322 ZPO macht keine Aussagen zu den Voraussetzungen für das Eingreifen der materiellen Rechtskraft. Demgegenüber grenzt Art. 1355 CC die Anforderungen für das Vorliegen von Streitgegenstandsidentität anhand dreier Aspekte ein (sogenannte triple identité).161 Noch deutlicher wird die Verschiedenheit zwischen der materiellen Rechtskraft in Deutschland und der autorité de la chose jugée in Frankreich im Rahmen der jeweiligen Erklärungsansätze zu Natur und Wesen des jeweiligen Instituts (3.). Während die materielle Rechtskraft in Deutschland seit langer Zeit nahezu unbestritten als Institut des Prozessrechtes angesehen wird, herrschte in Frankreich lange Zeit ein anderes Verständnis vor: Die Rechtskraft wurde – und wird teilweise bis heute – materiellrechtlich verstanden. Erst in der jüngeren Vergangenheit wurde diese Sichtweise zunehmend kritisiert und neue, stärker an der prozessrechtlichen Wirkung der autorité de la chose jugée ausgerichtete Begründungsvorschläge entwickelt. Zwar werden die von der materiellen Rechtskraft ausgehenden Wirkungen in beiden Ländern in positive und negative Rechtskraftwirkungen eingeteilt. In161 Zum Verständnis vom Streitgegenstandsbegriff in den beiden Rechtsordnungen siehe unten zweiter Teil, B. III. 3. a) (deutsches Recht) und c) (französisches Recht).
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Erster Teil: Grundlagen
nerhalb der französischen Rechtskraftlehre ist insbesondere die zutreffende Begründung der positiven Bindungswirkung jedoch deutlich umstrittener als im deutschen Recht (7.).
1. Grundlagen a) Deutsches Recht – § 322 ZPO Von der formellen Rechtskraft streng zu trennen ist die hier interessierende materielle Rechtskraft. Während die formelle Rechtskraft der Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung entgegenwirkt, soll die materielle Rechtskraft eine erneute – widersprechende – Entscheidung über denselben Streitstoff verhindern.162 Die formelle Rechtskraft wirkt also primär auf die Unabänderlichkeit in demselben Verfahren, während sich das in der materiellen Rechtskraft enthaltene Verbot einer erneuten Entscheidung über denselben Streitgegenstand an den Richter eines späteren Prozesses richtet.163 Gesetzlicher Ausgangspunkt der materiellen Rechtskraft ist § 322 Abs. 1 ZPO: „Urteile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage oder durch die Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist.“
b) Französisches Recht – Art. 1355 CC „L’autorité de la chose jugée n’a lieu qu’à l’égard de ce qui a fait l’objet du jugement. Il faut que la chose demandée soit la même; que la demande soit fondée sur la même cause; que la demande soit entre les mêmes parties, et formée par elles et contre elles en la même qualité.“
Diese Formulierung in Art. 1355 des Code civil bildet die rechtliche Grundlage der Rechtskraftlehre innerhalb des französischen Zivilrechts.164 Aus deutscher Sicht interessant, befindet sich diese Vorschrift nicht etwa im Code de procédure civile, sondern im – mit dem Vertragsrecht des BGB vergleichbaren165 – dritten Buch des Code civil.166 Dies erklärt sich unter anderem vor dem Hintergrund, dass der Code civil – zumindest im Vergleich zum knapp 100 Jahre jüngeren BGB – weniger systematisch und mehr den praktischen Bedürfnissen und Vorstellungen der damaligen Zeit entsprechend aufgebaut ist.167 Diesen Umstand hatte auch die umfassende Reform im Jahr 2016 des im Wesentlichen seit der Entstehung 1804 unveränderten Schuldrechtes im 162 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 2; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 2, 4; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn 1. 163 Brox, JuS 1962, 121, 122. 164 So Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 608. 165 Sonnenberger/Classen/Sonnenberger, Nr. 88. 166 Bis zur Schuldrechtsreform 2016 befand sich die wortgleiche Regelung in Art. 1351 CC. 167 So Sonnenberger/Classen/Sonnenberger, Nr. 88.
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Blick.168 Im Zuge der Modernisierung wurde der neue Abschnitt dispositions générales im Titel de la preuve des obligations eingefügt und das Beweismittelrecht grundsätzlich überarbeitet.169 In dem neu eingefügten Titel sollten generelle Regeln zu Beweisen gebündelt werden.170 Er gliedert sich in drei Kapitel: Ein allgemeines Kapitel (dispositions générales) und zwei speziellere Kapitel (l’admissibilité des modes de preuve und les différents modes de preuve). Innerhalb des ersten Kapitels findet sich nun auch Art. 1355 CC, welcher inhaltlich mit der Vorgängervorschrift Art. 1351 CC a. F. jedoch identisch geblieben ist.171 Auf den ersten Blick erscheint die Regelung dem deutschen § 322 ZPO sehr nahe. Ob sich dieser Eindruck bei genauerer Betrachtung jedoch aufrechterhält, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Gemein haben beide Regime jedenfalls, dass sie dieselben Fragen aufwerfen beziehungsweise zu beantworten haben. So schreibt Bouty: „Les questions qui ont trait à l’autorité de la chose jugée […] sont les suivantes: quelle est le fondement de l’autorité de la chose jugée? […] Quels sont les actes qui bénéficient de l’autorité de la chose jugée? […] Quelles sont les parties du jugement qui sont dotées de l’autorité de la chose jugée? […] À quel moment la décision bénéficie-t-elle de l’autorité de la chose jugée? […] Et enfin, quels sont les effets de l’autorité de la chose jugée?“.172
2. Zweck der materiellen Rechtskraft im deutschen und französischen Recht Wie die von der materiellen Rechtskraft aufgeworfenen Fragen, so ähneln sich auch die von der Rechtskraft verfolgten Ziele innerhalb beider Rechtsordnungen im Wesentlichen.173 Die Verhinderung von erneuten Prozessen über ein und dieselbe rechtliche Frage zwischen denselben Parteien dient mehreren Aspekten gleichzeitig. Im Verhältnis zwischen den Parteien wirkt sich die Rechtskraft freilich sehr unmittelbar aus. Für beide Parteien gleichermaßen beendet sie den Streit und schafft damit ein klares Verhältnis.174 Für die obsiegende Partei ist die Bedeutung der Rechtskraft offensichtlich: Sie sichert deren subjektive Rechte und verhindert weitere prozessuale Gegenmaßnahmen der unterlegenen Partei.175 Die Rechtskraft führt die Maßgeblichkeit des Inhaltes der Gerichtsentschei168 Ordonnance n° 2016-131 du 10 février 2016 portant réforme du droit des contrats, du régime général et de la preuve des obligations; vgl. hierzu Klein, RIW 2016, 328, 330. 169 Vgl. hierzu Dissaux/Jamin, Réforme, S. 236 f.; Klein, RIW 2016, 328, 330. 170 Dissaux/Jamin, Réforme, S. 233 f. 171 Vgl. Art. 1351 CC der Fassung bis Oktober 2016. 172 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 299. 173 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 108; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 42. 174 Für das deutsche Recht vgl. etwa Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 27; für das französische Recht vgl. etwa Normand, RTD civ. 1995, 177, 177. 175 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 5; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 29.
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dung herbei, indem sie die Parteien bindet und eine neue Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge ausschließt.176 Auf den ersten Blick möglicherweise nicht selbstverständlich dient die Rechtskraft jedoch auch der unterlegenen Partei: Nach dem Eintritt der materiellen Rechtskraft ist für die unterlegene Partei klar, dass sie keine weiteren Anstrengungen oder Kosten mehr aufwenden muss, da die Entscheidung nun feststeht und nicht mehr zu ändern ist. Insofern besteht das Ziel des Schutzes vor einer ständigen Fortsetzung des Prozesses nicht allein in der Sicherung des der obsiegenden Partei Zugesprochenen, sondern gleichfalls im (wirtschaftlichen) Interesse der unterlegenen Partei.177 Die materielle Rechtskraft dient also zunächst dem individuellen Interesse der streitenden Parteien an wirkungsvollem und endgültigem Rechtsschutz.178 Darüber hinaus dient die Rechtskraft jedoch auch übergeordneten, rechtspolitischen Zielen.179 Die Ziele der materiellen Rechtskraft decken sich in vielen Teilen mit den grundsätzlichen Zwecken des Zivilprozesses.180 Unter diesen sind das schon oben deutlich gewordene Ziel von Sicherung und Durchsetzung subjektiver Rechte ebenso zu nennen wie die Herstellung von Rechtsgewissheit und die Wahrung des Rechtsfriedens.181 Nach französischem Verständnis dient die materielle Rechtskraft zusätzlich dem Erhalt des sozialen Friedens (paix sociale)182.183 Insbesondere die Rechtsgewissheit wird durch die materielle Rechtskraft gefördert. Indem die materielle Rechtskraft den Inhalt einer Entscheidung für verbindlich und unabänderlich erklärt, schafft sie eindeutige Gewissheit über die Rechtslage. Die Bedeutung, welche die Rechtskraft für die Rechtssicherheit spielt, wird umso klarer, wenn man bedenkt, dass auch unrichtige Sachurteile in Rechtskraft erwachsen und damit für den Bereich materiell unrichtiger Urteile die Rechtsklarheit über die Rechtsrichtigkeit des Urteils gestellt wird.184 Durch 176 Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 8; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 11 f. 177 Für das französische Recht, Normand, RTD civ. 1995, 177, 177. 178 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 29. 179 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 29. 180 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 27. 181 Vgl. zum Ganzen Gaul, AcP 1968, 27; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 27; Stein/Jonas/Brehm, ZPO Bd. 1, 23. Aufl., vor § 1 Rn. 5 ff.; MüKo/Rauscher, ZPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 8 ff. 182 So Tomasin, Chose jugée, n° 311; Dintilhac, Rapport Annuel 2004, 49; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1160 f. 183 So mit unterschiedlicher Bewertung auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 108 f. und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 42 f. 184 So auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 2; zur Auseinandersetzung mit unrichtigen Sachurteilen im Zivilprozess s. auch Sax, ZZP 1954, 21; für das französische Recht vgl. Dintilhac, Rapport Annuel 2004, 49; Fricero/Julien, n° 761; Chainais/ Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1162; vgl. auch Cass. Civ. 1re, 22 juill. 1986, n° 83-13359 = Bull. Civ. 1986 I, n° 225: „[…] la Cour d’appel, loin d’avoir méconnu l’autorité
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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die Feststellung subjektiver Rechte und die Klarstellung der Rechtslage dient die materielle Rechtskraft mittelbar auch dem Rechtsfrieden.185 In der französischen Lehre wird in diesem Zusammenhang auch die Wahrung des Respekts vor einer funktionierenden Rechtsprechung186 und das Ansehen der Justiz187 betont.188 Abgesehen von den bisher genannten allgemeinen Zwecken der Rechtskraft ist die Rechtskraft auch ökonomisch sinnvoll, da sie verhindert, dass Gerichte im Rahmen desselben Streitgegenstandes mehrfach in Anspruch genommen werden.189
3. Natur und Wesen Die Frage nach dem Wesen der materiellen Rechtskraft wurde innerhalb beider Rechtsordnungen intensiv diskutiert. Infolgedessen wurden verschiedene Lösungsansätze entwickelt, die sich grob danach unterscheiden, ob die Rechtskraft materieller oder prozessualer Natur ist.190 Im deutschen Recht wurde ein materielles Verständnis der Rechtskraft früh abgelegt und so herrscht191 heute die prozessuale Rechtskrafttheorie vor. Innerhalb der französischen Rechtswissenschaft wurde die Rechtskraft demgegenüber lange Zeit materiell verstanden.192 Inzwischen scheint diese Auffassung jedoch durch eine modernere Konzeption abgelöst worden zu sein.193
de la chose jugée, a fait une exacte application de ce principe qui est général et absolu et qui s’attache même aux décisions erronées […]“. 185 MüKo/Rauscher, ZPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 9; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 12; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl. Rn. 5 bezeichnet die Herstellung des Rechtsfriedens hingegen nicht als Zweck, sondern lediglich als Folge richterlicher Tätigkeit. 186 So Guillien, L’acte juridictionnel, S. 258; anders Tomasin, Chose jugée, n° 31. 187 Beudant, Cours de droit civil français, t. IX, n° 1337: „S’il était permis aux plaideurs de discuter à nouveau ce qui a été jugé […], la majesté de la justice ne serait plus qu’un vain mot.“ 188 Vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 43 und Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 109. 189 Für das deutsche Recht, Wieczorek/ Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 12; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 29; für das französische Recht, Dintilhac, Rapport Annuel 2004, 49; Normand, RTD civ. 1995, 177, 177. 190 Zur Geschichte der Rechtskraft seit Savigny siehe Gaul, FS Flume (1978), 443 m. w. Nachw. 191 Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 32; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 7; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 5; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 17; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 6; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 9. 192 Vgl. dazu sogl. unten erster Teil, B. III. 3. b). 193 Vgl. Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 300; so auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 45.
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Erster Teil: Grundlagen
Da sich aus dem Wesen der materiellen Rechtskraft allerdings keine Konsequenzen für deren Grenzen ableiten lassen,194 soll an dieser Stelle lediglich ein knapper Überblick über die verschiedenen Erklärungsansätze gegeben werden.
a) Deutsches Recht aa) Materielle Rechtskrafttheorie Der materiellen Rechtskrafttheorie zufolge gestaltet ein Urteil die Rechtslage im Verhältnis zwischen den Parteien neu.195 Demnach bestätigen richtige Urteile die bisherige Rechtslage, während unrichtige Urteile das aberkannte Recht zum Erlöschen und das zuerkannte Recht zum Entstehen bringen.196 Gegen eine solche Erklärung der Rechtskraft wird zunächst eingewandt, dass sich – zumindest nach kontinentaleuropäischer Vorstellung197 – die Aufgabe des Gerichts darauf beschränkt, Recht zu erkennen und grundsätzlich198 nicht darin besteht, Recht zu schaffen oder die Rechtslage zu gestalten.199 Zudem hat die materielle Rechtskrafttheorie Schwierigkeiten, eine absolute Wirkung von Rechten – wie zum Beispiel des Eigentums – zu erklären, da die materielle Rechtskraft nach § 325 ZPO nur zwischen den Prozessparteien wirkt.200 Richtigerweise ist ein Einwirken auf die materielle Rechtslage auch gar nicht erforderlich, um die Ziele der materiellen Rechtskraft zu erreichen, da es ausreichend ist, eine erneute Entscheidung in derselben Sache auszuschließen.201 Aus diesen Gründen ist die materielle Rechtskrafttheorie daher letztlich abzulehnen. Nach einer moderneren Variante der materiellen Rechtskrafttheorie begründe ein rechtskräftiges Urteil eine unwiderlegliche Vermutung für dessen Richtigkeit und das Bestehen der darin erkannten Rechte.202 194 Brox, JuS 1962, 121, 122, 124; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 13; Stein/ Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 24 m. zahlr. w. Nachw. 195 Darstellend Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 29 ff. m. w. Nachw.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 3 f.; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 5. 196 Darstellend Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 29; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 3; Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 1038. 197 Anders etwa im common law, vgl. zur Bedeutung des case law etwa v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 9 f. und unten dritter Teil, C. III. 198 Ausgenommen sind freilich Gestaltungsurteile, vgl. auch Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 18. 199 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 4; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 30; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 7; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 18. 200 Lüke, ZPR, 10. Aufl., Rn. 358; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 30. 201 So Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 4. 202 So Pohle, GS Calamandrei (1985), 377, 388 ff.; darstellend Rosenberg/Schwab/Gott-
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bb) Prozessuale Rechtskrafttheorie Nach der prozessualen Rechtskrafttheorie wirkt das Urteil nicht auf die materielle Rechtslage ein, sondern erkennt diese nur.203 Das rechtskräftige Urteil des Erstprozesses soll das Gericht im Zweitprozess gleichwohl binden.204 Zur Erklärung dieser Bindungswirkung existieren zweierlei Ansätze: Der Bindungstheorie zufolge soll dem Richter eine abweichende Entscheidung verboten sein, während eine identische Entscheidung – bei gegebenem Rechtschutzbedürfnis – möglich sei.205 Da demzufolge lediglich eine widersprechende und nicht generell eine wiederholende Entscheidung ausgeschlossen wird, stellt die materielle Rechtskraft nach der Bindungstheorie kein Prozesshindernis dar.206 Demgegenüber führt die materielle Rechtskraft nach der ne bis in idem-Lehre zur Unzulässigkeit einer erneuten Klage über den identischen Streitgegenstand.207 Hiernach ist jede erneute, also auch eine wiederholende, Entscheidung über den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand unzulässig und die materielle Rechtskraft wirkt nach der ne bis in idem-Lehre als negative Prozessvoraussetzung innerhalb der Zulässigkeit einer erneuten Klage.208 Das Gericht ist verpflichtet, von Amts wegen zu prüfen, ob über den bei ihm anhängigen Streitgegenstand bereits eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist.209 Liegt eine solche vor, ist die Klage von Amts wegen durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen.210 Der Grundsatz der Amtsprüfung darf jedoch nicht mit dem Untersuchungsgrundsatz verwechselt werden: Im Rahmen der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung beschränkt sich das Gericht darauf, den von den Parteien beigebrachten Prozessstoff zu bewerten und nimmt grundsätzlich keine Ermittlung weiterer Tatsachen vor.211 wald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 4; dahingehend auch die Auffassung in Frankreich lange Zeit, vgl. hierzu unten erster Teil, B. III. 3. b) aa). 203 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 6, 9. 204 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 5; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 32. 205 Stein, Über die bindende Kraft der richterlichen Entscheidungen, S. 5 f.; Hellwig, Wesen und subjektive Begrenzung der Rechtskraft, S. 12, 18; darstellend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 19; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 10. 206 Darstellend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 19; ablehnend Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 12. 207 Statt vieler Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 20; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 10 f.; BGHZ 34, 337, 337 = NJW 1961, 917; BGHZ 35, 338, 340 = NJW 1961, 1969; BGHZ 36, 365, 367 = NJW 1962, 1109. 208 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 20; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 11. 209 Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 13; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 9. 210 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 40; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 50. 211 Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 215; vgl. zum Unterschied zwischen Verhandlungsund Untersuchungsgrundsatz Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl. Rn. 37 ff.
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Erster Teil: Grundlagen
Der Ausschluss jeglicher neuen Verhandlung oder Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge macht die Rechtsfolge unangreifbar und stellt die Bindungswirkung her.212 Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur folgt heute der ne bis in idem-Lehre.213
b) Französisches Recht aa) La conception classique – présomption de vérité Nach historischer und lange Zeit herrschender Ansicht begründet ein rechtskräftiges Urteil eine unwiderlegliche Vermutung für dessen Richtigkeit (présomption de vérité = wörtl. Vermutung der Wahrheit) und das Bestehen der vom Gericht erkannten Rechte.214 Die Vermutung befreit den Begünstigten von der Pflicht, das Entschiedene erneut zu beweisen und beinhaltet gleichzeitig ein absolutes Verbot für den Unterlegenen, einen Gegenbeweis zu führen.215 Diese Auffassung geht auf den römisch-rechtlichen Grundsatz „res iudicata pro veri tate accipitur“ zurück.216 Bezugnehmend auf die zum deutschen Recht dargestellten Kategorien der materiellrechtlichen und prozessualen Rechtskrafttheorien, lässt sich das klassische Verständnis der autorité de la chose jugée in Frankreich als eine Variante der materiellrechtlichen Rechtskrafttheorien begreifen und die autorité de la chose jugée damit als Institut des materiellen Rechts.217 Dies wurde auch auf 212
Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 20. St. Rspr. BGHZ 34, 337 = NJW 1961, 917, 917; BGHZ 93, 287, 288 f. = BGH NJW 1985, 1711, 1712; BGHZ 157, 47, 50 = NJW 2004, 1252, 1253; BGHZ 198, 294, 297 f., Rn. 13 = NJW 2014, 314, 314; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 9 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 5, 9; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 7; Prütting/ Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 3, 14; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 12; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 20 m. zahlr. w. Nachw. 214 So Demolombe, Traité des contrats, t. 7, n° 279: „Présomption en effet, irréfragable, comme la vérité même!“; Pothier, Traité des obligations, t. 2, S. 282 ff.; Laurent, Principes, t. 20, n° 1; Dumora, Les présomptions, S. 59; Roland, Chose jugée et tierce opposition, n° 50; darstellend Vincent/Guinchard, n° 172; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 301 ff.; Habscheid, FS Schnitzer (1979), 179, 181; ders., FS Nakamura (1996), 203, 210; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 106 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 45 ff.; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 11. 215 Darstellend Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1157; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 45. 216 Dig. 1, 5, 25 = 50, 17, 207. Hierzu bereits oben erster Teil, A. I. 4.; vgl. allgemein etwa Wacke, GS Mayer-Maly (2011), 489; Hanard, Cahier n° 4 – L’autorité de la chose jugée, S. 15; zur Bedeutung dieses Grundsatzes im common law, vgl. Walters, Cahier n° 4 – L’autorité de la chose jugée, S. 63. 217 Habscheid, FS Schnitzer (1979), 179, 181, welcher auch darauf hinweist, dass die materiellrechtliche Theorie in ihrer weitreichendsten Form, wonach das Urteil neues Recht schaffe, jedoch auch in Frankreich nicht mehr ernsthaft vertreten wird; ders., FS Nakamura (1996), 203, 210; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 106 f.; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 11. 213
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die Stellung des Art. 1351 CC a. F. innerhalb der Beweisregeln gestützt.218 So konnte diese Auffassung bis zur Überarbeitung des Beweismittelrechts 2016 auf den Umstand gestützt werden, dass Art. 1351 CC a. F. im Abschnitt über die Vermutungen (Section III – Des présomptions) zu finden war und Art. 1350 CC a. F. die autorité de la chose jugée als eine gesetzliche Vermutung (présomption legale) einordnete.219 Im Zuge der Reform wurde Art. 1350 CC a. F. jedoch getilgt und die zuvor hier enthaltenen Regelbeispiele tauchen nicht mehr auf.220 Dass sich die entscheidende Rechtskraftnorm Art. 1355 CC allerdings auch nach der Reform noch innerhalb des Beweismittelrechts befindet, wird insofern kritisiert.221 Doch auch schon weit vor den eben angesprochenen Gesetzesänderungen wurde die Theorie, wonach die materielle Rechtskraft eine unwiderlegliche Vermutung der Wahrheit begründe, innerhalb der französischen Wissenschaft scharf kritisiert.222 Das klassische Verständnis der Rechtskraft als Institut des materiellen Rechts basiere auf einer Fehlinterpretation des Grundsatzes „res iudicata pro veritate accipitur“.223 In der entsprechenden Digestenstelle äußere sich Ulpian nämlich (nur) zu einem Sonderfall, welcher dann jedoch generalisiert worden sei.224 Ebenso seien unterschiedliche Urteilsformen und Wirkungsweisen unscharf getrennt und schließlich im oben genannten Grundsatz vermischt worden.225 Nachdem die Theorie der présomption de vérité nur durch die Arbeiten von Domat226 vor der Vergessenheit bewahrt worden sei, habe sich im Code civil letztlich eine Mindermeinung durchgesetzt.227 218 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 4. 219 Vgl. Art. 1350 CC in der Fassung bis Oktober 2016: „La présomption légale est celle qui est attachée par une loi spéciale à certains actes ou à certains faits; tels sont: […] L’autorité que la loi attribue à la chose jugée.“ 220 Vgl. hierzu auch Dissaux/Jamin, Réforme, S. 237 f.; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 31. 221 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 32 („methodologisch nicht vertretbar“). 222 Siehe hierzu vor allem Tomasin, Chose jugée, n° 324 ff. und Foyer, Chose jugée; kritisch auch Beudant, Cours de droit civil français, t. IX, n° 1337; Chainais/Ferrand/Mayer/ Guinchard, Procédure civile, n° 1159. 223 Tomasin, Chose jugée, n° 328: „[…] la thèse adopté par l’article 1350 C. Civ. paraît être fondée sur une véritable erreur d’interprétation de l’institution romaine […].“; Bléry, Procédures août-sept. 2007, 6, 11. 224 So Tomasin, Chose jugée, n° 328 und auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 303 spricht von einem „contexte bien particulier“; vgl. zum Ganzen auch Mayer, Mélanges Héron (2008), 331, 336. 225 So Tomasin, Chose jugée, n° 327; ebenso Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 303. 226 Domat, Les Loix Civiles, t. 1, 1er Partie, Livre III, Titre VI, Section IV, n° V (S. 217): „[…] les Loix veulent qu’une chose jugée passe pour vérité.“ und 1er Partie, Livre III, Titre VI, Section I, n°XI (S. 211): „Les choses jugées tiennent lieu de la vérité […].“, beides Mal unter Verweis auf Ulpian (res judicata pro veritate accipitur). 227 So Tomasin, Chose jugée, n° 327: „[…] l’idée serait sans aucun doute oubliée si Domat […] ne lui avait donné un regain de vigueur.“
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Erster Teil: Grundlagen
Darüber hinaus sei auch die logische Substanz der Verknüpfung zwischen Rechtskraft und Wahrheit sowie die Einordnung als Beweisregel fraglich.228 Dies schon deshalb, weil Zivilprozesse nicht die Wahrheitsfindung zum Ziel hätten und das Ergebnis eines solchen Prozesses infolgedessen nicht „Wahrheit“ sein müsse.229 Das rechtskräftige Urteil sei nicht die „echte Wahrheit“, sondern werde vom Volk „als Ersatz für die Wahrheit“ akzeptiert.230 Daher handele es sich weniger um eine Vermutung, sondern vielmehr um eine Fiktion.231 Gegen das Verständnis der Rechtskraft als Beweisregel spreche auch, dass sie dann strenggenommen auch nur zum Beweis in der Sache und nicht als Einwendung gegen die Zulässigkeit einer Klage dienen könne.232 Von dieser Kritik ausgehend ist versucht worden, die autorité de la chose jugée durch weitere Erklärungsansätze aus der Einordnung als beweisrechtliche Vermutung herauszulösen.233 Nach einer Ansicht innerhalb der Literatur komme der gerichtlichen Entscheidung mit der autorité de la chose jugée demnach die „Kraft gesetzlicher Wahrheit“234 (force de vérité legale) zu.235 Diese Formulierung stelle klar, dass es sich bei der autorité de la chose jugée um eine besondere Form der Vermutung handle236, erhalte jedoch die Verknüpfung zwischen Rechtskraft und Wahrheit (vérité) aufrecht237. Gerade der Umstand, dass aber auch das Konzept der force de vérité legale zur Erklärung der autorité de la chose jugée auf die Wahrheit zurückgreift, ver228 Tomasin, Chose jugée, n° 329 ff.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 304. 229 So Tomasin, Chose jugée, n° 329 ff.: „Le procès civil n’est pas une mécanique juridique tendue vers la conquête de la vérité“; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 304; vgl. hierzu auch Perrot, FS Kerameus (2009), 1013. 230 Carbonnier, Introduction, n° 192: „[…] la chose jugée n’est pas la vraie vérité; elle est reçu (accipitur) par le bon peuple pour tenir lieu de vérité (pro veritate).“ 231 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 305; zustimmend Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 31. 232 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 306: „[…] si l’autorité de la chose jugée était une règle de preuve, elle ne pourrait être invoquée qu’en tant que moyen de fond et non comme moyen de s’opposer à la recevabilité de demande“. 233 Zur Entwicklung vgl. insb. Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1057 ff.; Perrot, FS Kerameus (2009), 1013, 1021 ff.; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 47 f. 234 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 47. 235 Croze/Morel/Fradin, Procédure civile, n° 137; Perrot, FS Kerameus (2009), 1013, 1021; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1158. 236 So noch Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1093: „Le mérite de l’expression ‚force de vérité légale‘ est […] d’écarter l’idée que l’autorité de chose jugée serait une présomption comme une autre […].“ 237 So noch Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd), n° 1093: „Mais, que la présomption soit irréfragable ou que la force de vérité soit légale, dans le deux cas, l’autorité de la chose jugée repose sur la fiction de sa vérité!“, vgl. dazu in der Neuauflage Chainais/ Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1158 f.; ähnlich Stapf, Rechtskraftlehre, S. 48.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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anlasste Teile der Literatur zur Entwicklung eines moderneren, technischeren Konzeptes der materiellen Rechtskraft, das auf die Einordnung der autorité de la chose jugée als Wahrheitsvermutung vollständig verzichtet: „L’autorité de la chose jugée n’est donc pas justifiée par cette idée de vérité. Sa fonction est technique et consiste à empêcher le recommencement des procès déjà jugés“.238
bb) La conception moderne – obstacle au recommencement de l’action Die modernere Konzeption löst sich von den Versuchen, die Natur der materiellen Rechtskraft mithilfe der Wahrheitsvermutung zu begründen und rückt Funktion und Telos der materiellen Rechtskraft stärker in den Fokus.239 Hauptzweck der materiellen Rechtskraft sei es, weitere Prozesse mit identischem Streitgegenstand zu verhindern. Dieses Ziel werde aber schon durch das ne bis in idem-Prinzip erreicht.240 Wenn sich also die Hauptaufgabe der materiellen Rechtskraft in der Verhinderung weiterer Prozesse über denselben Streitgegenstand erschöpft, ist es nicht erforderlich, weitergehende Begründungen – wie etwa eine Wahrheitsvermutung – für sie zu suchen.241 Im Kern wird also – wie innerhalb der in Deutschland geführten Diskussion – auch hier darauf hingewiesen, dass eine présomption de vérité gar nicht erforderlich ist, um die prozessualen und rechtspolitischen Ziele der materiellen Rechtskraft zu erreichen.242 Diese Ansicht lässt sich auch auf den im Zuge der Reform 1976 geschaffenen Art. 122 CPC stützen, welcher bestimmt, dass die materielle Rechtskraft im Prozess als Einrede der Unzulässigkeit (fin de non-recevoir) geltend gemacht wird. Aus diesen Umständen kann jedoch nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, die modernere Ansicht sehe in der materiellen Rechtskraft ein prozessuales Institut.243 Tomasin etwa vermeidet eine Festlegung und lehnt sich an der italienischen Doktrin mit dem Schluss an, die materielle Rechtskraft sei ein „neutrales“ Institut zwischen materieller und prozessualer Natur.244 Eine konkrete Einordnung fällt überdies deshalb schwer, weil auch von Seiten derjenigen, die eine näher an Wirkung und Aufgabe der materiellen Rechts238 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 308. 239 Ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 48 f. 240 Mayer, Mélanges Héron (2008), 331, 332 ff. 241 Foyer, Chose jugée, S. 325: „Nul besoin n’est d’aller en rechercher ailleurs la justification et le fondement […].“; ebenso Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 310; dahingehend auch Chainais/Ferrand/Mayer/ Guinchard, Procédure civile, n° 1159. 242 Dahingehend auch Foyer, Chose jugée, S. 325. 243 Darauf weist auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 49 hin; ohne Festlegung auf ein rein prozessuales Verständnis auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 32 f.; Frison-Roche, Contradictoire, n° 53 beschränkt sich in ihrer Darstellung auf die Ausschlussfunktion der Rechtskraft, Stapf, Rechtskraftlehre, S. 49 folgert hieraus ein prozessuales Verständnis der Rechtskraft. 244 Tomasin, Chose jugée, n° 346.
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Erster Teil: Grundlagen
kraft orientierte Begründung befürworten, für den Bereich der efficacité substantielle davon ausgegangen wird, das Urteil verändere die Rechtslage.245 Nichtsdestotrotz verfolgt das modernere Verständnis einen funktionaleren und technischeren Ansatz als die klassische Auffassung der présomption de vérité und steht damit dem herrschenden Verständnis in Deutschland246 wesentlich näher. Auch wenn sich in der Frage nach der Natur der materiellen Rechtskraft innerhalb der französischen Zivilrechtslehre keine absolut einheitliche Auffassung konstatieren lässt, so kann jedoch festgehalten werden, dass Relevanz und Intensität des Streites um die Natur der materiellen Rechtskraft nachgelassen haben und sich inzwischen ein modernes, funktionales Verständnis der materiellen Rechtskraft etabliert hat.247
4. Abgrenzung zu anderen Urteilswirkungen Im deutschen Recht muss die materielle Rechtskraft vor allem von weiteren Urteilswirkungen wie der Vollstreckbarkeit, der Gestaltungs- und der Tatbestandswirkung abgegrenzt werden. Für das französische Recht ist neben den bereits oben248 erfolgten Differenzierungen insbesondere die Unterscheidung zwischen effet und attribut eines Urteils und sodann die Abgrenzung zwischen autorité de la chose jugée und efficacité substantielle vorzunehmen.
a) Deutsches Recht aa) Vollstreckbarkeit Vollstreckbarkeit und Rechtskraft sind nicht synonym.249 Vollstreckbarkeit meint, dass der Berechtigte die Durchsetzung des in der gerichtlichen Entscheidung erkannten Anspruches gegen den Verpflichteten von den staatlichen Organen verlangen kann.250 Materielle Rechtskraft und Vollstreckbarkeit bedingen sich nicht – in verschiedenen Konstellationen sind Urteile materiell rechtskräftig, aber nicht vollstreckbar oder umgekehrt.251
245 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 49 f. schlussfolgert daher, dass „auch innerhalb dieser Ansicht […] nicht von einer Aufgabe eines materiellrechtlich beeinflussten Rechtskraftverständnisses ausgegangen werden [kann].“ 246 Siehe oben erster Teil, B. III. 3. a) bb). 247 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 311; ebenso Bléry, Procédures août-sept. 2007, 6, 7; dies konstatiert auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 50. 248 Oben erster Teil, B. I. 2. 249 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 4. 250 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 4; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 21. 251 Vgl. hierzu z. B. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 4.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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bb) Gestaltungswirkung Unter Gestaltungswirkung wird die Änderung eines Rechtsverhältnisses zwischen den Prozessparteien durch ein formell rechtskräftiges Gestaltungsurteil bezeichnet.252 Beispielhaft ist hier die Auflösung der Ehe durch ein Scheidungsurteil zu nennen.253 Hier geht es also um die durch das Urteil eintretende Rechtsänderung und nicht um die Frage nach einer Bindung an den Inhalt der Entscheidung.254
cc) Tatbestandswirkung Ist die Entscheidung zwar nicht auf die Herbeiführung einer bestimmten Rechtsänderung ausgerichtet (Gestaltungswirkung), knüpft das materielle Recht allerdings dennoch Rechtswirkungen an das Bestehen eines Urteiles an, spricht man von Tatbestandswirkung.255 Insofern ist die Tatbestandswirkung eine von der Rechtskraft zu unterscheidende256, nicht durch den Richterspruch intendierte, sondern vom materiellen Recht vorgezeichnete „Nebenwirkung“ von Urteilen.257 So knüpft etwa § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB für die Geltung einer dreißigjährigen Verjährungsfrist an das Bestehen eines rechtskräftigen Urteils an.
b) Französisches Recht Eine präzise Einteilung und Kategorisierung verschiedener Urteilsfolgen wurde innerhalb der französischen Zivilprozessrechtslehre lange Zeit gar nicht oder nur sehr grob durchgeführt.258 Erst etwa ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts etablierte sich eine differenziertere Betrachtungsweise, die mit der Entwicklung des Instituts der efficacité substantielle259 einherging.260 Zuvor wurde die autorité de la chose jugée mit der efficacité substantielle oftmals gleichgesetzt oder zumindest vermengt.261
252 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 19; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 5. 253 Vgl. § 1564 S. 2 BGB. 254 Brox, JuS 1962, 121, 122. 255 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 20; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 6 ff. 256 Vgl. hierzu Gaul, FS Zeuner (1994), 317, 322 ff. 257 Brox, JuS 1962, 121, 122. 258 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 34 f. 259 Siehe hierzu unten erster Teil, B. III. 4. b) bb). 260 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 34 f., 39 ff. 261 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8.
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Erster Teil: Grundlagen
aa) Urteilswirkung und Urteilseigenschaft – effet und attribut Die heute wohl herrschende Meinung262 in Frankreich geht inzwischen davon aus, dass ein Unterschied zwischen solchen Urteilsfolgen, die auf dem Willen des Richters beruhen und solchen Urteilsfolgen, die auf dem Willen des Gesetzgebers beruhen, besteht.263 Diejenigen Urteilsfolgen, die auf dem Willen des Richters beruhen, werden als effets (Urteilswirkungen) bezeichnet.264 Diejenigen Urteilsfolgen hingegen, die nicht vom Willen des Richters abhängig sind, sondern ipso iure eintreten, werden als attributs (Urteilseigenschaften) bezeichnet.265 Die autorité de la chose jugée tritt unabhängig vom Willen des Richters ipso iure ein und wird daher als attribut (Urteilseigenschaft) aufgefasst.266 Daneben werden das dessaisissement du juge267 und die force exécutoire als Urteilseigenschaften verstanden.268 Auch im deutschen Recht tritt die materielle Rechtskraft ipso iure und unabhängig vom Willen des Gerichtes ein.269 Offensichtlich vom Willen des Richters abhängig sei demgegenüber jedoch die durch den Richterspruch eintretende Rechtsänderung (efficacité substantielle) und müsse daher den effets (Urteilswirkungen) zugerechnet werden.270
262 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35; Wiederkehr, Études Normand (2003), 507, 510 meint, die Frage, ob die materielle Rechtskraft effet oder attribut sei, könne zweifellos als geklärt angesehen werden und legt damit implizit eine Unterscheidung zwischen effet und attribut zugrunde. 263 So Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1149; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 9 f.; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 339; vgl. hierzu auch Bléry, Éfficacité, n° 168 ff., 206 ff. 264 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 9; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33 Fn. 26; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35. 265 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 9; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33 Fn. 26; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35. 266 Bléry, Éfficacité, n° 540; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 9, 30; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 347; Wiederkehr, Études Normand (2003), 507, 510; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 33 Fn. 26; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35. 267 Nach Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 34 ist hiermit die „Beendigung des Prozessrechtsverhältnisses und der Anhängigkeit, wenn der Richter die Entscheidung gefällt und verkündet hat“ gemeint; Art. 481 Abs. 1 CPC verbietet dem Gericht, sein Urteil nach dem Erlass zu ändern: „Le jugement, dès son prononcé, dessaisit le juge de la contestation qu’il tranche.“; vgl. hierzu im Übrigen etwa Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 715 ff.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 36 f. 268 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 37; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 347; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35. 269 Vgl. zum Eintritt der materiellen Rechtskraft im deutschen Recht oben erster Teil, B. III. 5. a). 270 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 37 betont „le rôle créateur du juge“; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1149.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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bb) Efficacité substantielle Die Differenzierung zwischen effet und attribut ging mit der Entwicklung des Begriffes efficacité substantielle einher: Der Umstand, dass die materielle Rechtskraft zwar nur zwischen den Parteien des Rechtsstreits wirkt271 (relativité de la chose jugée), das Urteil aber auch Wirkungen für Dritte272 haben kann, veranlasste insbesondere Jacques Héron und weitere Rechtswissenschaftler der juristischen Fakultät von Caen, eine neue Kategorisierung zu entwickeln, die bestimmte Urteilsfolgen von der relativité de la chose jugée ausnahm und damit den als Widerspruch empfundenen Unterschied in der subjektiven Reichweite auflösen sollte.273 Aus verschiedenen vorangehenden Arbeiten274 entwickelten sie den Begriff der efficacité substantielle.275 Efficacité substantielle meint die durch ein Urteil eintretende Rechtsänderung oder Rechtserkenntnis, die dasjenige entscheidet, weswegen die Parteien vor Gericht gezogen sind.276 „Le jugement produit une modification de la situation de droit substantiel des parties“277 oder „l’essence du jugement“278. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang die jeweilige Urteilsart: Die efficacité substantielle kommt sowohl Gestaltungsurteilen (jugements constitutifs) als auch feststellenden – also nicht gestaltenden – Urteilen (jugements declaratifs) zu.279 Im Rahmen von Gestaltungsurteilen erscheint die efficacité substantielle recht offensichtlich280, da diese tatsächlich zu einer Änderung der Rechtslage führen. Für Leistungsurteile wird demgegenüber darauf abgestellt, dass der Kläger sein Recht nach einem zusprechenden Urteil direkt auf das Urteil selbst stützen könne und es nicht mehr einer abstrakten Rechtsregel entnehmen müsse: Eine „Rechtsänderung“ trete hier also ein, weil das aus dem Urteil entnommene Recht im Vergleich zum Recht aus der abstrakten Norm ein „neues“ 271
Siehe hierzu unten erster Teil, B. III. 8. b). Insb. die Möglichkeit, das Urteil auch Dritten entgegenzuhalten (opposabilité) und die hieraus folgende Verteidigungsmöglichkeit Dritter (tierce opposition). Vgl. hierzu Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 26; Boyer, RTD civ. 1951, 163; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 41; umfassend zur opposabilité, Duclos, Opposabilité, n° 13 ff. 273 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 41. 274 Insb. Foyer, Chose jugée und Tomasin, Chose jugée, n° 53 ff. 275 Darstellend Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8. 276 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 339; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 8 und 37. 277 So Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 342. 278 So Bléry, Éfficacité, n° 539. 279 Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1151; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 343; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 40. 280 Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1151: „aisément perceptible“. 272
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Erster Teil: Grundlagen
sei.281 Auch Prozessurteilen kann diese Form der efficacité zukommen.282 Hier erschöpft sich die efficacité substantielle in der Feststellung der prozessualen Rechtslage.283 Bei klageabweisenden Urteilen (jugements de débouté) hängt der Eintritt der efficacité substantielle vom Inhalt des jeweiligen Urteils ab284: Werde etwa eine Anfechtungsklage zurückgewiesen, weil sich der Beklagte nicht arglistig verhalten habe, ergebe sich aus dem Urteil nicht, dass der Vertrag wirksam sei und dem Urteil komme keine efficacité substantielle zu.285 Erfolgt die Klageabweisung jedoch aufgrund der Feststellung, der betreffende Anspruch sei verjährt, so habe das Urteil deshalb efficacité substantielle, weil der Beklagte sein „Recht, nicht zu zahlen“ nun auf das Urteil stützen könne.286 Die mit dem Urteil eintretende Rechtsänderung ist vom Willen des Richters abhängig und die efficacité substantielle daher eine Urteilswirkung (effet). Das unterscheidet sie von der autorité de la chose jugée, die gerade unabhängig vom Willen des Gerichts ipso iure eintritt und daher Urteilseigenschaft (attribut) ist.287 Die efficacité substantielle ist anders als die materielle Rechtskraft nicht auf die Prozessparteien beschränkt.288 Genau dieser Umstand ermöglicht daher die vorher fehlende Erklärung der unterschiedlichen subjektiven Reichweiten dessen, was generell unter Urteilsfolgen (im weiteren Sinne) verstanden wurde.289 Die efficacité substantielle wiederum gliedert sich in zwei Wirkungsrichtungen: Die Bindungswirkung zwischen den Parteien (force obligatoire) einerseits und die Wirkung gegenüber Dritten (opposabilité) andererseits.290 281 Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1151: „Sur le plan de l’efficacité substantielle, en donnant raison au demandeur, la situation de celui-ci change, en ce sens que, bien que son droit ait existé avant le jugement […], il le tire désormais directement du jugement et non plus de la règle de droit abstraite […]; on peut considérer que le droit tiré du jugement est nouveau par rapport à celui tiré de la règle de droit abstraite.“; ebenso Héron/ Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 343; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 40; zweifelnd Kanayama, Mélanges Guinchard (2010), 759, 765 ff. 282 Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1152 und Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 345 sprechen in diesem Fall von „efficacité procédurale“; vgl. auch Péroz, Réception des jugements étrangers, n° 71 ff.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 40 f. 283 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 345: „L’efficacité substantielle du jugement se réduit alors à la proclamation de la situation procédurale“; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 40 f. 284 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 344. 285 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 344. 286 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 344. 287 Bléry, Éfficacité, n° 540; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 37; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 347; Wiederkehr, Études Normand (2003), 507, 510; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 35. 288 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 41. 289 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 41. 290 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 34; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 24 ff.; Bléry, Éfficacité, n° 160; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 41; Boyer, RTD civ. 1951, 163, 188 ff.; Duclos, Opposabilité, n° 13 ff.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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5. Eintrittszeitpunkt Innerhalb des rechtshistorischen Überblicks ist bereits angeklungen, dass das deutsche und das französische Zivilprozessrecht die Frage, wann die materielle Rechtskraft eintritt, unterschiedlich beantworten.291 Während die materielle Rechtskraft in Deutschland Urteilen erst mit dem Eintritt der formellen Rechtskraft zu Teil wird, kommt französischen Gerichtsentscheidungen die autorité de la chose jugée schon ab dem Urteilsspruch zu.
a) Deutsches Recht Die materielle Rechtskraft tritt mit der formellen Rechtskraft ein;292 das heißt also grundsätzlich mit Ablauf der Fristen für Rechtsmittel gegen das Urteil. Ebendiese direkte Abhängigkeit zwischen formeller und materieller Rechtskraft unterscheidet das deutsche vom französischen Recht. Dass während der Zeit vor Ablauf der Rechtsmittelfristen keine erneute Klage mit identischem Streitgegenstand anhängig gemacht wird, verhindert in Deutschland die bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist wirkende Rechtshängigkeit (§ 261 ZPO).293 Durch Ablauf der Rechtsmittelfrist tritt die formelle und mit ihr die materielle Rechtskraft ein und löst die Sperre durch Rechtshängigkeit gewissermaßen ab.294
b) Französisches Recht Art. 480 CPC bestimmt, dass die materielle Rechtskraft unmittelbar mit dem Urteilspruch eintritt (dès son prononcé).295 Der Eintritt der materiellen Rechtskraft ist damit gerade nicht vom Eintritt der irrévocabilité abhängig.296 Vielmehr schützt ab dem Zeitpunkt der Urteilsverkündung schon die materielle Rechtskraft vor einer weiteren Klage mit identischem Streitgegenstand.297 Wird gegen das materiell rechtskräftige Urteil dann jedoch ein Rechtsmittel ein291
Oben erster Teil, A. II. Statt aller Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 150, Rn. 2; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 13. 293 Zum Ende der Rechtshängigkeit vgl. etwa Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 261, Rn. 8. 294 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 38; ähnlich MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 261, Rn. 43. 295 „Le jugement qui tranche dans son dispositif tout ou partie du principal […] a, dès son prononcé, l’autorité de la chose jugée […]“, Art. 480 CPC. Vgl. hierzu Fricero/Julien, n° 766; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 35 f.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 522 ff.; in deutscher Sprache Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 66. 296 Kritisch hierzu Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 533 ff.; vgl. zum Ganzen auch Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1189 f. 297 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 37 f.; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 843. 292
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Erster Teil: Grundlagen
gelegt, so wird die autorité de la chose jugée zunächst wieder suspendiert.298 Im Fall der Bestätigung des angefochtenen Urteils wird die materielle Rechtskraft mit ex-tunc-Wirkung wiederhergestellt.299 Die Möglichkeit, die „vorläufige Rechtskraft“300 durch Einlegung eines Rechtsmittels auszusetzen, führt rein tatsächlich dazu, dass auch in Frankreich Urteilen erst dann umfassende, nicht mehr suspendierbare inhaltliche Geltung zukommt, wenn die Rechtsmittelfrist abgelaufen und damit die materielle Rechtskraft nicht mehr suspendierbar ist.301 In der Literatur wird deshalb auch darauf hingewiesen, dass die „Intensität“ der autorité de la chose jugée mit dem sukzessiven Auslaufen von Rechtsmittelfristen zunehme.302 Dass Eintritt der irrévocabilité und Eintritt einer nicht mehr aussetzbaren autorité de la chose jugée damit zeitlich zusammenfallen, darf jedoch nicht über den bereits erwähnten Umstand hinwegtäuschen, dass sich irrévocabilité und autorité de la chose jugée nicht bedingen.
6. Rechtskraftfähigkeit Die Frage, ob einer Entscheidung materielle Rechtskraft zukommt, ist in beiden Rechtsordnungen von Art und Gegenstand der Entscheidung abhängig. Beide Rechtsordnungen knüpfen hierzu grundsätzlich an das Merkmal einer gerichtlichen Entscheidung an. Innerhalb des französischen Rechts ist in diesem Zusammenhang das Vorliegen eines acte juridictionnel erforderlich.303 Nach beiden Zivilprozessordnungen werden sowohl Sachurteile als auch Prozessurteile mit materieller Rechtskraft ausgestattet. Für Prozessvergleiche finden das deutsche und das französische Recht unterschiedliche Lösungen.
a) Deutsches Recht aa) Der materiellen Rechtskraft fähig Der materiellen Rechtskraft fähig ist jedes Urteil eines deutschen Gerichtes, das endgültig und vorbehaltlos über die begehrte Rechtsfolge befindet.304 298 Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 843; vgl. zum Verhältnis zwischen Rechtshängigkeit (litispendance) und Rechtskraft Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 527 ff. 299 Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 843. 300 So Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 844. 301 So auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 844. 302 So etwa Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1189 ff. die auch darauf verweisen, dass es sich hierbei aus rechtsvergleichender Sicht um eine Besonderheit des französischen Rechts handelt (n° 1189); Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 35 f.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 528. 303 Vgl. hierzu sogl. unten erster Teil, B. III. 6. b) aa). 304 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 153, Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Bü-
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Versäumnisurteile305 und Vollstreckungsbescheide306 können in materielle Rechtskraft erwachsen. Schiedssprüche haben nach § 1055 ZPO unter den Parteien die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils. Auch Prozessurteile sind der materiellen Rechtskraft fähig, denn sie stellen fest, dass die Rechtsverfolgung unzulässig ist.307 Rechtskräftig wird jedoch nur die im Prozessurteil konkret entschiedene Prozessfrage und nicht darüberhinausgehende Ausführungen obiter dictum zur Unbegründetheit der Klage.308 Beschlüsse werden materiell rechtskräftig, soweit sie formell rechtskräftig werden und inhaltlich eine Entscheidung beinhalten, die rechtskraftfähig ist.309 Geht das Gericht in einer Sachentscheidung über das Verlangte hinaus, weil die Urteilsformel eine Entscheidung über einen Anspruch enthält, der im vorliegenden Verfahren gar nicht erhoben wurde, ist die Entscheidung wegen des Verstoßes gegen § 308 Abs. 1 ZPO zwar fehlerhaft, aber dennoch vollumfänglich der Rechtskraft fähig.310 Die Rechtssicherheit wird in diesem Fall also über die Rechtsrichtigkeit gestellt.311 Da die Beantwortung der Frage, welcher Anspruch erhoben wurde, ebenfalls Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung ist, vermag auch die Argumentation, die Rechtskraft erfasse den überschießenden Teil deshalb nicht, weil dieser Anspruch nicht erhoben wurde312, nicht zu überzeugen.313 Bezieht sich der Tenor lediglich auf die Entscheidung über einen Teil des Streitgegenstandes und ergibt sich aus den Gründen jedoch, dass das Gericht über den gesamten Streitgegenstand – also alle in Betracht kommenden materiellrechtlichen Ansprüche – entschieden hat, sind alle diese Ansprüche von der Rechtskraft erfasst und die Urteilsformel kann unter den Voraussetzungen des § 319 ZPO berichtigt werden.314 Nicht zu verwechseln sind diese Konstellationen mit Teilurteilen im Sinne des § 301 ZPO, bei denen das Gericht seine Entscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 14; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., § 322, Rn. 3 a. E. 305 BGHZ 153, 239 = NJW 2003, 1044. 306 BGHZ 101, 380, 382 = NJW 1987, 3256. 307 BGH NJW 1985, 2535; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 27; Wieczorek/ Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 14; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 153, Rn. 5 ff. 308 BGHZ 11, 222, 224 = NJW 1954, 310; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 153, Rn. 7 f.; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 3. 309 RGZ 167, 328; BGH NJW 1985, 1335, 1336; BGH NJW 2004, 1805, 1806; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 20; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 30. 310 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 91; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 180; zu bestehenden Korrekturmöglichkeiten eines rechtskräftigen Urteiles, das gegen § 308 Abs. 1 ZPO verstößt, MüKo/Musielak, ZPO, 6. Aufl., § 308, Rn. 22. 311 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 2. 312 So Fuchs, Gruchot 1897, 116, 123 ff. 313 So Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 180. 314 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 89; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 178.
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Erster Teil: Grundlagen
scheidung absichtlich auf einen Teil des Streitgegenstandes beschränkt.315 Hier erfasst die Rechtskraft nur den entschiedenen Teil.316 Dies gilt auch dann, wenn sich Divergenzen zwischen Tenor und Gründen ergeben.317 Kann weder aus dem Tenor noch aus den Gründen des Urteils eine Entscheidung des Gerichts ermittelt werden, so liegt insgesamt keine der Rechtskraft fähige Entscheidung vor.318 Immer gilt jedoch, dass nur dasjenige in Rechtskraft erwachsen kann, was das Gericht in seinem Urteil „erkennbar zum Ausdruck gebracht hat“, nicht aber dasjenige, was das Gericht richtigerweise hätte entscheiden sollen oder müssen.319
bb) Der materiellen Rechtskraft nicht fähig Da sie keine endgültige Entscheidung über eine Rechtsfolge enthalten, sind Zwischenurteile – sofern unter den Parteien ergangen – und Vorbehaltsurteile nicht rechtskraftfähig.320 Ebenfalls nicht der materiellen Rechtskraft fähig sind gewöhnliche321 Prozessvergleiche nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO: Sie sind privatrechtliche Parteivereinbarungen zwischen den Parteien und enthalten keine gerichtliche Entscheidung.322 Damit ist eine erneute Klage trotz des Bestehens eines Vergleiches nicht grundsätzlich unzulässig.323 Gleichwohl wird aufgrund des Vergleiches oftmals das Rechtschutzbedürfnis fehlen oder die Klage unbegründet sein.324
b) Französisches Recht Wie auch innerhalb des deutschen Zivilprozessrechtes kommt grundsätzlich nur gerichtlichen Entscheidungen materielle Rechtskraft zu.325 Für die materielle Rechtskraft erforderlich ist demnach ein sogenannter acte juridictionnel.326 315
Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 178. Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 178. 317 BGH NJW-RR 2002, 136; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 178. 318 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 179; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 90. 319 BGH JZ 1962, 287; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 172. 320 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 153, Rn. 11; Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 16 ff. 321 Bislang noch relativ ungeklärt ist jedoch die Frage, ob und ggf. inwieweit gerichtlich genehmigten Vergleichen (wie z. B. nach § 611 ZPO oder § 18 KapMuG) eigenständige materielle Rechtskraft zukommt. Vgl. zu dieser Fragestellung im Hinblick auf § 611 ZPO etwa Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 611, Rn. 4. 322 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 39; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 8a.; vgl. hierzu auch Staudinger, FS Graf v. Westphalen (2010), 659. 323 MüKo/Wolfsteiner, ZPO, 5. Aufl., § 794, Rn. 90; Schreiber, JURA 2012, 23, 25. 324 MüKo/Wolfsteiner, ZPO, 5. Aufl., § 794, Rn. 90; Schreiber, JURA 2012, 23, 25. 325 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 323; Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 213-2. 316
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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aa) Acte juridictionnel Die Frage nach einer Definition dessen, was als acte juridictionnel bezeichnet wird, ist eine seit langem vielfach diskutierte Frage des französischen Zivilprozesses, welche mehrere gegensätzliche Positionen hervorgebracht hat.327 So wurde einerseits vorgeschlagen, den Begriff anhand formeller Kriterien zu bestimmen.328 In diesem Rahmen wurde zum Beispiel eine Identifizierung des acte juridictionnel anhand der ihm zukommenden materiellen Rechtskraft erwogen.329 Wenn jedoch der Umstand, dass eine Gerichtsentscheidung als acte juridictionnel qualifiziert wird, die Rechtskraft indizieren soll, so ist es zirkulär, die Bestimmung dessen, was als acte juridictionnel gelten soll, anhand der Rechtskraft vorzunehmen.330 Darüber hinaus wurde auch versucht, den Begriff mit materiellen Kriterien zu füllen.331 Da im Hinblick auf die Zielrichtung der vorliegenden Bearbeitung ausreichend, möge folgende Definition genügen: „Un acte juridictionnel „consiste, de la part d’un juge agissant dans le respect de contraintes procédurales propres à garantir les exigences d’un procès équitable, à faire application d’une règle de droit en vue de trancher un conflit d’intérêts par l’accueil ou le rejet d’une prétention soumise à justice“.332
Diese Definition schließt sowohl formelle Voraussetzungen (die Gebundenheit an prozessuale Vorschriften), als auch materielle Voraussetzungen (das Ziel der Entscheidungsfindung) mit ein und kombiniert damit letztlich die beiden großen Positionen zur Konkretisierung dieses Begriffes.333 Anhand dieser Kriterien lassen sich zunächst alle diejenigen Gerichtshandlungen von der materiellen Rechtskraft ausschließen, die keine actes juridictionnels darstellen.334
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Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 213-2. v. a. Vincent/Guinchard, n° 153 ff. m. zahlr. w. Nachw.; Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 212 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 75 ff.; Guillien, Mélanges Vincent (1981), 117; Bandrac, Mélanges Drai (2000), 171; Moury, Mélanges Perrot (1996), 299, 300 f. 328 So etwa Carré de Malberg, Théorie de l’État, t. 1, n° 225 ff. 329 So Jèze, Principes Généraux, Bd. 1, S. 48 ff. 330 Zu Recht kritisch daher Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 77; Vincent/Guinchard, n° 156 a. E. 331 Vgl. hierzu m. w. Nachw. Vincent/Guinchard, n° 157 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 76 ff.; Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 212. 332 So Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 212. 333 Vgl. zum Vorschlag einer Kombination Vincent/Guinchard, n° 155 ff.; Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 212; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 79 a. E. 334 Vgl. hierzu auch Brenner, Procédures août-sept. 2007, 13. 327 Vgl. hierzu
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Erster Teil: Grundlagen
bb) Der materiellen Rechtskraft nicht fähig (1) Actes administratifs und donné acte Schon rein begrifflich sind nach obigen Ausführungen actes administratifs, also Justizverwaltungsakte, nicht von der materiellen Rechtskraft erfasst.335 Auch Prozessverträge (contrats judiciaires)336 sowie (deren) gerichtliche Bestätigung (donné acte)337 erwachsen nicht in materielle Rechtskraft, da hier keine Gerichtsentscheidung getroffen wird.338 Insoweit zeigt sich hier kein Unterschied zum deutschen Recht.339
(2) Prozessvergleiche Für (gewöhnliche)340 Prozessvergleiche (transactions) regelte Art. 2052 CC a. F. bis zur Reform341 im Jahr 2016: „Les transactions ont, entre les parties, l’autorité de la chose jugée en dernier ressort. Elles ne peuvent être attaquées pour cause d’erreur de droit, ni pour cause de lésion.“ Demnach kam Vergleichen – zwischen den Parteien – materielle Rechtskraft zu, obwohl sie weder einen acte juridictionnel darstellen noch überhaupt eine Entscheidung des Richters enthalten.342 Dieser Umstand wirkte sich in zweierlei Hinsicht aus: Zum einen konnten die Parteien aufgrund der Rechtskraft den Vergleich – von der Ausnahme in Art. 2053 CC a. F. abgesehen – nicht mehr angreifen. Dies stellte auch der zweite Satz des Art. 2052 CC a. F. klar.343 Zum anderen wurde im 335 Brenner, Procédures août-sept. 2007, 13, 13 f.; Vincent/Guinchard, n° 173; vgl. zum Unterschied auch Carré de Malberg, Théorie de l’État, t. 1, n° 225 ff. 336 Zum Inhalt sog. contrats judiciaires siehe Deharo in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2016, Contrat judiciaire. 337 Nach Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 41 handelt es sich bei dem jugement de donné acte um „eine gerichtliche Protokollierung der Einigung der Parteien“. 338 Brenner, Procédures août-sept. 2007, 13, 14; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 340 ff.; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 41. 339 Siehe oben erster Teil, B. III. 6. a). 340 Auch im französischen Recht existieren gerichtlich genehmigte Vergleiche. So etwa im Rahmen der seit 2014 existierenden Action de groupe nach Art. L. 423–16 (eingeführt durch Loi n° 2014-344 du 17 mars 2014 relative à la consommation). Vgl. hierzu etwa Brochier, JCP entreprise et affaires 2014, 1622; allg. zur Action de groupe etwa Rebeyrol, Recueil Dalloz 2014, 940; Bien, NZKart 2014, 507. 341 Loi n° 2016-1547 du 18 novembre 2016 de modernisation de la justice du XXIe siècle (1). 342 Kritisch hierzu schon Deharo, Gaz. Pal. 2005, 3870, 3876: „[…] affecter la transaction des effets d’un jugement rendu en dernier ressort est à la fois artificiel et erroné.“; vgl. zur Rechtskraft von Vergleichen auch Nouvel, Procédures août-sept. 2007, 39, 40; Gaonac’h in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2011, Transaction, n° 166 ff.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 325 ff. 343 „Elles ne peuvent être attaquées pour cause d’erreur de droit, ni pour cause de lésion“, Art. 2052 Abs. 2 CC a. F.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Wege einer Unzulässigkeitseinrede (fin de non-recevoir) eine erneute Anhängigmachung unterbunden (sogenannter effet extinctif )344.345 Im Zuge der Reform wurde der Wortlaut – und mit ihm der Inhalt der Vorschrift – modifiziert. Art. 10 des Änderungsgesetzes346 änderte den Wortlaut zu: „La transaction fait obstacle à l’introduction ou à la poursuite entre les parties d’une action en justice ayant le même objet“. Die neue Vorschrift verzichtet also darauf, den Vergleich zwischen den Parteien mit autorité de la chose jugée auszustatten. Damit steht nach der Reform – wie im deutschen Recht347 – nicht (mehr) die autorité de la chose jugée des Vergleiches der Zulässigkeit einer erneuten Klage im Wege. Gleichwohl ist auch nach der neuen Formulierung des Art. 2052 CC die erneute Anhängigmachung des Vergleichsstoffes – anders als grundsätzlich im deutschen Recht – weiterhin prozessual ausgeschlossen (obstacle à l’introduction ou à la poursuite).348
(3) Jugements avant dire droit Entscheidungen über prozessuale Fragen zur Prozessleitung oder vorläufigen Sicherung (jugements avant dire droit)349 erwachsen nicht in materielle Rechtskraft.350 Art. 482 CPC bestimmt hierzu: „Le jugement qui se borne, dans son dispositif, à ordonner une mesure d’instruction ou une mesure provisoire n’a pas, au principal, l’autorité de la chose jugée.“ Aufgrund der fehlenden Rechtskraftfähigkeit der jugements avant dire droit ist es fraglich, welche Wirkung eine spätere Entscheidung über dieselbe Maßnahme für das erste jugement avant dire droit haben kann.351 Hierzu wird einerseits vertreten, eine erneute Entscheidung ändere das bestehende Urteil oder hebe dieses gegebenenfalls auf.352 Andernorts wird darauf abgestellt, dass trotz fehlender Rechtskraft eine Bindungswirkung bestehe, die eine erneute Entscheidung über dieselbe Anord344 Vgl. hierzu Gaonac’h in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2011, Transaction, n° 168 ff. 345 Gaonac’h in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2011, Transaction, n° 169; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 326. 346 Loi n° 2016-1547 du 18 novembre 2016 de modernisation de la justice du XXIe siècle (1). 347 Siehe oben erster Teil, B. III. 6. a) bb) und vgl. Schreiber, JURA 2012, 23, 25. 348 Die auch nach der Gesetzesänderung weiterhin bestehende Nähe zur exception de chose jugée betonen daher auch Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 425; vgl. hierzu auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 326. 349 Zum Inhalt des Begriffes vgl. Eudier/Gerbay in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2016, Jugement, n° 27 ff. 350 Vincent/Guinchard, n° 173; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 40; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 464. 351 Vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 81 f. 352 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 467.
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Erster Teil: Grundlagen
nung ausschließe.353 Jugements avant dire droit werden auch dann nicht Teil der materiellen Rechtskraft, wenn sie zusammen mit einer Entscheidung über den Anspruch im selben Urteil ergehen (décision mixte).354 In einem solchen Fall beschränkt sich die materielle Rechtskraft auf denjenigen Teil des Urteiles, bei dem es sich um eine endgültige Entscheidung über den Anspruch handelt.355
(4) Jugements gracieux Entscheidungen im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die das Gericht nicht bezüglich einer Streitsache trifft (en l’absence de litige), sondern in einer Frage, die kraft Gesetzes seiner Kontrolle unterliegt („dont la loi exige, en raison de la nature de l’affaire ou de la qualité du requérant, qu’elle soit soumise à son contrôle“, vgl. Art. 25 CPC) werden als jugements gracieux356 bezeichnet.357 Obwohl diese nach heute herrschender Meinung als actes juridictionnels betrachtet werden,358 erwachsen sie nach der Rechtsprechung der Cour de cassation nicht in Rechtskraft.359 Die Haltung der Rechtsprechung wird innerhalb der Literatur jedoch kritisiert, weil Art. 543 CPC360 Rechtsmittel ausdrücklich auch gegen Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zulässt: Wenn den jugements gracieux aber keine materielle Rechtskraft zukomme, seien strenggenommen keine Rechtsmittel gegen solche Entscheidungen erforderlich, da, wegen des Fehlens einer Rechtskraftsperre, statt eines Rechtsmittels schlicht erneut geklagt werden könne.361 Zudem sei die Rolle des Gerichtes innerhalb der ordentlichen und der freiwilligen Gerichtsbarkeit sehr ähnlich und es daher 353 Dahingehend Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 723. 354 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure
Civile 2018, Chose jugée, n° 468. 355 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 40; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 468; vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 82. 356 Zum Inhalt des Begriffes vgl. Eudier/Gerbay in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2016, Jugement, n° 9 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 98 ff.; Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 216 ff. 357 Beispiele stellen etwa Adoptionsbeschlüsse oder einverständliche Scheidungsbeschlüsse dar, vgl. Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 42. 358 So Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1835; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 99; Eudier/Gerbay in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2016, Jugement, n° 11 m. w. Nachw.; anders Couchez/Lagarde, Procédure civile, n° 216. 359 Cass. Civ. 1re, 6 avr. 1994, n° 92-15170 = Bull. Civ. 1994 I, n° 141; Cass. Civ. 1re, 17 oct. 1995, n° 94-04025 = Bull. Civ. 1995 I, n° 367; kritisch hierzu Chainais/Ferrand/Mayer/ Guinchard, Procédure civile, n° 1839 ff.; Brenner, Procédures août-sept. 2007, 13, 15 f. 360 „La voie de l’appel est ouverte en toutes matières, même gracieuses, contre les jugements de première instance s’il n’en est autrement disposé“, Art. 543 CPC. 361 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 479; darstellend auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 79 f.; ob es jedoch überzeugend ist, aus der Rechtsmittelfähigkeit Rückschlüsse auf das Bestehen der Rechtskraft zu ziehen, ist fraglich.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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nicht ersichtlich, weshalb das Eintreten der materiellen Rechtskraft von der Existenz oder der l’absence de litige abhängig gemacht werden solle.362 Auch wenn viele Stimmen aus der Literatur heute den jugements gracieux materielle Rechtskraft zusprechen363, verneint die Rechtsprechung diese Frage weiterhin.364
cc) Der materiellen Rechtskraft fähig Wie deutlich wurde, führt das Vorliegen eines acte juridictionnel allein noch nicht dazu, dass der gerichtlichen Entscheidung materielle Rechtskraft zuteilwird. Die zusätzlich erforderlichen Voraussetzungen ergeben sich aus Art. 480 CPC: „Le jugement qui tranche dans son dispositif tout ou partie du principal, ou celui qui statue sur une exception de procédure, une fine de non-recevoir ou tout autre incident a, dès son prononcé, l’autorité de la chose jugée relativement à la contestation qu’il tranche.“
Danach setzt Art. 480 CPC also voraus, dass der Tenor (dispositif) der in Rede stehenden Entscheidung zumindest einen Teil der Hauptsache (principal) abschließend entscheidet. Urteile, die den Anforderungen des Art. 480 CPC entsprechen, werden jugements définitifs genannt.365 Darüber hinaus werden nach Art. 480 CPC auch Entscheidungen über prozessuale Einwendungen (exceptions de procédure) und Entscheidungen über die Zulässigkeit (fins de non-recevoir ou tout autre incident) insoweit rechtskräftig, wie sie die strittige Frage (contestation) entscheiden. Damit werden im französischen Zivilprozess – wie auch im deutschen Recht366 – sowohl Prozessurteile als auch Sachurteile materiell rechtskräftig.367 Urteile, die zum einen eine endgültige Entscheidung über einen Teil des Streitgegenstandes und zum anderen ein Zwischenurteil über prozessuale Fragen (jugements mixtes)368 enthalten, werden nur im Hinblick auf die endgültige 362 So Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 375; kritisch zum Merkmal der absence de litige auch Le Ninivin, Juridiction gracieuse, n° 94 ff. 363 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 477 ff.; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 375; Chainais/Ferrand/ Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1840; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 42. 364 Vgl. etwa Cass. Civ. 1re, 6 avr. 1994, n° 92-15170 = Bull. Civ. 1994 I, n° 141; Cass. Civ. 2e, 20 avr. 2002, n° 00-13815 = Bull. Civ. 2002 II, n° 83; Cass. Civ. 2e, 28 juin 2012, n° 10-13884; ebenso Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1839 und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 80. 365 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 371; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 38. 366 Siehe oben erster Teil, B. III. 6. a) aa). 367 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 383 ff.; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 38 f. 368 Zum Inhalt des Begriffes vgl. Durry, RTD civ. 1960, 5; Eudier/Gerbay in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2016, Jugement, n° 36 ff.
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Erster Teil: Grundlagen
Entscheidung rechtskräftig.369 Darüber hinaus bleibt die mitentschiedene prozessuale Frage aufgrund des Art. 482 CPC370 von der Rechtskraft ausgenommen.371
7. Wirkungen Eine zentrale Aufgabe der materiellen Rechtskraft ist die Verhinderung erneuter Verfahren und Urteile über bereits entschiedene Streitgegenstände. Diese ausschließende Wirkung wird sowohl innerhalb des deutschen als auch innerhalb des französischen Rechts als negative Wirkung (effet négatif) der materiellen Rechtskraft bezeichnet. Die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft greift nur dort Platz, wo die Streitgegenstände der erneut anhängig gemachten Sache und der bereits entschiedenen Sache identisch sind. Nur dann steht der erneuten Entscheidung die Rechtskraft der vorherigen Entscheidung entgegen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Identität der Streitgegenstände vorliegt oder nicht, ist dabei abhängig vom jeweiligen Streitgegenstandsbegriff, den es im Rahmen der Rechtskraft zu berücksichtigen gilt.372 Darüber hinaus kann die Rechtskraft einer entschiedenen Sache auch bei fehlender Streitgegenstandsidentität in einem anderen Verfahren zu beachten sein: Ist die zuvor rechtskräftig entschiedene Hauptfrage später eine Vorfrage innerhalb eines anderen Verfahrens, so muss das Gericht die vorangehende Entscheidung für seine weitere Beurteilung zugrunde legen. Die Entscheidung der vorangehenden Hauptsache präjudiziert die Beantwortung der Vorfrage im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens. Diese Form der Ergebniskonservierung wird im deutschen Zivilprozessrecht als positive Wirkung der materiellen Rechtskraft bezeichnet. Auch innerhalb der französischen Zivilprozessrechtslehre wird überwiegend eine Einteilung in effet négatif und effet positif vorgenommen. Hier sind allerdings sowohl die Existenz als auch die konkrete Wirkungsweise des effet positif wesentlich umstrittener. Die Diskussion um den effet positif der autorité de la chose jugée erfährt vielfach eine Vermischung mit der Frage nach einer isolierten Rechtskraft von Urteilsgründen.
369
Hierzu bereits oben erster Teil, B. III. 6. b) bb) (3). jugement qui se borne, dans son dispositif, à ordonner une mesure d’instruction ou une mesure provisoire n’a pas, au principal, l’autorité de la chose jugée.“, Art. 482 CPC. 371 Vincent/Guinchard, n° 173; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 468; vgl. auch Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 16. 372 Siehe hierzu unten zweiter Teil, B. III. 3. a) (deutsches Recht) und unten zweiter Teil, B. III. 3. c) (französisches Recht). 370 „Le
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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a) Deutsches Recht aa) Negative Wirkung der materiellen Rechtskraft Die durch die materielle Rechtskraft erreichte Verhinderung von erneuten Entscheidungen über denselben Streitgegenstand wird als negative Wirkung der materiellen Rechtskraft bezeichnet.373
(1) Negative Prozessvoraussetzung Nach der herrschenden ne bis in idem-Lehre ist das Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung zwischen den Parteien über den identischen Streitgegenstand negative Prozessvoraussetzung.374 Wurde über den Streitgegenstand bereits rechtskräftig entschieden, ist die Klage – von einigen Ausnahmen abgesehen375 – als unzulässig abzuweisen.376 Liegt beispielsweise ein Urteil vor, das den Herausgabeanspruch des A gegen B aus § 985 BGB als unbegründet abweist, würde eine erneute Klage (die sich nicht auf neu eingetretene Tatsachen stützt) des A gegen B auf Herausgabe (derselben Sache) aus § 985 BGB als unzulässig abgewiesen, weil die Streitgegenstände beider Klagen identisch sind. An dieser Stelle zeigt sich die inhaltliche Verknüpfung zwischen der Lehre vom Streitgegenstand und der Rechtskraftlehre, da der Richter die Streitgegenstände zweier Klagen vergleichen muss, um eine entgegenstehende Rechtskraft auszuschließen.377
(2) Unzulässigkeit von Klagen auf das kontradiktorische Gegenteil Die materielle Rechtskraft steht auch einer Klage entgegen, mit welcher der Beklagte des Vorprozesses eine erneute, gegenteilige Entscheidung verlangt, indem er den Streitgegenstand in umgekehrter Form wieder anhängig macht.378 Die Entscheidung über eine Rechtsfolge enthält zwangsläufig auch die Feststellung über das Nichtvorliegen des jeweiligen Gegenteils der rechtskräftig fest373
So etwa Brox, JuS 1962, 121, 121. Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 322, Rn. 34; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 10 ff.; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 12; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 12. 375 Siehe hierzu Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 13; Saenger/ Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 12. 376 Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 10; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., Einf. §§ 322–327, Rn. 12; BGH NJW 2004, 1252, 1253; BGH NJW 1995, 1757, 1757. 377 Zum Verhältnis zwischen Streitgegenstand und Rechtskraft sowie den Auswirkungen des Streitgegenstandsbegriffes auf die Reichweite der materiellen Rechtskraft ausführlich unten zweiter Teil, B. III. 3. f ). 378 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 5 ff.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 186; BGH NJW 1983, 2032, 2032; BGH NJW 1993, 2684, 2685; BGH NJW 2003, 3058, 3059. 374
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Erster Teil: Grundlagen
gestellten Rechtsfolge.379 Deshalb ist auch eine auf das sogenannte kontradiktorische Gegenteil gerichtete Klage unzulässig.380 Ob die neue Klage auf das unmittelbare Gegenteil einer rechtskräftigen Entscheidung gerichtet ist, muss nach dem Inhalt der Klage beurteilt werden.381 Besonders deutlich wird das Vorliegen des kontradiktorischen Gegenteils wenn nach einer positiven Feststellungsklage eine negative Feststellungsklage mit widersprechendem Inhalt anhängig gemacht wird.382 So kann, wenn zwischen den Parteien rechtskräftig das Eigentum des Klägers A festgestellt wurde, vom ehemals Beklagten B nicht die Feststellung verlangt werden, der ehemalige Kläger A sei nicht Eigentümer.383 Dasselbe gilt auch für das Begehren des ehemals Beklagten B, festzustellen, dass er, der B, der Eigentümer sei.384 Wurde rechtskräftig festgestellt, dass kein wirksamer Kaufvertrag zwischen C und D besteht, kann keine der Streitparteien die Feststellung begehren, ein Kaufvertrag bestehe. In weniger offensichtlichen Fällen – insbesondere bei Leistungsklagen – hängt der Ausschluss durch die materielle Rechtskraft davon ab, ob die nachfolgend begehrte Rechtsfolge das rechtskräftige Urteil zwischen den Parteien nach Sinn und Zweck beeinträchtigen würde.385 Man spricht dann von sachlicher Unvereinbarkeit.386 So hindert etwa eine rechtskräftige Verurteilung des Beklagten zur Einwilligung in die Auszahlung eines hinterlegten Betrages eine erneute Klage, in der der ehemals Beklagte nun seinerseits die Einwilligung in die Auszahlung des hinterlegten Betrages vom ehemaligen Kläger verlangt.387 Auch eine Klage des rechtskräftig zur Auflassung verurteilten Beklagten auf Rückauflassung durch den ehemaligen Kläger ist unzulässig.388 379 Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 12 m. w. Nachw.; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 43; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 186; BGHZ 123, 138 139 = NJW 1993, 2684, 2685; BGH NJW 1983, 2032, 2032. 380 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 186; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 43 m. w. Nachw. 381 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 44 f.; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickel brock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 15; BGH NJW 1993, 2684, 2685; für Beispiele vgl. Doderer, NJW 1991, 878. 382 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 44; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 186. 383 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 6. 384 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 6; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 44; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 186. 385 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 7; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 15. 386 So MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 45; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 7. 387 BGHZ 35, 165, 171 = NJW 1961, 1457, 1458. 388 BGH NJW 1995, 967, 968. Richtigerweise hängt es in derartigen Fällen vom Vortrag des Klägers und eventuell neu hinzugetretenen Tatsachen ab, ob ein Fall von Streitgegenstandsidentität oder Präjudizialität gegeben ist, so Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 23.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Die Idee einer erweiterten Rechtskraftwirkung in Fällen, in denen ein neues Urteil ein bestehendes rechtskräftiges Urteil inhaltlich in Frage stellen würde, wurde von Zeuner unter dem Begriff der Sinn- und Ausgleichszusammenhänge aufgegriffen und weiterentwickelt.389 Der BGH sprach sich jedoch gegen die von Zeuner vorgeschlagene Form erweiterter Bindungswirkung aus.390
(3) Präklusion von Tatsachen Das von der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft aufgestellte Wiederholungsverbot würde unterlaufen, wenn die Parteien den Streit mit dem Vorbringen, das rechtskräftige Urteil gründe sich auf unrichtige Tatsachen, erneut anhängig machen könnten.391 Um eine abschließende Entscheidung über den Streitgegenstand zu gewährleisten, muss daher verhindert werden, dass sich die Parteien später auf solche Tatsachen stützen, die schon im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorgetragen hätten werden können.392 Aus diesem Grund enthalten Sachurteile gleichsam eine Entscheidung über nicht Vorgetragenes, wenn es zu einem einheitlichen Lebenssachverhalt gehört.393 Das Gericht entscheidet „unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen“394 und die Rechtskraft395 präkludiert dabei all diejenigen Tatsachen, „die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören“.396 Es kommt hierbei nicht darauf an, ob die Parteien die Tatsachen schuldhaft nicht eingebracht haben oder schlicht keine Kenntnis von den Tatsachen hatten.397 Gleichzeitig ergeht die Entscheidung aber auch nur über solche Tatsachen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bestanden haben; solche Tatsachen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung entstanden sind, werden nicht präkludiert.398 „Die gericht389
Zeuner, Sinnzusammenhänge; siehe hierzu unten dritter Teil, A. II. 1. Z. B. BGH NJW 2003, 3058. BGH NJW 1995, 967, 968; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 156, Rn. 5 f. 392 Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 43 ff. 393 BGH NJW 1995, 967, 968; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 146. 394 Vgl. § 286 Abs. 1 ZPO. 395 Die Präklusion als Wirkung der Rechtskraft verstehen auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 147: „[…] weder dogmatisch erforderlich noch praktisch sinnvoll, die Präklusionswirkung von der Rechtskraftwirkung zu trennen.“; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 29; a. A. Habscheid, Streitgegenstand, S. 284 ff., welcher die Präklusion als eine eigene Wirkung neben der Rechtskraft versteht: „Materielle Rechtskraft und allgemeine Präklusion erscheinen somit als einander ergänzende Institute unseres Zivilverfahrensrechts.“ (S. 297); ebenso Habscheid, FS Schnitzer (1979), 179, 195. 396 BGH NJW 1992, 1172, 1173; BGH NJW 1996, 3151, 3152; BGH NJW 2013, 540, 541. 397 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl.§ 156, Rn. 7; Prütting/Gehrlein/VölzmannStickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 46. 398 Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 45; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 139; BGH NJW 1985, 2481, 2482. 390 391
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Erster Teil: Grundlagen
liche Entscheidung ist insofern [also] zeitgebunden“399 und man spricht in diesem Zusammenhang von zeitlichen Grenzen der Rechtskraft.400 Freilich wirkt die Präklusion nicht direkt auf die grundsätzliche Möglichkeit ein, sich auf die präkludierten Tatsachen zu berufen.401 Vielmehr geht es darum, – anhand der Gründe des rechtskräftigen Urteils402 – herauszufinden, ob die bereits vorgetragenen Tatsachen denselben – bereits rechtskräftig entschiedenen – Anspruch betreffen oder eben einen neuen. Die Berufung auf dieselben Tatsachen zur Begründung eines neuen Anspruches beziehungsweise Streitgegenstandes ist stets zulässig.403 Richtigerweise führt allein die Berufung auf irgendwelche neuen Tatsachen noch nicht zur Zulässigkeit der neuen Klage.404 Die neuen Tatsachen müssen sich vielmehr dergestalt auf ein Tatbestandsmerkmal des Anspruches auswirken, dass es möglich erscheint, das Tatbestandsmerkmal aufgrund der neuen Tatsachen anders zu beurteilen.405
bb) Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft – Präjudizialität In Verfahren über einen anderen Streitgegenstand kann sich die Rechtskraft durch die verbindliche Vorgabe bereits rechtskräftig entschiedener Vorfragen auswirken – dies wird als positive Wirkung der materiellen Rechtskraft bezeichnet.406 Ist eine rechtskräftig festgestellte Hauptfrage eine Vorfrage innerhalb eines nachfolgenden Prozesses, muss die rechtskräftige Entscheidung des Erstprozesses zugrunde gelegt werden.407 Dabei ist jede erneute Verhandlung, Be399 So
Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 798. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 156, Rn. 1 ff.; Prütting/Gehrlein/ Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 43 ff.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 217 ff. 401 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 228. 402 Zeuner, Sinnzusammenhänge, 35; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 245; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 154. 403 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 228. Anders kann dies inzwischen nun im französischen Recht sein, vgl. zu dieser Entwicklung unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 404 Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 60; Dietrich, ZZP 1970, 201, 209; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 245; Musielak, FS Nakamura (1996), 423, 441. 405 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 154; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 245; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 60; Heiderhoff, ZZP 2005, 185, 188; BGH NJW 1984, 126, 127; BGH NJW 2000, 2022, 2023. Zu einer möglicherweise bestehenden Bindung in einem weiteren Verfahren wegen neu eingetretener Tatsachen, vgl. unten dritter Teil, A. III. 1. b). 406 Brox, JuS 1962, 121, 121. 407 BGH NJW, 1993, 3204, 3205; BGH NJW 1995, 2993; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 15; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 9; Prütting/ Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322; Rn. 17 ff. 400 So
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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weiserhebung und Entscheidung über diese Rechtsfolge unzulässig.408 Diese Konstellation nennt man Präjudizialität. Erneut wird die Wirkungsweise der Präjudizialität im Verhältnis zwischen vorangehender Feststellungsklage und nachfolgender Leistungsklage besonders anschaulich: Wurde etwa in einem Vorprozess rechtskräftig festgestellt, dass A Eigentümer einer im Besitz des B befindlichen Sache ist, so muss das Gericht im Rahmen der Klage des A gegen den B auf Herausgabe nach § 985 BGB ebenfalls davon ausgehen, dass A Eigentümer ist. Besteht eine rechtskräftige Feststellung über das Bestehen eines wirksamen Kaufvertrages zwischen C und D, ist diese Entscheidung bei einer Klage des C gegen den D auf Zahlung des Kaufpreises zugrunde zu legen. Hiervon scharf zu trennen ist jedoch die Frage, ob die präjudiziellen Rechtsverhältnisse, die im Rahmen der Entscheidungsfindung vom Gericht erörtert, bewertet und der Entscheidung zugrunde gelegt werden, ebenfalls in materielle Rechtskraft erwachsen. Denn nur dasjenige, was durch eine Gerichtsentscheidung rechtskräftig festgeschrieben ist, kann innerhalb nachfolgender (Vorfragen-)Entscheidungen präjudiziell sein. Das Problem einer eigenständigen Rechtskraft von Entscheidungsgründen betrifft – um bei den Beispielen von oben zu bleiben – die Frage, ob nach einer rechtskräftigen Entscheidung, die den B zur Herausgabe einer Sache an A aufgrund des § 985 BGB verurteilt, feststeht, dass A der Eigentümer dieser Sache ist. Gleichsam muss geklärt werden, ob eine Entscheidung, die den D zur Zahlung des Kaufpreises an C verurteilt, ebenfalls die rechtskräftige Entscheidung enthält, dass ein wirksamer Kaufvertrag zwischen C und D bestehe. Insofern geht es einerseits um die präjudizielle Wirkung von rechtskräftigen Entscheidungen (rechtskräftiges Urteil = Vorfrage in nachfolgendem Prozess) und um die Rechtskraft präjudizieller Rechtsverhältnisse (Vorfrage = Teil eines rechtkräftigen Urteils) andererseits. Letztere ist die hier besonders interessierende, unten409 ausführlich behandelte Frage nach einer isolierten Rechtskraft der Gründe.
b) Französisches Recht aa) Negative Wirkung (effet négatif ) (1) Prozesshindernis (fin de non-recevoir) Die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft wird von Art. 1355 CC und Art. 122 CPC vorgegeben. Liegen die Voraussetzungen des Art. 1355 CC vor,410 handelt es sich bei der neu anhängig gemachten Sache um eine bereits entschie408
BGH NJW 1985, 2535; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 9. Dritter Teil. 410 Siehe hierzu unten zweiter Teil, B. III. 3. c). 409
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Erster Teil: Grundlagen
dene Sache und Art. 122 CPC bestimmt, dass dieser ein Prozesshindernis entgegensteht. Das, was als effet négatif der materiellen Rechtskraft bezeichnet wird, ist also der Ausschluss weiterer Verfahren über denselben, bereits entschiedenen Streitstoff.411 Dieselbe Wirkung und Kategorisierung ist aus dem deutschen Recht bekannt.
(2) Präklusion von Tatsachen Nach der heutigen Rechtsprechung der Cour de cassation obliegt es dem Kläger, all diejenigen Argumente, die geeignet sind, den geltend gemachten Anspruch zu begründen, bereits im ersten Prozess vorzutragen: „Il incombe au demandeur de présenter dès l’instance relative à la première demande l’ensemble des moyens qu’il estime de nature à fonder celle-ci“.412 Der Begriff des moyen beschreibt das Vorbringen oder die Argumentation, welche die cause innerhalb des Streitgegenstandes darlegen und begründen sollen.413 Man versteht unter ihnen „le soutien“414 oder „les éléments qui démontrent l’existence de la cause afin que le juge fasse droit à la prétention“415. Ungeachtet der Schwierigkeit einer exakteren Begriffsdefinition416 lassen sich moyens in tatsächliche (moyens de fait) und rechtliche (moyens de droit) unterteilen.417 Für einen Vergleich mit der Tatsachenpräklusion im deutschen Recht sind zunächst die moyens de fait beziehungsweise anderes Beweisvorbringen (moyen de preuve) maßgeblich. Im Kern geht es an dieser Stelle um die Frage, wann die Berufung auf ein anderes moyen dazu führt, dass auch von einer neuen cause und damit von einem anderen Streitgegenstand ausgegangen werden muss. Isoliert betrachtet zeigt sich in dieser Frage vordergründig eine Übereinstimmung mit dem deutschen Recht: Auch innerhalb des französischen Zivilprozessrechts ist anerkannt, dass die Berufung auf Tatsachen, die bereits im Zeitpunkt der ersten Klage vorgetragen werden konnten, nicht geeignet sind, eine neue Klage zu begründen: „[…] il est admis de manière constante qu’un nouveau moyen de preuve ne suffit pas à empêcher le jeu de l’autorité de la chose 411 Vgl. hierzu Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 10; Chainais/Ferrand/Mayer/ Guinchard, Procédure civile, n° 1162; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 564 ff.; Vincent/Guinchard, n° 179. 412 Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8. 413 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 145. 414 So Cornu/Capitant, Vocabulaire. 415 So Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 170. 416 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 147 bezeichnet den Begriff moyen etwa als eine „bloße Worthülse […], die für die tatsächliche Definition des Streitgegenstandes […] keinen wirklichen Mehrwert bietet.“ 417 Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 170; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 614.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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jugée[…].“418 Während neue moyens de preuve also nicht geeignet sind, die Rechtskraft zu überwinden, bot sich für die moyens de droit lange Zeit ein anderes Bild: Nach früherer Rechtsprechung führte eine Veränderung oder ein Hinzutreten von moyens de droit zu einer neuen cause, sodass einer neuen Klage nicht die Rechtskraft eines bestehenden Urteils entgegenstand.419 Jedes neue moyen de droit genügte, um eine neue cause zu begründen und ermöglichte damit, innerhalb desselben Klageziels mehrere Prozesse zu führen.420 Die Möglichkeit, sich im Rahmen des neuen Prozesses (wegen der neuen cause) sodann auch wieder auf „alte“ Tatsachen zu berufen, hatte zur Folge, dass die Rechtskraft im Grunde nur das erfasste, was von den Parteien tatsächlich vorgetragen wurde, und eben nicht – wie in Deutschland – auch dasjenige, was die Parteien zwar nicht vorgetragen haben, aber hätten vortragen können.421 Der Umstand, dass ein neues moyen de droit zu einer neuen cause führte und im Rahmen dieser neuen cause auch „alte“ moyens de preuve präsentiert werden konnten, verhinderte – trotz des Grundsatzes, neue moyens de preuve seien nicht geeignet, die Streitgegenstandsidentität und damit die Rechtskraft zu überwinden – also eine konsequente Tatsachenpräklusion sozusagen „durch die Hintertür“.422 Die eingangs zitierte Rechtsprechung der Cour de cassation markiert eine Kehrtwende innerhalb der Frage, was alles Bestandteil ein und derselben cause und damit nicht geeignet ist, Streitgegenstandsverschiedenheit und damit wiederum Nichteingreifen der Rechtskraft zu bewirken.423 Infolge eines neuen, weiteren Verständnisses der cause veränderte sich auch die Reichweite dessen, was durch die Rechtskraft präkludiert ist. So müssen nach der Cesareo-Rechtsprechung424 nun – unabhängig vom Prinzip des noncumul425,426 – schon im ersten Prozess alle moyens vorgetragen werden, die ge418 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 615. 419 Cass. Civ. 2e, 7 févr. 1979 = Bull. Civ. 1979 II, n° 37; Cass. Civ. 2e, 14 févr. 1979 = Bull. Civ. 1979, n° 44; Cass. Civ. 1re, 28 mars 1995 = Bull. Civ. 1995 I, n° 139; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 170. 420 Siehe hierzu noch unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) und Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 636. 421 So auch Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 609; Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 104 ff. 422 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 151: „Dennoch konnte vor 2006 nicht angenommen werden, dass hinsichtlich dieser schon im Zeitpunkt der früheren Entscheidung bestehenden Tatsachen eine Tatsachenpräklusion eintrete. Denn die ‚Alttatsachen‘ konnten im Rahmen einer späteren Klage mit identischem objet dann vorgetragen werden, wenn sich die Klage gleichzeitig auf eine andere Rechtsgrundlage stützte und die bereits im ersten Verfahren bestehende Tatsache lediglich der Begründung des Tatbestandes dieser Rechtsgrundlage diente.“ 423 Zum Begriff der cause und den angesprochenen Entwicklungen siehe unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb). 424 Ausführlicher dazu unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 425 So Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 253. 426 Nach der französischen Lehre des non-cumul verdrängen vertragliche Anspruchs-
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Erster Teil: Grundlagen
eignet sind, das Klageziel zu stützen. Die mit dem neuen Verständnis des Begriffes cause einhergehende Präklusionswirkung geht dabei deutlich über die aus dem deutschen Recht bekannte Tatsachenpräklusion hinaus.427 Ungeachtet dieser Entwicklungen bleibt es auch weiterhin dabei, dass Tatsachen, die im Zeitpunkt der ersten Verhandlung noch nicht bestanden haben (fait nouveau), nicht von der Präklusion erfasst werden.428
bb) Positive Wirkung (effet positif ) Art. 1355 CC und Art. 122 CPC machen keine Aussagen zur Existenz positiver Rechtskraftwirkungen: „L’article […] ne consacre donc pas une autorité positive, pas plus qu’il ne la condamne“.429 Gesichert ist allein die Unzulässigkeit einer neuen Klage, sofern objet, cause und parties identisch sind – also der negative Effekt. Im Rahmen der positiven Rechtskraftwirkungen (effet positif oder autorité positive) geht es jedoch nicht um einen Ausschluss weiterer Entscheidungen über denselben Streitgegenstand, sondern darum, bereits Entschiedenes in Prozessen über andere Streitgegenstände fruchtbar zu machen.430 Diese Form der Bindungswirkung ist im französischen Zivilprozessrecht nur an wenigen Stellen gesetzlich vorgesehen und darüber hinaus nicht grundsätzlich anerkannt. Umstritten ist innerhalb der Literatur insbesondere die Frage, ob der effet positif eine eigenständige Wirkung der autorité de la chose jugée – als Ergänzung zum gesetzlich verankerten effet négatif – darstellt oder nicht. Kern dieser Diskussion ist also weniger die Existenz des Phänomens „positive Bindungswirkung“ an sich, sondern vielmehr die Frage nach dessen zutreffender Verankerung im System der Rechtskraft.431 Als Beleg für die Existenz positiver Rechtskraftwirkungen wird vielerorts Art. 95 CPC genannt.432 Die Vorschrift bestimmt, dass solche Entscheidungen in der Sache, die ein Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeitsentscheidung grundlagen im Falle von Anspruchskonkurrenz jegliche deliktische Anspruchsgrundlagen, vgl. hierzu etwa Malaurie/Aynès/Stoffel-Munck, Droit des obligations, n° 1007 ff.; Terré/Simler/Lequette, Les obligations, n° 875; Knetsch, Das Verhältnis von Vertrags- und Deliktsrecht, S. 11 ff. 427 Siehe hierzu noch unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb). Vgl. kritisch und ausführlich zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 142 ff. 428 Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 156 f.; Bendel-Vasseur, Justice & Cassation 2010, 366, 369 f.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 615; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 171, 194. 429 So Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; noch weitergehend Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 73: „Das französische Zivilprozessgesetzbuch enthält keine einzige Bestimmung betreffend die positive Rechtskraft.“ 430 So auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 699; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 72. 431 Ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 60. 432 So Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 141 f.; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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trifft, in Rechtskraft erwachsen: „Lorsque le juge, en se prononçant sur la compétence, tranche la question de fond dont dépend cette compétence, sa décision a autorité de chose jugée sur cette question de fond.“ Qualifiziert also etwa ein Gericht das streitige Rechtsverhältnis innerhalb seiner Zuständigkeitsprüfung als Arbeitsvertrag, so ist diese Qualifikation für das zuständige Gericht bindend.433 Die Pflicht, die entschiedene Vorfrage im Rahmen der Hauptsache zugrunde zu legen, gilt unabhängig davon, ob sich das Gericht für zuständig oder unzuständig hält: Auch ein später mit der Sache befasstes Gericht ist an die (mit-)getroffene Entscheidung gebunden.434 Art. 95 CPC wird als eine seltene gesetzliche Bestätigung der Existenz positiver Rechtskraftwirkungen gewertet.435 Ziel dieser Regelung ist die Verhinderung widersprechender Entscheidungen.436 Auf der Suche nach weiteren Beispielen für einen effet positif wird auch immer wieder die Wirkung rechtskräftiger Entscheidungen aus Strafprozessen für Zivilprozesse (autorité de la chose jugée au pénal sur le civil) genannt: Hier entspreche es ständiger Rechtsprechung, dass diejenigen Tatsachen, die innerhalb eines Strafprozesses erkannt wurden, auch für Zivilgerichte bindend seien.437 Dies ergebe sich deshalb, weil sich aus den unterschiedlichen Prozessgrundsätzen eine Art Hierarchie der jeweiligen Rechtskraftwirkungen ableiten ließe.438 Bis zur Reform im Jahr 2016 ließ sich für die generelle Existenz positiver Rechtskraftwirkungen auch noch die Stellung des Art. 1351 CC a. F. innerhalb des Titels présomptions établies par la loi anführen.439 Seit der Restrukturierung des Beweisrechts findet sich das Äquivalent zum damaligen Art. 1351 CC a. F. (Art. 1355 CC) jedoch nicht mehr innerhalb dieses Titels, sondern innerhalb der dispositions générales de la preuve des obligations. Die Vorschrift befindet sich damit jedoch weiterhin innerhalb des Beweisrechtes, sodass auch dieser Umstand möglicherweise als Begründungsansatz herangezogen werden könnte.440 433 434
Beispiel nach Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11. Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11. 435 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 715; Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11. 436 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 715. 437 So Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; vgl. hierzu ausführlicher Robert, Procédures, août-sept. 2007, étude 19; ebenso Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 728 ff.; Bunge, Zivilprozess, S. 74. 438 „[…] la chose jugée au pénal est revêtue d’une autorité supérieure à celle de toutes les autres choses jugées en raison de la nature des formes qui précèdent l’énoncé du jugement“, so Robert, Procédures, août-sept. 2007, étude 19. 439 So noch Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1092. 440 So stützen sich Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1092 auch allgemein auf die Beweisfunktion der autorité de la chose jugée. Kritischer im Hinblick auf
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Erster Teil: Grundlagen
Trotz der eben beschriebenen Erscheinungen und auch wenngleich zahlreiche Bearbeitungen zu den Wirkungen der autorité de la chose jugée eine Einteilung in effet positif und effet négatif vornehmen441, ist die grundsätzliche Anerkennung einer positiven Wirkungsrichtung der materiellen Rechtskraft doch umstritten.442 Die in diesem Zusammenhang vertretenen Ansichten reichen von grundsätzlicher Verneinung443 einer eigenständigen Existenz des effet positif über eine Anerkennung nur in Ausnahmefällen444 bis hin zur generellen Befürwortung445.
(1) Anerkennung des effet positif nur in Ausnahmefällen Nach einer insbesondere von Jacques Héron und Thierry Le Bars vertretenen Ansicht sei der effet positif der materiellen Rechtskraft nicht grundsätzlich, sondern nur ausnahmsweise anzuerkennen: „Il est donc sans doute préférable de ne pas consacrer l’autorité positive de chose jugée, de manière générale. Peutêtre doit-on s’en tenir aux cas particuliers admis par la loi ou la jurisprudence et n’appliquer cette théorie que dans les rares hypothèses où il apparaîtrait choquant, pour l’esprit, de ne pas le faire“.446 Demnach seien positive Rechtskraftwirkungen auf solche Situationen zu beschränken, die entweder vom Gesetz vorgegeben – so etwa Art. 95 CPC – oder von der Rechtsprechung anerkannt sind.447 Hiervon abgesehen sei ein effet positif nur dort zu befürworten, wo es geradezu anstößig („choquant“) erschiene, eine bereits entschiedene Vorfrage nicht erneut zugrunde zu legen.448 Insbesondere bei Streitigkeiten im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen sei eine positive Bindungswirkung zwischen mehreren Entscheidungen daher angebracht.449 die Anerkennung einer autorité positive de chose jugée hingegen inzwischen in der Neuauflage Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1186 ff. 441 So etwa Tomasin, Chose jugée, n° 227 ff.; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 565 ff.; Kernaleguen, Études Normand (2003), 261, 266 ff.; Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 367 ff.; Normand, BICC hors-série 2004; Héron, Mélanges Perrot (1996), 131. 442 „La doctrine n’est pas non plus unanime ni très fournie“, so Le Bars, Procédures, aoûtsept. 2007, 9, 12. 443 So Frison-Roche, Contradictoire, n° 54; Cornu/Foyer, Procédure civile, n° 140. 444 So insb. Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 367 ff.; in diese Richtung inzwischen auch Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1188 („Pour une reconnaissance raisonné de l’autorité positive de chose jugée […]“). 445 So Tomasin, Chose jugée, n° 227 ff.; Bléry, Éfficacité, n° 191 ff.; Guinchard/Chainais/ Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1092; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 59 f. 446 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369; zustimmend auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 75. 447 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369. 448 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369. 449 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369 führen etwa an, es sei untragbar („intolérable pour l’esprit“), wenn ein Mieter, der zuvor aufgrund eines wirksamen Mietvertrages zur
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Obwohl positive Bindungswirkungen im Hinblick auf Rationalität und Prozessökonomie „verführerisch“ erscheinen mögen450, spreche gegen eine generelle Anerkennung positiver Rechtskraftwirkungen jedoch, dass eine verbindliche Festschreibung bestimmter Verhältnisse oder Qualifikationen für die Parteien überraschend und daher unangemessen sein könnte.451 Hier wird darauf verwiesen, dass eine Partei aufgrund des aus ihrer Sicht zufriedenstellenden Endergebnisses darauf verzichten könne, bestimmte Klarstellungen zu erwirken, welche sich dann in einem weiteren Verfahren negativ und überraschend für selbige auswirken könnten.452 Auch die Gefahr der Fortschreibung falscher Entscheidungen wird ins Feld geführt.453 Zudem sei die Anerkennung einer positiven Wirkung deshalb problematisch, weil gegen die inzident mitgetroffenen Entscheidungen keine Rechtsmittel zur Verfügung stünden.454 Gerade das letzte Argument zeigt, wie eng die Diskussion um eine autorité positive mit der Frage nach der isolierten Rechtskraft von Entscheidungsgründen verwoben ist, denn in aller Regel werden sich die später gegebenenfalls zugrunde zu legenden Vorfragenentscheidungen innerhalb der Gründe der Erstentscheidung finden.455 Teilweise wird daher auch angenommen, die Verneinung einer eigenständigen Rechtskraft von Entscheidungsgründen impliziere die Ablehnung positiver Rechtskraftwirkungen.456
(2) Grundsätzliche Ablehnung eines effet positif der autorité de la chose jugée Andere Stimmen innerhalb der Literatur beschränken die materielle Rechtskraft auf ihren effet négatif und verneinen, dass aus der Rechtskraft eine Bindungswirkung im Sinne eines effet positif folge.457 Die Bejahung positiver Rechtskraftwirkungen basiere auf einer Verwechslung mit anderen Urteilseffekten.458 Zahlung des Mietzinses verurteilt worden war, im Rahmen einer späteren Klage des Vermieters erneut die Wirksamkeit des Mietvertrages in Frage stellen könnte. 450 „L’autorité positive de la chose jugée peut séduire au premier abord par sa rationalité abstraite“, so Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 138; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369. 451 So Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 138. 452 Vgl. Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369; Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 138. 453 Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 138. 454 Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 139. 455 So ebenfalls Stapf, Rechtskraftlehre, S. 110 f., welche auch auf den Umstand verweist, dass allgemeine Feststellungsklagen im französischen Zivilprozessrecht nicht vorgesehen sind. 456 So Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; dahingehend auch Héron, Mélanges Perrot (1996), 131; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368; vgl. hierzu auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 725; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 58. 457 So insb. Frison-Roche, Contradictoire, n° 54; Cornu/Foyer, Procédure civile, n° 140. 458 So Frison-Roche, Contradictoire, n° 54: „Il n’y donc pas de fonction positive de l’autorité de chose jugée. La confusion entre autorité et effets, par le détour d’une ‚fonction positive‘ de l’autorité chose jugée, sera très pernicieuse […]. Il faut donc soigneusement distinguer de
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Erster Teil: Grundlagen
Weil die autorité de la chose jugée lediglich verhindere, dass dieselbe Frage erneut anhängig gemacht wird, folge die Bindungswirkung nicht aus der Rechtskraft, sondern aus der efficacité substantielle459.460 Da sich die verbindliche Rechtsänderung schon aus der efficacité substantielle ergebe, sei es nicht erforderlich, der autorité de la chose jugée eine positive Wirkungskomponente zuzuschreiben.461 Wenn also eine bereits entschiedene Frage in einem späteren Verfahren als Vorfrage auftauche, sei es der effet négatif der autorité de la chose jugée, der eine erneute Infragestellung der vorangehenden Entscheidung verhindere.462 Dabei handele es sich nicht um einen eigenständigen positiven Rechtskrafteffekt, sondern allenfalls um eine indirekte Auswirkung des effet négatif.463 Dieser Ansicht wird entgegengehalten, die Bindungswirkung nicht umfassend erklären zu können: Zwar folge die eintretende Rechtsänderung in der Tat aus der efficacité substantielle. Das Verbot, die bereits entschiedene Vorfrage erneut in Frage zu stellen, folge jedoch aus der autorité de la chose jugée.464
(3) Befürwortung eines effet positif der autorité de la chose jugée Ein weiterer Teil der Literatur betrachtet den effet positif demgegenüber als eigenständigen Bestandteil der autorité de la chose jugée.465 Sie widersprechen der These, die Annahme eines effet positif beruhe auf einer Konfusion verschiedener Urteilswirkungen: Allein der Umstand, dass effet positif und efficacité substantielle in der Literatur teilweise unscharf getrennt wurden, veranlasse l’autorité de chose jugée les effets de la décision.“; ebenso Cornu/Foyer, Procédure civile, n° 140. 459 Zum Begriff der efficacité substantielle siehe oben erster Teil, B. III. 4. b) bb). 460 So Frison-Roche, Contradictoire, n° 54: „Lorsque l’effet est d’imposer comme vrai l’état de droit dégagé par le jugement, il y a là opposabilité.“; ebenso Cornu/Foyer, Procédure civile, n° 140; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 54 ff. 461 Frison-Roche, Contradictoire, n° 54. 462 Frison-Roche, Contradictoire, n° 54: „Ainsi, lorsque l’effet est l’interdiction aux parties à un second procès de remettre en cause des points déjà tranchés par un premier jugement, la cause est l’extinction de leur droit d’action à ce sujet, fonction négative de l’autorité de chose jugée.“; dahingehend auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 72; vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 54 f. 463 So Cornu/Foyer, Procédure civile, n° 140, S. 596: „L’effet positif attribué à l’autorité de la chose jugée, si souvent et si longtemps confondue avec l’efficacité substantielle, n’est qu’un effet indirect.“; ähnlich Guillien, L’acte juridictionnel, S. 345: „L’autorité de la chose jugée apparaît comme négative. Elle interdit aux quiconque de remettre en question un acte juridictionnel déjà rendu. Mais cette interdiction, purement négative, a d’un certain point de vue un effet positif, parce que tout élément négatif se solde quelque part par un élément positif.“ 464 So Mayer, Mélanges Héron (2008), 331, 336. 465 So Tomasin, Chose jugée, n° 227 ff.; Bléry, Éfficacité, n° 191 ff.; Vizioz, Études de Procédure, n° 56; Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1092 (zurückhaltender hingegen in der Neuauflage Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1186); Stapf, Rechtskraftlehre, S. 59 f.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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nicht dazu, die Existenz des effet positif der Rechtskraft insgesamt zu verneinen.466 Die Möglichkeit, eine bereits früher entschiedene Frage in einem weiteren Verfahren zugrunde zu legen, ergebe sich auch nicht aus dem effet négatif der autorité de la chose jugée, sondern sei allein mit einer eigenständigen positiven Rechtskraftwirkung erklärbar.467 Gegen die Auffassung, es sei der effet négatif, der dafür sorge, dass eine bereits entschiedene Frage als Vorfrage eines nachfolgenden Verfahrens zugrunde zu legen sei, spreche, dass zwischen den beiden Verfahren gerade keine Identität von objet und cause besteht.468 Für die positive Bindungswirkung sei es hingegen ausreichend und gerade charakteristisch, dass zwischen der ersten und der zweiten Klage nicht vollständige Streitgegenstandsidentität (identité totale), sondern nur teilweise Streitgegenstandsidentität (identité partielle) bestehe.469 Denn wären objet und cause der beiden Verfahren identisch, wäre der gesamte Streitgegenstand bereits entschieden und die negative Rechtskraftwirkung würde die Klage insgesamt unzulässig machen.470 Innerhalb der Ansicht, wonach die autorité de la chose jugée eine eigenständige positive Wirkungsweise besitze, lassen sich verschiedene Begründungsansätze erkennen, die eng mit dem Verständnis vom Wesen der Rechtskraft verknüpft sind.471 Gerade wenn man davon ausgeht, die autorité de la chose jugée begründe eine unwiderlegbare Vermutung der Wahrheit beziehungsweise der Richtigkeit des Urteiles (présomption de vérité), liegt eine positive Bindungswirkung durch die Rechtskraft in nachfolgenden Prozessen nahe.472 Ähnlich verhält es sich auch für die Annahme, die Rechtskraft führe zwar nicht zur Vermutung der Richtigkeit des Spruches, verleihe dem Urteil allerdings die „Kraft 466 So Tomasin, Chose jugée, n° 234: „Or, ce n’est pas parce que la doctrine a pu commettre une confusion entre l’efficacité du jugement et l’effet positif de son autorité qu’il faut nécessairement en déduire que ce dernier n’existe pas.“; zustimmend Bléry, Éfficacité, n° 191. 467 So Bléry, Éfficacité, n° 191; Tomasin, Chose jugée, n° 239. 468 Dies betonen etwa Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 723; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 367; in diese Richtung auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 59. 469 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 723; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 367; Kernaleguen, Institutions judiciaires, n° 29. 470 So Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 367: „En cas d’identité totale (même cause et même objet), tout ayant déjà été tranché, le second juge n’a plus rien à examiner. Il peut rejeter sans examen la demande qui est formée pour la seconde fois, c’est-à-dire la déclarer irrecevable. Il y a autorité négative.“ 471 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 60; zum Wesen der materiellen Rechtskraft siehe oben erster Teil, B. III. 3. b). 472 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 53 f., die auch darauf hinweist, dass die positive Wirkung nach dem Verständnis der présomption de vérité „die Zentrale Wirkung der Entscheidung“ darstellt.
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Erster Teil: Grundlagen
gesetzlicher Wahrheit“ (force de vérité legale).473 Auch dieses Verständnis von der Rechtskraft impliziert die Bejahung positiver Rechtskraftwirkungen.474 Von Stimmen in der Literatur, die eine Verknüpfung der autorité de la chose jugée mit der Wahrheit (vérité) ablehnen und die Rechtskraft als prozessuales Institut zur Verhinderung erneuter Entscheidungen über bereits entschiedene Sachen verstehen, wird der effet positif als Konsequenz der Unabänderlichkeit (immutabilité) des Urteiles verstanden.475 Die immutabilité ermögliche es, ein nachfolgendes Gericht dazu zu verpflichten, die bereits entschiedene Frage innerhalb seiner Beurteilung zugrunde zu legen und sich unabhängig vom Ausgangsrechtsstreit auf die damaligen Feststellungen zu berufen.476 Generelle Argumente zur Befürwortung positiver Bindungswirkungen sind außerdem die Förderung einer in sich konsistenten Rechtsprechung und die Verhinderung einander widersprechender Entscheidungen.477
(4) Rechtsprechung Die Position der französischen Rechtsprechung zur Frage nach Existenz und eigenständiger Bedeutung des effet positif als Teil der autorité de la chose jugée ist nicht eindeutig.478 Die Rechtsprechung erkennt die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft nicht grundsätzlich an.479 Dennoch existieren Fälle, in denen die Cour de cassation von einer positiven Bindung an Feststellungen aus vorangehenden Verfahren ausgeht und diese auf die autorité de la chose jugée 473 Vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 47; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1158 f. 474 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 53. 475 So Tomasin, Chose jugée, n° 239: „[…] cet effet positif se fonde sur la valeur immuable attribué à la déclaration du juge […]. L’effet positif ne peut donc s’appuyer que sur l’immutabilité […].“; ebenso Bléry, Éfficacité, n° 191. 476 Bléry, Éfficacité, n° 191: „Cette possibilité d’‚obliger le juge à se fonder sur une question de droit déjà tranchée dans un précédent procès‘ […] ne peut s’expliquer par la fonction négative de l’autorité. Seule la fonction positive peut ‚combler ce besoin‘. Il n’est alors fait usage, ni de l’efficacité – substantielle –, ni de la force obligatoire […] mais bien de ‚la valeur immuable attribuée à la déclaration du juge‘ sur un point de droit isolé dans le précédent procès.“ Bléry verweist an dieser Stelle auf Tomasin, Chose jugée, n° 239. 477 So ebenfalls Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 140; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 369. 478 So auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 716: „[…] la Cour de cassation fait preuve d’une certaine versatilité ou d’un certain pragmatisme“; deutlich auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 75: „Derzeit kann leider nicht behauptet werden, dass die gewünschte und notwendige Klarheit der Rechtsprechung erreicht worden ist, auch wenn sie dringend geboten ist, damit ein effektiver Zugang zum Gericht weiterhin garantiert werden kann.“; ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 58. 479 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 700: „En outre, quand la jurisprudence l’applique, c’est toujours sans le dire; elle ne consacre pas de manière officielle cette manifestation de l’autorité de la chose jugée […]“; Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11: „Quant à la jurisprudence, elle ignore ce concept […]“; vgl. hierzu auch Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 132 ff.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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stützt.480 Innerhalb der Literatur wird jedoch darauf hingewiesen, dass ähnlich gelagerte Fälle existieren, in denen die Rechtsprechung den effet positif ohne ersichtliche Gründe ablehnt481 und die Anzahl der Beispiele, in der die Rechtsprechung eine positive Bindungswirkung anerkennt, gering sei482. Im Zuge dieser Unklarheiten wird auch die Frage, welche Auswirkungen die neuere Rechtsprechung der Cour de cassation zur Rechtskraft von Entscheidungsgründen483 auf die Diskussion um die Existenz positiver Rechtskraftwirkungen hat, unterschiedlich beurteilt. Nach dieser Rechtsprechung beschränkt sich die materielle Rechtskraft streng auf den Ausspruch im Tenor, Gründe nehmen nicht an der Rechtskraft teil.484 Weil die Urteilsbegründung in der Regel der Ort sein wird, in dem sich Feststellungen zu Vorfragen finden, die innerhalb späterer Verfahren möglicherweise zugrunde zu legen wären – man denke etwa an die Frage nach der Wirksamkeit eines Vertrages im Rahmen einer Zahlungsklage – entziehe die Rechtsprechung, nach der Entscheidungsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen, der Idee von positiven Rechtskraftwirkungen die Grundlage.485 Dem ist zwar zuzugestehen, dass im Zuge dieser Rechtsprechung rein praktisch ein großes Anwendungsfeld des effet positif verloren geht. Als eine allgemeine und grundsätzliche Aussage zur Existenz positiver Rechtskraftwirkungen lässt sich diese Rechtsprechung hingegen nur schwer interpretieren, denn die Frage, ob auch Entscheidungen innerhalb des Tenors, die im Rahmen eines späteren Verfahrens als Vorfrage relevant werden, eine positive Bindungswirkung entfalten, wird durch den Grundsatz, wonach Gründe nicht an der Rechtskraft teilnehmen, nicht berührt.486 Nach alledem muss die Haltung der Rechtsprechung zur Frage nach einem effet positif der autorité de la chose jugée wohl weiterhin als unklar bezeichnet werden.487 480 Cass. Civ. 1re, 19 mai 1976, n° 74-13821 = Bull. Civ. 1976 I, n° 184 p. 148; Cass. Com. 17 nov. 1992, n° 90-22130 = Bull Civ. 1992 IV, n° 357, p. 254; Cass. Civ. 1re, 4 jan. 1995, n° 9310870 = Bull. Civ. 1995 I, n° 7 p. 5; Cass. Civ. 1re, 18 juill. 1995, n° 93-16574 = Bull. Civ. 1995 I, n° 330 p. 231; Cass. Civ. 2e, 22 mars 2006, n° 04-10776 = Bull. Civ. II n° 80 p. 77. 481 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 716. 482 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 58; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368; noch weitergehend Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11: „[…] elle ne l’utilise pas.“ 483 Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3; m. Anm. Gabet, BICC 1er juin 2009, 8. 484 Hierzu ausführlich unten dritter Teil, B. 485 Dahingehend Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368; Le Bars, Procédures, aoûtsept. 2007, 9, 11. 486 So zutreffend Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 725: „Une autre condition pour que joue l’autorité positive semble maintenant être exigée par la Cour de cassation. Il est en effet nécessaire que la question dont on entend, à l’occasion du nouveau procès, tirer des conséquences nouvelles, ait été tranchée dans le dispositif de la décision.“; ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 58. 487 Ebenso Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 716; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 75.
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Erster Teil: Grundlagen
(5) Zusammenfassung Die obigen Ausführungen haben zunächst gezeigt, dass positive Bindungswirkungen innerhalb des französischen Zivilprozessrechtes existieren. Vorgegeben werden sie zum einen von Gesetzen, zum anderen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Darüber hinaus wurde deutlich, dass in der Frage nach der zutreffenden Verortung des effet positif letztlich kein Konsens gefunden wurde. Zahlreiche Autoren und teilweise die Rechtsprechung schreiben den effet positif jedoch der autorité de la chose jugée zu.488 Die Diskussion um die Existenz positiver Rechtskraftwirkungen erfährt vielerorts eine Verknüpfung oder gar Vermischung mit der Frage nach einer isolierten Rechtskraft von Entscheidungsgründen.489 Aus deutscher Sicht mag dieser Zusammenhang möglicherweise überraschen. Er erklärt sich jedoch unter anderem durch den Umstand, dass im französischen Zivilprozessrecht weder eine allgemeine Feststellungsklage noch eine Zwischenfeststellungsklage gesetzlich vorgesehen sind.490 Die Konservierung und Heranziehung bestehender Entscheidungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse wurde lange Zeit dadurch bewerkstelligt, dass tragende Entscheidungsgründe in Rechtskraft erwachsen sollten.491 Vor diesem Hintergrund ist sodann auch verständlicher, warum die Rechtsprechung der Cour de cassation, wonach Entscheidungsgründe von der Rechtskraft ausgeschlossen bleiben, den praktischen Anwendungsbereich positiver Rechtskraftwirkungen deutlich reduziert: Die Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor macht erforderlich, dass die Entscheidung, von der der effet positif ausgehen soll, im Tenor (dispositif) enthalten ist.492 Das Fehlen allgemeiner Feststellungsklagen begrenzt sodann die Häufigkeit solcher Urteile, deren Tenor Entscheidungen enthält, die im Rahmen späterer Verfahren präjudiziell sein könnten.493 488 So z. B. Tomasin, Chose jugée, n° 227 ff.; Bléry, Éfficacité, n° 191 ff.; Vizioz, Études de Procédure, n° 56; Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1092; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 59 f. 489 So z. B. bei Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368; dahingehend auch Héron, Mélanges Perrot (1996), 131; diesen Eindruck erweckt auch die Darstellung bei Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 71 f., denn Ferrand meint, bei der positiven Rechtskraftwirkung gehe es nicht um die „Präjudizialität in den Fällen, in denen die im Tenor rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge eine präjudizielle Voraussetzung eines Anspruches in einem zweiten Prozess darstellt“, sondern „vor allem um die Fälle, in denen eine Tatsache bzw. eine Subsumtion in den Gründen der ersten Entscheidung enthalten ist“. Dass die Präjudizialität im eigentlichen Sinne keine positive Rechtskraftwirkung sei, begründet Ferrand damit, dass (auch) hier das „ne bis in idem […] in gleicher Weise“ gelte. 490 Ségur, JCP 1965, 1902, n° 2; Kranzbühler, Zulässigkeit der Feststellungsklage, S. 2; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 88; vgl. auch Solus/Perrot, Droit judiciaire privé I, n° 233; vgl. hierzu ausführlicher unten dritter Teil, B. III. 5. 491 Vgl. hierzu ausführlich unten dritter Teil, B. III. 492 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 725. 493 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 110 f.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft im französischen Recht theoretisch weitaus umstrittener und praktisch seltener ist als innerhalb des deutschen Zivilprozessrechtes.
8. Subjektive Reichweite der materiellen Rechtskraft Die Frage, wer von der Rechtskraft einer Entscheidung profitiert oder betroffen ist (subjektive Reichweite der materiellen Rechtskraft), beantworten das deutsche und französische Zivilprozessrecht grundsätzlich gleich. In beiden Rechtsordnungen wirkt die materielle Rechtskraft nur inter partes, bindet also nur die jeweiligen Streitparteien.
a) Deutsches Recht § 325 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die materielle Rechtskraft nur für und gegen die Parteien des Rechtsstreits – und deren Rechtsnachfolger494 nach Rechtshängigkeit – wirkt. Diese Beschränkung der Rechtskraft ergibt sich aus dem Prozess der Urteilsfindung und dem berechtigten Interesse Dritter: Die materielle Rechtskraft verhindert, dass in einem neuen Verfahren über die zuvor bereits festgestellte Rechtsfolge erneut gestritten oder entschieden wird.495 Da nur die Prozessparteien die Erstentscheidung herbeigeführt und den Prozess durch ihre Mitwirkung beeinflusst haben, darf die materielle Rechtskraft – auch im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 GG496 – grundsätzlich nicht auf die Rechtsverhältnisse am Prozess nicht beteiligter Dritter einwirken.497 Gleichwohl bestehen gesetzlich angeordnete Ausnahmen dieses Grundsatzes, in denen die Rechtskraft auch Dritte bindet.498 Teilweise ist versucht worden, aus der Gesamtschau der bestehenden Ausnahmen einheitliche Vo494 Rechtsnachfolger i. d. S. ist derjenige, der den streitbefangenen Gegenstand erwirbt, so Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325, Rn. 7. Zur Frage nach der Bindung des Rechtsnachfolgers an einen vom Rechtsvorgänger geschlossenen Prozessvergleich vgl. BGH, NJW 2019, 310. Kritisch zur dogmatischen Herleitung des Ergebnisses Althammer, JZ 2019, 286, 287 ff., der insb. den Vergleich des BGH mit der materiellen Rechtskraftwirkung eines Leistungsurteiles kritisiert (290 f.). 495 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325, Rn. 1. 496 Zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtskrafterstreckung und Anspruch auf rechtliches Gehör Marotzke, ZZP 1987, 164; Calavros, Urteilswirkungen zu Lasten Dritter, S. 49 ff., 109 ff.; allgemein zum Anspruch auf rechtliches Gehör materiell betroffener Dritter z. B. Waldner, Probleme des rechtlichen Gehörs im Zivilprozess, S. 222 ff. 497 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325, Rn. 1; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 325, Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 157, Rn. 1. 498 Z. B. § 326 ZPO (Rechtskraft bei Nacherbfolge), § 327 ZPO (Rechtskraft bei Testamentsvollstreckung), § 248 Abs. 1 S. 1 AktG (Rechtskraft eines Urteils, das einen Hauptversammlungsbeschluss einer Aktiengesellschaft für nichtig erklärt), § 124 Abs. 1 VVG (Rechtskraft eines klageabweisenden Urteiles zwischen Geschädigtem und Versicherer wirkt zugunsten des Versicherungsnehmers) und wegen § 768 Abs. 1 S. 1 BGB kann sich der Bürge ebenfalls auf die Einrede entgegenstehender Rechtskraft eines Urteiles zwischen Hauptschuld-
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Erster Teil: Grundlagen
raussetzungen für eine Rechtskrafterstreckung auf Dritte zu entwickeln.499 Die herrschende Ansicht lehnt derartige Vorschläge jedoch ab und erkennt die Rechtskrafterstreckung auf Dritte nur innerhalb der vom Gesetz vorgesehenen Ausnahmekonstellationen an.500
b) Französisches Recht Die dritte Voraussetzung im Rahmen der sogenannten triple identité, die Art. 1355 CC für das Eingreifen der Rechtskraftsperre vorschreibt, ist die Parteiidentität: „Il faut […] que la demande soit entre les mêmes parties, et formée par elles et contre elles en la même qualité“. Hiernach wirkt die materielle Rechtskraft nur dann, wenn auch die Prozessparteien innerhalb eines neuen Prozesses identisch sind.501 Es kommt dabei nicht allein – das formuliert der Zusatz de même qualité – auf die schlichte Personenidentität, sondern auch auf deren Rolle im Prozess an.502 Dieser Regelung liegt das Prinzip zugrunde, dass die Rechtskraft grundsätzlich nur zwischen den Parteien und nicht gegenüber Dritten (tiers) wirkt (relativité de la chose jugée). Personen, die weder Prozessparteien waren noch im Prozess vertreten wurden, bindet die Rechtskraft grundsätzlich503 nicht.504 Dritten, die vom Urteil dennoch betroffen sind, gesteht das französische Zivilprozessrecht eine gesonderte Anfechtungsmöglichkeit (sogenannte tierce opposition) zu, der jedoch keine Rechtskrafterstreckung zugrunde liegt.505
9. Berücksichtigung im Prozess Die Pflicht, die materielle Rechtskraft von Amts wegen zu beachten, ist in beiden Rechtsordnungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Während deutsche Gener und Gläubiger berufen. Zu weiteren Ausnahmen vgl. etwa MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 325, Rn. 63 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325, Rn. 11 ff. 499 Dahingehend etwa Bettermann, Vollstreckung des Zivilurteils, S. 79 ff. und Blomeyer, ZZP 1962, 1; vgl. zum Ganzen auch Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 325, Rn. 80 ff. 500 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 325, Rn. 4; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325, Rn. 3; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 325, Rn. 80 ff.; den Ausnahmecharakter der Rechtskrafterstreckung auf Dritte betont auch BGHZ 3, 385, 388 = NJW 1952, 178, 178. 501 Vgl. hierzu Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1174. 502 Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 729 mit dem Beispiel, dass eine Partei etwa in einem Verfahren als Geschäftsführer einer Gesellschaft und in einem weiteren Verfahren als Aktionär dieser Gesellschaft „dieselben“ Ansprüche geltend machen könne, ohne dass ihr die Rechtskraft des ersten Verfahrens im Weg stünde. 503 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 46 f. weist z. B. darauf hin, dass die Rechtsprechung die Rechtskraft einer Entscheidung gegen einen Gesamtschuldner auch auf die übrigen Gesamtschuldner ausweite, obwohl hierfür keine gesetzliche Grundlage bestehe. 504 Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1175; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 730. 505 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 128.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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richte in jeder Instanz dazu verpflichtet sind, die materielle Rechtskraft von Amts wegen zu prüfen, besteht diese Pflicht im französischen Zivilprozess nur in Ausnahmefällen. Bis zu einer Gesetzesänderung im Jahr 2004 war es französischen Gerichten sogar verwehrt, die materielle Rechtskraft zu beachten, wenn sich keine der Parteien auf sie berufen hatte. Nach deutschem Recht können die Parteien nicht über die Wirkung der materiellen Rechtskraft disponieren. Das französische Verständnis ist hier weiter und erlaubt den Parteien auch, auf die Einmaligkeitswirkung der Rechtskraft zu verzichten.
a) Deutsches Recht Im deutschen Zivilprozessrecht ist die materielle Rechtskraft in allen Instanzen von Amts wegen zu beachten.506 Dies gilt sowohl für das Wiederholungsverbot bei Streitgegenstandsidentität als auch im Rahmen der Präjudizialität.507 Nach dem Beibringungsgrundsatz obliegt es zwar in erster Linie den Parteien, die relevanten Tatsachen und Beweise zu beschaffen.508 Insofern ist es grundsätzlich auch Sache der Parteien, die Tatsache, dass eine für den jeweiligen Prozess relevante, rechtskräftige Entscheidung besteht, vorzutragen.509 Wegen der Bedeutung der materiellen Rechtskraft für das öffentliche Interesse kann die Tatsache des Bestehens einer rechtskräftigen Entscheidung aber auch vom Gericht selbst eingeführt werden.510 Darüber hinaus ist das Gericht zudem befugt – aber nicht verpflichtet –, von sich aus Beweise zur Frage einer möglicherweise entgegenstehenden Rechtskraft zu erheben.511 Die Einmaligkeitswirkung der materiellen Rechtskraft kann nicht durch Vereinbarungen zwischen den Parteien aufgehoben werden.512 Die Parteien können also nicht auf die Rechtskraft eines bestehenden Urteils „verzichten“ und eine erneute Entscheidung über den bereits entschiedenen Streitgegenstand verlangen.513 Ebenso wenig ist es möglich, die Rechtskraft durch Parteidisposition 506 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 59; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 152, Rn. 17; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 211; BGH NJW 1970, 1002, 1003; BGH NJW 1989, 2133, 2134; BGH NJW 2008, 1227, 1227. 507 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 211; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 59. 508 Vgl. nur Stein/Jonas/Kern, ZPO Bd. 2, 23. Aufl., vor § 128, Rn. 175. 509 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 77, Rn. 49; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 211; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 59. 510 Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 16; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 211; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 59. 511 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 211. 512 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 60; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 212. 513 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 60; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 17; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 212; Wacke, GS Mayer-Maly (2011), 489, 509, Rn. 64 weist darauf hin, dass sich dieses Verständnis gewandelt hat und die
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Erster Teil: Grundlagen
herbeizuführen.514 Hiervon ist die Möglichkeit zu unterscheiden, Vereinbarungen zu treffen, die (lediglich) die festgestellte Rechtsfolge betreffen: So können die Parteien etwa gemeinsam eine vom Gericht zugesprochene Forderung ändern oder aufheben oder vereinbaren, dass von der Vollstreckung des Urteiles abgesehen werden soll.515
b) Französisches Recht Art. 125 CPC bestimmt: „Les fins de non-recevoir doivent être relevées d’office lorsqu’elle ont un caractère d’ordre public […]“. Demnach sind diejenigen Unzulässigkeitsgründe von Amts wegen (d’office) zu ermitteln, die einen Teil der öffentlichen Ordnung (ordre public) darstellen. Ob die materielle Rechtskraft also von Amts wegen beachtet werden muss, ist somit davon abhängig, ob das Institut der autorité de la chose jugée als Teil des ordre public betrachtet wird oder nicht. Diese Frage wird von der Cour de cassation in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich verneint und das Prozesshindernis entgegenstehender materieller Rechtskraft nur in Ausnahmefällen516 als Teil des ordre public angesehen.517 Infolgedessen müssen die Parteien die Einrede entgegenstehender Rechtskraft aktiv erheben518 und den Zivilgerichten in Frankreich war es lange Zeit nicht gestattet, eigene Untersuchungen anzustellen oder die Rechtskraft von Amts wegen zu prüfen.519 Parteien früher auf die Rechtskraftwirkung verzichten konnten; ebenso Wagner, FS Schilken (2015), 553, 563 f.; vgl. hierzu auch Sturm, Cahier n° 4 – L’autorité de la chose jugée, S. 47, 47 ff. 514 Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 17; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 60. 515 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 212; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 17. 516 Hierbei handelt es sich zum einen um die Rechtskraft von Urteilen zum Personenstand (état des personnes), vgl. etwa Cass. Civ. 1re, 19 mai 1976, n° 74-13821 = Bull. Civ. 1976 I, n° 184. Zum anderen wird die autorité de la chose jugée auch dann als Teil des ordre public angesehen, wenn es sich um Entscheidungen innerhalb desselben Verfahrens und derselben Instanz handelt, vgl. etwa Cass. Civ. 3e, 24 févr. 1976, n° 74-13665 = Bull. Civ. 1976 III, n° 85; Cass. Soc., 3 mai 2001, n° 99-40945. Vgl. zu den beiden Ausnahmen auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 315 und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 64 f. 517 Cass. Civ. 1re, 16 mars 1960 = Bull. Civ. 1960 I, n° 159; Cass. Civ. 2e, 9 jan. 1963 = Bull. Civ. 1963 II, n° 28; Cass. Civ. 2e, 20 juill. 1970, n° 69-12087 = Bull. Civ. 1970 II, n° 251; Cass. Com., 19 juill. 1983, n° 82-12215 = Bull. Civ. 1983 Com., n° 225; Cass. Civ. 2e, 10 avr. 1995, n° 95-60550 = Bull. Civ. 1995 II, n° 121; Cass. Civ. 1re, 17 jan. 2006, n° 05-10875 = Bull. Civ. 2006 I, n° 11; zahlr. w. Nachw. aus der Rechtsprechung zwischen 1931 und 1971 bei Tomasin, Chose jugée, n° 309; vgl. auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 314; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 61 ff. 518 Tomasin, Chose jugée, n° 309. 519 Tomasin, Chose jugée, n° 309; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 314 m. zahlr. Nachw.
B. Grundlagen und Wirkungen der Rechtskraft
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Seit einer Novellierung520 des Art. 125 CPC im Jahr 2004 „können“ die Gerichte nun jedoch eine Prüfung von Amts wegen vornehmen: „Le juge peut relever d’office la fin de non-recevoir tirée […] de la chose jugée“.521 In tatsächlicher Hinsicht ist jedoch fraglich, ob sich durch diesen Zusatz wirklich Änderungen ergeben, die über die schlichte Veränderung des Wortlauts hinausgehen: Es wurde etwa darauf hingewiesen, dass eben schon begrifflich ein Unterschied bestehe zwischen ermitteln „müssen“ („devoir“) – so im ersten Teil der Vorschrift – und ermitteln „können“ („pouvoir“) – so im, die materielle Rechtskraft betreffenden, zweiten Teil der Vorschrift.522 Außerdem sei es für die Gerichte offensichtlich unmöglich, alle rechtskräftigen Urteile zu ermitteln.523 Darüber hinaus bleibt es auch im Rahmen der Neufassung dabei, dass sich die Parteien auf die Einrede entgegenstehender Rechtskraft berufen müssen und der Richter nicht von Amts wegen tätig werden und Untersuchungen anstellen „muss“.524 Über den Umstand, dass das Gericht die Rechtskraft nicht von Amts wegen beachten muss hinaus, führt das Verständnis der autorité de la chose jugée als règle d’intérêt privé zudem dazu, dass die Parteien – anders als im deutschen Recht – über die Rechtskraft disponieren können.525 Die Unabänderlichkeit einer rechtskräftigen Entscheidung diene dem Schutz der Parteien und sofern diejenige Partei, die von der Rechtskraft profitiert, auf diese Garantie verzichten wolle, bestehe kein Grund, sie ihr aufzuzwingen.526 Mithin steht es den Parteien – abgesehen von den Ausnahmen, in denen die autorité de la chose jugée von Amts wegen beachtet wird – frei, durch einen Verzicht auf die Einrede entgegenstehender Rechtskraft eine erneute Entscheidung über einen bereits entschiedenen Streitgegenstand herbeizuführen.527
IV. Zusammenfassung Der vergleichende Überblick belegt neben einigen Unterschieden auch zahlreiche zumindest funktionale Gemeinsamkeiten der nationalen Rechtskraftdok520
Décret n° 2004-836 du 20 août 2004 portant modification de la procédure civile, Art. 3. Vgl. Art. 125 CPC. Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 318. 523 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 318 spricht von „impossibilité pratique“; ähnlich Tomasin, Chose jugée, n° 313. 524 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 318 ff.; kritisch im Hinblick auf die Bedeutung der Rechtskraft etwa Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 37 f. 525 Tomasin, Chose jugée, n° 311; Hébraud, RTD civ. 1952, 254, 264. 526 Hébraud, RTD civ. 1952, 254, 264: „[…] mais, si le bénéficiaire ne veut pas en profiter, il n’y a aucune raison de la lui imposer.“; Tomasin, Chose jugée, n° 311; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 62 f. 527 Hébraud, RTD civ. 1952, 254, 264; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 62. 521 522
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Erster Teil: Grundlagen
trinen. Im Grundsatz nahezu gleich beurteilen die jeweiligen Rechtsordnungen etwa den Zweck und die subjektive Reichweite der materiellen Rechtskraft. Ähnlichkeiten bestehen sodann im Hinblick auf die Rechtskraftfähigkeit von Gerichtsentscheidungen und auch die Qualifizierung der materiellen Rechtskraft als (prozessuales) Institut zur Verhinderung neuer Prozesse über bereits entschiedene Streitgegenstände wird zumindest von großen Teilen innerhalb der neueren französischen Literatur geteilt. Unterschiede zeigen sich demgegenüber bei der Frage nach dem Eintrittszeitpunkt und der Berücksichtigung der materiellen Rechtskraft im Prozess. Was die Wirkungen der materiellen Rechtskraft im deutschen und französischen Zivilprozessrecht angeht, so zeigt sich ein ambivalentes Bild: Unabhängig von der (unterschiedlichen)528 Auffassung davon, wann zwischen einer anhängigen und einer entschiedenen Sache Streitgegenstandsidentität besteht, stimmen beide Rechtsordnungen darin überein, dass die Rechtskraft bei Vorliegen identischer Streitgegenstände eine erneute Entscheidung in der Sache verhindert. Eine negative Wirkung der materiellen Rechtskraft ist damit in beiden Prozessordnungen vorgesehen. Während die positive Wirkung in Deutschland grundsätzlich als ein (gleichwertiger) Aspekt der materiellen Rechtskraft anerkannt ist, zeigt sich in Frankreich ein abweichender Befund. Positive Rechtskraftwirkungen sind hier nur selten vom Gesetz vorgegeben und in Rechtsprechung und Literatur nur teilweise anerkannt. Die dieser Arbeit zugrundeliegende Frage nach der Tiefenwirkung einer europäischen Rechtskraftkonzeption (de lege ferenda) muss daher für den – für die Tiefenwirkung maßgeblichen – Bereich positiver Rechtskraftwirkungen von einem divergierenden Grundverständnis im deutschen und französischen Recht ausgehen. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit diese Unterschiede in grundsätzlichen Aspekten eine unterschiedliche Beurteilung der objektiven Reichweite der positiven Rechtskraftwirkung zur Folge haben. Sollten beide Rechtsordnungen zum selben Ergebnis gelangen, so lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die vertikale Reichweite der materiellen Rechtskraft zumindest von denjenigen Grundprinzipien unabhängig ist, die deutsches und französisches Recht unterschiedlich beurteilen. Denn gäbe es zwischen den jeweils unterschiedlich beantworteten Grundfragen und der Tiefenwirkung der Rechtskraft einen zwingenden Zusammenhang, wäre eine identische Beurteilung der Tiefenwirkung logisch ausgeschlossen.
528 Vgl. zur Auffassung vom Streitgegenstandsbegriff bzw. den Eintrittsvoraussetzungen des effet négatif unten zweiter Teil, B. III. 3. a) (zum dt. Recht) und c) (zum frz. Recht).
Zweiter Teil
Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess Nachdem nun die Grundlagen der Rechtskraftlehren innerhalb des deutschen und französischen Rechts dargelegt worden sind, ist es erforderlich, diejenigen Bereiche abzustecken, für die Überlegungen zu einer einheitlichen europäischen Rechtskraft – und damit die in dieser Arbeit in Bezug auf deren Tiefenwirkung entwickelten Ergebnisse – maßgeblich werden können. Praktische Relevanz hat die Frage nach einer unionsautonomen Rechtskraftkonzeption bislang vor allem im Rahmen der Anerkennung von ausländischen Gerichtsentscheidungen nach der EuGVVO. Äußerungen des EuGH werfen hier die Fragen auf, ob und inwieweit das Prinzip der Wirkungserstreckung1 aufzugeben und statt des jeweils maßgeblichen nationalen Rechtskraftbegriffes ein europäischer Rechtskraftbegriff zugrunde zu legen ist. Mit anderen Worten: Lässt sich der Verordnung und/oder der Rechtsprechung des EuGH de lege lata ein europäisches Rechtskraftkonzept mit klaren Konturen entnehmen? Die Analyse der bestehenden Vorgaben wird zeigen, dass diese Frage zu verneinen ist. Infolgedessen wird zu untersuchen sein, welche objektive Reichweite sich für einen de lege ferenda zu entwickelnden unionsautonomen Rechtskraftbegriff anbieten könnte. Diese Überlegungen wiederum lassen sich einerseits im Hinblick auf das Anerkennungsregime der EuGVVO und andererseits im Rahmen abstrakt-genereller Überlegungen zu Modellregeln für ein europäisches Zivilprozessrecht anstellen.
A. Rechtskraft in abstrakt-generellen Überlegungen zu einem europäischen Zivilprozessrecht Auf den ersten Eindruck mögen abstrakt-generelle Überlegungen zu einem europäischen Rechtskraftbegriff gewissermaßen unabhängiger oder freier erscheinen, weil sie sich eben gerade nicht in ein bestehendes Gesamtsystem nahtlos einfügen müssen, sondern das Gesamtsystem – und damit den darin zwangsläufig enthaltenen Rechtskraftbegriff – insgesamt neu schaffen und insofern durchaus auch Innovationen „wagen“ können. Wenn das Fernziel der1 Vgl. hierzu unten zweiter Teil, B. II. 1. a) bb) (allgemein) und zweiter Teil, B. II. 1. b) (konkret für die EuGVVO).
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
artiger Überlegungen jedoch in der Übernahme der entwickelten Modellregeln durch die Gesetzgeber der Nationalstaaten und damit in der Rechtsvereinheitlichung liegt, dürfen die bestehenden Regelungen innerhalb der nationalen Prozessordnungen keineswegs außer Betracht bleiben. Denn je ähnlicher die Modellregeln den bestehenden Regeln sind, je vertrauter die Modellregeln den Gesetzgebern und Rechtsanwendern sind, desto wahrscheinlicher erscheint eine Übernahme oder Orientierung an den Modellregeln und damit das Erreichen des Fernziels „Rechtsvereinheitlichung“. Oder anders gewendet: Je weiter die Modellregeln von den nationalen Regelungen entfernt sind, desto überzeugender müssen sie inhaltlich sein, um eine Ablösung der bestehenden Regeln zu rechtfertigen. Unter beiden Aspekten ist es insofern wichtig und richtig, dass derartige Projekte auf unvoreingenommene, fundierte und rechtsvergleichende Untersuchungen gestützt werden. Ein besonders beachtliches ist in dieser Hinsicht das im Jahr 2014 vom European Law Institute (ELI)2 und dem Institut international pour l’unification de droit privé (UNIDROIT)3 begonnene Projekt „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“.
I. ELI/UNIDROIT Projekt „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ Im Jahr 2014 starteten das European Law Institute und das Institut international pour l’unification de droit privé die Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Projekt unter dem Titel „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“.4 Zahlreiche internationale Organisationen und Forschungseinrichtungen nehmen als Beobachter an diesem Projekt teil. Im Januar 2 Das European Law Institute (ELI) ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Brüssel und Wien, gegründet im Jahr 2011. Allgemeines Ziel des unabhängigen Instituts ist die Verbesserung des europäischen Rechts durch Forschung. Die Arbeit des Instituts soll zu einer Stärkung der europäischen Rechtsgemeinschaft beitragen, indem sie neben der vergleichenden Betrachtung nationaler Konzepte eine gesamteuropäische Perspektive einnimmt. Darüber hinaus steht das Institut verschiedenen Organisationen im Bereich des europäischen Rechts als Berater zur Verfügung. Zu den Mitgliedern des ELI gehören neben internationalen Organisationen, Gerichten und Kanzleien zahlreiche Juristen vornehmlich, aber nicht ausschließlich, aus Europa. 3 Das Institut international pour l’unification du droit privé (UNIDROIT) ist eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Rom. UNIDROIT wurde 1926 als Hilfsorgan des Völkerbundes gegründet und besteht seit 1940 als unabhängige Organisation, die von den zahlreichen Mitgliedstaaten getragen wird. Ziel der Organisation ist die Förderung der Vereinheitlichung des Zivilrechtes. Hierzu erarbeitet das Institut unter anderem Modellregeln und Mustergesetze. Eines dieser Mustergesetze sind die Principles of Transnational Civil Procedure. 4 Die nachfolgenden Informationen stammen aus der Interpräsenz des ELI, abrufbar unter https://www.europeanlawinstitute.eu/projects-publications/current-projects-feasibilitystudies-and-other-activities/current-projects/civil-procedure/.
A. Rechtskraft in abstrakt-generellen Überlegungen
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2017 beschäftigte sich auch der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments in einer ausführlichen Analyse mit dem Projekt.5 Ziel des Projektes war es, die vom American Law Institute (ALI) und UNIDROIT erarbeiteten Principles of Transnational Civil Procedure zugrunde zu legen und hiervon ausgehend Regeln für ein Europäisches Zivilprozessrecht zu entwickeln. Bei den Principles of Transnational Civil Procedure handelt es sich um einen Modellentwurf für ein internationales Zivilprozessrecht.6 Dieser wurde im Jahr 2004 nach einer Zusammenarbeit zwischen UNIDROIT und ALI beschlossen und diente dazu, Unsicherheiten im internationalen Rechtsverkehr aufgrund verschiedener Rechtsordnungen zu mildern. Langfristig sollen die Principles zu einer Vereinheitlichung der Verfahrensrechte führen, indem sich die nationalen Gesetzgeber an ihnen orientieren.7 Für das ELI/UNIDROIT Projekt sollten die Principles im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta sowie anderem verbindlichen Unionsrecht ausgelegt werden und überdies gemeinsame Traditionen innerhalb der nationalen Rechtsordnungen ausgewertet und berücksichtigt werden. Anfang September 2019 wurden die erarbeiteten Regeln im Rahmen der ELI Annual Conference in Wien in einem Consolidated Draft von Juli 2019 präsentiert. Nach einigen weiteren Änderungen liegt nun ein im Juni 2020 fertig gestellter Final Draft der Regeln vor.
1. Reichweite der Rechtskraft in den ALI/UNIDROIT Principles of Transnational Civil Procedure Principle 28 ALI/UNIDROIT Principles of Transnational Civil Procedure (Lis Pendens and Res Judicata) 28.1 […] 28.2 In applying the rules of claim preclusion, the scope of the claim or claims decided is determined by reference to the claims and defenses in the parties’ pleadings, including amendments, and the court’s decision and reasoned explanation. 28.3 The concept of issue preclusion, as to an issue of fact or application of law to facts, should be applied only to prevent substantial injustice.
Aussagen zur Reichweite der Rechtskraft finden sich in Principle 28.2 und 28.3 der Principles of Transnational Civil Procedure. Die Institute des claim preclusion und des issue preclusion stellen im amerikanischen Recht das funktionelle Äquivalent zum englischen estoppel-Prinzip8 dar.9 Auch hier geht es einerseits 5 Abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2017/556972/IP OL_IDA(2017)556972_EN.pdf. 6 Vgl. hierzu allgemein etwa Stürner, RabelsZ 2005, 201. 7 Zur Wirkungsgeschichte der Principles in der jüngeren Vergangenheit, vgl. z. B. Stürner, ZZPInt 2015, 409. 8 Vgl. hierzu unten dritter Teil, C. III. 1. b). 9 Vgl. Comment P-28C.
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
um die Verhinderung einer erneuten Entscheidung über bereits rechtskräftig Entschiedenes und andererseits um die Bindung an Entscheidungen über Vorfragen innerhalb eines nachfolgenden Prozesses zwischen denselben Parteien. Die Einschränkung in Principle 28.3 stellt eine Annäherung an das im Vergleich zum common law engere civil law dar, wobei als Beispiel für den Anwendungsbereich dann lediglich genannt wird, dass sich eine Partei während des Prozesses auf Feststellungen vorheriger Prozesse stützt.10 Insgesamt gehen die Regeln zu res judicata innerhalb der Principles of Transnational Civil Procedure damit weiter als viele der nationalen Konzeptionen.11 Sie sind jedoch auch enger als zahlreiche Systeme des common law.12 Dieser Mittelweg und die dennoch verbliebene Nähe der Konzeption innerhalb der Principles of Transnational Civil Procedure zum Verständnis und der Reichweite der Rechtskraft im common law erklären sich wohl unter anderem vor dem Hintergrund der Beteiligung des American Law Institute und der generellen transnationalen Ausrichtung des gesamten Projektes. Dieser Umstand muss dann jedoch mitberücksichtigt werden, wenn aus den Principles of Transnational Civil Procedure European Rules of Civil Procedure entwickelt werden sollen. Nichtsdestotrotz geht auch die Rechtskraftkonzeption der model rules über zahlreiche nationale Konzepte hinaus und lässt weiterhin eine gewisse Nähe zum Rechtskraftverständnis im common law erkennen.
2. Reichweite der Rechtskraft innerhalb des ELI/UNIDROIT Projektes „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ Rule 149 ELI – UNIDROIT European Rules of Civil Procedure13 (Material Scope of res judicata) (1) The material scope of res judicata is determined by reference to the claims for relief in the parties’ pleadings, including amendments, as decided by the court’s judgment. (2) Res judicata also covers necessary and incidental legal issues that are explicitly decided in a judgment where parties to subsequent proceedings are the same as those in the proceedings determined by the prior judgment and where the court that gave that judgment could decide those legal issues. (3) […] (4) […] 10 Comment P-28C: „Under Principle 28.3, issue preclusion might be applied when, for example, a party has justifiably relied in its conduct on a determination of an issue of law or fact in a previous proceeding.“; und in frz. Sprache: „Le principe 28.3 peut conduire à l’application de l’autorité de chose implicitement jugée lorsque, par exemple, une partie s’est légitimement fondée, dans la procédure, sur la solution d’une question de fait ou de droit dans une procédure antérieure.“ 11 Vgl. Comment P-28C; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158. 12 Comment P-28C: „A broader scope of issue preclusion is recognized in many commonlaw systems […].“ 13 Final Draft (June 2020).
A. Rechtskraft in abstrakt-generellen Überlegungen
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Bereits während des Projektes zeichnete sich ab, dass die materielle Rechtskraft innerhalb der model rules nicht auf den Tenor begrenzt bleiben würde.14 Stattdessen sollten „any necessary decisions on legal issues on the merit“ mit Rechtskraft ausgestattet werden, wenn sie von den Parteien zuvor „duly debated“ worden sind.15 Obwohl sich aus Gesprächen mit Beteiligten und noch aus den Comments zu Rule 149 des Consolidated Draft ergibt, dass die von der Working Group „Lis Pendens and Res Judicata“ vorgeschlagene Reichweite der Rechtskraft sowohl in der Arbeitsgruppe selbst als auch innerhalb des gesamten Projektes teilweise Kritik erfuhr,16 behält der nun präsentierte Vorschlag17 diese Grundrichtung bei.
a) Voraussetzungen für die Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen Nach Rule 149(2) des Final Draft erfasst die materielle Rechtskraft innerhalb der ELI-UNIDROIT European Rules of Civil Procedure ausdrücklich auch diejenigen „necessary and incidental legal issues that are explicitly decided in a judgment“. In den Comments wird präzisiert, dass damit diejenige „legal relationship“ gemeint ist, „whose existence and validity is logically presupposed by the decision on the parties’ claims for relief“.18 Trotz dieser Formulierung kann der Begriff der „legal relationship“ wohl nicht mit dem deutschen Verständnis des „Rechtsverhältnisses“ nach § 256 ZPO19 gleichgesetzt werden. Sowohl die Formulierung innerhalb der Rule 149(2) des Final Draft als auch die Comments machen deutlich, dass sich die Rechtskraft ganz generell auf „legal issues“, also Rechtsfragen, erstrecken soll. Abzugrenzen sind diese „incidental and necessary legal issues“ jedoch von „preliminary issues“.20 Unter letzteren sind insbesondere prozessuale Fragen zu verstehen, die vor der Entscheidung in der Hauptsache entschieden werden müssen.21 Tatsachenfeststellungen werden von der Rechtskraft nicht erfasst.22 14 Unidroit Report des Joint Meeting von Steering Committee und Working Groups, April 2018, Rn. 48 (abrufbar unter https://www.unidroit.org/english/documents/2018/study76a/s76a-08-e.pdf ). 15 Unidroit Report des Joint Meeting von Steering Committee und Working Groups, April 2018, Rn. 48 (abrufbar unter https://www.unidroit.org/english/documents/2018/study76a/s76a-08-e.pdf ). 16 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Consolidated Draft (Blackletter rules & Comments), 27 July 2019. 17 Final Draft (June 2020). 18 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 19 Vgl. hierzu unten Dritter Teil, A. III. 4. a) aa). 20 Comment Nr. 3 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 21 Comment Nr. 3 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020) nennt beispielhaft etwa „standing“ und „jurisdiction“. 22 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Consolidated Draft (Blackletter rules & Comments), 27 July 2019 betont an dieser Stelle auch die Unterschiede zum Institut des issue estoppel, vgl. hierzu unten dritter Teil, C. III. 1. b) bb).
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
Der Wortlaut der Norm verlangt für die Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen drei kumulative Voraussetzungen. Das legal issue muss erstens „necessary and incidental“, zweitens „explicitly decided“ und drittens von einem zuständigen Gericht erlassen („the court that gave the judgment could decide those legal issues“) sein, um in Rechtskraft zu erwachsen. Exemplarisch wird auch hier das viel bewerkstelligte Beispiel einer Entscheidung über die Wirksamkeit eines Vertrages im Rahmen einer Klage auf (vertraglichen) Schadensersatz genannt.23 Nach den Regeln des Final Draft erstreckt sich die Rechtskraft in einem solchen Fall also neben der Entscheidung über den Anspruch auch auf die Feststellung zur Wirksamkeit des Vertrages. Ausweislich der Comments ist es für die Rechtskraft der Vorfragenentscheidung irrelevant, ob sich die Entscheidung im Tenor oder in den Gründen – nach Rule 131 lit. f des Final Draft soll ein Urteil auch die rechtlichen und tatsächlichen Gründe („legal and factual grounds“) enthalten – befindet.24 Die hiermit verbundene Schwierigkeit, die rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile konkret zu identifizieren, ist freilich erkannt worden und so wurde in den Comments des Consolidated Draft noch darauf hingewiesen, dass es leichter wäre, den genauen Umfang der materiellen Rechtskraft zu bestimmen, wenn alle notwendigerweise und implizit entschiedenen Vorfragen im Tenor genannt würden.25 Hiervon scheint man sich inzwischen jedoch wieder entfernt zu haben und so wird in den Comments des Final Draft nunmehr nur noch auf das Urteil im allgemeinen und Rule 131 lit. f verwiesen.26 Als weitere (ungeschriebene) Voraussetzung für die Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen ist erforderlich, dass zwischen den Parteien ein Streit (oder die Möglichkeit zum Streit) über die Vorfrage (debate oder opportunity of a debate) vorgelegen haben muss.27 Hierdurch soll wohl verhindert werden, dass die Parteien in unzumutbarer Weise von der Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen überrascht werden.
23
Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). „It would be easier to ascertain the precise material scope of res judicata if all incidental and necessary legal issues that have been decided by the court would be mentioned in the operative part (decisum) of the judgment.“, Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Consolidated Draft (Blackletter rules & Comments), 27 July 2019. 26 „It would be easier to ascertain the precise material scope of res judicata if all incidental and necessary legal issues that have been decided by the court would be specified in the judgment (see Rule 131(f)).“, Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). Vgl. zu einer durch die Umformulierung neu entstandenen (problematischen) Interpretationsmöglichkeit, unten Vierter Teil, B. III. 2. b). 27 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 24 25
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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b) Zusammenfassung Zusammengefasst ergeben sich folgende fünf Voraussetzungen, unter denen Vorfragenentscheidungen nach Rule 149(2) des Final Draft in Rechtskraft erwachsen: 1. 2.
Legal issue a. Not a factual issue b. Not a preliminary issue Necessary and incidental a. „logically presupposed“; „logical antecedents“; „necessary legal steps to the conclusion“ 3. Debate or opportunity of a debate 4. Explicit decision a. No (formal) distinction between operative part and reasons of judgment 5. Court has/would have jurisdiction
Trotz der weiterhin erkennbaren Nähe zum issue estoppel28 im common law lassen die Vorschläge zur Rechtskraft innerhalb der model rules doch eine etwas „kontinentaleuropäischere“ Prägung erkennen als etwa die ALI/UNIDROIT Principles. Dennoch wird die weitere Untersuchung zeigen, dass es durchaus fraglich ist, ob die Erstreckung der Rechtskraft auf Entscheidungsgründe tatsächlich als ein gemeinsamer Nenner in Europa betrachtet werden kann.29 Daneben werden sich aus dem Vergleich verschiedener Entwicklungen und Ansätze innerhalb der nationalen Rechtsordnungen jedoch vor allem auch inhaltliche Argumente ergeben, die gegen die im Final Draft vorgeschlagene Reichweite der materiellen Rechtskraft sprechen.30
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO Neben solchen generellen Überlegungen zu einem europäischen Rechtskraftbegriff innerhalb eines zivilprozessualen Gesamtsystems kann sich die Frage nach einem einheitlichen, europäischen Rechtskraftbegriff auch im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten stellen. Die zentrale Rechtsquelle im Hinblick auf die angerissenen Fragestellungen ist die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO)31. 28
Hierzu unten dritter Teil, C. III. 1. b) bb). Zweifelnd auch Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2. 30 Zu einer vorläufigen Bewertung des Vorschlags anhand der aus dem Rechtsvergleich gewonnenen Argumente vgl. unten vierter Teil, B. III. 31 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
I. Entstehungsgeschichte der EuGVVO Die EuGVVO in ihrer heutigen Form basiert auf einer langen Entwicklung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angestoßen, entstanden mehrere Instrumente, die Grundsteine auf dem Weg zur heutigen Fassung darstellen.
1. EWGV Im Jahr 1958 schlossen sich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande durch den im Rahmen der sogenannten Römischen Verträge unterzeichneten Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zusammen. Art. 220 EWGV bestimmte: „Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedstaaten untereinander Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen folgendes sicherzustellen: […] Die Vereinfachung von Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen und Schiedssprüche“.
2. EuGVÜ Zwei Jahre später, im Jahr 1960, setzten die sechs Mitgliedstaaten einen Sachverständigenausschuss ein, welcher in den folgenden sechs Jahren „in dem Wunsche, Artikel 220 […] auszuführen“32 das Übereinkommen über die gerichtliche Zusammenarbeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) erarbeitete. Nach Unterzeichnung am 27. September 1968 trat das EuGVÜ im Februar 1973 in Kraft.33 Inhaltlich ging das EuGVÜ über die Vorgaben des Art. 220 EWGV hinaus, da es „in der Erwägung, daß es zu diesem Zweck [dem Bestreben, innerhalb der Gemeinschaft den Rechtsschutz der dort ansässigen Personen zu verstärken] geboten ist“34, Regeln über die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte enthielt. Dieser Schritt wurde als „außerordentlich“35 und „bedeutender Fortschritt“36 bezeichnet, da der Vertrag hiernach schon innerhalb des jeweiligen Verfahrens im Mitgliedstaat zu beachten war und mit ihm letztlich das Erfordernis einer Überprüfung der sogenannten Anerkennungs12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. 32 So in der Präambel des EuGVÜ. 33 Art. 62 EuGVÜ; ABl. 1972 L 299. 34 Präambel EuGVÜ. 35 So Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 4. 36 So Schack, IZVR, Rn. 84.
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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zuständigkeit unter den Mitgliedstaaten abgeschafft werden konnte.37 Nach dem Spiegelbildprinzip überprüfen die Gerichte des Anerkennungsstaates vor der Anerkennung eines ausländischen Urteils, ob das Urteilsgericht – unterstellt im Urteilsstaat würden die Zuständigkeitsvorschriften des Anerkennungsstaates gelten – international zuständig gewesen wäre.38 Diese Überprüfung erübrigt sich, wenn sichergestellt ist, dass Urteils- und Anerkennungsstaat dieselben Zuständigkeitsvorschriften anwenden. Durch die Vereinheitlichung der Zuständigkeitsvorschriften im Rahmen des EuGVÜ wurde also die Prüfung der Anerkennungszuständigkeit obsolet und „die Kontrolle an den nationalen Rechtsprechungsgrenzen auf ein Minimum reduziert“.39 Art. 63 EuGVÜ verpflichtete jeden Staat, der Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird, mit den bisherigen Mitgliedstaaten Verhandlungen über diejenigen Anpassungen aufzunehmen, „die erforderlich werden, um die Ausführung des Artikels 220 letzter Absatz des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sicherzustellen“. Im Zuge derartiger Verhandlungen führte nahezu jeder Beitritt weiterer Staaten in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auch zu einer inhaltlichen Änderung des EuGVÜ.40 So bewirkte etwa der Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreiches im Jahr 1978 eine Optimierung des Verbraucherschutzes und der Beitritt von Spanien und Portugal im Jahr 1989 Änderungen im Bereich der Regeln über Gerichtsstandsvereinbarungen.41 Beim Beitritt Griechenlands im Jahr 1982 wurden hingegen nur technische Änderungen vorgenommen.42
3. LugÜ Parallel zu diesen Entwicklungen arbeitete man mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (European Free Trade Association, EFTA) an einer Möglichkeit, „die verwirrende Vielfalt jeweiliger bilateraler Anerkennungs- und Vollstreckungsverträge“ zu überwinden.43 Da ein Beitritt zur EWG für einige der EFTA-Staaten zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht in Frage kam, musste ein zum EuGVÜ zusätzliches Instrument geschaffen werden.44 Diese Bemühungen mündeten 1988 in das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil und Handelssachen (LugÜ) zwischen den zu dieser Zeit zwölf EWG Staaten und 37 Vgl. Schack,
IZVR, Rn. 84. Vgl. hierzu Schack, IZVR, Rn. 922 ff. 39 So Schack, IZVR, Rn. 84; vgl. auch Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 4. 40 Vgl. hierzu Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 9 ff. 41 Vgl. Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 10 und 13; Schack, IZVR, Rn. 85 f. 42 Vgl. Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 11; Schack, IZVR, Rn. 86. 43 So Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 14. 44 Schack, IZVR, Rn. 130; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 14. 38
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
Finnland, Island, Norwegen, Österreich, Schweden sowie der Schweiz.45 Es gewährleistet, dass die Gerichte der Nicht-EWG-Staaten ihre Zuständigkeit nach dem LugÜ bestimmen und deren Entscheidung daraufhin in den EWG-Staaten anerkannt wird.46 Die Gerichte der EWG-Staaten greifen zur Bestimmung ihrer internationalen Zuständigkeit hingegen (nur) dann auf das LugÜ zurück, wenn sie in einem Fall angerufen werden, bei dem der Beklagte seinen Wohnsitz ausschließlich in einem LugÜ-Staat hat.47 Inhaltlich lehnte sich das LugÜ zwar stark am EuGVÜ an, entsprach diesem jedoch von an Anfang an nicht vollständig.48 Die Diskrepanzen zwischen den Texten erhöhten sich zwischenzeitlich und wurden erst 2007 durch eine Änderung des LugÜ wieder eingedämmt.49 Das Fehlen einer Institution mit einer einheitlichen Auslegungskompetenz – die Vertragsstaaten, die nicht der EWG angehörten, wollten jene Kompetenz nicht dem EuGH überlassen – stellt einen strukturellen Nachteil des LugÜ dar und besteht – trotz der Verpflichtung, die Rechtsprechung der Gerichte anderer Vertragsstaaten gebührend zu berücksichtigen – bis heute fort.50 Nach dem Beitritt weiterer Staaten zum EuGVÜ gilt das LugÜ heute (nur) noch im Verhältnis zu Island, Norwegen und der Schweiz.51
4. EuGVVO Nachdem sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, oft auch Montanunion) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) in einem Fusionsvertrag52 1977 zur Europäischen Gemeinschaft (EG) zusammengeschlossen hatten, vereinigten sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft „entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“53 1992 im sogenannten Vertrag von Maastricht54 zur Europäischen Union. Der 1999 in Kraft getretene 45 Vgl. hierzu Hess, NJW 2000, 23, 25; für Deutschland 1995 in Kraft getreten, vgl. BGBl. 1995 II Nr. 8 S. 221. 46 Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 14. 47 Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 14. 48 Schack, IZVR, Rn. 131; Hess, NJW 2000, 23, 25. 49 Vgl. hierzu Schack, IZVR, Rn. 131; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 15. 50 Vgl. hierzu Hess, NJW 2000, 23, 25; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 16. 51 Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 14. 52 Vertrag zur Änderung bestimmter Haushaltsvorschriften der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. L 359/1 vom 31.12.1977. 53 So in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union (EUV), ABl. C 191 vom 29.7.1992. 54 Vertrag über die Europäische Union (EUV); ABl. C 191 vom 29.7.1992.
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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Vertrag von Amsterdam55 führte zu einer weiteren umfassenden Veränderung im Hinblick auf die justizielle Zusammenarbeit, indem die Zuständigkeit für die justizielle Zusammenarbeit in die unmittelbare Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft überführt wurde.56 In Ausübung dieser Befugnisse57 wurde die 2002 in Kraft getretene Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen58 (EuGVVO alt) geschaffen, welche das EuGVÜ ersetzte.59 Diese Verordnung wurde durch eine neue Verordnung60 (EuGVVO) novelliert.61 Mit der Neufassung der EuGVVO und der damit verbundenen Abschaffung des Exequaturverfahrens62 vollzog sich insbesondere im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung ein Paradigmenwechsel.63 In dieser Form gilt die EuGVVO seit dem 10. Januar 201564 und bildet heute die zentrale Quelle für die hier interessierende Fragestellung nach Existenz und Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes im Rahmen bestehender Rechtsakte.
II. Relevanter Bereich – Anerkennung Innerhalb der EuGVVO stellt sich die Frage nach der objektiven Reichweite der materiellen Rechtskraft vor allem im Rahmen der Anerkennung ausländischer Entscheidungen, denn die materielle Rechtskraft ist die bedeutendste der anzuerkennenden Urteilswirkungen.65 Die Verschiedenheit der nationalen 55 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. C 340/1 vom 10.11.1997. 56 Vgl. hierzu Hess, NJW 2000, 23, 27 ff.; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Einl. EuGVO, Rn. 22. 57 Kritisch hierzu Schack, ZEuP 1999, 805. 58 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 12 vom 16.1.2001. 59 Vgl. Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, 4. Aufl., Einl., Rn. 17. 60 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351 vom 20.12.2012. 61 Zur Neufassung vgl. z. B. Pohl, IPRax 2013, 109; v. Hein, RIW 2013, 97; Stadler/Klöpfer, ZEuP 2015, 732; Hau, MDR 2014, 1417; Domej, RabelsZ 2014, 508; Pfeiffer, ZZP 2014, 409; Geimer, FS Simotta (2012), 163; Nielsen, CML Rev. 2013 (Vol. 50), 503. 62 Hierzu Oberhammer, IPRax 2010, 197; Domej, RabelsZ 2014, 508, 510 ff.; Geimer, FS Simotta (2012), 163, 176 ff. 63 Hierzu etwa v. Hein, RIW 2013, 97, 108 ff.; Pohl, IPRax 2013, 109, 112 ff.; Hau, MDR 2014, 1417, 1417 ff.; Stadler/Klöpfer, ZEuP 2015, 732, 758 ff.; Nielsen, CML Rev. 2013 (Vol. 50), 503, 524 ff.; Pfeiffer, ZZP 2014, 409, 424 ff. 64 Art. 81 EuGVVO. 65 Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 11; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 5; Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3; Adolphsen, EuZVR, 5. Kapitel Rn. 27; mit Begründung Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 58 ff.
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
Rechtskraftkonzeptionen und Reichweiten unter den Mitgliedstaaten erschwert die Bemessung der Rechtskraftreichweite der anerkannten Entscheidung. Im Kern geht es auch hier vor allem um die Erstreckung der Rechtskraft auf präjudizielle Rechtsverhältnisse und Entscheidungsgründe.66 Als Hoheitsakte wirken Gerichtsentscheidungen nur innerhalb der Grenzen des Urteilsstaates.67 Damit ein ausländisches Urteil im Inland Wirkung erlangen kann, bedarf es also zunächst der Urteilsanerkennung.68 Hierzu besteht jedoch keine generelle völkerrechtliche Pflicht.69 Eine Verpflichtung kann sich allerdings aus speziellen bi- oder multilateralen völkerrechtlichen Verträgen70 oder – wie innerhalb der Europäischen Union – aus dem europäischen Sekundärrecht71 ergeben. Die Anerkennung ausländischer Urteile geschieht dabei nicht nur im Interesse der Parteien oder des Urteilsstaates an der Fortgeltung des Urteiles (auch) im Ausland, sondern auch im Eigeninteresse des jeweiligen Anerkennungsstaates, da auf diese Weise ein neues Verfahren mit identischem Streitgegenstand im Inland erspart wird.72 Trotz des Ziels der Vermeidung einer (vollständigen) Überprüfung der im Ausland entschiedenen Sache sollen im Inland keine Wirkungen ausländischer Entscheidungen etabliert werden, die aus Sicht des Anerkennungsstaates nicht hinnehmbar erscheinen.73 Für gerichtliche Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aus EU-Mitgliedstaaten ergibt sich die Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung aus dem europäischen Sekundärrecht. Verträge zwischen den Mitgliedstaaten – insbesondere EUV74 und AEUV75 – übertragen bestimmte Hoheitsrechte auf die Europäische Union (Primärrecht) und schaffen hierdurch die Grundlage zur Rechtsetzung auf supranationaler Ebene.76 Vorgesehene (verbindliche) Rechtsakte sind nach Art. 288 AEUV Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse.77 Im Falle einer Kollision von europäischem und nationalem Recht kommt nach der Rechtsprechung des EuGH das europäische Recht vorrangig zur An66
Fischer, FS Henckel (1995), 199, 201. Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 1; Sachs/Streinz, GG, 8. Aufl., Art. 25, Rn. 51; Maunz/Dürig/Herdegen, GG, 87. EL, Art. 25, Rn. 46 f. 68 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 158, Rn. 1; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 1. 69 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 1; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 1; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 1 ff. 70 Übersicht z. B. bei Geimer/Schütze/Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, EL 57, 2019, B. (Verträge über die gerichtliche Zuständigkeit und über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen) I. (Kollektivverträge) und II. (Bilaterale Verträge). 71 Hierzu sogl. zweiter Teil, B. II. 1. 72 So Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 4. 73 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 1. 74 Vertrag über die Europäische Union, ABl. C 326 vom 26.10.2012. 75 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 346 vom 26.10.2012. 76 Fromberger/Schmidt, ZJS 2018, 29, 29 f. 77 Vgl. hierzu im Einzelnen etwa Streinz, Europarecht, Rn. 466 ff. 67
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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wendung.78 Zur Begründung dieses Anwendungsvorranges79 stützt sich der EuGH vor allem auf (teleologische) Argumente wie die einheitliche Geltung des Unionsrechts und dessen Status als autonome Rechtsquelle.80 Dieses Ergebnis wurde vom BVerfG und weiteren81 mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten im Grundsatz82 bestätigt83 und ist inzwischen anerkannter Konsens.84 Als Verordnung hat die EuGVVO in den Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 2 AEUV „allgemeine Geltung. Sie ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar“. Innerhalb ihres Anwendungsbereiches verdrängt die EuGVVO nach alledem die nationalen Vorschriften zur Anerkennung85 und die Anerkennung richtet sich nach Art. 36 ff. EuGVVO.
1. Art. 36 ff. EuGVVO Nach Art. 36 ff. EuGVVO sind die Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.86 Man spricht auch von automatischer Anerkennung, da die Anerkennung unmittelbar kraft Gesetzes erfolgt.87 Eine Definition des Begriffes „Anerkennung“ und damit eine Antwort auf die Frage, welche Wirkungen der anzuerkennenden Entscheidung konkret zukommen, liefert die EuGVVO selbst jedoch nicht.88 Gleichwohl hat sich für die Anerkennung nach der EuGVVO früh eine allgemeine Meinung etabliert, die (mit Einschränkungen)89 bis heute gilt. 78 Grundlegend EuGH Rs. 6/64, („Costa/E.N.E.L.“), Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; EuGH Rs. 11/70, („Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel“), Slg. 1970, 1125, 1135, Rn. 3; vgl. ausführlicher zum Verhältnis von europäischen und nationalen Rechtsnormen Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1; Fromberger/Schmidt, ZJS 2018, 29; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, 67. EL, Art. 288 AEUV, Rn. 47 ff. 79 Zum Begriff und dem Unterschied zum sog. „Geltungsvorrang“ vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, 67. EL, Art. 288 AEUV, Rn. 53. 80 EuGH Rs. 6/64, („Costa/E.N.E.L.“), Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; vgl. zum Ganzen auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, 67. EL, Art. 288 AEUV, Rn. 47 ff. 81 Vgl. hierzu etwa Streinz, FS Söllner (2000), 1139, 1147. 82 Das BVerfG stützt sich zur Begründung des Anwendungsvorrangs auf den (heute) in Art. 23 Abs. 1 (damals in Art. 24 Abs. 1) GG geregelten Anwendungsbefehl des Grundgesetzes, vgl. insb. BVerfGE 73, 339, 374 f. („Solange II“); zum Ganzen vgl. auch Fromberger/Schmidt, ZJS 2018, 29, 30; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 2; zur Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten vgl. Streinz, FS Söllner (2000), 1139, 1147. 83 BVerfGE 73, 339 („Solange II“); BVerfGE 75, 223; BVerfGE 85, 191; BVerfGE 126, 286, 302 („Honeywell“). 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim, 67. EL, Art. 288 AEUV, Rn. 49; Calliess/Ruffert/ Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl., Art. 1 AEUV, Rn. 16 ff. m. zahlr. Nachw. 85 Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Einl. EuGVO, Rn. 40. 86 Vgl. Art. 36 EuGVVO. 87 Geimer, IZPR, Rn. 2756 f.; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 2. 88 Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 9; Saenger/Dörner, ZPO, 8. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2. 89 Hierzu unten zweiter Teil, B. III. 1. b).
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
Die vorab folgende generelle Darstellung verschiedener Anerkennungstheorien zur Identifikation der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Methoden muss sich daher Verweisen auf Meinungen zum nationalen Recht innerhalb der Mitgliedstaaten bedienen, weil hier die Bandbreite der vertretenen Ansichten weitaus größer ist.
a) Generelle Darstellung verschiedener Anerkennungstheorien Grundsätzlich ist fraglich, ob sich die Urteilswirkungen komplett nach dem Recht des Urteilsstaates richten (Theorie der Wirkungserstreckung), ob sich die Wirkungen nur dann nach dem Recht des Urteilsstaates richten, sofern sie mit inländischen Urteilswirkungen vergleichbar sind (Kumulationstheorie) oder, ob sich die Urteilswirkungen nach dem Recht des Anerkennungsstaates richten und damit ausländische Urteile in ihren Wirkungen inländischen Urteilen „gleichgestellt“ werden (Gleichstellungstheorie). Neben den Prozessrechten des Urteilsstaates und des Anerkennungsstaates käme ebenfalls das Prozessrecht des Staates in Betracht, dessen materielles Recht für die Entscheidung maßgeblich war (lex causae).90
aa) Gleichstellungstheorie Der Gleichstellungstheorie zufolge sollen ausländische Urteile durch die Anerkennung inländischen Entscheidungen gleichgestellt werden.91 Im Ergebnis richten sich die Wirkungen des ausländischen Urteils also nach den inländischen Regeln.92 Demnach ginge die Rechtskraft bei einer Anerkennung etwa in Deutschland immer so weit, wie von § 322 ZPO vorgegeben. Das inländische Prozessrecht kann dabei sowohl erweiternd93 als auch begrenzend94 wirken. Die Anwendung des Rechts des Anerkennungsstaates mag vor allem aus nationaler, prozessökonomischer Sichtweise einleuchten: Die Ermittlung und Auseinandersetzung mit fremden Prozessrechten und den darin enthaltenen Rechtskraftwirkungen ist nicht erforderlich, wenn von vornherein das nationale Prozessrecht für die Bestimmung der Rechtskraftgrenzen maßgeblich ist.95 90 Vgl. Fischer,
FS Henckel (1995), 199, 202 f.; Spellenberg, IPRax 1984, 304, 305. Für die Anwendung der Gleichstellungstheorie bei Anerkennung (nach § 328 ZPO) Spiecker genannt Döhmann, Anerkennung von Rechtskraftwirkungen ausländischer Urteile, S. 70–74; für das autonome österreichische Recht Matscher, FS Schima (1969), 256, 276 ff.; aus dem englischen Schrifttum zum EuGVÜ Kaye, Civil Jurisdiction and Enforcement, S. 1408 f. 92 Darstellend Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 158, Rn. 9; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 3; Adolphsen, EuZVR, 5. Kapitel Rn. 12. 93 Darstellend Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7. 94 Darstellend Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 158, Rn. 9. 95 Fischer, FS Henckel (1995), 199, 203 f. 91
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Im Hinblick auf die Vollstreckbarkeit, die nach inländischem Prozessrecht beurteilt wird, wurde auch angeführt, es gehe nicht an, „das einheitliche Phänomen ‚Wirkungen einer ausländischen Entscheidung‘ zu zergliedern und die eine Entscheidungswirkung nach ausländischem, die andere nach inländischem Prozessrecht zu beurteilen“.96 Auch sei überhaupt fraglich, ob sich abweichende Regelungen des fremden Prozessrechtes „ohne Schaden für die Rechtsicherheit“ in das deutsche Rechtssystem integrieren ließen.97 Überwiegend werden dieser Methode Argumente des Rechtsschutzes entgegengehalten. Die Gleichstellungstheorie birgt für die Beteiligten nämlich immer die Gefahr, mit unvorhergesehenen oder nur schwer vorhersehbaren Rechtswirkungen im Anerkennungsstaat konfrontiert zu werden.98 Insbesondere eine, durch eine Gleichstellung mögliche, plötzliche Erweiterung der Rechtskraft wäre unter Rechtsschutzaspekten problematisch, da die für die Entscheidung maßgeblichen Verfahrensregeln mit den jeweils geltenden Rechtskraftgrenzen insofern verknüpft sind, als eine weitreichendere Rechtskraft auch eine weiterreichende Klärung des Streites erfordert.99 So könnte ein Urteil durch dessen Anerkennung mit Rechtskraftwirkungen ausgestattet werden, die der Ausgangsprozess deshalb nicht im Blick hatte, weil das maßgebliche Prozessrecht etwa in der Orientierung an einem engeren Rechtskraftbegriff oder wegen der fehlenden Pflicht zur Prüfung aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen100 eine weniger umfassende Prüfung vorgibt.101 Die unterschiedlichen Urteilswirkungen begünstigen darüber hinaus die Gefahr internationaler Disharmonien im Hinblick auf die „Fiktion der Gleichwertigkeit der Gerichte in aller Welt“102.103 Diesen Bedenken kann durch die Anwendung des Prozessrechtes des Urteilsstaates begegnet werden.
bb) Theorie der Wirkungserstreckung Die nachteiligen Auswirkungen der Gleichstellungstheorie vermeidet die Theorie der Wirkungserstreckung, wonach einer ausländischen Entscheidung im Inland exakt die gleichen Wirkungen wie im Urteilsstaat zukommen sollen – die Wirkungen der ausländischen Entscheidung erstrecken sich also auf das In96 So
Matscher, FS Schima (1969), 265, 277. Matscher, FS Schima (1969), 265, 279. 98 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7; Geimer/Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 14. 99 Fischer, FS Henckel (1995), 199, 203. 100 Vgl. hierzu unten zweiter Teil, B. III. 3. a) cc) (2) (deutsches Recht) und zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2) (französisches Recht). 101 Fischer, FS Henckel (1995), 199, 204; Geimer/Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 14. 102 So Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 16. 103 So MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 5; ähnlich Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 158, Rn. 9. 97 So
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land.104 Nach der Theorie der Wirkungserstreckung richtet sich die Reichweite der Rechtskraft also nach dem Prozessrecht des Urteilsstaates.105 Wendet man das Prozessrecht des Urteilsstaates auf die Frage nach der Rechtskraftreichweite an, bleiben die Urteilswirkungen durch die Anerkennung grundsätzlich unberührt. Dieser Ansicht folgt etwa die ganz herrschende Meinung in Deutschland für die Anerkennung nach § 328 ZPO.106 Demnach sind grundsätzlich sowohl engere, als auch weitergehende Rechtskraftwirkungen in Deutschland zu gewährleisten.107 Bei genauer Betrachtung beseitigt die vollumfängliche Wirkungserstreckung jedoch nur die Gefahr von über die Wirkungen des Urteilsstaates hinausgehenden Folgen, da keine dem Erststaat fremden Urteilswirkungen – wie im Rahmen einer Gleichstellung – hinzutreten können.108 Allerdings entsteht bei konsequenter Durchführung die ebenfalls problematische Verpflichtung, auch solche Urteilswirkungen anzuerkennen, die dem inländischen Prozessrecht unbekannt sind.109 Insbesondere die Anerkennung von weitergehenden Rechtskraftwirkungen ist hier umstritten.110 Hiervon ausgehend wird auf nationaler Ebene diskutiert, die Wirkungserstreckung unter bestimmten Voraussetzungen einzuschränken.
cc) Einschränkung der Wirkungserstreckung, Kumulationstheorie Ein Weniger an Wirkungen im Anerkennungsstaat ist im Rahmen der Anerkennung nach nationalem Recht – anders als im Geltungsbereich der EuGVVO111 – denkbar, da es keinem Staat verwehrt sein kann, im Rahmen der – außerhalb von bilateralen Anerkennungsverträgen oder bindenden EU-Verordnungen – ohne104 Für das deutsche autonome Recht Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 328, Rn. 1; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 2; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 20 ff.; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 4; für das französische autonome Recht vgl. Mayer/Heuzé, Droit international privé, n° 420. 105 Vgl. auch Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 2. 106 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 4; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 2; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 20 f.; Spellenberg, IPRax 1984, 304, 306; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7 m. zahlr. w. Nachw.; a. A. Schack, IZVR, Rn. 886, der sowohl für das autonome deutsche Recht („die Kumulationstheorie gilt auch im europäischen Anerkennungsrecht“, Hervorhebung durch den Verfasser) als auch für das europäische Anerkennungsrecht die Kumulationstheorie anwenden will; dahingehend auch Saenger/Dörner, ZPO, 8. Aufl., § 328, Rn. 6. 107 Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 328, Rn. 1 f.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 35 f.; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 20 ff.; MüKo/ Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 4. 108 Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO Bd. 5/1, 4. Aufl., § 328, Rn. 1; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 4; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7. 109 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 7. 110 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 5; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 2, 34 f.; Fischer, FS Henckel (1995), 199, 204. 111 Hierzu sogl. zweiter Teil, B. II. 1. b).
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hin nicht verpflichtenden Anerkennung bestimmte Grenzen zu definieren.112 Nicht einheitlich wird jedoch beurteilt, an welcher Stelle und nach welchen Kriterien diese Einschränkungen vorzunehmen sind. Erschwert wird ein Überblick durch uneinheitliche Terminologie. So basiert zum Beispiel die sogenannte Kumulationstheorie113 auch auf der Theorie der Wirkungserstreckung, beschneidet die Wirkungen des ausländischen Urteils jedoch ebenfalls und unterscheidet sich daher je nach Ausgestaltung nur begrifflich von einer mit Einschränkungen vertretenen Theorie der Wirkungserstreckung. Zielführend kann daher nur sein, die unterschiedlichen Ansichten anhand ihrer Einschränkungen – und nicht anhand ihres Namens – gegenüberzustellen. Gemeinsamer Nenner scheint zunächst nur zu sein, dass überschießende Folgen ausländischer Urteile, die dem Recht des Anerkennungsstaates vollkommen unbekannt sind, nicht anerkannt werden können.114 Dies gilt zum Beispiel für den Fall, dass sich die materielle Rechtskraft im Urteilsstaat auch auf Tatsachenfeststellungen bezieht.115 Nach einer zum deutschen Recht vertretenen Ansicht soll dies auch für präjudizielle Rechtsverhältnisse gelten: Sind im Urteilsstaat demnach auch Vorfragen von der materiellen Rechtskraft umfasst, so setze sich diese Bindung durch die Anerkennung nicht fort, da auf diese Weise die Fortschreibung von Fehlurteilen ermöglicht werde.116 Die Wirkungen einer ausländischen Entscheidung seien auf die Wirkungen einer vergleichbaren inländischen Entscheidung zu beschränken.117 Die objektiven Grenzen der Rechtskraft seien eine „rechtspolitisch fundamentale Entscheidung, die das Bild unseres Rechtsschutzsystems wesentlich mitprägt“.118 Deshalb seien über die Grenzen des deutschen Verständnisses hinausreichende Wirkungen nicht „mit der Gesamtkonzeption unseres Rechtsschutzsystems vereinbar“.119 Nach dieser Ansicht soll sich die Reichweite der materiellen Rechtskraft also zwar grundsätzlich nach dem Recht des Urteilsstaates richten; sofern dieser jedoch die Grenzen weiter zieht als das deutsche Recht, wird im Rahmen der Anerkennung an das deutsche Prozessrecht angeglichen. Damit entsteht eine „partielle Gleichstellung“. 112
Kropholler, IPR, § 60 V 1. b); Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 8. Diesen Begriff verwenden Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 8; Schack, IZVR, Rn. 886. 114 Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 35; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 164; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 22; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 328, Rn. 1; Geimer, IZPR, Rn. 2780; kritisch zu derartigen Ansätzen Loyal, ZZP 2018, 373, 386 ff. 115 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 9; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 36; a. A. Fischer, FS Henckel (1995), 199, 209 f., 213. 116 So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 9; Fischer, FS Henckel (1995), 199, 205; Müller, ZZP 1966, 199, 206 f. 117 So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 5, 23. Aufl., § 328, Rn. 9; Schack, IZVR, Rn. 886. 118 So Müller, ZZP 1966, 199, 206. 119 So Müller, ZZP 1966, 199, 206. 113
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Nach differenzierterer Ansicht ist darauf abzustellen, ob die Wirkungen des ausländischen Urteils nach ihrer Art dem deutschen Recht bekannt sind. Trifft dies zu, sind auch weitergehende Urteilswirkungen des Erststaates anzuerkennen und wirken sich im Inland aus.120 Die Frage, ob eine vom Recht des Urteilsstaates vorgegebene Erstreckung der Rechtskraft auf Präjudizien auch nach der Anerkennung in Deutschland fortgilt, hängt demnach davon ab, ob die materielle Rechtskraft von Vorfragen dem deutschen Recht ihrer Art nach unbekannt ist. Dies wird im Hinblick auf § 322 Abs. 2 ZPO jedoch zu verneinen sein, weil dieser gerade eine Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf eine Vorfrage anordnet.121 Im Ergebnis wird durch diesen Ansatz eine weitergehende Wirkungserstreckung erreicht.
dd) Lex causae Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Urteilswirkungen nach dem auf den Sachverhalt angewandten Recht zu bemessen. Hierfür ließe sich anführen, dass der Umfang der Urteilswirkungen dann mit dem materiellen Recht korreliert.122 Insofern müsse durch einen Gleichlauf von materiellem Recht und Verfahrensrecht sichergestellt werden, dass die Beteiligten nicht durch eine Kombinierung nicht aufeinander abgestimmter Sach- und Prozessrechte benachteiligt werden.123 Dieses Argument hat jedoch den Prozess im Urteilsstaat im Blick und ließe sich im Rahmen der Anerkennung nur dann fruchtbar machen, wenn schon im Urteilsstaat ein Gleichlauf von materiellem Recht und Prozessrecht gewährleistet würde. Da das Verfahrensrecht jedoch bislang konsequent der lex fori entnommen wird124, ist ein Gleichlauf von Prozessrecht und materiellem Recht keineswegs garantiert und in Prozessen, in denen es zu einer Divergenz zwischen Prozessrecht und materiellem Recht kommt, werden die prozessualen Besonderheiten derjenigen Rechtsordnung, deren materielles Recht in der Sache maßgeblich ist, schon von vornherein nicht beachtet. Die Bestimmung der Rechtskraftgrenzen nach dem in der Sache maßgeblichen Recht liefe dann ins Leere und ist daher abzulehnen.125
120 So Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 35; Kropholler, IPR, § 60 V 1. b); MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 5, 164. 121 So Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., § 328, Rn. 35 f.; im Ergebnis ebenso MüKo/ Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 328, Rn. 5; Fischer, FS Henckel (1995), 199, 208 f. 122 So Grunsky, ZZP 1989, 241, 258 f. 123 Grunsky, ZZP 1989, 241, 259. 124 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 6, Rn. 2 ff.; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., IZPR, Rn. 1; MüKo/Rauscher, ZPO, 6. Aufl., Einl., Rn. 485; Stein/Jonas/Brehm, ZPO Bd. 1, 23. Aufl., vor § 1, Rn. 322 ff. m. zahlr. w. Nachw. 125 So auch Fischer, FS Henckel (1995), 199, 203.
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b) Konkrete Ansichten zur Anerkennung nach der EuGVVO – Wirkungserstreckung als etablierter Konsens Die Bandbreite der oben – unter Verweis auf Ansichten zum nationalen Anerkennungsrecht – dargestellten Vorschläge zum Inhalt der Anerkennung ist im Bereich der EuGVVO wesentlich begrenzter. So greift etwa schon das Argument, aus der Freiwilligkeit der Anerkennung folge eine Berechtigung zur Begrenzung fremder Urteilswirkungen, nicht für den Anwendungsbereich der EuGVVO, da die Anerkennung hier gerade nicht freiwillig, sondern verpflichtend ist. Und auch wenn sich die EuGVVO selbst nicht ausdrücklich auf eine der Anerkennungstheorien festlegt, entspricht ihr die Anwendung der Wirkungserstreckung dennoch am besten. Dies legt schon der Jenard-Bericht nahe126 und auch Art. 54 Abs. 1 Unterabsatz 2 EuGVVO, der teilweise als ausdrückliche Bekräftigung der Wirkungserstreckung verstanden wird,127 spricht zumindest gegen eine – bei Anwendung der Gleichstellungstheorie mögliche – Wirkungserweiterung.128 Es ist daher nachvollziehbar, dass sich sowohl der EuGH und – neben wenigen Ausnahmen – auch die ganz herrschende Meinung innerhalb der europäischen Literatur für die Anwendung der Wirkungserstreckung bei Anerkennung nach der EuGVVO ausgesprochen haben.
aa) Ansicht des EuGH – Wirkungserstreckung Der EuGH sprach sich schon früh für das Prinzip der Wirkungserstreckung aus.129 In einer grundlegenden Entscheidung zum EuGVÜ führte er aus, dass eine „anerkannte ausländische Entscheidung grundsätzlich im ersuchten Staat dieselben Wirkungen entfalten muß, wie im Urteilsstaat“.130 „Durch die Anerkennung sollen also ‚den Entscheidungen die Wirkungen beigelegt werden, die ihnen in dem Staat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen sind‘.“131 Der EuGH zitiert an dieser Stelle aus dem von Jenard verfassten Bericht zum EuGVÜ.132 Zur Begründung führt er an, dass „durch das Übereinkommen ‚so weit wie möglich die Freizügigkeit der Urteile hergestellt werden‘ soll und daß das Übereinkommen ‚in diesem Sinne … auszulegen ist‘.“133 126
Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1 ff., 42 ff. So Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 54 EuGVVO, Rn. 2; ebenso v. Hein, RIW 2013, 97, 110; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 54 Brüssel Ia-VO, Rn. 8. 128 Vgl. zum hier vertretenen Verständnis von Art. 54 Abs. 1 Unterabsatz 2 EuGVVO auch unten vierter Teil, A. II. 2. c) aa). 129 Vgl. auch Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 3 ff. 130 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 11. 131 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 10. 132 Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1 ff., 42 ff. 133 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 10. 127
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bb) Ansicht innerhalb der Literatur – Wirkungserstreckung als herrschende Meinung Von der Literatur wurde dies nur vereinzelt kritisiert und für die Anwendung der Kumulationstheorie argumentiert.134 Die überwiegende Ansicht innerhalb der europäischen Literatur folgt jedoch dem EuGH und befürwortet eine uneingeschränkte Wirkungserstreckung.135 Anerkennung meint mithin die Erstreckung der Wirkungen der Gerichtsentscheidung des Urteilsmitgliedstaates auf den Anerkennungsmitgliedstaat.136 Es ist also das Recht des Urteilsstaates, das die Reichweite der Urteilswirkungen im Anerkennungsstaat vorgibt. Gehen die Wirkungen der materiellen Rechtskraft nach dem Prozessrecht des Urteilsstaates weiter als die des Anerkennungsstaates, muss diese weitergehende Wirkung dennoch anerkannt werden.137
2. Zusammenfassung Nach der herrschenden Meinung richten sich die Grenzen der objektiven Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung nach der EuGVVO nach dem Prozessrecht des Urteilsstaates.138 Die Wirkungen des Urteils werden durch die Anerkennung also vom Urteilsstaat auf den Anerkennungsstaat erstreckt.139 Während auf nationaler Ebene über eine Begrenzung der Wirkungserstreckung diskutiert wird, sind Einschränkungen oder Modifikationen von Entscheidungswirkungen im Geltungsbereich der EuGVVO aufgrund der eindeutigen Stellungnahmen 134 Insb. Schack, IZVR, Rn. 886 m. w. Nachw.; für das EuGVÜ auch Droz, Compétence Judiciaire, n° 448. 135 Aus dem deutschen Schrifttum etwa Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 9; Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2; Rauscher/ Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 4; MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 12; Geimer/Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 13 ff.; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2; Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 10 m. w. Nachw.; Adolphsen, EuZVR, 5. Kapitel Rn. 15; aus dem englischen Schrifttum Harder, ICLQ 2013 (62), 441, 447 f.; Barnett, Res Judicata, Rn. 7.59 ff.; Layton/Mercer, European Civil Practice, Vol. 1, Rn. 24.010; Briggs, Jurisdiction and Judgments, Rn. 7.24; aus dem französischen Schrifttum vgl. etwa Nioche, RCDIP 2013, 686, 698; Mayer/Heuzé, Droit international privé, n° 420 (für das autonome Anerkennungsrecht) zur EuGVVO n° 477; zum EuGVÜ Goldmann, RTDEur 1971, 1, 31; vgl. zum Ganzen auch Gaudemet-Tallon/Ancel, Compétence et exécution, 6e éd., n° 379; aus dem griechischen Schrifttum vgl. etwa Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 215. 136 Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 4; Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 10; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 11. 137 Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 5. 138 Siehe Nachweise in Fn. 135. 139 Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2.
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des EuGH kaum zu rechtfertigen.140 Bei Anerkennung nach der EuGVVO gilt die Wirkungserstreckung im europäischen Prozessrecht infolgedessen grundsätzlich unbegrenzt.141 Beschränkungen sind lediglich über den ordre public möglich.142 Demnach ergeben sich die objektiven Grenzen der Rechtskraft – und mithin auch die Antwort auf die Frage, ob Vorfragenentscheidungen in materielle Rechtskraft erwachsen – allein aus dem Prozessrecht des Urteilsstaates.143 Von ebendiesen Grundsätzen scheint der EuGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012144 jedoch zumindest in Teilen abgewichen zu sein und einen eigenen (partiellen) Rechtskraftbegriff etabliert zu haben.
III. Welche Vorgaben existieren aktuell? – Keine Existenz eines europäischen Rechtskraftbegriffes de lege lata Die obigen Ausführungen zur Anerkennung und Wirkungserstreckung innerhalb des EuGVVO-Regimes zeigen, dass eine autonome Rechtskraft, mit der das Urteil bei Grenzüberschreitung ausgestattet würde, von der Verordnung nicht vorgesehen und infolgedessen in ihr auch nicht geregelt ist. Nichtsdestotrotz lassen sich Überlegungen zur Entwicklung eines solchen europäischen Rechtskraftbegriffes teilweise auf die Rechtsprechung des EuGH stützen, der bisweilen den Eindruck erweckt, er lege seinen Entscheidungen ein eigenes (autonomes) Rechtskraftverständnis zugrunde und insofern sogar vom „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ spricht. Die nachfolgende Analyse soll daher der Frage nachgehen, ob innerhalb der Rechtsprechung des EuGH zu den bestehenden Regelungen der EuGVVO bereits ein autonomes Rechtskraftprinzip zu erkennen ist und welche Vorgaben de lege lata für die Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes existieren. Von Relevanz sind in diesem Zusammenhang nicht nur Regeln und Rechtsprechung zur Frage der Rechtskraft selbst, sondern gleichsam zu Rechtsinstituten, die mit der Rechtskraft in engem Zusammenhang stehen – namentlich zum Streitgegenstandsbegriff, der Rechtshängigkeit und der Unvereinbarkeit. Unabhängig vom Ergebnis der Analyse sind Vorgaben aus der Rechtsprechung im Hinblick auf die fehlende Rechtsetzungskompetenz des EuGH freilich nicht 140 So zutreffend Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 10. 141 MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 12; Saenger/Dörner, ZPO, 8. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3 mit dem Hinweis, dass auch im Anerkennungsstaat unbekannte Urteilswirkungen anzuerkennen sind. 142 Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 4. 143 Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 5. 144 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012.
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mehr als ein Anhaltspunkt und zeichnen Überlegungen zur Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes de lege ferenda daher nicht zwingend vor.
1. Rechtsprechung des EuGH Obwohl der EuGH in ständiger Rechtsprechung für die Anerkennung von Urteilswirkungen der Wirkungserstreckungstheorie folgt,145 existieren verschiedene Judikate, in denen der Gerichtshof die – bei strikter Durchführung der Wirkungserstreckung allein maßgeblichen – nationalen Rechtskraftregeln außer Acht lässt und ein eigenes autonomes Verständnis zugrunde legt. Besonders deutlich wurde dieses Vorgehen in der Rechtssache Gothaer Allgemeine146 aus dem Jahr 2012. Doch auch schon eine Entscheidung147 aus den 1970er Jahren wird innerhalb der Literatur teilweise ähnlich interpretiert.148
a) de Wolf/Cox Der in Belgien wohnhafte Kläger de Wolf hatte gegen die niederländische Firma Cox BV in Belgien ein Zahlungsurteil erstritten. Als die Cox BV ihrer Zahlungspflicht nicht nachkam, erhob de Wolf in den Niederlanden erneut Klage. Der oberste Gerichtshof der Niederlande fragte den EuGH, ob die nachfolgende Klage zulässig sei. Die Luxemburger Richter hielten die erneute Klage für unzulässig. Ihre Entscheidung begründeten sie mit der Gefahr einer widersprechenden Zweitentscheidung149 und – obwohl über die erste Klage bereits entschieden war – den Regeln zur Rechtshängigkeit (Art. 21 EuGVÜ)150, nicht jedoch mit der Rechtskraft des belgischen Urteils. Im Ergebnis ist dem EuGH selbstverständlich darin zuzustimmen, dass es zu verhindern gilt, dass die Gerichte mehrerer Mitgliedstaaten über denselben Streitgegenstand entscheiden.151 Gerade dieses Ziel verfolgt und erreicht aber die Rechtskraft. Werden die Wirkungen des belgischen Urteils durch Anerkennung auf die Niederlande erstreckt, führt die Rechtskraft eben dieses Urteils zur Unzulässigkeit der erneuten Klage. Es ist daher zu be145 Grundlegend in EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 11; vgl. zur Wirkungserstreckungstheorie bereits oben zweiter Teil, B. II. 1. a) bb). 146 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012. 147 EuGH, Rs. 42/76 („de Wolf/Cox“), Slg. 1976, 1759. 148 So etwa Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 11; dem folgend Koops, IPRax 2018, 11, 13 f. 149 EuGH, Rs. 42/76 („de Wolf/Cox“), Slg. 1976, 1759, Rn. 9/10. 150 EuGH, Rs. 42/76 („de Wolf/Cox“), Slg. 1976, 1759, Rn. 11/12; kritisch zu diesem Argument Geimer, NJW 1977, 2023, 2023 f.; zum Verhältnis von Rechtshängigkeit und Rechtskraft und hieraus möglicherweise resultierenden Rückschlüssen für die Reichweite einer autonomen Rechtskraft, vgl. unten zweiter Teil, B. III. 3. e) und f ) und g). 151 EuGH, Rs. 42/76 („de Wolf/Cox“), Slg. 1976, 1759, Rn. 11/12.
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dauern, dass der EuGH auf diesen Aspekt nicht einmal eingeht.152 Ob hieraus jedoch geschlossen werden kann, der EuGH habe hiermit „grundlegende Argumentationslinien für eine autonome Bestimmung der Rechtskraft vorweggenommen“153, ist fraglich. Zutreffend ist zwar, dass der Gerichtshof für die Begründung seiner Entscheidung nicht auf nationale Bestimmungen zurückgreift, sondern „europäisch-autonom“ argumentiert.154 Dass der EuGH nicht mit nationalen Rechtskraftwirkungen argumentiert, zwingt aber nicht zu dem Umkehrschluss, er lege deshalb (bewusst) europäische Rechtskraftwirkungen zugrunde. Vielmehr könnte auch geschlossen werden, der EuGH stelle gar nicht auf das Institut der Rechtskraft ab.155 Gegen die Implikation einer autonomen Rechtskraftlehre durch das Urteil in de Wolf/Cox sprechen auch nachfolgende Judikate156 des Gerichtshofes, in denen sich der EuGH zur Wirkungserstreckung bekannte und infolgedessen davon ausging, die anzuerkennenden Urteilswirkungen seien dem nationalen Prozessrecht des Urteilsstaates zu entnehmen.157 Wesentlich eindeutiger zu einem europäischen Rechtskraftbegriff äußerte sich der EuGH demgegenüber in der Rechtssache Gothaer Allgemeine.
b) Gothaer Allgemeine Obwohl der EuGH auch in seiner Entscheidung zu Gothaer Allgemeine zunächst auf seine Rechtsprechung in Hoffmann/Krieg und das darin befürwortete Prinzip der Wirkungserstreckung verweist,158 lässt er nationales Prozessrecht im Folgenden außer Acht und entnimmt dem „Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“159, dass die Beurteilung der (Vor-)Frage, ob eine Gerichtsstandsvereinbarung wirksam sei oder nicht, nachfolgende mitgliedstaatliche Gerichte binden müsse.160 Neben den Unklarheiten darüber, was genau sich hinter dem 152 Ähnlich auch Geimer, NJW 1977, 2023, 2023: „Trotz allen Verständnisses für die besondere Situation des EuGH […] muß man die fehlende Prägnanz der Urteilsbegründung bedauern.“ 153 So Koops, IPRax 2018, 11, 13, der infolgedessen (S. 15) auch zu dem Schluss kommt, der EuGH habe in seiner Judikatur „stets einen autonomen Rechtskraftbegriff implizit vorausgesetzt, der auch die Beurteilung von Vorfragen umfasst“ und die Entscheidung in Gothaer Allgemeine sei daher nicht „radikale Neuerung“, sondern „logische Folge der vorherigen Judikatur“. 154 So Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 11. 155 Der EuGH verwendet zumindest insoweit den Begriff „Rechtskraft“ auch nicht. 156 Grundlegend EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 11; EuGH, Rs. C-420/07 („Meletis Apostolides“), Slg. 2009, I-03571, Rn. 66. 157 Ähnlich Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 11: „In der Folge kam es jedoch nicht zu einer weiteren Entwicklung eines solchen autonomen Rechtskraftbegriffs; es blieb vielmehr herrschend, dass die Wirkungen der anzuerkennenden Entscheidung eine Frage bloß des nationalen Prozessrechts, usw. nach der herrschenden Wirkungserstreckungstheorie jedes des Erststaats seien.“ 158 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 34. 159 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 160 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 41.
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„Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“ verbirgt,161 wirft die Entscheidung – expliziter als alle vorangehenden – vor allem die Frage nach deren Übertragbarkeit auf andere Konstellationen und infolgedessen nach einer Ablösung der Wirkungserstreckungstheorie durch die Oktroyierung eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes auf.
aa) Sachverhalt Das Ausgangsverfahren betraf eine Schadensersatzklage der Gothaer Allgemeine Versicherung AG, drei weiterer deutscher Versicherungen und der Versicherten Krones AG162, einer deutschen Gesellschaft, gegen die Samskip GmbH163, eine deutsche Tochtergesellschaft der Samskip Holding BV, ein in Island gegründetes Transportunternehmen mit Sitz in den Niederlanden. Krones hatte Samskip im Jahr 2006 mit der Organisation und Durchführung des Transportes einer Brauereianlage von Antwerpen (Belgien) nach Guadalajara (Mexiko) beauftragt. Beim Transport wurde die Anlage beschädigt. Nachdem Krones und die Empfängerin der Brauereianlage ihre Ansprüche an die Versicherungen abgetreten hatten, riefen die Kläger im Jahr 2007 zunächst die belgischen Gerichte an. Während das Handelsgericht von Antwerpen der Klage zunächst stattgab, änderte der belgische Appellationshof Antwerpen das Urteil im Jahr 2009 ab und erklärte sich darin für „ohne Rechtsbefugnis“.164 Das Gericht hielt die im Konnossement enthaltene Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten isländischer Gerichte für wirksam. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Später erhoben die Kläger Klage beim Landgericht Bremen (Deutschland). Das Landgericht Bremen legte dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob die Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 44/2001 (EuGVVO alt) dahin auszulegen seien, dass das Gericht, vor dem die Anerkennung einer Entscheidung, mit der das Gericht eines anderen Mitgliedstaats seine Zuständigkeit wegen einer Gerichtsstandsvereinbarung verneint hat, geltend gemacht wird, durch die in den Gründen eines rechtskräftigen Urteils, mit dem die Klage als unzulässig abgewiesen wurde, enthaltene Feststellung in Bezug auf die Wirksamkeit dieser Vereinbarung gebunden ist.165
bb) Die Auffassung des Generalanwalts und verschiedener Regierungen Der Generalanwalt stellte zunächst unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung der Frage dar:166 So sei denkbar, dass sich die anzuerkennende Wirkung einer 161
Hierzu sogl. unten zweiter Teil, B. III. 2. Im Folgenden Krones. 163 Im Folgenden Samskip. 164 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 15. 165 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 33. 166 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 62 ff. 162
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Entscheidung, in der sich ein Gericht für unzuständig erklärt, darin erschöpfe, dass das zunächst angerufene Gericht unzuständig ist.167 In Anbetracht des engen deutschen Verständnisses der Rechtskraft ist es wenig überraschend, dass dieser Ansatz im Verfahren auch von der deutschen Regierung vertreten wurde.168 Entscheidend für diese Ansicht spricht zum einen die Systematik der Verordnung, die keinen verbindlichen „Verweisungsmechanismus“ kennt, sondern jedes Gericht grundsätzlich selbst über seine Zuständigkeit befinden lassen will.169 Zum anderen der Umstand, dass nach der vom EuGH in Hoffmann/Krieg favorisierten Theorie der Wirkungserstreckung170 jedenfalls keine Wirkungen eintreten können, die über die Grenzen desjenigen hinausgehen, was das Prozessrecht des Urteilsstaates der Rechtskraft zuordnet.171 Vorliegend wäre also entscheidend gewesen, ob die Entscheidung über die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung nach belgischem Prozessrecht in Rechtskraft erwächst und so eine Bindungswirkung schafft.172 Eben jene konsequente Durchführung der Wirkungserstreckung wurde auch von der schweizerischen und österreichischen Regierung vertreten.173 Die belgische Regierung ging hingegen davon aus, die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, „nicht nur den Tenor der Entscheidung anzuerkennen, sondern auch die Begründung der Entscheidung über die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung“.174 Demnach müsse sich die Rechtskraft auch auf das erstrecken, was „stillschweigend, die für die Entscheidung notwendige Grundlage bilde“.175 Auch der Generalanwalt schloss sich dieser Ansicht an: Eine Entscheidung über die Zuständigkeit nach der Prüfung einer Gerichtsstandsvereinbarung stelle keine gewöhnliche Entscheidung dar und müsse daher „in Anbetracht ihrer Besonderheit eine spezifische, einheitliche und autonome exterritoriale Wirkung erzeugen“.176 Demnach müsse eine Bindungswirkung von Feststellungen 167 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 63. 168 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 63. 169 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 63. 170 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 11. 171 So auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 63. 172 Hierzu unten zweiter Teil, B. III. 1. c). 173 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 65. 174 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 64. 175 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 64. 176 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 66.
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zur Wirksamkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung unabhängig davon bestehen, ob diese Feststellungen im Urteils- oder Anerkennungsstaat in Rechtskraft erwachsen oder nicht.177 Der Generalanwalt versuchte seine Ansicht mit den Zielen sowie der allgemeinen Systematik der Verordnung und dem Grundsatz effektiven Rechtschutzes zu stützen.178 Die Förderung gegenseitigen Vertrauens, die Vereinfachung der raschen Anerkennung und die Vorhersehbarkeit der zuständigen Gerichte erforderten, dass der „Begründung, mit der über die materielle Frage, von der die Zuständigkeit abhing, entschieden wurde, Rechnung getragen wird“.179 Der Rückgriff auf das Prozessrecht des Urteilsstaates liefe auf die Gestattung einer erneuten Prüfung der Frage hinaus, sofern das Prozessrecht des Urteilsstaates den Entscheidungsgründen keine Rechtskraft beimesse.180 Dies wiederum widerspräche dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und fördere Rechtsunsicherheit.181 Der Ausschluss einer Nachprüfung der Zuständigkeit beschränke die Prüfungsbefugnis des Anerkennungsstaates. Es sei daher wichtig, den Umfang dieser Beschränkung einheitlich und „nicht in Abhängigkeit von den nationalen Vorschriften über die Begrenzung der Rechtskraft“ unterschiedlich zu bemessen.182 Der Generalanwalt sah darüber hinaus auch keinen Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH:183 Die Aussagen in Hoffmann/Krieg184 und Apostolides/Orams185 seien nicht übertragbar, weil sie auf Entscheidungen über die internationale Zuständigkeit keine Anwendung fänden.186 Im Hinblick auf weitere mögliche Motive des Generalanwalts sei an dieser Stelle auch nochmals an die Ausführungen zu Art. 95 CPC erinnert,187 der im Vergleich zur neueren Rechtsprechung der Cour de cassation ebenfalls eine Ausnahme darstellt, weil er im Rahmen der Zuständigkeitsentscheidungen eine Rechtskraft der Gründe vorschreibt. Es ist durchaus denkbar, dass der franzö177 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 68. 178 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 69 ff. 179 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 80. 180 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 77. 181 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 72, 77. 182 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 82. 183 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 90. 184 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645. 185 EuGH, Rs. C-420/07 („Apostolides/Orams“), Slg. 2009, I-03571. 186 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 93. 187 Vgl. oben erster Teil, B. III. 7. b) bb).
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sische Generalanwalt Bot von dieser Regelung zumindest inspiriert wurde und es ihm insofern nicht fremd, sondern vertraut war, die Reichweite der Rechtskraft von Zuständigkeitsentscheidungen anders zu beurteilen als diejenige übriger Urteile.
cc) Entscheidung des EuGH Der EuGH schloss sich im Wesentlichen dem Vorschlag des Generalanwalts an und antwortete auf die Frage, „dass die Art. 32 und 33 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen sind, dass das Gericht, vor dem die Anerkennung einer Entscheidung, mit der das Gericht eines anderen Mitgliedstaats seine Zuständigkeit wegen einer Gerichtsstandsvereinbarung verneint hat, geltend gemacht wird, durch die in den Gründen des rechtskräftigen Urteils, mit dem die Klage als unzulässig abgewiesen wurde, enthaltene Feststellung in Bezug auf die Wirksamkeit dieser Vereinbarung gebunden ist“.188
In seiner Begründung rekurriert der EuGH zunächst auf seine Ausführungen in Hoffmann/Krieg und den Bericht189 von Jénard.190 Dann geht der EuGH jedoch auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in die Justiz der Europäischen Union ein: Diesem würde es widersprechen, wenn das Gericht des Anerkennungsstaates die Entscheidung des Ausgangsgerichtes über die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung erneut prüfen würde.191 Dies gehe auch aus Art. 36 EuGVVO alt192 hervor.193 Auch der EuGH geht davon aus, dass die Beschränkung der Prüfungsbefugnis des Anerkennungsstaates „auf Unionsebene“ festgelegt werden muss.194 Danach stellt er auf den Rechtskraftbegriff im Unionsrecht ab, für den bekannt sei, dass nicht nur der Tenor, sondern auch die Urteilsgründe, die den Tenor tragen und deshalb nicht von ihm zu trennen sind, in Rechtskraft erwachsen.195 Dieser unionsrechtliche Rechtskraftbegriff müsse zur Bestimmung der Wirkungen einer Entscheidung zur Wirksamkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung angewandt werden.196 Der EuGH erkennt auch keinen Widerspruch zu seiner bisherigen Rechtsprechung, da für die Anerkennung von Zuständigkeitsentscheidungen „eigene Regeln“ gälten.197
188 189
EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 43. Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1 ff. 190 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 34. 191 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 36. 192 = Art. 52 VO Nr. 1215/2012. 193 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 37 f. 194 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 39. 195 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 196 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 197 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 42.
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dd) Rezeption der Entscheidung innerhalb der europäischen Literatur Innerhalb der deutschen Literatur ist die Entscheidung des EuGH überwiegend kritisiert worden.198 Es wird darauf hingewiesen, dass für den Moment unterschiedliche Anerkennungsmethoden anzuwenden seien: Da sowohl der Generalanwalt als auch der EuGH herausstellen, dass Zuständigkeitsentscheidungen anders behandelt werden müssten als Sachentscheidungen, sei für Sachurteile weiterhin von der Geltung der Wirkungserstreckung auszugehen, während für Zuständigkeitsentscheidungen die vom EuGH diktierte Konzeption maßgeblich sei.199 Gerade die Anwendung einer autonomen Rechtskraftkonzeption könne zur Folge haben, dass Entscheidungen durch ihre Anerkennung Wirkungen zukommen, die ihnen auch nach dem Recht des Urteilsstaates nicht zukämen.200 Zudem erhöhe sich die Gefahr der Rechtlosstellung der Parteien, wenn alle mitgliedstaatlichen Gerichte durch eine rechtskräftige Feststellung der Wirksamkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten eines Drittstaates gebunden sind, und sich die Gerichte des Drittstaates ebenso für unzuständig halten.201 Auch die Argumentation des EuGH wird in Frage gestellt. So wird bezweifelt, ob eine erneute Prüfung der Gerichtsstandsvereinbarung durch das Zweitgericht überhaupt die Prüfung der Zuständigkeit des Urteilsgerichtes enthalte, denn, ob sich das Erstgericht für zuständig erklärt hätte, wenn es die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung verneint hätte, ist nicht Gegenstand der Entscheidung des Zweitgerichts. Dieses prüfe nämlich lediglich seine eigene Zuständigkeit.202 Auch eine Friktion mit Art. 52 EuGVVO203 ergäbe sich nur dann, wenn die Feststellung über die Gerichtsstandsvereinbarung auch Gegenstand der Entscheidung wäre, mithin in Rechtskraft erwüchse. Daraus abzulei198 Vgl. Roth, IPRax 2014, 136; Bach, EuZW 2013, 56; Klöpfer, GPR 2015, 210; Hau, LMK 2013, 341521; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227; Koops, IPRax 2018, 11; Zöller/ Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 27; zustimmend hingegen Kremmel, ELR 2013, 196; Hartenstein, RdTW 2013, 267; Thode, jurisPR-PrivBauR 3/2013, Anm. 1; wohl auch König/ Mayr/Domej, EuZVR Österreich IV, S. 24; Chen, Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft, S. 168 ff. Gegen eine Verallgemeinerung auch Wieczorek/Schütze/Loyal, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 32; auch Geimer, FS Kaissis (2012), 287, 295 beschränkt seine in Geimer/Schütze/Geimer, EuZVR, 3. Aufl., Art. 23 EuGVVO, Rz. 210 ff. (vor dem Urteil in Gothaer) vorgeschlagene „Bindungswirkung sui generis“ auf das Verhältnis zwischen forum derogatum und forum prorogatum und zusätzlich auf Fälle, in denen keine weiteren mitgliedstaatlichen Gerichte für die Justizgewährung in Betracht kämen. Kritisch zu diesem (Geimers) Vorschlag, Heinig, Grenzen von Gerichtsstandsvereinbarungen, 223 f. 199 So auch Roth, IPRax 2014, 136, 138; i. E. auch Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 222 f. 200 So auch Bach, EuZW 2013, 56, 57 f.; kritisch daher zu Recht Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., § 328, Rn. 27; kritisch im Hinblick auf dasselbe Problem i. R. d. Gleichstellungstheorie, Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 215. 201 Klöpfer, GPR 2015, 210, 217 m. w. Nachw.; gleichwohl besteht diese Gefahr freilich auch allgemein im Verhältnis zu Drittstaaten – sie wird durch die Entscheidung in Gothaer jedoch verstärkt. 202 Roth, IPRax 2014, 136, 139; Klöpfer, GPR 2015, 210, 212. 203 = Art. 36 VO Nr. 44/2001.
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ten, dass sie in Rechtskraft erwachse, sei zirkulär.204 Ebenso wenig verfange das Argument gegenseitigen Vertrauens: Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens sei „nicht mehr als eine beliebig einsetzbare Leerformel“ und „fingiert“.205 Darüber hinaus sei fraglich, ob die Entwicklung eines autonomen Rechtskraftbegriffes nicht die Grenzen der legitimen Rechtsfortbildung überschreite.206 Auch innerhalb der englischen Literatur wurde auf den Bruch zwischen Gothaer und Hoffmann/Krieg hingewiesen.207 Soweit ersichtlich wurde die Entscheidung in der französischen208 und belgischen209 Literatur weitaus weniger kritisch aufgefasst. So wird hier der Weg des EuGH sogar begrüßt: „C’est donc à juste titre que la Cour de justice écarte tant l’application de la loi de l’Etat d’origine que celle de l’Etat requis.“210 Als Begründung wird hier der nicht zufriedenstellende Zustand fehlender Einheitlichkeit angeführt.211 Nichtsdestotrotz wird auch darauf hingewiesen, dass ein tragfähiges Konzept für eine autonome Bestimmung der Rechtskraftgrenzen (noch) fehle.212 Allerdings wurde ebenfalls angemerkt, dass abzuwarten bleibe, ob sich diese Rechtsprechung auf andere Urteile übertragen lasse.213 Ein darüber hinaus interessanter Aspekt aus der französischen Literatur ist ein möglicher Widerspruch zwischen der Entscheidung des EuGH in Gothaer und der aktuellen Fassung der EuGVVO. Art. 31 Abs. 2 EuGVVO sieht vor, dass im Falle des Vorliegens einer Gerichtsstandsvereinbarung vorrangig das in der Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnete Gericht über die Wirksamkeit derselben befinden soll. Auch Erwägungsgrund 20 der EuGVVO weist in eine ähnliche Richtung, indem er anweist, die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung nach dem Recht des forum prorogatum zu beurteilen. Hieraus wurde geschlossen, dass der Entscheidung in Gothaer unter der Neufassung der EuGVVO nicht 204
Klöpfer, GPR 2015, 210, 212. Roth, IPRax 2014, 136, 139. 206 Roth, IPRax 2014, 136, 138. 207 Wilke, JPrIL 11:1, 128, 141. 208 Vgl. innerhalb der französischen Literatur Nioche, RCDIP 2013, 686; Idot, Europe n° 1 2013, comm. 57, welcher die Entscheidung jedoch als eine Fortsetzung der Wirkungserstreckung interpretiert, wenn er meint der EuGH habe sich der Ansicht Österreichs und der Schweiz angeschlossen und für die konsequente Durchführung der Wirkungserstreckung votiert: „Enfin, selon une thèse intermédiaire, qui s’appuie notamment sur le rapport Jénard, soutenue par le gouvernements autrichien et suisse estiment que le principe de la reconnaissance doit avoir pour conséquence d’‚attribuer aux décisions l’autorité et l’efficacité dont elles jouissent dans l’Etat où elles ont été rendues‘.[…] C’est également celle [thèse] retenue par la Cour.“ 209 Mit kritischer Aufarbeitung im Ergebnis aber offenbar zustimmend („[…] it meets a practical need to discourage national courts to be the masters of their own jurisdiction despite previous litigation necessarily settling the question.“) Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 273 f. 210 Nioche, RCDIP 2013, 686, 699. 211 Nioche, RCDIP 2013, 686, 699. 212 Nioche, RCDIP 2013, 686, 698. 213 So Nioche, RCDIP 2013, 686, 700; ebenso Wilke, JPrIL 11:1, 128, 141. 205 So
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mehr gefolgt werden könne, da die Entscheidung durch eben genannte Vorgaben infrage gestellt würde.214 Richtig ist jedoch auch, dass Art. 31 Abs. 2 EuGVVO nur Anwendung findet, wenn die Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte eines Mitgliedstaates abgeschlossen wurde und die in Gothaer entwickelten Grundsätze daher in jedem Fall dann weiterhin gälten, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht seine Zuständigkeit aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte eines Drittstaates verneint hätte. Eine mögliche Erklärung – freilich jedoch kein Argument –, warum die Entscheidung innerhalb der französischen Literatur weniger kritisiert worden ist, mag sein, dass im französischen Zivilprozessrecht lange Zeit eine eigenständige Rechtskraft von Entscheidungsgründen bejaht wurde215 und Vorfragenentscheidungen im Rahmen von Zuständigkeitsentscheidungen nach Art. 95 CPC auch heute noch in Rechtskraft erwachsen.
c) Ergebnis Der Rechtsprechung des EuGH lassen sich außer den in Gothaer entwickelten Ausnahmeregelungen bislang keine zwingenden Vorgaben für die Tiefenwirkung einer unionsautonomen Rechtskraft entnehmen.216 Fraglich bleibt insofern insbesondere, ob die Wirkungserstreckung (nur) partiell unangewendet bleibt oder ob der EuGH mit seiner Rechtsprechung die Etablierung eines weiterreichenden Rechtskraftkonzeptes für die EuGVVO verfolgt. Zumindest für Zuständigkeitsentscheidungen aufgrund einer (wirksamen) Gerichtsstandsvereinbarung oktroyiert der EuGH einen (partiellen) europäischen Rechtskraftbegriff. Bemerkenswert ist dabei schon allein der Umstand, dass der EuGH in diesem konkreten Fall dasselbe Ergebnis erreicht hätte, wenn er die Wirkungserstreckung strikt durchgeführt hätte. Die Wirkungen, die das belgische Recht Urteilen zumisst, hätten sich dann auf Deutschland als Anerkennungsstaat erstreckt. Da das belgische Recht in diesem Fall vorsieht, dass auch die Urteilsgründe in Rechtskraft erwachsen, wäre das deutsche Gericht auch ohne den Rekurs des EuGH auf einen autonomen Rechtskraftbegriff gehalten gewesen, sich aufgrund der in der belgischen Unzuständigkeitsentscheidung enthaltenen Feststellung über die Wirksamkeit der Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der isländischen Gerichte für unzuständig zu erklären.217 214 So Kleiner in JurisClasseur, Droit international, Fasc. 584–165, 2015, n° 95: „La nouvelle règle de priorité du juge élu établie par l’article 31 remet en cause cette jurisprudence, puisque sous l’empire du règlement refondu, le tribunal premier saisi en violation de la clause devra surseoir à statuer.“; ähnlich Nourissat, Procédures n° 3 mars 2013, comm. 71; hierauf weist auch Klöpfer, GPR 2015, 210, 212 f. hin. 215 Hierzu unten dritter Teil, B. III. 216 Ebenso z. B. Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 223; Bach, EuZW 2013, 56, 58. 217 So auch Nioche, RCDIP 2013, 686, 698 f. m. Nachw.; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 242 f.; Hartenstein, RdTW 2013, 267, 269 f.
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Dass der EuGH einen neuen Weg einschlägt, um ein Ergebnis zu erhalten, welches auch auf „herkömmlichem“ Wege eingetreten wäre, erweckt den Eindruck, der Gerichtshof wolle bewusst ein neues Konzept etablieren.218 So stellt der EuGH auch selbst heraus, dass „das Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts verlangt, dass der genaue Umfang dieser Beschränkung [der Möglichkeit der Gerichte des Anerkennungsstaates, seine eigene Zuständigkeit zu prüfen] auf Unionsebene festgelegt ist und nicht von den unterschiedlichen nationalen Vorschriften über die Rechtskraft abhängt“.219
Insofern ist es zutreffend, dass für den Bereich der Anerkennung von Zuständigkeitsentscheidungen aufgrund von Gerichtsstandsvereinbarungen das Prinzip der Wirkungserstreckung aufgegeben wurde. Es wurde gewissermaßen durch das Prinzip der Gleichstellung ersetzt – nur eben mit dem Unterschied, dass die Wirkungen des anzuerkennenden Urteils nicht denjenigen des Anerkennungsstaates, sondern den Wirkungen eines autonomen, vom EuGH vorgegebenen Rechtskraftbegriffes gleichgesetzt wird.220 Und dieser autonome, vom EuGH vorgegebene Rechtskraftbegriff sieht nun vor, dass die Gründe, die den Tenor tragen, ebenfalls in Rechtskraft erwachsen. Diese Neuerung hat zur Folge, dass Urteile, da es auf den Umfang der Rechtskraft im Urteilsstaat nicht mehr ankommt, durch die Anerkennung und die Zugrundelegung des autonomen Rechtskraftbegriffes im anerkennenden Mitgliedstaat eine weitere Bindungswirkung erlangen können als innerhalb des nationalen Rechts des Urteilsstaates.221 Diese Konstellation wird pervertiert, wenn auch das Recht des Anerkennungsstaates enge Grenzen für die Rechtskraft vorsieht. Dann führt die Anerkennung des Urteils dazu, dass dem Urteil Wirkungen zukommen, die weder im Urteilsstaat noch im Anerkennungsstaat vorgesehen sind.222 Während nach der Wirkungserstreckung also das Urteil quasi unverändert importiert wurde, bringt die grenzüberschreitende Anerkennung nun in gleichgelagerten Fällen eine Modifikation der Urteilswirkungen mit sich. Die spannende Frage ist jedoch, ob und inwieweit sich die durch die Rechtsprechung des EuGH in Gothaer eingetretenen Änderungen auf weitere Bereiche übertragen lassen. Dass die Rechtsprechung infolge der Allgemeingültigkeit der Argumentation des EuGH auf sämtliche Zuständigkeitsentscheidungen 218 So auch die überwiegende Ansicht innerhalb der Literatur vgl. oben zweiter Teil, B. III. 1. b) dd); anders hingegen Idot, Europe n° 1 2013, comm. 57; Thode, jurisPR-PrivBauR 3/2013, Anm. 1; anders auch Wieczorek/Schütze/Loyal, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 6: „Es ist […] offensichtlich, dass der EuGH diese zahlreichen Folgefragen, die in dogmatischer Konsequenz von seiner Entscheidung aufgeworfen werden, nicht übersehen und bedacht hat. Man darf einer gerichtlichen Entscheidung aber nur solche normativen Aussagen entnehmen, die dem Gericht bewusst waren.“ 219 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 220 Ähnlich Roth, IPRax 2014, 136, 138. 221 Hierauf weisen auch Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 243 hin. 222 So auch Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 243; Bach, EuZW 2013, 56, 59.
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übertragen werden könnte, wird vom überwiegenden Teil der Literatur bejaht.223 Insbesondere das Anheben des Gerichtshofes auf die Verzahnung von Zuständigkeits- und Anerkennungsvorschriften224 spricht hierfür.225 Es ist überdies nicht ersichtlich, warum sich Argumente, wie die „einheitliche […] Anwendung des Unionsrechts“226 oder „der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten“227 auf den vorliegenden Sonderfall beschränken sollten und nicht eine Ausweitung dieser Rechtsprechung auf das gesamte Zuständigkeitsrecht rechtfertigen.228 Gerade letzteres wirft auch die Frage auf, ob die Rechtsprechung sogar auf Sachentscheidungen übertragen werden kann. Bejahte man diese Frage mit derselben Argumentation229, ließe sich in der Entscheidung ein Grundstein für die Etablierung eines autonomen Rechtskraftkonzepts des EuGH im Geltungsbereich der EuGVVO sehen.230 Unabhängig davon, wie man letztere Frage beantworten möchte, bedarf der vom EuGH – mit überraschender231 Selbstverständlichkeit – für die Auslegung der EuGVVO herangezogene „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ einer eingehenderen Analyse.
2. Der vom EuGH entlehnte „Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“ Wenn der EuGH in seiner Entscheidung zu Gothaer anführt, „im Unionsrecht umfasst der Begriff der Rechtskraft jedoch nicht nur den Tenor der fraglichen gerichtlichen Entscheidung, sondern auch deren Gründe, die den Tenor tragen und von ihm daher nicht zu trennen sind“232, entsteht der Eindruck, es bestünde 223 Vgl. Bach, EuZW 2013, 56, 58; Hau, LMK 2013, 341521; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 245; Nioche, RCDIP 2013, 686, 699 f.; Klöpfer, GPR 2015, 210, 214; Wieczorek/ Schütze/Loyal, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 7; kritisch hierzu etwa Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 218 ff. 224 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 39 ff. 225 So auch Klöpfer, GPR 2015, 210, 214, 216. 226 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 39. 227 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Nr. 72. 228 Ebenso Bach, EuZW 2013, 56, 58; Hau, LMK 2013, 341521; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 245; Klöpfer, GPR 2015, 210, 214. 229 So Bach, EuZW 2013, 56, 58; in diese Richtung offenbar auch Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 126; a. A. Klöpfer, GPR 2015, 210, 216. 230 So Nioche, RCDIP 2013, 686, 693: „[…] les premières pierres d’un régime autonome de l’autorité de la chose jugée.“; a. A. Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 223. 231 Vgl. auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 268: „The Court then came up, somewhat out of the blue, with precedents from other areas of Union law and postulated that the concept of res judicata developed in that context was also relevant for determing the effects produced by a judgment of the type at issue here.“; Bach, EuZW 2013, 56, 57: „[…] um dann völlig ansatzlos eine neue Lösung aus dem Hut zu zaubern“; Roth, IPRax 2014, 136, 138: „Den […] unionsrechtlichen Rechtskraftbegriff entlehnt der EuGH kurzerhand demjenigen, der für seine in ganz anderen Zusammenhängen ergangenen eigenen Urteilen gilt.“ 232 EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40.
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bereits ein tragfähiges Konzept der Rechtskraft; als bestünde ein unionsautonomes Verständnis der Rechtskraft und dieses sei lediglich in den Bereich der Anerkennung von Zuständigkeitsentscheidungen aufgrund von Gerichtsstandsvereinbarungen zu implementieren. Dass dieser Eindruck unzutreffend ist, wird im Folgenden gezeigt werden.233
a) Unterscheidung zwischen der Bindungswirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte und Rechtskraft von Entscheidungen nationaler Gerichte im Rahmen der Anerkennung nach Gemeinschaftsrecht Zu unterscheiden sind in diesem Zusammenhang zweierlei Konstellationen: Zum einen wird der Begriff relevant, wenn es um die Reichweite der Bindungswirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte geht. Zum anderen im Rahmen der – hier interessierenden – Reichweite der Rechtskraft nationaler Urteile nach Anerkennung durch einen Mitgliedstaat.
aa) Rechtskraft von Entscheidungen nationaler Gerichte im Rahmen der Anerkennung nach der EuGVVO Der EuGH rekurriert in Gothaer schlicht auf den „Begriff der Rechtskraft des Unionsrechts“.234 Dazu hält er dann fest, dass dieser bekanntlich „nicht nur den Tenor der fraglichen gerichtlichen Entscheidung, sondern auch deren Gründe, die den Tenor tragen und von ihm daher nicht zu trennen sind“, umfasst.235 Er verweist an dieser Stelle auf eine Entscheidung aus dem Jahr 2006.236 Hier ging es (jedoch) um die Frage, ob die in den Gründen eines Urteils des EuGH enthaltene Feststellung, die Kommission habe rechtsfehlerhaft den Tatbestand der staatlichen Beihilfe verneint, innerhalb eines darauffolgenden Prozesses zugrunde gelegt werden müsse oder ob diese von der Klägerin noch einmal vorgebracht werden könne. Der EuGH entschied, dass das nachfolgende Gericht gehindert sei, diese Frage erneut zu prüfen237 und sprach den Entscheidungsgründen damit letztlich eine Bindungswirkung zu. Er argumentierte auch hier, dass die Rechtskraft nicht auf den Tenor beschränkt sei: „Sie umfasst auch die Gründe, die den Tenor tragen und daher von diesem nicht zu trennen sind.“238 Dort verweist der EuGH dann allerdings auf seine Rechtsprechung239 zur Bin233
Kritisch hierzu auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. 236 EuGH, Rs. C-442/03 P und C-471/03 P („Vizcaya/Kommission“), Slg. 2006 I-4845. 237 EuGH, Rs. C-442/03 P und C-471/03 P („Vizcaya/Kommission“), Slg. 2006 I-4845, Rn. 50. 238 EuGH, Rs. C-442/03 P und C-471/03 P („Vizcaya/Kommission“), Slg. 2006 I-4845, Rn. 44. 239 EuGH, Rs. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, („Asteris“) Slg. 1988, 2128. 234 235
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dungswirkung nach Art. 266 Abs. 1 AEUV.240 Im Ergebnis bedient sich der EuGH für seine Ausführungen zum europäischen Rechtskraftbegriff in Gothaer also an seiner Rechtsprechung zu der Frage, welche Bindungswirkung Urteilen im Sinne des Art. 266 Abs. 1 AEUV241 für das unterlegene Organ zukommt.242 Dieser Rekurs überzeugt nicht, denn es handelt sich bei der Frage nach der Reichweite der Bindungswirkung von Urteilen nach Art. 266 Abs. 1 AEUV und der Frage nach der Reichweite der Rechtskraft nationaler Urteile, die in einem anderen Mitgliedstaat nach den Regeln der EuGVVO anerkannt werden, um zwei völlig verschiedene Bereiche, deren Rahmenbedingungen und Zielsetzungen ganz eigenständig und kaum vergleichbar sind.243
bb) Die Bindungswirkung nach Art. 266 AEUV – kein geeignetes Modell für die Definition der Reichweite einer einheitlichen Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung nach der EuGVVO Im Rahmen der sogenannten Nichtigkeitsklage können die Organe der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit von Handlungen anderer Unionsorgane vor dem EuGH überprüfen lassen.244 Art. 263 AEUV245 bestimmt: „Der Gerichtshof der Europäischen Union überwacht die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte sowie der Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank […] Zu diesem Zweck ist der Gerichtshof für Klagen zuständig, die ein Mitgliedstaat, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs erhebt.“
Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn die in Rede stehende Handlung des Organs rechtswidrig war.246 Ist die Klage begründet, so erklärt der Gerichtshof der Europäischen Union die angefochtene Handlung für nichtig.247 Das Urteil wirkt ex tunc und erga omnes.248 Aufgrund der horizontalen Verteilung der Funktionen zwischen den Unionsgerichten und -organen sind die Gerichte je240 EuGH, Rs. C-442/03 P und C-471/03 P („Vizcaya/Kommission“), Slg. 2006 I-4845, Rn. 44. 241 Früher Art. 233 EGV. 242 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 428 m. w. Nachw.; vgl. auch Roth, IPRax 2014, 136, 138; Koops, IPRax 2018, 11, 13. 243 Die Verschiedenheit der Komplexe betont auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. 244 Vgl. hierzu Bieber/Epiney/Haag/Kotzur/Epiney, Europäische Union, § 9, Rn. 36 ff. 245 Früher, Art. 230 EGV. 246 Bieber/Epiney/Haag/Kotzur/Epiney, Europäische Union, § 9, Rn. 52. 247 Vgl. Art. 264 AEUV, früher Art. 231 EGV. 248 Bieber/Epiney/Haag/Kotzur/Epiney, Europäische Union, § 9, Rn. 53.
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doch nicht in der Lage, dem beklagten Organ Anweisungen zu erteilen.249 Deshalb sieht Art. 266 Abs. 1 AEUV vor: „Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt oder deren Untätigkeit als vertragswidrig erklärt worden ist, haben die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“.250
In der Literatur wurde diese Vorschrift im Hinblick auf ihre Formulierung kritisiert, weil sich die Maßnahmen – aufgrund der fehlenden Anweisungskompetenz des Gerichtes – ja gerade nicht dem Urteil entnehmen ließen.251 Vielmehr stellt das Urteil nur die Voraussetzung innerhalb der selbständigen „abstrakt-generellen“ Beachtungspflicht aus Art. 266 Abs. 1 AEUV dar.252 An dieser Stelle kann also schon festgehalten werden, dass es sich bei der Beachtungspflicht aus Art. 266 Abs. 1 AEUV nicht um einen Aspekt der Rechtskraft handelt.253 Auch der EuGH selbst verwendet offenbar selten den Begriff „Rechtskraft“ im Zusammenhang mit Art. 266 AEUV.254 Das Gemeinschaftsprozessrecht beinhaltet keine expliziten Regelungen zur Rechtskraft. Der Umstand, dass alle Mitgliedstaaten die Rechtskraft als fundamentalen Bestandteil des Prozessrechts begreifen, macht die Rechtskraft jedoch zu einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts mit Primärrechtscharakter.255 Er kann begriffen werden als „besondere primärrechtliche Anordnung der Endgültigkeit von Streitentscheidungen der Gemeinschaftsgerichte […], welche in negativer wie in positiver Weise nachfolgende Gerichte bindet“.256 Unabhängig davon existiert zumindest im Hinblick auf die Reichweite dieser Bindungswirkung ein mehr oder weniger gefestigtes Konzept.257 Der EuGH urteilte im Jahr 1988: „[…] das Organ kommt dem Urteil nur dann nach und führt es nur dann voll durch, wenn es nicht nur den Tenor des Urteils beachtet, sondern auch die Gründe, die zu diesem ge249
Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 67. EL, Art. 266 AEUV, Rn. 1. Vgl. Art. 266 Abs. 1 AEUV. So Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 67. EL, Art. 266 AEUV, Rn. 2 mit Verweis auf andere Sprachfassungen: „to take the necessary measures to comply with the judgment“, „de prendre les mesures que comporte l’exécution de l’arrêt“. 252 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 67. EL, Art. 266 AEUV, Rn. 1, 4; Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 435. 253 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 435, welcher selbigen aber als mit „der Rechtskraft eng verwandten Bereich“ bezeichnet, S. 426. 254 So m. zahlr. Nachw. Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 435. 255 So Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 462; ebenso Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 233. 256 So Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 463. 257 Siehe hierzu grundlegend Germelmann, Rechtskraft in der EU. Ders. bezeichnet das Rechtskraftkonzept des Gemeinschaftsprozessrechts darüber hinaus als „dogmatisch außerordentlich wenig durchdrungen“, Rechtskraft in der EU, S. 462. 250 251
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führt haben und die ihn in diesem Sinne tragen, daß sie zur Bestimmung der genauen Bedeutung des Tenors unerläßlich sind“.258
Diese Formulierung erinnert inhaltlich stark an die französische Lehre von den motifs décisifs259, was in der französischen Fassung des Urteils noch deutlicher zum Ausdruck kommt, die von „les motifs […] qui constituent le soutien nécessaire […]“ spricht.260 Demnach erstreckt sich die Bindungswirkung nicht allein auf den Tenor, sondern ebenfalls auf bestimmte Urteilsgründe. Nichtsdestotrotz geht die Bindungswirkung damit sowohl über das deutsche als auch das neuere französische Verständnis hinaus.261 Dogmatisch ergibt sich die Verpflichtung, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, allein aus Art. 266 Abs. 1 AEUV.262 Insofern ist schon fraglich, inwieweit dieses Urteil als geeigneter Ausgangspunkt eines Rechtskraftkonzeptes gesehen werden kann.263 Zudem spielen im Rahmen der Befolgung von Beseitigungspflichten nach einer begründeten Nichtigkeitsklage zahlreiche andere Motive eine Rolle, die eine schlichte Übertragung auf die Rechtskraft im Bereich der Anerkennung in Frage stellen: Der Tenor des Nichtigkeitsurteils allein wäre auf die Aussage beschränkt, dass das in Rede stehende Verhalten rechtswidrig ist. Es liegt auf der Hand, dass aus diesem Tenor allein nicht zu erkennen ist, welche Maßnahmen konkret geeignet sind, der Rechtswidrigkeit entgegenzuwirken.264 Hierfür ist erforderlich, zu wissen, warum das Verhalten als rechtswidrig eingestuft wurde. Und genau dieses „warum“ findet sich allein in der Urteilsbegründung. Denn nur die „Gründe benennen zum einen exakt die Bestimmung, die als rechtswidrig angesehen wird, und lassen zum anderen die spezifischen Gründe der im Tenor festgestellten Rechtswidrigkeit erkennen, die das betroffene Organ bei der Ersetzung des für nichtig erklärten Aktes zu beachten hat“.265
Um also gründliche und genaue Vorgaben zu erhalten, an denen die Organe ihr Verhalten sowie ihre Maßnahmen ausrichten können, müssen die Gründe des Urteils beachtet werden.266 Insofern zeigt sich, dass die Entscheidung, dass im Rahmen der Pflicht aus Art. 266 Abs. 1 AEUV auch die Gründe beachtet werden müssen, vor allem eine notwendige Entscheidung zur Gewährleistung effektiven Rechtschutzes war. 258
EuGH, Rs. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, („Asteris“) Slg. 1988, 2128, Rn. 27. Vgl. hierzu unten dritter Teil, B. III. 2. EuGH, Rs. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, („Asteris“) Slg. 1988, 2128, Rn. 27. 261 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 464; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 233. 262 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 67. EL, Art. 266 AEUV, Rn. 1. 263 Zweifelnd auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. 264 Ebenso Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269; ähnlich auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Dörr, 67. EL, Art. 266 AEUV, Rn. 4. 265 So EuGH, Rs. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, („Asteris“) Slg. 1988, 2128, Rn. 27. 266 Ebenso Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. 259 260
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Es ist demgegenüber nicht ersichtlich, dass sie gleichzeitig eine bewusste Entscheidung für eine weite Konzeption der Rechtskraft im Rahmen der Urteilsanerkennung darstellt.267 Nichtsdestotrotz bedient sich der EuGH in Gothaer genau dieser Aussagen.268
b) Ergebnis Dass der EuGH in Gothaer zur Begründung einer Rechtskraft von Entscheidungsgründen im Rahmen von Zuständigkeitsentscheidungen auf seine Rechtsprechung zur Beachtungspflicht aus Art. 266 Abs. 1 AEUV zurückgreift, überzeugt nicht.269 Die Bindungswirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte ist nicht dergestalt mit der Rechtskraft von anzuerkennenden Entscheidungen nach der EuGVVO vergleichbar, dass sich hier gefundene Ergebnisse dort problemlos übertragen ließen. Insofern beinhaltet dasjenige, was der EuGH in Gothaer als „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ bezeichnet, auch kein tragfähiges Konzept einer unionsautonomen Rechtskraft mit erkennbaren Konturen. Möglicherweise kann jedoch die Analyse der Rechtsprechung des EuGH zu anderen, mit der Rechtskraft in Verbindung stehenden Rechtsinstituten helfen, diese Konturen zu schärfen.
3. Rückschlüsse aus dem Streitgegenstandsbegriff? Auf den ersten Blick scheinen Streitgegenstand und Rechtskraft eng verbunden. Im deutschen Recht stellt das Nichtvorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über den anhängig gemachten Streitgegenstand eine negative Prozessvoraussetzung dar.270 Mit anderen Worten: Wurde über den Streitgegenstand bereits rechtskräftig entschieden, ist jede weitere Klage mit demselben Streitgegenstand als unzulässig abzuweisen. Für das französische Recht regeln Art. 1355 CC und Art. 122 CPC entsprechendes.271 Zur Beantwortung der Frage, ob zwischen der entschiedenen und der anhängig gemachten Sache Streitgegenstandsidentität besteht, muss allerdings zunächst geklärt werden, aus welchen Teilen sich der Streitgegenstand zusammensetzt, mithin wie der Begriff Streitgegenstand zu definieren ist. Dabei können die folgenden Ausführungen auf einen groben Überblick272 beschränkt bleiben, weil im Anschluss gezeigt werden 267
Kritisch auch Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. EuGH, Rs. C-456/11 („Gothaer Allgemeine“), 2012, Rn. 40. Kritisch ebenfalls Duintjer Tebbens, FS Vrellis (2014), 263, 269. 270 Vgl. oben erster Teil, B. III. 7. a) aa). 271 Vgl. oben erster Teil, B. III. 7. b) aa). 272 Vgl. für umfassendere Darstellungen zum deutschen Recht etwa Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 40 ff.; Habscheid, Streitgegenstand, S. 18 ff.; Schwab, Streitgegenstand, S. 4 ff.; Nikisch, Streitgegenstand, S. 40 ff.; Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 175 ff.; zum französischen Recht 268 269
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wird, dass Streitgegenstandsbegriff und Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft nicht korrelieren.273
a) Streitgegenstandsbegriff im deutschen Recht Um die zutreffende Definition des Streitgegenstandes ist innerhalb des deutschen Zivilprozessrechtes lange Zeit intensiv gestritten worden.274 Im Wesentlichen ging es um die Frage, ob sich der Streitgegenstand alleine aus dem Klageantrag (so die Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff )275 ergebe oder ob zur Bestimmung des Streitgegenstandes zusätzlich zum Klageantrag auch auf den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt (so die Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff )276 abzustellen sei. Diesen beiden (prozessualen) Theorien ging der Ansatz voraus, nicht zwischen materiellem und prozessualem Anspruchsbegriff zu unterscheiden und Streitgenstand und materiellrechtlichen Anspruch als Einheit aufzufassen.277 Dieses Verständnis verfolgte im Grundsatz auch der historische Gesetzgeber.278
aa) Verständnis des historischen Gesetzgebers Der historische Gesetzgeber verstand unter dem „Gegenstand des Rechtsstreits“ den geltend gemachten materiellrechtlichen Anspruch im Sinne des § 194 Abs. 1 BGB.279 Er verwendete die Begriffe materiellrechtlicher Anspruch und prozessualer Anspruch also schlicht synonym.280 Eine tiefergehende Diskussion über die genaue Definition des Streitgegenstandes war infolge bestehender Arbeiten zum Anspruchsbegriff aus Sicht des Gesetzgebers daher entbehrlich.281 vgl. etwa die ausführliche Darstellung zum effet négatif de chose jugé bei Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 567 ff.; ebenfalls ausführlich hierzu Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1162 ff. 273 Unten zweiter Teil, B. III. 3. f ). 274 Vgl. nur die Nachw. in Fn. 272. 275 Insb. vertreten von Schwab, Streitgegenstand, S. 87 ff., 123 ff.; darstellend Habscheid, Streitgegenstand, S. 60 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 60 ff. 276 Heute h. M., so etwa Habscheid, Streitgegenstand, S. 199; Nikisch, Streitgegenstand, S. 40 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 27; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., Einl. II, Rn. 11, 24 f.; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., Einf., Rn. 101 ff., insb. Rn. 109; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 69. 277 So etwa Kleinfeller, AcP 1933, 129, passim, insb. 147. 278 Vgl. die Darstellungen etwa bei Habscheid, Streitgegenstand, S. 18 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 35 ff. 279 Darstellend Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 284; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 8; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 7. 280 Deutlich auch Kleinfeller, AcP 1933, 129, 147: „Ist es schon logisch nicht denkbar, daß der Begriff ‚Anspruch‘ als Gegenstand des Prozesses etwas anderes sein könne als der materiellrechtliche Anspruch außerhalb des Prozesses […].“ 281 Insb. die Arbeit Windscheids, Die actio des römischen Civilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts (1856), konkretisierte den Anspruchsbegriff; vgl. Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 284; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 7.
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Der einheitliche Gebrauch der beiden Begriffe erwies sich im Folgenden jedoch als nicht durchführbar.282 Zum einen passt dieses Verständnis nicht für Feststellungs- und Gestaltungsklagen, da hier kein materiellrechtlicher Anspruch geltend gemacht wird.283 Zum anderen bereitet ein derartiges Verständnis des Streitgegenstandes Probleme in Fällen der materiellen Anspruchskonkurrenz: Sind mehrere konkurrierende materielle Ansprüche gegeben, müssten konsequenterweise auch mehrere Streitgegenstände vorliegen. Dies könnte zu mehreren Entscheidungen über denselben Sachverhalt führen und brächte infolgedessen schwerwiegende Konflikte – nicht zuletzt im Hinblick auf die Wirkung der Rechtskraft – mit sich.284
bb) Materiellrechtliche Streitgegenstandstheorien Trotz der dargestellten Schwierigkeiten wurde versucht, an der Identität der Begriffe des materiellen Anspruchs und des Streitgegenstands festzuhalten und infolgedessen materiellrechtliche Streitgegenstandstheorien285 entwickelt, die eben beschriebene Konflikte im Rahmen der Anspruchskonkurrenz lösen, indem sie nicht von mehreren materiellrechtlichen Ansprüchen, sondern einem Anspruch mit mehreren Begründungen – und damit im Ergebnis von nur einem Streitgegenstand – ausgehen.286 Diese Betrachtungsweise vermag jedoch deshalb nicht zu überzeugen, weil das materielle Recht die jeweiligen Ansprüche mit unterschiedlichen „Eigenschaften“287 ausgestattet hat und dies der Annahme eines einheitlichen Anspruchs entgegensteht.288 Infolgedessen wurden andere Theorien für einen eigenen, prozessrechtlichen Anspruchs- und damit Streitgegenstandsbegriff entwickelt.
cc) Prozessrechtliche Streitgegenstandstheorien Die prozessrechtlichen Streitgegenstandstheorien gehen von einem eigenständigen prozessrechtlichen Anspruchsbegriff aus. Materieller und prozessualer Anspruch sind hiernach nicht synonym, sodass trotz konkurrierender materieller Ansprüche grundsätzlich nur ein prozessualer Anspruch – und damit Streitgegenstand – vorliegen kann.289 Umstritten ist innerhalb der prozessrecht282
Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 284. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 8; Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 284. 284 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 9. 285 Überblick über die verschiedenen Ausprägungen bei Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 30 ff. 286 Darstellend Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 284. 287 Besonders deutlich wird dies zum Beispiel im Rahmen der Verjährungsfristen. 288 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 36; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 17. 289 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 117. 283
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lichen Streitgegenstandstheorien, ob für die Bestimmung des Streitgegenstands allein der Antrag des Klägers (so die Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff )290 oder zusätzlich zum Antrag noch der zur Begründung des Anspruchs vorgetragene Tatsachenkomplex (so die Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff )291 relevant sein soll.292 Auch eine variable Anwendung beider Theorien wird diskutiert.293
(1) Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff Nach der Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff ist allein der Antrag des Klägers maßgeblich.294 Der zugrundeliegende Lebenssachverhalt wird lediglich als Auslegungshilfe herangezogen, wenn sich der Streitgegenstand nicht eindeutig aus dem Antrag ergibt.295 Demnach führt ein Antrag zu einem Streitgegenstand und mehrere Anträge führen zu mehreren Streitgegenständen.296 Diese Ansicht ist insbesondere hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Rechtskraftumfang kritisiert worden, weil die materielle Rechtskraft – zumindest bei konsequenter Durchführung des eingliedrigen Verständnisses vom Streitgegenstand – unabhängig von einem möglicherweise anders lautenden Sachverhalt jede weitere Klage mit identischem Antrag sperren würde.297
(2) Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff Der von der herrschenden Meinung298 und Rechtsprechung299 bevorzugten Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff zufolge setzt sich der Streitgegenstand aus dem vor Gericht gestellten Antrag (Klageantrag) und 290
Etwa vertreten von Schwab, Streitgegenstand, S. 87 ff., 123 ff. So die heute herrschende Meinung, vgl. Nachw. bei Fn. 298. Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 287. 293 Befürwortend Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 41 ff. 294 Für den Eheprozess vertreten von Bötticher, FG Rosenberg (1949), 73, 84 ff.; genereller vertreten von Schwab, Streitgegenstand, S. 87 ff., 123 ff.; darstellend Habscheid, Streitgegenstand, S. 60 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 60 ff. 295 Darstellend Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 70; Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 26 ff. 296 Darstellend Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 26. 297 Ausführlich mit konkreten Beispielen Nikisch, AcP 1955, 271, 279 ff.; kritisch ebenfalls Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 29. 298 Habscheid, Streitgegenstand, S. 199; Nikisch, Streitgegenstand, S. 40 ff.; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., Vorbemerkung zu § 253, Rn. 32 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 27; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., Einl. II, Rn. 11, 24 f.; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., Einf., Rn. 109; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 73 ff. 299 Vom BGH selbst als „ständige Rechtsprechung“ bezeichnet in BGHZ 204, 134, 138, Rn. 14 = NJW 2015, 1296, 1296, Rn. 14; darüber hinaus vertreten in BGHZ 154, 342, 347 f. = GRUR 2003, 716, 716 f.; BGHZ 198, 294, 298, Rn. 15 = NJW 2014, 314, 315, Rn. 15; BGH GRUR 2012, 180, 181, Rn. 19; BGH NJW 2008, 1953, 1954, Rn. 15 jew. m. w. Nachw. 291 292
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dem diesem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) zusammen. Der Klagegrund erfasst dabei alle Tatsachen, „die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören“.300 Unerheblich ist dabei, ob die Tatsachen von den Parteien tatsächlich vorgetragen wurden oder nicht.301 Das Gericht entscheidet „unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen“.302 Tatsachen, die „bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtung zu dem durch ihren Sachvortrag zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehört hätten“303, sind präkludiert und dürfen von den Parteien in einem nachfolgenden Prozess mit identischem Streitgegenstand nicht geltend gemacht werden.304 Unerheblich ist auch die rechtliche Einordnung des Sachverhaltes durch die Parteien, da „alle materiell-rechtlichen Ansprüche, die sich im Rahmen des gestellten Antrags aus dem Gericht zur Entscheidung vorgetragenen Lebenssachverhalt herleiten lassen“, vom Streitgegenstand erfasst werden.305 Die Parteien sind – anders als im französischen Recht306 – nicht in der Lage, den Streitgegenstand – und damit die Prüfungsbefugnis des Gerichts – auf einzelne Anspruchsgrundlagen zu beschränken.307 Vielmehr sind deutsche Gerichte nicht nur dazu berechtigt308, sondern auch verpflichtet, alle309 – das heißt auch die von den Parteien nicht vorgetragenen – Anspruchsgrundlagen zu prüfen, die sich aus dem Lebenssachverhalt (Klagegrund) ergeben und das verfolgte Klageziel verwirklichen können („da mihi factum, tibi dabo jus“).310 Klageantrag und Klagegrund sind hiernach gleichwertige Bestandteile des Streitgegen300
BGH NJW 1992, 1172, 1173; BGH NJW 1996, 3151, 3152; BGH NJW 2013, 540,
301
BGH NJW 1993, 3204, 3204; BGH NJW 1995, 1757, 1757 f.; BGH NJW 2013, 540,
541.
541.
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Vgl. § 286 Abs. 1 ZPO. BGH NJW 1995, 967, 968 m. zahlr. w. Nachw.; BGH NJW 1993, 2684, 2685. 304 Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO, 11. Aufl., § 322, Rn. 44; zu den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft bereits oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (3). 305 BGH NJW 1983, 2813, 2813; BGH NJW 1996, 117, 118; BGH NJW 2013, 540, 541. 306 Vgl. hierzu sogl. unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 307 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 77, Rn. 10; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 308, Rn. 4; Schneider, MDR 1975, 801, 803; Schneider, Zivilrechtsfall, § 45, Rn. 810. 308 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 77, Rn. 10; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 308, Rn. 4; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 308, Rn. 10. 309 In voll zusprechenden Urteilen genügt gleichwohl die Wiedergabe einer das Klagebegehren stützenden Anspruchsgrundlage und Ausführungen zu weiteren Anspruchsgrundlagen sind nicht erforderlich, vgl. Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 313, Rn. 30; BeckOK ZPO/ Elzer, 37. Ed., § 313, Rn. 117; Zöller/Feskorn, ZPO, 33. Aufl., § 313, Rn. 19 f. 310 V. Ungern-Sternberg, GRUR 2009, 901, 905; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Einl., Rn. 83. 303
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standes311 und mehrere Anträge führen nicht zwangsläufig zu mehreren Streitgegenständen.312
(3) Relative Streitgegenstandstheorien Relative Streitgegenstandstheorien schlagen im Wesentlichen vor, den Streitgegenstand nicht einheitlich, sondern variabel zu bestimmen.313 Dabei soll der Inhalt des Streitgegenstandsbegriffes entweder von der jeweiligen prozessualen Situation oder der jeweiligen Klageart abhängig sein und dementsprechend mal eingliedrig, mal zweigliedrig verstanden werden.314 Der eingliedrige Streitgegenstandsbegriff ist weiter als der zweigliedrige, da hier nur der Antrag entscheidend ist und keine weiteren Eingrenzungen durch Heranziehung des Lebenssachverhaltes gemacht werden.315 Hiervon ausgehend soll durch teleologische Auslegung ermittelt werden, welcher Streitgegenstandsbegriff für das jeweilige prozessrechtliche Institut geeigneter sei: Im Rahmen der Rechtshängigkeit, der objektiven Klagehäufung und der Klageänderung soll der eingliedrige – und damit der weitere – Streitgegenstandsbegriff gelten.316 Für die Rechtskraftwirkung soll dann der zweigliedrige – und damit der engere – Streitgegenstandsbegriff maßgeblich sein.317 Einer weiteren Ansicht nach soll die Verwendung des ein- oder zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffes nicht vom jeweiligen Prozessrechtsinstitut, sondern von der jeweiligen Klageart oder der Geltung von Verhandlungs- oder Untersuchungsmaxime abhängig sein.318 Hieran ist jedoch kritisiert worden, dass diese Sichtweise die gemeinsame Zielrichtung von Rechtshängigkeit und Rechtskraft überbetone und gleichzeitig den Zusammenhang von Rechtshän311
Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 69. war dies lange Zeit innerhalb des französischen Rechts, vgl. hierzu sogl. unten zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 313 So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 41 ff.; Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 11. Aufl., Einl., Rn. 19; dahingehend auch Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 747 ff., der den Verfahrensgegenstand als „Behauptung eines Interesses, wie es im Rechtsschutzbegehren an das Gericht zum Ausdruck kommt, ohne auf dessen Grenzen festgelegt zu sein“, versteht (S. 391). Nach diesem Verständnis individualisieren Klageantrag und Lebenssachverhalt den Streitgegenstand nur und begrenzen ihn nicht (so Magnus, RabelsZ 2014, 449, 452); Althammer, ZZP 2010, 163, 173 f. 314 Darstellend Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 293 ff.; darstellend Prütting/Gehrlein/ Prütting, ZPO, 11. Aufl., Einl., Rn. 18, Befürwortung in Rn. 19. 315 Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 294; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 70. 316 So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 59 f.; darstellend Musielak/ Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 294; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 70. 317 So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 61; darstellend Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 294; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 70. 318 So Baumgärtel, JuS 1974, 69, 73 ff.; darstellend Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 11. Aufl., Einl., Rn. 18; Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., Rn. 296. 312 Anders
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gigkeit, Klageänderung und Anspruchshäufung nicht ausreichend berücksichtige.319
b) Zusammenfassung Nach alledem lässt sich die heute im deutschen Recht herrschende Ansicht zum Streitgegenstand wie folgt zusammenfassen: Anspruch im Sinne des § 322 Abs. 1 ZPO wird prozessual verstanden und meint Streitgegenstand. Der Streitgegenstandsbegriff wird zweigliedrig definiert und besteht aus Antrag und Lebenssachverhalt.320 Diese Auslegung hat zur Folge, dass auch bei mehreren Anträgen nur ein Streitgegenstand vorliegen kann und mithin die Entscheidung über den Streitgegenstand eine Entscheidung über alle (materiellen) Ansprüche innerhalb dieses Streitgegenstandes enthält: Wird beispielsweise ein Kunde bei einer Taxifahrt durch einen Verkehrsunfall verletzt, so können sich Schadensersatzansprüche sowohl aus Vertrag als auch aus dem Deliktsrecht ergeben. Hier bildet das Unfallgeschehen zusammen mit den vorgetragenen Tatsachen einen einheitlichen Streitgegenstand und die Entscheidung über selbigen erfasst sowohl die Ansprüche aus Vertrag als auch aus dem Deliktsrecht.321 Bei einem voll zusprechenden Urteil wird sich das Gericht in seiner Urteilsbegründung darauf beschränken, eine Anspruchsgrundlage zu nennen und (nur) das Vorliegen deren Voraussetzungen erörtern.322 Wenn das Gericht im Beispielfall also den Schadensersatzanspruch des Klägers auf den Beförderungsvertrag stützt, werden sich im Urteil keine weiteren Ausführungen zu – möglicherweise ebenfalls bestehenden – weiteren Anspruchsgrundlagen finden. Bevor das Gericht die Klage jedoch als unbegründet abweisen kann, muss es jede nach Klagebegehren und -grund in Frage kommende Anspruchsgrundlage geprüft (und verneint) haben. Hier werden im Urteil dann auch alle geprüften Anspruchsgrundlagen und jeweils ein verneintes Tatbestandsmerkmal genannt werden.323
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So Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 43. Habscheid, Streitgegenstand, S. 199; Nikisch, Streitgegenstand, S. 40 ff.; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., Vorbemerkung zu § 253, Rn. 32 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 27.; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., Einl. II, Rn. 11, 24 f.; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., Einf., Rn. 109; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 69; BGHZ 204, 134, 138, Rn. 14 = NJW 2015, 1296, 1296, Rn. 14; BGHZ 154, 342, 347 f. = GRUR 2003, 716, 716 f.; BGHZ 198, 294, 298, Rn. 15 = NJW 2014, 314, 315, Rn. 15; BGH GRUR 2012, 180, 181, Rn. 19; BGH NJW 2008, 1953, 1954, Rn. 15 jew. m. w. Nachw. 321 Bsp. nach Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 76; BGH NJW 2013, 540 (einheitlicher Streitgegenstand für vertragliche und deliktische Ansprüche eines Anlegers gegen Finanzdienstleister). 322 Dies folgt aus § 313 Abs. 3 ZPO. Vgl. Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 313, Rn. 30; BeckOK ZPO/Elzer, 37. Ed., § 313, Rn. 117; Zöller/Feskorn, ZPO, 33. Aufl., § 313, Rn. 19 f. 323 BeckOK ZPO/Elzer, 37. Ed., § 313, Rn. 121. 320
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c) Streitgegenstand im französischen Recht Die Voraussetzungen, unter denen einer neuen Klage die Rechtskraft einer bereits entschiedenen Sache entgegensteht, ergeben sich im französischen Recht unmittelbar aus dem Gesetz. Art. 1355 CC verlangt für die Beachtlichkeit bestehender materieller Rechtskraft innerhalb eines neuen Streits das Vorliegen dreier kumulativer Voraussetzungen (règle de la triple identité): „L’autorité de la chose jugée n’a lieu qu’à l’égard de ce qui a fait l’objet du jugement. Il faut que la chose demandée soit la même; que la demande soit fondée sur la même cause; que la demande soit entre les mêmes parties, et formée par elles et contre elles en la même qualité“.
Handelt es sich demnach bei der neuen Streitsache um einen Streit zwischen denselben Parteien (les mêmes parties) mit demselben Klagebegehren (objet beziehungsweise chose demandée)324 und demselben Klagegrund (cause), ist die Identität zwischen der neuen Streitsache und der bereits rechtskräftig entschiedenen Streitsache festgestellt und die materielle Rechtskraft der entschiedenen Sache steht einer neuen Untersuchung entgegen. Damit setzt sich auch der Streitgegenstand im französischen Zivilprozessrecht aus zwei Gliedern zusammen325: Dem objet einerseits und der cause andererseits.
aa) Identité d’objet Bei dem Begriff objet handelt es sich um das mit der Klage verfolgte Ziel; mithin um das Klagebegehren.326 „[L]’objet est le ‚quoi‘ de la demande“.327 Damit ist freilich noch nichts über die genauen Konturen des Begriffes gesagt und so sind diese auch im französischen Recht umstritten. Diskutiert wird einerseits, ob das objet im Sinne des Art. 1355 CC denselben Inhalt hat wie das objet de litige im Sinne des Art. 4 CPC. Dies unterstellt, ließe sich eine weitere Präzisierung des Begriffes aus dem Gesetz ableiten, da Art. 4 CPC bestimmt, dass das objet de litige durch die jeweiligen Ansprüche (prétentions) der Parteien bestimmt wird.328 Diesem Verständnis der Begriffe wird in der Literatur jedoch 324 Die Begriffe objet und chose demandée werden, obwohl der Aufbau der Norm eine andere Deutung erlauben würde, oft synonym verwandt, so etwa Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 495 f.; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 358; vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 134. 325 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 125; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 131. 326 Diese Definition verwenden ebenfalls Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 48; Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 126; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 134; Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 89 verwendet den Begriff „Klagegegenstand“. 327 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 608. 328 „L’objet de litige est déterminé par les prétentions respectives des parties“, Art. 4 Abs. 1 CPC; die Übereinstimmung von objet i. S. d. Art. 1355 CC und objet de litige i. S. d. Art. 4 CPC nimmt Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose
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mit dem Argument widersprochen, objet im Sinne des Art. 1355 CPC sei vielmehr als objet de la demande und nicht als objet de litige zu verstehen.329 Nachdem unabhängig von der konkreten Bezeichnung auf das Klageziel der Parteien abzustellen ist, um das objet zu identifizieren, wird andererseits diskutiert, ob die rechtliche Qualifikation des Begehrens das objet mit-charakterisiert oder ob letzteres schlicht abstrakt-wirtschaftlich zu bestimmen sei. Diesbezüglich finden sich etwa Formulierungen wie: „[…] l’objet de la demande désigne le résultat économique ou social qui est recherché; c’est une notion dégagée de toute coloration juridique, en ce sens qu’une qualification juridique n’est pas nécessaire à la détermination de l’objet“.330
Anschaulich wird der Unterschied zwischen den jeweiligen Positionen etwa bei einer Klage auf Schadensersatz. Bei tatsächlicher, wirtschaftlicher Betrachtung wäre das objet hier lediglich die Zahlung einer Geldsumme. Wenn jedoch die rechtliche Qualifikation des Klagebegehrens mitentscheidend ist, wäre das objet konkret die Leistung von Schadensersatz.331 Gewichtiges Argument für die Heranziehung der rechtlichen Qualifikation zur Bestimmung des objet ist der Umstand, dass viele Klagebegehren ohne Beachtung deren rechtlicher Qualifikation aus sich heraus nicht verständlich oder vom Kläger gerade auf eine konkrete rechtliche Folge gerichtet sind.332 Im Hinblick auf den Fokus der vorliegenden Arbeit sei bezüglich weiterer Ausführungen zum genauen Inhalt des Begriffes objet und dem Vorliegen der identité d’objet auf die bestehenden Sammlungen333 entsprechender Beispiele verwiesen. Festgehalten werden kann an dieser Stelle jedoch, dass dem objet im jugée, n° 576 unter Verweis auf Art. 480 Abs. 2 CPC an; ähnlich auch Bolard, Droit et Pratique, n° 221.31; ohne Differenzierung ebenfalls Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 495 und Fn. 149. 329 So etwa Solus/Perrot, Droit judiciaire privé III, n° 64; für eine Unterscheidung auch Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1166; in diese Richtung auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 48; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 134 f. mit dem Hinweis auf „stark uneinheitliche Terminologie“ (S. 135). 330 So für Art. 4 CPC nicht jedoch für Art. 1355 CC Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1166; dahingehend auch Motulsky, Écrits 2. Aufl., S. 39, 44, n° 12. 331 Dieses Beispiel bemühen Motulsky, Écrits 2. Aufl., S. 39, 44, n° 12 und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 136. 332 Vgl. Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 578 f., welcher sich dann für einen „pragmatischen Ansatz“ („démarche […] purement pragmatique“) ausspricht; für die Berücksichtigung der „genauen Natur“ anstelle des „allgemeinen Gegenstand[s]“ der Klagebegehren Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 48; Solus/ Perrot, Droit judiciaire privé III, n° 66. 333 Zahlr. Nachw. nach Rechtsgebieten sortiert Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 582 ff.; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 153 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 728; in deutscher Sprache Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 89 ff.; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 928; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 134 ff.; vgl. zu diesem Begriff auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 48 ff.
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Sinne des Art. 1355 CC aus rechtsvergleichender Sicht eine ähnliche Bedeutung wie dem Klageantrag im deutschen Recht zukommt.334
bb) Identité de cause Zweiter Bestandteil des französischen Streitgegenstandsbegriffes ist die cause. „Si l’objet est le ‚quoi‘ de la demande, la cause en est le ‚pourquoi‘“.335 Ein inhaltlich exaktes Äquivalent zum Begriff cause existiert im deutschen Recht nicht;336 am treffendsten lässt sich cause wohl mit Klagegrund übersetzen.337 Wie genau der Begriff jedoch ausgefüllt werden soll, war und ist innerhalb des französischen Rechts hoch umstritten.338 Im Zentrum der Diskussion steht dabei auch hier die Frage, inwieweit die cause rechtlich oder tatsächlich geprägt ist. Hieran schließt sich das weiterführende Problem an, unter welchen Voraussetzungen das Vorbringen des Klägers eine neue cause begründet und die Rechtskraft einer bereits entschiedenen Streitfrage der Zulässigkeit einer neuen Klage nicht entgegensteht.
(1) Grundpositionen Grob lassen sich drei Strömungen zur Definition des Begriffes cause ausmachen: Teilweise wurde cause technisch verstanden und schlicht mit der jeweils verwendeten Rechtsnorm (règle de droit invoquée) gleichgesetzt.339 Nach anderer Ansicht setze sich cause aus den zur Begründung des Anspruches vorgebrachten Tatsachen („l’acte ou le fait juridique qui constitue le fondement direct et immédiat du droit réclamé“) zusammen, unabhängig von den anwendbaren Rechtsnormen oder deren Qualifikation.340 Nach einer vermittelnden Ansicht handele es sich bei der cause um die vorgebrachten Tatsachen und 334 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 141 f.; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 220; di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 96. 335 So Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 608. 336 Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 4 f. 337 Ebenso Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 50; Bunge, Wörterbuch ZPVergl., Nr. 412; Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 75; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 142. 338 Deutlich Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 50: „In der Identität des Grunds der Ansprüche befindet sich wohl die heikelste Frage der französischen Rechtskrafttheorie. Der Begriff ‚cause‘ wurde Gegenstand von zahlreichen Zweifeln, Unsicherheiten und im Jahre 2006 einer Rechtsprechungsänderung.“ 339 So Cass. DP 1928, 153, note Savatier; dahingehend auch Savatier, JCP 1953, n° 7061, B b); Esmein, JCP 1961, II-11980; w. Nachw. bei Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 611 und bei Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 167. 340 Motulsky, Écrits 2. Aufl., S. 101, 103 ff.; Normand, Le juge et le litige, S. 166 n° 174; w. Nachw. bei Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 610 und bei Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 76.
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deren rechtliche Einordnung (fait juridiquement qualifié).341 Dass es letztlich nicht gelungen ist, eine konsensfähige Definition des Begriffes cause zu etablieren, veranschaulicht auch die Darstellungsweise des Streits in zahlreichen Bearbeitungen: Vielerorts wird die Frage, wann (k)eine identité de cause vorliegt, nicht durch eine Festlegung auf eine präzise Begriffserklärung, sondern anhand von zahlreichen Fallbeispielen zu beantworten versucht.342
(2) Verständnis der Rechtsprechung und Entwicklung – Konflikt mit fehlender Prüfpflicht nicht vorgetragener moyens de droit Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass es, obwohl eine dogmatisch saubere Definition des Begriffes fehlte, nach Auffassung der Rechtsprechung zur Begründung der Verschiedenheit zweier Streitgegenstände oftmals343 genügte, wenn der Kläger seine erneute Klage auf eine andere Norm stützen konnte.344 Dieser Wechsel des moyen de droit345 bewirkte, dass zwischen dem bereits entschiedenen Sachverhalt und der neuen Streitsache keine identité de cause mehr bestand und daher die Rechtskraft der entschiedenen Sache keine Auswirkungen auf die Zulässigkeit des neuen Verfahrens hatte. Diese Ansicht erklärte sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines anderen Verständnisses von der Prüfungsbefugnis und -pflicht des Gerichtes. Art. 12 Abs. 1 und 2 des CPC erlauben dem Gericht zwar, die von den Parteien vorgebrachten Tatsachen unabhängig von deren Beurteilung zu qualifizieren („[…] sans s’arrêter à la dénomination que les parties en auraient proposée“) und den Anspruch gegebenenfalls auf eine andere Grundlage – die sich gleichwohl ebenfalls aus den vorgebrachten Tatsachen ergeben muss und nicht durch eine von Art. 12 341 So Hébraud, RTD civ. 1966, 123, 126; w. Nachw. bei Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 167 und Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 612. 342 So etwa Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 614 ff. und bei Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 167 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 728; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1167 ff.; zu diesem Befund gelangt auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 145. 343 Das gilt insb. für das Schadensersatzrecht, so auch Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 609; vgl. hierzu auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 133 f., Fn. 146; vgl. auch Karila de Van in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Droit Civil 2008, Chose jugée, n° 193 ff. 344 Cass. Civ. 2e, 26 mars 1965, n° 58-12462; Cass. Civ. 2e, 24 juin 1970, n° 68-12229 = Bull. Civ. 1970 II, n° 221; Cass. Civ. 2e, 5 juin 1971, n° 70-11023 = Bull. Civ. 1971 II, n° 203; w. Nachw. etwa bei Karila de Van in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Droit Civil 2008, Chose jugée, n° 195. 345 Ausführlich zum Begriff des moyen vgl. Solus/Perrot, Droit judiciaire privé III, n° 73; in deutscher Sprache, Stapf, Rechtskraftlehre, S. 145 ff. mit dem Ergebnis, „dass der Begriff des moyen letztlich ebenfalls eine bloße Worthülse darstellt, die für die tatsächliche Definition des Streitgegenstandes als Grenze der autorité de la chose jugée keinen wirklichen Mehrwert bietet.“ (S. 147); Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 136 ff.
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Abs. 3 CPC gestattete, ausdrückliche Parteivereinbarung ausgeschlossen sein darf346 – zu stützen. Ob das Gericht zu einer umfassenden – über die Vorbringen der Parteien hinausgehenden – Prüfung jedoch auch verpflichtet ist, war lange Zeit stark umstritten347 und wird von der Cour de cassation inzwischen verneint.348 Hiernach verpflichte Art. 12 CPC das Gericht – von seltenen Fällen349 abgesehen – nicht dazu, andere als die von den Parteien vorgetragenen Rechtsgrundlagen zu (unter-)suchen: „[…] l’article 12 du nouveau code de procédure civile ne lui [le juge] fait pas obligation, sauf règles particulières, de changer la dénomination ou le fondement juridique de leurs demandes […]“.350 Die Ansicht der Cour de cassation wird vom überwiegenden351 Teil der Literatur nicht geteilt352 und insbesondere wegen des Zusammenwirkens mit den Folgen einer vorherigen Entscheidung353 der Cour de cassation kritisiert.354 Denn die (negativen) Auswirkungen einer Verneinung der Pflicht des Gerich346 Vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 156 f.; vgl. zur Möglichkeit der Parteien, das Gericht an bestimmte rechtliche Gesichtspunkte zu binden, Miguet, Mélanges Hébraud (1981), 567; Cadiet/Normand/Amrani Mekki, Théorie générale du procès, S. 764, n° 224. 347 Vgl. hierzu auch Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 284 f.; Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102, n° 16 ff.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 155 ff. und 205 ff.; eine Pflicht bejahend noch Habscheid, FS Beitzke (1979), 1051, 1056. 348 Cass. Ass. Plén., 21 déc. 2007, n° 06-11343 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 10; vgl. hierzu Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102; Bolard, JCP 25 juin 2008, 19; kritisch auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 60 ff. 349 Wenn die Parteien für ihr Begehren (gar) keine rechtliche Begründung geliefert haben, soll das Gericht verpflichtet sein, alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu untersuchen. Vgl. Cass. Civ. 3e, 13 déc. 2011, n° 10-18037, inédit; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 532; zu dieser und weiteren Ausnahmen vgl. Cadiet/Normand/Amrani Mekki, Théorie générale du procès, S. 768 ff., n° 226; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 205, Fn. 793 m. w. Nachw. 350 Cass. Ass. Plén., 21 déc. 2007, n° 06-11343 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 10. Im konkreten Fall war es nach Auffassung der Cour de cassation rechtsfehlerfrei, dass das Gericht, nachdem es den vom Kläger vorgetragenen Schadensersatzanspruch wegen eines versteckten Mangels der Kaufsache („défaut caché de la chose vendue“, Art. 1641 CC) verneint hatte, nicht untersucht hatte, ob sich der Anspruch des Klägers womöglich auch auf einen Verstoß des Verkäufers gegen seine Pflicht zur Lieferung der Kaufsache in vertragsgemäßen Zustand („obligation de délivrance conforme aux stipulations contractuelles“, Art. 1604 CC) stützen ließe. 351 Bolard, JCP 25 juin 2008, 19, 22, n° 15: „quasiment toute la doctrine“. 352 Kritisch insb. Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102; Bolard, JCP 25 juin 2008, 19; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 286; Bléry, Procédures nov. 2012, étude 6; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 60 ff.; Bolard, Droit et Pratique, n° 221.114 der auch darauf hinweist, dass die Kassationshöfe in Belgien und Luxemburg weiterhin von einer Pflicht des Gerichts ausgehen; i. E. auch Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 533; Cornu/Foyer, Procédure civile, S. 464; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 586 f.; gegen eine Pflicht des Gerichtes insb. Martin, Recueil Dalloz, 2005, 1444, 1445 n° 8; Martin, Recueil Dalloz, 2006, 2201. 353 Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8, hierzu sogl. Vgl. dazu außerdem Stapf, Rechtskraftlehre, S. 208 ff. 354 Bléry, Mélanges Héron (2008), 111; Bolard, JCP 25 juin 2008, 19; Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102; Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379; vgl. zum Ganzen auch Douchy-Oudot, Mélanges Goubeaux (2009), 99; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 586 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 208 ff.
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tes zu einer umfassenden Prüfung der Rechtslage unter Heranziehung aller in Frage kommender Anspruchsgrundlagen würden abgemildert, wenn der Kläger, der mit seinem Begehren zuvor wegen einer „falschen“ Rechtsgrundlage gescheitert war, später unter Heranziehung der „richtigen“ Anspruchsgrundlage erneut klagen könnte. Zwar wurde in der Literatur zu Recht kritisiert, dass diese eng begrenzte, technische Auslegung der cause die Aufspaltung einheitlicher Sachverhalte und die Verteilung zusammenhängender Rechtsfragen auf mehrere Verfahren befördere.355 Diese Lesart ermöglicht es nämlich, für den Ersatz ein und desselben Schadens mehrere Prozesse zu führen, jeweils gestützt auf eine andere Haftungsnorm.356 So wären etwa im obigen Beispiel357 nach einem Unfall im Rahmen einer Taxifahrt mehrere Klagen möglich, weil vertragliche Ansprüche und deliktische Ansprüche jeweils andere causes wären und verschiedene Mängel ein und desselben Vertrages ließen sich nach dieser Auffassung in mehreren selbständigen Prozessen geltend machen.358 Gleichwohl schafft dieses enge Streitgegenstandsverständnis einen Ausgleich zum ebenfalls engen Prüfungsauftrag des Gerichtes. Umgekehrt rechtfertigt sich der weitreichende ne bis in idem-Grundsatz im deutschen Recht unter anderem auch durch die umfassende Prüfungspflicht des Gerichtes. Je umfassender die Prüfung des Gerichts im ersten Verfahren ausgestaltet ist, desto eher kann eine umfassende Sperrwirkung durch die Rechtskraft hingenommen werden. Nichtsdestotrotz scheint die Cour de cassation inzwischen ein konträres System etabliert zu haben. Im Jahr 2006 verabschiedete sich die Cour de cassation in einer Plenumsentscheidung359 („Cesareo“) von ihrer bisherigen Rechtsprechungslinie (neue Anspruchsgrundlage begründet neue cause) und leitete eine beachtliche Kehrtwende360 innerhalb der Frage nach einer Definition des Begriffes cause ein, die gerade im Zusammenspiel mit ihrer Haltung zur Prüfungspflicht der Gerichte berechtigte Kritik provoziert.361 Nach einer erfolglosen Klage aufgrund vertraglicher Zahlungsansprüche hatte der Kläger eine neue Klage angestrengt und sich in dieser auf bereicherungsrechtliche Ansprüche gestützt. Die Cour de 355 So
Motulsky, Écrits 2. Aufl., S. 207, n° 10; Delaporte, BICC hors-série 2004, a. E. Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 50; Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 609. Siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. b). 358 Di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 89; Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 609. 359 Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8. 360 Zahlreiche Autoren verstehen die Entscheidung als Teil einer rechtspolitisch motivierten Entwicklung mit dem Ziel einer umfassenderen Streitbeilegung und ökonomischeren Prozessführung. In diesem Sinne etwa Fricero, Mélanges Burgelin (2008), 199, 202, n° 6; di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 91; deutlich auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 50 ff.; Wiederkehr, JCP 25 avr. 2007, II 10070; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 164 ff. 361 Vgl. etwa Bléry, Mélanges Héron (2008), 111; Bolard, JCP 25 juin 2008, 19; Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102; Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379; Croze, Procédures oct. 2006, repère 9; Bendel-Vasseur, Justice & Cassation 2010, 366, 383 ff.; vgl. zum Ganzen auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 208 ff. 356 357
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cassation hielt die nachfolgende Klage nun allerdings wegen der entgegenstehenden Rechtskraft der ersten Klage für unzulässig. Nach (neuer) Ansicht des Gerichtes genüge es nicht (mehr), sich auf andere Anspruchsgrundlagen zu stützen, um die identité de cause zu widerlegen: „[Le demandeur] ne pouvait être admis à contester l’identité de cause des deux demandes en invoquant un fondement juridique qu’il s’était abstenu de soulever en temps utile, de sorte que la nouvelle demande se heurte à la chose précédemment jugée relativement à la même contestation“.362
Die Cour de cassation verneint damit letztlich die Relevanz der rechtlichen Qualifikation für den Begriff der cause und stützt sich zur Bestimmung der cause allein auf die Tatsachen.363 Damit liegt im Falle der schlichten Auswechslung der Rechtsregel die identité de cause weiterhin vor und die Rechtskraft der entschiedenen Sache verhindert eine erneute Untersuchung.364 Dieses neue, weiterreichende Verständnis der cause wäre jedoch (nur) dann hinnehmbar, wenn sichergestellt wäre, dass der umfassenden Sperrwirkung eine umfassende Überprüfung vorausgegangen ist.365 Da eine umfassende Prüfung aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen nach der Rechtsprechung der Cour de cassation für die Gerichte aber gerade nicht verpflichtend ist, zwingt das Zusammenspiel der beiden Entscheidungen nun die Parteien, alle fondements, die geeignet sind, den Anspruch zu begründen, innerhalb des ersten Prozesses vorzubringen: „Il incombe au demandeur de présenter dès l’instance relative à la première demande l’ensemble des moyens qu’il estime de nature à fonder celle-ci“.366 Die Kombination aus enger Prüfungspflicht des Gerichtes und weiter Sperrwirkung birgt für die Parteien ein erhebliches Risiko: „Cumulé avec la décision du 7 juillet 2006, la solution de l’arrêt du 21 décembre 2007 fait ‚chèrement payer‘ au justiciable l’oubli, volontaire ou non, d’un fondement juridique à l’appui de sa demande […]“.367 Insofern wurden die Entscheidungen insbesondere im Hinblick auf eine Erweiterung – oder zumindest drastischere Sanktionierung einer Nichterfüllung – der (neu etablierten) Parteipflichten und die damit einhergehende Gefahr, den Anspruch auf rechtliches Gehör zu 362 363
Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8. Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379, 385 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 194. 364 Perrot, RTD civ. 2006, 825; Croze, Procédures oct. 2006, repère 9. 365 Dahingehend auch Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379, 390, 393; ähnlich auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 61: „Wenn das kontroverse Cesareo-Urteil aus dem Jahre 2006 schon fingiert, dass alle Vorbringen, die die Parteien zur Unterstützung ihres Anspruches hätten geltend machen können, in einem neuen Prozess durch die Rechtskraft präkludiert sind, dann kann erwartet werden, dass der Richter – wie im deutschen Recht – alle möglicherweise auf den Sachverhalt anwendbaren Rechtsnormen in Betracht zieht.“ 366 Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8. Siehe hierzu auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 646 ff. 367 So Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379, 393.
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verlieren, kritisiert.368 Pointiert formuliert Deshayes, der Grundsatz „da mihi factum, tibi dabo jus“369 sei durch die Rechtsprechung der Cour de cassation zum Grundsatz „da mihi factum, da mihi jus, judicium dabo“ mutiert.370 Zudem etabliere die neue Rechtsprechung die „Rechtskraft nicht entschiedener Sachen“ („l’autorité de la chose qui n’a pas été jugée“), wenn auch diejenigen Ansprüche, die nicht vorgetragen – und infolge der fehlenden Pflicht des Gerichtes auch nicht geprüft – wurden, in späteren Verfahren dennoch gesperrt sind.371 Gerade unter diesen Aspekten wurde die Entscheidung der Cour de cassation in der französischen Literatur überwiegend kritisiert.372 Im Hinblick auf die Gewaltenteilung und die Kompetenz der Gerichte sei zudem fraglich, ob diese als fundamental empfundene Veränderung in zulässiger Weise durch die Rechtsprechung durchgesetzt werden konnte.373 Da die mit dieser Rechtsprechung einhergehende Konzentrationsobliegenheit auch die Möglichkeit, einheitliche Sachverhalte durch die Wahl verschiedener Anspruchsgrundlagen auf mehrere Prozesse aufzuteilen, verhindert,374 wurde die Entscheidung teilweise auch positiv aufgenommen.375 Zudem wurde darauf hingewiesen, dass sowohl in anderen Bereichen des französischen Rechts als auch in anderen Rechtsordnungen bereits eine ähnliche Pflicht zur Konzentration aller möglichen Rechtsgrundlagen (obligation de concentration des moyens) bestehe.376 368 So Croze, Procédures oct. 2006, repère 9; ebenso Perrot, RTD civ. 2006, 825, der die Frage nach den von Amts wegen zu ermittelnden moyens d’ordre public aufwirft; in diese Richtung auch Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379; Bendel-Vasseur, Justice & Cassation 2010, 366, 388; kritisch zum Vorwurf, die Entscheidung gefährde das droit d’accès au juge hingegen Stapf, Rechtskraftlehre, S. 209 f. 369 Vgl. hierzu etwa Dupichot, Mélanges Aubert (2005), 425. 370 Deshayes, Recueil Dalloz 2008, 1102, n° 29; ähnlich bereits Croze, Procédures oct. 2006, repère 9: „da mihi factum jusque“; ebenso Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 587: „[…] ‚donne-moi le fait, et le droit‘ et ‚je te donnerai un jugement‘ […]“. 371 Von einer „autorité de la chose qui n’as pas été jugée“ sprechen etwa Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379, 389 („c’est précisément de donner autorité à une chose qui non seulement n’a pas été jugée, mais n’a même pas été débattue“); di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 93 („introduction à grande échelle de l’autorité de la chose qui n’as pas été jugée“). 372 Vgl. Perrot, RTD civ. 2006, 825; Croze, Procédures oct. 2006, repère 9; Weiller, Recueil Dalloz 2006, 2135; Wiederkehr, JCP 25 avr. 2007, II 10070; Le Bars, Procédures, aoûtsept. 2007, 9, 10; Ferrand, ZZPInt 29, 60 ff. Ausführlich zu den Folgen der Entscheidung vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 160 ff. 373 So Perrot, RTD civ. 2006, 825; Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 649. 374 So unter Verweis auf den damit ebenfalls einhergehenden Schutz des Beklagten, Mayer, Mélanges Héron (2008), 331, 342 ff., n° 15; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 653. 375 Insb. Mayer, Mélanges Héron (2008), 331; Posez, RTD civ. 2015, 283, 285 ff., n° 8 ff. 376 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 652 nennt etwa das englische und das spanische Recht; Charruault, BICC 2006,
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Die Rechtsprechung behielt ihre neue Linie zwar bei,377 machte in Folge der Kritik jedoch weitere Klarstellungen: Treten neue Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht bestanden haben, auf, ermögliche dies (weiterhin) eine neue Klage.378 Auch, wenn sich die neue Klage auf ein nach der Entscheidung entstandenes Recht stützen könne, stehe die materielle Rechtskraft nicht im Weg.379
d) Zusammenfassung Objet meint das Klagebegehren, das was der Klage. Cause meint den Klagegrund, das warum der Klage. Die genaue Definition der cause ist umstritten und die Rechtsprechung änderte ihre Auslegung von einer engen Sichtweise (schon der Wechsel der Rechtsnorm genügt, um die identité de cause zu überwinden) hin zu einer weiteren Sichtweise (cause erfasst alle Rechtsgrundlagen, die sich aus den zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden Tatsachen im Hinblick auf das jeweilige Klageziel herleiten lassen). Auch im französischen Prozessrecht wirkt die materielle Rechtskraft grundsätzlich nur inter partes.380 Liegt die sogenannte triple identité vor, verhindert die materielle Rechtskraft eine neue Entscheidung. Obwohl der Wortlaut des Art. 1355 CC seit seiner Schaffung im Jahre 1804 bis heute unverändert blieb, führten mehrere Entscheidungen der Cour de cassation zu einem fundamentalen381 Wandel der Streitgegenstands- und Rechtskraftstrukturen in Frankreich.382 Betroffen sind sowohl das Verständnis der cause (also die Breitenwirkung der Rechtskraft) als auch die Frage nach den rechtskräftigen Urteilsbestandteilen383 (Tiefenwirkung der Rechtskraft). Durch die Rechtsprechungsänderung zum Begriff der cause nähert sich die französische Rechtskraftkonzeption im Ergebnis der deutschen an.384 Das in Deutschland vorherrschende Verständnis vom Streitgegenstand – das zusätzlich zum Antrag auch den zugrundeliegenden Sachverhalt miteinbezieht – n° 648 15 oct., Rapport, Fn. 35 deutet eine Ähnlichkeit zum englischen Recht an; ebenso Delicostopoulos/Delicostopoulos, Mélanges Guinchard (2010), 681; auf die Ähnlichkeit zum englischen Recht verweist auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 168, 217; anders Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 60: „Die Cesareo-Rechtsprechung des Kassationshofes ist also kein Pendant zur Henderson vs Henderson-Entscheidung des englischen Rechts […]“; siehe zum englischen Recht auch unten dritter Teil, C. III. 1. 377 Cass. Civ. 1re, 16 jan. 2007 = Bull. Civ. 2007 I, n° 18; Cass. Civ. 3e, 25 avr. 2007 = Bull. Civ. 2007 III, n° 59. 378 Cass. Civ. 2e, 6 mai 2010; obs. Junillon, Procédures n° 7 juill. 2010, comm. 283. 379 Cass. Civ. 2e, 10 juin 2010; obs. Perrot, Procédures n° 8-9 août 2010, comm. 305. 380 Vgl. hierzu oben erster Teil, B. III. 8. b). 381 So etwa Croze, Procédures oct. 2006, repère 9. 382 Ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 216. 383 Hierzu ausführlich unten dritter Teil, B. III. 384 So auch Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 135, Fn. 155; ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 622 f.; di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 97.
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führt dazu, dass auch bei mehreren Anträgen nur ein Streitgegenstand vorliegt und damit eine Entscheidung über diesen Streitgegenstand eine Entscheidung über alle innerhalb dieses Streitgegenstandes in Betracht kommenden Ansprüche enthält.385 Die mit der Rechtskraft einhergehende Tatsachenpräklusion erstreckt sich auch im deutschen Recht auf alle Tatsachen, welche „bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtung zu dem durch ihren Sachvortrag zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehört hätten“386, ebenfalls unabhängig davon, ob diese tatsächlich vorgetragen wurden oder nicht. Heute ist es daher weder im deutschen noch im französischen Recht möglich, einheitliche Sachverhalte durch die Wahl unterschiedlicher Anspruchsgrundlagen auf mehrere Prozesse aufzuteilen.387 Diese vordergründigen Gemeinsamkeiten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nur der Umfang der späteren Sperrwirkung, nicht aber der Umfang der vorherigen Prüfung ähnelt. Während die weitreichende Prüfungspflicht der Gerichte im deutschen Recht eine ebenso weitreichende Sperrwirkung quasi „rechtfertigt“, fehlt diese Verknüpfung im französischen Recht. Hier obliegt es nicht dem Gericht, sondern den Parteien, dafür zu sorgen, alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu finden und vorzutragen388, da das Vorbringen „anderer“ Anspruchsgrundlagen nach der Auffassung der Cour de cassation durch die Rechtskraft unabhängig davon versperrt ist, ob die jeweiligen fondements juridiques bereits vorgetragen wurden oder nicht.389 Eine „autorité de la chose qui n’a pas été jugée“390 ist im deutschen Recht nicht zu befürchten, weil das Gericht in Deutschland entweder solange prüfen muss, bis der Tatbestand einer Anspruchsgrundlage erfüllt (und dem Klageantrag voll zu entsprechen) ist oder jede in Betracht kommende Anspruchsgrundlage geprüft (und verneint) wurde. Infolgedessen reicht die gegenwärtige Konzeption der Rechtskraft in Frankreich auch über die Grenzen der materiellen Rechtskraft nach deutschem Recht hinaus391: Die umfassende Präklusion, die die Cour de cassation etabliert hat, führt zunächst dazu, dass es den Parteien obliegt, alle Tatsachen und alle Rechtsgrundlagen, die das Klageziel stützen, vorzutragen. Einher geht dieses Verständnis im französischen Recht mit einer Verschiebung der Voraussetzun385
Vgl. oben zweiter Teil, B. III. 3. a) cc) (2). BGH NJW 1995, 967, 968 m. zahlr. w. Nachw.; BGH NJW 1993, 2684, 2685. So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 622. 388 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 211 weist jedoch darauf hin, dass den Parteien insofern ein „Rettungsanker“ verbliebe, als sie in zweiter Instanz neue moyens de droit vorbringen können. 389 Di Noto, Liber amicorum Seul (2014), 84, 93 spricht von virtueller Einbeziehung („virtuellement incluses dans la cause factuelle“) und der damit einhergehenden Einführung einer Rechtskraft der nicht-entschiedenen Sache („introduction à grande échelle de l’autorité de la chose qui n’as pas été jugée“); Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379, 389. 390 So Guinchard, Mélanges Wiederkehr (2009), 379. 391 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 623. 386 387
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gen, unter denen eine neue Klage zulässig ist. Größere Bedeutung kommt hier nun der Frage zu, ob das (nachfolgende) Vorbringen auch schon im Rahmen des ersten Verfahrens hätte gemacht werden können, während die eigentlich relevante Frage nach der Streitgegenstandsidentität zwischen der entschiedenen und der anhängig gemachten Sache davon überlagert wird.392 Dieser Umstand erklärt sodann vielleicht auch die von der französischen Literatur betonte Nähe der neuen französischen Konzeption zum Verständnis der Rechtskraft im englischen Recht.393 Während im französischen Recht also einer Klage wegen Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung die Rechtskraft einer vorherigen Klage wegen vertraglichen Ansprüchen entgegenstehen kann,394 führt die Abweisung einer auf Vertrag gestützten Klage im deutschen Recht nicht (zwangsläufig) zur Abweisung einer Klage wegen eines Anspruches aus ungerechtfertigter Bereicherung.395
e) Streitgegenstandsbegriff innerhalb der EuGVVO – Kernpunkttheorie Auch der EuGH war bereits mehrfach mit der Frage befasst, wann sich zwei Klagen derart ähnlich sind, dass von Klagen wegen „desselben Anspruchs“ auszugehen ist.396 Relevant wird diese Frage im Rahmen der Rechtshängigkeitssperre nach Art. 29 Abs. 1 EuGVVO.397 Hiernach ist ein Gericht verpflichtet, das Verfahren auszusetzen, wenn zuvor wegen desselben Anspruches bereits eine Klage bei einem anderen mitgliedstaatlichen Gericht anhängig gemacht worden ist.398 Der EuGH entwickelte hier ein eigenes, weiter gehendes, freilich auf die EuGVVO beschränktes, Verständnis vom Streitgegenstandsbegriff.399 392 So
Stapf, Rechtskraftlehre, S. 623 und S. 218. etwa Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 652; Charruault, BICC 2006, n° 648 15 oct., Rapport, Fn. 35; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 154; vgl. zum Verhältnis der französischen Konzeption zum englischen Recht auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 626 ff.; zur Reichweite der Rechtskraft im englischen Recht vgl. auch unten dritter Teil, C. III. 394 Cass. Ass. Plén., 7 juill. 2006, n° 04-10672 = Bull. Ass. Plén. 2006, n° 8; vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 623. 395 BGH NJW 1990, 1975; vgl. hierzu auch Musielak, NJW 2000, 3593, 3594 ff. 396 Vgl. vor allem EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871; EuGH, Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460; EuGH, Rs. C-351/96 („Drouot assurances“), Slg. 1998, I-3075. 397 Art. 29 Abs. 1 EuGVVO entspricht Art. 27 Abs. 1 EuGVVO alt und Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ. 398 Art. 29 Abs. 1 EuGVVO, „Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruches zwischen den Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht unbeschadet des Artikels 31 Abs. 2 das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.“ 399 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., vor § 253, Rn. 44; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 72a. 393 So
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aa) Kernpunkttheorie Der ersten Entscheidung400 zur Auslegung des Begriffes „desselben Anspruchs“ im Sinne des heutigen Art. 29 Abs. 1 EuGVVO lag folgender Sacherhalt zugrunde: Eine Gesellschaft mit Sitz in Deutschland401 hatte einen in Rom wohnhaften Italiener402 vor dem Landgericht Flensburg auf Zahlung aus einem Kaufvertrag verklagt.403 Vor einem römischen Gericht erhob der Beklagte wenig später eine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit dieses Vertrages.404 Nachdem die erste Instanz in Rom den von der deutschen Verkäuferin nach Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ erhobenen Rechtshängigkeitseinwand zurückgewiesen hatte, legte der Corte suprema di cassazione dem EuGH die Frage vor, ob der Begriff der Rechtshängigkeit im Sinne des Art. 21 EuGVÜ auch den Fall der Kollision einer Leistungs- und einer Feststellungsklage erfasse.405 Während die Auslegung des Begriffes „desselben Anspruchs“ zuvor dem Prozessrecht desjenigen Gerichtes überlassen war, vor dem der Rechtshängigkeitseinwand erhoben wurde,406 entschied der EuGH in Gubisch/Palumbo, dass die materiellen Voraussetzungen der Rechtshängigkeit in Art. 21 EuGVÜ autonom ausgelegt werden müssten.407 Für die Definition der Voraussetzungen stellt der EuGH nicht auf die deutsche, sondern die französische Fassung des EuGVÜ ab. Die französische Version des Art. 21 EuGVÜ verwendet für die Rechtshängigkeit die aus dem nationalen französischen Recht bekannten Begriffe „objet“ und „cause“.408 Der EuGH führt nun aus, dass beide Klagen im vorliegenden Fall auf derselben Grundlage beruhen, also dieselbe cause haben, weil sie auf demselben Vertragsverhältnis basieren.409 Fraglich sei lediglich, ob Leistungsund Feststellungsklage auch denselben Gegenstand, also dasselbe objet, beträfen.410 Dieser Begriff lasse sich nicht allein anhand der formalen Identität der Klagen bestimmen,411 sondern liege dann vor, wenn die Klagen denselben 400 EuGH,
Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871. Gubisch Maschinenfabrik KG. 402 Giulio Palumbo. 403 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 2 f. 404 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 2. 405 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 4. 406 Vgl. Schack, IPRax 1989, 139, 140 m. w Nachw.; Rüssmann, ZZP 1998, 399, 404. 407 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 11. 408 Art. 21 EuGVÜ lautet in der französischen Fassung: „Lorsque les demandes ayant le même objet et la même cause sont formés entre les mêmes parties devant des juridictions d’États contractants différents […]“. 409 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 15. 410 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 15; nach autonomem deutschen Recht würde die im Fall Gubisch/Palumbo vorliegende Konstellation nicht zu einer Sperre der späteren Feststellungsklage führen, „da die Anträge in beiden Prozessen verschieden waren und der Leistungsantrag den Feststellungsantrag auch nicht umfaßte“, so Leipold, Symposium (1995), 67, 74; Leipold, GS Arens (1993), 227, 229; Walker, ZZP 1998, 429, 432 f.; Zeuner, FS Lüke (1997), 1003, 1008 f. 411 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 17. 401
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
„Kernpunkt“ betreffen.412 Im vorliegenden Fall ging der EuGH sodann davon aus, dass die Feststellungs- und die Leistungsklage Klagen wegen desselben Anspruches im Sinne des Art. 21 EuGVÜ seien, weil beide Klagen die Wirksamkeit des Vertrages und damit denselben Kernpunkt beträfen.413 In einem späteren Urteil414 übertrug der EuGH diese Rechtsprechung auch auf den umgekehrten Fall und entschied, dass auch eine Feststellungsklage, die zeitlich vor der Leistungsklage erhoben wurde, eine spätere Leistungsklage sperrt, wenn sie – wie im vorliegenden Fall vom EuGH angenommen – denselben Gegenstand betrifft.415 An dieser Stelle konkretisierte der EuGH sein Verständnis der in der deutschen Sprachfassung fehlenden Begriffe „objet“ (Klagegegenstand) und „cause“ (Klagegrund): „Grundlage“ des Anspruches seien der Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird und „Gegenstand“ der Klage meine den „Zweck“ der Klage.416 Nach der Kernpunkttheorie des EuGH bestimmt sich der Streitgegenstand im Rahmen der Rechtshängigkeitssperre der EuGVVO also losgelöst vom Antrag durch einen weit gefassten Lebenssachverhalt.417 Klagen wegen „desselben Anspruchs“ im Sinne des Art. 29 EuGVVO liegen vor, wenn beide Klagen denselben „Kernpunkt“ betreffen.418 Streitgegenstand im europäischen Zivilverfahrensrecht beschreibt damit „die pragmatisch verstandene Einheit des Streites der Parteien über die Rechtsfolge eines Lebenssachverhaltes“.419 Die Weite des vom EuGH etablierten europäischen Streitgegenstandsbegriffes erklärt sich vor allem durch das Ziel, Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten und einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern.420 Die Gefahr der Entstehung unvereinbarer Urteile wird also durch eine großzügige Auslegung des Begriffes „desselben Anspruches“ in Art. 29 EuGVVO und damit einer weitreichenden Rechtshängigkeitssperre zu bannen versucht.421 Im Anschluss an die Entscheidungen des EuGH wurden innerhalb der deutschen Literatur mehrfach die Auswirkungen der Kernpunkttheorie auf den engeren deutschen Streitgegenstandsbegriff diskutiert.422 Vereinzelt wurde gefor412 EuGH,
Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 16. Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 16 ff. Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460. 415 EuGH, Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460, Rz. 42 ff. 416 EuGH, Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460, Rz. 39 und 41. 417 Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 91; Althammer, FS Kaissis (2012), 23, 31. 418 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 16. 419 So Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 91. 420 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 8; vgl. hierzu auch Rüssmann, ZZP 1998, 399, 406 ff.; Wieczorek/Schütze/Weller, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 29 Brüssel Ia-VO, Rn. 1. 421 Rüssmann, ZZP 1998, 399, 406; Schack, IPRax 1989, 139, 140; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 123, 131. 422 Vgl. hierzu zum Beispiel Walker, ZZP 1998, 429; Rüssmann, ZZP 1998, 399; Heider413 EuGH, 414 EuGH,
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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dert, die Kernpunkttheorie vollständig ins deutsche Recht zu übernehmen.423 Überwiegend wurde eine Implementierung der Kernpunkttheorie ins deutsche Recht jedoch abgelehnt.424
bb) Kritik an der Kernpunkttheorie Die vom EuGH zur Bestimmung „desselben Anspruches“ in Art. 29 EuGVVO entwickelte Kernpunkttheorie stieß innerhalb der Literatur auf Ablehnung.425 Kritisiert wurde zunächst, dass die Lösung des EuGH die nationalen Regelungen zum Streitgegenstandsbegriff weder aufgreift noch spiegelt.426 In der Tat geht der Streitgegenstandsbegriff des EuGH deutlich weiter, als die meisten nationalen Konzepte.427 Insbesondere die Sperrwirkung einer negativen Festhoff, ZZP 1998, 455; Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 94; Stürner, FS Lüke (1997), 829, 835 ff.; Chen, Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft, S. 166 ff. 423 So Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 94 beschränkt auf den Bereich der Rechtshängigkeit: „Da ernsthafte Gründe gegen eine Übernahme nicht bestehen, sollte die Kernpunkttheorie der Rechtshängigkeit deshalb voll in das deutsche Recht übernommen werden.“; vorsichtig befürwortend auch Chen, Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft, S. 171. 424 So Walker, ZZP 1998, 429, 454; Rüssmann, ZZP 1998, 399, 424; Leipold, GS Arens (1993), 227, 248; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., Einl., Rn. 72a; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 11. 425 Leipold, GS Arens (1993), 227; Otte, FS Schütze (1999), 619; Roth, FS Schumann (2001), 355; Isenburg-Epple, Ausländische Rechtshängigkeit, S. 212; Gaudemet-Tallon, RCDIP 1988, 374; Wolf, FS Schwab (1990), 561; Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 273 ff.; Dohm, Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 86 ff.; Lenenbach, EWS 1995, 361; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 29 EuGVVO, Rn. 6; befürwortend Schack, IPRax 1989, 139; Schack, IPRax 1996, 80; Huber, JZ 1995, 603; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 29 Brüssel Ia-VO, Rn. 17 f.; wohl auch Chen, Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft, S. 166 ff.; vgl. zum Meinungsstand auch Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 158 ff.; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 132 ff. 426 So Wolf, FS Schwab (1990), 561, 563 f.; Linke, RIW 1988, 822, 823; schon gegen die autonome Auslegung des Begriffes Dohm, Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 86; befürwortend hingegen Schack, IPRax 1991, 270, 272, der sogar begrüßt, dass der EuGH darauf verzichtet hatte, sich „mit Spitzfindigkeiten nationaler Streitgegenstandslehren abzugeben“; Schack, IPRax 1996, 80, 82 meint auch, „ein Rückgriff auf die Streitgegenstandsvorstellungen der jeweiligen leges fori brächte nur zusätzliche und schwierige rechtsvergleichende Arbeit und Zeitverlust, aber keinen Gewinn an Gerechtigkeit.“; vgl. auch Huber, JZ 1995, 603, 605, welcher keinen Unterschied zwischen der Definition des EuGH und einem aus Rechtsvergleichung extrahierten Streitgegenstandsbegriff erkennen will: „[…] fällt es schwer, bei den Definitionen einen Unterschied zu erkennen. Mit anderen Worten: Was die Formulierung der abstrakten Kriterien für den Begriff der Anspruchsidentität angeht, kommt der EuGH im Ergebnis zu der von den Vertretern der rechtsvergleichenden Qualifikation angestrebten Lösung“. Für die Frage, ob auch die „konkrete Ausfüllung dieser Begriffe noch den gemeinsamen Grundlinien der nationalen Rechtsordnungen entspricht“, verweist Huber dann auf ein grundsätzliches Fehlen gemeinsamer Grundlinien: „Gerade für die hier angesprochenen Fallgruppen fehlt es also an einem den nationalen Rechten der Vertragsstaaten gemeinsamen Katalog von konkreten Abgrenzungskriterien“. 427 Ebenso Wieczorek/Schütze/Weller, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 29 Brüssel Ia-VO, Rn. 10; zum Streitgegenstandsbegriff im deutschen Zivilprozessrecht siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. a) m. w. Nachw.; zum Streitgegenstandsbegriff im französischen Zivilprozessrecht
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
stellungsklage gegenüber einer später erhobenen Leistungsklage überrascht aus deutscher Sicht.428 Nach Ansicht der Rechtsprechung führt die nachfolgende Erhebung einer Leistungsklage nämlich grundsätzlich zum Wegfall des Feststellungsinteresses der zuvor erhobenen negativen Feststellungsklage (sogenannter Vorrang der Leistungsklage).429 Zudem erhöht das Zusammenspiel der weiten Auslegung der Streitgegenstandsidentität und dem in Art. 29 EuGVVO verankerten strengen Prioritätsprinzip430 die Effektivität sogenannter Torpedoklagen.431 Weitere Kritik an der Rechtsprechung des EuGH betraf das Verhältnis zwischen Art. 21 EuGVÜ und Art. 22 EuGVÜ.432 Das weite Verständnis der Streitgegenstandsidentität im Rahmen des Art. 21 EuGVÜ vor dem Hintergrund der umfassenden Verhinderung paralleler Verfahren und widersprechender Entscheidungen verringere den Anwendungsbereich des Art. 22 EuGVÜ bis an die Grenze seiner Obsoleszenz.433 Im Fall Gubisch/Palumbo wäre daher der Weg über Art. 22 EuGVÜ zu bevorzugen und statt Streitgegenstandsidentität das Vorliegen von Konnexität anzunehmen gewesen.434 siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. c) m. w. Nachw., hier ist darauf hinzuweisen, dass der Streitgegenstandsbegriff durch die Rechtsprechungsänderung der Cour de cassation seit dem Jahr 2006 zwar ebenfalls deutlich ausgeweitet wurde. Diese Entwicklung stieß jedoch auf erhebliche nationale Kritik; für einen Überblick zum Verständnis des Streitgegenstandsbegriffs in weiteren Mitgliedstaaten vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 115 ff.; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 28 ff.; Isenburg-Epple, Ausländische Rechtshängigkeit, S. 157 ff. 428 Vgl. hierzu etwa Zeuner, FS Lüke (1997), 1003, 1009 ff.; Schack, IPRax 1996, 80, 81; Huber, JZ 1995, 603, 603; Rüssmann, ZZP 1998, 399, 409 ff.; zum Verhältnis von Feststellungs- und Leistungsklage vgl. auch Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 453 ff. 429 RGZ 71, 68, 73; BGHZ 18, 22, 41 = NJW 1955, 1437; BGH NJW 1973, 1500; BGH NJW 1984, 1556; BGHZ 165, 305, 308 f. = NJW 2006, 515, 516; dieser Rechtsprechung wird in der Literatur allerdings auch vielerorts widersprochen: Vgl. etwa Thole, NJW 2013, 1192, 1195; Haas, FS Ishikawa (2001), 165, 187 f.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 464 ff.; vgl. zum Ganzen auch Gruber, ZZP 2004, 133. 430 Nach Art. 29 EuGVVO muss, abgesehen von Fällen des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO, stets das später angerufene Gericht aussetzen. 431 Unter Torpedoklagen versteht man i. d. R. negative Feststellungsklagen vor (oftmals offensichtlich unzuständigen) aber erfahrungsgemäß langsam arbeitenden Gerichten. Die Rechtshängigkeit dieser Klage verhindert die Anhängigmachung der befürchteten Leistungsklage und „torpediert“ damit die Rechtsdurchsetzung des Klägers. Der Begriff geht auf Franzosi, EIPR 1997, 382 zurück und hat sich seither etabliert. Zur Problematik der Torpedoklagen vgl. auch Sander/Breßler, ZZP 2009, 158; Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung; Klöpfer, Missbrauch im EuZVR, S. 355 ff.; Leitzen, GRUR Int 2004, 1010; Franzosi, IIC 2002, 154; Nieroba, Europäische Rechtshängigkeit, S. 202 ff. 432 Art. 22 EuGVÜ entspricht Art. 28 EuGVVO alt und Art. 30 EuGVVO: „Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen, die im Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen.“ 433 Prütting, GS Lüderitz (2000), 623, 628: „Die den Art. 21 ergänzenden Normen des Art. 22 und des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ haben danach praktisch keinen relevanten Anwendungsbereich mehr.“; ähnlich Hau, IPRax 1996, 177, 178 f.; vgl. auch Huet, Clunet 1988, 537, 540 ff. 434 Diesen Weg hatte auch der Generalanwalt Mancini vorgeschlagen, vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mancini zu EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4867,
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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Anstoß fand in diesem Zusammenhang auch die Bezugnahme des EuGH auf Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ435. Rechtfertigung und Ziel der weiten Auslegung des Art. 21 EuGVÜ sei es, „soweit wie möglich, von vornherein eine Situation aus[zu]schließen, wie sie in Art. 27 Nr. 3 geregelt ist, nämlich die Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist“.436
In der Literatur wird die Ausrichtung des Art. 21 EuGVÜ an Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ durch den EuGH jedoch kritisiert. Vor dem Hintergrund, die Anerkennung von Entscheidungen zu erleichtern437 und den freien Verkehr von Entscheidungen zu verwirklichen,438 müsse Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ restriktiv ausgelegt werden.439 Dem Ziel, unvereinbare Entscheidungen zu verhindern, würde bei enger Auslegung der Unvereinbarkeit in Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ daher auch eine engere Auslegung „desselben Anspruchs“ in Art. 21 EuGVÜ gerecht.440 Dem EuGH wird daher vorgeworfen, durch seine Auslegung des Art. 21 EuGVÜ seine andernorts441 erfolgte weite Auslegung des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ „geschaffene Gefahr […] auffangen zu wollen“.442 Überdies wird die fehlende Abstimmung der weiten Auslegung der Rechtshängigkeitssperre mit den später eintretenden Rechtskraftwirkungen beanstandet.443 Das weite Streitgegenstandsverständnis des EuGH weiche von den meisten nationalen Streitgegenstandsbegriffen ab und zerstöre daher das einheitliche Verständnis vom Streitgegenstandsbegriff im Rahmen der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft.444 4870; zustimmend Gaudemet-Tallon, RCDIP 1988, 374, 376; Linke, RIW 1988, 822, 823; a. A. Schack, IPRax 1989, 139, 140 welcher meint, der Verzicht auf die Anwendung des Art. 22 EuGVÜ sei „wegen der inhärenten Schwäche des Art. 22 GVÜ […] unschädlich.“; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 88 spricht sich ebenfalls für eine weite Auslegung des Art. 21 EuGVÜ aus, da Art. 22 EuGVÜ „in der Praxis versagt […], weil es dem Zweitgericht einen Ermessensspielraum einräumt […] die Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen jedoch nicht im Gutdünken der Gerichte stehen darf […].“ 435 Entspricht Art. 34 Nr. 3 EuGVVO alt und Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO. 436 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 8. 437 Vgl. die Präambel des EuGVÜ. 438 So Erwägungsgrund Nr. 6 der EuGVVO. 439 Lenenbach, EWS 1995, 361, 364; Leipold, GS Arens (1993), 227, 235. 440 Lenenbach, EWS 1995, 361, 364; ebenso Leipold, GS Arens (1993), 227, 235; Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 273; Böhm in Bajons/Mayr/Zeiler, EuGVÜ und LugÜ, 1997, 141, 154. 441 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645. 442 So Leipold, GS Arens (1993), 227, 235. 443 Walker, ZZP 1998, 429, 450: „Der weite Streitgegenstandsbegriff des EuGH paßt somit nicht zur engen Bestimmung des Entscheidungsgegenstandes im Zusammenhang mit der Rechtskraft.“; vgl. auch Lenenbach, EWS 1995, 361, 365; Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 95 ff.; Musger, ÖRZ 1993, 192, 200. 444 Walker, ZZP 1998, 429, 450; Musger, ÖRZ 1993, 192, 200; vgl. auch Oberhammer, IPRax 2002, 424, 430.
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
f) Keine Rückschlüsse aus dem Streitgegenstandsbegriff für die (vertikale) Reichweite der Rechtskraft Die obigen Ausführungen zum jeweiligen Streitgegenstandsbegriff innerhalb der untersuchten Rechtsordnungen konnten sich auf eine grobe Darstellung445 reduzieren, weil im Folgenden gezeigt werden wird, dass sich aus dem jeweiligen Streitgegenstandsbegriff keine zwingenden Vorgaben für die Frage ableiten lassen, ob Urteilsgründe eigenständig in Rechtskraft erwachsen oder nicht.446 Insofern determiniert auch die Kernpunkttheorie des EuGH nicht die Reichweite einer autonomen Rechtskraftkonzeption.447
aa) Differenzierung zwischen Breiten- und Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft Die Aussage, der Streitgegenstandsbegriff bestimme die Reichweite der materiellen Rechtskraft, ist zwar nicht unzutreffend, aber unpräzise: Ein enges Verständnis vom Streitgegenstand führt grundsätzlich dazu, dass weniger Verfahren durch Rechtshängigkeit oder Rechtskraft gesperrt werden, da die Voraussetzungen für die erforderliche Streitgegenstandsidentität höher sind. Umgekehrt bewirkt ein weiter Streitgegenstandsbegriff die Sperre von mehr Verfahren, da schon unter geringeren Voraussetzungen von einer Übereinstimmung der Streitgegenstände ausgegangen wird. Insofern lässt sich durchaus davon sprechen, dass die Reichweite der von der materiellen Rechtskraft ausgehenden Sperrwirkung durch den Streitgegenstandsbegriff bestimmt wird. „Reichweite der materiellen Rechtskraft“ meint in diesem Zusammenhang allerdings nur die Reichweite der bei Streitgegenstandsidentität eintretenden Sperrwirkung. Diese stimmt mit der Reichweite des jeweiligen Streitgegenstandsbegriffes überein. Treffend lässt sich diese Wirkungsrichtung als Breitenwirkung der Rechtskraft beschreiben.448 Die eingangs erwähnte These, wonach der Streitgegenstand die Reichweite der Rechtskraft bestimme, ist also nur insofern zutreffend, als damit die Breitenwirkung der Rechtskraft gemeint ist.
445 Vgl. für umfassendere Darstellungen zum deutschen Recht etwa Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 40 ff.; Habscheid, Streitgegenstand, S. 18 ff.; Schwab, Streitgegenstand, S. 4 ff.; zum französischen Recht vgl. etwa die ausführliche Darstellung zum effet négatif de chose jugé bei Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 567 ff.; ebenfalls ausführlich hierzu Chainais/Ferrand/Mayer/ Guinchard, Procédure civile, n° 1162 ff. 446 Ebenso Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125; ähnlich Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554. 447 Ebenso Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289; Schack, ZZP 1994, 279, 296 Fn. 117; in diese Richtung auch Walker, ZZP 1998, 429, 451. 448 So Foerste, ZZP 1995, 167, 167; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 95; ebenso Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125.
B. Rechtskraft im Bereich der EuGVVO
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Die hier untersuchte isolierte Bindungswirkung von Urteilsgründen ist demgegenüber eine Frage der Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft.449 Zu klären ist daher, ob auch die Tiefenwirkung vom jeweiligen Streitgegenstandsbegriff beeinflusst wird oder nicht. Denn, wenn dem so wäre, könnten sich aus dem Streitgegenstandsverständnis des EuGH und damit aus der Kernpunkttheorie Vorgaben für die (vertikale) Reichweite der materiellen Rechtskraft ergeben. Da sich der EuGH bislang freilich nur im Rahmen der Rechtshängigkeit mit einer Streitgegenstandsdefinition auseinandergesetzt hat, wäre außerdem die Frage zu beantworten, welcher Streitgegenstandsbegriff für die Rechtskraft gelten soll. Hier könnte dann überlegt werden, ob auch auf europäischer Ebene von einem einheitlichen – also im Rahmen von Rechtshängigkeit und Rechtskraft identischen – Streitgegenstandsbegriff auszugehen wäre. Mit anderen Worten: ob das Verständnis des EuGH vom Streitgegenstand im Rahmen der Rechtshängigkeitssperre auch für eine autonome Rechtskraft maßgeblich sein müsste. Denn, wenn dem wiederum so wäre, würde die Kernpunkttheorie auch im Rahmen der Rechtskraft maßgeblich. Sodann unterstellt, der Streitgegenstandsbegriff beeinflusste auch die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft, könnten sich aus der Maßgeblichkeit der Kernpunkttheorie auch für die Rechtskraft Rückschlüsse auf die Tiefenwirkung einer autonomen Rechtskraft ergeben. Damit ließe sich die Frage, ob innerhalb eines unionsautonomen Rechtskraftkonzeptes Urteilsgründe in Rechtskraft erwachsen oder nicht, anhand der Kernpunkttheorie des EuGH beantworten.450
bb) Streitgegenstandsbegriff und Tiefenwirkung der Rechtskraft Dieser Argumentationsstruktur ist jedoch zu widersprechen. Der Streitgegenstandsbegriff beeinflusst die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft nicht.451 449 So Foerste, ZZP 1995, 167, 167; Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 95; ebenso Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125. 450 So offenbar Koops, IPRax 2018, 11, 14: „Auf Grundlage dieser Argumentation lässt sich aus den Entscheidungen, in denen er die Reichweite der Rechtshängigkeit autonom auf Vorfragen ausdehnte, auf eine ebenfalls weit zu bestimmende Rechtskraft schließen.“ Ders. spricht sich später (S. 20) jedoch dann gegen eine weite Bestimmung der Rechtskraft aus. 451 Ebenso Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209: „Umgekehrt hat die Frage, ob Vorfrageentscheidungen Bindungswirkungen entfalten können, prima vista nichts mit dem Streitgegenstandsbegriff zu tun: Was (bindende) Hauptfrage- und was (nicht bindende) Vorfrageentscheidung ist, kann nicht anhand der jeweils präferierten ein- oder zweigliedrigen, auf den Lebenssachverhalt abstellenden Streitgegenstandstheorie beantwortet werden.“; zustimmend Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554: „Bei der Präjudizialität sowie der Frage einer erweiterten Bindungswirkung der Rechtskraft handelt es sich nicht um originäre Probleme des Streitgegenstandes.“; ebenso Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125: „Teilweise wird – allerdings ohne Begründung – eine Relevanz des Streitgegenstandsbegriffes auch für die Tiefenwirkung der Rechtskraft behauptet. Dies ist unzutreffend.“
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
(1) Keine logisch zwingenden Vorgaben aus dem Streitgegenstandsbegriff für die Tiefenwirkung der Rechtskraft Gegen die Relevanz der Reichweite des Streitgegenstandes für die Bestimmung der (vertikalen) Reichweite der materiellen Rechtskraft sprechen schon Beobachtungen aus der Rechtsvergleichung.452 So wurde im französischen Recht etwa früher ein sehr enges Verständnis vom Streitgegenstand vertreten.453 Parallel dazu wurde die Rechtskraft dahingehend weit gefasst, dass auch (tragende) Urteilsgründe in Rechtskraft erwuchsen.454 Heute zeigt sich in diesen Fragen ein konträres Bild: Der Streitgegenstand wird sehr weit gefasst, die Rechtskraft hingegen strikt auf die im Tenor enthaltenen Entscheidungen beschränkt.455 Dieser Befund belegt, dass ein weiter Streitgegenstandsbegriff nicht zu einer weitreichenden Rechtskraft führt und auch ein enger Streitgegenstandsbegriff nicht dazu zwingt, die Rechtskraft eng zu fassen. Auch die umgekehrte Schlussfolgerung, ein weiter Streitgegenstandsbegriff bedinge eine enge Rechtskraft, lässt sich durch einen Blick ins deutsche Recht widerlegen: Hier werden sowohl der Streitgegenstand als auch die Rechtskraft traditionell eng gefasst.456 Diese Überlegungen zeigen, dass die Reichweite des jeweiligen Streitgegenstandsbegriffes zumindest keine logisch zwingenden Aussagen über die (vertikale) Reichweite der materiellen Rechtskraft macht.457 Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, ob sich aus der Reichweite des Streitgegenstandsbegriffes dennoch teleologische Vorgaben für die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft ableiten lassen. Deutlich wurde lediglich, dass aus dem Streitgegenstandsbegriff nichts abgeleitet werden muss. Ob man sich jedoch am Streitgegenstandsbegriff orientieren sollte, ist weiterhin offen. Es stellt sich also unabhängig von logisch zwingenden Rückschlüssen die Frage, ob ein weiter Streitgegenstandsbegriff im Rahmen der Rechtskraft schlicht besser mit einer weitreichenden, die Gründe einschließenden Bindung durch die Rechtskraft harmoniert. Weit wäre der Streitgegenstandsbegriff jedenfalls dann, wenn man die zur Rechtshängigkeit entwickelte Kernpunkttheorie auch auf die Rechtskraft anwenden wollte.
452 Ähnlich
Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125 f. Zur Entwicklung siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 454 Vgl. hierzu ausführlich unten dritter Teil, B. III. 455 Vgl. hierzu ausführlich unten dritter Teil, B. III. 456 Zum Streitgegenstand im deutschen Recht siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. a); zum Rechtskraftumfang im deutschen Recht ausführlich unten dritter Teil, A. 457 So auch Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125 f. 453
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(2) Keine teleologisch sinnvollen Vorgaben aus der Kernpunkttheorie für die Tiefenwirkung der Rechtskraft Vor der Frage, ob sich aus der Kernpunkttheorie Argumente für oder gegen eine Rechtskraft von Urteilsgründen ableiten lassen, stellt sich die Frage, ob die Kernpunkttheorie überhaupt in den Bereich der Rechtskraft übertragen werden sollte oder kann.458 Im Ergebnis sind jedoch beide Fragen zu verneinen.459 Die Kernpunkttheorie eignet sich nicht für die Anwendung innerhalb der Rechtskraft und macht überdies auch keine teleologisch sinnvollen Vorgaben für die Tiefenwirkung der Rechtskraft.
(a) Übertragung der Kernpunkttheorie in den Bereich der Rechtskraft – Einheitlicher Streitgegenstandsbegriff für Rechtshängigkeit und Rechtskraft? Die Rechtshängigkeitssperre verhindert parallele Verfahren über ein und denselben Streitgegenstand während des Rechtsstreits zwischen den Parteien. Nach Abschluss des Verfahrens gewährleistet die materielle Rechtskraft, dass keine erneute Entscheidung zum selben Streitgegenstand ergeht. Obwohl sich die beiden Rechtsinstitute daher vor allem in ihrem zeitlichen Anwendungsbereich unterscheiden, gleichen sie sich in ihrer Zielrichtung:460 Sie dienen der Verhinderung einander widersprechender Entscheidungen. Ob Rechtshängigkeit und Rechtskraft die Anhängigmachung eines anderen Verfahrens sperren, hängt davon ab, ob der Streitgegenstand des rechtshängigen oder entschiedenen Streites und der Streitgegenstand des weiteren Verfahrens identisch sind oder nicht. An dieser Stelle zeigt sich also eine weitere Verbindung der beiden Rechtsinstitute: Die Maßgeblichkeit des Streitgegenstandsbegriffes. Unabhängig davon, wie man den Begriff „Streitgegenstand“ ausfüllen mag, lässt sich darüber nachdenken, ob sowohl im Rahmen der Rechtshängigkeit als auch im Rahmen der Rechtskraft von ein und demselben Streitgegenstandsbegriff ausgegangen werden sollte461 oder ob es auch möglich ist, je nach einschlägigem Rechtsinstitut, verschiedene Streitgegenstandsbegriffe zugrunde zu legen.462 Die Verwendung unterschiedlicher Streitgegenstandsbegriffe 458 Zu dieser Frage auch Zeuner, FS Kerameus (2009), 1587, 459 Ebenso Zeuner, FS Kerameus (2009), 1587, 1597, 1601.
1590 ff.
460 Stamm, ZZP 2016, 25, 39 spricht von „Kehrseiten ein und derselben Medaille“; vgl. zum Zweck der (internationalen) Rechtshängigkeit auch Buschmann, Rechtshängigkeit im Ausland, S. 3 f. und 31 ff. 461 Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 95: „Streitgegenstand ist auch der potentielle Urteilsgegenstand oder der hypothetische Rechtskraftgegenstand. Es liegt deshalb nahe, den Streitgegenstand für Rechtshängigkeit und Rechtskraft gleich zu bestimmen.“; Oberhammer, IPRax 2002, 424, 430 weist zudem auch auf den historischen Zusammenhang hin, weil „sich die Rechtskraftdogmatik (vereinfachend gesagt) ja aus dem Gedanken entwickelt [hat], die Rechtshängigkeit wirke über das Prozeßende hinaus“; Oberhammer, JBl. 2000, 205, 219. 462 So die Vertreter der sog. relativen Streitgegenstandstheorien, vgl. hierzu oben zweiter Teil, B. III. 3. a) cc) (3).
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führt zu unterschiedlich weit reichenden Sperrwirkungen: Legt man etwa im Rahmen der Rechtshängigkeit einen weiteren und im Rahmen der Rechtskraft einen engeren Streitgegenstandsbegriff zugrunde, ist die Sperrwirkung während des Verfahrens umfassender als nach Abschluss des Rechtsstreites, weil hier durch die Anwendung eines engeren Streitgegenstandsbegriffes im Rahmen der Rechtskraft nun höhere Voraussetzungen an die Identität der Streitgegenstände gestellt werden.463 Im nationalen deutschen Recht sprechen sich die herrschende Meinung in der Literatur und die Rechtsprechung für einen einheitlichen Streitgegenstandsbegriff unabhängig vom jeweiligen Prozessrechtsinstitut aus.464 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die oben dargestellte Kritik, die Kernpunkttheorie beeinträchtige den Zusammenhang zwischen Rechtshängigkeit und Rechtskraft sowie verschiedene Überlegungen zu den Auswirkungen der Kernpunkttheorie auf den nationalen Streitgegenstandsbegriff.465 Aufgrund dieser Argumente und der engen Verbindung der beiden Rechtsinstitute über den Streitgegenstand könnte der vom EuGH entwickelte Streitgegenstandsbegriff daher auch für die Bestimmung der Reichweite einer autonomen, materiellen Rechtskraft maßgeblich sein.466 Die (ausschließlich) für die Bedürfnisse der Rechtshängigkeit entwickelte Kernpunkttheorie des EuGH eignet sich jedoch nicht für eine Übertragung in den Bereich der Rechtskraft.467 Dies zeigt sich bereits an einem einfachen Beispiel: Der EuGH geht in Tatry davon aus, die Rechtshängigkeit einer Feststellungsklage sperre die Anhängigmachung einer Leistungsklage, wenn diese denselben Gegenstand betreffen.468 Dieses Verständnis auf die Rechtskraft zu übertra463
In diese Richtung Koops, IPRax 2018, 11, 14; Oberhammer, IPRax 2002, 424, 430. Nachweise in Fn. 320; im Übrigen Walker, ZZP 1998, 429, 449; Stamm, ZZP 2016, 25, 39; dahingehend auch Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 95, der gleichwohl festhält, dass es bei einer – von ihm geforderten (S. 94) – Übertragung der Kernpunkttheorie in den Bereich der nationalen Rechtshängigkeit zunächst bei einem „gespaltenen Streitgegenstandsbegriff“ bleiben müsse (S. 99), weil die Kernpunkttheorie de lege lata nicht mit der deutschen Konzeption der Rechtskraft vereinbar sei (S. 97 f.); generell für die Anwendung unterschiedlicher Streitgegenstandsbegriffe argumentieren die Vertreter der sog. relativen Streitgegenstandstheorien, vgl. hierzu bereits oben zweiter Teil, B. III. 3. a) cc) (3). 465 Vgl. hierzu zum Beispiel Walker, ZZP 1998, 429; Rüssmann, ZZP 1998, 399; Heiderhoff, ZZP 1998, 455; Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 94; Stürner, FS Lüke (1997), 829, 835 ff.; für das österreichische Recht vgl. Böhm in Bajons/Mayr/Zeiler, EuGVÜ und LugÜ, 1997, 141. 466 So Oberhammer, IPRax 2002, 424, 431: „Korrespondierend zur internationalen Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ sollte auch eine internationale Rechtskraftwirkung mit einheitlichen an der ‚Kernbereichslehre‘ orientierten objektiven Grenzen angenommen werden“. 467 Ebenso Zeuner, FS Kerameus (2009), 1587, 1597, 1601; gegen eine Übertragung der Kernpunkttheorie in den Bereich der (nationalen) Rechtskraft auch Gottwald, Symposium Schwab (2000), 85, 99 f.; ebenso Roth, IPRax 2014, 136, 139. 468 EuGH, Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460, Rz. 42 ff. 464 Vgl. die
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gen, hätte die kuriose Folge, dass nach einer rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsklage die darauffolgende Leistungsklage gesperrt wäre. Nach einer rechtskräftigen Feststellung, zwischen zwei Parteien bestehe ein wirksamer Kaufvertrag, könnte somit keine der Parteien später aus diesem Vertrag auf Leistung klagen, da diese Klage denselben „Kern“ wie die rechtskräftige Feststellungsklage hat und bei einer Übertragung der Kernpunkttheorie in den Bereich der Rechtskraft durch die Rechtskraft der vorherigen Feststellungsklage gesperrt würde. Die Kernpunkttheorie, die schon für die Rechtshängigkeit als zu weit empfunden wurde, mag dort aufgrund der temporären Sperrwirkung noch hinnehmbar sein. Für die Rechtskraft scheidet dasselbe weite Streitgegenstandsverständnis aufgrund deren endgültiger Sperrwirkung jedoch aus. Dass insoweit im Bereich der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft also verschiedene Streitgegenstandsbegriffe angewendet werden, ist indes auch kein Novum: Bislang entnehmen die Gerichte den für die Rechtskraft maßgeblichen Streitgegenstandsbegriff auch nicht dem autonomen europäischen, sondern dem jeweiligen nationalen Prozessrecht.469 Doch selbst wenn man die Kernpunkttheorie entgegen der hier dargestellten Ansicht in den Bereich der Rechtskraft übertragen wollte, ließen sich hieraus keine Argumente für oder gegen die Rechtskraft von Urteilsgründen gewinnen.
(b) Keine Vorgaben für die Tiefenwirkung aus der Kernpunkttheorie auch im Fall einer Übertragung in den Bereich der Rechtskraft Das konkrete Ausmaß der mit der Anwendung der Kernpunkttheorie einhergehenden Sperrwirkung ist vom EuGH bislang nur für das Verhältnis von Feststellungs- und Leistungsklage entschieden worden.470 Hiernach haben beide Klagen denselben Gegenstand, wenn mit der Feststellungsklage eine Frage beantwortet werden soll, die als Vorfrage (auch) im Rahmen der Leistungsklage zu klären wäre. Fraglich ist, ob dasselbe gälte, wenn es um die Konkurrenz zweier Leistungsklagen ginge.471 Stünde insofern die Rechtshängigkeit einer 469 Selten wird dabei jedoch – wohl infolge fehlender einheitlicher Terminologie auf europäischer Ebene – explizit davon gesprochen, dass (auch) das Verständnis vom „Streitgegenstandsbegriff“ durch die Wirkungserstreckung importiert werde. Oftmals wird (nur) darauf verwiesen, dass die Rechtskraftwirkungen – und mit ihnen auch die Sperrwirkung bei identischem Streitgegenstand – anerkannt werden müssten, vgl. z. B. Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 12: „Anzuerkennen ist also die Verbindlichkeit des Urteils, die sich gegebenenfalls im Grundsatz ne bis in idem, in der Bindungswirkung bei Präjudizialität sowie in der Präklusion von Angriffs- und Verteidigungsmitteln äußert.“ Das ist insofern richtig, als die Frage, worüber das Ursprungsgericht entschieden hat („Streitgegenstandsbegriff“), sinnvollerweise auch der lex fori des Ursprungsgerichts entnommen werden sollte. 470 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871; EuGH, Rs. C-406/92 („Tatry“), Slg. 1994, I-5460. 471 Bejahend OGH IPRax 2007, 134 für Klage auf Zahlung des restlichen Werklohns und Klage auf Rückforderung der Anzahlung sowie Schadensersatz wegen Schlechterfüllung;
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Klage auf Kaufpreiszahlung einer Klage auf Schadensersatz wegen Schlechterfüllung desselben Vertrages entgegen? Dahinter steckt die eigentliche Frage, ob (allein) der Umstand, dass für die Entscheidung zweier verschiedener (Leistungs-)Klagen dieselbe Vorfrage zu beantworten ist, schon dazu führt, dass die beiden Klagen denselben Gegenstand betreffen. Bejaht472 man diese Frage und versteht die Kernpunkttheorie in dieser Weise, wird die Frage nach einer eigenen Rechtskraft von Urteilsgründen vollkommen irrelevant. Denn wenn schon die Relevanz derselben Vorfrage zum Vorliegen desselben Streitgegenstandes führt und damit die Sperrwirkung der Rechtskraft auslöst, wird schlicht kein Verfahren mehr zulässig sein, in welchem es auf die Beantwortung der Vorfrage – und damit auf eine mögliche Bindung an vorherige Entscheidungen – ankäme. Mit anderen Worten: Wenn dieselbe Vorfrage schon zur Unzulässigkeit der Hauptfrage führt, stellt sich die Frage, ob das Gericht bei der Beantwortung der Vorfrage eventuell gebunden wäre, überhaupt nicht mehr. Verneint473 man obige Frage und stellt darauf ab, ob einander widersprechende Entscheidungen i. S. d. Art. 45 Abs. 1 it. c EuGVVO zu befürchten sind,474 wäre das Vorliegen desselben Gegenstandes nur dann zu bejahen, wenn in einem der beiden Verfahren mit der (isolierten) rechtskräftigen Feststellung der Vorfrage zu rechnen ist.475 Bislang wäre in Ermangelung eines einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriffes daher auf die jeweilige lex fori abzustellen und Streitgegenstandsidentität nur dann zu bejahen, wenn die lex fori eine Rechtskraft von Vorfragen vorsieht.476 Bei Anwendung eines einheitlichen weiten Rechtskraftbegriffes, der auch die Rechtskraft der einzelnen Vorfragen vorsieht, bestünde bei Überschneidung von Vorfragen immer die Gefahr einander widersprechender Urteile und damit wiederum immer derselbe Gegenstand. Würde man dagegen einen einheitlich engen Rechtskraftbegriff verwenden, wäre eine Unvereinbarkeit aufgrund rechtskräftiger Vorfragenentscheidungen hingegen nicht zu befürchten. Die beiden Alternativen sind jedoch rein deskriptiv und lassen nicht aus sich heraus einen Schluss auf die zu bevorzugende kritisch hierzu Kondring, IPRax 2007, 138, 143 ff.; verneinend OLG Hamm, Beschluss vom 25.07.2003, 19 W 11/03 = BeckRS 2003, 18010 für Klage auf Zahlung des Restkaufpreises und Klage auf Schadensersatz wegen mangelhafter Lieferung; für eine genaue Prüfung im Einzelfall Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 29 EuGVVO, Rn. 7. 472 Wie etwa der OGH in IPRax 2007, 134. 473 Wie etwa das OLG Hamm, Beschluss vom 25.07.2003, 19 W 11/03 = BeckRS 2003, 18010. 474 Dahingehend Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 29 EuGVVO, Rn. 7; Kondring, IPRax 2007, 138, 145 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 25.07.2003, 19 W 11/03, Rn. 8 = BeckRS 2003, 18010. 475 Zu den Fragen, inwieweit die Unvereinbarkeit i. S. d. Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO von der Rechtskraft abhängt und nach möglichen Vorgaben für die Tiefenwirkung der Rechtskraft aus der Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit sogl. unten zweiter Teil, B. III. 4. 476 So Kondring, IPRax 2007, 138, 145.
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Tiefenwirkung einer autonomen Rechtskraft zu. Sie demonstrieren vielmehr, dass die Wechselwirkungen zwischen Streitgegenstandsbegriff und Rechtskraft zwar mitgedacht, die Tiefenwirkung letzterer aber anhand abstrakt-funktionaler Argumente und nicht anhand eines wie auch immer formulierten Streitgegenstandsbegriffes bestimmt werden sollte.477
g) Ergebnis Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Aussage, der Streitgegenstand bestimme die Reichweite der materiellen Rechtskraft, nur teilweise zutreffend ist. Richtig ist, dass der Streitgegenstandsbegriff die Breitenwirkung der Rechtskraft beeinflusst. Für die Tiefenwirkung der Rechtskraft liefert das jeweilige Verständnis vom Streitgegenstand demgegenüber keine Vorgaben.478 Die Untersuchung ergab zudem, dass die Kernpunkttheorie nicht in den Bereich der Rechtskraft zu übertragen ist. Insofern kann als Ergebnis festgehalten werden, dass sich aus der Kernpunkttheorie des EuGH keine Antworten auf die Frage ableiten lassen, ob innerhalb eines autonomen europäischen Rechtskraftkonzeptes Entscheidungsgründe eigenständig in Rechtskraft erwachsen oder nicht.479
4. Rückschlüsse aus der Unvereinbarkeit? Nach Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO kann einer Entscheidung die Anerkennung versagt werden, wenn sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien im ersuchten Mitgliedstaat ergangen ist. Aus der Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Unvereinbarkeit zweier Entscheidungen könnten sich unter zwei Prämissen Rückschlüsse auf dessen Rechtskraftverständnis ziehen lassen.480 Wenn nämlich der Begriff der „Unvereinbarkeit“ erstens als Konflikt rechtskräftiger Feststellungen zweier Entscheidungen aufzufassen wäre und zweitens für die Identifikation der rechtskräftigen Entscheidungswirkungen nicht auf nationales Prozessrecht, sondern auf einen europäischen Rechtskraftbegriff abzustellen wäre, könnten der Rechtsprechung des EuGH zumindest punktuelle Vorstellungen des EuGH über die Reichweite einer europäischen Rechtskraft entnommen werden. Die genauen Konturen des Begriffes „Unvereinbarkeit“ sind jedoch noch nicht hinreichend geklärt und infolgedessen auch beide Prämissen fraglich. 477 Ebenso 478 Ebenso
Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209. Oberhammer, JBl. 2000, 205, 209; Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 125; ähnlich Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554. 479 Ebenso Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289; Schack, ZZP 1994, 279, 296 Fn. 117. 480 Ähnlicher Ansatz bei Koops, IPRax 2018, 11, 17 ff.
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a) Begriff der Unvereinbarkeit Zwar existieren mehrere Entscheidungen des Gerichtshofes, in denen er sich mit der Unvereinbarkeit von Entscheidungen auseinandersetzt,481 gleichwohl ist nicht eindeutig, wie der Begriff der Unvereinbarkeit genau auszufüllen ist.482 Der wohl überwiegende Teil der Literatur geht davon aus, der Begriff sei autonom483 und eng484 auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien Entscheidungen dann miteinander unvereinbar, wenn sie „Rechtsfolgen haben, die sich gegenseitig ausschließen“.485 Darüber hinaus müsse sich der Widerspruch zwischen den Entscheidungen aus den Urteilswirkungen ergeben.486 Unklar und umstritten ist jedoch, wie oder wonach die „Rechtsfolgen“ oder „Urteilswirkungen“ konkret zu bestimmen sind. Denkbar sind hier im Wesentlichen drei Alternativen: Entweder man versteht „Unvereinbarkeit“ als Rechtskraftkonflikt der nach der lex fori des Urteilsstaates bestimmten Entscheidungswirkungen487 oder als Rechtskraftkon481 Vgl. etwa EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645; EuGH, Rs. C-80/00 („Italian Leather“), Slg. 2002, I-04995. 482 Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 85: „nicht ausreichend geklärt“; MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 46: „zweifelhaft“; Martiny, Handbuch IZVR, Bd. III/2, Rn. 140: „Über diese tastenden, einzelfallorientierten Aussagen hinaus ist noch keine generelle Aussage zur Unvereinbarkeit möglich.“; Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 194: „[…] im Einzelnen noch unklar.“ 483 So Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 86; MüKo/ Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 46; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 14; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 63; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 34 EuGVO, Rn. 49; Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 194; Lenenbach, Unvereinbarkeiten, S. 114 ff., 120; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 21 f.; Mauro, Gaz. Pal. 1980, 144, 145; Huet, Clunet 1988, 537, 538; vgl. zum Ganzen auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 150 ff.; zum Begriff der Unvereinbarkeit vgl. auch Hartley, Civil Jurisdiction and Judgments in Europe, Rn. 18.50 ff.; Dickinson/Lein/Fitchen, Brussels I, Art. 45, Rn. 13.341 ff. 484 So MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 51; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 63; Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 85; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 34 EuGVO, Rn. 49; Koops, IPRax 2018, 11, 18; Althammer, FS Kaissis (2012), 23, 27 und 32; a. A. Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 163; auf weite Auslegung durch den EuGH verweisend, Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 55. 485 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 22; EuGH, Rs. C-80/00 („Italian Leather“), Slg. 2002, I-04995, Rn. 40. 486 EuGH, Rs. C-80/00 („Italian Leather“), Slg. 2002, I-04995, Rn. 44; ebenso MüKo/ Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 46; Saenger/Dörner, ZPO, 8. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 23; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 34 EuGVO, Rn. 49; Rauscher/ Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 63; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 14. 487 So die wohl herrschende Meinung im (dt.) Schrifttum, vgl. etwa Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 87; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 14; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 34 EuGVO, Rn. 49; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 63; Saenger/Dörner, ZPO, 8. Aufl.,
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flikt autonom bestimmter Rechtskraftwirkungen488 oder aber man definiert den Begriff losgelöst von der Rechtskraft anhand anderer Kriterien489. Rückschlüsse auf ein vom EuGH möglicherweise verfolgtes autonomes Rechtskraftkonzept sind nur bei Zugrundelegung der zweiten Alternative möglich.
b) Unvereinbarkeit als Rechtskraftkonflikt? Aus dem Jenard-Bericht lassen sich für diese Frage nur schwerlich konkrete Vorgaben gewinnen: Zwar weist er darauf hin, dass die betreffenden Entscheidungen nicht nur dann unvereinbar sind, wenn sie denselben Streitgegenstand haben.490 Das dort genannte Beispiel lässt allerdings keinen eindeutigen Schluss darauf zu, ob für die Bestimmung der Urteilswirkungen vom nationalen Prozessrecht ausgegangen oder ein autonomes Verständnis zugrunde gelegt werden muss.491 Nach jenem Beispiel bestehe Unvereinbarkeit zwischen einem belgischen Urteil, das Schadensersatz wegen der Nichterfüllung eines Vertrages gewährt, und einem französischen Urteil, das denselben Vertrag zwischen den Parteien für unwirksam erklärt hat.492 Da (zum Zeitpunkt des Jenard-Berichtes)493 sowohl das belgische als auch das französische Recht die Rechtskraft auch auf tragende Entscheidungsgründe erstreckten, kann nicht eindeutig gesagt werden, dass zur Bestimmung der Urteilswirkungen nicht auf das Prozessrecht des Urteilsstaates abzustellen, sondern ein autonomes – Vorfragen einschließendes – Verständnis maßgeblich sei.494 Der EuGH scheint indes nicht auf die jeweiligen Regeln des nationalen Prozessrechtes zurückzugreifen. In Hoffmann/Krieg bejahte er die Unvereinbarkeit Art. 45 EuGVVO, Rn. 23; Martiny, Handbuch IZVR, Bd. III/2, Rn. 137; Koops, IPRax 2018, 11, 18. 488 Dahingehend insb. Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 163 ff.; MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 51 schlägt indes vor, sich nur „im Ansatz an den Rechtskraftgrenzen der beteiligten Länder und einem darauf aufbauenden autonomen Konzept der materiellen Rechtskraft [zu] orientieren“; in diese Richtung wohl auch Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 196, welcher für die Frage der Rechtsfolgen zwar auf das Recht des Urteilsstaates abstellt, die Frage, ob sich die so bestimmten Urteilswirkungen ausschließen, jedoch anhand „verordnungseinheitliche[r] Kriterien, die letztlich der EuGH herausarbeiten muss“, bestimmen möchte. 489 In diese Richtung Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 211 ff., welcher hierzu die Fallgruppen der „deckungsgleichen Rechtsschutzinteressen“ und der faktischen Aushöhlung entwickelt. 490 Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1, 45. 491 Ebenso Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 151 f.; vgl. hierzu auch Martiny, Handbuch IZVR, Bd. III/2, Rn. 139 f. 492 Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1, 45. 493 Zum Wandel der Rechtslage in Frankreich ausführlich unten dritter Teil, B. III. 4. 494 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 151 f.; Koops, IPRax 2018, 11, 18, Fn. 102 erkennt die verschiedenen Deutungsalternativen, meint aber, Jenard habe nicht von einem reinen Rechtskraftkonflikt ausgehen wollen.
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eines in Deutschland ergangenen Unterhaltsurteils mit einem in den Niederlanden ergangenen Scheidungsurteil.495 Die deutsche Entscheidung, „die notwendigerweise das Bestehen des ehelichen Bandes voraussetzt, müßte nämlich vollstreckt werden, obwohl dieses Band bereits durch eine Entscheidung gelöst worden ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird [den Niederlanden], ergangen ist“.496
Bei Zugrundelegung der deutschen Vorstellungen über die Reichweite der rechtskräftigen Feststellungen des Unterhaltsurteils hätte sich demgegenüber kein Konflikt mit dem niederländischen Scheidungsurteil ergeben, weil hiernach die Vorfrage, ob die Ehe noch besteht oder nicht, eben nicht eigenständig in Rechtskraft erwächst.497 Und in Gubisch/Palumbo ging der EuGH davon aus, dass eine Entscheidung, die zur Erfüllung eines Vertrages verurteilt, mit einer weiteren Entscheidung, die diesen Vertrag für unwirksam erklärt, unvereinbar wäre.498 Auch hier scheint der EuGH eher auf die „innere Stimmigkeit der Prozeßergebnisse“499 denn auf die (nach der lex fori bestimmten) Rechtskraftwirkungen der Urteile abzustellen. Aus diesem Befund allein lässt sich allerdings kaum darauf schließen, der EuGH lege seiner Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit stillschweigend ein autonomes Rechtskraftkonzept zugrunde.500 Naheliegender und in Anbetracht eines fehlenden – über (spärliche) Kasuistik des EuGH hinausgehenden – autonomen Konzepts zur Bestimmung derjenigen Urteilswirkungen, die in die Beurteilung der Unvereinbarkeit miteinbezogen werden müssen, ist es de lege lata praktikabler und rechtsicherer, auf die lex fori des Urteilsstaates abzustellen und dasjenige als Rechtsfolge zu verstehen, was hiernach rechtskräftig festgestellt wurde.501
c) Ergebnis – Keine Rückschlüsse aus Rechtsprechung zur Unvereinbarkeit Nach alledem ist die Frage, ob aus der Rechtsprechung des EuGH zum Begriff der Unvereinbarkeit Rückschlüsse auf die Reichweite eines vom europäi495 496
EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 25. EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 24. 497 Kritisch daher z. B. Lenenbach, Unvereinbarkeiten, S. 131 ff.; Schack, IPRax 1989, 139, 141; vgl. auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 171 ff. 498 EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rn. 18. 499 So Schack, IPRax 1989, 139, 141 zur Entscheidung in Hoffmann/Krieg. 500 So im Ergebnis auch Koops, IPRax 2018, 11, 19. 501 Deutlich Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 87: „Es muss deshalb m. E. (solange es noch kein europäisches Rechtskraftkonzept gibt) dabei bleiben, dass die Rechtsfolgen der potentiell konfligierenden Entscheidungen i. S. d. EuGHRspr. gemäß dem Grundsatz der Wirkungserstreckung nach dem Verfahrensrecht des jeweiligen Urteilsstaates zu beurteilen sind.“; ebenso Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 45 EuGVVO, Rn. 14; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 63; Martiny, Handbuch IZVR, Bd. III/2, Rn. 137; Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 196.
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schen Gerichtshof intendierten unionsautonomen Rechtskraftbegriffes möglich sind, zu verneinen. Unklar ist insofern nämlich schon, ob der EuGH selbst überhaupt an die rechtskräftigen Urteilsfolgen anknüpft, wenn er die Unvereinbarkeit zweier Entscheidungen beurteilt. Sofern Unvereinbarkeit jedoch als Widerspruch rechtskräftiger Urteilswirkungen aufgefasst wird, ist der Rechtsprechung des EuGH nicht wesentlich mehr zu entnehmen, als die bereits entschiedenen Fallkonstellationen.502 Verwertbare Vorgaben für die Reichweite einer unionsautonomen Rechtskraftkonzeption lassen sich dem nicht entnehmen.503 Brauchbare Ergebnisse liefert (bislang) nur der Rückgriff auf die nationalen Rechtskraftgrenzen des Urteilsstaates.504
5. Ergebnis der Bestandsaufnahme Ziel der obigen Bestandsaufnahme war es, die Rechtsprechung des EuGH zur Rechtskraft und zu benachbarten Instituten auf mögliche Vorgaben für ein autonomes Rechtskraftkonzept zu untersuchen. Verkürzt lässt sich als Ergebnis dieser Analyse festhalten, dass – bis auf die ohnehin fragwürdige Entscheidung des EuGH in Gothaer – bislang keine Vorgaben für die Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes bestehen.505 Das System, das der EuGH unter dem Begriff „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ schlicht in das Anerkennungsregime der EuGVVO übertragen möchte, ist schon im Hinblick auf dessen Anwendungsbereich und dessen grundsätzliche Zielrichtung mit der Rechtskraftwirkung nationaler Urteile nur schwer vergleichbar. Weder überzeugt daher dessen Übertragung in die EuGVVO noch ließen sich damit belastbare Aussagen zur konkreten Reichweite einer europäischen Rechtskraft machen. Die Rechtsprechung des EuGH zum Streitgegenstandsbegriff („Kernpunkttheorie“) gibt aus zweierlei Gründen ebenfalls nichts vor. Erstens eignet sich die zur Rechtshängigkeit entwickelte Kernpunkttheorie nicht für eine Anwendung im Rahmen der Rechtskraft. Zweitens bestimmt der jeweils bevorzugte Streitgegenstandsbegriff nicht über die vertikale Reichweite (Tiefenwirkung) der materiellen Rechtskraft. Ähnliches lässt sich auch für die Rechtsprechung des EuGH zur Unvereinbarkeit festhalten. Diese liefert deshalb keine Vorgaben für die Reichweite einer europäischen Rechtskraft, weil schon unklar ist, ob der EuGH zur Bestimmung 502 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 176. 503 Gegen einen Gleichlauf von Unvereinbarkeit und Rechtskraft auch Koops, IPRax 2018, 11, 19; a. A. Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 163 ff. 504 Ebenso Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 87. 505 Dahingehend für das EuGVÜ bereits Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 209 f.; zur EuGVVO a. F. auch Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 34 EuGVVO, Rn. 87.
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Zweiter Teil: Rechtskraft im Europäischen Zivilprozess
der Unvereinbarkeit überhaupt von Rechtskraftwirkungen und damit einem Zusammenhang zwischen den beiden Instituten ausgeht. Unabhängig davon, welche Aussagekraft gewissen Tendenzen innerhalb der Rechtsprechung des EuGH für die Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes zugekommen wäre, muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich der Rechtsprechung des EuGH bislang keine belastbaren Vorgaben für die Tiefenwirkung einer europaweit einheitlichen Rechtskraft entnehmen lassen.506 Dieses Ergebnis deckt sich auch mit dem – unten507 noch ausführlicher darzustellenden – Umstand, dass die EuGVVO auf ein Funktionieren ohne einheitlichen Rechtskraftbegriff ausgelegt ist.508 Der Rückgriff auf die Rechtskraftregeln der lex fori im Sinne der Wirkungserstreckung ist insoweit ausreichend – könnte der Anwendung eines de lege ferenda entwickelten, autonomen Rechtskraftbegriffes jedoch möglicherweise praktisch unterlegen sein.509
C. Zusammenfassung Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht Der Begriff „Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht“ lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Innerhalb abstrakt-genereller Überlegungen zur Erarbeitung eines zivilprozessualen Gesamtsystems für Europa muss der Begriff – schon zur schlichten Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems – definiert werden. Dieselbe Notwendigkeit besteht im Hinblick auf die EuGVVO nicht gleichermaßen zwingend. Bei stringenter Anwendung der Wirkungserstreckungstheorie stellt sich die Frage nach einer unionsautonomen Rechtskraft letztlich gar nicht. Nichtsdestotrotz hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung in Gothaer genau diese Frage aufgeworfen. Die Analyse der übrigen Rechtsprechung und der Verordnung selbst zeigt jedoch, dass – auch wenn der EuGH dies mit der Verwendung des Begriffes „Rechtskraftbegriff des Unionsrechts“ suggerieren mag – de lege lata weder ein in sich schlüssiges Gesamtsystem zur „Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht“ noch (zwingende) Vorgaben für die Formulierung eines solchen Begriffes de lege ferenda existieren. Insofern gleichen sich die jeweiligen Ausgangspositionen für weitere Überlegungen zu einem europäischen Rechtskraftbegriff unabhängig von dessen Anwendungsbereich entweder innerhalb zu schaffender Modellregeln oder innerhalb der EuGVVO. Für beide Felder gilt, dass die Entscheidung über die 506 Ebenso
Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289.
507 Unten vierter Teil, A. I. 508 Ebenso Peiffer, Grenzüberschreitende 509
Titelgeltung, Rn. 289. Hierzu ausführlich unten vierter Teil, A. II.
C. Zusammenfassung Rechtskraft im Europäischen Zivilprozessrecht
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Reichweite der materiellen Rechtskraft nicht durch bestehende, zwingende Systemvorgaben determiniert ist und deshalb durch Abwägung abstrakt-funktionaler Argumente getroffen werden muss. Diese Argumente sind aus einer rechtsvergleichenden Untersuchung nationaler Regelungen der europäischen Mitgliedstaaten zu gewinnen. So können Vor- und Nachteile verschiedener Konzepte identifiziert und auf bestehende Schwierigkeiten reagiert werden. Überdies lässt sich möglicherweise ein „gemeinsamer europäischer Nenner“ bilden, der Anwendung und Implementierung des auf diesem Wege formulierten Rechtskraftbegriffes deutlich erleichtern würde. Denn es ist anzunehmen, dass die Übernahme europäischer Modellregeln in die nationalen Systeme wahrscheinlicher und die praktische Arbeit mit einem autonomen Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO einfacher würde, je weniger die Reichweiten der nationalen und der europäischen Rechtskraft differieren. Schon diese Überlegung macht die rechtsvergleichende Analyse der Tiefenwirkung innerhalb der nationalen Systeme erforderlich.
Dritter Teil
Rechtsvergleichende Untersuchung zur Rechtskraft von Entscheidungsgründen im deutschen und französischen Zivilprozessrecht und Überblick über die Tiefenwirkung der Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten Die vergleichende Untersuchung der Tiefenwirkung der Rechtskraft innerhalb nationaler Systeme dient nicht allein zur Bildung eines „gemeinsamen Nenners“, den ein de lege ferenda geschaffener unionsautonomer Rechtskraftbegriff dann sozusagen abbilden müsste. Die Analyse der nationalen Diskussionen über die Reichweite der materiellen Rechtskraft ermöglicht indes auch die Identifizierung der jeweils maßgeblichen Argumente für und gegen die jeweils gewählte Konstruktion. Sie hat freilich auch zu erfolgen, um die jeweiligen Probleme, Vorteile und Defizite unterschiedlicher Ansätze gegenüberstellen zu können und eine Abwägung zu ermöglichen. Die so gewonnenen Ergebnisse sollen sodann geordnet, verglichen und auf ihre Maßgeblichkeit auf europäischer Ebene untersucht werden, um letztlich eine Empfehlung dafür abgeben zu können, welche Reichweite ein gesamteuropäischer Rechtskraftbegriff haben sollte. Von diesen Überlegungen ausgehend sollen im Folgenden die objektiven Grenzen1 der materiellen Rechtskraft in verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen untersucht werden. Der Fokus liegt hierbei auf der Untersuchung des deutschen und des französischen Rechts. Darüber hinaus sollen jedoch auch die Antworten weiterer Rechtsordnungen wie etwa des österreichischen, italienischen, spanischen und englischen Rechts auf die Frage nach der Reichweite der Rechtskraft dargestellt werden. Es wird sich zeigen, dass Veränderungen des französischen Zivilprozessrechts und politische Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union einen Konsens in dieser Frage greifbarer erscheinen lassen als bisher. Zudem wird die Analyse der deutschen Entscheidung für eine eng begrenzte Rechtskraft und der französischen Entwicklung hin zu einer ebenfalls engeren Rechtskraftwirkung funktionale Argumente für eine ebenfalls eng zu fassende europäische Rechtskraft liefern.
1
Nach eingangs (oben vor dem ersten Teil) dargestelltem Verständnis.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht § 322 ZPO Materielle Rechtskraft (1) Urteile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage oder durch die Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist. (2) Hat der Beklagte die Aufrechnung einer Gegenforderung geltend gemacht, so ist die Entscheidung, dass die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist, der Rechtskraft fähig.
Im deutschen Zivilprozessrecht beschränkt sich die materielle Rechtskraft auf den Urteilstenor; Urteilsgründe nehmen nicht an der materiellen Rechtskraft teil.2 Dies gilt unabhängig davon, ob sie den Tenor tragen oder dessen logische Grundlage sind. Jene formal-restriktive Ausgestaltung der Rechtskraftgrenzen ergibt sich vor allem aus der Entstehungsgeschichte, die ihren Niederschlag im Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO („nur insoweit“) gefunden hat. Vor Inkrafttreten der ZPO war die Reichweite der materiellen Rechtskraft Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion, welche der Gesetzgeber mit seiner Formulierung des § 322 Abs. 1 ZPO beendet hat (hierzu unten I.). Für verschiedene Fallkonstellationen wurden oder werden die Grenzen der Rechtskraft als zu eng empfunden und so wurden diese auch nach Inkrafttreten der ZPO hinterfragt und über partielle Erweiterungen diskutiert (hierzu unten II.). Trotz verschiedener Vorschläge, die Reichweite der Rechtskraft für Teilbereiche auszudehnen, wird der Grundsatz, dass Gründe nicht in Rechtskraft erwachsen, bis heute konsequent beachtet und nur wenige Ausnahmen zugelassen (hierzu unten III.).
I. Historische Entwicklung Das Meinungsbild zur Frage, wie „tief“ die Rechtskraft eines deutschen Zivilurteils reichen sollte, lässt sich für die Zeit vor Inkrafttreten der ZPO grob in zwei Lager aufteilen: Auf der einen Seite diejenigen, die sich für weiter gefasste Grenzen und damit eine eigenständige Rechtskraft der Gründe aussprachen – darunter Savigny3 und Windscheid4. Auf der anderen Seite diejenigen, die sich für eine enger begrenzte Rechtskraftwirkung aussprachen und die Rechtskraft der Gründe ablehnten – hierunter Unger5 und Wetzell6. 2 St. Rspr. vgl. nur BGHZ 43, 144, 145 = NJW 1965, 693; BGH NJW 1993, 333; BGH NJW 2010, 2210; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 84; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 8 f.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 31; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 17; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 71; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 16. 3 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 350 ff. 4 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b. 5 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 621 ff. 6 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595 ff.
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht
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Da die damalige Diskussion den Inhalt des heutigen § 322 Abs. 1 ZPO maßgeblich beeinflusst hat7 und viele der damals entwickelten und vorgebrachten Argumente bis heute nicht an Relevanz verloren haben, sollen die beiden Grundpositionen im Folgenden gegenübergestellt werden. Die Bedeutung der materiellen Rechtskraft für den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit könnte dazu veranlassen, den Umfang der Rechtskraft möglichst weit zu fassen, um auf diesem Wege eine weitreichende Klärung und Gewissheit zu erreichen.8 Unter anderem deshalb sprachen sich vor Inkrafttreten der ZPO insbesondere Savigny und Windscheid für eine weitreichende Rechtskraftwirkung aus.
1. Befürwortung einer eigenständigen Rechtskraft von Urteilsgründen – insbesondere Friedrich Carl von Savigny, 1847 und Bernhard Windscheid, 1862 Savigny nähert sich der Frage nach der Rechtskraft der Gründe, indem er sich zunächst mit der aus seiner Sicht vernachlässigten Frage9 beschäftigt, was „in dem Gedanken des urtheilenden Richters wahrhaft enthalten“ [sic.] sei und „durch den Ausspruch dieses Gedankens zur Rechtskraft […] erhoben“ werde.10 Er kritisiert vor allem, dass durch die „abstracte Einschränkung“ [sic.] – er meint damit die Verneinung der Rechtskraft der Gründe – die Identität zweier Streitgegenstände „völlig unerkennbar“ würde.11 Seine Kritik veranschaulicht er zunächst am Beispiel der Abweisung einer Herausgabeklage. Da für eine Abweisung der Klage zahlreiche Gründe infrage kommen können, sei es „unmöglich, bei einem künftigen verwandten Rechtstreit von der Rechtskraft jenes Urtheils Gebrauch zu machen, so lange wir Nichts wissen, als daß damals der Kläger abgewiesen worden ist“ [sic.].12 Deshalb, so führt er weiter aus, „müssen wir vor Allem wissen, was er verneint hat“.13 Diese Erwägungen seien in geringerem Maße auch im Rahmen eines Sachurteils gültig.14 Als weitere Argumente führt Savigny die Natur des Rechtsstreits und die Aufgabe des Richteramts an.15 Nur indem der Richter „die Elemente der Entscheidung feststellt, deren Rechtskraft hinfort bei jedem neuen Rechtsstreit benutzt werden kann“, könne der Richter seiner Pflicht gerecht werden, 7 Vgl. nur Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291, wo direkt auf die Ansichten von Ungers und Wetzells abgestellt wurde. 8 Darstellend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 67; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 85; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 10. 9 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 353. 10 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 352 und 354. 11 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 355. 12 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 357. 13 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 357. 14 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 357 f. 15 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 359.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
seine Entscheidung „durch die in alle Zukunft fortwirkende Rechtskraft“ zu sichern.16 Er stellt jedoch auch klar, dass der Richter nicht „alle, in dem Rechtsstreit zur Sprache gekommenen Elemente wirklich entscheiden“ muss; vielmehr ordnet Savigny die Auswahl dessen, was der Richter entscheiden – und damit in Rechtskraft erwachsen – soll, dem Ermessen des Richters zu.17 Savigny teilt die „Gründe“ in subjektive und objektive ein und stellt klar, dass lediglich die objektiven Gründe, nicht die subjektiven, in Rechtskraft erwachsen sollen.18 Objektive Gründe versteht er als die „Elemente der streitigen Rechtsverhältnisse und des (den Streit entscheidenden) Urtheils“ [sic.].19 Dem gegenüber seien die subjektiven Gründe jene Gründe, durch die „der Richter persönlich bewogen wird, eine bestimmte Überzeugung von jenen Elementen zu fassen, sie zu bejahen, oder zu verneinen“.20 Hierzu zählen auch die „Kenntnis der Rechtsregeln“ und „die Beweismittel, welche ihn bestimmen, die in diesem Rechtsstreit wichtigen Thatsachen für wahr, oder unwahr anzunehmen“.21 Nach Ansicht Savignys enthielte eine Entscheidung, die den B nach § 985 BGB zur Herausgabe einer Sache an A verurteilt, die rechtskräftige Entscheidung, dass A Eigentümer dieser Sache ist. Die Verurteilung des D zur Kaufpreiszahlung an C enthielte die Entscheidung, dass zwischen C und D ein wirksamer Kaufvertag besteht. Windscheid befürwortet das Konzept Savignys und stellt weitergehende Überlegungen an.22 Er verweist daher auf die Einteilung Savignys in objektive und subjektive Entscheidungsgründe.23 Windscheid hält die Frage nach der Rechtskraft der Entscheidungsgründe jedoch für sprachlich unpassend. Zum einen, weil man diejenigen Erwägungen, durch die der Richter zu seiner Entscheidung gelangt, „doch auch nicht anders als Entscheidungsgründe nennen [könne]“ und diese „ganz gewiß nicht rechtskräftig [würden]“.24 Zum anderen, weil diese Bezeichnung die „ganz falsche Vorstellung“ zu vermitteln vermag, es „handele sich hier um den Gegensatz zwischen dem was als ‚Urtheil‘ und dem was als ‚Entscheidungsgründe‘ äußerlich bezeichnet wird“.25 Seiner Ansicht nach wiederholt sich die Frage nach der Bindungswirkung auch
16
V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 359. V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 360. V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 361. 19 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 358 und 361. 20 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 361. 21 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 6, S. 361. 22 Windscheid, Die Actio des römischen Zivilrechts, S. 88; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b. 23 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b, Fn. 19. 24 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b, Fn. 19. 25 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b, Fn. 19. 17 18
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht
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„für die Entscheidungen über die Thatsachen, auf Grund derer das frühere Urtheil zu seinen Entscheidungen über die Rechte, und so zu seiner Hauptentscheidung gelangt ist: kann auch einer in diesem Processe vorgebrachten thatsächlichen Behauptung, welche in dem früheren Processe zurückgewiesen worden ist, die Einrede der abgeurtheilten Sache entgegengesetzt werden?“26
Die Beantwortung dieser Frage hält Windscheid zwar für „sehr bestritten und nicht unzweifelhaft; überwiegende Gründe [sprächen] aber für ihre Bejahung.“27 Damit weitet Windscheid die von Savigny vertretene Ansicht zur Rechtskraft der Urteilsgründe sogar auf Tatsachen aus.28 Zwar war ihm bewusst, dass diese Annahme auf Kritik stoßen würde.29 Sie sei jedoch nur „schwer abzulehnen“.30 Im Laufe der Zeit scheint Windscheid seine Haltung in dieser Frage jedoch aufzugeben.31 Nach Ansicht von Windscheid enthielte eine Entscheidung, die den B nach § 985 BGB zur Herausgabe einer Sache an A verurteilt, nicht nur die rechtskräftige Entscheidung, dass A Eigentümer dieser Sache ist. Überdies wären auch im Prozess vorgebrachte Tatsachen von der Rechtskraft erfasst und daher in Folgeprozessen zugrunde zu legen. Selbiges gilt für die Feststellung des Bestehens eines wirksamen Kaufvertrages durch Verurteilung des D zur Kaufpreiszahlung an C. Ebengenannten Ansichten setzten insbesondere Unger und Wetzell diametrale Gegenpositionen entgegen.
2. Ablehnung einer eigenständigen Rechtskraft von Urteilsgründen – insbesondere Joseph Unger, 1868 und Georg Wilhelm Wetzell, 1878 Joseph Unger verneint die von Windscheid befürwortete Rechtskraft von Tatsachen: Der Richter bilde sich über die Existenz der behaupteten Tatsachen nur deshalb ein Urteil, damit er die verlangte Entscheidung über das streitige Recht treffen könne.32 „[D]ie richterliche Entscheidung über die bestrittenen Thatsachen, soweit hierbei überhaupt von einer Entscheidung die Rede sein kann, ist nur die Grundlage, auf welcher sich das richterliche Urtheil aufbaut, nicht der Inhalt und Gegenstand desselben“ und insoweit schon gar nicht Teil der richterlichen Entscheidung.33 Die zur Entscheidung gestellten Fragen seien nicht „Thatfragen“, sondern „Rechtsfragen“34 und deshalb könne die richterliche Entscheidung in Ansehung des geltend gemachten Rechtsanspruchs nicht 26
Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b. Dies konstatiert auch Gaul, FS Flume (1978), 443, 454, Fn. 64 und S. 475. 29 Er bezeichnet sie selbst als „am Bedenklichsten“, Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b, Fn. 21. 30 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1. Aufl., § 130 5b, Fn. 21. 31 Vgl. hierzu Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 9. Aufl., § 130 Nr. 6. Ebenso deutet dies auch Gaul, FS Flume (1978), 443, 454, Fn. 64 und S. 475, Fn. 168. 32 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 621 f. 33 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 622. 34 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 622. 27 28
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
auch die „Fürwahr- oder Nichtfürwahrnahme“ streitiger Tatsachen enthalten, „da die Rechtskraft nicht weiterreicht, als die richterliche Entscheidung“.35 Unger spricht sich ebenfalls gegen die eigenständige Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen aus.36 Obwohl der Richter über diese Fragen zwangsläufig mitentscheiden müsse, entscheide der Richter – wie auch über Tatsachen – „über die streitigen Vorfragen nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß zu dem Zweck, um die von ihm über das Klagerecht […] verlangte Entscheidung treffen zu können […]“.37 Die Entscheidungen über Vorfragen seien lediglich „Vorentscheidungen“.38 Das Urteil enthalte infolgedessen auch nur einen Ausspruch über das Klagerecht und nicht über dessen Voraussetzungen.39 Im Hinblick auf die Vorschläge Savignys und Windscheids argumentiert Unger, „die Ansicht, wonach die Entscheidung über alle Incidentfragen in Rechtskraft erwachsen soll, enthält den inneren Wiederspruch, daß Fragen, welche nicht an und für sich, sondern nur gelegentlich und mit Rücksicht auf eine andere Frage zur Sprache gebracht worden sind, abgelöst von dieser Beziehung, gleich selbständigen Gegenständen eines Rechtsstreits erledigt sein sollen, daß also über relativ aufgeworfene Fragen absolut entschieden würde, während doch die juristische Konsequenz verlangt, daß dasjenige, worüber nur incidenter (beiläufig) gestritten wird, auch nur incidenter (nebenher, gelegentlich nur für diesen Zweck), nicht principaliter (definitiv, ein für allemal), entscheiden werde“ [sic.].40
Die Rechtskraft beschränke sich daher auf das, was unmittelbar zur Entscheidung vorgelegt wurde, mithin auf „das mit der Klage in Anspruch genommene Recht“.41 „[N]ur die res, welche in judicium deducta ist, wird durch das Urtheil zur res judicata“.42 Innerhalb der Frage nach der Rechtskraft von Gegenrechten des Beklagten gesteht Unger jedoch zu, dass das richterliche Urteil dann einen Ausspruch über dieselben haben wird, wenn „der Ausspruch über das Klagerecht mit innerer Nothwendigkeit zugleich einen Ausspruch über das Recht des Beklagten involvirt“ [sic.].43 Beispielhaft nennt Unger hier das insofern exklusive Eigentumsrecht, da dieses dann nicht dem Beklagten zustehen könne, wenn es dem Kläger zusteht.44 In derartigen Fällen enthalte das Urteil „ein Doppeltes, eine Anerkennung des Rechts in der Person des Klägers und eine Aberkennung des35 36
Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 623. Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 625. 37 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 626. 38 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 626. 39 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 626. 40 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 627 f. 41 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 629. 42 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 627. 43 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 631. 44 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 631.
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht
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selben Rechts in der Person des Beklagten“.45 Diese Doppelwirkung lasse sich jedoch nicht auf solche Fälle übertragen, in denen dem Kläger das ausschließliche Recht aberkannt wird, weil der Richter davon ausgehe, es sei in der Person des Beklagten begründet.46 Denn der Ausspruch, das Recht stehe nicht dem Kläger zu, enthalte nicht logischerweise den Ausspruch, es stehe dem Beklagten zu.47 Unger selbst fasst seine Untersuchungen so zusammen: „Die Rechtskraft des Urtheils reicht so weit als der Inhalt des Urtheils reicht […]. Das Urtheil enthält aber einen selbständigen und direkten Ausspruch nur über den concreten Klageanspruch, also weder über die Klagthatsachen, noch über die Präjudicialpunkte. Einen Ausspruch über Recht und Ansprüche des Beklagten kann das Urtheil enthalten, wenn und insofern in der Anerkennung des Klagerechts nothwendig zugleich eine Aberkennung der Ansprüche des Beklagten liegt: dagegen enthält das Urtheil an sich niemals einen selbständigen Ausspruch über die positive Berechtigung des Beklagten“.48
Diese Ausführungen entsprechen der heute gängigen Lehre von der Unzulässigkeit von Klagen auf das kontradiktorische Gegenteil: Richtigerweise enthält die Feststellung, dass A Alleineigentümer einer Sache ist, auch die Aussage, dass B nicht Eigentümer der Sache ist. Richtig ist auch, dass durch ein Urteil, das feststellt, A ist nicht Eigentümer der Sache, keine Aussage darüber getroffen wird, dass B Eigentümer ist. Auch Georg Wilhelm Wetzell lehnt sowohl die Rechtskraft von Tatsachen als auch eine eigenständige Rechtskraft von Urteilsgründen ab.49 Wie Savigny unterscheidet auch Wetzell zwischen subjektiven und objektiven Entscheidungsgründen.50 Subjektive Gründe seien – ähnlich wie bei Savigny – diejenigen Gründe, die „den Richter zu dem ausgesprochenen Resultat bestimmt haben“.51 Diese werden „nach Verschiedenheit der juristischen Auffassung verschieden sein“.52 Demgegenüber versteht Wetzell – abweichend von Savigny – unter objektiven Entscheidungsgründen „das in den Verhandlungen vorliegende Material“.53 Während in Bezug auf die Rechtskraft der Entscheidungsgründe „an die objectiven schon gar nicht gedacht werden“ könne, diskutiert Wetzell die Rechtskraft der subjektiven Entscheidungsgründe, weil diese, „wenn sie dem Urtheil beigefügt sind, über den Gedanken und die Absicht des Richters Aufschluß geben, da sie hierfür recht eigentlich bestimmt sind“.54 Letztlich verneint 45
Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 632. Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 633. 47 „Der Satz, daß A nicht Eigenthümer (Erbe) sei, enthält über das Eigenthumsrecht (Erbrecht) des B nicht die mindeste Bestimmung.“, Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 633. 48 Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 639 f. 49 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595 und Fn. 100. 50 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595. 51 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595. 52 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595. 53 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 595. 54 Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 596. 46
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
er jedoch auch die Rechtskraft der (subjektiven) Entscheidungsgründe, da diese „bloß eine Ansicht, keine Entscheidung aussprechen und gleich jenen [den objektiven Gründen] nur zur Interpretation der Entscheidung dienen“.55 Wetzell beschränkt die materielle Rechtskraft letztlich auf die im Tenor zum Ausdruck gebrachte Entscheidung und misst den Entscheidungsgründen lediglich Bedeutung im Hinblick auf die Auslegung der Entscheidung, nicht aber eine isolierte Rechtskraft, zu: „[A]usschließlich der Entscheidung selbst [wohnt] die Rechtskraft inne, nur nicht als einer todten Formel, sondern als dem lebendigen Gedanken, welcher mit Hülfe jener Mittel [der Entscheidungsgründe] zu fixiren ist“.56
3. Gesetzgeber, 1879 Wie eben deutlich wurde, fanden die Schöpfer der Zivilprozessordnung, als sie sich Mitte der 1870er Jahre mit der Frage nach der Rechtskraft der Urteils gründe zu befassen hatten, also keineswegs ein einheitliches Meinungsbild vor: „[…] so mußte der Entwurf Sorge tragen, daß unter Beseitigung der in den verschiedenen zum Deutschen Reiche gehörigen Territorien bestehenden Kontroversen, der Umfang der Rechtskraft nach gemeinsamen Grundsätzen beurtheilt werde. Fragen konnte sich nur, welche der verschiedenen Ansichten über den Umfang der Rechtskraft zu adoptiren sei.“57
Im Ergebnis schloss sich der Gesetzgeber in der Frage nach der Rechtskraft der Gründe den Antworten Ungers und Wetzells an und entschied sich mit der Formulierung „nur insoweit“ in § 322 Abs. 1 ZPO bewusst gegen eine weiterreichende Wirkung der materiellen Rechtskraft.58 Zwar wurden die Vorzüge der Theorie Savignys im Hinblick auf eine Verhinderung widersprechender Entscheidungen im Gesetzgebungsverfahren erkannt; ein Vorteil, welcher „nicht hoch genug angeschlagen werden kann, weil widersprechende Urtheile im Volke als ein schwerer Uebelstand empfunden werden müssen“.59 Nach Ansicht des Gesetzgebers ginge diese Wirkung jedoch „weit über die Aufgabe des einzelnen Prozesses und über die Absicht der Parteien hinaus, welche den Gegenstand ihres Streits im Petitum ausgedrückt und begrenzt haben und in diesem Prozesse und nur über diesen Streitpunkt eine richterliche Entscheidung erwarten“.60 „Die Rücksicht auf den Willen der Parteien, die Rücksicht auf das Richteramt fordern daher eine Beschränkung des Umfangs 55 56
Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 596. Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, S. 596. 57 So Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291. 58 Vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291. 59 Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291. 60 Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291.
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht
153
der Rechtskraft, ähnlich derjenigen Beschränkung, die Unger und Wetzell […] vertheidigen“.61 Die Ablehnung der von Savigny vertretenen Theorie war jedoch nicht unumstritten. Im Rahmen der ersten Lesung wurde vorgeschlagen, den Wortlaut des heutigen § 322 Abs. 1 ZPO in „Urtheile sind der Rechtskraft in so weit fähig, als über den durch Klage, Einrede oder Widerklage erhobenen Anspruch und über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses, welches ganz oder theilweise jenen Anspruch bedingt, entschieden ist“ abzuändern.62 Infolgedessen sollte auch die Zwischenfeststellungsklage aus dem Entwurf gestrichen werden.63 Beide Vorschläge wurden am Ende abgelehnt.64 Zwar sei richtigerweise „öfters das Bedürfniß vorhanden, ein in dem Rechtsstreit streitig gewordenes Rechtsverhältniß in seiner Gesammtheit zur Entscheidung zu bringen.“65 Diese Möglichkeit sei den Parteien aber gerade durch die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage gegeben, welche dieses „Bedürfniß weit besser befriedige, als die Savigny’sche Theorie.“66 Insoweit wurde sogar angenommen, in Anbetracht der Möglichkeit einer Zwischenfeststellungsklage hätte sogar Savigny selbst „seine Theorie nie aufgestellt“.67 Das Institut der Zwischenfeststellungsklage ermögliche nach Ansicht des Gesetzgebers, „über ein im Lauf des Prozesses streitig gewordenes Rechtsverhältnis, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Theile abhängt, eine der Rechtskraft fähige Entscheidung zu erwirken, […] nur daß nicht das Gesetz, sondern den Willen der Parteien darüber bestimmen läßt, was mit einer über den Bereich des Prozesses hinausreichenden Rechtskraft entschieden werden soll“.68
Ein weiterer Grund für eine enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft war die Befürchtung von entstehenden Abgrenzungsschwierigkeiten69 und einer Überfrachtung einzelner Prozesse zur Klärung jeglicher Vorfragen70.
61
Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291. der Antrag des Abgeordneten Struckmann (Hervorhebungen durch den Verfasser), vgl. die Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 607 f. 63 So der Antrag des Abgeordneten Struckmann, vgl. die Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 607 f. 64 Vgl. die Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 609. 65 So der Abgeordnete Bähr, vgl. Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 608. 66 So der Abgeordnete Bähr, vgl. Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 608. 67 So der Abgeordnete Bähr, vgl. Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 608. 68 Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291 f. 69 Vgl. die Stellungnahme des Abgeordneten Becker, Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 609. 70 Vgl. die Stellungnahme des Abgeordneten Schwarze, Protokolle der Kommission in Hahn, Materialien zur ZPO, S. 609. 62 So
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Der heute gültige § 322 Abs. 1 ZPO beschränkt die materielle Rechtskraft nach alledem bewusst auf die Entscheidung über den Anspruch im Tenor und schließt Entscheidungsgründe von der Rechtskraft aus. Er gibt mithin vor, dass eine Entscheidung, die den B nach § 985 BGB zur Herausgabe einer Sache an A verurteilt, keine rechtskräftige Entscheidung zur (Vor-)Frage, ob A Eigentümer dieser Sache ist, enthält. Ebenso macht eine Verurteilung des C zur Kaufpreiszahlung an D keine rechtskräftigen Aussagen zum Bestehen eines wirksamen Kaufvertrages zwischen C und D.
II. Diskussion und Beiträge nach Inkrafttreten der ZPO Die klare Entscheidung des Gesetzgebers beendete den Streit um die Frage nach einer Rechtskraft der Gründe zunächst weitgehend.71 Wiederbelebt wurde die Diskussion Ende der 1950er Jahre insbesondere durch die Arbeit Zeuners, welcher eine Erstreckung der materiellen Rechtskraft in bestimmten sogenannten „Sinnzusammenhängen“ forderte.72 Dieses vielbeachtete Werk gilt bis heute gleichsam als „Prüfstein“73 und Ausgangspunkt für weitere Überlegungen74 und Bestrebungen, die von § 322 Abs. 1 ZPO vorgegebene Bindungswirkung zu erweitern.
1. Rechtskrafterweiterung in „Sinn- und Ausgleichszusammenhängen“ – Zeuner Ausgehend von der Frage, inwieweit § 322 Abs. 1 ZPO eine undifferenzierte Gleichbehandlung aller denkbaren Fälle fordere,75 befürwortet Zeuner eine „Weiterbildung der im deutschen Zivilprozess herrschenden Grundsätze über die objektive Abgrenzung der Rechtskraft“76 unter gleichzeitiger Distanzierung von einer generellen Erstreckung der Rechtskraft auf die Urteilsgründe und damit einem „einfache[n] Zurück“ zu den Lehren Savignys und Windscheids.77 Seiner Ansicht nach habe der Gesetzgeber mit § 322 Abs. 1 ZPO lediglich ein pauschales „Nein“ zu den gemeinrechtlichen Lehren der Rechtskraft der Urteilsgründe geben wollen und infolgedessen regle die Vorschrift nicht, wie weit die Entscheidung über den erhobenen Anspruch tatsächlich reiche.78 71 Sogar Windscheid schwächt seine Ansicht zunächst ab und gibt sie dann auf, vgl. Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 9. Aufl., § 130 Nr. 6 Fn. 20. 72 Zeuner, Sinnzusammenhänge. 73 So Dalla Bontà, ZZP 2012, 93, 93. 74 Zu einigen hiervon sogl. unten dritter Teil, A. II. 2. b). Vgl. zum Ganzen auch die Darstellung bei Chen, Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft, S. 211 ff. 75 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 4. 76 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 173. 77 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 2, 4, 57, 173. 78 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 4.
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Grundlage für die Überlegungen Zeuners bildet die Hypothese, die Grenzen der Bindungswirkung zwischen einer rechtskräftig entschiedenen Sache und einer weiteren Entscheidung mit abweichendem Streitgegenstand seien „nicht nach formal-logischen“79 oder „formal-konstruktiv[en]“80 Kriterien zu bestimmen, sondern müssten sich an inhaltlichen, an der Vermeidung von materiellen Widersprüchen ausgerichteten Vorgaben orientieren.81 Bestätigt sieht Zeuner diese Prämisse bereits in der Behandlung mehrerer – der herrschenden Meinung entsprechenden – Konstellationen.82 So sei mit den Grundsätzen der herrschenden Rechtskraftlehre etwa nicht ohne weiteres zu erklären, warum die Rechtskraft eines Urteils, dass zwischen A und B das Eigentum des A an einer Sache feststellt, einer nachfolgenden Feststellungsklage des B gegen A entgegenstehen soll, mit welcher B feststellen lassen möchte, er (und nicht A) sei Eigentümer.83 Die herrschende Meinung löst diese Konstellation über das sogenannte kontradiktorische Gegenteil.84 Nach der Ansicht Zeuners lasse sich jener Fall mit dieser These jedoch nicht bewältigen.85 Zwar gesteht er ein, dass sich die Friktionen seines Beispiels durchaus beheben ließen, indem man argumentiere, die Rechtskraft schließe alle „Rechtsfolgen aus, die mit der rechtskräftigen Feststellung unvereinbar [sind]; oder jede zukünftige Entscheidung, die mit dem rechtskräftigen Erkenntnis im Widerspruch stehe, sei unzulässig.“86 In der Tat lassen sich diese Konflikte lösen, wenn – wie oben dargelegt87 – das kontradiktorische Gegenteil nicht allein technisch, sondern teleologisch verstanden wird.88 Diese Ansicht hält Zeuner jedoch für zu weit, da so konsequenterweise auch eine auf Feststellung des Eigentums gerichtete Klage eines zuvor rechtskräftig zur Herausgabe nach § 985 BGB Verurteilten unzulässig sein müsste.89 Er sucht daher nach geeigneten Kriterien, um zu differenzieren, wann es gerechtfertigt sei, „hier eine Rechtskraftwirkung für einen Prozess über andere als die vom Vorprozess erfassten Rechtsfolgen anzunehmen und damit eine erneute Prüfung der in den Gründen behandelten Fragen ab79
Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 30. Zeuner, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 337, 357. 81 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 30. 82 Für Beispiele vgl. Zeuner, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 337, 352 ff. 83 Vgl. hierzu Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 10 ff.; Zeuner, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 337, 352 f. 84 Vgl. hierzu bereits oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (2). 85 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 11: „Mit der häufig gebrauchten These, daß die Rechtskraft auch eingreife, wenn im zweiten Prozeß das kontradiktorische Gegenteil dessen geltend gemacht werde, worüber im ersten Verfahren entschieden worden sei, sind die vorliegenden Fälle von vornherein nicht zu erfassen.“ 86 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 12. 87 Siehe oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (2). 88 Dahingehend die Fälle sog. „sachlicher Unvereinbarkeit“, vgl. MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 45; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 7. 89 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 12; dies ist nach heute h. M. nicht der Fall, vgl. nur Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 82 m. w. Nachw. 80
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zuschneiden, während in anderen Fällen eine solche Wirkung verneint wird“.90 Anhand mehrerer Beispielfälle91 versucht er zu belegen, dass sich eine Bindung der in den Entscheidungsgründen behandelten Fragen über die anerkannten Fälle der Präjudizialität hinaus auch aus teleologischen Sinnzusammenhängen, die das Ziel des rechtskräftig Festgestellten betreffen, ergeben solle.92 „[D]ie Rechtskraftwirkungen [sollen] nicht nur dann eingreifen, wenn die im Folgeprozess (als Haupt- oder Inzidentfrage) zu beurteilende Rechtsfolge mit der von der Vorentscheidung betroffenen identisch ist, sondern auch schon dann, wenn bei Verschiedenheit beider ein bestimmter teleologischer Sinnzusammenhang vorliegt“.93
Genauer dann, wenn der nachfolgende Rechtsstreit als inhaltliche Fortsetzung des rechtskräftig abgeschlossenen Vorprozesses über die dort geltend gemachte Rechtsfolge anzusehen wäre und deshalb eine inhaltliche Beziehung zwischen dem Festgestellten und einer anderen Rechtsfolge vorliegt.94 Eine solche inhaltliche Beziehung bestehe insbesondere im Rahmen sogenannter „Ausgleichszusammenhänge“.95 Hierunter sind Konstellationen zu verstehen, in denen bestimmte „Element[e] des Ausgleiches“ einen solchen inhaltlichen Zusammenhang bilden, der durch die Rechtskraft nicht zerrissen werden dürfe.96 Als Beispiel dienen hier etwa gegenseitige Verträge: Die beiderseitigen Rechtsfolgen seien derart miteinander verknüpft, dass keiner der Ansprüche aus dem Zusammenhang mit dem – ausgleichenden – Gegenanspruch gerissen werden könne, ohne den Sinngehalt dieser Verknüpfung zu beeinträchtigen.97 Aufgrund dessen dürfe, so Zeuner, eine Partei, die im Vorprozess zur Leistung aus einem gegenseitigen Vertrag verurteilt worden ist, mit einer Klage auf die Gegenleistung im Zweitprozess niemals deshalb abgewiesen werden, weil der Vertrag aus Gründen nicht oder nicht mehr wirksam sei, die schon im Zeitpunkt des Vorprozesses vorlagen.98 Die Rechtskraft erfasse damit die Feststellung der Wirksamkeit des Vertrages.99 Ein Urteil, das den D zur Kaufpreiszahlung an C verurteilt, enthielte damit die rechtskräftige Feststellung, dass ein wirksamer Kaufvertrag zwischen C und D besteht. Diese Feststellung muss dann berücksichtigt werden, wenn D gegen C Gewährleistungsansprüche aus diesem Vertrag geltend macht. Ähnliches bejaht Zeuner für die Rechtskraft eines Herausgabeurteils: Seiner Ansicht nach müsse ein Urteil, das den B zur Herausgabe einer Sache an den A nach § 985 BGB verurteilt, die 90 91
Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 42. Zeuner, Sinnzusammenhänge, §§ 7–13. 92 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 57. 93 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 173. 94 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 44. 95 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 72 ff. 96 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 74 f. 97 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 75. 98 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 75. 99 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 75.
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Entscheidung, A sei Eigentümer, enthalten. Gleichsam sei nach Abweisung der Herausgabeklage wegen fehlenden Eigentums jedoch auch A durch die Rechtskraft gehindert, sein Eigentum an der Sache feststellen zu lassen.100 Zeuner versteht die vorgeschlagene Erweiterung der Rechtskraftwirkungen als prozessuales Mittel zur Wahrung materiellrechtlicher Sinnzusammenhänge.101 Diese sei Schutzmechanismen des materiellen Rechts deshalb überlegen, weil jene erst ansetzen könnten, wenn der teleologische Zusammenhang bereits zerrissen ist und überdies nicht in allen Situationen einen gerechten Ausgleich schafften.102
2. Reaktionen und weitere Überlegungen zur Ausdehnung der bestehenden Rechtskraftgrenzen Die Arbeit Zeuners stellt wohl den meistbeachteten Vorschlag zur Ausdehnung der vom Gesetzgeber intendierten und in § 322 Abs. 1 ZPO vorgegebenen Rechtskraftgrenzen dar.103 Sie führte zu zahlreichen Reaktionen und beförderte die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung. Darüber hinaus wurde allerdings auch unter (teilweiser) Ablehnung der Thesen Zeuners versucht, eine Erweiterung der materiellen Rechtskraft auf andere Kriterien zu stützen.
a) Reaktionen auf Zeuner Obgleich die ersten Reaktionen Zeuner zwar insoweit zustimmen, als auch sie die aufgezeigten Friktionen und Probleme erkennen,104 stießen die von Zeuner entwickelten Lösungsvorschläge trotz teilweiser Zustimmung105 überwiegend auf Skepsis.106 Kritik erfährt bis heute sowohl das generelle Ziel, die Grenzen der Rechtskraft zu erweitern, als auch das von Zeuner vorgeschlagene konkrete Vorgehen.
100 101 102
190 f.
Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 151. Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 77. Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 76 f.; zustimmend Foerste, ZZP 1995, 167, 171 ff.,
103 Oberhammer, JBl. 2000, 205, 219: „fast schon legendäre […] Mindermeinung“; die Ansicht Zeuners wird insoweit auch vielerorts gesondert dargestellt (obgleich im Ergebnis auch abgelehnt), so etwa MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 54 ff.; Musielak/Voit/ Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 26 f.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 202 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 12 f.; vgl. auch die zahlr. Nachw. für Reaktionen innerhalb der italienischen Literatur bei Dalla Bontà, ZZP 2012, 93, 93, Fn. 1. 104 Schwab, JZ 1959, 786, 786; Peters, ZZP 1963, 229, 230; Lent, ZZP 1960, 316, 316. 105 Zustimmend etwa Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 491 ff.; Bruns, Zivilprozeßrecht, S. 408 ff.; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 519 ff.; teilweise auch Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 150 ff. 106 Schwab, JZ 1959, 786, 787; Lent, ZZP 1960, 316, 320; Peters, ZZP 1963, 229.
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Gegen die Ausweitung der Rechtskraftgrenzen an sich werden teilweise ähnliche Argumente angeführt wie die, die bereits im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens maßgeblich waren. Insofern wird auf das Institut der Zwischenfeststellungsklage verwiesen und der Hypothese Zeuners, im Rahmen von Sinnzusammenhängen würden die Parteien keineswegs von weiterreichenden Rechtskraftwirkungen überrascht – vielmehr gingen die Parteien gerade davon aus, die Feststellungen des Erstprozesses seien auch innerhalb des zweiten Prozesses maßgeblich,107 – entgegengehalten, dass die Parteien, sofern sie sich vom Erstprozess tatsächlich verbindliche Entscheidungen über Vorfragen erhofften, auf die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage zurückgreifen müssten.108 Dieses Argument ist jedoch insofern problematisch, als zumindest nicht anwaltlich vertretene Parteien – angenommen sie gingen, wie von Zeuner unterstellt, wirklich wie selbstverständlich109 davon aus, eine bestimmte Vorfragenentscheidung (z. B. der Kaufvertrag sei wirksam) erwachse eigenständig in Rechtskraft und binde daher das Gericht eines Folgeprozesses – selbst im Bewusstsein, eine Zwischenfeststellungsklage anstrengen zu können, von dieser Möglichkeit wohl gerade keinen Gebrauch machen würden, eben weil sie wie selbstverständlich von der Fortwirkung der gerichtlichen Feststellungen ausgingen.110 Nichtsdestotrotz muss dieser Befund nicht zwangsläufig mit der Erstreckung der Rechtskraft auf (bestimmte) Entscheidungsgründe korrigiert werden. Einen weiteren Ansatz bildet hier möglicherweise der Verweis auf die richterliche Aufklärungspflicht aus § 139 Abs. 1 ZPO.111 Eine generelle Erstreckung der Rechtskraft auf die tragenden Urteilsgründe sei auch deshalb nicht zwingend erforderlich, weil das Gericht eines Folgeprozesses auch bei fehlender Bindung an die Vorfragenentscheidungen des Erstgerichtes nur aus gutem Grund von den Feststellungen des Erstgerichtes abweichen werde.112 Darüber hinaus wird vor der Gefahr einer Fortschreibung unrichtiger Urteile durch eine Erweiterung der Rechtskraft gewarnt.113 Wenn also das erste Urteil 107
Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 43 f.
108 So Peters, ZZP 1963, 229, 232. 109 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 44:
„Man empfindet es dementsprechend nahezu als eine Selbstverständlichkeit, daß das neue Verfahren gewissermaßen erst an der Stelle anfangen kann, an der das alte aufgehört hat, und also nicht wieder Dinge in Frage zu ziehen vermag, die der Vorprozess schon erledigt hat.“ 110 Ähnlich auch Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 139: „[…] das Selbstbestimmungsrecht bleibt unausgeübt, sobald […] die betroffene Partei sich ihrer erhöhten Eigenverantwortung nicht bewußt ist und aus diesen Gründen kein Zwischenfeststellungsantrag gestellt wird.“ 111 So offenbar Eckardt, Rechtskraft der Entscheidungsgründe, bislang unveröffentlicht, daher zitiert nach Gaul, ÖJZ 2003, 861, 876, der dem Ansatz Eckardts offenbar zustimmt; allg. zur Hinweispflicht auf Prozess- und Sachanträge vgl. Stürner, Richterliche Aufklärung im Zivilprozess, Rn. 55 ff. 112 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 556; Peters, ZZP 1963, 229, 231; MüKo/ Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 56. 113 So Peters, ZZP 1963, 229, 231; ebenso Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 59.
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deshalb falsch ist, weil das Gericht eine Vorfrage unrichtig beantwortet hatte, verböte eine Erstreckung der Rechtskraft auf jene Vorfragenentscheidung dem nachfolgenden Gericht eine erneute Prüfung derselben – das Gericht müsste dann von unrichtigen Grundlagen ausgehen und zwangsläufig zu einem zweiten falschen Urteil gelangen.114 Hier böte der Verzicht auf weitergehende Rechtskraftwirkungen vielmehr die Möglichkeit, zumindest im Zweitprozess zu einem richtigen Ergebnis zu gelangen.115 Fraglich sei außerdem, wie in Bezug auf die Rechtskraft tragender Urteilsgründe zu verfahren sei, wenn sich das Gericht bei mehreren möglichen Anspruchsgrundlagen nur zu einer einzigen und zu anderen gar nicht äußert.116 Hier gerate die Theorie Zeuners in Konflikt mit dem deutschen Verständnis vom Streitgegenstand und dessen Konturierung.117 Neben diesen eher allgemeinen Argumenten gegen eine Rechtskraft von Urteilsgründen werden auch die von Zeuner entwickelten Voraussetzungen, unter denen eine Rechtskrafterweiterung anzunehmen sei, kritisiert. Bezweifelt wird insbesondere, ob das Kriterium des „teleologischen Zusammenhang[s]“118 geeignet sei, eine einheitliche und zuverlässige Bewältigung der aufgeworfenen Probleme zu gewährleisten.119 Gerade im Hinblick auf die Rechtssicherheit (welche die Rechtskraft ja herbeiführen soll)120 sei problematisch, ob die Anwendung der von Zeuner vorgeschlagenen Kategorien in der Praxis die notwendige Sicherheit garantieren könne.121 Teilweise wurde deshalb vorgeschlagen, einige der von Zeuner identifizierten Missstände auf andere, weniger „revolutionäre“122 Weise zu bewältigen: So könnte man, statt den Urteilsgründen eigene Rechtskraft beizumessen, an eine intensivere Heranziehung der Gründe zur Interpretation des Entscheidungsinhaltes denken123 oder aber die anerkannten Begriffe der Präjudizialität und des kontradiktorischen Gegenteils weiter aus114 115
Peters, ZZP 1963, 229, 231. MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 56; Peters, ZZP 1963, 229, 231. 116 Peters, ZZP 1963, 229, 237 ff. 117 Peters, ZZP 1963, 229, 238. 118 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 57. 119 Deutlich Schwab, JZ 1959, 786, 786 f.: „Und hier habe ich Zweifel, ob die […] Formeln vom ‚teleologischen Zusammenhang‘ und der ‚intendierten Ordnung‘ in der Lage sind, einen solchen einheitlichen Nenner zu bilden. Vor allem scheint mir, daß diese Formeln nicht bestimmt und präzis genug sind, um alle aufgeführten Fälle zu umfassen und einen wirklich unanfechtbaren Einbruch in die h. L. zu erzielen.“; Lent, ZZP 1960, 316, 320: „Ob aber sein Grundsatz für die Erstreckung der Rechtskraft mit voller Sicherheit in der Praxis durchzuführen ist, ist durchaus nicht zweifellos. Auch die Zeunersche Auffassung gestattet nicht durchweg eine absolut sichere Antwort auf die Frage nach dem Umfang der Rechtskraft.“; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f.; Konzen, FS Zeuner (1994), 401, 415. 120 Vgl hierzu bereits oben erster Teil, B. III. 2. 121 Lent, ZZP 1960, 316, 320; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 556. 122 So Gaul, ÖJZ 2003, 861, 872 über die Monografie Zeuners. 123 Dahingehend Lent, ZZP 1960, 316, 319 f.
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legen als bisher124. Infolge der Kritik wies Zeuner inzwischen darauf hin, dass das Kriterium des rechtlichen Sinnzusammenhangs „selbstverständlich nicht in dem Sinne gemeint [sei], als lasse sich aus diesem Begriff die gesuchte sachliche Lösung ohne weiteres ableiten“.125 Die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung lehnt die Erstreckung der Rechtskraft auf Urteilsgründe seit jeher generell ab.126 Auch die Vorschläge Zeuners verwarf der Bundesgerichtshof explizit.127 Als Argumente dienen (auch) ihm etwa der Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO, die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage und der Wille des Gesetzgebers.128 Aus diesen Gründen bestehe „nach dem Gesetz weder Raum noch die Notwendigkeit für die Anerkennung einer erweiterten Bindungswirkung“.129 Demgegenüber scheint sich jedoch die österreichische Rechtsprechung zumindest vorübergehend der Theorie Zeuners angenähert zu haben.130 Infolge der dargestellten Kritikpunkte werden die Thesen Zeuners heute zwar vielerorts eigens dargestellt, im Ergebnis jedoch zumeist abgelehnt.131
b) Weitere Ansätze Auch im Anschluss an die Arbeit Zeuners wurden immer wieder Versuche unternommen, die objektive Reichweite der materiellen Rechtskraft zu konkretisieren.132 Die meisten dieser Ansätze greifen den von Zeuner entwickelten Ansatz auf und fordern eine stärkere Berücksichtigung der materiellen Rechtslage bei der Bemessung der Rechtskraftgrenzen. Dabei variieren die Vorschlä124 So Schwab, JZ 1959, 786, 787, welcher Zeuner auch vorhält, den Begriff des kontradiktorischen Gegenteils zu eng zu verstehen: „Offensichtlich ist der Verf. [Zeuner] geneigt, diesen Begriff zu eng zu fassen.“; den Vorschlägen Schwabs vorsichtig zustimmend, Peters, ZZP 1963, 229, 243. 125 Zeuner, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 337, 357, Fn. 64. 126 St. Rspr. vgl. nur BGHZ 43, 144, 145 = NJW 1965, 693; BGH NJW 1993, 333; BGH NJW 2010, 2210. 127 BGH NJW 2003, 3058, 3059: „Entgegen der Auffassung der Revision kommt eine Erweiterung der vorstehend dargestellten Bindungswirkung von Urteilen auf präjudizielle Rechtsverhältnisse im Rahmen von ‚Ausgleichszusammenhängen‘ oder ‚(zwingenden) Sinnzusammenhängen‘ nicht in Betracht.“ 128 BGH NJW 2003, 3058, 3059. 129 BGH NJW 2003, 3058, 3059. 130 Vgl. hierzu unten dritter Teil, C. I. 3. b) bb). 131 So z. B. bei MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 54 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 26 f.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 202 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 155, Rn. 12 f. 132 In Anbetracht der Masse an Vorschlägen zur Erweiterung der objektiven Rechtskraftgrenzen, die sich teilweise nur in Nuancen unterscheiden, kann die folgende Präsentation verschiedener Ansätze keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Nicht näher dargestellt bleiben insofern insbesondere einige Schriften, die sich primär auf die Bestimmung des Streitgegenstandes konzentrieren und die objektiven Grenzen der Rechtskraft insoweit thematisieren als sie die Auswirkungen ihrer Ergebnisse auf die Rechtskraft darstellen.
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ge nicht nur innerhalb ihres Umfangs zwischen Aufsatz, Kapitel und Monographie, sondern reichen auch inhaltlich von der Entwicklung neuer Kriterien und Umsetzungsmöglichkeiten bis hin zu der – wenig überzeugenden – Idee, § 322 Abs. 1 ZPO sähe bereits de lege lata eine Erstreckung auf Urteilsgründe vor. Keiner dieser Vorschläge konnte sich jedoch derart etablieren, als dass ein Umschwenken innerhalb der allgemeinen Meinung bewirkt worden wäre. Die Gründe hierfür sind oftmals ähnlich wie diejenigen, die bereits gegen die Übernahme der Theorie Zeuners sprechen.
aa) Kriterium des „wirtschaftlichen Werts“ – Henckel Einer Ansicht nach richte sich die Reichweite der durch die Rechtskraft eintretenden Bindungswirkung zwischen zwei Prozessen mit unterschiedlichem Streitgegenstand nach dem „wirtschaftlichen Wert“ der jeweiligen Verfahren.133 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Annahme, der Zweck der Rechtskraft sei unter anderem, die Parteien zu verantwortungsvoller Prozessführung anzuhalten, weil die Bindung an eine „ungünstige Entscheidung“ als „Sanktion“ für „nachlässige Prozessführung“ zu werten sei.134 Infolgedessen sei unzureichendes Streitverhalten – unabhängig davon, ob bewusst oder unbewusst – im Ergebnis mit einer materiellrechtlichen Verfügung oder Rechtsverwirkung gleichzusetzen, weil die eintretende Rechtskraft eben auch an ein ungünstiges Urteil bindet.135 Ausgehend von der Hypothese, dass die Parteien Gründlichkeit und Intensität, mit der sie den Streit führen, vom wirtschaftlichen Wert des Klageziels abhängig machten, dürften Feststellungen in Urteilsgründen nur in solchen nachfolgenden Prozessen binden, die den identischen wirtschaftlichen Wert betreffen.136 Dann nämlich korreliere die mit der Rechtskraft eintretende „Sanktion“ mit der zuvor aufgewendeten Intensität der Streitführung.137 Nur so sei sichergestellt, dass die eintretende Bindungswirkung nicht zu einer größeren wirtschaftlichen Belastung der Parteien führe.138 Im Ergebnis ersetzt diese Theorie den Anspruchsinhalt durch das Kriterium des wirtschaftlichen Werts.139 Sie ist von vornherein beschränkt auf Vermögensprozesse, die der Verhandlungsmaxime unterliegen.140 133
Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 173 ff. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 172. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 173. 136 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 173. 137 Vgl. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 173. 138 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 174. 139 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 173: „Verzichtet man auf den Anspruchsinhalt als Grenze der Rechtskraftwirkung, so muß man deshalb ein anderes, ausgleichendes Kriterium einführen, das die Funktion des Anspruchsinhaltes übernimmt: Das ist der wirtschaftliche Wert, der für die Parteien im Prozeß auf dem Spiele steht.“ 140 Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 175. 134 135
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Nach dieser Theorie enthält ein Urteil, das den B zur Herausgabe einer Sache an den A aufgrund eines Anspruches aus § 985 BGB verurteilt, nicht die rechtskräftige Feststellung, der A sei Eigentümer.141 Gleichwohl steht einer späteren Herausgabeklage des B gegen den A auf Herausgabe derselben Sache nun die Rechtskraft des ersten Urteils entgegen, weil es in beiden Prozessen um denselben Wert „des ‚Habens‘ der Sache“ gehe.142 Die obigen Vorschläge stellen eine Erweiterung der herrschenden Ansicht über die Rechtskraftgrenzen dar, weil sie für bestimmte Konstellationen die Bindung an Entscheidungsgründe zulässt.143 Sie bedeuten aber auch gleichzeitig eine Einschränkung der herkömmlichen Theorien, weil die Bindungswirkung wie dargelegt und nur bei gleichem wirtschaftlichen Wert eintreten soll.144 Im Hinblick hierauf ist der Theorie sodann auch vorgeworfen worden, die Orientierung der materiellen Rechtskraft an materiellrechtlichen Zusammenhängen nicht konsequent genug durchzuführen.145 Überdies wird kritisiert, dass auch das Merkmal des wirtschaftlichen Wertes nicht geeignet sei, klare Aussagen über die objektiven Grenzen der Rechtskraft zu finden.146
bb) Kriterium der „identischen Rechtsposition“ – Rimmelspacher Rimmelspacher verfolgt eine Neudefintion des materiellrechtlichen Anspruchs, welcher hiernach aus den Elementen „Rechtsposition“ und „Rechtsbehelf“ bestehe.147 Weil sich dieser Anspruchsbegriff auch prozessual bewähre, könne möglicherweise auf eine Differenzierung zwischen materiellrechtlichem und prozessualem Anspruch verzichtet werden.148 141
Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 184. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 177; für zahlr. w. Bsp. vgl. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 175 ff. 143 So soll etwa die Verurteilung zur Unterlassung in einem späteren Prozess über Schadensersatz binden, vgl. Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 191; a. A. MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 53 m. w. Nachw.; als Erweiterung fassen die Theorie Henckels ebenfalls auf Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 189; BGH NJW 2003, 3058, 3059. 144 Als Einschränkung fassen die Theorie Henckels auf, Bötticher, ZZP 1972, 1, 16; Arens, AcP 1973, 250, 263. 145 So Bötticher, ZZP 1972, 1, 17: „Wer sich entschließt, entgegen dem Wortlaut des § 322 die Rechtskraft nach materiellrechtlichen Sinnzusammenhängen auch auf Ansprüche auszudehnen, über die noch nicht entschieden worden ist (z. B. Schadensersatzansprüche nach vorausgegangener Verurteilung zur Unterlassung), muß auch den Mut haben, diese Linie bei unterschiedlichem Streitwert beider Prozesse durchzuhalten. Oder aber er läßt es besser beim alten und verzichtet auf den Ausflug in das Gebiet der Gründe“. 146 So Bötticher, ZZP 1972, 1, 16: „trägt […] die Unberechenbarkeit auf der Stirn“; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 559: „[…] nicht zu Unrecht Kritik erfahren“; Konzen, FS Zeuner (1994), 401, 415: „[…] ähnlich unbestimmte Abgrenzungsformeln“; Arens, AcP 1973, 250, 264; Peetz, Materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge, S. 47. 147 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 175. 148 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 175; vgl. dazu auch Habscheid, ZZP 1971, 360, 361. 142
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Gleichzeitig versucht Rimmelspacher, das Kriterium der Rechtsposition auch für die Bemessung der objektiven Rechtskraftgrenzen fruchtbar zu machen und „ein schärferes Kriterium zu finden als es der rechtliche Sinnzusammenhang bietet“.149 Unter dem Begriff der Rechtsposition versteht er die Anwartschaft auf einen in einer bestimmten Form verkörpterten Wert.150 Inwieweit die zur Entscheidung gestellte Rechtsposition gesichert oder verwirklicht werden solle, sei der Ausgangspunkt für den Umfang der materiellen Rechtskraft.151 Insbesondere für die Bemessung der positiven Rechtskraftwirkung sollen jedoch weitere Umstände (wie etwa die Verteilung der Beweislast) maßgeblich sein.152 Im Ergebnis trete eine Bindung an die Vorentscheidung „im Hinblick auf dieselbe Rechtsposition bezüglich aller beschiedenen Elemente ein, die sowohl im ersten wie im folgenden Verfahren erheblich und tatbestandsmäßig in gleicher Weise verkörpert sind, wenn der im Zweitverfahren nicht beweisbelasteten Partei aus der unterschiedlichen Beweislastverteilung kein Nachteil erwächst“.153
Kritik erfährt Rimmelspachers Vorschlag vor allem im Hinblick auf die zahlreichen (unterschiedlichen) Voraussetzungen für eine Bindung des Ersturteils im Folgeprozess, die eine Progonose der Rechtskraftreichweite erschweren und die praktische Handhabung erschweren.154
cc) Kriterium der „Interessenidentität“ – Althammer In seiner Untersuchung zum Streitgegenstandsbegriff und dessen Konturierung durch stärkere Berücksichtigung des materiellrechtlichen Interesses155 greift Althammer auch die Frage nach einer Erweiterung der Rechtskraftbindungen auf.156 Obgleich er zutreffend157 darauf hinweist, dass die Frage einer weitergehenden Bindungswirkung der Rechtskraft kein originäres Problem des Streitgegenstands darstellt, beleuchtet er den möglichen Nutzen des entwickelten Interessenskriteriums für die Bestimmung der durch die Rechts149 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 202; kritisch hierzu Peetz, Materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge, S. 47 ff. 150 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 103. 151 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 202. 152 Vgl. hierzu Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 261 ff.; kritisch unter diesem Aspekt Peetz, Materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge, S. 53; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 559 f. 153 Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, S. 304. 154 So Peetz, Materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge, S. 53; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 559 f. 155 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, passim. 156 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554 ff. 157 Vgl. hierzu bereits oben zweiter Teil, B. III. 3. f ).
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kraft eintretenden Bindungswirkung.158 Damit stimmt Althammer Zeuner insofern zu, als auch er materiellrechtliche Zusammenhänge bei der Bemessung der Rechtskraftreichweite stärker berücksichtigen will.159 Er geht dabei jedoch weniger weit als Zeuner, da seiner Meinung nach solche Fälle auszuscheiden seien, „bei denen de lege lata (§ 322 I, II ZPO) eine Rechtskrafterstreckung nicht zu rechtfertigen wäre“.160 Gemeint ist damit die rechtskräftige Feststellung der Wirksamkeit eines Vertrages durch Urteile, die eine Leistung aus dem Vertragsverhältnis zusprechen.161 Diese von Zeuner vorgeschlagene162 Rechtskrafterweiterung sei abzulehnen, weil sie „zu einer vom Gesetzgeber ausdrücklich abgelehnten Vorfragenbindung führen würde“.163 Althammer hält eine Erweiterung der Rechtskraftwirkung über die bestehenden Kategorien der Präjudizialität oder des kontradiktorischen Gegenteils hinaus jedoch dann für möglich, wenn sich „eine begrifflich genaue Definition des inhaltlichen Zusammenhangs zwischen zwei Verfahren leisten“ ließe.164 Das maßgebliche Kriterium für die Bestimmung des Zusammenhangs sei nun das jeweilige Interesse.165 Insofern geht er davon aus, dass die Abweisung einer Schadensersatzklage aufgrund des Nichtbestehens des Vertrages zur Unbegründetheit (nicht Unzulässigkeit) einer nachfolgenden Klage (desselben Klägers) auf die Leistung führe.166 Das Gericht des Folgeprozesses sei an die Feststellung des Erstgerichtes gebunden, weil „das Bestehen des Kaufvertrages sowohl für Primärals auch Sekundärforderungen konstitutiv ist“ und daher der Verwirklichung desselben Interesses dient.167 Im Ergebnis fordert Althammer, „der zwischen zwei verschiedenen Rechtsfolgen bestehenden Interessenidentität […] bei der Bemessung der positiven Rechtskraftwirkungen […] stärker als bisher Rechnung“ zu tragen.168 Er geht davon aus, dass, entgegen der „vornehmlich in begrifflich-konstitutiven Zusammenhängen“ denkenden herrschenden Lehre, durch das „flexiblere materiellrechtlich orientierte […] Kriterium […] der Interessenidentität“ Abgrenzungsprobleme zwischen den „Kategorien der Identität, des kontradiktorischen Gegenteils sowie der Präjudizialität“ besser gelöst werden können.169
158
Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 554 ff. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 572. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 557. 161 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 557. 162 Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 75, vgl. hierzu bereits oben dritter Teil, A. II. 1. 163 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 557. 164 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 556 f. 165 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 557. 166 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 566. 167 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 566, 572. 168 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 572. 169 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 572. 159 160
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dd) Andere Lesart des § 322 Abs. 1 ZPO – Reischl Auch Reischl befürwortet eine Ausdehnung der materiellen Rechtskraft auf Entscheidungselemente, sofern dies erforderlich sei, um den Inhalt der Entscheidung prozessual abzusichern.170 Dabei lehnt er die Vorschläge Zeuners jedoch unter anderem deshalb ab, weil Zeuners Modell eine „systemwidrige Harmonisierung der prozessualen und der materiellen Rechtsordnung“ verfolge.171 Durch eine ganze „Liste von Unstimmigkeiten“ sieht sich Reischl motiviert, die „Frage nach den objektiven Grenzen der Rechtskraft einmal grundlegend zu überdenken“ und das „Maß der Bindungswirkung de lege lata auszuloten“.172 Nachdem „während des zwanzigsten Jahrhunderts […] mehr oder weniger unveränderte Argumente ausgetauscht“ worden seien, sei ein Konsens über die Reichweite der materiellen Rechtskraft „ebenso weit entfernt […], wie dies schon im 19. Jahrhundert der Fall war“.173 Entgegen der herrschenden Meinung174 geht er davon aus, der Gesetzgeber habe durch die Formulierung des § 322 Abs. 1 ZPO die Theorie Savignys nicht abgelehnt, sondern vielmehr ihrer Struktur nach übernommen.175 Weil durch Einführung der Zwischenfeststellungsklage lediglich „die automatische Erstreckung [der Rechtskraft] auf alle objektiven Urteilselemente versagt“ sei, sei es sowohl möglich als auch geboten, die Rechtskraft über den Tenor hinaus auf Entscheidungsgründe zu erstrecken, „um die im Urteilstenor enthaltene Entscheidung über den Streitgegenstand hinaus vor inhaltlicher Entwertung in Folgeprozessen zu schützen“.176 Seine Auswertung der historischen Entwicklung des Streitstandes und der Entstehungsgeschichte177 des § 322 Abs. 1 ZPO ergäben nämlich, dass die begrenzte Rechtskraftreichweite „nur deswegen zur Betonung der Maßgeblichkeit des Parteiwillens angeordnet [wurde], weil man aufgrund der Anerkennung der Zwischenfeststellungsklage der Meinung war, die Prozessparteien hätten es jederzeit in der Hand, die Rechtskraftgrenzen ihren Vorstellungen entsprechend zu bestimmen“.178
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Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 313. Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 185; zu weiteren Gründen, warum Reischl die Theorie Zeuners ablehnt, vgl. Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 185 ff. 172 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 2, 4. 173 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 1, diese These ist im Hinblick auf die durchaus zu beobachtende und inzwischen auch gefestigte, herrschende Meinung zu den objektiven Rechtskraftgrenzen zumindest gewagt (vgl. zur heute herrschenden Meinung unten dritter Teil, A. II. 3.). 174 Ablehnend daher z. B. Gaul, ÖJZ 2003, 861, 874; vgl. zur Entstehungsgeschichte bereits oben dritter Teil, A. I. 175 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 132 f., 313. 176 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 139 f., 313. 177 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 114 ff. 178 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 138. 171
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Dieser Befund sei nach Ansicht Reischls jedoch unzutreffend: Zum einen bleibe das „Selbstbestimmungsrecht […] unausgeübt, sobald die Gestaltungsmöglichkeit aus tatsächlichen Gründen verwehrt ist oder die betroffene Partei sich ihrer erhöhten Eigenverantwortung nicht bewußt ist und aus diesen Gründen kein Zwischenfeststellungsantrag gestellt wird. Zum anderen ist die freiheitliche und individualistische Gesinnung, wonach den Parteien im Prozeß größtmöglicher Freiraum zu gewähren war und jedes staatliche Entgegenkommen als bevormundender Eingriff abgestempelt wurde, heute vorbei“.179
Im Ergebnis schlägt Reischl eine andere Lesart des § 322 Abs. 1 ZPO vor, die es de lege lata erlaube, die Rechtskraft auf Urteilselemente zu erstrecken, „um den Entscheidungsinhalt prozessual abzusichern“.180 Nach Ansicht Reischls sollte daher auch ein Urteil, das den B zur Herausgabe einer Sache an den A aufgrund eines Anspruches aus § 985 BGB verurteilt, gleichzeitig eine rechtskräftige Aussage über das Eigentum des A enthalten.181 Zugestimmt werden kann dieser Ansicht zumindest in dem Befund, die Zwischenfeststellungsklage helfe dort nicht, wo die Parteien diese Möglichkeit – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen. Darüber hinaus ist die vorgeschlagene Lesart des § 322 Abs. 1 ZPO jedoch abzulehnen, da sie in offenem Widerspruch zur Absicht des Gesetzgebers steht und auch Reischls Interpretation der historischen Entwicklung nicht derart zu überzeugen vermag, als dass sie zur Abkehr von der bisherigen Auslegung des § 322 Abs. 1 ZPO zwänge.182
ee) Teleologische Reduktion des § 322 Abs. 1 ZPO und Analogie zu § 322 Abs. 2 ZPO – Foerste Für die Kategorie der Ausgleichszusammenhänge183 folgt Foerste dem Vorschlag Zeuners und befürwortet eine Erstreckung der Rechtskraft des ersten Urteils auf den „verbindenden Entscheidungsgrund“.184 Umzusetzen sei dies im Wege teleologischer Reduktion des § 322 Abs. 1 ZPO oder durch eine Analogie zu § 322 Abs. 2 ZPO.185 Für die Fallgruppe der Ausgleichszusammenhänge sei bezeichnend, dass hier weiterreichendende Urteilsfolgen – entgegen der für die Formulierung des § 322 Abs. 1 ZPO maßgeblichen Befürchtung des Gesetz179
Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 139. Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 314, seiner Meinung nach sei § 322 Abs. 1 ZPO wie folgt zu lesen: „Urteile sind der Rechtskraft nicht nur insoweit fähig, als über den erhobenen Anspruch entschieden ist, sondern auch, soweit es erforderlich ist, diese Entscheidung prozessual abzusichern.“ 181 Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 194 ff., 207. 182 Kritisch auch Gaul, ÖJZ 2003, 861, 874: „Indessen vermögen Reichls [sic!] Thesen weder zur Entstehungsgeschichte noch zum geltenden Recht zu überzeugen.“ 183 Vgl. hierzu oben dritter Teil, A. II. 1. 184 Foerste, ZZP 1995, 167, 190 f. 185 Foerste, ZZP 1995, 167, 177 ff., 190 f. 180
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gebers186 – gerade nicht überraschend wären.187 Seiner Meinung nach sei die Gefahr unvorhergesehener Rechtskraftwirkungen in Folgeprozessen innerhalb der Ausgleichszusammenhänge „eindeutig auszuschließen“.188 Danach könnte C, der zuvor erfolgreich gegen D auf Kaufpreiszahlung geklagt hatte, nicht überrascht sein, wenn innerhalb einer Klage wegen Gewährleistungsansprüchen des D gegen C das Bestehen eines wirksamen Kaufvertrages zugrunde gelegt würde. Eine teleologische Reduktion sei deshalb geboten und möglich, weil die Ausgleichszusammenhänge nicht von der Zielrichtung des § 322 Abs. 1 ZPO erfasst und darüber hinaus bei der Schaffung des § 322 Abs. 1 ZPO „offensichtlich übersehen“ worden seien.189
3. Zusammenfassung und Bewertung – Schwierigkeit von Definition und Identifikation „tragender“ Gründe Die obigen Ausführungen haben zweierlei gezeigt. Erstens: Die vom Gesetzgeber intendierte Begrenzung der Rechtskraft auf den Tenor und die anerkannten Kategorien der Rechtskraftwirkung (Identität, Präjudizialität und kontradiktorisches Gegenteil) werden immer wieder als zu eng empfunden.190 Und zweitens: Obwohl die Bedenken vielfach geteilt und ernst genommen werden, stoßen die zahlreichen Versuche, die Rechtskraftgrenzen auszuweiten, überwiegend auf berechtigte Skepsis und konnten sich nicht etablieren. Hauptgrund für die Kritik an der bestehenden Rechtskraftreichweite ist die Befürchtung, der Ausschluss jeglicher Vorfragenentscheidungen von der Rechtskraft ermögliche und begünstige die Entstehung von materiellrechtlich widersprüchlichen Entscheidungen. Man denke etwa nochmals an die bestehende Möglichkeit eines Zweitgerichtes, die Klage auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache wegen der Nichtigkeit des Kaufvertrages abzuweisen, obwohl ein Erstgericht zuvor der Zahlungsklage aus demselben Vertrag stattgegeben hatte. Richtig ist, dass Fallkonstellationen wie diese nach der bestehenden Gesetzeslage möglich sind. Richtig ist auch, dass Fallkonstellationen wie diese – 186
Vgl. hierzu bereits oben dritter Teil, A. I. 3. Foerste, ZZP 1995, 167, 177: „Solches [also ungeahnte Urteilsfolgen] ist nun aber bei Ausgleichszusammenhängen kaum zu befürchten. Gewährt z. B. das Bürgerliche Recht einen Vorteil nur deshalb, weil es der anderen Partei einen Ausgleich gibt, so weiß natürlich auch der Gewinner des ersten Prozesses (zumindest von seinem Anwalt), daß sein Gewinn nur relativ ist, eben weil er mit dem Ausgleich belastet ist und es nur eine Frage der Zeit ist, wann dieser erzwungen wird. Hier droht keine Überrumpelung.“ 188 Foerste, ZZP 1995, 167, 177. 189 Foerste, ZZP 1995, 167, 177. 190 Dies gilt bis heute ungebrochen, vgl. jüngst der Vorschlag, die deutsche Rechtswissenschaft und Rechtsprechung solle sich „stärker für die prozessökonomischen Implikationen der materiellen Rechtskraft interessieren und versuchen, die entsprechenden Impulse der USamerikanischen Forschung konstruktiv zu verwerten und weiterzuentwickeln“ so Thomale, JZ 2018, 430, 434; dazu mit Recht kritisch Gaul, JZ 2018, 1013. 187
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sofern sie tatsächlich eintreten – schier inakzeptable Widersprüche darstellen. Im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Neuregelung ist aber auch fraglich: Wie wahrscheinlich ist die Entstehung derartiger Konstellationen? Und gibt es eine befriedigende Alternative? Die Wahrscheinlichkeit, mit welcher derartige Situationen entstehen, ist abhängig davon, wie gut die Parteien einer abweichenden Vorfragenbeurteilung vorbeugen können und davon, wie „schnell“ sich ein Zweitgericht zu einer abweichenden Entscheidung hinreißen lassen wird. Im Ergebnis wird die tatsächliche Gefahr solcher Konstellationen daher vergleichsweise gering sein. Denn die Parteien können – auch das wurde bereits mehrfach betont – durch Erhebung einer Zwischenfeststellungsklage die Beurteilung der Vorfrage der Rechtskraft zuführen und die vom Erstgericht getroffene Entscheidung dadurch für jedes nachfolgende Gericht bindend konservieren. Darüber hinaus wird das Zweitgericht, das eine Folgefrage zwischen denselben Parteien zu beurteilen hat, in der Regel nur dann vom Dafürhalten des Erstgerichtes abweichen, wenn es von dessen Unrichtigkeit überzeugt ist. In Fällen, in denen das Zweitgericht dann von der Erstentscheidung abweicht, weil diese tatsächlich falsch war, wird die enge Begrenzung der Rechtskraft sogar vorteilhaft sein. Aus eben Gesagtem ergibt sich sodann schon ein erstes Argument gegen die generelle Erstreckung der Rechtskraft auf Vorfragen: Man empfindet schlicht keine Notwendigkeit. Dieses Argument allein ist jedoch freilich nicht ausreichend, weil der Eintritt derartiger Konstellationen eben nur unwahrscheinlich und nicht unmöglich ist. Insofern müssen weitere Gründe vorliegen, die gegen eine Erweiterung der Rechtskraft sprechen und den status quo insofern alternativlos machen, als er trotz der aufgezeigten Problemfelder die überzeugendere Lösung bleibt. Was also spricht gegen die Vorschläge? Gegen die Vorschläge sprechen neben speziellen, in den Eigenheiten des jeweiligen Modells angelegten, Durchführungsschwierigkeiten191 überwiegend allgemeine Argumente. Ein gewichtiger Grund ist zunächst der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers und der in diesem Sinne verstandene Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO. Diese Argumente sind freilich national beschränkt und nur solange gültig, wie sich an der Gesetzeslage nichts ändert. Interessanter sind daher diejenigen Gründe, die unabhängig vom Standpunkt „es ist eben so und daher hinzunehmen“192, funktional überzeugen. In der Sache waren bei Schaffung des § 322 ZPO zwei Gesichtspunkte besonders maßgeblich: Man wollte die Parteien vor überraschenden Urteilsfolgen in späteren Prozessen bewahren und man ging davon aus, mit der Zwischenfeststellungsklage ein wirksames Instrument zum Ausgleich der engen Grenzen geschaffen zu haben. Unabhängig davon, inwieweit der erste Gedanke auch heute noch verfängt, ist die Möglichkeit, mit 191
Hierzu sogleich. Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 502.
192 Ähnlich
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der Zwischenfeststellungsklage Vorfragenentscheidungen einer rechtskräftigen Entscheidung zuzuführen, ein überzeugendes Argument gegen die generelle Erstreckung der Rechtskraft auf Entscheidungsgründe. Denn sie ist in der Lage, viele der angesprochenen Probleme flexibel zu bewältigen, ohne gleichzeitig eine zwar weite, aber in dieser Weite ebenso starre Erstreckung der Rechtskraft auf Gründe hinnehmen zu müssen. Nicht zuletzt erhöht sich mit der Erweiterung der Rechtskraft auch die Gefahr einer Perpetuierung falscher Ergebnisse, da weitere Rechtskraftgrenzen die Möglichkeit, Fehlurteile in späteren Entscheidungen zu „korrigieren“, einschränken. Die Diskussion um eine Rechtskraft der Gründe steht damit immer in einem Spannungsfeld zwischen der Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen einerseits und der Gefahr einer Fortschreibung falscher Urteile andererseits. Je mehr Bestandteile der Entscheidung in Rechtskraft erwachsen, desto geringer wird die Gefahr widersprechender Urteile in nachfolgenden Prozessen. Gleichzeitig erhöht sich mit der Reichweite der Rechtskraft allerdings auch die Reichweite falscher Gerichtsentscheidungen. Die Abwägung obiger Argumente spricht daher gegen eine Erstreckung der Rechtskraft auf alle Urteilsgründe. Dieses Ergebnis entspricht auch dem Willen des historischen Gesetzgebers. Weniger eindeutig ist das Ergebnis, wenn es nicht um eine Entscheidung zwischen den „Extrempositionen alle oder keine Gründe“, sondern um die Rechtskraft bestimmter Urteilsgründe geht. Zu denken wäre etwa an eine Rechtskraft „tragender“ Urteilsgründe. Entscheidet man sich sodann für eine Rechtskraft „tragender“ Urteilsgründe, werden Kriterien erforderlich, anhand derer sich zweifelsfrei prognostizieren lässt, welche Gründe insofern „tragend“ sind, als dass sie in Rechtskraft erwachsen und welche das nicht sind und deshalb nicht in Rechtskraft erwachsen. Vielerorts wird diese Aufgabe als nicht zu bewältigen angesehen und als ein Argument gegen die Rechtskraft bestimmter Urteilsgründe verwandt.193 Pointiert fragt insoweit Oberhammer: „Was sind tragende Gründe? In einem schlüssig aufgebauten, Überflüssiges weglassenden Urteil sollten doch wohl eigentlich alle Entscheidungsgründe ‚tragend‘ sein! Wie viele Subsumtionsschlüsse vom Spruch sollten denn diese ‚tragenden‘ Gründe entfernt sein? Das kann in Wahrheit niemand abgrenzen […]. Im logischen Aufbau eines Urteils von der Beweiswürdigung über die Tatsachenfeststellung zur rechtlichen Beurteilung gibt es mE keine sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚wichtigen‘ und ‚unwichtigen‘ Feststellungen – es gibt nur allenfalls überflüssige!“194
Richtig ist, dass in einem Urteil jeder erforderliche und daher vom Gericht getätigte Subsumtionsschluss den Tenor „trägt“. Versteht man „tragend“ derart wörtlich und weit und damit im Sinne eines conditio-sine-qua-non-Verhältnis193 So etwa bei Oberhammer, JBl. 2000, 205, 215; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f. 194 Oberhammer, JBl. 2000, 205, 215.
170
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ses zwischen Tenor und Gründen, wären in der Tat alle Gründe „tragend“ und mit Rechtskraft auszustatten. Zwar entfiele insofern wieder das Differenzierungsproblem, weil nun alle Gründe als „tragend“ anzusehen wären, allerdings ist diese Lösung aus den oben genannten Gründen abzulehnen. Fraglich ist jedoch, ob im Hinblick auf die Rechtskraft „tragender“ Urteilsgründe nicht auch von einem funktionaleren Verständnis des Begriffes „tragend“ ausgegangen werden kann und insofern doch eine Abgrenzung zwischen „tragend“ im weitesten Sinne und „tragend“ in einem engeren Sinne möglich ist. Für das deutsche Recht wäre denkbar, alle vom Gericht geprüften und insofern „entschiedenen“ Tatbestandsmerkmale der jeweiligen Anspruchsgrundlagen als „tragend“ im engeren, funktionalen Sinn zu verstehen. Der Unterschied zwischen den beiden Alternativen lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: A verklagt den B auf Herausgabe nach § 985 BGB. Das Gericht prüft und bejaht im Rahmen der Eigentümerstellung des A einen gutgläubigen Erwerb des A von C. Über den Besitz des B wird gestritten, weil unklar ist, ob B Besitzer oder Besitzdiener ist; das Gericht bejaht letztendlich allerdings den Besitz des B. Ein Recht zum Besitz des B verneint das Gericht, nachdem es zuvor die Wirksamkeit eines Vertrages zwischen A und B verneint hat. Das Gericht verurteilt B zur Herausgabe an A und das Urteil wird rechtskräftig. Nach dem weitesten Verständnis von „tragend“ stünden nun neben dem Bestehen des Herausgabeanspruches mindestens folgende „tragende“ Entscheidungsgründe fest: Das Eigentum des A; die Wirksamkeit des gutgläubigen Erwerbs durch A von C; der Besitz des B; das Fehlen eines Rechts zum Besitz des B; die Unwirksamkeit des Vertrages zwischen A und B. Die Reichweite der Rechtskraft wäre nun zwei Subsumtionsschlüsse vom Tenor entfernt. Aber warum gerade zwei? Bei einer Rechtskraft aller „tragender“ Gründe ist doch konsequenterweise auch fraglich, ob nicht auch wiederum die Voraussetzungen der Voraussetzungen der Voraussetzungen feststehen müssten. Wäre insoweit nicht auch an eine rechtskräftige Feststellung der Nichtberechtigung des C zu denken? Und daran anschließend wiederum an eine rechtskräftige Feststellung der Unwirksamkeit einer Übereignung des ursprünglichen Eigentümers E an C? Diese Überlegungen ließen sich unschwer fortsetzen und demonstrieren insofern, dass ein derart wörtliches und weites Verständnis von „tragend“ kaum durchführbar wäre, weil hier in der Tat nicht klar wäre, bei dem „wievielten“ Subsumtionsschluss die Grenze der Rechtskraft erreicht wäre. Anders wäre das, wenn „tragend“ funktionaler, auf die Tatbestandsmerkmale der Anspruchsgrundlage – also auf den ersten Subsumtionsschluss – beschränkt verstanden würde. In unserem Beispiel stünde dann nur das Eigentum des A, der Besitz des B und für das Recht zum Besitz konsequenterweise nur dessen Nichtbestehen, nicht aber die Unwirksamkeit des Vertrages zwischen A und B, rechtskräftig fest. Ein derartiges Verständnis ließe sich – beschränkt auf das deutsche, an Anspruchsgrundlagen orientierte Recht – wohl grundsätz-
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lich durchführen. Allerdings bestehen auch hiergegen ernstzunehmende Bedenken. Geklärt werden müsste, ob sich die Rechtskraft nach diesem Verständnis auf alle oder nur auf bestimmte Glieder des ersten Subsumtionsschlusses „unterhalb“ des Tenors erstreckt. Dies wirft die Frage auf, ob insoweit parallel zur (Zwischen-) Feststellungsklage nur „Rechtsverhältnisse“ in Rechtskraft erwachsen oder – und das wäre zu bevorzugen –, ob auch sonstige Feststellungen zu Rechtsfragen, die keine Rechtsverhältnisse im Sinne des § 256 Abs. 1 bzw. 2 ZPO sind, mit Rechtskraft ausgestattet werden sollen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Anspruchsgrundlage dies vorschreiben. Eine Beschränkung auf solche Feststellungen, die ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 Abs. 1 bzw. 2 ZPO darstellen, führte nämlich einerseits zur Implementierung der bisweilen schwierigen und uneinheitlichen Abgrenzungsproblematik zwischen Rechtsverhältnis, abstrakten Rechtsfragen und Vorfragen.195 Überdies stellen jedoch schlicht die wenigsten Tatbestandsmerkmale Rechtsverhältnisse dar und die durch die Ausdehnung der Rechtskraft erwarteten Vorteile beschränkten sich dann von vornherein auf den (seltenen) Ausnahmefall, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der geprüften Anspruchsgrundlage (zufällig) Rechtsverhältnisse sind. Weiterhin müsste klar sein, was geschieht, wenn das Gericht zu einer oder mehreren Anspruchsgrundlagen gar nichts sagt. Hier könnte wohl argumentiert werden, dass insofern auch keine Entscheidung des Gerichtes vorläge und so auch nicht etwa die Feststellung in Rechtskraft erwachsen könnte, die Tatbestandsmerkmale der nicht geprüften Anspruchsgrundlagen lägen nicht vor. Zuletzt wirft eine solche Lesart auch die Frage nach dem verbleibenden Anwendungsbereich der Zwischenfeststellungsklage auf und auch dieser Vorschlag steht im offenen Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers, der mit § 322 Abs. 1 ZPO gerade eine Rechtskraft jeglicher – also auch „tragender“ – Gründe ausschließen wollte. Gleichwohl ist zuzugeben, dass sich der Wille des Gesetzgebers de lege ferenda verändern und der Zwischenfeststellungsklage immerhin noch klarstellende Funktion zukommen könnte. Nichtsdestotrotz bewegen sich wohl die meisten der nach Inkrafttreten der ZPO entwickelten Vorschläge aus ebendiesen Gründen in einem Zwischenbereich, indem sie nicht alle „tragenden“ Gründe mit Rechtskraft versehen, sondern die Rechtskraft nur partiell, in bestimmten Fällen und nicht grundsätzlich auf Gründe erstrecken wollen.196 Dies macht die Vorschläge zwar insoweit „denkbar“ als sie nicht von vornherein der Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Gleichzeitig liegt in ihrer Partiellität aber auch ihre größte Schwierigkeit: Unabhängig davon, ob sich überhaupt überzeugende Kriterien finden lassen, die den einen Fall vom anderen Fall zuverlässig unterscheiden, machen 195 196
Vgl. hierzu etwa MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 24 ff. Insoweit distanzieren sich einige der Vorschläge explizit von den Lehren Savignys und Windscheids, vgl. z. B. etwa Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 2, 4, 57, 173.
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derartige Vorschläge für die Prognose der Rechtskraftreichweite eine Überprüfung und Differenzierung zwischen dem einen und dem anderen Fall erforderlich. So ist für die Anwendung der Lehre Zeuners erforderlich, zu wissen, ob es sich in dem konkreten Fall nun um einen von der Rechtskraft nicht zu zerreißenden Sinnzusammenhang handelt oder nicht. Dies ist insbesondere in denjenigen Fällen, die den von Zeuner entwickelten Szenarien ähnlich sind, aber nicht gleichen, schwierig. Auch das von Henckel entwickelte Kriterium des „wirtschaftlichen Werts“ führt – abgesehen von der generellen Frage nach Richtigkeit und Verifizierbarkeit seiner Hypothese, der wirtschaftliche Wert bestimme die Intensität der Streitführung – insoweit zu einer „Fraktur“ der Rechtskraftreichweite, weil die Rechtskraft von Gründen von vorn herein nur in solchen Prozessen bejaht werden kann, deren „wirtschaftlicher Wert“ überhaupt bezifferbar ist. Auch die Heranziehung des von Rimmelspacher entwickelten Begriffes der „Rechtsposition“ beeinträchtigt neben der praktischen Handhabarkeit auch die Vorhersehbarkeit der Rechtskraft.197 Der Forderung Althammers, „der zwischen zwei verschiedenen Rechtsfolgen bestehenden Interessenidentität […] bei der Bemessung der positiven Rechtskraftwirkungen […] stärker als bisher Rechnung“ zu tragen198, könnte nur dann nachgekommen werden, wenn zweifelsfrei klar wäre, wann vom Vorliegen des Kriteriums der Interessenidentität in Rechtskraftfragen ausgegangen werden muss und wann nicht.199 Es wird deutlich, dass alle Vorschläge, die die Rechtskraft nur in Ausnahmefällen ausdehnen möchten, (überzeugende) Kriterien zur Identifikation der Ausnahmefälle und Unterscheidung vom „Normalfall“ liefern müssten. Mit anderen Worten, es müsste klar sein, wann die Rechtskraft auch Entscheidungsgründe erfasst und vor allem, welche Vorfragenentscheidungen hiernach eigenständig in Rechtskraft erwachsen und infolgedessen Bindungswirkung entfalten. Notwendig ist daher ein System zur Identifikation des – über den Tenor hinausgehenden – rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes. Im Hinblick auf die Rechtssicherheit, die die Rechtskraft herbeizuführen bestimmt ist, muss ein solches System so eindeutig und umfassend sein, dass es zweifelsfreie Aussagen in jeglichen Konstellationen ermöglicht. Andernfalls fiele die Rechtssicherheit dem Bestreben nach materiellrechtlicher Widerspruchsfreiheit zum Opfer.200 Und an eben diesem Punkt entzündet sich sodann auch die durchschlagende Kritik an allen bisher gemachten Vorschlägen: Keiner der bisher entwickelten Ideen ist dies bislang gelungen.201 Jeder dieser Vorschläge bringt Abgrenzungsschwie197 Ebenso Peetz, Materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge, 198 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 572. 199
S. 53.
Kritisch etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 93, Rn. 26: „Beide Kriterien sind aber ihrerseits ungenau.“ 200 So besonders eingängig auch Rechberger, FS Nakamura (1996), 447, 488 f. 201 Ebenso Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158; Rechberger, FS Nakamura (1996),
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rigkeiten mit sich, die der mit der Rechtskraft verfolgten Rechtssicherheit abträglich sind. Solange es nicht gelingt, ein überzeugendes System zu errichten, solange die gefundenen Kriterien oder Fallgruppen eben noch zu sehr Kasuistik und zu wenig umfassendes Gesamtsystem sind, solange bleibt die strikte Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf den Tenor die bessere, weil eindeutigere und damit sicherere, Alternative.202 Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass eine Erstreckung auf alle Gründe ausscheidet, weil sie zu einer kaum zu bewältigenden Reichweite der materiellen Rechtskraft führen würde, welche die Gefahr der Perpetuierung von falschen Urteilen untragbar ausdehnen würde. Die Rechtskraft „tragender“ Gründe ließe sich bei einer Beschränkung auf den ersten Subsumtionsschluss unterhalb des Tenors rein technisch wohl zwar bewältigen.203 Auch sie steigert jedoch die Gefahr der Fortschreibung falscher Urteile und steht im Konflikt mit Anwendungsbereich und Existenz der Zwischenfeststellungsklage, welche dann allenfalls noch gebraucht würde, um eine rechtskräftige Entscheidung über ein Rechtsverhältnis herbeizuführen, welche das Gericht ansonsten aufgrund der Konstellation im Einzelfall nicht hätte treffen müssen. Beide Möglichkeiten stehen zudem im Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers und damit der Rechtslage de lege lata. Vorschläge, die die Rechtskraft nicht auf alle tragenden Gründe erstrecken, sondern nur in Sonderfällen und Ausnahmekonstellationen ausdehnen wollen, mögen noch funktionieren, solange ein solcher Sonderfall „eindeutig“ vorliegt. Sie erzeugen aber dann neue und ernsthafte Probleme, wenn das Vorliegen einer Ausnahmekonstellation eben nicht so eindeutig ist. Damit stünde vor der Beantwortung der Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft die je nach Einzelfall schwierige und möglicherweise nicht eindeutige Beantwortung der Frage, ob die jeweils vorgeschlagenen Sonderkonstellationen nun einschlägig sind oder nicht. Die bislang entwickelten und hier dargestellten Vorschläge zur Erweiterung der materiellen Rechtskraft in besonders gelagerten Ausnahmefällen sind der Rechtssicherheit abträglich und insoweit einer klaren und eindeutigen Lösung in Form einer Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf den Tenor unterlegen. Mit anderen Worten: Die Ausdehnung der Rechtskraft auf alle oder zumindest alle tragenden Gründe wi477, 488 f.: „Es erscheint daher jedenfalls notwendig, jene Fälle, in denen – ausnahmsweise – von einer Bindung an Entscheidungsgründe ausgegangen würde, entsprechend abzugrenzen. Gerade das hat jedoch mE bis dato noch niemand in befriedigender Weise zu Wege gebracht […].“ 202 Ebenso Rechberger, FS Nakamura (1996), 447, 488 f.; Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 508; ähnlich auch Peters, ZZP 1963, 229, 243, der jedoch zu Recht darauf hinweist, dass auch die Handhabung der Begriffe der Präjudizialität und des kontradiktorischen Gegenteils zur Kasuistik führen und daher „das Problem, das gesetzliche Grundprinzip abzuschleifen, [ohne Hilfe und Prüfstein der Kasuistik] wohl nicht zu meistern“ sei. 203 Vgl. auch die lange Zeit herrschende Ansicht im französischen Recht zu den motifs décisifs, unten dritter Teil, B. III. 2. (allgemein) sowie dritter Teil, B. III. 4. b) bb) (Rechtsprechung) und dritter Teil, B. III. 4. c) bb) (Literatur).
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derspricht der gesetzgeberischen Intention der lex lata. Die Ausdehnung der Rechtskraft nur in bestimmten Sonderkonstellationen tut dies – wenngleich in geringerem Maße – auch. Sie birgt außerdem das – bislang ungelöste – Problem einer verlässlichen Abgrenzung zwischen Normal- und Sonderfall. Diese Form der Abgrenzungsschwierigkeiten läuft der Rechtssicherheit zuwider und spricht daher gegen eine partielle Ausdehnung der Rechtskraft. Dies gilt umso mehr, wenn das Prozessrecht die Möglichkeit der Erhebung einer Zwischenfeststellungsklage204 bereithält. Die heute herrschende Meinung kann sich nach alledem also nicht nur auf Willen und Wortwahl des Gesetzgebers, sondern auch auf inhaltlich überzeugende Argumente stützen. Darüber hinaus sind enge Rechtskraftgrenzen auch durchaus praktikabel und eine generelle Erweiterung der Rechtskraft nicht erforderlich.
III. Praktikabilität enger Rechtskraftgrenzen, Ausnahmen und Korrektiv Die strikte Begrenzung der Rechtskraft in § 322 Abs. 1 ZPO bereitet vergleichsweise wenig Probleme bei stattgebenden Urteilen, denn hier enthält der Tenor zumindest einen „greifbaren“ Inhalt. Wenn die Klage allerdings abgewiesen wird und der Tenor infolgedessen nicht mehr enthält als „Die Klage wird abgewiesen“, kommt den Gründen gesteigerte Bedeutung zu, weil sich (nur) in ihnen die ausschlaggebenden Motive des Gerichts finden lassen werden. Auch in Anbetracht missverständlicher Formulierungen des BGH205 mag man an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob die „gesteigerte Bedeutung“ der Gründe im Fall einer Klageabweisung eine Rechtskraft derselben bedeutet (1. a)). Wie schon Zeuner dargelegt hat, wird die enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft auch dann auf die Probe gestellt, wenn sich die Streitgegenstände zweier Klagen stark ähneln. In derartigen Fällen würde die unterschiedliche Beurteilung derselben Vorfragen besonders augenscheinlich und für die Parteien infolgedessen besonders irritierend. Anschaulich wird dies etwa bei nachfolgenden Klagen nach dem Eintritt neuer Tatsachen (1. b)) und im Verhältnis von Teilklage und Nachforderungsklage (1. c)). Ein wesentlicher Vorteil der strikten Rechtskraftregeln ist ihre Klarheit. Diese wird nur durch wenige echte Ausnahmen beeinträchtigt (2. und 3.). Das Institut der Zwischenfeststellungsklage flankiert die Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor und stellt insofern ein äußerst wirksames Korrektiv dar, weil es die Nachteile eines starren Konzeptes ausgleicht und flexible, aber klare und von den Parteien intendierte Rechtskrafterweiterungen ermöglicht (4.).
204 205
Vgl. hierzu unten dritter Teil, A. III. 4. Vgl. hierzu sogl. unten dritter Teil, A. III. 1.
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1. Keine Erforderlichkeit einer isolierten Rechtskraft von Entscheidungsgründen Anhand der erwähnten Bewährungsproben soll im Folgenden dargestellt werden, dass die enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft durchaus praktikabel ist206 und insoweit die Annahme einer generellen Erstreckung der Rechtskraft auf Gründe nicht erforderlich ist, um brauchbare Ergebnisse zu finden.
a) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei klageabweisenden Urteilen In Fällen, in denen sich der konkrete Entscheidungsgegenstand nicht allein aus dem Tenor bestimmen lässt, können und müssen Tatbestand und Entscheidungsgründe zur Präzisierung und Auslegung der gerichtlichen Entscheidung herangezogen werden.207 Aus der Urteilsformel „die Klage wird abgewiesen“, lässt sich wenig über die Reichweite der Rechtskraft der jeweiligen Entscheidung ableiten. Insofern stellen insbesondere klageabweisende Urteile Entscheidungen dar, bei denen sich aus dem Tenor allein nicht auf den entschiedenen – und damit von der Rechtskraft erfassten – Streitgegenstand schließen lässt.208 Um die Frage zu beantworten, welche Rechtskraftwirkungen von klageabweisenden Urteilen ausgehen, ist daher eine Untersuchung der Urteilsgründe erforderlich. In der Literatur wird die gesteigerte Bedeutung der Urteilsgründe betont209 und die Rechtsprechung wiederholt in diesem Zusammenhang, „bei einer klageabweisenden Entscheidung […] ist jedoch der aus der Begründung zu ermittelnde, die Rechtsfolge bestimmende, ausschlaggebende Abweisungsgrund Teil des in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungssatzes und nicht allein ein Element der Entscheidungsbegründung“.210
Heißt das nun aber, dass der jeweils tragende Abweisungsgrund eigenständig in Rechtskraft erwächst? Konkretes lässt sich aus derartigen Formulierungen freilich noch nicht ableiten und so bedarf die Frage, welche Rolle den Gründen bei klageabweisenden Urteilen im Hinblick auf die Rechtskraft tatsächlich zukommt, einer genaueren Betrachtung. Um die Reichweite der materiellen Rechtskraft von klageabweisenden Entscheidungen bestimmen zu können, ist zunächst danach zu unterscheiden, ob 206
Dies anerkannte im Übrigen auch Zeuner, vgl. Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 2. BGHZ 34, 337, 339 = NJW 1961, 917; BGHZ 36, 365, 367 = NJW 1962, 1109; BGH NJW 1997, 3447; BGH NJW-RR, 1999, 1006; BGH NJW 2008, 2716; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 87; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 169; Thomas/ Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 17. 208 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 88; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 26. 209 Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 176: „Der Abweisungsgrund ist von entscheidender Bedeutung für die Grenzen der rechtskräftigen Entscheidung […]“. 210 BGH NJW 1993, 3204, 3205; BAG NZA 2014, 653, 655; BAG NZA 2017, 593, 596. 207
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es sich bei der klageabweisenden Entscheidung um ein Prozess- oder ein Sachurteil handelt.211 Im Anschluss hieran müssen die jeweiligen Wirkungsrichtungen der materiellen Rechtskraft beleuchtet werden, um herauszufinden, ob im Rahmen von Abweisungsurteilen Urteilsgründe tatsächlich eigens in Rechtskraft erwachsen und damit eine Ausnahme oder Durchbrechung des oben dargestellten Grundsatzes vorliegt.
aa) Prozessurteil – Abweisung als unzulässig Ein Prozessurteil, das die Klage als unzulässig abweist, stellt fest, dass die Rechtsverfolgung nicht zulässig ist – im Zeitpunkt der Klageerhebung also mindestens eine Zulässigkeitsvoraussetzung nicht vorlag.212 Dabei beschränkt sich die Rechtskraft des klageabweisenden Prozessurteils auf die Aussage, dass die „Klage aus dem in den Entscheidungsgründen konkret genannten Grund unzulässig war und ist“.213 Die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft führt hier also nur dazu, dass dieselbe Klage solange nicht erneut anhängig gemacht werden kann, wie der prozessuale Mangel (noch) besteht.214 Wurde die Klage etwa wegen der Unzuständigkeit des Gerichtes abgewiesen, so kann der Kläger denselben Streitgegenstand vor dem zuständigen Gericht erneut vorbringen.215 Gleiches gilt, sofern die Klage zunächst unzulässig war, weil der Beklagte nicht partei- oder prozessfähig war, diese Voraussetzung zu einem späteren Zeitpunkt dann jedoch vorliegt.216 Weniger eindeutig erscheint hingegen, welche positiven Rechtskraftwirkungen von Prozessabweisungen ausgehen. Im Grundsatz wird hier zwar auch betont, dass Vorfragenentscheidungen nicht eigenständig in Rechtskraft erwachsen.217 In einigen Konstellationen wird jedoch teilweise eine Abweichung von diesem Prinzip befürwortet. 211 So auch BAG NZA 2017, 593, 596: „Für die Bestimmung des Rechtskraftumfangs eines klageabweisenden Urteils ist von maßgebender Bedeutung, ob es sich um ein bloßes Prozessurteil handelt, mit dem die Klage als unzulässig abgewiesen worden ist, oder um ein die Begründetheit verneinendes Sachurteil.“; Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 33 f. weist auf die unterschiedliche Reichweite der Rechtskraft je nach Abweisungsgrund hin. 212 So OLG Brandenburg NJW-RR 2000, 1735, 1736; BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 35; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 172; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 126. 213 OLG Brandenburg NJW-RR 2000, 1735, 1736; Dunz, NJW 1985, 2536, 2536; BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 35. 214 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 44; BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 35. 215 BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 35; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 172. 216 BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 36; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 172; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 126. 217 MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 174; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4,
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Zur Rechtskraft eines Prozessurteils aufgrund einer gültigen Schiedsgerichtsvereinbarung hatte das Reichsgericht die Ansicht vertreten, mit der Klageabweisung aufgrund der als wirksam erachteten Schiedsgerichtsvereinbarung erwachse auch die Wirksamkeit des Schiedsvertrages in Rechtskraft.218 Diese Ansicht ist von Teilen der Literatur trotz des offensichtlichen Widerspruches zu den bestehenden Grundsätzen219 geteilt worden.220 Dabei kann die vorliegende Konstellation auch überzeugend gelöst werden, ohne dass eine eigenständige Rechtskraft von Vorfragen bejaht und damit ein Widerspruch zum herkömmlichen Prinzip in Kauf genommen werden muss.221 Ein Beklagter, der die Abweisung der Klage als unzulässig erreicht, indem er die Unzuständigkeit des Gerichts aufgrund eines Schiedsvertrages nach § 1032 Abs. 1 ZPO rügt, handelt arglistig (§ 242 BGB), wenn er sich später auf das Fehlen einer wirksamen Schiedsgerichtsvereinbarung beruft.222 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BGH.223 Ein weiteres Feld, für das eine Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen in Rede steht, betrifft die Rechtskraft von Klageabweisungen wegen Vergleichen224. Nach der Rechtsprechung des BGH steht die rechtskräftige Entscheidung, der Vergleich habe den Prozess wirksam beendet, aufgrund der sogenannten „Doppelnatur“225 von Prozessvergleichen einer späteren Überprüfung der materiellen (Un-)Wirksamkeit des Vergleiches entgegen.226 Ob hieraus jedoch gefolgert werden kann, ein solches Urteil stelle gleichsam die materielle Wirksamkeit des Vergleiches fest – dies beträfe die positive Wirkungsrichtung beziehungsweise isolierte Rechtskraft von Vorfragen –, hat der BGH hingegen 23. Aufl., § 322, Rn. 126, 131; BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 35 ff.; Dunz, NJW 1985, 2536, 2536; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 23. 218 RGZ 40, 401, 404; vgl. hierzu auch Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 72; kritisch auch Kleinfeller, FS Wach (1913), Bd. 2, 373, 404 ff. 219 Daher zutreffend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 133: „[…] aus den allgemeinen Grundsätzen über die Rechtskraft kaum zu begründen […]“. 220 Zustimmend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 133: „[…] sachlich gerechtfertigt und daher als besonderer, die Bindung erweiternder Rechtssatz anzuerkennen.“; Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 72 ff.; MüKo/Münch, ZPO, 5. Aufl., § 1032, Rn. 21. 221 So auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 174; Kleinfeller, FS Wach (1913), Bd. 2, 373, 405. 222 So auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 174; BeckOK ZPO/Gruber, 37. Ed., § 322, Rn. 38 f.; Kleinfeller, FS Wach (1913), Bd. 2, 373, 405; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 176, Rn. 39. 223 Vgl. BGH NJW-RR 2009, 1582; BGH NJW 1968, 1928. 224 Zur fehlenden Rechtskraftfähigkeit von Vergleichen bereits oben erster Teil, B. III. 6. a) bb). Zur Bindung des Rechtsnachfolgers an den vom Rechtsvorgänger abgeschlossenen Vergleich, die der BGH u. a. mit einer Parallele zur Rechtskraftwirkung von Leistungsurteilen begründet, vgl. BGH NJW 2019, 310 m. krit. Anm. Althammer, JZ 2019, 286. 225 Der Prozessvergleich ist danach sowohl privatrechtlicher Vertrag als auch Prozesshandlung, vgl. MüKo/Habersack, BGB, 7. Aufl., § 779, Rn. 71 m. zahlr. w. Nachw. 226 BGH NJW 1981, 823.
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offengelassen.227 Insofern kann auch hier nicht eindeutig von einer isolierten Rechtskraft präjudizieller Rechtsverhältnisse gesprochen werden, da gerade diese Frage vom BGH unbeantwortet blieb.228 Richtigerweise bleibt es nach alledem auch bei Prozessurteilen, die eine Klage als unzulässig abweisen, dabei, dass Vorfragenentscheidungen, die das Gericht lediglich zur Abweisung der Klage motiviert haben,229 nicht eigenständig in Rechtskraft erwachsen.230
bb) Sachurteil – Abweisung als unbegründet Ein Sachurteil, das eine Klage als unbegründet abweist, stellt fest, dass ein Anspruch der klagenden Partei nicht besteht.231 Mit anderen Worten, „dass die begehrte Rechtsfolge aus dem Lebenssachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hergeleitet werden kann“.232 Die Entscheidung des Gerichtes ergeht über den Streitgegenstand und erfasst auch solche Anspruchsgrundlagen, die das Gericht nicht explizit geprüft hat.233 Die Urteilsgründe erlangen Bedeutung bei der Frage, inwieweit es nach Klageabweisung als unbegründet noch möglich ist, dasselbe Klageziel weiterzuverfolgen (negative Wirkung der Rechtskraft). Wie beim stattgebenden Urteil auch ist durch vergleichende Betrachtung der Urteilsgründe die Identität der Streitgegenstände zu untersuchen, ohne dass hierdurch jedoch die Gründe selbst in Rechtskraft erwüchsen.234 Anhand der Urteilsgründe kann auch festgestellt werden, ob es möglich ist, dass der Abweisungsgrund durch das späte227 BGH NJW 1981, 823, 824: „Ob ein solches Urteil auch die rechtskräftige Feststellung (§ 322 ZPO) der materiellen Wirksamkeit des Vergleichs enthält, kann dahingestellt bleiben.“; die rechtskräftige Feststellung bejahend Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 130; a. A. Pecher, ZZP 1984, 139, 142 ff.; 172 f. 228 BGH NJW 1981, 823, 824; wie hier Pecher, ZZP 1984, 139, 172: „[…] zu Recht davon ausgegangen, daß durch das Urteil […] über die Wirksamkeit des Vergleiches nur als Vorfrage und nicht mit Rechtskraftwirkung für Ansprüche entschieden worden ist […]“. 229 Dunz, NJW 1985, 2536, 2536 spricht von „motivierende[n] Entscheidungselement[en]“. 230 So auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 174; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 126, 131; für die Rechtskraft von Entscheidungen zur prozessbeendigenden Wirkung von Vergleichen ebenso Pecher, ZZP 1984, 139, 173: „Die Rechtsunsicherheit […] läßt sich vermeiden, indem man sich an die bewährten Einsichten über Streitgegenstand und Rechtskraft hält.“ 231 BGH NJW 1981, 1517, 1517; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 178. 232 BGH NJW 1990, 1795, 1796; BGH NJW 1995, 1757, 1758. 233 BGH NJW 1990, 1795, 1796; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 178; vgl. zur umfassenden Prüfpflicht des Gerichtes und dem deutschen Verständnis des Grundsatzes „da mihi factum, tibi dabo jus“ bereits oben zweiter Teil, B. III. 3. b). Zum (abweichenden) Verständnis im französischen Recht siehe oben zweiter Teil, B. III. 3. c) bb) (2). 234 Ebenso Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 806; vgl. zur Bindungswirkung der Gründe innerhalb desselben Subsumtionsschlusses auch Schwab, FS Bötticher (1969), 321.
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re Hinzutreten neuer Tatsachen entfällt.235 Kann diese Möglichkeit – unabhängig von ihrer tatsächlichen Wahrscheinlichkeit – nicht ausgeschlossen werden, handelt sich es sich um eine Abweisung als zurzeit unbegründet236 und berührt damit die Frage nach den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft.237 Auch hinsichtlich der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft klageabweisender Sachurteile bleibt es bei den herkömmlichen Grundsätzen: Ausgehend von der Feststellung, dass der geltend gemachte Anspruch nicht besteht, erwächst eben auch ausschließlich diese Feststellung („der Anspruch besteht nicht“) in Rechtskraft und nur von dieser Entscheidung kann im Folgenden eine präjudizierende Wirkung ausgehen.238 235 So Grunsky, FS Schumann (2001), 159, 166; zur Bedeutung der Entscheidungsgründe für die Beantwortung der Frage, ob die Klage als zur Zeit oder endgültig abgewiesen wurde, auch Kappel, Klageabweisung „zur Zeit“, S. 38 ff. 236 So Grunsky, FS Schumann (2001), 159, 166, welcher richtigerweise betont, dass es nicht darauf ankommt, dass das Gericht die Abweisung als „zurzeit unbegründet“ auch als solche bezeichnet. Vgl. dazu auch Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 29; zum Ganzen eingehend auch Kappel, Klageabweisung „zur Zeit“, S. 17 ff. 237 Wurde etwa eine Widerklage wegen abgetretener Gewährleistungsansprüche mit der Begründung abgewiesen, der Widerkläger sei nicht Inhaber der Gewährleistungsansprüche, so steht einer späteren Klage, mit der der ehemalige Widerkläger nun erneut die Gewährleistungsansprüche geltend macht, die Rechtskraft der Klageabweisung dann nicht entgegen, wenn sich der Kläger auf eine nach Prozessende erfolgte Abtretung der Ansprüche beruft. So BGH NJW 1986, 1046, der hier gleichwohl (für die Zulässigkeit der nachfolgenden Klage) davon ausgeht, es lägen verschiedene Streitgegenstände vor. Dann aber wären die weiteren Ausführungen zur zeitlichen Grenze der Rechtskraft nicht erforderlich gewesen, weil ohnehin keine Bindung eintreten würde; zu Recht daher kritisch auch Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 802 f.; Rüssmann, FS Lüke (1997), 675, 678. Ebenso verhält es sich, wenn eine Klage wegen Amtshaftungsansprüchen abgewiesen wurde, weil der Kläger zuvor nicht den Versuch unternommen hatte, anderweitig Ersatz für seine Schäden zu erlangen; auch hier kann der Kläger dieselben Ansprüche erneut zum Gegenstand eines Verfahrens machen, wenn er diesen Versuch zuvor (erfolglos) nachgeholt hat (BGH NJW 1962, 1862). Zu den zeitlichen Grenzen der Rechtskraft im Übrigen oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (3). 238 Mithin stellt etwa ein Urteil, das eine Herausgabeklage abweist, weil das Gericht davon ausgeht, die Beklagte Partei sei Eigentümerin der herausverlangten Sache, auch nicht rechtskräftig das Eigentum der beklagten Partei fest. Rechtskräftig und damit präjudiziell wird lediglich festgestellt, dass ein Herausgabeanspruch der klagenden Partei (im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung) nicht besteht (BGH NJW 1981, 1517, 1517). Durch die Abweisung einer Räumungsklage steht rechtskräftig fest, dass kein Anspruch auf Räumung besteht. Eine nachfolgende Klage, in der Ansprüche wegen Nichterfüllung dieser (rechtskräftig verneinten) Räumungspflicht geltend gemacht werden, ist unbegründet, weil die Entscheidung über das Nichtbestehen der Räumungspflicht präjudiziell ist und die Anspruchsvoraussetzungen der nachfolgenden Klage entfallen lässt (BGH NJW 1958, 790, 791). Durch Abweisung einer Klage auf Unterlassung einer Wegbenutzung steht wegen des kontradiktorischen Gegenteils (vgl. hierzu bereits oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (2)) zwar fest, dass der Beklagte nicht zur Unterlassung verpflichtet ist und damit auch, dass der Beklagte den Weg benutzen darf (BGH NJW 1965, 42). Auch hier beschränkt sich die Rechtskraft jedoch auf den anhand der Gründe ermittelten Inhalt des Tenors, denn die (positive) Rechtskraftwirkung speist sich allein aus der Verneinung des Anspruches, während die für die Unbegründetheit des Anspruches ausschlaggebenden Vorfragen (beispielsweise die Wirksamkeit eines Vertrages, der die Benutzung erlaubt) auch hier nicht eigenständig in Rechtskraft erwachsen. Dahingehend wohl auch
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Zwar ist richtig, dass die Urteilsgründe gerade bei klageabweisenden Entscheidungen besondere Bedeutung erlangen, weil der Tenor selbst keine Rückschlüsse auf den entschiedenen Streitgegenstand zulässt. Diese gesteigerte Relevanz der Gründe geht aber nicht über die Bestimmung, Konkretisierung und Auslegung des Streitgegenstandes hinaus. Durch die Abweisung der Klage als unbegründet ergeht eine Entscheidung über den Streitgegenstand, sodass dieser – wie beim stattgebenden Urteil auch – nicht zum Gegenstand einer neuen Klage gemacht werden kann. Wird also dasselbe Klageziel durch eine spätere Klage weiterverfolgt, muss unter Heranziehung der Urteilsgründe der vorherigen Abweisung ermittelt werden, ob der neu vorgetragene Lebenssachverhalt mit dem der zuvor abgewiesenen Klage identisch ist (dann ist die nachfolgende Klage unzulässig und die negative Wirkung der Rechtskraft betroffen) oder schließlich, ob der Streitgegenstand der weiteren Klage ein anderer ist (dann ist die nachfolgende Klage zulässig und die negative Wirkung der Rechtskraft überhaupt nicht betroffen). Dass hierbei jedoch nicht Urteilsgründe eigenständig in Rechtskraft erwachsen, zeigt sich deutlich, wenn man die zweite Wirkungskomponente der materiellen Rechtskraft betrachtet: Auch bei einem Abweisungsurteil kann lediglich das Nichtbestehen des – freilich anhand der Gründe identifizierten – Anspruches in einem späteren Verfahren präjudiziell sein. Anschaulich wird das bei Abweisung einer Herausgabeklage: Das Nichtbestehen des Herausgabeanspruches aus § 985 BGB ist präjudiziell in Verfahren wegen Ansprüchen, die das Bestehen einer Vindikationslage voraussetzen.239 Nicht präjudiziell ist hingegen der für die Abweisung der Herausgabeklage maßgebliche Grund (zum Beispiel das Eigentum des Beklagten, wenn das Gericht die Vindikationsklage abgewiesen hat, weil es davon ausging, der Beklagte sei Eigentümer der herausverlangten Sache).240
cc) Ergebnis Im Ergebnis besteht daher im Hinblick auf die Rechtskraft von Urteilsgründen kein Unterschied zwischen stattgebenden und abweisenden Entscheidungen.241 In Rechtskraft erwächst lediglich die Feststellung, dass entweder die Rechtsverfolgung unzulässig oder die Klage unbegründet ist. Soweit diese Feststellung Dalla Bontà, ZZP 2012, 93, 102, die den Fall des BGH als Beispiel für „die Bedeutung der Urteilsgründe für die Auslegung [Hervorhebung durch den Verfasser] des Tenors“ heranzieht; vgl. ebenfalls Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 51; eine absolute Rechtskraft der Entscheidungsgründe verneint auch Terhalle, Rechtskraft klageabweisender Urteile, S. 95 f. 239 So zum stattgebenden Herausgabeurteil MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 103. 240 So auch BGH NJW 1981, 1517, 1517. 241 So auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 171: „Die […] Rechtskraftgrundsätze gelten für alle Klage- und Urteilsarten.“; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 51.
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eine Vorfrage im Rahmen eines anderen Verfahrens bildet, kommt ihr präjudizielle Wirkung zu. Die innerhalb der Klageabweisung getroffenen Entscheidungen über (deren) Vorfragen erwachsen nicht isoliert in Rechtskraft und binden daher in Folgeprozessen nicht. Nach alledem ist dem eingangs erwähnten Satz des BGH, wonach „bei einer klageabweisenden Entscheidung […] der aus der Begründung zu ermittelnde, die Rechtsfolge bestimmende, ausschlaggebende Abweisungsgrund Teil des in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungssatzes und nicht allein ein Element der Entscheidungsbegründung“ sei,242 mit Zurückhaltung zu begegnen. Zumal – das belegen die zitierten Entscheidungen – der BGH selbst nicht von einer isolierten Rechtskraft von Entscheidungsgründen ausgeht.243
b) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei nachfolgenden Klagen wegen neu eingetretener Tatsachen Oben wurde bereits dargelegt, dass neue – das heißt nach Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung entstandene – Tatsachen von der Rechtskraft nicht präkludiert werden und es daher möglich ist, ein Klageziel, über das bereits rechtskräftig entschieden wurde, aufgrund neuer, erheblicher Tatsachen mit einer weiteren Klage zu verfolgen.244 Unabhängig davon, ob es sich bei der ersten Entscheidung um eine abweisende oder stattgebende Entscheidung handelt, werden weite Teile des Lebenssachverhaltes erneut vorgetragen werden. Weil sich die Streitgegenstände der ersten und zweiten Klage insofern ähneln werden, wird sich das Gericht im zweiten Verfahren erneut mit Fragen befassen müssen, die bereits im ersten Verfahren beantwortet worden sind. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, inwieweit das nachfolgende Gericht, das über die spätere Klage zu entscheiden hat, an Feststellungen des Erstgerichtes gebunden ist und ob in derartigen Fällen unter Umständen eine eigene Rechtskraft von Urteilsgründen eintritt. Hier lassen sich drei Positionen ausmachen, die teilweise vom allgemeinen Grundsatz abweichen: Nach zwei Ansichten ist das nachfolgende Gericht – mit unterschiedlicher Begründung – an diejenigen Feststellungen des ersten Urteils gebunden, die von den neuen Tatsachen nicht betroffen werden.245 Wie dargelegt werden wird, ist keiner der Ansichten zu folgen, da beide von bedeutenden 242
BGH NJW 1993, 3204, 3205; BAG NZA 2014, 653, 655; BAG NZA 2017, 593, 596. Vgl. nur BGH NJW 1985, 2481, 2482: „Nicht in Rechtskraft erwächst daher die Feststellung der zugrunde liegenden präjudiziellen Rechtsverhältnisse oder sonstigen Vorfragen, aus denen der Richter den Schluß auf das Bestehen oder Nichtbestehen der von der Klagepartei beanspruchten Rechtsfolge zieht […].“ 244 Siehe hierzu oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (3). 245 So Grunsky, ZZP 1963, 165, 169 f.; Heiderhoff, ZZP 2005, 185, 194; Dietrich, ZZP 1970, 201, 212; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 31; Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 35 ff.; i. E. auch Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797. 243
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Grundsätzen abweichen, ohne dass dies im Hinblick auf die Vorteile einer derartigen Bindungswirkung gerechtfertigt wäre. Die dritte Meinung hält auch in Konstellationen, in denen sich die vorgetragenen Lebenssachverhalte (teilweise) überschneiden, konsequent am herkömmlichen Grundsatz fest und verneint im Rahmen der Zweitentscheidung zutreffenderweise eine Bindung, die über die im Tenor getroffenen Feststellungen hinausgeht.246
aa) Kritik an der Bejahung einer Bindung an Feststellungen aus dem Erstverfahren Die Meinungen, die eine Bindungswirkung zwischen Erst- und Zweitverfahren bejahen, unterscheiden sich innerhalb ihrer (dogmatischen) Begründung. Nur eine der beiden Ansichten muss sich eine eigenständige Rechtskraft der Gründe vorhalten lassen, während die andere Ansicht diesen Vorwurf umgeht, indem sie trotz der neu hinzugetretenen Tatsachen von demselben Streitgegenstand und deshalb von einer streitgegenstandsinternen Bindungswirkung ausgeht.247
(1) Streitgegenstandsinterne Bindungswirkung bei nur „modifiziertem“ Streitgegenstand Nach einer Ansicht im Schrifttum bewirkt bereits das schlichte Hinzutreten neuer248 Tatsachen die Zulässigkeit der nachfolgenden Klage.249 Diese Ansicht schließt zwar nicht aus, dass wegen der neuen Tatsachen ein neuer Streitgegenstand vorliegt. Sie hält eine neue Klage jedoch auch (schon) dann für zulässig, wenn die nachträglich eingetretenen Tatsachen den Streitgegenstand zwar modifizieren oder ergänzen, aber weiterhin als denselben Streitgegenstand er246 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 34, 50; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 58; Brox, ZZP 1968, 379, 389; auch der BGH verneint im Fall von zunächst abgewiesenen und später neu anhängig gemachten Klagen eine Bindungswirkung über den Tenor des Abweisungsurteils hinaus, vgl. die Beispiele oben Fn. 238. 247 So Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 798 ff. 248 Ob die neuen Tatsachen auch erheblich sein müssen, ist indes nicht eindeutig: Einerseits meint Leipold in Stein/Jonas/Leipold, ZPO Bd. 4, 22. Aufl., § 322, Rn. 245, die Rechtskraft könne „nicht schon durch das Vorbringen irgendwelcher neuer Tatsachen beseitigt werden“. Andererseits Leipold in FS Mitsopoulos (1993), 797, 807: „Das bedeutet schon für die Zulässigkeitsfrage, daß die Rechtskraft einer wiederholten Geltendmachung des Streitgegenstandes eben nicht entgegensteht, soweit diese Klage auf neu eingetretene […] Tatsachen gestützt wird.“ Vgl. insofern auch die Kritik Musielaks in FS Nakamura (1996), 423, 441, die Gegenmeinung – er meint damit ausweislich der Fn. gerade Leipold – lasse „die Behauptung irgendwelcher neuen Tatsachen genügen, um die Zulässigkeit bejahen zu können“. 249 So Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 234: „Die Zulässigkeit des Vorbringens neu entstandener Tatsachen hängt […] nicht davon ab, dass wegen dieser Tatsachenänderung ein ‚seinem Wesen nach anderer Sachverhalt‘ anzunehmen ist.“; Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 798 ff.; Leipold, Keio Law Review 1990, 277, 798 ff.
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scheinen lassen.250 Ein nur modifizierter Streitgegenstand soll nach dieser Ansicht etwa dann vorliegen, wenn ein zuvor wegen fehlender Aktivlegitimation mit seiner Klage auf Gewährleistungsansprüche abgewiesener Kläger dieselben Ansprüche nun mit der Behauptung, ihm seien die Ansprüche inzwischen abgetreten worden, erneut einklagt.251 Weil hier der (schlichte) Vortrag der neuen Tatsache genügt um die Zulässigkeit der neuen Klage herbeizuführen, wird die Frage, welche Auswirkungen die Neutatsache auf die Rechtsfolge hat, (erst) innerhalb der Begründetheit relevant.252 Die Annahme eines im Kern gleich gebliebenen, lediglich modifizierten Streitgegenstandes ermögliche, im neuen Verfahren nur diejenigen Tatbestandsmerkmale erneut überprüfbar zu machen, die von den Neutatsachen betroffen sind und im Übrigen eine Bindung an die Feststellungen aus dem Vorverfahren anzunehmen.253 Dem Vorwurf, damit werde letztlich eine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bejaht, entgeht diese Ansicht mit dem Hinweis, es handele sich gerade nicht um Präjudizialität im eigentlichen Sinne, sondern um das Phänomen einer „partiell fortdauernden Bindung“.254 Während es bei der Präjudizialität um die Bindungswirkung vorgreiflicher Rechtsverhältnisse zwischen zwei verschiedenen Streitgegenständen gehe, betreffe die Idee einer partiellen, streitgegenstandsinternen Bindung im Rahmen einer erneuten Entscheidung nach Auftreten neuer Tatsachen denselben Streitgegenstand. Umgekehrt formuliert: Nur dann, wenn die neuen Tatsachen den entschiedenen Streitgegenstand lediglich ergänzen und nicht derart verändern, dass von einem weiteren Sachverhaltskomplex und damit Streitgegenstand ausgegangen werden muss, stellt sich überhaupt die Frage nach einer partiellen, streitgegenstandsinternen Bindungswirkung der von den neu hinzugetretenen Tatsachen unberührten Feststellungen, da bei Annahme eines neuen Streitgegenstandes auch nach dieser Ansicht keine Bindung an Urteilsgründe erfolgen soll.255 250 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 804: „Um die bindende Wirkung des ersten Urteils nicht in sinnwidriger Weise zu beseitigen muß der Streitgegenstand des neuen Prozesses, auch wenn er sich durch eine neu entstandene Tatsache […] vom Erstprozeß unterscheidet, solange nicht als neuer, sondern als derselbe, wenn auch durch eine weitere Tatsachenbehauptung ergänzte Streitgegenstand aufgefaßt werden, als es sich nicht geradezu um einen insgesamt anderen Sachverhaltskomplex handelt.“ 251 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 800 geht für die zweite Klage von demselben aber veränderten Streitgegenstand aus. Die Fallkonstellation lag BGH NJW 1986, 1046 zugrunde, der BGH nimmt gleichwohl verschiedene Streitgegenstände an (1047). 252 So Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 803, 807 mit dem Argument, eine (eventuelle) Abweisung als unbegründet bringe die unverändert gebliebene Rechtslage „besser zum Ausdruck“ als eine Abweisung als unzulässig. Vgl. hierzu auch die Kritik Musielaks in FS Nakamura (1996), 423, 441 f. 253 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 804 f. 254 So Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 803, 806. 255 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 805 und 806: „Nur wenn man von einem neuen, anderen Streitgegenstand ausgeht, wäre es bedenklich, den rechtskräftigen Feststellungen des Ersturteils gleichwohl Bedeutung zuzumessen.“
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Damit wird letztlich eine Unterkategorie der „Streitgegenstandsbeschaffenheit“ entwickelt: Einerseits der alte, auch durch die neuen Tatsachen unveränderte Streitgegenstand. Andererseits der vollständig veränderte, neue Streitgegenstand. Und dazwischen der alte, aber ergänzte und modifizierte Streitgegenstand. Für letztere Kategorie, also in Fällen, in denen die neuen Tatsachen den Streitgegenstand nur modifizieren und nicht zur Annahme eines neuen Streitgegenstandes zwingen, soll eine neue Klage zulässig sein.256 Nach zutreffender Ansicht führt die Zession im Beispielsfall jedoch zu einem – im Vergleich zum entschiedenen – neuen Streitgegenstand.257 Auch hier ist die neue Klage dann zulässig. Soweit ersichtlich lehnt die überwiegende Ansicht eine derartige Unterkategorie der Streitgegenstandsbeschaffenheit sodann auch ab: Sie unterscheidet schlicht zwischen altem und gänzlich neuem Streitgegenstand und macht die Zulässigkeit der nachfolgenden Klage stets davon abhängig, dass wegen der neuen Tatsachen ein neuer Streitgegenstand anzunehmen ist.258 Solche (neuen) Tatsachen, die den Streitgegenstand nicht soweit verändern, dass von einem neuen Streitgegenstand auszugehen ist, können die Zulässigkeit der nachfolgenden Klage demnach schlicht nicht herbeiführen.259 Diese Ansicht erscheint aus einem entscheidenden Argument vorzugswürdig: Da auch innerhalb der Auffassung, die eine streitgegenstandsinterne Bindung für möglich hält, eine Bindung an vorher getroffene Feststellungen dann abgelehnt wird, wenn ein gänzlich neuer Streitgegenstand vorliegt,260 ist es für die (streitgegenstandsinterne) Bindungswirkung unerlässlich, eine Abgrenzung zwischen modifizierten und neuen Streitgegenstand vorzunehmen. Hierin liegt sodann auch die größte Schwäche dieser Auffassung. Zwar umgeht diese Ansicht eine Rechtskraft der Gründe. Sie verlagert aber schlicht das Problem: Wichtigstes Argument gegen eine absolute Rechtskraft von Urteilsgründen ist das Fehlen eines belastbaren Systems zur Unterscheidung zwischen solchen Gründen, die in Rechtskraft erwachsen sollen und solchen Gründen, die nicht in Rechtskraft erwachsen sollen.261 Die Annahme einer partiellen Fortwirkung innerhalb desselben Streitgegenstandes hat dieses Problem nicht, da nur diejenigen innerhalb der Gründe getroffenen Feststellungen neu überprüfbar sein sollen, die durch die neuen Tatsachen betroffen sind und insofern eine Identifika256 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 807; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 234. 257 So der BGH selbst, BGH NJW 1986, 1046, 1047; ebenso Musielak, FS Nakamura (1996), 423, 440. 258 So MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 151 ff.; Musielak, FS Nakamura (1996), 423, 441; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 60; Heiderhoff, ZZP 2005, 185, 187 f.; BGH NJW 1984, 126, 127; BGH NJW 2000, 2022, 2023. 259 Generell zur schwierigen Frage, unter welchen Voraussetzungen neu vorgetragene Tatsachen zur Annahme eines neuen Streitgegenstandes führen vgl. Musielak, NJW 2000, 3593. 260 Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 805. 261 Hierzu ausführlich oben dritter Teil, A. II. 3.
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tion derjenigen Gründe, die bindend sein sollen, anhand der Tatsachen erfolgen kann. Dafür fehlt hier ein – wenngleich zwingend erforderliches – belastbares System zur Unterscheidung zwischen modifiziertem und neuem Streitgegenstand. Schwierigkeiten bestehen schon bei der Differenzierung zwischen altem und neuem Streitgegenstand.262 Eine weitere Zwischenkategorie in Form eines teilweise veränderten, aber nicht gänzlich neuen Streitgegenstandes multipliziert diese Abgrenzungsschwierigkeiten und ist daher abzulehnen.263 Lehnt man mit obigen Ausführungen das Phänomen einer streitgegenstandsinternen, partiellen Bindungswirkung ab, bleibt gleichwohl eine Antwort auf die Frage erforderlich, ob trotz der Annahme eines neuen Streitgegenstandes nur diejenigen Tatbestandsmerkmale neu überprüft werden können, die von den hinzugetretenen Tatsachen berührt werden.
(2) Bindungswirkung trotz Annahme verschiedener Streitgegenstände Einige Stimmen in der Literatur gehen davon aus, dass nur die von den Neutatsachen betroffenen Tatbestandsmerkmale erneut überprüfbar sind.264 Wenn etwa ein rechtskräftig zum Schadensersatz verurteilter Schädiger in einem späteren Prozess aufgrund neu hinzugetretener Tatsachen (z. B. der Weigerung des Geschädigten, sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen) die Feststellung begehrt, er sei nicht (mehr) verpflichtet, für den Schaden aufzukommen,265 kann nach dieser Ansicht im folgenden Prozess nur die konkret betroffene Frage untersucht werden. Das mit dem Beispielfall befasste Gericht wäre also an die Feststellung der Körperverletzung aus dem Erstverfahren gebunden und dürfte ausschließlich über den behaupteten Verstoß gegen die Schadensminderungsobliegenheit des Beklagten befinden. Da diese Ansicht für die Zulässigkeit der neuen Klage von einem neuen Streitgegentand ausgehen musste, erstreckt sich die Bindungswirkung hier von einem auf einen anderen Streitgegenstand und die Auffassung kann sich daher nicht mit dem Argument behelfen, es handele sich nicht um Präjudizialität im eigentlichen Sinn.266 Zwar besteht zwischen den beiden Streitgegenständen ein gewisser „Fortsetzungszusammenhang“267, dies ändert jedoch nichts am Vorliegen zweier verschiedener Streitgegenstände.268 Wenn diese Ansicht also trotz 262
Vgl. hierzu Musielak, NJW 2000, 3593. Treffend formuliert Dietrich, ZZP 1970, 201, 203: „Man mag eben nicht klipp und klar zu sagen, wo die Grenze verläuft, bis zu der man noch vom ‚selben‘ Sachverhalt sprechen kann, und ab wann die Parteien um etwas anderes streiten.“ 264 So Grunsky, ZZP 1963, 165, 169 f.; Heiderhoff, ZZP 2005, 185, 194; Dietrich, ZZP 1970, 201, 212; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 31; Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 35 ff. 265 Beispiel nach Zeuner, Sinnzusammenhänge, S. 37 f. 266 Heiderhoff, ZZP 2005, 185, 194 spricht hier sogar von der „präjudizielle[n] Wirkung der Rechtskraft, die hier zum Tragen kommt“. 267 So BGH NJW 1998, 374, 375. 268 Im konkreten Fall unterscheiden sich insofern sogar die Anträge. 263
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verschiedener Streitgegenstände eine Bindung an – in den Gründen – getroffene Feststellungen bejaht, bejaht sie eine isolierte Rechtskraft von Entscheidungsgründen und steht damit im Widerspruch zu den geltenden Rechtskraftgrundsätzen im deutschen Zivilprozessrecht. Eine über den Tenor hinausgehende Bindungswirkung zwischen ähnlichen aber eben nicht identischen Streitgegenständen ist daher richtigerweise abzulehnen. Die Prozessökonomie rechtfertigt keine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz.269
bb) Ergebnis Das Hinzutreten solcher neuen Tatsachen, die die festgestellte Rechtsfolge beeinflussen könnten, führt stets dazu, dass von einem neuen Streitgegenstand auszugehen ist.270 Eine Unterkategorie des „modifizierten“ aber alten Streitgegenstandes, bei dem eine erneute Klage gleichwohl zulässig sein soll, ist abzulehnen. Innerhalb der Entscheidung über den – aufgrund der nachträglich eingetretenen Tatsachen – neuen Streitgegenstand ist das nachfolgende Gericht nur an die rechtskräftigen Feststellungen des vorherigen Urteils gebunden und nicht an deren Gründe.271 Richtig ist an dieser Stelle auch der Hinweis, dass das nachfolgende Gericht trotz einer fehlenden Bindung in aller Regel keine neue Prüfung vornehmen, sondern von den Feststellungen des Erstgerichtes ausgehen und von diesen nur in Ausnahmefällen abweichen wird.272 Nach alledem ist auch bei Klagen wegen nachträglich aufgetretener Tatsachen keine eigenständige Rechtskraft von Gründen erforderlich.
c) Keine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bei Teilklagen Die Idee, bestimmte Feststellungen aus einem vorangehenden Verfahren innerhalb eines nachfolgenden Verfahrens fruchtbar zu machen, drängt sich wie gerade gesehen insbesondere bei Fällen auf, in denen sich die Streitgegenstände der beiden Klagen sehr ähnlich sind. Je ähnlicher sich die Streitgegenstände der aufeinanderfolgenden Verfahren sind, desto eher wird man innerhalb des 269 270
So zutreffend Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 34. Dies bejahen etwa Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 32; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 152; Musielak, FS Nakamura (1996), 423, 440: „Eine rechtserhebliche Fortentwicklung und Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ergibt also einen neuen Streitgegenstand.“; a. A. Leipold, FS Mitsopoulos (1993), 797, 804. 271 So auch Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 34, 50; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 58: „[…] dagegen bindet das Ersturteil insb nicht hinsichtl der Einzelheiten der noch erforderl Anspruchsvoraussetzungen, denn die Urteilsgründe erwachsen nicht in Rechtskraft“; Brox, ZZP 1968, 379, 389; der BGH verneint im Fall von zunächst abgewiesenen und später neu anhängig gemachten Klagen ebenfalls eine Bindungswirkung über den Tenor des Abweisungsurteils hinaus, vgl. die Beispiele oben Fn. 238. 272 So Grunsky, ZZP 1963, 165, 169; zustimmend Dietrich, ZZP 1970, 201, 211.
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zweiten Prozesses Vorfragen zu klären haben, die auch vom Erstgericht beurteilt worden sind. Offensichtlich wird das eben Gesagte etwa am Beispiel der Teilklage. Unter einer Teilklage versteht man gemeinhin eine Klage, die sich bei teilbaren273 Ansprüchen auf einen Teil des Anspruches beschränkt.274 Der Dispositionsgrundsatz erlaubt dem Kläger, auch den Umfang des geltend gemachten Anspruches zu bestimmen und so ist es möglich, zunächst nur einen Teilbetrag275 eines größeren Gesamtbetrages einzuklagen.276 Die Zulässigkeit der „ersten“ Teilklage ist anerkannt und bereitet zudem wenige Probleme.277 Deutlich schwieriger beurteilt sich demgegenüber die Zulässigkeit der sogenannten Nachforderungsklage, also derjenigen Klage, mit welcher der Kläger nach (erfolgreicher oder erfolgloser) Teilklage, den „fehlenden“ Restbetrag278 einzuklagen sucht. Hier stellt sich zum einen die Frage, inwieweit die Rechtskraft der ersten Klage (Teilklage) der Zulässigkeit der zweiten Klage (Nachforderungsklage) entgegensteht.279 Zum anderen kann man sich fragen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Gericht, das über die Nachforderung zu entscheiden hat, an Feststellungen des Erstgerichtes gebunden ist.
aa) Zulässigkeit der Nachforderungsklage Die Nachforderungsklage kann nur dann zulässig sein, wenn sie einen anderen Streitgegenstand hat als die zuvor erhobene Teilklage.280 Grundvoraussetzung 273 Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 188; Eckardt, JURA 1996, 624, 624; BGH NJW 1994, 3165, 3165; vgl. auch Batsch, ZZP 1973, 254, 255 Fn. 2. 274 Kritisch zum gleichwohl etablierten Begriff „Teilklage“, Batsch, ZZP 1973, 254, 257 ff., der auf die Schwierigkeiten hinweist, eine „Teilklage“ als solche zu identifizieren und den Begriff wegen seiner „Inhaltslosigkeit“ (259) daher ablehnt; a. A. Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 354: „Der objektive Teilklagebegriff ist daher zur Kennzeichnung der Problematik durchaus geeignet.“; vgl. zum Ganzen umfassend Trommler, Teilklage, S. 22 ff. 275 Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 188 bemerkt zutreffend, dass Zahlungsklagen den Hauptanwendungsbereich der Teilklagen bilden. 276 Vgl. Batsch, ZZP 1973, 254, 254; Eckardt, JURA 1996, 624, 624. 277 So auch Batsch, ZZP 1973, 254, 254 m. zahlr. w. Nachw.; ebenso Eckardt, JURA 1996, 624, 624; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 188. 278 Grundvoraussetzung für eine Unterscheidung der Streitgegenstände ist insofern, dass der Kläger, der sich i. R. d. Nachforderungsklage notwendigerweise auf denselben Sachverhalt stützen muss, behauptet, die „Gesamtforderung“ sei mindestens die Summe aus (mit der Teilklage eingeklagtem) „Sockelbetrag“ und „Restbetrag“, vgl. hierzu instruktiv Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 510; ähnlich Lindacher, ZZP 1963, 451, 458. 279 Mit diesem Problem beschäftigen sich sodann auch die meisten der Beiträge zur „Rechtskraft bei Teilklagen“, vgl. etwa Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187; Batsch, ZZP 1973, 254; Zeiss, NJW 1968, 1305; Leipold, FS Zeuner (1994), 431; Musielak, FS Schumann (2001), 295; Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351. 280 Zur Ausschlusswirkung der materiellen Rechtskraft siehe oben erster Teil, B. III. 7. a) aa) (1).
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für eine Unterscheidung der Streitgegenstände ist insofern also, dass der Kläger, der sich im Rahmen der Nachforderungsklage notwendigerweise auf denselben Sachverhalt stützen muss, behauptet, die „Gesamtforderung“ sei mindestens die Summe aus (mit der Teilklage eingeklagtem) „Sockelbetrag“ und (mit der Nachforderungsklage eingefordertem) „Restbetrag“.281 Andernfalls läge in der Tat Streitgegenstandsidentität vor und die Klage wäre unzulässig.282 Maßgeblich ist danach dann insbesondere die Frage, ob der vom Gericht zu entscheidende Streitgegenstand auch der Höhe nach begrenzt wird283 und die Entscheidung des Gerichtes daher auch ausschließlich den Teilbetrag erfasst oder ob das Urteil über die Teilklage auch die Aussage trifft, dem Kläger stehe „nicht mehr und nicht weniger“ als der eingeklagte Betrag zu284. Für die Beantwortung dieser Frage wird zwischen „offener“ und „verdeckter“ Teilklage unterschieden: „Offen“ ist die Teilklage dann, wenn erkennbar ist, dass es sich bei dem geltend gemachten Anspruch nur um einen Teil des Gesamtanspruches handelt; „verdeckt“ demgegenüber, wenn nicht erkennbar ist, dass der Kläger nur einen Teil beansprucht.285
(1) Zulässigkeit der Nachforderungsklage bei „offener“ Teilklage Wird einer offenen Teilklage stattgegeben, ist die Zulässigkeit der Nachforderungsklage seit langem anerkannt.286 Ausgangspunkt für diese Lösung ist der Wortlaut des § 322 Abs. 1 ZPO, wonach Urteile „der Rechtskraft nur insoweit fähig [sind], als über den […] Anspruch entschieden ist“.287 Unabhängig davon, ob es sich bei dem eingeklagten Betrag lediglich um einen Teil eines (materiellen) Anspruches handelt, bildet der geltend gemachte (prozessuale) Anspruch einen eigenständigen Streitgegenstand, denn der prozessuale Anspruch (Streit281 Vgl. hierzu instruktiv Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 510; ähnlich Lindacher, ZZP 1963, 451, 458. 282 Treffend Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 510: „Würde er [der Kläger] ohne irgendeinen solchen Hinweis auf den Gesamtbetrag schlicht aus demselben Sachverhalt nochmals einen Betrag einklagen, so stünde der zweiten Klage […] nach jeder Auffassung die Rechtskraft des Ersturteils entgegen.“ 283 So etwa Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305. 284 So Pagenstecher, Einrede der Rechtskraft, S. 68 f., S. 122 für den Fall, dass sich der Kläger keine Nachforderungen vorbehalten hat. 285 Vgl. nur Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 188; Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 501; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 129; Musielak, FS Schumann (2001), 295, 295; Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 354 ff.; Elzer, JuS 2001, 224, 225; Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 434. 286 So schon RGZ 120, 317, 319; RGZ 172, 118, 125; BGHZ 93, 330, 334 = NJW 1985, 1340, 1341; BGH NJW 1979, 720, 720; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 126; Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305; Eckardt, JURA 1996, 624, 626; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 188; Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 354; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 67. 287 Vgl. § 322 Abs. 1 ZPO; so auch Musielak, FS Schumann (2001), 295, 296.
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gegenstand) wird durch das Klagebegehren auch in der Höhe begrenzt.288 Dass die Entscheidung des Gerichts daher nicht mehr erfasst, als beantragt wurde, folgt auch aus § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO, denn „[d]as Gericht ist nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist“.289 „Das Nichtbeantragte ist [nicht Teil des Streitgegenstandes und daher] der Rechtskraft nicht fähig“.290 Daraus folgt, dass ein Kläger, dem zuvor 1000 als Teil eines angeblichen Anspruchs auf 5000 zugesprochen worden ist, wenn er nun die weiteren 4000 einklagt, einen anderen Streitgegenstand zur Entscheidung stellt. Die (negative Wirkung der) Rechtskraft der vorherigen Teilklage steht der Nachforderungsklage nicht entgegen.291 Nach der wohl herrschenden Meinung gelten diese Überlegungen auch für den Fall, dass die offene Teilklage abgewiesen wurde: Auch hier ist deshalb die Zulässigkeit der Nachforderungsklage zu bejahen.292 Nach anderer Ansicht sei die Nachforderungsklage zwar zulässig, aber als unbegründet abzuweisen, weil die Abweisung der vorausgehenden Teilklage präjudiziell sei.293 Nach alledem ist die Zulässigkeit der Nachforderungsklage unabhängig davon zu bejahen, ob die vorangehende offene Teilklage abgewiesen oder zugesprochen wurde. Fraglich ist, ob dies auch dann gilt, wenn nicht erkennbar war, dass es sich bei dem zunächst eingeklagten Betrag lediglich um einen Teil eines (materiellen) Gesamtanspruchs handelt.
(2) Zulässigkeit der Nachforderungsklage bei „verdeckter“ Teilklage Die Zulässigkeit der Nachforderungsklage nach verdeckter Teilklage war lange Zeit umstritten.294 Obwohl im Hinblick auf die Formulierung des § 322 Abs. 1 ZPO und § 308 ZPO dasselbe gelten müsste wie im Rahmen der „offenen“ Teilklage, gaben einige Entscheidungen des BGH Anlass dazu, die Fälle der Nach288 So schon Herzog, ZZP 1879, 416, 425: „[…] über den Theil als Theil eines grösseren Ganzen [ist] überhaupt nicht zu entscheiden, sondern lediglich über den Theil als rechtliche Besonderheit, m. a. W. als kleineres Ganze. [sic!]“; ebenso Eckardt, JURA 1996, 624, 626: „[…] prozessual ein eigenständiges Ganzes mit einheitlichem, ungeteiltem Streitgegenstand.“; Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305. 289 So Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 354; Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305. 290 So Zeiss, NJW 1968, 1305, 1305. 291 Statt (soweit ersichtlich) aller, vgl. nur Batsch, ZZP 1973, 254, 261: „[…] res iudicata stünde der Zulässigkeit dieser Nachforderung nur im Falle der Identität des beiden Verfahren zugrunde liegenden prozessualen Anspruchs entgegen: eine derartige Identität liegt aber gerade […] nicht vor […].“ 292 BGH NJW 1985, 1340, 1341; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 128; Eckardt, JURA 1996, 624, 631; Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 355; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 199; Zeiss, NJW 1968, 1305, 1307; Jauernig, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 311, 332; Lindacher, ZZP 1963, 451, 456; a. A. Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 439 ff., 449. 293 So insb. Musielak, FS Schumann (2001), 295, 301 ff., 308; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 71, 73. 294 Vgl. nur die Darstellungen etwa bei Batsch, ZZP 1973, 254; Zeiss, NJW 1968, 1305.
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forderungsklagen bei verdeckten Teilklagen anders zu behandeln als bei offenen Teilklagen.295 Hinzu trat das Bedenken, bei Zulässigkeit der Nachforderung sei die Rechtskraft „nur noch eine Waffe des Klägers“, weil diesem – trotz der Rechtskraft der Teilklage – gestattet werde, eine Erhöhung der Forderung einzuklagen, während der Beklagte – wegen der Rechtskraft der Teilklage – die zuerkannte Forderung nicht mehr bestreiten könne.296 Während dieses Argument für Nachforderungsklagen nach verdeckten Teilklagen generell und unabhängig davon gilt, ob der Teilklage stattgegeben oder ob diese abgewiesen wurde, sei die Unzulässigkeit der Nachforderungsklage nach anderer Ansicht auf Fälle der Klageabweisung zu beschränken.297 Die oben bereits dargelegte Auffassung, wonach die Nachforderungsklage bei Abweisung der Teilklage zwar zulässig aber unbegründet sein solle, sei auch in Fällen der „verdeckten“ Teilklage gültig.298 Auch die herrschende Meinung unterscheidet – bei freilich unterschiedlichem Ergebnis – nicht zwischen offener und verdeckter Teilklage und überträgt die zum Streitgegenstand der Teil- bzw. Nachforderungsklage entwickelten Argumente.299 Der BGH tritt dem bei, indem er die oben zitierte Entscheidung später als „Sonderfall“ bezeichnete300 und in neueren Entscheidungen nun betont, dass „die materielle Rechtskraft eines Urteils nur so weit reicht, wie über den durch Klage erhobenen Anspruch entschieden worden ist“, „unabhängig davon, ob der [Kläger] für das Gericht und den [Beklagten] erkennbar zum Ausdruck bringt, dass sein bezifferter Antrag nur einen Teil des Anspruchs erfasst […] oder ob es sich um eine ‚verdeckte‘ Teilklage handelt“.301
295 Insb. BGHZ 34, 337 = NJW 1961, 917, vgl. hierzu auch Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351; offen gelassen in BGHZ 36, 365 = NJW 1962, 1109 und in BGH NJW 1985, 2825, 2826 als nicht verallgemeinerungsfähiger „Sonderfall“ bezeichnet. 296 So Lent, NJW 1955, 1865, 1866; dahingehend auch Bötticher, MDR 1962, 724, 725; kritisch hierzu u. a. Zeiss, NJW 1968, 1305, 1307. 297 So Zitelmann, ZZP 1885, 254, 266: „Rechtskräftig wird […] im Fall der Verurtheilung nur die Entscheidung über den einen Anspruch, aus dem verurtheilt ist, im Fall der Abweisung aber die Entscheidung über alle möglichen Theilansprüche, d. h. über die Gesammtforderung.“[sic!]; ebenso Reischl, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 312. 298 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 73. 299 Deutlich, Eckardt, JURA 1996, 624, 633: „Die Rechtskraft des Urteils steht daher der späteren Geltendmachung des Restanspruchs mit einer neuen Klage nicht entgegen, unabhängig davon, ob der Kläger sich die Nachforderung vorbehalten hatte, ob er mit der Klage seinen materiellrechtlichen Anspruch ausschöpfen wollte oder ob die Klage im Vorprozeß ganz oder teilweise abgewiesen wurde.“; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 130 f.; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 200, der gleichwohl jedoch eine rechtskraftfremde Präklusion für Fälle bejahen möchte, in denen der Kläger im ersten Verfahren schuldhaft nicht den Gesamtanspruch geltend gemacht hat; Batsch, ZZP 1973, 254, 289. 300 BGH NJW 1985, 2825, 2826. 301 BGHZ 173, 374, 382 = NJW 2008, 373, 375; BGHZ 135, 178, 181 = NJW 1997, 1990.
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Danach ist die Nachforderungsklage heute grundsätzlich als zulässig zu betrachten, da es nach der herrschenden Meinung weder darauf ankommt, ob es sich um eine offene oder verdeckte Teilklage handelt, noch ob diese zugesprochen oder abgewiesen wurde.302 In jedem der Fälle unterscheiden sich die Streitgegenstände der Klagen und die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft greift nicht ein.303 In eben Gesagtem zeigt sich sodann auch, warum die vorliegenden Ausführungen zur Zulässigkeit der Nachforderungsklage auf einen Überblick beschränkt bleiben konnten. Es handelt sich bei der Frage nach der Zulässigkeit der Nachforderung nämlich primär um ein Problem des Streitgegenstandes und nicht der Rechtskraft.304 Entscheidend für die Zulässigkeit der Nachforderungsklage ist in erster Linie die Frage, ob die Streitgegenstände von Teil- und Nachforderungsklage identisch sind. Dass bei Streitgegenstandsidentität die Rechtskraft zur Unzulässigkeit der Nachforderungsklage führen würde, ist insoweit nicht problematisch.305 Demgegenüber betrifft die Frage, ob und gegebenenfalls welche Feststellungen aus dem Verfahren zur Teilklage in einem späteren Verfahren über die Nachforderungsklage zugrunde zu legen sind, die Rechtskraft direkter.
bb) Bindungswirkung zwischen Teilklage und Nachforderungsklage? Die Frage nach einer Bindungswirkung zwischen Teil- und Nachforderungsklage zeigt sich in zwei Facetten: Zum einen lässt sich fragen, inwieweit der Tenor der ersten Entscheidung die zweite Entscheidung präjudiziert.306 Zur Beantwortung dieser Frage sind Inhalt und Grenzen des jeweiligen Tenors zu beleuchten und zu definieren. Unabhängig von der jeweils bevorzugten Antwort betrifft diese Frage jedoch nicht das hier interessierende Problem der Bindung an Vorfragen, da auch wenn Präjudizialität zwischen Teil- und Nachforderungsklage bejaht wird, lediglich eine Bindung an den Tenor des über die Teilklage entscheidenden Urteils eintritt.307 302 Eckardt, JURA 1996, 624, 633; Lindacher, ZZP 1963, 451, 456; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 130 f.; Batsch, ZZP 1973, 254, 289; Zeiss, NJW 1968, 1305, 1307; Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 374, der dann eine Ausnahme bejaht, wenn „der Kläger die Entscheidung über die Höhe seines prozessualen Anspruches in das Ermessen des Gerichts gestellt hat“; Schilken, ZPR, Rn. 1029; Brötel, JuS 2003, 429, 434; Pohle, ZZP 1964, 98; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 73 (bei Klageabweisung zulässig aber unbegründet). 303 Ebenso MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 130. 304 Ebenso Schilken, ZPR, Rn. 1029. 305 Dahingehend auch Kuschmann, FS Schiedermair (1976), 351, 375. 306 Vgl. hierzu Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 507 ff.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 71, 73. 307 Deutlich Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 512: „All das hat nichts mit irgendeiner Bindung an die Gründe der Vorentscheidung zu tun […]“.
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Gleichwohl taucht zum anderen die Frage einer Bindungswirkung zwischen Teil- und Nachforderungsklage aber auch hinsichtlich der Gründe der ersten Entscheidung auf. Es wurde bereits deutlich, dass in Fällen, in denen sich die Streitgegenstände zweier Klagen sehr ähnlich sind, häufig über dieselben Vorfragen zu entscheiden sein wird. Speisen sich die mit Teil- und Nachforderungsklage verfolgten Ansprüche etwa aus einem Vertrag, so wird die Wirksamkeit dieses Vertrages innerhalb beider Verfahren als Vorfrage zu überprüfen sein. Der Umstand, dass es als widersprüchlich empfunden werden könnte, wenn der Vertrag im einen Verfahren als wirksam und im anderen Verfahren als unwirksam betrachtet wird, kann das Bedürfnis nach einer Bindung des Zweitgerichtes an Feststellungen des Erstgerichtes hervorrufen.308 Infolgedessen wird vereinzelt erwogen, aus der stattgebenden Entscheidung über eine offene Teilklage die rechtskräftige Feststellung über das Bestehen des Grundes abzuleiten.309 Dies sei unter anderem deshalb zulässig, weil die – für den Gesetzgeber bei Schaffung des § 322 Abs. 1 ZPO maßgebliche – Gefahr, durch unvorhergesehene Rechtskraftwirkungen überrascht zu werden, im Falle einer offenen Teilklage gerade nicht bestehe.310 Damit werde auch keine Rechtskraft der Gründe bejaht, denn die Rechtskraft erfasse etwa im Falle eines Anspruches aus Kaufvertrag nicht die Entscheidung über die Wirksamkeit des Vertrages, sondern lediglich das Bestehen des Anspruchsgrundes.311 Zusätzlich binde diese Feststellung nur bei Geltendmachung eines weiteren Teils desselben Anspruches und nicht im Rahmen einer Klage wegen eines anderen Anspruchs.312 Richtigerweise erlaubt jedoch gerade die Prozesssituation der offenen Teilklage, ein möglicherweise anfallendes weiteres Verfahren über die Nachforderungsklage vorherzusehen und insofern auch von der Zwischenfeststellungsklage Gebrauch zu machen.313 Nach alledem hält die herrschende Meinung auch für die Konstellation von Teil- und Nachforderungsklage zutreffend an dem Grundsatz fest, wonach die Urteilsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen und daher innerhalb eines nachfolgenden Verfahrens nicht bindend sein können.314 Trotz der engen inhaltlichen Verknüpfung der beiden Verfahren bleibt eine Rechtskrafterstreckung auf Urteilsgründe aufgrund der bewussten Entscheidung und der eindeutigen Vorgaben des § 322 Abs. 1 ZPO außer Betracht und die Rechtskraft erfasst le308 Ähnlich Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501 f.: „Kopfschütteln“, „fortwährende Irritation über dieses Ergebnis“. 309 So Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 445 ff.; kritisch Assmann, FS Schwab (2000), 1, 9 ff. 310 Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 445 f. 311 Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 446. 312 Leipold, FS Zeuner (1994), 431, 446. 313 So zutreffend Assmann, FS Schwab (2000), 1, 10. 314 Musielak, FS Schumann (2001), 295, 296; Marburger, GS Knobbe-Keuk (1997), 187, 193; Eckardt, JURA 1996, 624, 628; Batsch, ZZP 1973, 254, 282 f.; Trommler, Teilklage, S. 152; Assmann, FS Schwab (2000), 1, 10.
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diglich den Tenor und – vorbehaltlich einer Zwischenfeststellungsklage – nicht die Gründe.315 Dies ermöglicht nämlich auch eine gegebenenfalls erforderliche „Korrektur“ einer falschen Erstentscheidung.
d) Zwischenfazit Obwohl die dargestellten Konstellationen allesamt als „Prüfstein“ der engen Beschränkung der Rechtskraft auf den Ausspruch im Tenor gesehen werden können, wurde deutlich, dass auch sie eine Erstreckung der Rechtskraft auf Entscheidungsgründe weder erfordern noch rechtfertigen können. Der Umstand, dass ein nachfolgendes Gericht über eine Klage zu entscheiden hat, deren Lebenssachverhalt einer bereits entschiedenen Sache ähnelt oder gar gleicht, zwingt keinesfalls zu der Annahme, das Zweitgericht sei an die Vorfragenentscheidungen des Erstgerichts gebunden. Unabhängig davon, wie ähnlich sich zwei Streitgegenstände sind, wenn sie verschieden sind, bindet die Entscheidung über den ersten innerhalb der Entscheidung über den zweiten ausschließlich im Hinblick auf den Tenor der ersten Entscheidung. Es bleibt damit auch für die dargelegten Fälle beim allgemeinen Grundsatz, dass Entscheidungsgründe nicht eigenständig in Rechtskraft erwachsen.
2. Ausnahmen Der Gesetzgeber ergänzt die Entscheidung gegen eine generelle Rechtskraft von Entscheidungsgründen teilweise durch Ausnahmen, in denen die rechtskräftige Feststellung von Vorfragen explizit vorgesehen wird. Prominentestes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung über die Gegenforderung im Falle einer Aufrechnung (§ 322 Abs. 2 ZPO). Die folgende Darstellung wird darüber hinaus zeigen, wie wichtig eine genaue (gesetzliche) Festlegung des Rechtskraftumfangs ist und wie schnell Raum für Unklarheiten und (Rechts-)Unsicherheit entsteht, sobald dieser Bereich verlassen wird.
a) Entscheidung über die Gegenforderung, § 322 Abs. 2 ZPO § 322 Abs. 2 ZPO sieht eine ausdrückliche Ausnahme316 des Grundsatzes, wonach Vorfragenentscheidungen innerhalb der Entscheidungsgründe317 nicht in Rechtskraft erwachsen, vor: „Hat der Beklagte die Aufrechnung einer Gegen315 Musielak, FS Schumann (2001), 295, 296; Assmann, FS Schwab (2000), 1, 10; Trommler, Teilklage, S. 144. 316 Ebenso Zeuner, JuS 1987, 354, 356: „positiv-rechtlich festgelegte Ausnahme vom Prinzip des § 322 I ZPO“. 317 Vgl. auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 199: „die Rechtskraftwirkung [ergibt sich] aus den Entscheidungsgründen; in der Urteilsformel braucht die Aufrechnung nicht erwähnt zu werden.“
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forderung geltend gemacht, so ist die Entscheidung, dass die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist, der Rechtskraft fähig.“
aa) Direkte Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO Indem die Entscheidung des Gerichts, die Gegenforderung bestehe nicht, eigenständig in Rechtskraft erwächst, wird verhindert, dass der Beklagte, dessen Aufrechnung im Prozess erfolglos geblieben ist, die zur Aufrechnung gestellte (Gegen-)Forderung später erneut geltend macht.318 Bei enger Auslegung des Wortlauts – sowie nach der Intention des Gesetzgebers319 bei Novellierung der ZPO im Jahr 1898 – erfasst § 322 Abs. 2 ZPO lediglich den Fall der erfolglosen Aufrechnung des Beklagten. Schon das Reichsgericht vertrat jedoch die Auffassung, die Vorschrift erfasse auch Fälle, in denen die Aufrechnung erfolgreich war und deshalb die Gegenforderung zwar nicht von Anfang an nicht besteht, sondern nicht mehr besteht.320 Dies entspricht bis heute der allgemeinen Auffassung.321 Fraglich ist demgegenüber, ob § 322 Abs. 2 ZPO auch dann (entsprechende) Anwendung finden kann, wenn die Aufrechnung nicht durch den Beklagten, sondern den Kläger geltend gemacht wird.
bb) Analoge Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO Zu unterscheiden sind für die Beantwortung der Frage nach einer analogen Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO zweierlei Konstellationen:322 In der ersten Fallgruppe begründet der Kläger innerhalb einer negativen Feststellungs- oder Vollstreckungsgegenklage das Nichtbestehen der Forderung des Beklagten mit einer vorprozessual erfolgten Aufrechnung.323 Hier wird die analoge Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO von der ganz herrschenden Ansicht bejaht,324 weil 318 319
So auch Zeuner, JuS 1987, 354, 355. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. VIII, S. 103; vgl. hierzu auch Seuffert, ZZP 1891, 463, 466 ff.; Zeuner, JuS 1987, 354, 355 f. 320 RGZ 161, 167, 171 f. 321 BGHZ 36, 316, 319 = NJW 1962, 907, 907; BGH NJW 2002, 900, 900; Musielak/Voit/ Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 76; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 198; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., § 322, Rn. 21; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 159 f.; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 47; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 18. 322 So Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 78 ff.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 167 f. 323 Vgl. hierzu Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 79; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 167. 324 BVerfG NJW 2000, 1936, 1938; BGHZ 48, 356, 358 = NJW 1968, 156, 156 f.; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 79; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 207; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 167; Braun, ZZP 1976, 93, 95 ff.; Musielak, FS Leipold (2009), 85, 96; Tiedtke, NJW 1992, 1473, 1474; Niklas, MDR 1987, 96, 99.
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die „prozessuale Parteistellung“ nicht „maßgebendes Kriterium“ ist und Sinn und Zweck der Vorschrift – eine einheitliche Entscheidung über die Wirkungen der Aufrechnung herbeizuführen – eine Übertragung auf derartige Fälle erforderlich macht325. Umstrittener ist dagegen die Behandlung der zweiten Fallgruppe:326 A hat B erfolgreich auf Leistung verklagt (Klage 1). In einem weiteren Prozess (Klage 2) verklagt nunmehr B den A ebenfalls auf Leistung. Gegen die Vollstreckung der Forderung aus Klage 1 wehrt sich B mit einer Vollstreckungsgegenklage (Klage 3), in der B die in Klage 2 verfolgte Forderung zur Aufrechnung stellt. Klage 2 und Klage 3 sind nun parallel rechtshängig. Das Gericht weist Klage 2 (also die Klage des B gegen A auf Leistung) ab, weil es davon ausgeht, die im Rahmen der (immer noch rechtshängigen) Vollstreckungsgegenklage (Klage 3) erklärte Aufrechnung sei wirksam. Fraglich ist nun, welche Bedeutung die Abweisung der Leistungsklage (Klage 2) für die Entscheidung über die Vollstreckungsgegenklage (Klage 3) hat. Wenn die Klageabweisung (der Leistungsklage, Klage 2) die rechtskräftige Feststellung enthält, dass die Forderung des B gegen A aufgrund der Aufrechnung im Rahmen der Vollstreckungsgegenklage (Klage 3) erloschen ist, dann muss die Vollstreckungsgegenklage (Klage 3) erfolgreich sein, weil für diese aufgrund der Rechtskraft des Urteils über die Leistungsklage (Klage 2) dann feststünde, dass die gegenseitigen Forderungen durch Aufrechnung erloschen sind.327 Eine eigenständige Rechtskraft der Feststellung, die eingeklagte Forderung sei durch Aufrechnung getilgt worden, kann sich allenfalls aus der analogen Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO ergeben. Diese Analogie verneint der BGH328 und mit ihm ein Teil der Literatur,329 weil § 322 Abs. 2 ZPO hier nicht mehr „den Aufrechnungsgegner vor erneuter Inanspruchnahme mit der Aufrechnungsforderung“ schütze, vielmehr stütze sich der Kläger (B) auf ein gegen ihn wirkendes Urteil (die Abweisung der Klage 2).330 Der wohl überwiegende Teil der Literatur widerspricht der Lösung des BGH und hält eine Rechtskrafterweiterung durch analoge Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO in derartigen Konstellationen für geboten.331 Diese Ansicht lässt sich überzeugend mit Sinn 325
BGHZ 48, 356, 359 = NJW 1968, 156, 156 f. Vereinfacht aus BGHZ 89, 349 = NJW 1984, 1356. Vgl. hierzu Reinicke/Tiedtke, NJW 1984, 2790; Zeuner, JuS 1987, 354; Niklas, MDR 1987, 96, 99 f. 327 Vgl. auch Reinicke/Tiedtke, NJW 1984, 2790, 2791. 328 BGHZ 89, 349, 352 f. = NJW 1984, 1356, 1357. 329 Reinicke/Tiedtke, NJW 1984, 2790, 2791, die gleichwohl eine Lösung über § 242 BGB vorschlagen; Tiedtke, NJW 1992, 1473, 1474; Haase, JR 1984, 331, 331; wohl auch Niklas, MDR 1987, 96, 99 f. 330 BGHZ 89, 349, 353 = NJW 1984, 1356, 1357. 331 Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 79 ff.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 168; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 48; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 200, 207; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., § 322, Rn. 24; Zeuner, JuS 1987, 354, 358; Foerste, NJW 1993, 1183; Musielak, FS Leipold (2009), 85, 97. 326
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und Zweck der Vorschrift begründen: Wie der BGH andernorts332 selbst betont und vertritt, kommt der Parteirolle „nur erläuternde Bedeutung, aber nicht die Bedeutung eines unabdingbaren Tatbestandsmerkmals“ zu. Die Relativierung der prozessualen Parteirollen wirkt sich jedoch auch dergestalt auf die Konkretisierung des Normzweckes aus, dass § 322 Abs. 2 ZPO nicht allein den Aufrechnungsgegner schützt, sondern generell der Herbeiführung einer (einzigen) klärenden Entscheidung über die Aufrechnung dient.333 Durch § 322 Abs. 2 ZPO sollen mehrere (einander möglicherweise widersprechende) Entscheidungen über die zur Aufrechnung gestellte Forderung vermieden werden.334 Die Vorschrift bezweckt (wenngleich dies praktisch der Regelfall sein wird) nicht ausschließlich den Schutz des Aufrechnungsgegners.335 Nach alledem gebietet dieses Verständnis von der Zielsetzung des § 322 Abs. 2 ZPO die analoge Anwendung der Vorschrift in den beschriebenen Fällen; der herrschenden Ansicht innerhalb der Literatur ist daher zuzustimmen.336
cc) Schlussfolgerungen § 322 Abs. 2 ZPO durchbricht den in Abs. 1 derselben Vorschrift aufgestellten Grundsatz, wonach Entscheidungen über Vorfragen nicht in Rechtskraft erwachsen und von ihnen daher in späteren Verfahren keine Bindungswirkung ausgeht. Für den Fall der Aufrechnung unterstellte der Gesetzgeber den Parteien allerdings die „Absicht“, eine rechtskräftige Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der zur Aufrechnung gestellten Forderung herbeiführen zu wollen337 und ordnete deshalb die Erstreckung der Rechtskraft auf die (Vorfragen-)Entscheidung über das Bestehen der Gegenforderung an. Unter dieser Prämisse bliebe auch das für die enge Konzeption in § 322 Abs. 1 ZPO maßgebliche Motiv, die Parteien vor überraschenden Urteilsfolgen zu schützen,338 unbeeinträchtigt, denn wenn der Gesetzgeber sogar annimmt, die Parteien beabsichtigten die Feststellung über das Bestehen der Gegenforderung, muss nicht befürchtet werden, die erweiterte Bindungswirkung überrasche die Parteien.339 332
BGHZ 48, 356, 359 = NJW 1968, 156, 156. Musielak, FS Leipold (2009), 85, 97. 334 Ebenso Foerste, NJW 1993, 1183, 1184; Musielak, FS Leipold (2009), 85, 96. 335 So auch Zeuner, JuS 1987, 354, 357 f. 336 Die analoge Anwendung auf derartige Fälle bejahen Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 79 ff.; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 168; Saenger/Saenger, ZPO, 8. Aufl., § 322, Rn. 47 f.; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 200, 207; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., § 322, Rn. 24; Zeuner, JuS 1987, 354, 358; Foerste, NJW 1993, 1183; Musielak, FS Leipold (2009), 85, 97. 337 Vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 292. 338 Vgl. hierzu bereits oben dritter Teil, A. I. 3. 339 Ähnlich auch Foerste, NJW 1993, 1183, 1184; Zeuner, JuS 1987, 354, 356. 333 Ebenso
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Die gesetzliche Anordnung der Rechtskrafterweiterung für die Fälle der Aufrechnung überwindet außerdem einen entscheidenden Nachteil anderer Vorschläge zur Ausdehnung der Rechtskraftgrenzen: Sie ermöglicht eine genaue Identifikation und Festlegung des rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes. Die Idee, die Rechtskraft auf tragende Urteilsgründe zu erstrecken, vermag in vielen Konstellationen insbesondere unter dem Aspekt der umfassenden Klärung der Rechtslage und Streitbeilegung reizvoll oder gar geboten erscheinen.340 Abzulehnen ist die Erweiterung der Rechtskraft daher auch nicht primär wegen Argumenten gegen die Ausdehnung selbst, sondern vielmehr wegen der fehlenden Klarheit darüber, worauf die Rechtskraft in concreto erstreckt werden soll und worauf nicht.341 Dies belegen auch schon die oben angesprochenen Diskussionen über die analoge Anwendung des § 322 Abs. 2 ZPO. Sobald das Terrain genauer gesetzlicher Vorgaben für den Umfang der Rechtskraft verlassen wird und über die Erfassung weiterer Konstellationen nachgedacht wird, besteht die Gefahr, dass die Meinungen über die überzeugendste Lösung auseinandergehen. Dies befördert die Entstehung unklarer Rechtslagen und läuft daher der Rechtssicherheit zuwider. Es ist daher richtig, dass § 322 Abs. 2 ZPO nicht auf andere Gegenrechte oder Verrechnungsformen ausgeweitet wird.342 Aus Voranstehendem kann geschlussfolgert werden, dass nicht die Erweiterung der Rechtskraftgrenzen auf Entscheidungsgründe an sich abzulehnen ist. Schwierigkeiten bereitet vielmehr die Beantwortung der Frage, auf welche tragenden Entscheidungsgründe die Rechtskraft erstreckt werden soll. Solange diese Frage jedoch vom Gesetzgeber durch konkrete Vorgaben eindeutig beantwortet wird, können partielle und innerhalb klar umrissener gesetzlicher Grenzen vorgenommene Rechtskrafterweiterungen überzeugend sein und zu umfassender(er) Streitbeilegung beitragen.
3. „Unechte“ Ausnahmen – andere Formen der Bindungswirkung Neben „echten“ Ausnahmen von den geltenden Rechtskraftgrundsätzen existieren andere Formen der Bindungswirkung zwischen gerichtlichen Entscheidungen, die teilweise auch Begründungselemente erfassen und damit weiterreichen, als die von der Rechtskraft vorgegebene Bindung. In diesem Zusammenhang sind insbesondere § 11 UKlaG343 und § 33b GWB344 zu nennen. Bei Letzterem 340
Vgl. hierzu insb. Zeuner, Sinnzusammenhänge. auch Zeuner, Festgabe BGH (2000), Bd. 3, 337, 357; vgl. hierzu auch bereits oben dritter Teil, A. II. 3. 342 Vgl. Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 154, 86; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 195; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 77. 343 Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen vom 27. August 2002, BGBl. 2002, Teil I, S. 3422 ff. 344 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013, BGBl. 2013, Teil I, S. 1750. 341 Ähnlich
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handelt es sich schon deshalb nicht um eine „echte“ Ausnahme der herkömmlichen Rechtskraftreichweite, weil § 33b GWB gar nicht die Rechtskraft zivilgerichtlicher Entscheidungen ausweitet, sondern eine besondere Bindungswirkung kartellverwaltungsrechtlicher Urteile etabliert.345 Die Einordnung der von § 11 UKlaG vorgeschriebenen Bindungswirkung ist dagegen umstritten. Doch auch wenn man mit der inzwischen wohl herrschenden Meinung davon ausginge, § 11 UKlaG stelle eine modifizierte Rechtskrafterstreckung dar, stellt die Existenz dieser Vorschrift die bestehenden Rechtskraftgrundsätze nicht in Frage. Zwar demonstrieren sie, dass weitere Rechtskraftgrenzen in klar umrissenen Ausnahmefällen wirksam und sinnvoll sein können, um prozessuale und materiellrechtliche Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Gleichzeitig haben beide Normen ausschließlich prozessuale Sonderkonstellationen im Blick, aus denen sich weder ein allgemeines Bedürfnis nach weiteren Rechtskraftgrenzen noch eine allgemeine rechtspolitische Tendenz ableiten lässt.
a) § 33b GWB Liegt eine rechtskräftige Entscheidung der Kartellbehörde, der Kommission oder einer Wettbewerbsbehörde über einen Wettbewerbsverstoß vor, sollen vom Wettbewerbsverstoß geschädigte Kläger auf diese Entscheidung im Rahmen ihrer nachfolgenden zivilgerichtlichen Klage (sogenannte follow-on-Klagen) aufbauen können.346 Hierzu ordnet § 33b GWB eine Bindungswirkung an.347 Für die Vorgängervorschrift348 § 33 Abs. 4 GWB a. F. war umstritten, wie weit diese Bindungswirkung reicht; insbesondere ob sie lediglich den Tenor der kartellbehördlichen Entscheidung (Tatbestandswirkung)349 oder auch tatsächliche und rechtliche Feststellungen in den Gründen (Feststellungswirkung)350 erfasst.351 Der BGH hat sich inzwischen der letztgenannten Ansicht angeschlos345 346
Vgl. hierzu sogl. Kersting/Podszun/Kersting, Kap. 7, Rn. 65 ff.; KöKo/Krohs, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rn. 266 ff.; MüKo/Lübbig, GWB, § 33, Rn. 107 ff. 347 § 33b Satz 1 GWB lautet: „Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union Schadensersatz gefordert, so ist das Gericht an die Feststellung des Verstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde, der Europäischen Kommission oder der Wettbewerbsbehörde oder des als solche handelnden Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wurde.“ 348 § 33b GWB entspricht inhaltlich § 33 Abs. 4 GWB a. F., vgl. BT-Drs. 18/10207, S. 56. 349 So z. B. Meyer, GRUR 2006, 27, 29; auch die Regierungsbegründung insoweit spricht von „Tatbestandswirkung“, BT-Drucks. 15/3640, S. 54. 350 So die wohl h. M. im Kartellrecht, z. B. Kersting/Podszun/Kersting, Kap. 7, Rn. 70; ebenso KöKo/Krohs, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rn. 267; Langen/Bunte/Bornkamm/Tolkmitt, GWB, § 33b, Rn. 2; Nothdurft, FS Tolksdorf (2014), 533, 538 f.; Inderst/Thomas, Schadensersatz, S. 104 m. w. Nachw. 351 Vgl. allgemein zur Bindungswirkung von Verwaltungsakten für nachfolgende Zivilprozesse Nothdurft, FS Tolksdorf (2014), 533, 536 f.; allgemein zu den Begriffen „Tatbestands-
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sen und entschieden, dass die Bindungswirkung „nicht nur den Tenor erfasst, sondern auch die tragenden Gründe der Entscheidung“.352 Sie erstreckt sich insoweit auf „die Feststellung des Kartellrechtsverstoßes in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht“.353 Die Gesetzesbegründung meine nicht die Tatbestandswirkung im verwaltungsrechtlichen Sinn, weil dieses (enge) Verständnis nicht mit dem Zweck der Vorschrift, die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen Kartellrechtsverstößen zu erleichtern, vereinbar wäre.354 Richtig ist insoweit, dass es den Geschädigten eines Kartellverstoßes in der Praxis häufig nicht oder nur schwer möglich sein würde, den aufgrund der allgemeinen Beweislastverteilung vom Kläger zu liefernden Nachweis einer kartellrechtswidrigen Verhaltensweise zu erbringen.355 Aus prozessualer – und hier im Hinblick auf eine Ausnahme von den allgemeinen zivilrechtlichen Rechtskraftgrundsätzen interessierender – Sicht ist überdies zutreffend, dass § 33b GWB eine Bindungswirkung etabliert, die – weil sie sich auch auf die „tragenden Gründe“ der Behördenentscheidung bezieht – weiter reicht, als die Rechtskraft von zivilgerichtlichen Urteilen. An eben diesem Punkt zeigt sich jedoch auch, warum diese Regelung nicht als echte Ausnahme der Rechtskraftreichweite im Zivilprozess gesehen werden kann: Es handelt sich nämlich bei § 33b GWB gerade nicht um eine Norm, welche die Grenzen der Rechtskraftwirkung zivilgerichtlicher Urteile ausweitet. Vielmehr stellt die Vorschrift eine rechtswegübergreifende Bindungswirkung zwischen kartellverwaltungsrechtsrechtlichen Entscheidungen und nachfolgenden Zivilprozessen dar.356 Infolgedessen berührt weder die Existenz dieser Norm noch die (weite) Auslegung des BGH die bestehenden Grundsätze zur objektiven Reichweite der materiellen Rechtskraft zivilgerichtlicher Urteile in ihrem Kern.
b) § 11 UKlaG Wer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bestimmungen, die nach den §§ 307 bis 309 des Bürgerlichen Gesetzbuchs unwirksam sind, verwendet oder für den rechtsgeschäftlichen Verkehr empfiehlt, kann auf Unterlassung und im Fall des Empfehlens auch auf Widerruf in Anspruch genommen werden, § 1 UKlaG. Das wirkung“ und „Feststellungswirkung“ Schoch/Schneider/Bier/Clausing, VwGO, 36. EL, § 121, Rn. 38 f. 352 BGH NJW 2016, 3527, 3528, Rn. 12, („Lottoblock II“); vgl. zu dieser Entscheidung etwa dos Santos Goncalves/Wunner, GRUR-Prax 2016, 463; Kersting, LMK 2016, 382038; Rother, NJW 2016, 3534. 353 BGH NJW 2016, 3527, 3528, Rn. 12, („Lottoblock II“). 354 BGH NJW 2016, 3527, 3528, Rn. 13, („Lottoblock II“); ebenso Inderst/Thomas, Schadensersatz, S. 104. 355 Meyer, GRUR 2006, 27, 28. 356 Meyer, GRUR 2006, 27, 27.
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Unterlassungsurteil verpflichtet den Verwender, die unwirksame Klausel nicht (mehr) zu verwenden.357 Da dieses Unterlassungsgebot einem Verbraucher dann nichts nützt, wenn der verurteilte Verwender die Klausel gegenüber dem Verbraucher trotz des Unterlassungsurteils verwendet,358 erweitert § 11 UKlaG359 die Wirkungen des Unterlassungsurteils zugunsten360 dritter, nicht am Verfahren beteiligter Verbraucher.361 Durch die Vorschrift soll sich der Verbraucher, gegenüber welchem eine unwirksame Klausel verwendet wurde, unmittelbar auf die Unwirksamkeit der Klausel berufen können.362 Die Gerichte der nachfolgenden Individualprozesse zwischen den klagenden Verbrauchern und dem Verwender der unwirksamen AGB sind an diese Feststellung gebunden und insoweit nicht zu einer eigenen Sachprüfung berechtigt.363 Rechtstechnisch generiert § 11 UKlaG damit eine Bindung an Entscheidungsgründe des Unterlassungsurteils, denn die Frage, ob die beanstandete Klausel unwirksam ist, stellt lediglich eine Vorfrage innerhalb des Anspruchs auf Unterlassung dar.364 Schon für die Vorgängernorm § 21 AGBG365 war infolge der bestehenden Rechtskraftgrundsätze fraglich, wie diese Bindungswirkung dogmatisch zu begründen sei.366 Die wohl herrschende Meinung knüpft trotz Vorschlägen wie der Annahme einer „eigenartigen prozessualen Bindungswirkung“367 an die Rechtskraft an und geht von einer gesetzlich modifizierten Rechtskrafterstreckung aus.368 Modifiziert ist die Rechtskraftwirkung aus 357
Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 1 UKlaG, Rn. 12. Vgl. MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 3; Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 1 UKlaG, Rn. 2. 359 Die Vorschrift entspricht dem früheren § 21 AGBG (Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Fassung vom 29. Juni 2000, BGBl. 2000, Teil I, S. 946 ff.). 360 Insoweit liegt kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Vgl. hierzu z. B. v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 2. 361 Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 1; v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 1 ff.; MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 1. 362 MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 3; Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 2; v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 1, 3. 363 Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 7; v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 11 f. 364 MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 3; Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 7. 365 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen in der Fassung vom 29. Juni 2000, BGBl. 2000, Teil I, S. 946 ff. 366 Vgl. hierzu etwa Gaul, FS Beitzke (1979), 997, 1014; Schilken, Osnabrücker rechtswissenschaftliche Abhandlungen 1985, 99; Basedow, AcP 1982, 335, 345 ff. 367 So Gaul, FS Beitzke (1979), 997, 1042 f.: „Nach allem kann es sich bei der in § 21 S. 1 AGBG vorgesehenen Wirksamkeitserstreckung nur um eine ‚eigenartige Bindungswirkung‘ handeln, die zudem regelwidrig nur auf prozessuale Einrede des einseitig begünstigten Kunden beachtet wird. Sie ist im bisherigen Prozeßrecht ohne Vorbild“. 368 So Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher, AGB-Recht, 6. Aufl. 2013, § 11 UKlaG, Rn. 3; Schlosser/Coester-Waltjen/Graba/Schlosser, AGBG, 1. Aufl. 1977, § 19, Rn. 2 und § 21, 358
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mehreren Gründen. Zum einen wirkt sich die Unwirksamkeitsfeststellung nur zugunsten des Verbrauchers und nicht generell aus. Zum anderen soll sich der Verbraucher nach § 11 UKlaG auf die Wirkungen des Unterlassungsurteils berufen müssen. Diese Regelung ist indes durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache369 Invitel zweifelhaft geworden. Der EuGH hatte darüber zu befinden, ob eine Regelung des ungarischen Rechts, die vorsah, dass die Feststellung der Nichtigkeit einer missbräuchlichen Vertragsklausel, die aufgrund einer Klage im öffentlichen Interesse festgestellt wurde, für jeden Verbraucher verbindlich ist, mit Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 93/13/EWG370 vereinbar ist. Der EuGH bejahte dies und führte darüber hinaus aus, die nationalen Gerichte hätten „von Amts wegen alle im nationalen Recht vorgesehenen Konsequenzen zu ziehen, damit die Klausel für die Verbraucher unverbindlich ist“.371 Infolge dieser Äußerungen ist diskutiert worden, ob die in § 11 UKlaG vorgesehene Einredelösung möglicherweise gegen die Richtlinie verstößt372 und die Einredeobliegenheit durch das Urteil weggefallen ist373. Darüber hinaus bildet die von § 11 UKlaG vorgesehene modifizierte Rechtskraftwirkung eben auch deshalb eine Ausnahme von der herkömmlichen Rechtskraftlehre, weil sie eine Bindung an Entscheidungsgründe anordnet. Wie im Rahmen des § 322 Abs. 2 ZPO bereits dargelegt, bereitet die Erweiterung der Rechtskraftgrenzen dann weniger Probleme, wenn sich aus dem Gesetz klar ergibt, worauf sich die Rechtskraft beziehen wird. Die Regelung in § 11 UKlaG widerspricht zwar der grundsätzlichen Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor. Sie ist jedoch als eindeutiger Wille des Gesetzgebers schlicht hinzunehmen und steckt überdies die Reichweite der Rechtskraft von Unterlassungsurteilen nach dem UKlaG auch so deutlich ab (Feststellung der Unwirksamkeit der verwendeten Klausel), dass sie die Rechtssicherheit nicht beeinträchtigt.374 Insofern zwingt § 11 UKlaG auch dann nicht zu einer NeubeRn. 4; v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 6; Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 7; Basedow, AcP 1982, 335, 345 f.; MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 4 m. zahlr. w. Nachw. 369 EuGH, Rs. C-472/10 („Invitel“) = EuZW 2012, 786 m. Anm. Mathiak, EuZW 2012, 788. 370 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993, L 95, S. 29 ff. 371 EuGH, Rs. C-472/10 („Invitel“) Rn. 43 f. = EuZW 2012, 786. 372 Vgl. zu dieser Frage Ebers, LMK 2012, 333520. 373 Für den Wegfall der Einredeobliegenheit deutlich MüKo/Micklitz/Rott, ZPO, 5. Aufl., § 11 UKlaG, Rn. 10: „§ 11 ist damit Makulatur. Nicht der Verbraucher muss prüfen und erkennen, ob die inkriminierte Klausel bereits Gegenstand eines Unterlassungsklageverfahrens […] ist, nicht er muss die Einrede erheben, sondern das zuständige Gericht hat sich von Amts wegen einen Überblick zu verschaffen.“; zustimmend Walker, UKlaG, 1. Aufl. 2016, § 11 UKlaG, Rn. 6a; Lindacher, EWiR 2012, 677; a. A. v. Staudinger/Piekenbrock, BGB, § 11 UKlaG, Rn. 5. 374 Ähnlich auch v. Staudinger/Schlosser, BGB (2013), § 11 UKlaG, Rn. 4: „[…] nicht so ausgeprägt, dass man sich gegen eine Einordnung in das Institut der Rechtskrafterstreckung sträuben sollte.“
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
wertung der bestehenden Grundsätze, wenn man in ihm tatsächlich eine Erweiterung der Rechtskraft und keine Bindungswirkung sui generis sieht.
4. Korrektiv: Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO In Deutschland ist die Ausgestaltung und Festlegung der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft eng mit der Existenz der sogenannten Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO verwoben.375 Um die bewusst eng gezogenen Grenzen der materiellen Rechtskraft auszugleichen, schuf der Gesetzgeber von 1879, nachdem er mit der Feststellungsklage zuvor eine neue Klageart geschaffen hatte, das Institut der Zwischenfeststellungsklage.376 Durch Erhebung der damals „Inzidentfeststellungsklage“ gennannten Klage ist es den Parteien möglich, über streitige Rechtsverhältnisse, die im Verlaufe des Rechtsstreites aufgeworfen werden, deren Entscheidung sonst jedoch nicht in Rechtskraft erwüchse, eine rechtskräftige Entscheidung zu erwirken.377
a) Voraussetzungen „Bis zum Schluss derjenigen mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, kann der Kläger durch Erweiterung des Klageantrags, der Beklagte durch Erhebung einer Widerklage beantragen, dass ein im Laufe des Prozesses streitig gewordenes Rechtsverhältnis, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil abhängt, durch richterliche Entscheidung festgestellt werde“, § 256 Abs. 2 ZPO.
Notwendige Voraussetzungen sind damit zum einen ein Rechtsverhältnis, zum anderen dessen Abhängigkeit von der Hauptsache.
aa) Rechtsverhältnis Gegenstand der Zwischenfeststellungsklage bildet das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses.378 Der Begriff des Rechtsverhältnisses ist mit demjenigen im Rahmen der selbständigen Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO identisch379 und bezeichnet eine „bestimmte, rechtlich geregelte Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder einer Person zu einer Sache“380. Der Zusatz „bestimmt“ im Wortlaut des § 256 Abs. 2 ZPO macht erforderlich, dass sich das Rechtsverhältnis auf einen konkreten Sachverhalt bezieht.381 Demnach ist es nicht möglich, abstrakte Rechtsfragen im Wege einer 375 376
So auch Schumann, FS Georgiades (2006), 543, 551; Hager, KTS 1993, 39, 39 f. Schumann, FS Georgiades (2006), 543, 548. 377 Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291 f. 378 Vgl. § 256 Abs. 2 ZPO. 379 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 103. 380 BGHZ 22, 43 = NJW 1957, 21, 22; Prütting/Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 3. 381 H. M. siehe etwa Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 21.
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(Zwischen-)Feststellungsklage klären zu lassen, da diese nicht unter den Begriff eines bestimmten Rechtsverhältnisses fallen.382 Nicht möglich ist darüber hinaus eine Feststellung von Tatsachen oder Tatbestandsmerkmalen, die keine Rechtsverhältnisse sind, im Wege der Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO.383 Demnach kann beispielsweise die Echtheit einer Urkunde nicht Gegenstand einer Zwischenfeststellungsklage sein.384 Ebenso wenig ist die Feststellung der Geschwindigkeit eines Unfallverursachers oder die Unwahrheit einer Behauptung möglich.385 Typische Beispiele zulässiger Zwischenfeststellungsklagen sind etwa:386 Feststellung des Eigentums im Rahmen einer Herausgabeklage nach § 985 BGB; Feststellung der familienrechtlichen Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruches; Feststellung des Bestehens eines gesetzlichen Schuldverhältnisses; Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Vertrages.
bb) Abhängigkeit vom Hauptprozess Das Rechtsverhältnis muss für die Hauptsache zumindest teilweise präjudiziell sein. Das heißt, für die Beantwortung der Hauptfrage muss das Rechtsverhältnis geklärt werden.387 Die Präjudizialität ersetzt das in Absatz 1 der Vorschrift verlangte rechtliche Interesse.388 Nicht ganz einheitlich beurteilt wird, was unter Präjudizialität konkret zu verstehen ist.389 Nach engerer Definition liegt Präjudizialität (nur) dann vor, wenn das zu entscheidende Rechtsverhältnis ein „notwendiges Element“ des Subsumtionsschlusses der Hauptsache darstellt.390 Demgegenüber lässt die Rechtsprechung schon die „bloße Möglichkeit, dass das inzidenter ohnehin zu klärende Rechtsverhältnis noch über den gegenwärtigen Streitgegenstand hinaus Bedeutung hat oder gewinnen kann“,391 genügen.392 Diese Auslegung sei aus prozessökonomischen Erwägungen geboten, da verhindert werden solle, dass „ein zwischen den Parteien zu klären382
H. M. siehe etwa Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 30. Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 103. 384 Bsp. nach Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 103. 385 Bsp. nach Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 29. 386 Im Folgenden Bsp. nach Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 104; ähnl. Bsp. bei Schumann, FS Georgiades (2006), 543, 549 f. 387 Vgl. § 253 Abs. 2 ZPO; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 80. 388 BGHZ 69, 37, 41 = NJW 1977, 1637, 1637 m. w. Nachw.; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 80 f.; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 256, Rn. 42; Prütting/ Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 38. 389 Vgl. hierzu Gomille, NJW 2008, 274, 275 ff. 390 MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 85. 391 So BGH NJW 1977, 1637, 1638. 392 RGZ 170, 328, 330; BGH NJW 1992, 1897, 1897; kritisch hierzu Hager, KTS 1993, 39; BGH NJW 2007, 82, 83; hierzu Looff, JURA 2007, 695; BGH NJW 2011, 2195, 2196; BGH NJW-RR 2012, 1312, 1316; vgl. auch MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 86; Prütting/Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 38. 383
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
des Rechtsverhältnis späterhin nochmals Anlass zu einem Rechtsstreit gibt“.393 Dennoch bleibt darauf hinzuweisen, dass das Kriterium der Abhängigkeit von der Hauptsache auch dazu dient, solche Feststellungen auszuschließen, die das Gericht eben nicht ohnehin hätte treffen müssen, sondern zusätzlich zum vorgegeben Streitprogramm zu überprüfen wären.394 Das Rechtsverhältnis darf nicht mit dem Streitgegenstand der Hauptsache identisch sein, da der Zulässigkeit der Zwischenfeststellungsklage dann schon der Einwand der Rechtshängigkeit entgegensteht.395 Ebenfalls unzulässig ist eine Zwischenfeststellungsklage, wenn die Klärung des Rechtsverhältnisses schon vollumfänglich durch die Hauptentscheidung erfolgt.396 So kann etwa nicht im Wege der Zwischenfeststellungsklage festgestellt werden, dass eine vom Beklagten zur Aufrechnung gestellte Forderung in der Höhe der Klageforderung dem Grunde nach nicht besteht, da hier schon § 322 Abs. 2 ZPO die Rechtskraft der Hauptentscheidung auf das Nichtbestehen der Forderung ausweitet.397
b) Wirkung und Bedeutung in der Praxis – Vorteile gegenüber genereller Rechtskrafterweiterung Das Institut der Zwischenfeststellungsklage dient als Korrektiv zur Entscheidung für eine eng begrenzte Rechtskraft.398 Dies gilt bis heute ungebrochen.399 Durch die Zwischenfeststellungsklage wird den Parteien ein Vehikel geliefert, mit dem sie tragende Entscheidungsgründe, die, wie oben deutlich wurde, ja gerade nicht in Rechtskraft erwachsen, einer rechtskräftigen Entscheidung zuführen können.400 Auch hier gilt, dass die Rechtskraft nur zwischen den Parteien wirkt. Gleichermaßen gilt ebenfalls, dass durch ein Urteil das Nichtvorliegen des kontradiktorischen Gegenteils festgestellt wird.401 Wird demnach eine auf Feststellung eines Anspruches gerichtete Klage als unbegründet abgewiesen, steht damit auch fest, dass der Anspruch nicht besteht. Und umgekehrt enthält ein stattgebendes Urteil die Aussage, dass das Rechtsverhältnis besteht.402 393
So BGH NJW 1977, 1637, 1638.
394 So Hager, KTS 1993, 39, 43. 395 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3,
23. Aufl., § 256, Rn. 106. Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 103. BGH NJW 2007, 82. 398 Vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291 f. 399 Vgl. nur BGH NJW 1992, 1897, 1897; Prütting/Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 1; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 256, Rn. 1, 39; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 80. 400 Prütting/Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 1; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 256, Rn. 1, 39; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 80; kritisch Foerste, ZZP 1995, 167, 174 f. 401 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 121. 402 Stein/Jonas/Roth, ZPO Bd. 3, 23. Aufl., § 256, Rn. 121. 396 397
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In der Praxis wird die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage extensiv genutzt.403 Auch die Rechtsprechung erkennt die prozessökonomischen Vorteile der Zwischenfeststellungsklage im Hinblick auf eine umfassende Streitbereinigung ausdrücklich an: „Bei der Zwischenfeststellungsklage genügt grundsätzlich schon die bloße Möglichkeit, daß das inzidenter ohnehin zu klärende Rechtsverhältnis zwischen den Parteien noch über den gegenwärtigen Streitgegenstand hinaus Bedeutung hat oder gewinnen kann […]. Eine andere Auffassung wäre auch kaum mit dem prozeßökonomischen Zweck der Vorschrift zu vereinbaren, die vor allem verhindern soll, daß ein zwischen den Parteien ohnehin gerichtlich zu klärendes Rechtsverhältnis späterhin nochmals Anlaß zu einem Rechtsstreit gibt.“404
Auch wenn der umfangreiche Gebrauch der Zwischenfeststellungsklage ein Bedürfnis nach weiteren Rechtskraftgrenzen und einer Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf Gründe indizieren mag, sprechen wichtige Gründe gegen eine generelle Ausdehnung. Mehrfach ist bereits dargestellt worden, wie schwierig es ist, in Ausnahmekonstellationen anhand abstrakter Kriterien trennscharf zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Begründungselementen zu unterscheiden. Dieses Problem umgeht das Institut der Zwischenfeststellungsklage. Hier kann zwar das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zwischenfeststellungsklage unklar oder umstritten sein. Diese Schwierigkeiten verbleiben jedoch auf Zulässigkeitsebene und werden nicht in die Rechtskraftreichweite transportiert. Insofern kann zwar unklar sein, ob eine Zwischenfeststellungsklage zulässig ist oder nicht. Wenn sie vom Gericht jedoch für zulässig gehalten und entschieden wurde, ist der Rechtskraftumfang des Zwischenfeststellungsurteiles in der Regel klar und eindeutig. Des weiteren – auch das wurde bereits bei Schaffung der ZPO betont – ist die Kombination aus enger Rechtskraft und Zwischenfeststellungsklage einer generellen Rechtskrafterweiterung deshalb überlegen, weil sie flexiblere und für die Streitparteien selbst zu steuernde Lösungen ermöglicht und so die wesentlichen Vorteile einer weiteren Rechtskraftwirkung unter gleichzeitigem Ausschluss deren bedeutendster Nachteile garantiert.
IV. Zusammenfassung Die Rechtskraft im deutschen Zivilprozessrecht ist durch den Gesetzgeber bewusst auf den Tenor beschränkt worden; (tragende) Entscheidungsgründe nehmen nicht an der Rechtskraft teil.405 Damit ist das deutsche Verständnis der 403
So MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 81. BGH NJW 1977, 1637, 1638; darauf weist auch MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 81 hin. 405 St. Rspr. vgl. nur BGHZ 43, 144, 145 = NJW 1965, 693; BGH NJW 1993, 333; BGH NJW 2010, 2210; MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 84; Rosenberg/Schwab/Gottwald, 404
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Rechtskraft ein enges und formales. Diese enge Beschränkung der Rechtskraft wird – trotz verschiedener Vorschläge, die Rechtskraft zumindest in „Sonderfällen“ zu erweitern – konsequent durchgeführt und nur von wenigen (gesetzlichen) Ausnahmen flankiert. Insbesondere die Existenz der Zwischenfeststellungsklage stützt die Entscheidung des Gesetzgebers, weil sie gewährleistet, dass nichts von dem, worüber nicht gestritten wurde, in Rechtskraft erwächst, umgekehrt jedoch alles das, was die Parteien endgültig klären wollen – die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Zwischenfeststellungsklage unterstellt –, durch Parteidisposition (Erhebung der Zwischenfeststellungsklage) einer rechtskräftigen Entscheidung zugeführt werden kann. Der Gesetzgeber ging davon aus, die Parteien auf diese Weise vor überraschenden Urteilsfolgen zu schützen. Da die Rechtskraft unabhängig von der materiellrechtlichen Richtigkeit der Entscheidung eintritt, muss sich ein Rechtskraftsystem und insbesondere dessen Reichweite auch an den Auswirkungen unrichtiger Urteile messen lassen. Die enge Begrenzung der Rechtskraft reduziert die „Schlag- bzw. Strahlkraft“ von falschen Entscheidungen und ermöglicht – anders als bei einer Rechtskraft von Urteilsgründen – eine abweichende Entscheidung über zuvor falsch beantwortete Vorfragen. Enge Rechtskraftgrenzen verhindern zwar keine falschen Entscheidungen, sie ermöglichen nach einer falschen Erstentscheidung jedoch eine richtige Folgeentscheidung und zwingen nicht zu einem weiteren falschen Urteil. Damit wirken enge Rechtskraftgrenzen der Fortschreibung unrichtiger Urteile entgegen.406 Die dargestellten Vorschläge zur partiellen Erweiterung der materiellen Rechtskraft, gesetzliche Ausnahmen wie § 322 Abs. 2 ZPO sowie die Anordnung einer Bindungswirkung in prozessualen Sonderkonstellationen zeigen jedoch auch, dass es in besonders gelagerten Fällen durchaus interessengerecht oder sogar erforderlich sein kann, eine Bindung an Vorfragenentscheidungen anzuordnen. Deutlich wurde allerdings auch, dass dieser Umstand nicht dazu zwingt, das System enger Rechtskraftgrenzen insgesamt anzuzweifeln und durch eine generelle Rechtskrafterstreckung auf bestimmte Urteilsgründe zu ersetzen. Denn das wohl wichtigste Argument gegen eine generelle Rechtskraft von Entscheidungsgründen, das aus der Analyse des geltenden Rechts gewonnen werden konnte, ist folgendes: Die formale Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor unter Ausschluss aller Entscheidungsgründe ermöglicht eine schnelle und vor allem (weitgehend) zweifelsfreie Identifizierung des rechtsZPR, 18. Aufl., § 154, Rn. 8 f.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 33. Aufl., Vorbemerkungen zu § 322, Rn. 31; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 322, Rn. 17; Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 71; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 322, Rn. 16. 406 Dahingehend auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 59: „Die Perpetuierungsgefahr bleibt damit der Argumentationskern gegen eine objektive Rechtskrafterstreckung auf die Urteilsbegründung.“
A. Rechtskraft der Gründe im deutschen Zivilprozessrecht
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kräftigen Entscheidungsinhaltes und macht eine Differenzierung und Qualifizierung unterschiedlicher „Arten“ von Vorfragen entbehrlich. Gerade im Hinblick auf die Rechtssicherheit ist dieser Umstand von elementarer Bedeutung. Es ist also nicht die Idee von erweiterten Rechtskraftwirkungen an sich, die nicht überzeugt. Es ist das Fehlen eines belastbaren – und damit (rechts-)sicheren – Systems zur Beantwortung der Frage, welche Teile der Entscheidung rechtskräftig werden sollen und welche nicht. Mit anderen Worten: Solange die Frage, welche Gründe tragend und welche Gründe nicht tragend sind, nicht anhand allgemeingültiger Kriterien (sondern mit Hilfe unvollständiger Kasuistik) beantwortet werden kann, ist eine enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf den Ausspruch im Tenor die überzeugendere, weil schlicht mehr Rechtssicherheit bietende, Lösung. Die obigen Ausführungen zeigen, dass diese Frage bislang nicht zufriedenstellend beantwortet worden ist und nach geltendem Recht wohl auch nicht beantwortet werden kann. In eben diesem Sinne führte sodann auch der große Zivilsenat des BGH in einem Beschluss aus dem Jahre 1954 aus: „Wenn Rechtsprechung und Rechtslehre, wie sie am frühesten und am schärfsten im Zivilprozeßrecht ausgebildet wurden, daran festhalten, daß die materielle Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen sich auf den Urteilsausspruch ohne Einbeziehung der Urteilselemente beschränkt, so ist dies in einem Rechtssystem, in dem das Gericht nur Rechtsanwendungsorgan, nicht aber Rechtssetzungsorgan ist, fast selbstverständlich, da dann sinnvollerweise nur das binden kann, was das Gericht entschieden hat, nicht aber das, was es erwogen hat, um zu seiner Entscheidung zu gelangen. Es entspricht dies auch einer gebieterischen Forderung der Rechtssicherheit, mit der es unvereinbar ist, bindende Wirkungen an Urteilsausführungen zu knüpfen, von denen im Einzelfall höchst zweifelhaft sein kann, ob sie zu den ‚tragenden‘ Entscheidungsgründen gehören, oder ob sie für die Entscheidung nur nebenbei, gewissermaßen unterstützend, von Bedeutung sind. Dazu tritt die Gefahr weiterer Unklarheiten, die sich aus der Fassung der einzelnen Urteilsausführungen und aus der fast unüberwindlichen Schwierigkeit ergeben können, bei der Abfassung der Urteilsgründe ihre rechtliche Tragweite und ihre Anwendbarkeit auf andere Fallgestaltungen voll zu überblicken. Nur scharf umrissene, genau durchdachte und streng auf den konkreten Fall beschränkte Aussprüche, wie sie im Tenor enthalten sind, lassen den – bei Zweifeln allerdings durch die Entscheidungsgründe zu erläuternden – Inhalt des Ausspruches und die Grenzen seiner Wirkung erkennen. Auf die Wortfassung des Tenors wird daher bei allen Gerichten besondere Sorgfalt verwendet. – Diese Grundsätze stehen in der deutschen Rechtsentwicklung seit sehr langer Zeit in unbestrittener Geltung, und zwar keineswegs nur im Rechte des Zivilprozesses […]“.407
Die Kombination aus einer engen, auf den Tenor beschränkten Rechtskraft und der Möglichkeit der Erhebung einer Zwischenfeststellungsklage ist einer generellen Erstreckung der Rechtskraft auf bestimmte Entscheidungsgründe überlegen, weil enge Rechtskraftgrenzen die Perpetuierung falscher Entscheidungen verhindern können und die Ermittlung des rechtskräftigen Entscheidungsinhal407
BGHZ 13, 265, 279 f. = NJW 1954, 1073, 1074 f.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
tes wesentlich erleichtern und damit im Hinblick auf die Rechtssicherheit die zu bevorzugende Alternative darstellen.
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht Article 1355 Code civil L’autorité de la chose jugée n’a lieu qu’à l’égard de ce qui a fait l’objet du jugement. Il faut que la chose demandée soit la même; que la demande soit fondée sur la même cause; que la demande soit entre les mêmes parties, et formée par elles et contre elles en la même qualité. Article 480 Nouveau Code de procédure civile Le jugement qui tranche dans son dispositif tout ou partie du principal, ou celui qui statue sur une exception de procédure, une fin de non-recevoir ou tout autre incident a, dès son prononcé, l’autorité de la chose jugée relativement à la contestation qu’il tranche. Le principal s’entend de l’objet du litige tel qu’il est déterminé par l’article 4.
Auch innerhalb des französischen Rechts stellt der Tenor der Entscheidung den zentralen Ansatzpunkt für die materielle Rechtskraft dar. Darüber hinaus wurden im französischen Recht jedoch für eine lange Zeit auch bestimmte Entscheidungsgründe mit Rechtskraft ausgestattet. Infolgedessen unterschied sich die Reichweite der materiellen Rechtskraft im deutschen und französischen Recht während dieser Zeit erheblich. In der jüngeren Vergangenheit vollzog sich innerhalb des französischen Zivilprozessrechts jedoch eine Entwicklung, die zu einer Verengung der Rechtskraftreichweite und damit zu einer Angleichung an das deutsche Recht geführt hat.
I. Grundsatz – Le dispositif Die Urteilsformel bildet den unverzichtbaren Kernbereich dessen, was in Rechtskraft erwachsen soll. Um die Ziele408 der Rechtskraft verwirklichen zu können, muss zumindest derjenige Teil des Urteils, in dem sich die Entscheidung über den Anspruch befindet, in Rechtskraft erwachsen. So geht auch das französische Zivilprozessrecht seit jeher davon aus, dass die Rechtskraft primär (oder eigentlich nur)409 den dispositif erfasst.410 408 409
B. III.
Siehe hierzu oben erster Teil, B. III. 2. Zu den verschiedenen Aufweichungen dieses Grundsatzes vgl. sogl. unten dritter Teil,
410 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 67: „Selbstverständlich entwickelt die Urteilsformel (dispositif ) […] eine Rechtskraftwirkung.“; Croze/Morel/Fradin, Procédure civile, n° 146: „[…] elle s’attache donc en principe exclusivement aux énonciations qui figurent dans le dispositif de la décision […]“; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 492 ff.; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554,
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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Die Gestaltungsweise französischer Urteile erlaubt eine klare formale Unterscheidung zwischen Tenor und Entscheidungsgründen. Am Ende der in der Regel mit „attendu que“ oder „considérant que“ verbundenen Darstellung der verschiedenen Entscheidungsgründe folgt eingeleitet durch die Wendung „par ces motifs“ der dispositif der Entscheidung.411 Gesetzlich nicht vorgeschrieben ist jedoch, was konkret Inhalt des dispositif werden kann, darf oder muss.412 Art. 454 und 455 CPC definieren – vergleichbar mit § 313 ZPO – zwar, woraus sich ein Urteil zusammenzusetzen hat, machen dabei aber ebenfalls keine Aussage über Inhalt oder Begrenzung des dispositif.413 Für das französische Recht wird daher vereinzelt sogar vertreten, im dispositif sollten alle streitigen und vom Gericht entschiedenen (präjudiziellen) Rechtsfragen aufgeführt werden.414 Nach einer weiteren Ansicht sollten Berufungsurteile („arrêts d’appel“) innerhalb ihres dispositif auch Ausführungen zu bestimmten, vom Gericht geprüften und bejahten Anspruchsvoraussetzungen beinhalten.415 Konkret wird dort gefordert, in einem Urteil über Schadensersatzansprüche eines Geschädigten gegen mehrere Schädiger sollten Aussagen zur Verantwortlichkeit der Schädiger und dem Mitverschulden des Geschädigten im dispositif getroffen werden.416 Unklar ist jedoch, ob sich diese Vorschläge auf Verfahren beziehen, in denen die Parteien die Feststellung dieser Rechtsverhältnisse „beantragt“ haben. Zwar existiert im französischen Zivilprozessrecht kein mit der deutschen Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO vergleichbares gesetzliches Institut zur rechtskräftigen Feststellung bestimmter Rechtsverhältnisse.417 Offenbar ist es in der Praxis jedoch üblich, dass die Parteien – mit dem Ziel, sich weitgehende Kassationsmöglichkeiten offenzuhalten – vergleichsweise umfangreiche Anträge stellen, welche die Feststellung einzelner Tatbestandsvoraussetzungen miteinschließen.418 Das Gericht sei dann verpflichtet, zum ge2015, n° 98 ff.; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1178 ff.; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 724. 411 Vgl. hierzu mit konkreten Beispielen etwa Schroeder, Le Nouveau Style Judiciaire, S. 16 ff. (klassischer Stil) und 41 ff. (nahezu identischer [vgl. S. 41], moderner Stil); vgl. allgemein zu Abfassung und Stil französischer Urteile, Mimin, Le Style des Jugements. 412 Vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 88. 413 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 88, Fn. 304. 414 So Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 39 ff. mit Beispiel in n° 42; ähnlich Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 498; dahingehend nun auch der Vorschlag in den ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure, vgl. dazu die Darstellung oben zweiter Teil, A. I. sowie die vorläufige Bewertung unten vierter Teil, B. III. 415 So ein fiche méthodologique der Cour de cassation in BICC février 2005, n° 613, II. 2.1. 416 Fiche méthodologique der Cour de cassation in BICC février 2005, n° 613, II. 2.1; dahingehend auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 498. 417 Hierzu ausführlicher unten dritter Teil, B. III. 5. 418 So Schilling, Principes directeurs, S. 251 f.: „Anders als in Deutschland, wo der Antrag
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
samten Klägervortrag Stellung zu nehmen.419 Vor diesem Hintergrund wären die obigen Vorschläge aus deutscher Sicht zumindest verständlicher, weil ein so gefasster dispositif dann als Folge und Ausgleich des Fehlens eines Zwischenfeststellungsurteils begriffen werden könnte.420 Gleichwohl wird auch darauf hingewiesen, dass ein expliziter (Feststellungs-)Antrag der Parteien wohl keine Voraussetzung für die Aufnahme der Vorfragenentscheidung in den dispositif darstelle.421 Ungeachtet dieser Diskussion scheint es jedoch der vorherrschenden Praxis zu entsprechen, dass der dispositif französischer Zivilurteile grundsätzlich keine Aussagen zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen enthält.422 Nach alledem kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Inhalt französischer Urteilsformeln wesentlich variabler ist als im deutschen Recht und in diesem auch Entscheidungen zu Vorfragen auftauchen können.423 Diese Flexibilität hat zur Folge, dass auch eine formale, an der äußeren Form des Urteils orientierte Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor keine abstrakte Antwort darüber erlaubt, ob Vorfragenentscheidungen in Rechtskraft erwachsen können oder nicht. Denn die formale Betrachtung schließt lediglich diejenigen Vorfragenentscheidungen von der Rechtskraft aus, die innerhalb der motifs aufgeführt sind. Wenn also im Folgenden davon die Rede sein wird, dass sich die Rechtskraft auf den dispositif beschränkt und Urteilsgründe nicht an der Rechtskraft teilnehmen, so sind damit diejenigen Ausführungen zu Vorfragen gemeint, die sich nicht im dispositif, sondern innerhalb der motifs befinden. Neben der Diskussion zum Umfang des Tenors wurde im französischen Zivilprozessrecht nämlich auch über die Rechtskraft von Entscheidungsgründen (unabhängig von ihrer formalen Stellung in der Urteilsfassung) diskutiert. Die Frage nach einer isolierten Rechtskraft der Gründe ist jedoch zunächst von der Diskussion um die Bedeutung der Entscheidungsgründe abseits eigener Rechtskraft abzugrenzen. etwa einer Schadensersatzklage wegen Eigentumsverletzung nur lauten würde, den Beklagten zur Zahlung eines bestimmten Betrages zu verurteilen, stellt ein sorgfältiger Kläger vor einem französischen Zivilgericht in einem vergleichbaren Sachverhalt zunächst den Antrag auf Feststellung, dass er Eigentümer der beschädigten Sache ist, dass der Beklagte die Sache beschädigt hat, dass ihm – dem Kläger – hierdurch ein Schaden entstanden ist u. Ä., bevor er den eigentlichen Leistungsantrag stellt.“; andeutend auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 89. 419 Schilling, Principes directeurs, S. 252. 420 In diese Richtung wohl auch Schilling, Principes directeurs, S. 252. 421 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 89 Fn. 313; a. A. Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 233 Fn. 154. 422 So auch Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 19; dahingehend auch die Empfehlung von Schroeder, Le Nouveau Style Judiciaire, S. 17: „Quoiqu’il en soit, il faut se garder, dans le dispositif, d’y exprimer tout ce qui constitue un ‚motif‘ de la décision“ […]; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 860 Fn. 102. 423 Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 859; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 89; dahingehend auch Karila de Van in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Droit Civil 2008, Chose jugée, n° 91.
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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II. Bedeutung der Gründe abseits eigener Rechtskraft Die Gründe erlangen – wie im deutschen Recht auch – Bedeutung bei der Auslegung von Entscheidungen, deren Inhalt sich nicht allein aus dem Tenor entnehmen lässt. Zudem müssen sie herangezogen werden, um zu klären, ob Streitgegenstandsidentität zwischen einer bereits entschiedenen Sache und einer erneuten Klage besteht.
1. Bedeutung der Gründe im Rahmen der Auslegung unklarer Tenorierungen Zur Konkretisierung und Auslegung von Urteilsformeln, die aus sich heraus nicht eindeutig verständlich sind, wurde und wird auf die Urteilsgründe zurückgegriffen.424 Dies entspricht seit langem gefestigter Rechtsprechung425 und gleicht insofern der Situation innerhalb des deutschen Rechts. Da die Gründe in diesem Rahmen lediglich zur Auslegung herzangezogen werden, betrifft diese Praxis nicht originär die Reichweite der materiellen Rechtskraft.426 Weniger eindeutig erscheint dies, wenn geklärt werden muss, ob die autorité de la chose jugée einer bestehenden Entscheidung der Zulässigkeit einer erneuten Klage entgegensteht.
2. Bedeutung der Gründe für die Frage nach Streitgegenstandsidentität Die Bedeutung der Gründe innerhalb der Frage, ob eine neue Klage die von Art. 1355 CC vorgegebene triple identité – also Identität von objet, cause und parties – aufweist, ist weniger problematisch als die Frage nach einer isolierten Rechtskraft der Gründe. Es liegt auf der Hand, dass ein Gericht, das mit einer neuen Klage betraut wird, die Gründe bestehender Urteile heranziehen muss, um feststellen zu können, ob objet und cause der nun erhobenen Klage mit einer bereits entschiedenen Sache identisch sind. Insbesondere im Hinblick darauf, dass der Begriff cause inzwischen nicht mehr allein mit der geltend gemachten Rechtsregel gleichgesetzt, sondern wesentlich weiter gefasst wird,427 ist eine Auseinandersetzung mit den Gründen erforderlich. Dies ist im Ergebnis auch wenig umstritten.428 424 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 501; Vincent/Guinchard, n° 175; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 90. 425 Cass. Civ. 2e, 26 mars 1965, n° 60-11987 = Bull. Civ. 1965 II, n° 318; Cass. Civ. 1re, 17 févr. 1976, n° 74-80004 = Bull. Civ. 1976 I, n° 66; Cass. Civ. 1re, 24 févr. 1987, n° 8510641= Bull. Civ. 1987 I, n° 65; w. Nachw. auch bei Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 107. 426 Posez, RTD civ. 2015, 283, 302 f., n° 68. 427 Siehe hierzu oben zweiter Teil, B. III. 3. c) bb). 428 Vgl. nur Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1185; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 511; Normand, BICC 2004 hors-série 2004, n° 19.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
3. Keine Frage eigenständiger Rechtskraft Nicht eindeutig wird jedoch beurteilt, welche Auswirkung die Praxis, Entscheidungsgründe zur Auslegung heranzuziehen, auf eine Rechtskraft der Gründe haben soll. An dieser Stelle werden verschiedene – eigentlich voneinander unabhängige – Diskussionen vermischt:429 Vielerorts wird die Frage, ob den Gründen eine eigene, isolierte Rechtskraft zukommen soll, mit der Differenzierung zwischen positiver und negativer Rechtskraftwirkung (effet positif und effet négatif)430 vermengt und der Umstand, dass die Gründe zur Auslegung herangezogen werden, als Argument für deren Rechtskraft verwandt.431 Zwar lässt sich grundsätzlich darüber streiten, ob bestimmte Gründe mit Rechtskraft ausgestattet werden sollen oder nicht.432 Die Praxis, Entscheidungsgründe zur Auslegung unklarer Urteile und zur Feststellung von Streitgegenstandsidentität heranzuziehen, bedingt jedoch weder eine isolierte Rechtskraft der Gründe noch setzt sie eine solche logisch voraus.433 Aus diesem Grund eignet sich die Heranziehung von Gründen zur Auslegung unklarer Urteile und zur Feststellung der Reichweite eines bestehenden Urteiles nach hier vertretener Ansicht nicht als Beweis oder Argument für eine isolierte Rechtskraft der Gründe.434 Vielmehr handelt es sich bei diesem Phänomen um die Feststellung der Rechtskraft anhand der Gründe, nicht dagegen um eine eigene Rechtskraft der Gründe. Letzteres ist Gegenstand der grundsätzlichen Frage nach einer isolierten Rechtskraft der Gründe.
III. Isolierte Rechtskraft der Gründe Trotz des oben erwähnten Grundsatzes, dass sich die Rechtskraft primär auf den Tenor des Urteiles beschränkt, wurde innerhalb des französischen Zivilprozessrechtes intensiv darüber diskutiert, bestimmten Gründen ebenfalls Rechtskraft zuzuschreiben. Gründe, die sich durch bestimmte Charakteristika von den üb429
Zu diesem Befund gelangt auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 110 f. Siehe hierzu oben erster Teil, B. III. 7. b). Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 511; Normand, BICC hors-série 2004, n° 19; auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 68 f. verknüpft die Praxis, Gründe zur Identifikation des Streitgegenstandes heranzuziehen mit der Rechtskraft der Gründe: „Um die Umrisse der negativen Rechtskraftwirkung zu beurteilen, kann schwer auf die Gründe der ersten Entscheidung verzichtet werden. So wurde Jahre lang entschieden, dass solche Gründe in negativer [sic!] Rechtskraft erwachsen.“ 432 Hierzu sogl. unten dritter Teil, B. III. 433 Ähnlich Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 30 („Mais tout cela ne signifie pas que le motif, soutien nécessaire du dispositif, se voit reconnaître l’autorité de la chose jugée.“); Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 585; wie hier auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 111 („[…] betrifft doch die Heranziehung der motifs zur Bestimmung zur Reichweite der chose jugée eigentlich nicht die Frage der rechtskraftfähigen Entscheidungsbestandteile.“). 434 Zweifelnd auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 110; ebenso Germelmann, Rechtskraft in der EU, S. 173 f. 430 431
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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rigen Urteilsgründen abheben, sollten ebenfalls in Rechtskraft erwachsen. Im Zuge dieser Überlegungen haben sich in der französischen Praxis über längere Zeit gewisse Konstellationen etabliert, die eine Beschränkung der Rechtskraft auf den dispositif deutlich ausweiteten und in Frage stellten. Unterschieden wird in diesem Rahmen zwischen den sogenannten motifs décisoires, motifs décisifs und décisions implicites.
1. Motifs décisoires Als motifs décisoires werden solche Ausführungen innerhalb der Urteilsbegründung bezeichnet, die nicht im dispositif zum Ausdruck gebracht werden, aber eine eigenständige Entscheidung zur Hauptsache enthalten. „[…] les ‚motifs décisoires‘ sont des ‚morceaux‘ de dispositif égarés dans la partie du jugement réservée à la motivation“.435 Es handelt sich dabei also um Urteilselemente, die nur aufgrund fälschlicher Urteilsabfassung nicht im dispositif enthalten sind, bei ordnungsgemäßer Erstellung des Urteils allerdings in den Tenor der Entscheidung aufgenommen werden müssten.436 Sie sind nicht vom dispositif abhängig und bilden auch nicht dessen notwendige Grundlage (soutien nécessaire).437 Oft taucht die Figur der motifs décisoires im Rahmen von jugements avant dire droit438 auf:439 Wird etwa in einem Streit um Schadensersatz vom Gericht – in Form eines jugements avant dire droit – angeordnet, dass eine Beweisaufnahme zur Klärung der haftungsausfüllenden Kausalität erfolgen muss,440 kommt dieser Entscheidung – wie auch einem Beweisbeschluss im deutschen Recht – grundsätzlich keine Rechtskraft zu.441 Wird innerhalb der Gründe dieser Anordnung jedoch vom Gericht auch festgestellt, dass der Gegenstand, der die Verletzung hervorgerufen hat, zum Verantwortungsbereich des Beklagten gehört, wird diese Feststellung als motif décisoire bezeichnet. Hier stellt sich die Frage, ob diese Feststellung durch eine isolierte Rechtskraft des motif décisoire bindend konserviert werden kann oder soll.442 Nach früherer Rechtsprechung der Cour de cassation sollten die motifs décisoires ebenfalls in Rechtskraft erwachsen.443 Dem stimmte die Literatur zu. Es komme nämlich nicht darauf an, 435 So
Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 376. Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 492; Fricero/Julien, n° 765; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 376; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 93. 437 Vgl. Motulsky, Écrits 2. Aufl., 201, n° 24; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 97 ff. 438 Hierzu bereits oben erster Teil, B. III. 6. b) bb) (3). 439 Darauf weist auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 94 hin. 440 Cass. Civ. 2e, 5 avr. 1965, n° 63-11483 = Bull. Civ. 1965 II, n° 343. 441 Siehe hierzu oben erster Teil, B. III. 6. b) bb) (3). 442 Vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 94. 443 Cass. Civ. 2e, 8 mai 1974 = Bull. Civ. 1974 II, n° 153; Cass. Civ. 3e, 21 nov. 1974 = 436
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
wo eine Entscheidung des Gerichtes platziert ist; erforderlich ist nur, dass eine Entscheidung vorliegt und diese müsse dann ebenfalls als Teil der Rechtskraft gesehen werden.444
2. Motifs décisifs Diejenigen Gründe, die nicht – wie die motifs décisoires – eine vom Tenor unabhängige Entscheidung enthalten, sondern vielmehr inhaltlich so eng mit der Entscheidung im Tenor verknüpft sind, dass sie als Grundlage der Entscheidung im Tenor betrachtet werden müssen, werden als motifs décisifs bezeichnet.445 Unter ihnen wird die in den Gründen zum Ausdruck kommende notwendige Grundlage (soutien nécessaire) der gerichtlichen Entscheidung verstanden.446 Motifs décisifs unterscheiden sich von den sogenannten motifs décisoires also nicht durch ihre formale Stellung im Urteil, denn beide befinden sich in der Urteilsbegründung und nicht innerhalb des dispositif. Sie unterscheiden sich vielmehr inhaltlich, da motifs décisoires eine eigene Entscheidung zur Hauptsache enthalten und daher eigentlich im Tenor genannt werden müssten, während motifs décisifs keine eigenständige Entscheidung zur Hauptsache beinhalten, sondern diese „lediglich“ stützen. Motifs décisoires sind sozusagen „entscheidungsenthaltend“, während motifs décisifs „entscheidungsstützend“ sind. Motifs décisifs sind damit diejenigen Gründe, die ausschlaggebend waren, ebendas und nicht ein anderes Urteil zu fällen447 und deshalb mit dem dispositif in so engem inhaltlichen Zusammenhang stehen, dass sie als Teil desselben zu sehen seien.448 Aus eben dieser engen inhaltlichen – formal befinden sich die motifs décisifs in der Urteilsbegründung und nicht im dispositif – Verbindung zwischen motifs décisifs und dispositif wurde gefolgert, die Rechtskraft müsse die motifs décisifs miterfassen und eine abweichende Entscheidung in weiteren Verfahren über dieselbe Vorfrage verhindern. Diese Auffassung war in Literatur449 und Rechtsprechung450 vor Einführung des Nouveau Code de proBull. Civ. 1974 II, n° 432; w. Nachw. bei Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184 Fn. 4 und Motulsky, Écrits 2. Aufl., 201, n° 24 Fn. 62. 444 So Motulsky, Écrits 2. Aufl., 201, n° 23; darstellend zum Ganzen auch Vincent/ Guinchard, n° 175; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; Viatte, Gaz. Pal. 1978, 84; Normand, BICC hors-série 2004, n° 10 ff. 445 Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 68. 446 Vgl. Aubry/Rau/Esmein, Bd. 12, S. 332 Fn. 45; Motulsky, Écrits 2. Aufl., 201, n° 25 ff.; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 68; Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 98. 447 So Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1185. 448 So Aubry/Rau/Esmein, Bd. 12, S. 332 („[…] les motifs […] sont parfois si intimement liés qu’ils devraient en faire partie.“). 449 So etwa Motulsky, Écrits 2. Aufl., 201, n° 25; Aubry/Rau/Esmein, Bd. 12, S. 332 ff.; bis heute kritisieren einige Autoren die Verneinung der Rechtskraft der motifs décisifs durch die neuere Rechtsprechung der Cour de Cassation, vgl. hierzu mit Nachweisen sogl. unten dritter Teil, B. III. 4. c) bb). 450 Z. B. Cass. Civ. 3e, 9 mai 1968, n° 66-13742 = Bull. Civ. 1968 III, n° 189; Cass. Civ. 2e,
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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cédure civile nahezu unbestritten.451 Beispiele für motifs décisifs sind etwa die Feststellung einer Pflichtverletzung (faute commise),452 die Qualifikation eines Vertragsverhältnisses,453 das Vorliegen454 oder Nichtvorliegen455 einer Herausgabe (restitution) sowie das Bestehen eines Rechtfertigungsgrundes (motif légitime)456.457
3. Décisions implicites und décisions virtuelles Auch bei den sogenannten décisions implicites handelt es sich um Entscheidungen über logisch zwingende Vorfragen. Der Unterschied zu den motifs décisifs besteht hinsichtlich der Erwähnung im Urteil: Bei denjenigen logischen Vorentscheidungen, die im Urteil – genauer innerhalb der Urteilsbegründung – tatsächlich genannt werden, handelt es sich um motifs décisifs, während diejenigen logischen Vorentscheidungen, die im Urteil nicht ausdrücklich erwähnt werden, als implicitement jugé oder décisions implicites bezeichnet werden.458 Insofern wird im französischen Schrifttum sogar betont, es gehe bei décisions implicites gerade nicht darum, bestimmte Urteilsgründe mit Rechtskraft auszustatten; vielmehr gehe es darum, herauszufinden, welche – stillschweigend mitgetroffenen – Entscheidungen im dispositif bereits enthalten seien.459 Dasjenige, was das Gericht, um zu seinem Urteil zu gelangen, notwendigerweise entscheiden musste, wurde von der Rechtsprechung teilweise, obwohl nicht explizit im Urteil enthalten, als implicitement jugée und damit als Teil der materiellen Rechtskraft verstanden.460 So enthalte ein rechtskräftig entschiede17 oct. 1973, n° 72-12706 = Bull. Civ. 1973 II, n° 259; Cass. Civ. 3e, 28 oct. 1974, n° 73-11274 = Bull. Civ. 1974 III, n° 382. 451 „[…] il était uniformément admis, en doctrine comme en jurisprudence, que les motifs soutiens nécessaires du dispositif avaient toujours, même sortis de leur contexte, l’autorité de la chose jugée“, so m. zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung Normand, BICC hors-série 2004, n° 21; ebenso Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 68: „In der Lehre wird dies [die Rechtskraft der motifs décisifs] als logisch angesehen […].“; ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 96. 452 Cass. Soc., 4 févr. 1993, n° 88-42599 = Bull. Civ. 1993 V, n° 42. 453 Cass. Civ. 3e, 6 nov. 2001, n° 00-13780, inédit. 454 Cass. Civ. 2e, 26 juin 2003, n° 01-13705, inédit. 455 Cass. Civ. 2e, 8 juin 2000, n° 98-19038, inédit. 456 Cass. Civ. 3e, 5 oct. 1994, n° 92-12951 = Bull. Civ. 1994 III, n° 163. 457 Für weitere Beispiele vgl. etwa Normand, BICC hors-série 2004, n° 20 ff.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 95 f.; Cadiet, JCP 2007, I-200, n° 22. 458 Motulsky, Recueil Dalloz 1986, 1, 8; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 117; Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 67; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 97. 459 So Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 117: „[…] il s’agit, non d’accorder une quelconque autorité aux motifs de la décision, mais de rechercher dans le dispositif ce qui y est virtuellement compris […]“. 460 Cass. Civ. 3e, 20 nov. 1973, n° 72-13074 = Bull. Civ. 1973 III, n° 587; Cass. Civ. 3e, 20 mars 1978, n° 76-13783 = Bull. Civ. 1978 III, n° 126; Cass. Civ. 2e, 22 mai 1995, n° 9319016 = Bull. Civ. 1995 II, n° 150; vgl. hierzu auch Vincent/Guinchard, n° 176; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1179.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
ner Aussonderungsanspruch aufgrund Eigentums auch eine rechtskräftige Entscheidung über das Bestehen des Eigentums.461 Auch enthalte ein Vollstreckbarerklärungsurteil eine rechtskräftige Entscheidung über die Wirksamkeit des zu vollstreckenden Titels.462 Ebenso wurde angenommen, ein Urteil, das die unterlegene Partei zu einer Leistung verpflichtet, enthalte eine décision implicite über die Wirksamkeit des Rechtsverhältnisses, aus dem die Leistungspflicht hervorgeht.463 Außerdem impliziere die Anordnung eines Vaterschaftstests die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Vaterschaftsklage („action en recherche de paternité“).464 Gleichermaßen enthalte ein zusprechendes Urteil über einen Anspruch auf Erstattung einer Gesamtheit an Schäden die implizite Entscheidung über weitere – und später gesondert eingeklagte – Schäden aus demselben Schadensereignis.465 Innerhalb der Literatur wurden diejenigen stillschweigend mitgetroffenen Entscheidungen, die nicht notwendige Vorfrage, sondern logische Folge (suite nécessaire de la décision) waren, teilweise unter dem Begriff der décisions virtuelles von den décisions implicites abgegrenzt.466 Dieser Begriff wird jedoch nicht einheitlich verwendet und teilweise überschneiden sich die herangezogenen Beispielfälle.467 Nicht immer erschließt sich dem – zumindest dem an den deutschen oder gar englischen468 Urteilsstil gewöhnten – Betrachter, warum sich zu manchen dieser impliziten Entscheidungen keine Ausführungen im Urteilstext finden lassen.469 Es liegt jedoch nahe, dass dies in einigen Fällen den Besonderhei461
Beispiel nach Aubry/Rau/Esmein, Bd. 12, S. 334. Beispiel nach Aubry/Rau/Esmein, Bd. 12, S. 334. Cass. Civ. 3e, 20 mars 1978, n° 76-13783 = Bull. Civ. 1978 III, n° 126. 464 Cass. Civ. 2e, 7 mars 2002, n° 00-15978 = Bull. Civ. 2002 II, n° 34: „[…] en ordonnant un examen comparé des sangs le Tribunal avait implicitement jugé, comme étant le préalable nécessaire du dispositif, que l’action était recevable […]“. 465 Cass. Civ. 2e, 20 déc. 1973, n° 72-13808, JCP 1974, IV (tableaux de jurisprudence), 44; vgl. zu diesem Beispiel auch Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 119 und Stapf, Rechtskraftlehre, S. 98, die auch darauf hinweist, dass die Figur der décision implicite wohl auch dazu dient, (versteckte) Teilklagen zu verhindern. 466 So insb. Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1180; Vincent/Guinchard, n° 177; darstellend Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 517. 467 So wird etwa die Entscheidung Cass. Civ. 2e, 20 déc. 1973, n° 72-13808, JCP 1974, IV (tableaux de jurisprudence), 44 von Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1180, Fn. 1 als Beispiel für eine décision virtuelle angeführt, während Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 119 sowie Stapf, Rechtskraftlehre, S. 98, Fn. 349 (jeweils als Entscheidung vom 19. Dezember zitiert) diese als décision implicite einordnen. 468 Für einen Vergleich des englischen und französischen Urteilsstils siehe etwa Goutal, Am. Journ. Comp. Law 1976, 43; Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen; Kötz, Stil höchstrichterlicher Entscheidungen; grundlegend auch Wetter, Styles of Appellate Judicial Opinions; Schmidt, Ratio Decidendi, S. 3 ff. 469 Umgekehrt scheint im französischen Schrifttum jedoch auch die deutsche oder eng462 463
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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ten des Verfahrens und nicht zuletzt dem speziellen Stil französischer Gerichtsentscheidungen geschuldet ist. Französische Urteile bestehen zumeist nur aus einem einzigen Satz („jugement à phrase unique“) und beschränken sich konsequent auf die Wiedergabe des Notwendigsten.470 So verzichten sie in aller Regel vollständig auf eine Auseinandersetzung mit Lehrmeinungen, früheren Entscheidungen und rechtstatsächlichen oder rechtspolitischen Erwägungen.471 Das Urteil wird streng auf die Wiedergabe der angewandten Rechtsnorm und die Subsumtion unter diese reduziert.472 Neben historisch-gesellschaftlichen Erklärungen473 werden vor allem Klarheit und Verständlichkeit als Begründung für diese Form der Urteilsabfassung genannt.474 Die Allgemeinverständ-
lische Art, Urteile zu fassen, gewissen Vorbehalten zu begegnen: Touffait/Mallet, Recueil Dalloz 1968, I, 123, 127 setzen sich mit der Befürchtung auseinander, französische Urteile könnten sich zu stark deutschen oder englischen Gerichtsentscheidungen annähern und dadurch „diffus und schlecht strukturiert“ werden: „[…] les arrêts prendront l’allure des décisions germaniques ou anglo-saxonnes, diffuses, mal structurées, inadaptées à la rigueur cartésienne de l’esprit français.“ 470 Mimin, Le Style des Jugements, S. 185 ff. n° 77 ff.; Schroeder, Le Nouveau Style Judiciaire, S. 11; Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 3; Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 42. 471 So Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 45; ebenso Kötz, Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, S. 8 f.; deutlich auch Mimin, Le Style des Jugements, S. 255, n° 118: „Dans cette catégorie d’arguments qui donnent à la décision une apparence sophistique, nous comprendrons les arguments d’ordre extra-juridique inutiles à la solution du procès. Recourir alors aux considérations économiques, sociologiques, diplomatiques, c’est confondre les genres; c’est cacher la rectitude d’un bon raisonnement […].“; kritisch hierzu etwa Touffait/Tunc, RTD civ. 1974, 487. 472 Goutal, Am. Journ. Comp. Law 1976, 43, 45: „French courts, with amazing regularity, ever since the Revolution, have practiced deduction and nothing but deduction. […] a simple, clean-cut deduction from premises stated in the form of an abstract principle, normally drawn from statute.“; ebenso Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 45 f. 473 Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 44 f. führt diese Form auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen und das hierdurch veränderte Rollenbild der Justiz zurück: „Der Grund für diese strikte Bindung des Urteiles an das Gesetz, die dazu führt, daß nach außen hin die Existenz jeglicher richterlicher Rechtsschöpfung und Rechtsfortbildung geleugnet wird, liegt nicht allein in der Methodik der Rechtsfindung. […] Die Rigorosität des traditionellen französischen Urteilsstils ist vielmehr eine Nachwirkung der gesellschaftlichen Veränderungen, die die französische Revolution hervorgebracht hat. […] Der Richter war ‚la bouche qui prononce les paroles de la loi‘; seine Funktion erschöpfte sich darin, das Gesetz anzuwenden. Bereits die Auslegung des Gesetzestextes galt als Überschreitung des ihm zugewiesenen Kompetenzbereichs.“; ebenso Goutal, Am. Journ. Comp. Law 1976, 43, 60. 474 So Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 4, der im Folgenden jedoch für eine ausführlichere Darstellung des dispositif plädiert (n° 39 ff.), vgl. hierzu bereits oben dritter Teil, B. I.; bewundernd Kötz, Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, S. 9: „Denn viele dieser Urteile sind – wie ich nicht ohne kühle Bewunderung sage – an Geschliffenheit und Ausgefeiltheit, an stilistischer Eleganz, an formaler Klarheit nicht leicht zu übertreffen; […] In der Tat gibt es da keine Abschweifungen, keine blumigen Wendungen, keine obiter dicta, keine gelehrten Demonstrationen der Belesenheit; da dient alles dem Zweck, das gerichtliche Urteil in schlackenloser
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
lichkeit – aber auch das Verständnis geschulter Juristen475 – wird durch die „rigorose inhaltliche Kürze“476 jedoch bisweilen stark beeinträchtigt.477 Es ist nach alledem nicht auszuschließen, dass ebendieser reduzierte Stil478 französischer Gerichtsurteile mitursächlich für das Ausbleiben von Ausführungen zu bestimmten Rechtsfragen war und damit das Phänomen der décisions implicites zumindest mitbegünstigt hat.
4. Entwicklung Die Behandlung der eben beschriebenen Kategorien innerhalb der übergeordneten Frage nach einer isolierten Verbindlichkeit von Urteilsgründen unterlag einer bemerkenswerten Entwicklung. Wie gezeigt werden wird, vollzog sich in dieser Frage eine Veränderung zwischen diametralen Positionen: Während früher von der Rechtsprechung und der ganz herrschenden Lehre ein weitreichendes Rechtskraftkonzept vertreten wurde, das zahlreiche in den Gründen des Urteils abgebildete Vorfragenentscheidungen des Gerichts mit materieller Rechtskraft ausstattete, wird die objektive Reichweite der autorité de la chose jugée heute deutlich formaler und restriktiver definiert. Es wird ebenfalls deutlich werden, dass sich durch die vollzogenen Änderungen in der Beurteilung der Rechtskraftreichweite eine Annäherung an das deutsche Verständnis der objektiven Rechtskraftreichweite eingestellt hat. Angestoßen wurde die Veränderung durch Inkrafttreten neuer Vorschriften innerhalb des Nouveau Code de procédure civile und einer hiervon initiierten Neuausrichtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Reinheit als Ergebnis eines von Subjektivismen freien, mit innerer Notwendigkeit ablaufenden Subsumtionsprozesses in die äußere Erscheinung treten zu lassen.“ 475 Tunc, RID comp. 1978, 433, 462 schildert ein bezeichnendes Beispiel: „Le procureur général près la Cour de cassation reçoit en photocopie tous les arrêts rendus par celle-ci. Un jour, il lit un arrêt, le relit et ne le comprend pas. Il y a là, déjà, un phénomène fort inquiétant. Intrigué, il appelle au téléphone l’avocat général qui avait présenté des conclusions dans l’affaire et s’entend répondre: ‚Naturellement, Monsieur le Procureur général, vous ne pouvez pas le comprendre: vous ne participiez pas au délibéré‘.“ Weitere Beispiele ebenda. 476 So Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 45. 477 Deutlich Touffait/Tunc, RTD civ. 1974, 487, 507: „[…] le style actuel des décisions, notamment de la Cour de cassation, est un peu la messe en latin“; kritisch ebenfalls Tunc, RID comp. 1978, 433, 460 ff.; Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 45 f. 478 Teile der zitierten Literatur beziehen sich auf die traditionelle Darstellung französischer Urteile („présentation classique“). Dies ist aber insofern unschädlich, als auch der neuere, seit Mitte der 1970er Jahre auf Geheiß des Justizministeriums etablierte „style nouveau“ nur wenige Änderungen im Hinblick auf Länge und Verständlichkeit der Urteilstexte mit sich brachte und sich insb. auf Urteile der Cours d’appel ausgewirkt hat, während sich die Cour de cassation bis heute am klassischem Stil orientiert. Vgl. hierzu etwa Lashöfer, Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 42 ff.; Touffait/Mallet, Recueil Dalloz 1968, I, 123; Schroeder, Le Nouveau Style Judiciaire.
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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a) Gesetzgebung – Nouveau Code de procédure civile Nachdem der Code de procédure civile aus dem Jahr 1807 im Jahr 1976 durch den Nouveau Code de procédure civile abgelöst wurde, traten gleich mehrere neue Normen in Kraft, die eine konsequente Beschränkung der Rechtskraft auf die im dispositif zum Ausdruck gebrachte Entscheidung zur Hauptsache nahelegen und damit grundsätzlich – ohne Differenzierung zwischen motifs décisoires und motifs décisifs479 – gegen eine isolierte Rechtskraft von Entscheidungsgründen sprechen. Art. 480 CPC spricht denjenigen Urteilen Rechtskraft zu, die innerhalb ihres Tenors (dispositif) zumindest teilweise über die Hauptsache entscheiden: „Le jugement qui tranche dans son dispositif tout ou partie du principal […] a, dès son prononcé, l’autorité de la chose jugée […]“. Art. 482 CPC stellt ergänzend klar, dass Urteilen, die innerhalb ihres Tenors (dispositif) lediglich eine prozessleitende oder vorläufige Maßnahme anordnen, keine Rechtskraft zukommt: „Le jugement qui se borne, dans son dispositif, à ordonner une mesure d’instruction ou une mesure provisoire n’as pas, au principal, l’autorité de la chose jugée.“ Aus den beiden Normen ergibt sich also zunächst, dass es für die Rechtskraft der Entscheidung erforderlich ist, dass das Urteil zumindest einen Teil der Hauptsache entscheidet. Gleichzeitig macht die Formulierung des Art. 480 CPC deutlich, dass sich die Entscheidung des Gerichtes innerhalb des dispositif befinden muss: „Le jugement qui tranche dans son dispositif […].“ Damit wird eine Entscheidung zur Hauptsache innerhalb des Tenors zu einer Voraussetzung, die Art. 480 CPC für die Rechtskraft der Entscheidung aufstellt. Auch Art. 482 CPC stellt für den Inhalt der Entscheidung auf den dispositif ab. Die gesetzgeberische Konzentration auf den dispositif wird nicht zuletzt auch durch Art. 455 Abs. 2 CPC gestützt, welcher das Gericht dazu verpflichtet, seine Entscheidung im dispositif zum Ausdruck zu bringen: „Il [le juge] énonce la décision sous forme de dispositif.“ Insgesamt lässt der Inhalt der zur Rechtskraft neu eingeführten Normen daher auf das Bestreben des Gesetzgebers schließen, den dispositif (erneut) in das Zentrum der Rechtskraft zu rücken.480 Auch der im Rahmen der Diskussion um positive Rechtskraftwirkungen481 bereits angesprochene Art. 95 CPC stellt diese Deutung nicht in Frage. Art. 95 CPC weist einer Entscheidung über doppelrelevante Tatsachen, also Rechtsfragen, die sowohl für die Bestimmung der Zuständigkeit als auch innerhalb der Begründetheit der Hauptsache relevant werden, Rechtskraft zu, wenn das Gericht diese im Rahmen einer Entscheidung über die Zuständigkeit trifft.482 Damit bestimmt Art. 95 CPC zwar in der Tat, dass eine Vorfragenentscheidung 479
Zu den Auswirkungen auf die jeweilige Kategorie sogl. dritter Teil, B. III. 4. auch Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 583 n° 15; ähnlich Stapf, Rechtskraftlehre, S. 105, 121. 481 Siehe oben erster Teil, B. III. 7. b) bb). 482 Art. 95 CPC: „Lorsque le juge, en se prononçant sur la compétence, tranche la ques480 Dahingehend
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
in Rechtskraft erwächst. Dass dadurch allerdings nicht die oben dargestellte, formale Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf den dispositif in Zweifel gezogen wird, zeigt Art. 79 CPC483. Art. 79 CPC verpflichtet das Gericht, die Vorfragenentscheidung, die ansonsten lediglich innerhalb der Gründe auftauchen würde, explizit im Tenor (dispositif) festzuhalten: „Lorsqu’il ne se prononce pas sur le fond du litige, mais que la détermination de la compétence dépend d’une question de fond, le juge doit, dans le dispositif du jugement, statuer sur cette question de fond et sur la compétence par des dispositions distinctes.“ Demnach werden im Rahmen der Art. 95 und 79 CPC formal betrachtet keine Gründe in Rechtskraft erhoben. Vielmehr wird das, was ansonsten innerhalb der Gründe festgehalten würde, Teil des dispositif und deshalb in Rechtskraft erhoben.484 Diese Regelung erlaubt also nicht nur das Festhalten an der formalen Trennung zwischen dispositif und motifs im Hinblick auf die Rechtskraft. Vielmehr bekräftigt der Umstand, dass das Gericht nach Art. 79 CPC verpflichtet ist, seine Entscheidung über die Vorfrage in den Tenor mitaufzunehmen, die Intention des Gesetzgebers, die materielle Rechtskraft auf den dispositif zu beschränken.485 Nach alledem zeigen die im Jahr 1976 neu in Kraft getretenen Regelungen zur autorité de la chose jugée im Nouveau Code de procédure civile nicht nur, dass der Gesetzgeber die bis dahin der Auslegung durch Literatur und Rechtsprechung überlassene Frage nach der Verortung und der Reichweite der materiellen Rechtskraft durch Gesetze regeln wollte.486 Vielmehr lässt die Auslegung der obigen Normen auch darauf schließen, dass der Gesetzgeber der bis dahin innerhalb der Literatur und Rechtsprechung vorherrschenden, primär an materiellen Kriterien orientierten Auslegung der Rechtskraftreichweite ein formaleres, auf die im dispositif zum Ausdruck gebrachte Entscheidung beschränktes Konzept gegenüberstellen wollte.487
b) Rechtsprechung Auch die Rechtsprechung scheint den durch den Nouveau Code de procédure civile neu eingeführten Normen das Bestreben des Gesetzgebers zu entnehtion de fond dont dépend cette compétence, sa décision a autorité de chose jugée sur cette question du fond.“ 483 = Art. 77 CPC a. F. 484 Vgl. auch Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 584 f.; ähnlich Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 715. 485 So auch Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 583; ähnlich Normand, BICC hors-série 2004, n° 24 ff.; Le Bars, Procédures août-sept. 2007, 9, 11, n° 14 ff.; zur Auslegung des Art. 95 CPC vgl. auch Héron, Mélanges Perrot (1996), 131, 142 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 111 ff. 486 Ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 101. 487 Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 493: „Les auteurs du code de procédure civile de 1975 ont clairement marqué leur volonté de rompre avec la théorie des motifs décisoires et, peut-être […], avec celle des motifs décisifs.“
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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men, den Umfang der materiellen Rechtskraft formaler und in konsequenter Beschränkung auf den – in seinem konkreten Inhalt nichtsdestotrotz variablen488 – Tenor des Urteiles bestimmen zu wollen. Denn während die Rechtsprechung lange Zeit von einer Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf die motifs décisoires, motifs décisifs und décisions implicites und damit von einem weitreichenden Rechtskraftbegriff ausging,489 stellte sich im Zuge der Gesetzesreform Mitte der 1970er Jahre eine Kehrtwende innerhalb der Rechtsprechung zu dieser Frage ein.
aa) Motifs décisoires Zunächst änderte die Rechtsprechung ihre Haltung zur Rechtskraft der motifs décisoires und verneint seither eine Erstreckung der Rechtskraft auf solche Ausführungen innerhalb der Entscheidung, die zwar eine eigenständige Entscheidung enthalten, aber eben gerade nicht im dispositif, sondern innerhalb der Urteilsgründe auftauchen.490 Das Umschwenken der Rechtsprechung innerhalb der Frage nach der Rechtskraft der motifs décisoires hatte insbesondere Einfluss auf die Behandlung der Rechtskraft von jugements avant dire droit491. Früher wurde vertreten, jugements avant dire droit würden durch das Vorliegen einer endgültigen Entscheidung zur Hauptsache innerhalb der Gründe (motif décisoire) zu jugements mixtes und damit der materiellen Rechtskraft fähig.492 Inzwischen ist es jedoch gefestigte Rechtsprechung, dass das Vorliegen von motifs décisoires innerhalb von jugements avant dire droit nicht dazu führt, dass von einem jugement mixte und damit von einer rechtskraftfähigen Entscheidung auszugehen sei.493 Die Rechtsprechung kann sich neben den oben bereits erwähnten Normen auch auf Art. 544 CPC und Art. 606 CPC stützen.494 Diese erlauben eine sofortige Berufung beziehungsweise Kassation (nur) gegen solche Urteile, bei denen sich die neben der vorläufigen Anordnung ergangene, end488
Vgl. hierzu bereits oben dritter Teil, B. I.
489 Siehe hierzu oben dritter Teil, B. III. 1. – 3. 490 Cass. Civ. 2e, 30 juin 1977, n° 76-13393 =
Bull. Civ. 1977 II, n° 176; Cass. Civ. 2e, 16 nov. 1983, n° 82-14282 = Bull. Civ. 1983 II, n° 180; Cass. Civ. 2e, 3 oct. 1984, n° 83-12456 = Bull. Civ. 1984 II, n° 140; Cass. Com., 15 juill. 1987, n° 85-17829 = Bull. Civ. 1987 IV, n° 182; Cass. Civ. 2e, 24 févr. 1988, n° 87-10156, inédit; Cass. Civ. 2e, 17 mai 1993, n° 9119381 = Bull. Civ. 1993 II, n° 173; Cass. Civ. 2e, 22 jan. 2004, n° 02-16377 = Bull. Civ. 2004 II, n° 15; weitere Nachweise etwa bei Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 114. 491 Siehe hierzu oben erster Teil, B. III. 6. b) bb) (3). 492 Vgl. etwa Durry, RTD civ. 1960, 5, 12: „[…] ces éléments définitifs sont très fréquents dans des jugements avant dire droit qui sont ainsi transformés en jugements mixtes.“ 493 Cass. Civ. 2e, 16 nov. 1983, n° 82-14282 = Bull. Civ. 1983 II, n° 180; Cass. Com., 15 juill. 1987, n° 85-17829 = Bull. Civ. 1987 IV, n° 182; Cass. Civ. 2e, 16 juill. 1993, n° 9119781 = Bull. Civ. 1993 II, n° 253; Cass. Civ. 2e, 22 jan. 2004, n° 02-16377 = Bull. Civ. 2004 II, n° 15; vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 102, 105. 494 Vgl. hierzu auch Stapf, Rechtskraftlehre S. 102 f.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
gültige Entscheidung im dispositif findet.495 Hieraus kann geschlossen werden, dass eine Entscheidung zur Hauptsache, die sich nicht innerhalb des dispositifs, sondern innerhalb der motifs befindet, auch keine Bindungswirkung entfaltet, denn Rechtsbehelfe gegen den Inhalt einer Entscheidung sind nur dort erforderlich, wo durch das Urteil überhaupt eine Bindung entstehen kann.496
bb) Motifs décisifs Da die dargestellte Gesetzeslage und die ihr zu entnehmende Begrenzung der Rechtskraft durch eine formale Konzentration auf den dispositif keine Differenzierung zwischen den von der Rechtsprechung und Literatur entwickelten Kategorien motifs décisoires und motifs décisifs vornimmt, lässt sich argumentieren, dass im Zuge der beschriebenen Entwicklungen auch die motifs décisifs nicht mehr mit Rechtskraft ausgestattet werden können. Motifs décisifs sind diejenigen Gründe, die zwar keine eigenständige Entscheidung zur Hauptsache enthalten (Abgrenzung zu den motifs décisoires), dafür aber die notwendige Grundlage (soutien nécessaire) für die Entscheidung in der Hauptsache bilden.497 Diese enge, inhaltliche Verknüpfung mit dem Entscheidungsausspruch war vor Einführung des Nouveau Code de procédure civile Hauptargument für die Rechtskraft der motifs décisifs. Es stellt sich insofern die Frage, ob allein Nähe und inhaltliche Verbindung zwischen motifs décisifs und dispositif die Rechtskraft Ersterer auch nach Einführung der Art. 480 CPC, Art. 482 CPC und Art. 455 CPC noch rechtfertigen kann.498 Bis zu Beginn der 1990er Jahre herrschte innerhalb dieser Frage Uneinigkeit zwischen den Kammern der Cour de cassation.499 Während die Mehrzahl der Kammern die Rechtskraft aller motifs im Anschluss an die Gesetzesänderung verneinte,500 gingen die erste und dritte Zivilkammer weiterhin von der Rechts495 Art. 544 Abs. 1 CPC: „Les jugements qui tranchent dans leur dispositif une partie du principal et ordonnent une mesure d’instruction ou une mesure provisoire peuvent être immédiatement frappés d’appel comme les jugements qui tranchent tout le principal.“ und Art. 606 CPC: „Les jugements en dernier ressort qui tranchent dans leur dispositif une partie du principal et ordonnent une mesure d’instruction ou une mesure provisoire peuvent être frappés de pourvoi en cassation comme les jugements qui tranchent en dernier ressort tout le principal.“ 496 So zutreffend Normand, RTD civ. 1988, 386, 387; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 112; Stapf, Rechtskraftlehre S. 102 f. 497 Ausführlich oben dritter Teil, B. III. 2. 498 Auf eine mögliche Differenzierung weisen auch Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 376 a. E. hin: „[…] le rejet des ‚motifs décisoires‘ n’implique nullement qu’il faille rejeter les motifs ‚décisifs‘.“ 499 M. Nachw. Normand, RTD civ. 1988, 386; vgl. hierzu auch Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 576 ff. 500 Vgl. etwa Cass. Civ. 2e, 12 mars 1981, n° 79-13161 = Bull. Civ. 1981 II, n° 57; Cass. Civ. 2e, 14 déc. 1983, n° 82-13513 = Bull. Civ. 1983 II, n° 199; Cass. Civ. 2e, 3 oct. 1984, n° 83-12456 = Bull. Civ. 1984, II, n° 140; Cass. Com., 8 oct. 1985, n° 83-15578 = Bull. Civ. 1985 IV, n° 232; Cass. Soc., 6 juill. 1979, n° 78-10398 = Bull. Civ. 1979 V, n° 621; Cass. Soc., 8 juill. 1980, n° 79-14098 = Bull. Civ. 1980 V, n° 627.
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
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kraft der motifs décisifs aus501. Die Spaltung der Cour de cassation wurde innerhalb der Literatur mit drastischen Worten kritisiert.502 Dies mag sicherlich dazu beigetragen haben,503 dass seit dem Jahr 1991 sowohl die erste als auch die dritte Zivilkammer ihre bisherige Rechtsprechung aufgegeben haben und fortan alle Kammern davon ausgehen, dass (auch) den motifs décisifs keine materielle Rechtskraft zukomme.504 Die seither bestehende Einigkeit manifestierte sich im Jahr 2009 in einer Entscheidung505 der Assemblée plénière: Gegenstand des Rechtsstreits waren Ansprüche zwischen einem Verpächter und dem Pächter von Räumlichkeiten in Paris.506 Im Jahr 1991 klagte der Verpächter auf Räumung der Pachtsache und Zahlung noch ausstehender Pacht. Der Pächter erhob die Einrede des nichterfüllten Vertrages und beantragte die Aufrechnung seiner Forderungen gegen den Verpächter mit den rückständigen Pachtzahlungen. Das zuständige Gericht gab in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1995 dem Verpächter Recht und verurteilte den Pächter zur Räumung der Immobilie und zur Zahlung der ausstehenden Pacht. Nachdem dieses Urteil rechtskräftig geworden war, klagte im Jahr 1999 nun der damalige Beklagte (ehemals Pächter) gegen den damaligen Kläger (ehemals Verpächter) und eine weitere Partei (eine Firma für Gebäuderenovierung)507 diejenigen Schadenspositionen ein, die der damalige Beklagte im ersten Verfah501 Cass. Civ. 1re, 24 jan. 1984, n° 82-15533 = Bull. Civ. 1984 I, n° 32; Cass. Civ. 1re, 25 nov. 1986, n° 85-10524 = Bull. Civ. 1986 I, n° 275; Cass. Civ. 3e, 27 avr. 1982, n° 81-10352 = Bull. Civ. 1982 III, n° 106; Cass. Civ. 3e, 12 juill. 1988, n° 87-12867 = Bull. Civ. 1988 III, n° 128. 502 Insb. Normand, RTD civ. 1988, 386, 390: „Deux chambres contre deux, et aucune n’ayant voix prépondérante … On ne saurait admettre longtemps une telle confusion. Elle discrédite l’institution judiciaire. Elle fonde chez le justiciable le sentiment d’être le jouet de hasard […]. Une solution s’impose, et elle est d’autant plus urgente que les disparités actuelles pourraient bien n’être pas limitées à la détermination de la chose jugée.“ 503 Dem Aufsatz von Normand, RTD civ. 1988, 386, 390 wird von mehreren Autoren wesentlicher Einfluss auf die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zugesprochen, so etwa von Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 578; Gabet, BICC 1er juin 2009, 8, 14; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 106. 504 Cass. Civ. 1re, 8 juill. 1994, n° 91-17250 = Bull. Civ. 1994 I, n° 240; Cass. Civ. 1re, 22 nov. 2005, n° 02-20122 = Bull. Civ. 2005 I, n° 425; Cass. Civ. 1re, 28 févr. 2006, n° 0419440, inédit; Cass. Civ. 3e, 28 oct. 1992, n° 90-18573 = Bull. Civ. 1992 I, n° 282; Cass. Civ. 3e, 8 oct. 1996, n° 94-10748, inédit; deutlich auch Cass. Com., 3 mars 2004, n° 02-10168, inédit: „[…] attendu que tout ce qui ne figure pas formellement dans le dispositif est privé de l’autorité de la chose jugée, et qu’il en est ainsi s’agissant des motifs de la décision […].“; ebenso das fiche méthodologique der Cour de Cassation, BICC 15 février 2008, 6, 8: „Désormais, les motifs, dits décisoires […] sont […] clairement dépourvus de l’autorité de la chose jugée […] et il en est de même des motifs décisifs […].“ 505 Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3; m. Anm. Gabet, BICC 1er juin 2009, 8. 506 Ausführlich zum Verfahrensablauf vgl. Gabet, BICC 1er juin 2009, 8. 507 Das Schreiben, in dem der Verpächter vom Pächter eine Provision („commission sur location“) forderte, trug den Briefkopf dieser Firma.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
ren zur Aufrechnung gestellt hatte. Die jetzigen Beklagten erhoben die Einrede entgegenstehender Rechtskraft und argumentierten, der erneuten Klage stehe die Rechtskraft des ersten Urteiles entgegen, weil durch dieses bereits entschieden sei, dass die Ansprüche des Pächters nicht bestehen. Diese Auffassung teilte das Tribunal de grande instance de Paris im Jahr 2000 und erklärte die Klage für unzulässig. Die Cour d’appel de Paris bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz im Jahr 2003. Die dritte Kammer der Cour de cassation kassierte den Abweisungsbeschluss der Cour d’appel de Paris aus zweierlei Gründen:508 Erstens weil die zweite Beklagte (die Renovierungsfirma) innerhalb des ersten Verfahrens nicht Verfahrenspartei war und zweitens, weil das Urteil aus dem Jahr 1995 keine Entscheidung über die Ansprüche des jetzigen Klägers gegen die Beklagten enthielt. Im Zuge dessen sprach die Cour d’appel d’Amiens dem Kläger im Jahr 2008 zwar die Ansprüche gegen den zweiten Beklagten zu; wies die Klage gegen den ehemaligen Pächter jedoch erneut aufgrund entgegenstehender Rechtskraft ab.509 Die Assemblée plénière hob den Abweisungsbeschluss der Cour d’appel d’Amiens im Jahr 2009 schließlich mit der Begründung auf, dass das (erste) Urteil aus dem Jahr 1995 keine (rechtskräftige) Entscheidung über die Ansprüche des ehemaligen Pächters gegen den ehemaligen Verpächter enthalte.510 Im Rahmen der Veröffentlichung der Entscheidung machte die Cour de cassation, als wolle sie damit einen endgültigen Schlussstrich ziehen,511 unmissverständliche Hinweise zur Frage, ob auch Entscheidungsgründe der materiellen Rechtskraft fähig sind: „L’autorité de la chose jugée n’a lieu qu’à l’égard de ce qui a fait l’objet d’un jugement et a été tranché dans son dispositif.“512
cc) Décisions implicites Seit der eben angesprochenen Entscheidung aus dem Jahr 2009513 und der damit einhergehenden formalen Beschränkung der Rechtskraft auf die ausdrücklichen Entscheidungen innerhalb des dispositif verneint die Cour de cassation auch die Rechtskraft der décisions implicites und weist deren Bejahung im Berufungsverfahren als fehlerhaft zurück.514 Die Ablehnung einer Rechtskraft von déci508
Cass. Civ. 3e, 7 déc. 2004, n° 03-17466, inédit. Cour d’appel d’Amiens, 14 jan. 2008, n° 06/01946. Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3: „[…] alors que le jugement du 19 décembre 1995 n’avait pas tranché dans son dispositif les demandes reconventionnelles formées par M. X…, la cour d’appel a violé les textes susvisés […]“; m. Anm. Gabet, BICC 1er juin 2009, 8. 511 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 107: „um […] letzte Zweifel zu beseitigen“. 512 Cour de Cassation, BICC 1er juin 2009, 6, 6. 513 Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3. 514 Cass. Civ. 2e, 21 oct. 2010, n° 09-67577, inédit; Cass. Civ. 2e, 20 mai 2010, n° 0965946, inédit; Cass. Soc., 21 sept. 2011, n° 10-15339, inédit. 509 510
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sions implicites geht schon aus dem Urteil515 selbst hervor;516 wurde in einem von der Cour de cassation mit der Entscheidung veröffentlichten communiqué jedoch auch zusätzlich ausdrücklich bekräftigt.517 Schon vor dieser deutlichen Positionierung im Jahr 2009 hatten sich die Entscheidungen vermehrt, in denen die Cour de cassation eine Rechtskraft von décisions implicites abgelehnt hatte.518
dd) Zusammenfassung Angestoßen durch die Novellierung des Zivilprozessrechtes Mitte der siebziger Jahre stellte sich innerhalb der Rechtsprechung eine fundamentale Kehrtwende zur Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft ein. Während die Rechtskraft der motifs décisoires schon früh abgelehnt wurde, dauerte es fast zwanzig weitere Jahre, bis die letzten Kammern der Cour de cassation auch die Rechtskraft der motifs décisifs und décisions implicites konsequent und einheitlich verneinten. Die Rechtsprechung beschränkt sich in der Frage, was Teil der materiellen Rechtskraft sein kann, seither auf eine schlicht formale Herangehensweise: Nur das, was im Tenor verfasst wurde, kann Gegenstand der Rechtskraft sein. Damit ist nach der Rechtsprechung der Cour de cassation für die Beantwortung der Frage, ob eine vom Gericht getroffene Entscheidung in Rechtskraft erwächst, allein das Kriterium ausschlaggebend, ob sich diese Entscheidung im dispositif befindet oder nicht.519 In Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorgaben differenziert die Rechtsprechung im Hinblick auf die materielle Rechtskraft auch nicht (mehr) zwischen motifs décisoires und motifs décisifs. Vielmehr hat sich die zivilrechtliche Rechtsprechung in Frankreich eindeutig gegen eine isolierte Rechtskraft jeglicher (formaler) Gründe ausgesprochen: „La Cour de cassation […] consacre une nouvelle fois le rejet de la théorie des motifs dits ‚décisifs‘, définis classiquement comme constituant le soutien nécessaire du dispositif, comme celle des motifs ‚décisoires‘, qualificatif désignant habituellement des éléments de la décision exprimés par les juges dans les motifs de leur jugement, alors qu’ils auraient dû l’être dans son dispositif.“520 „Désormais, les motifs, dits décisoires […] sont 515 516
Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3. So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 119 f. 517 Cour de Cassation, BICC 1er juin 2009, 6, 6: „Dès lors que le premier jugement n’avait pas expressément statué, dans son dispositif, sur les demandes formées par le plaideur, aucune autorité de chose jugée ne pouvait lui être attachée de ce chef.“ 518 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 119; vgl. etwa Cass. Civ. 2e, 10 juill. 2003, n° 0114736 = Bull. Civ. 2003 II, n° 237; Cass. Civ. 2e, 19 févr. 2004, n° 03-10167, inédit. 519 Das schlussfolgern auch Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184: „[…] critère purement formel“; für weitere Nachweise aus der Rechtsprechung vgl. auch Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 114. 520 Cour de Cassation, BICC 1er juin 2009, 6, 6.
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[…] clairement dépourvus de l’autorité de la chose jugée […] et il en est de même des motifs décisifs […].“521
c) Literatur Trotz der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der inzwischen eindeutigen Positionierung durch die Rechtsprechung ist die Literatur innerhalb der Frage nach der Möglichkeit einer isolierten Rechtskraft von Gründen bis heute gespalten. Vielerorts wird die Verneinung der Rechtskraft jeglicher Urteilsgründe zwar befürwortet, teilweise wird die Position der Rechtsprechung jedoch auch kritisiert. Dabei hält die Literatur in ihrer Interpretation trotz der angesprochenen Entwicklungen522 überwiegend an der Differenzierung zwischen motifs décisoires, motifs décisifs und décisions implicites fest.
aa) Motifs décisoires Bezüglich derjenigen Ausführungen des Gerichts, die zwar eine eigene Entscheidung zur Hauptsache darstellen, aber keinen Eingang in den dispositif des Urteils gefunden haben (motifs décisoires), stimmt der ganz überwiegende Teil der Literatur der Auslegung des Nouveau code de procédure civile durch die Rechtsprechung zu und verneint infolgedessen die Rechtskraftfähigkeit der motifs décisoires.523 Die formale Beschränkung auf den dispositif hat gegenüber materiellen Kriterien zur Bestimmung des rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes zwei entscheidende Vorteile: Erstens entspricht (nur) sie den Wortlautvorgaben des Nouveau code de procédure civile. Zweitens erlaubt (nur) sie eine einfache und eindeutige Identifikation der Rechtskraftreichweite.524 521 Cour de Cassation, BICC 15 février 2008, 6, 8. 522 Vgl. auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 121, die aus
den Entwicklungen folgert, die Kategorien motifs décisiores, motifs décisifs und der décisions implicites haben „in der heutigen französischen Rechtspraxis ihre Bedeutung verloren“. 523 So Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 376; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 724; Normand, BICC hors-série 2004, n° 12; Viatte, Gaz. Pal. 1978, 84, 86; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 497; Fricero/Julien, n° 765; DouchyOudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115; Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 25, 33. 524 So Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115: „L’adoption d’un critère formel a l’avantage d’être conforme à lettre des textes du Code de procédure civile et a le mérite de la clarté et de la simplicité.“; ebenso Poillot, RRJ 2007–4, 1921, 1932, n° 32; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 497; Normand, RTD civ. 1988, 386, 391; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 724; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; deutlich auch Loriferne, Rapport sous Cass. Ch. Mixte, 25 oct. 2004, n° 03-14219 = Bull. Ch. Mixte 2004, n° 3: „Considérer en effet que, seul le dispositif est le siège de la chose jugée, est sans doute la seule façon d’éviter les exégèses des décisions judiciaires, sources d’insécurité juridique, et de proposer un critère objectif, clair et précis, qui est un critère formel.“; ebenso Gabet, BICC 1er juin 2009, 8, 12.
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bb) Motifs décisifs Obwohl eben genannte Argumente aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit auch gegen eine Rechtskraft der motifs décisifs sprechen, wird die Frage, ob im Zuge der Gesetzes- und Rechtsprechungsänderung auch die motifs décisifs nicht mehr mit Rechtskraft ausgestattet werden sollten, innerhalb der Literatur weniger einheitlich beurteilt. Hier spalten sich die Auffassungen in zwei Lager: Während einige Autoren die obigen Überlegungen auch auf die motifs décisifs übertragen und damit eine Rechtskraft von Gründen unabhängig von ihrem Inhalt ablehnen,525 kritisieren andere die Rechtsprechung und befürworten die Rechtskraft der motifs décisifs weiterhin526. Für die Rechtskraft der motifs décisifs wird angeführt, den Gründen keine Rechtskraft zukommen zu lassen, würde die autorité de la chose jugée letztlich überflüssig machen, da sie, sofern sie sich auf den Tenor beschränkt, nur das erfasse, was ohnehin schon durch den effet substantiel527 gewährleistet wäre.528 Auch seien die motifs décisifs unabdingbar („indispensable“), um den Inhalt des Tenors verstehen zu können, und es daher inkohärent, diese von der Rechtskraft auszuschließen529 und würde dem Urteil seine rechtliche Grundlage entziehen530. Richtig ist, dass die Gründe oftmals erforderlich sind, um den Inhalt des Tenors zu verstehen und präzise auslegen zu können. Richtig ist allerdings auch, dass es hierfür nicht notwendig ist, die Gründe in Rechtskraft erwachsen zu lassen. An dieser Stelle offenbart sich die bereits angesprochene Konfusion verschiedener Diskussionen; namentlich der Frage nach positiven Rechtskraftwirkungen einerseits und der Frage nach einer Rechtskraft der motifs décisifs andererseits.531 Es bleibt jedoch dabei, dass es, um Gründe zur Auslegung und Konkretisierung des Tenors heranzuziehen, nicht erforderlich ist, deren Inhalt im Sinne der materiellen Rechtskraft verbindlich festzuschreiben.532 525 So Fricero/Julien, n° 765; Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115; Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 25, 33; Posez, RTD civ. 2015, 283, 304, n° 72; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 497. 526 So Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 725; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 377; Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile (31. éd.), n° 1111 bezeichnen eine Übertragung der Rechtsprechung aus Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 als „regrettable“ und die Verneinung der Rechtskraft von motifs décisifs in Chainais/Ferrand/ Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1185 als „solution inexacte et impraticable“; kritisch auch Ferrand, ZZPInt 2017, 29, 70 f. 527 Damit ist die durch das Urteil eintretende Rechtsänderung oder dessen Rechtserkenntnis gemeint, vgl. ausführlicher zu diesem Begriff bereits oben erster Teil, B. III. 4. b) bb). 528 So Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 377. 529 So Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 377. 530 Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 725: „Il est logique que ces motifs participent de l’autorité de chose jugée […] au demeurant, si le jugement en était dépourvue, il manquerait de la base légale“. 531 Siehe ausführlich dazu oben erster Teil, B. III. 7. b) bb). 532 Wie hier Stapf, Rechtskraftlehre, S. 111 („[…] betrifft doch die Heranziehung der motifs zur Bestimmung zur Reichweite der chose jugée eigentlich nicht die Frage der rechtskraft-
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Weiter wird sodann argumentiert, der Ausschluss der motifs décisoires von der Rechtskraft gebe keinen Anlass dazu, auch von einer Rechtskraft der motifs décisifs abzusehen.533 Dem ist insoweit zuzustimmen, als sich aus der Verneinung der Rechtskraft für die motifs décisoires nicht per se eine Notwendigkeit ableiten ließe, auch den motifs décisifs die Rechtskraft zu versagen. Es ist aber ein Unterschied, ob die Rechtskraft der motifs décisifs gerade wegen der Verneinung der Rechtskraftfähigkeit von den motifs décisoires abgelehnt wird oder aber – und das ist vorliegend der Fall – nur aus denselben Gründen. Die fehlende Rechtskraft der motifs décisoires bedingt nicht die Ablehnung der Rechtskraft von motifs décisifs. Die Verneinung der Rechtskraft der motifs décisifs leitet sich lediglich aus denselben Motiven ab. Wie oben534 erkennbar wurde, gibt das Gesetz in Art. 480 CPC keine unterschiedliche Behandlung von solchen Ausführungen, die, obwohl sie eine Entscheidung zur Hauptsache enthalten, nicht Eingang in den dispositif gefunden haben (motifs décisoires), und solchen Ausführungen vor, die das Gericht notwendigerweise treffen musste, um zum jeweiligen Entscheidungsausspruch zu gelangen (motifs décisifs). Auch die von fast allen Autoren für die motifs décisoires gebrauchten Argumente der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit535 sprechen gegen eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Gründe im Hinblick auf die Rechtskraft. Vielmehr wird der Aspekt der Rechtssicherheit gerade bezüglich der motifs décisifs relevant: Anhand welcher Kriterien soll eine klare Abgrenzung erfolgen zwischen solchen Gründen, die die „notwendige“ Grundlage für die Entscheidung darstellen und solchen Gründen, die zwar für die Entscheidung relevant waren – aber eben doch nicht so relevant waren, dass sie deshalb „notwendige“ Grundlage würden? Die – schon für das deutsche Recht ausführlich behandelte536 – Frage, wann Gründe als soutien nécessaire der Entscheidung angesehen werden sollen und wann nicht, lässt sich nur schwer verbindlich beantworten.537 Damit bliebe es vom jeweiligen Sachverhalt und der fähigen Entscheidungsbestandteile.“); ähnlich Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 30 („Mais tout cela ne signifie pas que le motif, soutien nécessaire du dispositif, se voit reconnaître l’autorité de la chose jugée.“); Ghestin, Liber amicorum Waline (2002), 575, 585. 533 Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 376 a. E. meinen: „[…] le rejet des ‚motifs décisoires‘ n’implique nullement qu’il faille rejeter les motifs ‚décisifs‘.“ 534 Siehe oben dritter Teil, B. III. 4. a). 535 Vgl. Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115; Poillot, RRJ 2007–4, 1921, 1932, n° 32; Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 497; Normand, RTD civ. 1988, 386, 391; Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 724; Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1184; Loriferne, Rapport sous Cass. Ch. Mixte, 25 oct. 2004, n° 03-14219 = Bull. Ch. Mixte 2004, n° 3; Gabet, BICC 1er juin 2009, 8, 12. 536 Oben dritter Teil, A. II. 3. 537 Ebenso Poillot, RRJ 2007–4, 1921, 1933, n° 34: „[…] la notion de motifs décisifs ne répond pas à une définition précise. […] Or cette appréciation souveraine ne permet pas une prévisibilité satisfaisante, l’appréciation pouvant varier d’une juridiction à l’autre.“
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jeweiligen Entscheidung abhängig, welche Gründe als notwendige Grundlage angesehen werden müssen und die Frage nach der Rechtskraft der Entscheidungsgründe mithin vom Einzelfall abhängig. Eben dieser Umstand läuft der Rechtssicherheit zuwider.538 Die vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachte Zielsetzung, eine formale und eindeutige Lösung für die Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft zu kreieren, würde durch eine Rechtskraft der motifs décisifs konterkariert.539 Insgesamt ist es daher folgerichtig, auch den motifs décisifs die Rechtskraft zu versagen und jegliche Gründe von der Rechtskraft auszuschließen.540
cc) Décisions implicites Auch im Hinblick auf eine Rechtskraft von décisions implicites sind die Meinungen innerhalb der Literatur nach wie vor uneinheitlich. Während teilweise an deren Rechtskraft festgehalten wird,541 sprechen sich manche explizit dagegen aus, stillschweigend mitgetroffene Entscheidungen mit Rechtskraft auszustatten542. Die Argumente, mit denen die Diskussion geführt wird, ähneln denjenigen, die auch in der Frage nach einer Rechtskraft der motifs décisifs vorgebracht wurden. Für die Einbeziehung der décisions implicites in die Rechtskraft spreche demnach die Gefahr widersprechender Entscheidungen und das Bedürfnis nach materieller Entscheidungskontinuität.543 Die Beschränkung der Rechtskraft auf den dispositif – unabhängig davon, ob diese dem Gesetz oder der Rechtsprechung entnommen wird – widerspräche einer Rechtskraft der décisions implicites nicht von vornherein, wenn man darauf abstellte, dass décisions 538
So auch Poillot, RRJ 2007–4, 1921, 1933, n° 34 f. Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115. 540 Die Rechtskraft jeglicher Gründe verneinen auch Fricero/Julien, n° 765; Douchy- Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115; Strickler, IRJS t. 37, 37, n° 25, 33; wohl auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 497 ff. Die Rechtskraft der motifs décisifs fordern dagegen Cadiet/Jeuland, Droit judiciaire privé, n° 725; Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 377; Chainais/ Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1185. 541 So etwa Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 120 („[…] comment refuser que l’autorité de la chose jugée englobe ce qui est implicitement compris dans le dispositif?“); Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 55 („[…] plus ou moins inévitables“). 542 So etwa Julien, Recueil Dalloz 1989, 271, 274; in diese Richtung auch Chainais/Ferrand/Mayer/Guinchard, Procédure civile, n° 1179 f., die eine Rechtskraft von décisions implicites bzw. virtuelles durch die Entscheidung der Cour de cassation zumindest in Frage gestellt sehen. 543 Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 120: „[…] leur refuser l’autorité de la chose jugée […] aboutirait fatalement à des contradictions, à des contrariétés de décisions.“; auch Perrot, RTD civ. 1995, 961, n° 10 weist auf die Gefahr hin, die innere Logik der Entscheidung zu zerstören. 539 Ähnlich
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
implicites gerade nicht an irgendwelche Urteilsgründe, sondern allein an den dispositif anknüpfen.544 Doch auch wenn man die Frage nach einer Rechtskraft von décisions implicites als vom Gesetz nicht eindeutig beantwortet ansieht,545 sprechen diejenigen funktionalen Gründe, welche die Rechtsprechung zu einer formaleren Handhabung der Rechtskraft bewogen haben, auch gegen eine Rechtskraft von décisions implicites. Denn auch – oder gerade – die rechtskräftige Feststellung solcher Vorfragen, die vom Gericht (lediglich) stillschweigend mitgetroffen wurden, gefährdet die Rechtssicherheit.546 Genaugenommen wiegen diese Argumente hier sogar noch schwerer, denn während in der Frage nach einer Rechtskraft von Urteilsgründen – unabhängig davon, ob motifs décisoires oder décisifs – zumindest noch auf den Urteilstext abgestellt werden kann, finden décisions implicites ja gerade keinen Niederschlag in der schriftlichen Urteilsfassung.547 Diese können – und im Falle der Bejahung ihrer Rechtskraft auch deren Umfang – nur durch (juristische) Rückschlüsse auf die erforderlichen Voraussetzungen für den in Rede stehenden Subsumtionsschluss identifiziert werden.548 In Anbetracht der obigen Ausführungen549 zu Umfang und Stil französischer Urteile sind Unklarheiten hier durchaus zu befürchten. Dies gilt vor allem dann, wenn sich das Urteil auf verschiedene Weise begründen lässt. Insofern wird in diesem Zusammenhang zu recht davor gewarnt, fiktive, vom Gericht tatsächlich gar nicht getroffene – und von den Parteien unter Umständen auch nicht vorgetragene oder diskutierte – Vorfragenentscheidungen mit Rechtskraft auszustatten.550 Die Ablehnung der Rechtskraft von décisions implicites stellt nach alledem die eindeutigere und deshalb sicherere Lösung dar und fügt sich überdies auch besser in das vom Gesetzgeber intendierte und von der Rechtsprechung inzwischen konsequent umgesetzte Konzept einer formalen Beschränkung der Rechtskraft auf ausdrückliche Entscheidungen innerhalb des dispositif.551 544 Dahingehend Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 117; ebenso Strickler, IRJS t. 37, 37, 54. 545 Skeptisch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 116 („Fehlen […] einer völlig eindeutigen Vorgabe des Gesetzgebers“); a. A. offenbar Kössinger, Rechtskraftprobleme, S. 104. 546 Ebenso Julien, Recueil Dalloz 1989, 271, 274; dahingehend auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 116 f.; auch für die Cour de cassation war die Rechtssicherheit maßgebliches Argument bei ihrer Entscheidung im Jahr 2009 (Cass. Ass. Plén., 13 mars 2009, n° 08-16033 = Bull. Ass. Plén. 2009, n° 3), vgl. das communiqué BICC 1er juin 2009, 6, 6: „La Cour de cassation marque ainsi son attachement à une solution privilégiant la sécurité juridique.“ 547 Vgl. zur Abgrenzung der décisions implicites von den motifs bereits oben dritter Teil, B. III. 3. 548 Kritisch auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 116. 549 Siehe oben dritter Teil, B. III. 3. (a. E.). 550 Darstellend und zustimmend Stapf, Rechtskraftlehre, S. 116 unter Verweis auf Wiederkehr (Fn. 419). 551 Ähnlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 121.
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5. Keine Existenz allgemeiner Feststellungsklagen Im Rahmen der Ausführungen zur Reichweite der materiellen Rechtskraft im deutschen Zivilprozessrecht ist auf Bedeutung und Wirkung der Möglichkeit von Zwischenfeststellungsklagen hingewiesen worden.552 Ihre Existenz war mitursächlich für die gesetzgeberische Entscheidung, die Rechtskraft strikt auf den Tenor zu beschränken.553 Seither wird das Institut der Zwischenfeststellungsklage als Korrektiv zu den eng gezogenen Rechtskraftgrenzen verstanden.554 Das französische Zivilprozessrecht sieht eine allgemeine Feststellungsklage nach deutschem Vorbild demgegenüber grundsätzlich nicht vor.555 Eine gerichtliche Feststellung von Rechtsverhältnissen beziehungsweise die Fixierung bestimmter Vorfragenentscheidungen durch ein Feststellungsurteil kann von den Parteien im französischen Zivilprozess daher – von gesetzlich geregelten Ausnahmen556 abgesehen – nicht ohne weiteres verlangt werden.557 Wie oben558 aber auch dargelegt, begünstigt und ermöglicht die Flexibilität französischer Gerichte im Hinblick auf den Inhalt des dispositif jedoch den Erlass von Feststellungsurteilen oder solchen Urteilsformeln, die neben der streitigen Entscheidung Feststellungen zu Vorfragen enthalten.559 Mancherorts ist sogar zu lesen, die Zulässigkeit von Feststellungsklagen sei inzwischen praktisch allgemein anerkannt.560 Unklar ist jedoch, inwieweit die Parteien die Tenorierung beein552 Siehe oben dritter Teil, A. III. 4. 553 Vgl. Hahn, Materialien zur ZPO,
S. 291 f. Vgl. nur BGH NJW 1992, 1897, 1897; Prütting/Gehrlein/Geisler, ZPO, 11. Aufl., § 256, Rn. 1; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 256, Rn. 39; MüKo/Becker-Eberhard, ZPO, 6. Aufl., § 256, Rn. 80; kritisch zu bestimmten Aspekten Foerste, ZZP 1995, 167, 174 f. 555 Ségur, JCP 1965, 1902, n° 2: „Enfin les textes spéciaux des Codes civil et de Procédure civile n’ajoutent rien aux débats. On serait plutôt tenté d’y voir des exceptions voulues à une prohibition générale.“; Cornu/Foyer, Procédure civile, S. 335; Kranzbühler, Zulässigkeit der Feststellungsklage, S. 2; Schilling, Principes directeurs, S. 249 Fn. 397; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 88; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 239. 556 Das französische Zivilprozessrecht beschränkt sich auf spezielle Formen von Feststellungsklagen, welche sich jeweils am Feststellungsgegenstand orientieren, vgl. Kranzbühler, Zulässigkeit der Feststellungsklage, S. 86 und zu den verschiedenen Erscheinungen, S. 7 ff.; vgl. auch Guinchard/Ferrand/Chainais, Procédure civile (5. éd.), n° 77. 557 So auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 88; Guinchard/Ferrand/Chainais, Procédure civile (5. éd.), n° 75: „Est également prohibée, en principe, l’action déclaratoire, qui a pour objet de faire constater l’existence ou l’étendue d’une situation juridique. Une telle action vise en effet à dissiper une menace dont la concrétisation est seulement éventuelle.“ 558 Siehe oben dritter Teil, B. I. 559 Ebenso Stapf, Rechtskraftlehre, S. 89; Kranzbühler, Zulässigkeit der Feststellungsklage, S. 97; dahingehend auch Schilling, Principes directeurs, S. 251 f.; zum Umgang der Rechtsprechung mit der action déclaratoire vgl. auch Guinchard/Ferrand/Chainais, Procédure civile (5. éd.), n° 77. 560 So Schilling, Principes directeurs, S. 249, Fn. 397; Kranzbühler, Zulässigkeit der Feststellungsklage, S. 97 spricht sogar von „einer beachtlichen Zahl von Feststellungsurteilen, 554
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
flussen und insofern die rechtskräftige Feststellung bestimmter Vorfragen erzwingen können.561 Die offenbar bestehende Praxis, bestimmte Feststellungen – auf Verlangen der Parteien oder aus eigener Veranlassung des Gerichtes – in den Tenor aufzunehmen und damit der Rechtskraft zuzuführen, verdeutlicht zwar den praktischen Nutzen einer Zwischenfeststellungsklage und die Sinnhaftigkeit einer gesetzlichen Regelung. Es darf jedoch in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass der Umstand, dass tragende Entscheidungsgründe nach Ansicht von Rechtsprechung und Literatur lange Zeit ohnehin von der Rechtskraft umfasst waren, das praktische Bedürfnis nach einem Institut wie der Zwischenfeststellungsklage und deren Verankerung im Gesetz deutlich verringert haben wird.562 Im Gesetzgebungsverfahren zur deutschen ZPO wurde die Möglichkeit der Parteien, durch Erhebung einer Zwischenfeststellungsklage selbst darüber entscheiden zu können, welche Vorfragenentscheidungen in Rechtskraft erwachsen sollen, dagegen als Vorteil gegenüber einer generellen Erstreckung der Rechtskraft auf Entscheidungsgründe gesehen.563 Das Fehlen einer allgemeinen Feststellungsklage macht jedoch die bereits mehrfach angeklungene564 und aus deutscher Sicht auf den ersten Blick irritierende Vermischung der Diskussionen um die Rechtskraft der Gründe einerseits und die Existenz positiver Rechtskraftwirkungen andererseits etwas verständlicher: Wo eine fakultative Zuordnung bestimmter Vorfragenentscheidungen zur Rechtskraft durch die Parteien nicht möglich ist, reduziert sich beim Wegfall der obligatorischen Rechtskrafterstreckung auf tragende Entscheidungsgründe in der Tat die praktische Häufigkeit der Fälle, in denen von einem Urteil positive Rechtskraftwirkungen ausgehen. Aufgrund des verbleibenden Spielraums der Gerichte im Rahmen der Tenorierung und den gesetzlich vorgesehenen speziellen Formen von Feststellungsklagen kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, positiven Rechtskraftwirkungen sei hierdurch die generelle Grundlage entzogen.565 Nichtsdestotrotz bleibt das französische System aus Sicht der Parteien auch nach der Rechtsprechungsänderung im Grundsatz566 starrer als das deutsche, weil letztlich ein obligatorisch weites System durch ein obligatorisch enges deren Existenz die Behauptung widerlegt, die allgemeine Feststellungsklage sei ein Fremdkörper im französischen Rechtssystem.“ 561 Nach Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 240 und 255 seien die Möglichkeiten der Parteien, Teilentscheidungen zu Tat- oder Rechtsfragen herbeizuführen, stark begrenzt und diese im Ergebnis vom Ermessen des Gerichts abhängig. 562 Ähnlich auch Schilling, Principes directeurs, S. 252. 563 Vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291 f. 564 Siehe insb. oben erster Teil, B. III. 7. b) bb) sowie dritter Teil, B. III. 4. c) bb). 565 In diese Richtung Héron/Le Bars, Droit judiciaire privé, n° 368; Le Bars, Procédures, août-sept. 2007, 9, 11; wie hier Stapf, Rechtskraftlehre, S. 58. 566 Die dargelegte Flexibilität im Hinblick auf „Feststellungsanträge“ und deren Beantwortung innerhalb des dispositif weichen diesen Grundsatz freilich auf.
B. Rechtskraft der Gründe im französischen Zivilprozessrecht
233
System ersetzt wurde und eine Möglichkeit der Parteien, bestimmte Vorfragen durch eine Zwischenfeststellungsklage zu fixieren, zumindest vom Gesetz weiterhin nicht vorgesehen ist.
6. Zusammenfassung Innerhalb des französischen Zivilprozessrechtes hat sich zur Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft eine bemerkenswerte Entwicklung abgespielt. Während lange Zeit motifs décisoires, motifs décisifs und décisions implicites mit Rechtskraft ausgestattet wurden, lehnt die französische Zivilrechtsprechung heute die Rechtskraft von Gründen strikt ab. Sie differenziert dabei nicht zwischen verschiedenen Arten von Gründen, sondern begrenzt die materielle Rechtskraft formal auf diejenigen Ausführungen, die innerhalb des dispositif gemacht wurden. Angestoßen wurde die Rechtsprechungsänderung durch die Reform des Code de procédure civile im Jahr 1976. Neu eingeführte Normen, die den Umfang der Rechtskraft betreffen, legen den Willen des Gesetzgebers nahe, die Rechtskraft allein auf den Tenor zu beschränken und eine Ausweitung auf bestimmte Urteilsgründe aufzugeben. Für die motifs décisoires folgt der ganz überwiegende Teil der Literatur der Rechtsprechung und lehnt die Rechtskraftfähigkeit der motifs décisoires heute ab. Uneinigkeit besteht innerhalb der Literatur zur Frage, ob im Zuge der Entwicklungen auch motifs décisifs von der Rechtskraft ausgeschlossen bleiben müssen. Gerade in der Diskussion um eine verbindliche Festschreibung der motifs décisifs durch die materielle Rechtskraft zeigt sich teilweise eine Konfusion der Diskussionen um die Reichweite der Rechtskraft einerseits und die Wirkung der Rechtskraft andererseits. Richtigerweise setzt die Heranziehung der Gründe zur Auslegung eines Urteiles jedoch nicht die Rechtskraft der Gründe voraus. Neben den gesetzlichen Vorgaben sind auch in Frankreich vor allem Klarheit und Praktikabilität und damit letztlich Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit die maßgeblichen Argumente für eine formale Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf den Tenor unter Ausschluss jeglicher Entscheidungsgründe.567 Nach alledem lässt sich festhalten, dass das französische Zivilprozessrecht die Reichweite der materiellen Rechtskraft heute formal auf den Tenor beschränkt und Urteilsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen. Dennoch muss an dieser Stelle erneut auf die offenbar bestehende Freiheit der Gerichte im Rahmen der Tenorierung hingewiesen werden. Dass das französische Zivilprozessrecht nicht konkret vorschreibt, was Inhalt des dispositif sein kann, verwischt die Konturen der Rechtskraftreichweite teilweise trotz der formalen Beschränkung der Rechtskraft auf den Inhalt des dispositif. Festgehalten werden kann daher nur, dass das französische Recht keine Rechtskraft von Vorfragenent567
Ähnliches Ergebnis bei Stapf, Rechtskraftlehre, S. 200.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
scheidungen (mehr) kennt, die sich formal innerhalb der Urteilsbegründung befinden (motifs décisoires und motifs décisifs). Es erscheint jedoch möglich – und ist teilweise auch gesetzlich vorgeschrieben568 –, dass Vorfragenentscheidungen vom Gericht innerhalb des dispositif aufgeführt werden und infolgedessen in Rechtskraft erwachsen.569 Ebendiese Praxis verdeutlicht das offenbar bestehende Bedürfnis der Parteien, bestimmte Vorfragenentscheidungen rechtskräftig feststellen zu lassen und wirft damit gleichzeitig die Frage auf, inwieweit eine gesetzliche Verankerung dieser Möglichkeit in Form einer Zwischenfeststellungsklage sinnvoll wäre, um genaue Voraussetzungen und Konturen dieses Verfahrens zu schaffen.
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft in weiteren Mitgliedstaaten Infolge der dargestellten Entwicklungen innerhalb des französischen Rechts nähert sich das französische Recht in der Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft auch weiteren bedeutenden Rechtsordnungen in Europa an. So beschränkt etwa das österreichische Recht die Rechtskraft auf den Tenor und sieht keine Rechtskraft von (tragenden) Urteilsgründen vor und auch im italienischen Recht scheint derselbe Grundsatz zu existieren. Im spanischen Recht hat sich in der Vergangenheit demgegenüber eine andere Entwicklung vollzogen: Während die Rechtskraft früher auf den Tenor beschränkt blieb, wird heute eine eigenständige Rechtskraft von Gründen für möglich gehalten. Es wird zu untersuchen sein, ob es innerhalb der spanischen Diskussion gelungen ist, einheitliche und belastbare Kriterien zu entwickeln, um rechtskräftige von nicht rechtskräftigen Vorfragenentscheidungen zu trennen. Dem common law ist schon die Frage nach der Rechtskraft bestimmter Urteilsgründe fremd. Infolge des unterschiedlichen Aufbaus und Verständnisses von Prozessen in civil law und common law divergieren sowohl Vorstellung und Ausgestaltung der „Rechtskraft“ als auch deren Reichweite. Im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union ist jedoch fraglich, welche Bedeutung dem common law für die europäische Gesetzgebung im Allgemeinen und die EuGVVO im Speziellen noch zukommen wird. Der folgende Überblick wird zeigen, dass ein europäischer Konsens in der Frage nach der Reichweite der materiellen Rechtskraft im Zuge aktueller Ent568
Vgl. etwa Art. 79 CPC. auch die Vorschläge mit Beispielen von Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 498; Perdriau, JCP 1988, I-3352, n° 39 ff.; fiche méthodologique der Cour de Cassation, BICC 15 février 2008, 6, 8 f.; dahingehend auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 89, 121; Schilling, Principes directeurs, S. 251. 569 Dahingehend
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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wicklungen möglicherweise nicht mehr ganz so fern erscheint wie dies lange Zeit angenommen wurde.
I. Österreich § 411 Abs. 1 öZPO (1) Durch ein Rechtsmittel nicht mehr anfechtbare Urtheile sind der Rechtskraft insoweit theilhaft, als in dem Urtheile über einen durch Klage oder Widerklage geltend gemachten Anspruch oder über ein im Laufe des Processes streitig gewordenes Rechtsverhältnis oder Recht entschieden ist, hinsichtlich dessen gemäß §§. 236 oder 259 die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens begehrt wurde. Die Entscheidung über den Bestand oder Nichtbestand einer vom Beklagten zur Compensation geltend gemachten Gegenforderung ist der Rechtskraft nur bis zur Höhe des Betrages theilhaft, mit welchem aufgerechnet werden soll. (2) Die Rechtskraft des Urtheiles ist von amtswegen zu berücksichtigen.
Die knapp 20 Jahre ältere ZPO diente der 1898 in Kraft getretenen öZPO als Vorbild.570 Infolge der deutlichen Orientierung und der in Teilen nahezu wörtlichen Übernahme bestimmter Passagen571 ist mitunter sogar von einem „Tochterverhältnis“ zwischen ZPO und öZPO gesprochen worden.572 Gleichwohl konnten innerhalb der öZPO bereits verschiedene Schwierigkeiten und Erfahrungen mit der ZPO verarbeitet und verbessert werden.573 Nichtsdestotrotz ist es vor diesem Hintergrund wenig überraschend, dass schon die Formulierung des § 411 Abs. 1 öZPO eine deutliche Nähe zwischen der österreichischen und deutschen Rechtskraftlehre demonstriert. Dieser Eindruck bestätigt sich inhaltlich bei genauerer Betrachtung.574
1. Zweck und dogmatische Begründung Auch im österreichischen Zivilprozess besteht der Zweck der materiellen Rechtskraft in der Herstellung von Rechtsfrieden und der Wahrung von Rechtssicherheit.575 Sie dient ebenfalls der Verhinderung widersprechender Entscheidungen und paralleler Prozesse und wirkt damit sowohl im öffentlichen als auch im privaten Interesse.576 Im Hinblick auf die dogmatische Begründung der Rechtskraft zeigen sich ebenfalls keine Unterschiede zur deutschen Doktrin. 570
Fasching, öZPR, Rn. 35; Holzhammer, öZPR, S. 9; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 3. Fasching, öZPR, Rn. 35; Stürner in Deutsches Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung, S. 3, 18. 572 So etwa Holzhammer, öZPR, S. 12; kritisch hierzu Jelinek in Deutsches Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung, S. 41, 54. 573 Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 3; Fasching, öZPR, Rn. 35; vgl. hierzu am Beispiel der Rechtskraft auch Gaul, ÖJZ 2003, 861. 574 Vgl. hierzu auch Gaul, ÖJZ 2003, 861. 575 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, vor § 390, Rn. 25; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 941. 576 Fasching, öZPR, Rn. 1498. 571
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Auch die österreichische Zivilrechtslehre begründet die Wirkung der materiellen Rechtskraft seit langem ausschließlich prozessual mit dem ne bis in idemGrundsatz beziehungsweise der Präjudizialität.577 Danach wirkt das Urteil nicht auf die materielle Rechtslage ein, sondern stellt diese nur bindend fest, so dass eine erneute Entscheidung über bereits entschiedene Ansprüche ausgeschlossen beziehungsweise zugrunde zu legen ist.578
2. Eintrittszeitpunkt und Wirkungen Die materielle Rechtskraft tritt – wie im deutschen, aber anders als im französischen, Recht579 – mit der Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung (formelle Rechtskraft)580 ein.581 Auch582 nach österreichischer Auffassung tritt die materielle Rechtskraft in zwei Formen auf: Einerseits in der sogenannten Einmaligkeitswirkung, andererseits in der sogenannten Bindungswirkung.583
a) Einmaligkeitswirkung Die Einmaligkeitswirkung verhindert eine erneute Anhängigmachung desselben Streitgegenstandes zwischen denselben Parteien.584 Schon oben wurde angemerkt, dass dieser Wirkung der ne bis in idem-Gedanke zugrunde liegt. Umgesetzt wird die Einmaligkeitswirkung – wie auch im deutschen Recht – in Form einer negativen Prozessvoraussetzung. Das Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung über den vorliegenden Streitgegenstand ist Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage.585 Liegt demnach bereits eine rechtskräftige Entscheidung über den identischen Streitgegenstand vor, ist die Klage „mit Beschluss zurück577 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, vor § 390, Rn. 26 m. w. Nachw.; Fasching, öZPR, Rn. 1499, 1505; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 943; Gaul, ÖJZ 2003, 861, 861 ff. führt das insb. auf § 411 Abs. 2 öZPO zurück: „Der Grund dafür, dass Österreich der kräftezehrende Theorienstreit um die Rechtskraft erspart blieb und sich sogl. die prozessuale Theorie durchsetzen konnte, liegt in der noch im letzten Beratungsstadium in die österr ZPO von 1895 gelangten Vorschrift des § 411 Abs 2 […]“. 578 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, vor § 390, Rn. 26; Fasching, öZPR, Rn. 1504. 579 Vgl. hierzu oben erster Teil, B. III. 5. 580 Vgl. hierzu etwa Fasching, öZPR, Rn. 1493 ff.; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 938; Buchegger/Markowetz/Buchegger, öZPR, S. 362 ff. 581 Fasching, öZPR, Rn. 1498. 582 Entsprechend dem deutschen und französischen Recht, vgl. oben erster Teil, B. III. 7. 583 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 2 f.; Fasching, öZPR, Rn. 1499; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 945 ff.; Buchegger/Markowetz/Buchegger, öZPR, S. 366. 584 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 2; Fasching, öZPR, Rn. 1500; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 945; Buchegger/Markowetz/Buchegger, öZPR, S. 366. 585 Abgeleitet wird dies aus § 411 Abs. 2 öZPO, so Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 2.
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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zuweisen“.586 § 411 Abs. 2 öZPO schreibt vor, dass die Rechtskraft des Urteils von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Hier gilt – im Unterschied zum deutschen Recht587 – der Untersuchungsgrundsatz, sodass das Gericht selbst Tatsachen erheben muss.588 Die Nichtbeachtung entgegenstehender Rechtskraft bildet einen Nichtigkeitsgrund und verpflichtet bis zum Eintritt der Rechtskraft der nachfolgenden Entscheidung zu deren Aufhebung und Abweisung.589 Wird ein trotz entgegenstehender Rechtskraft nachträglich ergangenes Urteil formell rechtskräftig, kann das Verfahren nach § 530 Abs. 1 Ziff. 6 öZPO auf Antrag einer Partei wieder aufgenommen werden.590 Geschieht dies nicht, gilt das nachfolgende Urteil vorrangig.591 Die Ausschlusswirkung erstreckt sich auch auf das sogenannte begriffliche Gegenteil: Die Bejahung einer bestimmten Rechtsfolge stellt gleichzeitig die Verneinung des exakten Gegenteils dar.592 Dieser Aspekt entspricht der deutschen Lehre vom kontradiktorischen Gegenteil. Die Einmaligkeitswirkung kann ihrem Inhalt nach als negative Wirkung der materiellen Rechtskraft eingeordnet werden.593
b) Bindungswirkung Die zweite Wirkungsrichtung der materiellen Rechtskraft im österreichischen Zivilprozess bildet die Bindungswirkung. Sie formuliert ein inhaltliches Abweichungsverbot.594 Tritt eine rechtskräftig entschiedene Hauptfrage in einem nachfolgenden Prozess als Vorfrage wieder auf, so verbietet die materielle Rechtskraft die erneute Prüfung dieser Frage. Das Gericht muss die Entscheidung seiner eigenen Entscheidung ungeprüft zugrunde legen.595 Eine Missachtung der Bindungswirkung stellt, da die Bindungswirkung eine Wirkungsweise 586
Fasching, öZPR, Rn. 1500; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 945. Vgl. oben erster Teil, B. III. 9. a). Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 4; zur Entstehungsgeschichte vgl. Gaul, ÖJZ 2003, 861, 861 f. 589 Fasching, öZPR, Rn. 1500; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 945. 590 § 530 Abs. 1 Ziff. 6 öZPO: „Ein Verfahren, das durch eine die Sache erledigende Entscheidung abgeschlossen ist, kann auf Antrag einer Partei wieder aufgenommen werden, […] wenn die Partei eine über denselben Anspruch oder über dasselbe Rechtsverhältnis früher ergangene, bereits rechtskräftig gewordene Entscheidung auffindet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird, welche zwischen Parteien des wiederaufnehmenden Verfahrens Recht schafft […]“. 591 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 2; Fasching, öZPR, Rn. 1500; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 945. 592 Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 950; Fasching, öZPR, Rn. 1517; OGH 1 Ob 527/94; OGH 3 Ob 138/18t; OGH 7 Ob 132/18i. 593 So auch Gaul, ÖJZ 2003, 861, 861. 594 Fasching, öZPR, Rn. 1501. 595 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 3; Fasching, öZPR, Rn. 1501; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 946; Buchegger/Markowetz/Buchegger, öZPR, S. 367 f. 587 588
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
der materiellen Rechtskraft ist, gleichermaßen einen Nichtigkeitsgrund dar.596 Die Bindungswirkung kann als positive Wirkung der materiellen Rechtskraft bezeichnet werden.597
3. Objektive Reichweite a) Grundsatz Auch im österreichischen Zivilprozessrecht beschränkt sich die materielle Rechtskraft grundsätzlich auf den „Spruch“ und schließt die Urteilselemente aus.598 Nicht isoliert in Rechtskraft erwachsen demnach die Tatsachen, die das Gericht zugrunde legt, die rechtliche Qualifikation einzelner Verhältnisse und auch nicht die in den Gründen enthaltene Entscheidung über präjudizielle Rechtsverhältnisse.599 Auch Entscheidungen über die Gegenrechte des Beklagten, also Einwendungen und Einreden, erwachsen grundsätzlich nicht in Rechtskraft.600 Entscheidungsgründe werden lediglich zur Auslegung und Individualisierung des entschiedenen Anspruches herangezogen.601 Damit folgt auch das österreichische Recht der aus dem deutschen Recht bekannten restriktiven Auslegung der materiellen Rechtskraft.602 Hier wie dort wird diese Beschränkung aus dem Wort „insoweit“ abgeleitet.603
b) Ausnahmen Ausnahmen erfährt der Grundsatz, wonach den Gründen keine Rechtskraft zukommen soll, sowohl durch das Gesetz selbst als auch in Teilen durch die Rechtsprechung.
aa) Ausnahmen im Gesetz – Entscheidung über die Gegenforderung bei Aufrechnung Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass Entscheidungen über Vorfragen nicht in Rechtskraft erwachsen, normiert § 411 Abs. 1 Satz 1 öZPO selbst. Die Entscheidung über den Bestand oder Nichtbestand einer vom Beklagten zur Kompen596 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, § 411, Rn. 3; Buchegger/Markowetz/Buchegger, öZPR, S. 368. 597 So auch Gaul, ÖJZ 2003, 861, 861. 598 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 10; Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 952; Fasching, öZPR, Rn. 1520; OGH 8 Ob 13/10k; OGH 6 Ob 77/11h. 599 Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 10; Fasching, öZPR, Rn. 1520; OGH 7 Ob 132/18i; OGH 2 Ob 62/13a. 600 Zu Ausnahmen vgl. Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 10; Fasching, öZPR, Rn. 1521. 601 Fasching, öZPR, Rn. 1523; OGH 14 Ob 87/86; OGH 1 Ob 574/95; OGH 8 Ob 13/10k; OGH 6 Ob 77/11h. 602 Vgl. auch Ritter, ZZP 1974, 138, 138 ff. 603 So Ritter, ZZP 1974, 138, 138 f.; Kralik, Vorfrage, S. 114.
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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sation geltend gemachten Gegenforderung ist der Rechtskraft nur bis zur Höhe des Betrages teilhaft, mit welchem aufgerechnet werden soll. Diese „scheinbare Ausnahme“ besteht deshalb, weil in dieser Konstellation „in Wahrheit über den Bestand des Anspruches des Beklagten erkannt“ wird.604 Sie entspricht inhaltlich dem deutschen § 322 Abs. 2 ZPO.
bb) Ausnahmen in der Rechtsprechung – „Sonderfall-Judikatur“ des OGH605 Während der 1990er Jahre mehrten sich Entscheidungen des OGH, in denen er die engen Grenzen der materiellen Rechtskraft über die anerkannten Fälle der Präjudizialität in sogenannten „Sonderfällen“ ausdehnte.606 Der oberste Gerichtshof ging davon aus, ein solcher „Sonderfall der Präjudizialität“ sei dann gegeben, wenn „ein späteres Rechtsfolgebegehren mit einem früheren rechtskräftig entschiedenen deshalb unvereinbar ist, weil durch die Vorentscheidung die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für das neue Begehren verneint wurden“ und zwischen den beiden Begehren ein Zusammenhang besteht, der „so eng ist, daß die Gebote der Rechtssicherheit und der Entscheidungsharmonie eine widersprechende Beantwortung derselben, in beiden Fällen entschiedenen Rechtsfrage nicht gestatten“.607 Konkret wurde so etwa eine Bindung an eine Klageabweisung bejaht, mit der eine Räumungsklage gegen den Erben des verstorbenen Mieters abgewiesen wurde, weil ein Eintrittsrecht der Enkelin des Mieters bejaht wurde; in einem weiteren Verfahren nach erneuter Kündigung sah sich der OGH an die in den Gründen der Klageabweisung enthaltene Feststellung des Eintrittsrechts der Enkelin gebunden.608 Der Gerichtshof war der Auffassung, die beiden Kündigungen stünden „in einem derart engen Sachzusammenhang, daß die Bindungswirkung des Urteils […] zu bejahen“ sei.609 Innerhalb der Literatur wurde diese Rechtsprechungslinie unterschiedlich beurteilt. Während die Tendenz vereinzelt als Schritt in „eine sachlich nachvollziehbare Richtung“610 bezeichnet wurde und gefordert wurde, einen „umfassenden, konsistenten, stabilen und systematisch stringenten Gesamtentwurf der für die Bindungswirkung relevanten materiellen Sinnzusammenhänge zu 604 So in den Materialien zu den neuen österreichischen Civilprozessgesetzen 1897, Bd. I, S. 336. 605 So bezeichnet von Oberhammer, JBl. 2000, 205, 206. 606 Die Möglichkeit, die Grenzen der Präjudizialität in Sonderfällen auszudehnen, wird etwa bejaht in OGH 1 Ob 576/92; OGH 1 Ob 536/94; OGH 1 Ob 545/95; OGH 9 Ob 501/95; OGH 7 Ob 334/97m. 607 OGH 1 Ob 536/94. 608 OGH 1 Ob 545/95; vgl. hierzu Deixler-Hübner, JBl. 1996, 466, 466 f., welche dem OGH (nur) im Ergebnis zustimmt, weil sie davon ausgeht, das Verfahren wegen der zweiten Räumungsklage betreffe denselben Streitgegenstand wie das Verfahren wegen der ersten Räumungsklage, da sich der Lebenssachverhalt nicht geändert habe. 609 OGH 1 Ob 545/95. 610 Dalla Bontà, ZZP 2012, 93, 108, 109.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
erstellen“,611 ist die Rechtsprechung ansonsten überwiegend kritisiert worden:612 „Diese Rechtsprechung ist abzulehnen, soweit ‚Rechtssicherheit und Entscheidungsharmonie‘ eine über den aus dem Gesetz ableitbaren Umfang hinausgehende Rechtskraftwirkung begründen sollen.“613 Andernorts wurde die Tendenz als „bedenklich“ bezeichnet614 und sogar angemerkt, dass „dem Höchstgericht – gleichlaufend zur mehr oder weniger konturlosen Ausdehnung der objektiven Grenzen der Rechtskraft auf Vorfrageentscheidungen – zusehends die Unterscheidung zwischen Vorfragen und Hauptfragen selbst (und überhaupt das Wissen darüber, was eine feststellungsfähige Rechtsfolge ist) abhandenzukommen scheint“615. Schon gegen Ende der 1990er Jahre entfernte sich der OGH zunehmend von dieser Rechtsprechungslinie und näherte sich wieder der grundsätzlich engen Begrenzung der materiellen Rechtskraft an.616 Inzwischen hat sich der Gerichtshof vollständig und deutlich von dieser „Sonderfall-Judikatur“617 distanziert und führt aus: „Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sowie nach der Lehre sind materiell-rechtliche Nahebeziehungen über die echte Präjudizialität hinaus allein kein hinreichender Grund für eine Erweiterung der Rechtskraftwirkungen. Die Bindungswirkung der Rechtskraft ist daher nicht auf ‚bestimmte Sinnzusammenhänge zwischen den Feststellungen des Vorprozesses‘ oder auf ‚im Sinnzusammenhang stehende Rechtsverhältnisse‘ zu erstrecken. Auch ‚das Gebot der Entscheidungsharmonie‘ oder ‚das Bedürfnis der Rechtssicherheit‘ sind keine Argumente dafür, die Rechtskraft eines Urteils ‚als Sonderfall der Präjudizialität‘ über den entschiedenen Anspruch hinaus auf Vorfragen desselben zu erweitern.“618
Aus der hier interessierenden Perspektive ist hervorzuheben, dass der OGH seine Abkehr unter anderem mit dem Institut der Zwischenfeststellungsklage619 611
Dalla Bontà, ZZP 2012, 93, 122. Oberhammer, JBl. 2000, 205, 205 ff.; Oberhammer, JBl. 1995, 459; Oberhammer, JAP 1996/97, 26; Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 11; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 483 ff.; Deixler-Hübner, JBl. 1996, 466, 467; Gaul, ÖJZ 2003, 861, 873; w. Nachw. in OGH 7 Ob 184/99 f. 613 So Rechberger/Klicka/Rechberger/Klicka, öZPO, § 411, Rn. 11. 614 So Gaul, ÖJZ 2003, 861, 873. 615 So Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488. 616 Bereits als Distanzierung wertet Oberhammer, JAP 1996/97, 26, 28 die Entscheidung des OGH in 2 Ob 10/96; deutlicher ablehnend etwa OGH 7 Ob 106/98h; OGH 7 Ob 184/99f; OGH 5 Ob 12/99x; OGH 2 Ob 47/01b; OGH 6 Ob 248/03v; OGH 8 Ob A 19/11s; OGH 7 Ob 120/12s; OGH 9 Ob 50/17v. 617 So Oberhammer, JBl. 2000, 205, 206. 618 So in OGH 8 Ob A 19/11s; wortgleich in OGH 9 Ob 50/17v. 619 OGH 5 Ob 12/99x: „In der Lehre […] wird zutreffend darauf hingewiesen, daß die österreichische ZPO mit dem Zwischenantrag auf Feststellung ein Institut kennt, das – ausnahmsweise – die Möglichkeit einer rechtskräftigen Feststellung von Vorfragen eröffnet. Die Annahme, daß auch die Feststellungen über eine Vorfrage im Vorprozeß selbständig rechtskräftig werden können, würde diesen Zwischenantrag auf Feststellung völlig entwerten und 612
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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und der Gefahr der Fortschreibung unrichtiger Urteile begründet: „Mit dem Gedanken der Rechtssicherheit ist es durchaus auch vereinbar, bei Beurteilung eines neuen Anspruches Konsequenzen aus der erkannten Unrichtigkeit einer Vorentscheidung zu ziehen und jene nicht einfach fortzuschreiben […]“.620
c) Kompensation durch Zwischenfeststellungsantrag Schon die oben dargestellte Argumentation des OGH zeigt, dass auch im österreichischen Prozessrecht die Möglichkeit existiert, Vorfragenentscheidungen gezielt der Rechtskraft zuzuführen. Anders als im deutschen Zivilprozessrecht, ist dieses Institut allerdings nicht einheitlich, sondern in zwei Vorschriften geregelt: Nach § 236 Abs. 1 öZPO kann der Kläger „ohne Zustimmung des Beklagten bis zum Schlusse der mündlichen Verhandlung, über welche das Urteil ergeht, den Antrag stellen, dass ein im Laufe des Prozesses streitiggewordenes Rechtsverhältnis oder Recht, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung über das Klagebegehren ganz oder zum Teile abhängt, in dem über die Klage ergehenden oder in einem demselben vorausgehenden Urteile festgestellt werde“.
§ 259 Abs. 2 öZPO gibt sodann dem Beklagten die Möglichkeit „während der mündlichen Streitverhandlung […] ohne der Zustimmung des Klägers zu bedürfen, einen Antrag auf Feststellung im Sinne des § 236 [zu] stellen.“ Schon wenige Jahre nach Inkrafttreten der öZPO hält der als Schöpfer der öZPO geltende621 Franz Klein zum Zwischenfeststellungsantrag fest: „Obwohl die Institution in unserem Processe neu ist, werden diese Anträge überraschend oft gestellt. Sie sind ein äußerst wohlthätig wirkender Rechtsbehelf, und die Methodik des Civilprocesses hat unbestreitbar einen Fortschritt gemacht, wenn man die unangenehme Nothwendigkeit einen Proceß zu führen, gleich dazu benützt, durch rechtskräftige Feststellung anderer, connexer Rechtsverhältnisse späteren neuen Processen nach Kräften vorzubauen.“622
4. Zusammenfassung und Bewertung Es wurde deutlich, wie sehr sich die Konzeptionen der objektiven Rechtskraftgrenzen innerhalb der deutschen und österreichischen Prozessrechtslehre ähneln. Beide Rechtssysteme sehen ein enges Konzept vor, das die materielle Rechtskraft auf den Tenor beschränkt und Feststellungen über präjudizielle Rechtsverhältnisse grundsätzlich nicht erfasst. Hier wie dort existiert als Ausüberdies dem Wortlaut des § 411 ZPO widersprechen, wonach präjudizielle Rechtsverhältnisse dann rechtskräftig werden, wenn sie zum Inhalt eines Zwischenfeststellungsantrages gemacht wurden. Werden Vorfragen ohnehin bindend festgestellt, wäre dieser Halbsatz überflüssig.“ 620 OGH 2 Ob 47/01b. 621 Vgl. statt vieler etwa Rechberger/Simotta, öZPR, Rn. 3: „[…] der geistige Vater der österreichischen ZPO“. 622 Klein, Vorlesungen, S. 198.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
gleich die Möglichkeit der Erhebung einer Zwischenfeststellungsklage, anhand derer die Parteien eine rechtskräftige Entscheidung über solche Vorfragen erhalten können, die im Rahmen der Hauptsache ohnehin entschieden werden müssten, aber eben nicht selbständig in Rechtskraft erwachsen würden. Dieses Vehikel überführt die Entscheidung, ob und gegebenenfalls welche Vorentscheidungen in Rechtskraft erwachsen sollen, in die Disposition der Parteien. Im Unterschied zur Judikatur in Deutschland schien der OGH für eine gewisse Zeit eine Ausdehnung der objektiven Rechtskraftgrenzen anzustreben, die in ihrem Kern deutlich an die von Zeuner gemachten Vorschläge623 oder die vereinzelt vertretenen Ansichten zur Bindungswirkung bei erneuten Klagen nach neu eingetretenen Tatsachen624 erinnern. Nach deutlicher Kritik der überwiegenden Literatur ist diese Rechtsprechungslinie inzwischen jedoch korrigiert worden, so dass sich abschließend eine grundsätzliche Übereinstimmung beider Rechtssysteme in der Begrenzung der materiellen Rechtskraft konstatieren lässt. Ausschlaggebend für die Abkehr von den ausweitenden Tendenzen innerhalb der Rechtsprechung waren unter anderem die Gefahr der Fortschreibung unrichtiger Entscheidungen und die Existenz der Zwischenfeststellungsklage. In Anbetracht der bereits zum deutschen Recht gemachten Ausführungen ist diese Entwicklung zu begrüßen.
II. Italien und Spanien Die Reichweite der materiellen Rechtskraft im italienischen und spanischen Recht weicht in Teilen vom Verständnis innerhalb des deutschen, französischen und österreichischen Rechts ab. Im italienischen Recht scheint zwar im Grundsatz eine Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen nur dann in Frage zu kommen, wenn dies vom Gesetz angeordnet oder den Parteien beantragt wurde. Gleichwohl existieren Stimmen innerhalb der Literatur und Entscheidungen der Corte di cassazione, die eine darüber hinausgehende Bindung an Vorfragenentscheidungen bejahen. Innerhalb des spanischen Rechtes scheinen sich Literatur und Rechtsprechung inzwischen von einer eng begrenzten Rechtskraft überwiegend gelöst zu haben und die Rechtskraft auch auf Vorfragen zu erstrecken. Noch nicht einheitlich werden dort jedoch die für eine Bindung notwendigen Voraussetzungen beurteilt.
1. Italien Art. 324 Codice di procedura civile (Cosa giudicata formale) S’intende passata in giudicato la sentenza che non è più soggetta né al regolamento di competenza, né ad apello, né a ricorso per cassazione, né a revocazione per i motivi di cui ai numeri 4 e 5 dell’articolo 395. 623 624
Hierzu bereits oben dritter Teil, A. II. 1. Hierzu ebenfalls oben dritter Teil, A. III. 1. b).
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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Art. 2909 Codice civile (Cosa giudicata) L’accertamento contenuto nella sentenza passata in giudicato fa stato a ogni effetto tra le parti, i loro eredi o aventi causa.
Das italienische Zivilprozessrecht unterscheidet ebenfalls zwischen formeller Rechtskraft (cosa giudicata formale) und materieller Rechtskraft (cosa giudicata sostanziale). Art. 324 codice di procedura civile beschreibt die Voraussetzungen der formellen Rechtskraft. Die Vorschrift zur materiellen Rechtskraft findet sich demgegenüber in Art. 2909 codice civile. Sie lässt sich übersetzen mit: „Die in einem rechtskräftigen Urteil enthaltene Feststellung bindet die Parteien, deren Erben und Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht“. Mithin lassen sich der Norm selbst also keine konkreten Aussagen über die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft entnehmen.625 Grundsätzlich626 scheint jedoch auch das italienische Zivilprozessrecht die Grenzen der cosa giudicata eng zu ziehen und nur den Ausspruch über die Rechtsfolge mit Rechtskraft auszustatten.627 In der Urteilsbegründung getroffene Entscheidungen über Vorfragen erwachsen damit grundsätzlich nicht eigenständig in Rechtskraft.628 Gestützt wird dieser Ansatz unter anderem auf Art. 34 codice di procedura civile.629 Die Norm schreibt eine Verweisung der gesamten Rechtssache an das zuständige Gericht vor, wenn aufgrund des Gesetzes (per legge) oder ausdrücklichen Antrages einer der Parteien (per esplicita domanda di una delle parti) rechtskräftig (con efficacia di giudicato) über eine Vorfrage (questione pregiudiziale) entschieden werden soll, die in die Zuständigkeit 625 So auch Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 48: „Quant aux limites matérielles de la chose jugée, rien n’en n’est dit.“; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151. 626 Dieser Grundsatz geht offenbar zurück auf Chiovenda, Istituzioni, n° 129: „L’essenza della cosa giudicata dal punto di vista oggettivo consiste in ciò, che non è ammesso che il giudice in un futuro processo possa comunque disconoscere o diminuire il bene riconosciuto nel precedente giudicato. Ciò posto deve ritenersi […] che sia lecita una nuova decisione sopra le questioni pregiudiziali decise nel precedente processo, e che non formarono oggetto di una decisione per sé stante ma furono solo risolte allo scopo di pronunciare sulla domanda dell’attore.“; auf Chiovenda verweisen insb. Chainais, Revue de l’arbitrage 2016-N°1, n° 59; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567. 627 Chainais, Revue de l’arbitrage 2016-N°1, n° 59 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 150 f.; Ritter, ZZP 1974, 138, 149; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 230; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 120. 628 Chainais, Revue de l’arbitrage 2016-N°1, n° 59 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567; Ritter, ZZP 1974, 138, 150; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 230; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151. 629 Art. 34 codice di procedura civile: „Il giudice, se per legge o per esplicita domanda di una delle parti è necessario decidere con efficacia di giudicato una questione pregiudiziale che appartiene per materia o valore alla competenza di un giudice superiore, rimette tutta la causa a quest’ultimo, assegnando alle parti un termine perentorio per la riassunzione della causa davanti a lui.“; vgl. zum Ganzen Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567 ff. m. Nachw.; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 53.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
eines anderen Gerichts fällt.630 Hieraus wird geschlossen, die Rechtskraft erfasse Vorfragenentscheidungen nur dann, wenn dies vom Gesetz angeordnet oder den Parteien ausdrücklich beantragt wird.631 Innerhalb der Literatur wird jedoch gefordert, die Rechtskraft unabhängig von einer gesetzlichen Anordnung oder einem Parteiantrag auf logische Vorfragen zu erstrecken.632 Logische Vorfragen sollen demnach diejenigen Vorfragen sein, die dem Rechtsfolgenausspruch „logisch notwendig vorgelagert“ waren.633 Als Beispiel wird auch hier Bestehen und Wirksamkeit eines Vertrages genannt, der einem Anspruch auf Leistung zugrunde liegt – beides sei (zumindest bei einer zusprechenden Entscheidung) ebenfalls von der Rechtskraft umfasst.634 Das Bild, das sich – aus der bestehenden Sekundärliteratur – über die Auffassung der Rechtsprechung in dieser Frage gewinnen lässt, ist nicht einheitlich. Vielerorts wird berichtet, die Rechtsprechung erstrecke die cosa giudicata auch dann auf logische Vorfragenentscheidungen, wenn dies nicht vom Gesetz angeordnet oder von den Parteien verlangt wurde.635 Teilweise werden diese Entscheidungen jedoch auch lediglich als Ausnahmen verstanden und betont, die Rechtsprechung spreche sich gegen eine (generelle) Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen aus, die nicht ausdrücklich verlangt oder angeordnet waren.636
2. Spanien Art. 222 Ley de Enjuiciamiento Civil (Cosa juzgada material) 1. La cosa juzgada de las sentencias firmes, sean estimatorias o desestimatorias, excluirá, conforme a la ley, un ulterior proceso cuyo objeto sea idéntico al del proceso en que aquélla se produjo. 2. La cosa juzgada alcanza a las pretensiones de la demanda y de la reconvención, así como a los puntos a que se refieren los apartados 1 y 2 del artículo 408 de esta Ley. 630 Darstellend 631 Darstellend
Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567 f. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 568; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151; Zeuner/Koch, Effects of Judgments, n° 80; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 230. 632 Darstellend Stapf, Rechtskraftlehre, S. 567; Zeuner/Koch, Effects of Judgments, n° 80; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 52 f. jew. m. Nachw. 633 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 568 f.; Zeuner/Koch, Effects of Judgments, n° 80 sprechen von „necessary foundations“. 634 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 569; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 53. 635 So mit Nachweisen Stapf, Rechtskraftlehre, S. 569 f.; ebenso Iacumin, IJPL 2017, 288, 311 ff.; Zeuner/Koch, Effects of Judgments, n° 80. 636 Dahingehend Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151: „After having first followed a broad approach, the Italian Court of cassation holds now that prejudicial issues that have not been subject to a specific claim (like the German Zwischenfeststellungsklage) do not have res judicata preclusion effect.“; ähnlich Chainais, Revue de l’arbitrage 2016-N°1, n° 60: „Même si le droit italien a récemment connu en la matière quelques infléchissements, il demeure attaché à cette conception déniant toute autorité de chose jugée aux questions tranchés de manière ‚préjudicielle‘, en amont du jugement.“
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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Se considerarán hechos nuevos y distintos, en relación con el fundamento de las referidas pretensiones, los posteriores a la completa preclusión de los actos de alegación en el proceso en que aquéllas se formularen. 3. La cosa juzgada afectará a las partes del proceso en que se dicte y a sus herederos y causahabientes, así como a los sujetos, no litigantes, titulares de los derechos que fundamenten la legitimación de las partes conforme a lo previsto en el artículo 11 de esta Ley. En las sentencias sobre estado civil, matrimonio, filiación, paternidad, maternidad e incapacitación y reintegración de la capacidad la cosa juzgada tendrá efectos frente a todos a partir de su inscripción o anotación en el Registro Civil. Las sentencias que se dicten sobre impugnación de acuerdos societarios afectarán a todos los socios, aunque no hubieren litigado. 4. Lo resuelto con fuerza de cosa juzgada en la sentencia firme que haya puesto fin a un proceso vinculará al tribunal de un proceso posterior cuando en éste aparezca como antecedente lógico de lo que sea su objeto, siempre que los litigantes de ambos procesos sean los mismos o la cosa juzgada se extienda a ellos por disposición legal. Artículo 209 Ley de Enjuiciamiento Civil (Reglas especiales sobre forma y contenido de las sentencias) Las sentencias se formularán conforme a lo dispuesto en el artículo anterior y con sujeción, además, a las siguientes reglas: […] 4.ª El fallo, que se acomodará a lo previsto en los artículos 216 y siguientes, contendrá, numerados, los pronunciamientos correspondientes a las pretensiones de las partes, aunque la estimación o desestimación de todas o algunas de dichas pretensiones pudiera deducirse de los fundamentos jurídicos, así como el pronunciamiento sobre las costas. También determinará, en su caso, la cantidad objeto de la condena, sin que pueda reservarse su determinación para la ejecución de la sentencia, sin perjuicio de lo dispuesto en el artículo 219 de esta Ley.
Nachdem die Rechtsnatur der materiellen Rechtskraft (cosa juzgada material) im spanischen Recht lange Zeit umstritten war,637 wird sie – unter anderem nachdem dies vom Gesetzgeber im Rahmen einer Gesetzesreform im Jahr 2000 deutlich zum Ausdruck gebracht wurde638 – inzwischen als rein prozessuales Institut verstanden.639 Auch das spanische Zivilprozessrecht schreibt der materiellen Rechtskraft sowohl eine (negative) Ausschlusswirkung als auch eine (positive) Bindungswirkung zu. Im Unterschied zum deutschen, französischen, österreichischen und italienischen Recht gehen beide Wirkungsrichtungen unmittelbar aus dem Gesetz hervor: Art. 222 Abs. 1 LEC640 schließt ein weiteres Verfahren mit dem637 638
Vgl. hierzu Stapf, Rechtskraftlehre, S. 251 ff. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 261 f. nennt hier etwa die Verlagerung der Rechtskraftregeln aus dem Código Civil ins Ley de Enjuiciamento Civil und dessen Gesetzesbegründung. 639 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 262: „[…] die Auseinandersetzung in Spanien [kann] heute als beendet angesehen werden. Wie in Deutschland hat sich ein Verständnis der cosa juzgada als rein prozessuales Institut durchgesetzt.“; Ferrand/Poillot/Rey/Tinoco Pastrana, Étude complémentaire 2006, 33; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 112. 640 Ley 1/2000, de 7 de enero, de Enjuiciamiento Civil.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
selben Streitgegenstand641 aus, während Art. 222 Abs. 4 LEC eine positive Bindungswirkung anordnet, sofern die rechtskräftige Entscheidung eine Vorfrage innerhalb eines nachfolgenden Prozesses bildet.642 Anknüpfungspunkt für die materielle Rechtskraft ist – wie in allen oben behandelten Rechtsordnungen – auch im spanischen Recht grundsätzlich der Urteilstenor (fallo)643.644 Während die oben behandelten Rechtsordnungen diese (formale) Begrenzung des rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes jedoch entweder seit je her strikt einhalten oder inzwischen dazu übergegangen sind, scheint sich im spanischen Zivilprozessrecht eine gegenteilige Entwicklung vollzogen zu haben.645 Lange Zeit wurden Vorfragenentscheidungen grundsätzlich von der Rechtskraft ausgenommen und diese ausschließlich auf den Subsumtionsspruch im fallo beschränkt.646 Die Gründe wurden lediglich zur Auslegung herangezogen, ohne dass ihnen eigenständige Rechtskraft zukam.647 Etwas anders galt, wenn die Parteien zur Entscheidung über die präjudiziellen Rechtsverhältnisse eine Feststellung des Bestehens oder der Wirksamkeit des zugrundeliegenden Rechtsverhältnisses beantragt hatten.648 In derartigen Konstellationen nahmen die Gerichte die Entscheidung über die jeweils beantragte Feststellung jedoch offenbar mit in den fallo auf.649 Insofern darf die formale Begrenzung der Rechtskraft auf den Tenor nicht darüber hinweg täuschen, dass Vorfragenentscheidungen unter bestimmten Umständen durchaus einer eigenen Rechtskraft zugeführt werden konnten und wurden.650 Seit den 1980er Jahren ist diese formale Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf den Entscheidungsausspruch zunächst innerhalb der Litera641
Zum Inhalt vgl. ausführlich Stapf, Rechtskraftlehre, S. 339 ff. Zur negativen Funktion vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 266 ff. und zur positiven Funktion S. 270; vgl. auch Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 151 f.; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 112 ff. 643 Zum Begriff vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 314, Fn. 455. 644 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 315. 645 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 341; dahingehend auch Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152; in älteren Quellen wird hingegen noch von einer strikten Begrenzung der Rechtskraft auf den Entscheidungsausspruch berichtet, vgl. etwa Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 113 f.; auch Ritter, ZZP 1974, 138, 145 f. spricht noch vom Ausschluss der Vorfragenentscheidungen von der Rechtskraft (S. 145), deutet jedoch schon eine Auflockerung durch die Rechtsprechung an (S. 146). 646 So auch noch Ritter, ZZP 1974, 138, 145; ebenso noch Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 113 f.; darstellend Stapf, Rechtskraftlehre, S. 316 ff. m. w. Nachw. 647 Ritter, ZZP 1974, 138, 145; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 317 f. 648 Zu den Voraussetzungen der Feststellungsklage nach spanischem Recht vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 321 f.; Ritter, ZZP 1974, 138, 146 f.; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 113 f. 649 So schon Ritter, ZZP 1974, 138, 146 f.; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 113 f.; Stapf, Rechtskraftlehre, S. 321 f. 650 Deutlich auch Stapf, Rechtskraftlehre, S. 322. 642
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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tur651 und später auch in der Rechtsprechung652 zunehmend aufgeweicht worden.653 Ausschlaggebend war unter anderem die Auffassung, der Ausschluss von der Rechtskraft auch zwingender Vorfragen sei künstlich und werde dem einheitlichen Vorgang der Entscheidungsfindung nicht gerecht.654 Heute scheint sich die herrschende Meinung in Literatur655 und Rechtsprechung656 grundsätzlich für die Möglichkeit auszusprechen, bestimmte Urteilsgründe mit eigenständiger Rechtskraft auszustatten, auch wenn diese Feststellungen nicht gesondert beantragt wurden.657 Infolge dieser Entwicklung unterscheidet sich die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft im spanischen Recht heute von derjenigen in den oben untersuchten Rechtsordnungen. Aus diesem Grund kann die Rechtslage in Spanien daher freilich nicht für das (rein quantitative) Argument dienen, eine enge europäische Rechtskraft biete sich schon allein deshalb an, weil die Mehrzahl der nationalen Rechtsordnungen die Rechtskraft ihrerseits eng begrenzt. Nichtsdestotrotz lassen sich der spanischen Diskussion zur Frage nach den Voraussetzungen für eine Rechtskraft von Entscheidungsgründen und damit zur Frage nach einem Differenzierungssystem zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Urteilsgründen möglicherweise gleichwohl Argumente gegen eine Rechtskraft von Urteilsgründen auf europäischer Ebene entnehmen. Soweit – aus der Sekundärliteratur – ersichtlich ist diese Frage im spanischen Recht nämlich gerade nicht eindeutig geklärt und es existieren zahlreiche Vorschläge, welche die Rechtskraft teils von materiellen Wertungen, teils (zusätzlich) von formalen Kriterien abhängig machen wollen.658 Dieser Befund sowie die Bandbreite der diskutierten Vorschläge (allein auf nationaler Ebene) demonstrieren die Schwierigkeit, eine zufriedenstellende Differenzierungsmethode zu entwickeln und sollte daher im Hinblick auf eine europaweit einheitliche Rechtskraftkonzeption zumindest zu bedenken geben. Denn zumindest hinsichtlich der Anerkennungskonstellation innerhalb der EuGVVO gilt stets zu beachten, dass sich diejenigen Unsicherheiten und Schwierigkeiten bei der Bestimmung der genauen Konturen der Rechtskraftwirkungen, die schon auf 651 Vgl. Stapf, 652 Vgl. Stapf,
Rechtskraftlehre, S. 324 f. m. zahlr. Nachw. Rechtskraftlehre, S. 335 ff. m. zahlr. Nachw. 653 Vgl. zu dieser Entwicklung Stapf, Rechtskraftlehre, S. 318 ff. 654 Stapf, Rechtskraftlehre, S. 326. 655 Vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 325 ff. m. w. Nachw. 656 Vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 335 ff. m. w. Nachw. 657 So Stapf, Rechtskraftlehre, S. 341: „Von der ursprünglich klaren Begrenzung der Wirkungen der cosa juzgada material auf den Entscheidungssatz des fallo ist man in Spanien abgekommen und erstreckt die cosa juzgada material auch auf präjudizielle Fragen.“; dahingehend auch Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152: „Even if Spanish case law seems to hold that only the final order and not the legal reasons have res judicata effect, it has been asserted, that not only the petitum but also the causa petendi are covered by res judicata.“ 658 Vgl. hierzu ausführlich Stapf, Rechtskraftlehre, S. 326 ff.
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nationaler Ebene bestehen, durch die Anerkennung auf internationaler Ebene vertiefen werden.659
III. England Die obenstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass trotz teilweise unterschiedlicher Ansätze in den beleuchteten Rechtsordnungen durchaus zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen. Oft bestehen in den dargestellten Prozessrechten ganz ähnliche Fragestellungen, sodass schon auf dieser Ebene ein Vergleich möglich ist. So ist etwa die formale Frage, ob sich die Rechtskraft neben dem Tenor auch auf die Entscheidungsgründe erstreckt, in jeder der dargestellten Rechtsordnungen – wenngleich freilich in unterschiedlicher Intensität – diskutiert und beantwortet worden. Für einen Vergleich mit dem englischen Recht ist jedoch ein allgemeinerer Blickwinkel erforderlich, da sich hier schon die Gesamtsysteme weitaus weniger ähnlich sind. Bereits die grundsätzliche Art der „Rechtsfindung“ unterscheidet sich zwischen common law660 und civil law661 erheblich. Während in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen allgemeine Regeln von der Legislative geschaffen und dann von den Gerichten angewandt und ausgelegt werden,662 basiert ein ganz wesentlicher Teil des common law auf Fallrecht (case law). Dieses Fallrecht gründet auf einer Präjudizienbindung entlang der Gerichtshierarchien und der sogenannten stare decisis doctrine.663 Nach diesem Grundsatz müssen sich neue Entscheidungen stets an den vorausgehenden Entscheidungen orientieren.664 Demgegenüber soll das sogenannte statute law, also vom Gesetzgeber geschaffenes Recht, das case law lediglich ergänzen und anpassen und gilt daher als „Rechtsquelle zweiten Ranges“.665 Schon allein aufgrund dieser konzeptionellen Unterschiede666 im Hinblick auf die – untechnisch gesprochen – „Bindungswirkung“ beziehungsweise Strahlkraft von Urteilen über die Prozessparteien hinaus, differieren common law und civil law auch im Bereich der Rechtskraft erheblich.667 659 Zu diesem Problem, das im Hinblick auf die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft auch bei Anwendung der Wirkungserstreckungstheorie bereits zu Schwierigkeiten führt sowie einem Lösungsvorschlag, vgl. unten vierter Teil, A. IV. 660 Zur Entstehung des Begriffes vgl. v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 3 f. 661 Verstanden als das kontinentaleuropäische Recht. Vgl. v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 4. 662 So ja auch ein Argument gegen ein materielles Verständnis der Rechtskraft, vgl. hierzu oben erster Teil, B. III. 3. a) aa). 663 Stare decisis (lat.) = bei Entscheidungen (stehen) bleiben. 664 Vgl. v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 9 f. 665 So v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 9 und 11. 666 Stürner, FS Schütze (1999), 913, 933 weist auch darauf hin, dass in Großbritannien nur etwa „5 % der Rechtsstreitigkeiten durch volle Urteile erledigt werden.“ 667 So weist Stürner, FS Schütze (1999), 913, 920 darauf hin, dass „Wenn man sie [die
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1. Rechtskraftähnliche Institute im englischen Recht Die Ziele, welche die Rechtskraft nach kontinentaleuropäischem Verständnis erreichen soll, werden innerhalb des englischen Rechtskreises durch verschiedene, teilweise überlappende und terminologisch nicht einheitlich bezeichnete668 Institute verwirklicht. Zu unterscheiden sind insbesondere merger of the cause of action, res judicata estoppel (in den Formen des cause of action estoppel und des issue estoppel) sowie abuse of process. Funktional am ehesten mit kontinentalen Konzepten der Rechtskraftwirkung vergleichbar ist wohl das res judicata estoppel, welches sich in cause of action estoppel und issue estoppel aufgliedert.669 Das cause of action estoppel verhindert eine Entscheidung über denselben cause of action (entsprechend der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft)670, während das issue estoppel (entsprechend der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft)671 dazu zwingt, im Rahmen eines Verfahrens wegen eines anderen cause of action Entscheidungen über bestimmte issues zugrunde zu legen, indem es den Parteien jeglichen Vortrag verbietet, der auf eine andere Beurteilung des bereits entschiedenen issue abzielt.672 Vom cause of action estoppel abzugrenzen ist der merger of the cause of action. Letzterer meint den Untergang des Klagegrundes durch eine Entscheidung in der Sache. Im Falle einer erfolgreichen Klage geht der cause of action im Urteil auf und erlischt daher.673 Dieses Verständnis erklärt sich vor dem Hintergrund des Systems der sogenannten writs674, einem besonderen Klageverfahren, das wiederum an das Legisaktionenverfahren in der altrömischen Periode675 angelehnt ist.676 Der Untergang (merger) bewirkt rechtstechnisch, dass eine neue Klage, die auf demselben cause of action basiert, nicht mehr gelFrage nach dem Gegenstand der Rechtskraft] zur Vergleichbarkeit mit Deutschland trotzdem stellt, muß die Antwort den Versuch mitumfassen, das englische Recht zunächst aus sich heraus zu begreifen“; vgl. auch Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152, „The differentiation between contents of the final order and of the reasons as to res judicata is unknown in English law which makes no such formal distinction […]“. 668 Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.64: „These doctrines are neither sharply differentiated from each other nor clearly identified by a generally accepted terminology.“; ebenso Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 140; Otto, Rechtshängigkeitssperre, S. 228. 669 Dahingehend auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 140: „[…] im eigentlichen Sinne […]“. 670 So auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 156. 671 Ebenso Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 159. 672 Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 141. 673 Vgl. Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.04; Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.83; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 846; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 921. 674 Vgl. hierzu Peter, Actio und Writ, S. 13 ff.; v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 4 f. 675 Hierzu siehe oben erster Teil, A. I. 1. 676 Zum Vergleich von actio und writ, vgl. Peter, Actio und Writ, S. 13 ff. und 50 ff.; vgl. auch die Hinweise bei v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 3 ff.; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 846.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
tend gemacht werden kann; nicht jedoch, weil etwa ein estoppel wirkt, sondern schlicht, weil kein cause of action mehr besteht.677 Die Figur des merger betrifft infolgedessen auch nur solche Fälle, in denen die Klage erfolgreich war.678 Bei Abweisung der Klage kann (nur) das cause of action estoppel verhindern, dass die Klage erneut geltend gemacht wird.679 Sowohl merger als auch res judicata estoppel greifen in Konstellationen ein, in denen eine bestehende Entscheidung zu einem konkreten Punkt eine weitere oder abweichende Entscheidung verbietet. Die Doktrin des abuse of process wirkt demgegenüber dann, wenn über einen konkreten Anspruch oder ein konkretes issue in einem früheren Verfahren nicht entschieden worden ist, weil es von den Parteien nicht vorgebracht worden ist, obgleich es hätte vorgebracht werden können.680 Das spätere Vorbringen innerhalb eines weiteren Prozesses kann dann einen abuse of process darstellen und deshalb präkludiert sein.681
a) Abuse of process Die Figur des abuse of process fußt im englischen Verständnis von Prozessführung und Streitbeilegung durch Gericht und Parteien.682 Nach section 49(2) des Senior Courts Act 1981 sind die Gerichte verpflichtet, weitestgehende und vollumfängliche Streitbeilegung herzustellen, um auf diese Weise weitere Verfahren zu verhindern: The courts „[…] shall so exercise its jurisdiction in every cause or matter before it as to secure that, as far as possible, all matters in dispute between the parties are completely and finally determined, and all multiplicity of legal proceedings with respect to any of those matters is avoided.“
Für den Kläger wird die Pflicht, seinen gesamten case in einer action vorzubringen, aus einer general rule of public policy683 hergeleitet, die auf die Entscheidung Henderson v. Henderson684 aus dem Jahr 1843 zurückgeht: 677 Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.04: „A second action cannot be brought on that cause of action, not because there is an estoppel, but because there is no longer a cause of action“ und Rn. 7.02. 678 Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 141. 679 Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.06: „If the earlier action fails on the merits a cause of action estoppel will bar another.“; vgl. auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 846. 680 Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.101 ff.; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 141. 681 Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.101 ff.; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 150 ff. 682 Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 142; Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.101 f. 683 Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.102 unter Verweis auf De Crittenden v. Bayliss [2005] EWCA Civ. 1425. 684 Henderson v. Henderson [1843] 3 Hare 100.
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„[…] the Court requires the parties to that litigation to bring forward their whole case, and will not (except under special circumstances) permit the same parties to open the same subject of litigation in respect of matter which might have been brought forward as part of the subject in contest, but which was not brought forward, only because they have, from negligence, inadvertence, or even accident, omitted part of their case.“685
Das sogenannte Henderson v. Henderson principle ist durch die Gerichte zeitweise stark ausgedehnt worden.686 In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Rechtsprechung jedoch darum bemüht, der Extension des Henderson v. Henderson principle exaktere Konturen zu geben.687 Insbesondere die Interpretation durch Lord Kilbrandon in der Rechtssache Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd.688 verknüpfte das Henderson v. Henderson principle mit der Figur des abuse of process und erweiterte deren Anwendungsbereich gleichzeitig erheblich, indem aus der schlichten Möglichkeit des Vorbringens auf eine Pflicht zum Vorbringen geschlossen und infolgedessen (schon dann) missbräuchliches Verhalten angenommen wurde, wenn in einem späteren Verfahren matters vorgetragen wurden, die in einem früheren Verfahren bereits vorgetragen hätten werden können:689 „[…] there is a wider sense in which the doctrine may be appealed to, so that it becomes an abuse of process to raise in subsequent proceedings matters which could and therefore should have been litigated in earlier proceedings.“690
Lord Kilbrandon eliminierte insoweit das Erfordernis einer besonderen Bedeutung der (nicht vorgebrachten) Angelegenheit für das Erstverfahren691 und eines speziellen Zusammenhangs zwischen Erst- und Zweitverfahren.692 Auch wenn ein abuse of process in diesem Zusammenhang wohl nur subsidiär zum res judicata estoppel zur Anwendung kommen sollte,693 führte das von Lord Kilbrandon etablierte Verständnis der Henderson v. Henderson Doktrin zu einer deutlichen Ausweitung der Präklusion in späteren Verfahren und beeinflusste damit faktisch auch den Bereich der Rechtskraft. Denn obgleich die Figur des abuse of process kein originärer Teil des res judicata Konzeptes 685
Henderson v. Henderson [1843] 3 Hare 100 at 115. Kritisch hierzu etwa Watt, CJQ 2000 (19), 287. 687 Vgl. zu dieser Entwicklung auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 150 ff. 688 Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd. [1975] A. C. 581 (PC). 689 Kritisch Watt, CJQ 2000 (19), 287, 296: „[…] it is his apparent assumption that if a matter could have been litigated earlier it therefore should have been litigated earlier.“; vgl. hierzu auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 152. 690 Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd. [1975] A. C. 581, 590 (PC). 691 Erforderlich sollte das Vorbringen vielmehr immer schon dann sein, wenn „[…] reasonable diligence would have caused a matter to be earlier raised […]“, vgl. Yat Tung Investment Co. Ltd. v. Dao Heng Bank Ltd. [1975] A. C. 581, 590 (PC); vgl. hierzu auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 152. 692 Kritisch Watt, CJQ 2000 (19), 287, 297; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 152 f. 693 Handley, LQR 2011 (127), 83, 85, welcher u. a. auf die erhöhten Anforderungen für den Beweis eines abuse verweist; ebenso Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 150. 686
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
ist, verfolgt es funktional ähnliche Ziele.694 Spätere Entscheidungen rückten jedoch zu Recht von der extensiven Handhabung des abuse of process ab und entwickelten einschränkendere und konkretere Voraussetzungen, die eine klarere Abgrenzung von res judicata und abuse of process ermöglichen.695 Hier gilt insbesondere die Rechtssache Johnson v. Gore Wood & Co.696 als neue, die Interpretation von Lord Kilbrandon korrigierende, Leitentscheidung zum abuse of process.697 Lord Bingham setzt sich im Urteil eingehend mit der Entwicklung des Henderson v. Henderson principle und der Rechtsprechung zum abuse of process auseinander und verweist auf die gemeinsamen Ziele von res judicata estoppel und abuse of process.698 Das Urteil bestätigt insofern dann auch die grundsätzliche Möglichkeit, dass das Vorbringen eines claims oder einer defence innerhalb eines späteren Prozesses durchaus abusive und deshalb präkludiert sein könne.699 Entscheidend ist jedoch die im Folgenden gemachte Korrektur der Kilbrandon-Interpretation: „It is, however, wrong to hold that because a matter could have been raised in earlier proceedings it should have been, so as to render the raising of it in later proceedings necessarily abusive.“700 Lord Bingham distanziert sich also von der Idee, dass ein abuse schon immer dann vorliege, wenn im späteren Verfahren etwas vorgetragen wird, das bereits in einem früheren Verfahren hätte vorgetragen werden können701 und etabliert das Erfordernis einer umfassenden Abwägung im Einzelfall, die sowohl öffentliche als auch private Interessen berücksichtigt und insbesondere das Verhältnis des nicht Vorgetragenen zur Kernfrage des Erstprozesses berücksichtigt: 694 Vgl. auch Virgin Atlantic Airways Ltd. v. Zodiac Seats UK Ltd. [2014] AC 160, 185 per Lord Sumption: „Res judicata and abuse of process are juridically very different. Res judicata is a rule of substantive law, while abuse of process is a concept which informs the exercise of the court’s procedural powers. In my view, they are distinct although overlapping legal principles with the common underlying purpose of limiting abusive and duplicative litigation.“; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 141 verwendet den Begriff „Rechtskraftlehre im weiteren Sinne“. 695 Handley, LQR 2002 (118), 397, 403; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 155. 696 Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1. 697 Vgl. hierzu etwa Watt, CJQ 2001 (20), 90; Zuckerman, On Civil Procedure, Rn. 25.106; Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 154 ff. 698 Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1, 31 per Lord Bingham: „But Henderson v. Henderson abuse of process, as now understood, although separate and distinct from cause of action estoppel and issue estoppel, has much in common with them. The underlying public interest is the same: that there should be finality in litigation and that a party should not be twice vexed in the same matter.“ 699 Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1, 31 per Lord Bingham: „The bringing of a claim or the raising of a defence in later proceedings may, without more, amount to abuse if the court is satisfied (the onus being on the party alleging abuse) that the claim or defence should have been raised in the earlier proceedings if it was to be raised at all.“ 700 Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1, 31 per Lord Bingham. 701 Ebenso Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 155.
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„[…] what should in my opinion be a broad, merits-based judgment which takes account of the public and private interests involved and also takes account of all the facts of the case, focusing attention on the crucial question whether, in all the circumstances, a party is misusing or abusing the process of the court by seeking to raise before it the issue which could have been raised before.“702
Der spätere Vortrag müsse ein unjust harassment der beklagten Partei darstellen, um als abuse zu gelten.703 In späteren Urteilen sind diese Korrekturen unter Verweis auf die Entscheidung in Johnson v. Gore Wood & Co. anerkannt worden704 und so kann inzwischen zu Recht davon ausgegangen werden, dass der Figur des abuse of process (wieder) klarere Konturen verliehen wurden, die insbesondere die Abgrenzung und das Verhältnis zum eigentlichen res judicata Konzept in Form des res judicata estoppel deutlicher werden lassen.705
b) Res judicata estoppel In seiner ursprünglichen Form bestand das estoppel706 in der Behauptung einer der Prozessparteien, der jeweilige Gegner setze sich in seiner Argumentation in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten.707 Das konnte schließlich dazu führen, dass der Partei, der ein solches Verhalten nachgewiesen wurde (venire contra factum proprium), die Möglichkeit versagt wurde, die Richtigkeit dieses Verhaltens nachzuweisen.708 Auf Grundlage dieses Prinzips werden im englischen Recht auch die Ziele der Rechtskraft zu erreichen versucht:709 „A party is estopped, against any other party, from disputing the correctness of the decision, except on appeal, whether it is relied on as a bar to a claim or defence, or in an action on the judgment.“710 Ein estoppel im Bereich der res judicata besteht bei Vorliegen von sechs kumulativen Voraussetzungen:711 Zunächst muss es 702 703
Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1, 31 per Lord Bingham. Johnson v. Gore Wood & Co. [2002] 2 AC 1, 31 per Lord Bingham. 704 Vgl. etwa Heffernan v. Grangewood Securities Ltd. [2001] EWCA Civ. 1802, Rn. 23; Ganesmoorthy v. Ganesmoorthy [2002], EWCA Civ. 1748, Rn. 12; w. Nachw. bei Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 155 Fn. 118. 705 So auch Landbrecht, Teil-Sachentscheidungen, S. 155; Handley, LQR 2002 (118), 397, 403. 706 = Verhinderung, Hemmung. 707 So v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 160; vgl. hierzu auch Cohn, FS Nipperdey Bd. I (1965), 875, 876 ff. Die Anfänge dieses Systems liegen weit zurück und sind fest im Prozessrecht verankert vgl. zum sog. „pleading“, vgl. etwa Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 848; ähnlich Ritter, ZZP 1974, 138, 169 ff. 708 Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 844 ff.; v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 160. 709 Vgl. Andrews, Principles, Rn. 17–002. 710 So Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.03. 711 Vgl. hierzu Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.02; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
sich bei der Entscheidung um eine Gerichtsentscheidung handeln. Diese muss verkündet und von einem zuständigen Gericht getroffen worden sein. Bei der Entscheidung muss es sich überdies um eine endgültige Entscheidung in der Sache handeln und schließlich muss die Entscheidung eine Frage behandeln, die innerhalb der nachfolgenden Entscheidung zwischen denselben Parteien relevant ist. Estoppel im Bereich der res judicata gliedert sich in zwei Formen: cause of action estoppel und issue estoppel.712
aa) Cause of action estoppel „Cause of action estoppel arises where the cause of action in the later proceedings is identical to that in the earlier proceedings, the latter having been between the same parties or their privies and having involved the same subject matter. In such a case the bar is absolute in relation to all points decided unless fraud or collusion is alleged […].“713
Nach dieser Definition verhindert das cause of action estoppel die Anhängigmachung einer cause of action, die zwischen denselben Parteien schon in einem vorherigen Prozess anhängig war und denselben Streitgegenstand (subject matter) betrifft. Diese Sperre (bar) wirkt absolut und bezüglich aller entschiedenen Punkte, es sei denn es kann Betrug (fraud) oder Kollusion nachgewiesen werden. Schon an der fehlenden Übersetzung der entscheidenden Begriffe innerhalb der obigen Erläuterung lässt sich erkennen, dass gleichbedeutende Äquivalente im deutschen Recht nicht bestehen. Eine Übersetzung des Begriffes cause of action mit „Streitgegenstand“ darf nicht dazu verleiten, dasselbe inhaltliche Verständnis zugrunde zu legen.714 Während im deutschen Recht der Streitgegenstandsbegriff zweigliedrig, das heißt durch den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt und den Antrag des Klägers verstanden wird,715 geht das englische Verständnis von cause of action weiter: „A cause of action is simply a factual situation the existence of which entitles one person to obtain from the court a remedy against another person“.716 Es wird deutlich, dass gerade keine Begrenzung durch den Antrag vorgenommen wird.717 Eine passendere Übersetzung für cause of action ist daher wohl Anspruchsgrund.718
712 Vgl. Andrews, Principles, Rn. 17–002; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 1.05; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 920 f.; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152 f.; Cohn, FS Nipperdey Bd. I (1965), 875. 713 Arnold v. National Westminster Bank plc [1991] 2 A. C. 93, 104. 714 Hierauf weist auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 846 hin; ebenso Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 603 f. 715 Siehe hierzu oben zweiter Teil, B. III. 3. a). 716 Letang v. Cooper [1965] 1 Q. B. 232, 243 per Lord Diplock. 717 So auch Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 604. 718 So auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 846 und Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 604; vgl. zum französischen Begriff der cause oben zweiter Teil, B. III. 3. c) bb).
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Wie weitreichend das Konzept des cause of action estoppel ist, zeigt sich daran, dass auch solche Punkte erfasst werden, die nicht vorgetragen wurden, aber vorgetragen hätten werden müssen: „[…] where a given matter becomes the subject of litigation in, and of adjudication by, a Court of competent jurisdiction, the Court requires the parties to that litigation to bring forward their whole case, and will not (except under special circumstances) permit the same parties to open the same subject of litigation in respect of matter which might have been brought forward as part of the subject in contest, but which was not brought forward, only because they have, from negligence, inadvertence, or even accident, omitted part of their case. The plea of res judicata applies, except in special cases, not only to points upon which the Court was actually required by the parties to form an opinion and pronounce a judgment, but to every point which properly belonged to the subject of litigation, and which the parties, exercising reasonable diligence, might have brought forward at the time.“719
Demnach wird durch das cause of action estoppel – vergleichbar mit dem Zusammenwirken aus Streitgegenstandbegriff und negativer Rechtskraftwirkung im deutschen Recht – nicht nur dasjenige ausgeschlossen, was tatsächlich vom Gericht behandelt wurde, sondern ebenfalls all dasjenige, was gewissenhafte Parteien (parties exercising reasonable diligence) im Zeitpunkt der Verhandlung vorgetragen hätten.720 Dies bewirkt eine Prozesskonzentration dergestalt, dass beispielsweise in ein und demselben Verfahren grundsätzlich alle Schadensersatzansprüche aufgrund eines einheitlichen Lebenssachverhaltes gebündelt behandelt werden.721 „[…] damages resulting from one and the same cause of action must be assessed and recovered once for all.“722 Als Konsequenz ist es dem Geschädigten in der Regel auch verwehrt, eventuelle Nachforderungen zu stellen.723 Konkret wurde etwa das Vorliegen derselben cause of action (und deshalb die Unzulässigkeit der Nachforderungsklage) in einem Fall724 bejaht, in dem wegen eines Feuers an Bord eines Schiffes mehrere Munitionskisten beschädigt und einige davon (wegen der Schäden) über Bord geworfen wurden. In seiner (ersten) Klage verlangte der Kläger vertraglichen Schadensersatz wegen der über Bord geworfenen Kisten und obsiegte. Der nachfolgenden Klage, mit der sich der Kläger gegen die Beschädigung der übrigen Kisten wandte, stand nach Auffassung des Gerichts das cause of action estoppel entgegen, weil die maßgebliche vertragliche Pflichtverletzung der Ausbruch des Feuers und damit für beide Schadensposten dieselbe sei.725 Hieraus wird in der Literatur teil719
Henderson v. Henderson [1843] 3 Hare 100, 115. Andrews, Principles, Rn. 17–002; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 7.03. 721 Vgl. Andrews, Principles, Rn. 17–007; Bsp. bei Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 605; ähnl. Bsp. bei Stürner, FS Schütze (1999), 913, 922 f. 722 Brunsden v. Humphrey [1843] 14 Q. B. D. 141, 147. 723 So Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 605. 724 Republic of India v. India Steamship Co. Ltd. [1993] AC 410. 725 Republic of India v. India Steamship Co. Ltd. [1993] AC 410. 720 Vgl. auch
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weise ein Verbot der Teilklage im englischen Recht gefolgert.726 Präziser dürfte es jedoch sein, nicht von einem generellen Verbot von Teilklagen, sondern schlicht einem deutlich weiteren und mitunter auch flexibleren Verständnis von cause of action im Vergleich zum deutschen Verständnis des Streitgegenstandes auszugehen, das Teilklagen nicht grundsätzlich verbietet, aber praktisch vergleichsweise selten macht.727 Nichtsdestotrotz wird freilich nur dasjenige präkludiert, was im Zeitpunkt der Verhandlung überhaupt vorgetragen werden konnte: Nachträgliche Ereignisse bleiben unberührt.728 Abschließend sei an dieser Stelle noch an die Entwicklung innerhalb der französischen Rechtsprechung zur Definition von cause erinnert, die inzwischen einige Parallelen zum englischen Verständnis aufweist.729 Da es im Rahmen des cause of action estoppel ebenso wie bei der Frage nach einer identité de cause mehr darum geht, Zweitprozesse als Ganzes zu verhindern, bleibt die Frage, welche Erkenntnisse, die auf dem Weg zu einem Gerichtsurteil gemacht wurden, in einem nachfolgenden Verfahren zwischen denselben Parteien verwertet werden können beziehungsweise müssen. Diese Frage betrifft das Institut des issue estoppel.
bb) Issue estoppel Während es beim cause of action estoppel darum geht, eine weitere Entscheidung bezüglich desselben cause of action zu verhindern, geht es beim issue estoppel darum, bestimmte Aspekte innerhalb eines Verfahrens wegen eines anderen cause of action zu konservieren:730 „Issue estoppel may arise where a particular issue forming a necessary ingredient in a cause of action has been litigated and decided and in subsequent proceedings between the same parties involving a different cause of action to which the same issue is relevant one of the parties seeks to re-open that issue.“731
Der Begriff issue lässt sich mit Streitpunkt732 übersetzen und kann sich sowohl auf Tatsachen (determination of fact) als auch auf Rechtsfragen (determination 726 So etwa Otto, Rechtshängigkeitssperre, S. 225; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 922: „Es gilt praktisch das Verbot der Teilklage […]“; kritisch Trommler, Teilklage, S. 16 ff. 727 Dahingehend auch Trommler, Teilklage, S. 18 ff. 728 Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 7.03. 729 Siehe hierzu oben zweiter Teil, B. III. 3. c) bb). Auf die Ähnlichkeiten verweisen auch Bouty in Dalloz, Encyclopédie Juridique, Répertoire de Procédure Civile 2018, Chose jugée, n° 652; Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 153 ff.; Delicostopoulos/Delicostopoulos, Mélanges Guinchard (2010), 681, 685 ff. 730 Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 152 f. weist auf die Vergleichbarkeit mit der autorité positive de la chose jugée hin. 731 Arnold v. National Westminster Bank plc [1991] 2 A. C. 93, 105. 732 So auch Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 606 und Stürner, FS Schütze (1999), 913, 921.
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of law) beziehen.733 Nach dem Konzept des issue estoppel bleibt es den Parteien verwehrt, bestimmte vom Gericht mitentschiedene Streitpunkte innerhalb eines nachfolgenden Verfahrens zu bestreiten: „There are many causes of action which can only be established by proving that two or more different conditions are fulfilled. Such causes of action involve as many separate issues between the parties as there are conditions to be fulfilled by the plaintiff in order to establish his cause of action; and there may be cases where the fulfilment of an identical condition is a requirement common to two or more different causes of action. If in litigation upon one such cause of action any of such separate issues as to whether a particular condition has been fulfilled is determined by a court of competent jurisdiction, either upon evidence or upon admission […] neither party can, in subsequent litigation between one another upon any cause of action which depends upon the fulfilment of the identical condition, assert that the condition was fulfilled if the court has in the first litigation determined that it was not, or deny that it was fulfilled if the court in the first litigation determined that it was.“734
Damit ein Streitpunkt vom issue estoppel erfasst werden kann, muss es sich um ein issue handeln, das eine notwendige rechtliche Grundlage („necessarily established as the legal foundation“) für die Hauptentscheidung war.735 Nur diejenigen Präjudizialpunkte, die für den Subsumtionsschluss unabdingbar („legally indispensable to the conclusion“) sind, werden vom estoppel erfasst.736 Infolgedessen entsteht keine Bindungswirkung für solche Punkte, die lediglich nachrangig (subsidiary) oder beiläufig (collateral) entschieden wurden.737 Freilich ist die entscheidende Herausforderung nicht die Bezeichnung oder das Aufstellen solcher Prämissen. Vielmehr bestehen die Schwierigkeiten in der trennscharfen Unterscheidung zwischen dem, was fundamental und dem, was subsidiary ist. Hierzu finden sich in einem bedeutenden Standardwerk zur res judicata unter dem Punkt „Identifying the Fundamental“ folgende Ausführungen: „The difficulty […] ‚is to distinguish the matters fundamental or cardinal […] from matters which, even though actually raised and decided […] yet are not in point of law the essential foundation or groundwork of the judgment.‘ The question is whether the determination was so fundamental that the decision cannot stand without it. […] Whether
733 Vgl. Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.04; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 849 f.; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 921 f. 734 Thoday v. Thoday [1964] P 181 C. A. 198 per Lord Diplock. 735 Blair v. Curran [1939] 62 C. L. R. 464, 531; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.02. 736 Blair v. Curran [1939] 62 C. L. R. 464, 532; schon sprachlich wird an dieser Stelle die Nähe zum Begriff der motifs décisifs deutlich, vgl. zu diesem oben dritter Teil, B. III. 2. 737 Blair v. Curran [1939] 62 C. L. R. 464, 532; vgl. Auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 849, welcher „collateral“ mit „überschießend“ übersetzt; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.23.
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the determination is the ‚immediate foundation‘ of the decision or ‚no more than part of the reasoning supporting the conclusion‘.“738
Diese Äußerungen präzisieren die Voraussetzungen für das Eingreifen des issue estoppel zwar zum Teil. Auch sie lassen jedoch deutlichen Raum für Diskussionen.739 Zumal die Frage, ob die Entscheidung auch ohne das in Rede stehende issue ergehen hätte können, in einem auf case law basierenden System weitaus schwieriger zu beantworten sein dürfte, als bei Orientierung an gesetzlichen Anspruchsgrundlagen. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang auch die Feststellung, dass im anglo-amerikanischen wesentlich mehr Streitigkeiten über Rechtskraftfragen geführt werden, als im deutschen Recht.740 Eingeschränkt wird die Bindungswirkung auch dann, wenn ein Recht oder Anspruch aufgrund eines bestimmten Rechtsverhältnisses verneint wird. Hier wird nur derjenige Grund, mit welchem das Recht oder der Anspruch tatsächlich verneint wurde („only the actual ground upon which the existence of the right was negatived“), vom issue estoppel erfasst.741 Noch restriktiver wird im Fall von Versäumnisurteilen verfahren.742 Hier sei das issue estoppel – anders als das cause of action estoppel743 – deshalb ausgeschlossen, weil über die Streitpunkte naturgemäß nicht gestritten wurde.744 Die Voraussetzung, dass über dasjenige, was später präkludiert wird, tatsächlich gestritten wurde, scheint im englischen Recht jedoch weniger ausgeprägt zu sein als im amerikanischen.745 Vielmehr werden im englischen Recht auch solche Punkte erfasst, die gewissenhafte Parteien im Ausgangsverfahren vorgebracht hätten.746 Letztlich wurden die Grundsätze zum Verfahren innerhalb des cause of action estoppel747 auf das Institut des issue estoppel erstreckt748: „[I]f in any Court of competent jurisdiction a decision is reached, a party is estopped from questioning it in a new legal proceeding. But the principle also extends to any point, 738 So Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.24. 739 Dahingehend auch Spellenberg, FS Henckel (1995),
841, 847: „Anlaß zu Diskussionen gibt aber die Feststellung, ob eine Tatsache oder ein Recht im Vorprozeß (in der gebotenen Weise) ausgestritten und festgestellt worden ist.“ 740 So Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 621, der freilich auch darauf verweist, dass es „an genaueren empirischen Untersuchungen hierüber fehlt“. 741 Blair v. Curran [1939] 62 C. L. R. 464, 532; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.02, 8.26. 742 Vgl. dazu Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 851 f. 743 So Pinos, Osgoode Hall Law Journal 1988, Vol. 26.4, 713, 737. 744 So Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 851; vgl. auch Pinos, Osgoode Hall Law Journal 1988, Vol. 26.4, 713, 737 ff. 745 So Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 607. 746 Andrews, Principles, Rn. 17–002; Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.11; Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 607. 747 Siehe hierzu oben dritter Teil, C. III. 1. b) aa). 748 Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.11: „[…] extended the Henderson principle to issue estoppel.“
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
259
whether of assumption or admission, which was in substance the ratio of and fundamental to the decision.“749
Beispielsweise konnte sich ein Beklagter, der ein zweites Mal aus einem Mietvertrag in Anspruch genommen wurde, im zweiten Verfahren nicht mit dem Vorbringen verteidigen, der Vertrag sei nicht schriftlich geschlossen wurden, nachdem er im Ausgangsverfahren nur allgemein den Vertragsschluss bestritten hatte.750 Diese weitgehende Erstreckung findet ihre Grenzen in solchen Behauptungen, die dem Vorbringen der gegnerischen Partei widersprechen und, wären sie im Vorprozess eingebracht worden, den Gegner zum Gegenbeweis genötigt hätten.751 Ebensowenig greift das issue estoppel Platz, wenn der Beklagte nicht verpflichtet war, eine bestimmte Verteidigung vorzutragen oder das Vorbringen für ihn selbst nachteilig gewesen wäre.752 Auch später eintretende Umstände werden nicht erfasst.753 Ebenfalls interessant – an dieser Stelle jedoch nicht weiter zu erörtern – gestaltet sich die Erstreckung der Bindungswirkung auf Dritte.754
c) Zusammenfassung Das englische Prozessrecht sieht eine wesentlich weitere Bindung an präjudizielle Feststellungen als das deutsche, österreichische, italienische und, seit einiger Zeit, auch als das französische Recht vor. Dabei unterscheiden sich allerdings sowohl die Gesamtsysteme (common law und civil law) als auch die jeweiligen Institute zur Verwirklichung der Einmaligkeit von Gerichtsentscheidungen und der Ergebniskonservierung (res judicata estoppel und abuse of process einerseits sowie „kontinentale Rechtskraft“ andererseits) derart grundlegend, dass sich aus der weitreichenden Präjudizienbindung innerhalb des common law nur schwerlich Argumente dafür ableiten lassen, die Rechtskraft (nach kontinentaleuropäischem Verständnis) müsse sich auch auf Entscheidungsgründe erstrecken.755 749 750
Hoystead v. Commissioner of Taxation [1926] AC 155, 170. Humphries v. Humphries [1910] 2 K. B. 531; vgl. auch Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 607. 751 So Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 607, der anführt, dass „die Behauptung, der zur Begründung der Klage angeführte Vertrag sei durch eine zweite, inhaltlich abweichende Vereinbarung ersetzt worden“ in einem Folgeprozess noch geltend gemacht werden könne. 752 So Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.16: „Where there was no duty to raise an issue, or raising it attracted some disadvantage, an adverse decision does not cover it.“ 753 Vgl. Spencer Bower/Handley, Res Judicata, Rn. 8.17. 754 So können bestimmte Urteile (sog. judgments in rem) jedermann binden und auch bei anderen Urteilen ist die Begrenzung der Bindungswirkung auf die Prozessparteien nicht strikt, so Otto, Rechtshängigkeitssperre, S. 230 ff.; vgl. im Übrigen z. B. Andrews, Principles, Rn. 17– 006; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 851 ff. 755 Ähnlich auch Stürner, FS Schütze (1999), 913, 920; Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 861 f. wirft hingegen die Frage auf, ob ein „erheblicher funktionaler Unterschied“ besteht.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Auch im Hinblick auf eine Begriffsbestimmung für die EuGVVO756 verringern aktuelle politische Entwicklungen den Einfluss des common law auf die europäische Rechtssetzung erheblich. Rein praktisch könnte diese Entwicklung einen Konsens zwischen den „verbliebenen“ Mitgliedstaaten insofern etwas wahrscheinlicher machen.
2. Der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union – „Brexit“ Auf der Suche nach der Reichweite einer gesamteuropäischen Rechtskraftkonzeption wäre es eine schwierige Aufgabe geworden, zwischen konträren Grundpositionen des common law und des civil law eine konsensfähige Lösung zu erarbeiten. Durch den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union könnte die Identifizierung gemeinsamer Linien und damit das Auffinden eines Konsenses innerhalb der Frage nach der Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes jedoch erleichtert werden.
a) Politische Entwicklungen Nachdem der damalige Premierminister Cameron im Januar 2013 verkündet hatte, die Briten im Falle eines Sieges bei der Unterhauswahl im Jahr 2015 über den Verbleib des Landes innerhalb der Europäischen Union abstimmen zu lassen,757 stimmten bei dem am 23. Juni 2016 durchgeführten Referendum 51,9 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union.758 Am 29. März 2017 erfolgte die förmliche Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV und am 19. Juni 2017 wurden die Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreiches offiziell eröffnet. Im November 2018 billigten die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden Mitgliedstaaten ein erstes EU-Austrittsabkommen759, welches vom britischen Parlament im Januar 2019 jedoch abgelehnt wurde und auch nach weiteren Nachverhandlungen im März 2019 keine Zustimmung fand. Am 22. März 2019 gewährte die Europäische Union dem Vereinigten Königreich den ersten Aufschub des Brexit-Termins.760 Als das britische Parlament am 29. März 2019 zum dritten Mal gegen die ausgehandelten Aus756
Für das ELI/UNIDROIT Projekt gilt dies nur eingeschränkt. Vgl. hierzu z. B. das Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, abrufbar unter http://www.bpb.de/internationales/europa/brexit/. 758 Ergebnisse abrufbar unter https://www.electoralcommission.org.uk/find-informationby-subject/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/electo rate-and-count-information. 759 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 2019 C 66 I. 760 ABl. 2019 L 80 I. 757
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
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trittsbedingungen stimmte, gewährte die EU am 11. April 2019 einen zweiten Aufschub.761 Neuer Termin für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union war zu diesem Zeitpunkt der 31. Oktober 2019. Nachdem Theresa May im Juni 2019 als Parteichefin der Tories zurückgetreten war, wurde Boris Johnson als neuer Parteichef gewählt und zum neuen Premierminister Großbritanniens ernannt. Johnson gilt als Brexit-Hardliner und kündigte an, Großbritannien bis zum 31. Oktober 2019 aus der EU führen und hierfür notfalls auch einen sogenannten No-Deal-Brexit oder hard Brexit – also einen Austritt ohne geregeltes Abkommen – in Kauf nehmen zu wollen. Hiergegen beschloss das britische Unterhaus im September 2019 jedoch ein Gesetz, welches den Premierminister dazu verpflichtete, eine weitere Verschiebung des Austritts zu beantragen, sofern bis zum 31. Oktober 2019 kein Austrittsabkommen beschlossen worden sei. Am 17. Oktober 2019 wurde verkündet, dass es nun gelungen sei, sich auf ein neues Brexit-Abkommen762 zu einigen. Da das britische Parlament das neue Austrittsabkommen jedoch nicht rechtzeitig ratifizierte, beantragte Johnson eine weitere Verschiebung des Brexit-Termins auf den 31. Januar 2020. Dieser Antrag wurde am 29. Oktober 2019 von der Europäischen Union angenommen. Am 31. Januar 2020 endete die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches in der Europäischen Union. Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union wollen während eines Übergangszeitraums über ihre künftigen Beziehungen nach Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 verhandeln.763
b) Auswirkungen auf das europäische Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht Zum aktuellen Zeitpunkt sind die konkreten Auswirkungen des „Brexit“ auf das europäische Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht kaum zu prognostizieren. Während des Übergangszeitraums gilt das Unionsrecht im und für das Vereinigte Königreich zwar fort.764 Welche Regelungen jedoch nach dem Ende des Übergangszeitraums gelten werden, ist vom Ausgang der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen abhängig und daher bislang völlig offen. Genauso offen ist auch die Frage, was nach dem Ende des Übergangszeitraums gelten wird, sofern es nicht gelingt, sich bis zum 31. Dezember 2020 auf neue Regelungen zu einigen. 761 ABl. 2019 L 101. 762 Abkommen über den
Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 2019 C 384 I/01. 763 Art. 126 des Austrittsabkommens ABl. 2019 C 384 I/01; vgl. hierzu auch die Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, ABl. 2019 C 384 I/02. 764 Art. 127 des Austrittsabkommens ABl. 2019 C 384 I/01.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
aa) Fortgeltung des Unionsrechts während des Übergangszeitraums Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens bestimmt, dass das Unionsrecht – von einigen Sonderregelungen abgesehen – während des Übergangszeitraums für und im Vereinigten Königreich fortgilt. Art. 127 Abs. 3 des Austrittsabkommens präzisiert hierzu, dass das insoweit geltende Unionsrecht im Vereinigten Königreich „die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten“ entfaltet und „nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen ausgelegt und angewendet wird, die auch innerhalb der Union gelten“. Über den in Art. 126 des Austrittsabkommens vereinbarten Zeitraum hinaus werden gemäß Art. 67 Abs. 1 lit. a des Austrittsabkommens auch diejenigen Verfahren der EuGVVO unterfallen, die vor dem Ablauf der Übergangszeit eingeleitet wurden. Für diese Verfahren behält der EuGH nach Art. 86 des Austrittsabkommens seine Zuständigkeit und die im Rahmen dieser Verfahren ergangenen Entscheidungen bleiben gemäß Art. 89 Abs. 1 des Austrittsabkommens „in ihrer Gesamtheit für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich rechtsverbindlich“.
bb) Mögliche Szenarien nach Ende des Übergangszeitraums ohne weitere Vereinbarungen Infolge der vielen teilweise unerwarteten politischen Wendungen während des Austrittsprozesses ist bereits früh darüber nachgedacht worden, welche Folgen ein „Brexit“ ohne weitergehende Vereinbarungen für das Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht haben könnte.765 Da ein Austritt ohne weitere Vereinbarungen zum aktuellen Zeitpunkt immer noch möglich ist, sollen an dieser Stelle einige der früheren Überlegungen skizziert werden. Ob und inwieweit diese Szenarien jedoch tatsächlich relevant werden, kann aktuell nicht vorhergesagt werden. Mit dem Ende der Wirkungen des Unionsrechts innerhalb des Vereinigten Königreiches tritt für das Vereinigte Königreich auch die EuGVVO außer Kraft.766 Das Vereinigte Königreich gilt dann nicht mehr als Mitgliedstaat, sondern erlangt den Status eines Drittstaates.767 Da für die Anerkennung nach Art. 36 ff. EuGVVO schon tatbestandlich eine „in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung“ vorausgesetzt wird, kann die Anerkennung von Urteilen aus dem Vereinigten Königreich nicht mehr nach der EuGVVO erfolgen.768 Bislang ist allerdings offen, wie die durch den Wegfall der EuGVVO entstehende Lücke gefüllt werden würde.769 765 Ausführlich zu denkbaren Regelungen für das Zivil- und Handelsrecht etwa Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 80 ff. 766 Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 80; Dickinson, Reading the Tea Leaves?; vgl. hierzu auch Hess, IPRax 2016, 409, 411. 767 Christopoulos, Brexit und britische Zivilurteile. 768 So auch Hess, IPRax 2016, 409, 411. 769 So auch Dickinson, JPrL 2016, 195, 205, „far from clear cut“.
C. Überblick über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft
263
Teilweise ist davon ausgegangen worden, das EuGVÜ770 lebe wieder auf und regle fortan die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich.771 Hierfür wurde angeführt, dass das EuGVÜ ein völkerrechtlicher Vertrag sei und der mit dem „Brexit“ einhergehende Wegfall des Unionsrechts den Bestand dieses Vertrages grundsätzlich unberührt lasse.772 Die Beendigung des EuGVÜ richtet sich – mangels eigener Regelungen innerhalb des Übereinkommens773 – vielmehr nach den Regeln des Wiener Übereinkommens über die Verträge774.775 Das Wiener Übereinkommen ermöglicht nach seinem Art. 54 lit. b die jederzeitige Beendigung von Verträgen im Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien.776 Davon ausgehend wurde im „Brexit“ und dem damit gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV eintretenden Wirkungsende des Unionsrechts allerdings auch teilweise eine einvernehmliche Beendigung des EuGVÜ im Sinne des Art. 54 des Wiener Übereinkommens gesehen.777 Eine weitere Ansicht verwies auf Art. 62 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens778, wonach der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union möglicherweise eine „grundlegende Änderung“ der Umstände darstellen könne, die ausnahmsweise doch zur Beendigung des EuGVÜ berechtigen würde.779 Andere Szenarien, die ein Wiederaufleben des EuGVÜ ausschließen würden, sind etwa die Annahmen, Art. 68 EuGVVO a. F. habe das EuGVÜ dauerhaft ersetzt oder die Möglichkeit, zum EuGVÜ zurückzukehren, setze die Mitgliedschaft in der Europäischen Union voraus.780 770
Siehe hierzu oben zweiter Teil, B. I. 2. Lehmann/Zetzsche, JZ 2017, 62, 65; Ungerer in Brexit und die juristischen Folgen (2017), 297, 298 ff.; ähnlich, allerdings mit Bedenken Dickinson, JPrL 2016, 195, 204 ff.; a. A. Hess, IPRax 2016, 409, 413; dagegen auch Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 80 ff. 772 So Ungerer in Brexit und die juristischen Folgen (2017), 297, 299; a. A. Hess, IPRax 2016, 409, 413. 773 Darauf weist auch Ungerer in Brexit und die juristischen Folgen (2017), 297, 301 hin. 774 Wiener Übereinkommen über die Verträge vom 25.5.1969, ratifiziert durch die Bundesrepublik Deutschland am 3.8.1985, BGBl. 1985 II S. 926. 775 So auch Hess, IPRax 2016, 409, 413. 776 Art. 54 des Übereinkommens lautet: „Die Beendigung eines Vertrages oder der Rücktritt einer Vertragspartei vom Vertrag können erfolgen (a) nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen oder (b) jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien nach Konsultierung der anderen Vertragsstaaten.“ 777 So Hess, IPRax 2016, 409, 413; ebenso Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 82; a. A. Ungerer in Brexit und die juristischen Folgen (2017), 297, 301. 778 Art. 62 Abs. 1 des Übereinkommens lautet: „Eine grundlegende Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände, die von den Vertragsparteien nicht vorausgesehen wurde, kann nicht als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend gemacht werden, es sei denn (a) das Vorhandensein jener Umstände bildete eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien, durch den Vertrag gebunden zu sein, und (b) die Änderung der Umstände würde das Ausmaß der auf Grund des Vertrags noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten.“ 779 Darauf weist Dickinson, JPrL 2016, 195, 205 hin. 780 Auf beides weist Dickinson, JPrL 2016, 195, 204 f. hin. 771 So
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Auch die Geltung des Lugano-Übereinkommens von 2007781 nach dem „Brexit“ wurde verneint782 und ein erneuter Beitritt zwar für theoretisch möglich, aber unwahrscheinlich gehalten.783 Ebenfalls diskutiert wurden ein Beitritt zum Haager Gerichtsstandsübereinkommen von 2005784 oder der Abschluss eines Staatsvertrages zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union785 nach dem Vorbild Dänemarks. Es wurde jedoch angenommen, dass die Europäische Union den Abschluss eines solchen Vertrages mitunter davon abhängig machen würde, dass dem EuGH die Auslegungskompetenz des Vertrages eingeräumt würde.786 Da es eines der erklärten Ziele des „Brexits“ war, der Deutungshoheit des EuGH ein Ende zu bereiten,787 wurde jedoch auch diese Option als eher unrealistisch bewertet.788
c) Fazit – Bedeutungseinbußen des common law im Rahmen europäischer Gesetzgebung Als Fazit lässt sich an dieser Stelle zweierlei festhalten: Erstens, zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht vorhersehbar, welche konkreten Folgen der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union für das europäische Anerkennungs-und Vollstreckungsrecht haben wird. Deutlich sicherer lässt sich jedoch zweitens schon jetzt vorhersagen, dass der „Brexit“ den Einfluss des common law auf Harmonisierung und Fortbildung des europäischen Zivilrechtes trotz des Verbleibs weiterer common lawStaaten789 in der Europäischen Union erheblich reduzieren wird. Im Hinblick 781 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2009 L 147/5. 782 Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 84. 783 So Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 85 ff., 86, 87. 784 Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen von 2005, als Anhang abgedruckt in ABl. 2009 L 133/3 und von der EU im Anschluss an den Beschluss 2014/887/EU (ABl. 2014 L 353/5) im Jahr 2015 ratifiziert; vgl. zu dieser Möglichkeit Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 89 ff.; Dickinson, Reading the Tea Leaves?. 785 Dickinson, Reading the Tea Leaves?; Staudinger, jurisPR-IWR 5/2016 Anm. 1; Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 94 ff. 786 So auch im Abkommen mit Dänemark, vgl. Art. 6 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2005 L 299/62; dahingehend auch Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 96; House of Lords, European Union Committee, Brexit: justice for families, individuals and businesses?, S. 32, Box 13. 787 May, Lancaster House Speech, 17 January 2017: „[…] we will take back control of our laws and bring an end to the jurisdiction of the European Court of Justice in Britain. […] those laws will be interpreted by judges not in Luxembourg but in courts across this country.“ 788 Dahingehend auch House of Lords, European Union Committee, Brexit: justice for families, individuals and businesses?, S. 32, Box 13; Sonnentag, Konsequenzen des Brexits, S. 96. 789 Wie z. B. Irland, Malta und Zypern.
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
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auf die Erarbeitung gesamteuropäischer Linien und/oder neuer Unionsgesetze wird dem common law nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union keine echte (oder zumindest gewiss nicht mehr dieselbe) Verhandlungsposition mehr zukommen. Bislang führte der Umstand, dass Ansichten und Lösungen des common law im Rahmen europäischer Gesetzgebung und Fortbildung zwingend mitberücksichtigt werden mussten, aus rechtsvergleichender Sicht oftmals zu einer sehr heterogenen Ausgangslage. Hier ist zu erwarten, dass die Konsens- und Kompromissfindung auf europäischer Gesetzesebene durch den „Brexit“ etwas erleichtert werden wird.
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente Das deutsche, das französische und das österreichische Recht beschränken ihre Rechtskraft auf den Tenor und erstrecken sie nicht auf Urteilsgründe. Im italienischen Recht scheint dieser Grundsatz zwar ebenfalls zu existieren, gleichwohl ist unklar, inwieweit die Rechtsprechung hieran tatsächlich festhält. Das spanische Recht geht weiter und bejaht die Rechtskraft von Urteilsgründen unter bestimmten – soweit ersichtlich noch nicht einheitlichen – Voraussetzungen. Das englische Recht unterscheidet sich in seiner Grundkonzeption schon so stark von den übrigen Rechtsordnungen, dass dort nicht einmal dieselbe Frage relevant wird. Insofern ist mit Ausnahme von England nämlich in jeder der verglichenen Rechtsordnungen über die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft gestritten worden. Dabei gleichen sich die innerhalb der nationalen Diskussionen vorgebrachten Argumente in weiten Teilen erheblich. Dieser Befund legt nahe, dass weder die strikte Begrenzung der Rechtskraft auf den Tenor noch eine weitreichende Bejahung einer Rechtskraft von Gründen Lösungen ohne Folgeprobleme oder berechtigte Kritik darstellen.790 Gleichzeitig ermöglicht die Ähnlichkeit der maßgeblichen Argumente eine Synthese auf abstrakter, von den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen losgelöster Ebene.
I. Abstrakte Abwägung zwischen engem und weitem Rechtskraftbegriff anhand der entwickelten Argumente Die innerhalb des Rechtsvergleiches gesammelten Argumente zur Frage, ob die Rechtskraft in bestimmten (Ausnahme-)Konstellationen auch Urteilsgründe erfassen oder sich strikt auf den Tenor beschränken sollte, lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen. Weder die Prozessökonomie (1.) noch die Belange 790 Deutlich Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115: „Une conclusion sur le problème de l’autorité des motifs s’avère délicate, parce qu’aucune des solutions n’est parfaite.“
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
der Parteien im engeren Sinne (2.) geben jedoch ein eindeutiges Ergebnis vor (3.). Dies vor allem deshalb, weil sich die innerhalb dieser Aspekte herangezogenen Thesen kaum verallgemeinern oder verifizieren lassen. Die Gefahr der Fortschreibung unrichtiger Urteile (4.) und die Auswirkungen uneindeutiger Rechtskraftvoraussetzungen auf die Rechtssicherheit (5.) sprechen gegen eine Ausdehnung der Rechtskraft unter bestimmten (unklaren) materiellrechtlichen Voraussetzungen.
1. Prozessökonomie Die Rechtskraft innerhalb des ersten Prozesses weiter zu ziehen, verschlankt oder verhindert Folgeprozesse, weil eine erneute Überprüfung der rechtskräftig gewordenen Vorfragen im Rahmen der Folgeprozesse nicht mehr möglich ist. Diese weiterreichende Streitbereinigung könnte daher prozessökonomisch sinnvoll sein.791 Dies ist aber nur dann richtig, wenn die weiterreichende Rechtskraft den ersten Prozess nicht so weit aufbläht, dass zwar Folgeprozesse nicht mehr oder wesentlich schneller geführt werden, dafür aber schon im Rahmen des Erstprozesses so viel Zeit und Ressourcen in Anspruch genommen worden sind, dass insgesamt eine ganz ähnliche Bilanz entsteht.792 Richtig ist aber auch, dass das Gericht ohnehin gezwungen ist, alle entscheidungserheblichen Rechtsfragen zu klären. Zumindest im Hinblick auf Vorfragen, die das Gericht so oder so entscheiden muss, ist also fraglich, inwieweit allein der Umstand, dass diese später in Rechtskraft erwachsen sollen, tatsächlich zu einer Aufblähung des Erstprozesses führen wird.793 Hinzukommt, dass insbesondere mit erheblichem Beweisaufwand getroffene Vorfragenentscheidungen durch eine enge Begrenzung der Rechtskraft für Folgeprozesse „verloren“ gehen könnten. Während Sachverständigengutachten (zumindest nach deutschem Recht, § 411a ZPO) zwar erneut verwendet werden können, ist gerade im Hinblick auf Zeugenaussagen zu befürchten, dass eine weitere Befragung nach möglicherweise vielen Jahren nicht nur den Aufwand, sondern auch die Gefahr unrichtiger Urteile wegen falscher oder fehlender Erinnerung der Zeugin oder des Zeugen erhöht. In jedem Fall erleichtert die Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor jedoch die Identifikation des rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes wesentlich, während damit zu rechnen ist, dass die Ermittlung der rechtskräftigen Vorfragenentscheidungen gerade bei unklaren oder allein in Kasuistik bestehenden Voraussetzungen für eine weiterreichende Rechtskraft erneut Aufwand und Zeit 791
So etwa auch Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 67. Dahingehend auch Stein/Jonas/Althammer, ZPO Bd. 4, 23. Aufl., § 322, Rn. 68; kritisch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 50. 793 Kritisch zum Argument der Streitaufblähung auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 50. 792
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
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in Anspruch nehmen oder gar erneut Streit über die Rechtskräftigkeit verschiedener Vorfragen provozieren wird.794 Zugegeben werden muss jedoch für beide Seiten, dass sich die wenigsten prozessökonomischen Erwägungen innerhalb dieser Frage auf genaue Statistiken oder empirische Untersuchungen stützen können und daher letztlich eher Vermutung statt belastbarer Prognose sind.795 Es ist deshalb schwierig, anhand der Prozessökonomie eine eindeutige Entscheidung zwischen enger oder weiter Rechtskraft zu treffen. Einen Kompromiss stellt insofern die Kombination aus enger Rechtskraft und Zwischenfeststellungsklage dar. Sie scheint den beiden anderen Lösungen überlegen zu sein, weil auch sie einerseits zu einer Ergebniskonservierung aus Erstprozessen und damit zur Umfangsreduktion von Zweitprozessen führen kann und durch eine explizite Entscheidung über die Vorfrage Unklarheiten über den tatsächlichen Rechtskraftinhalt andererseits vorgebeugt wird. Zwar gibt auch das Institut der Zwischenfeststellungsklage den Parteien theoretisch die Möglichkeit, den Prozess durch zahlreiche Anträge auf Zwischenfeststellung aufzublähen. Es dürfte wohl aber dennoch einen Unterschied machen, ob die Parteien (lediglich) über diese Möglichkeit verfügen oder infolge der zu erwartenden generellen Rechtskraft von Vorfragen zu einer intensiveren Streitführung „gezwungen“ werden. Deutlich mehr Gewicht hat jedoch auch hier das Argument, dass die spätere Identifikation der rechtskräftig entschiedenen Vorfragen im Falle eines Zwischenfeststellungsurteiles über eine oder mehrere Vorfragen wesentlich weniger Probleme bereiten wird als im Rahmen einer generellen Erstreckung der Rechtskraft unter unklaren Voraussetzungen.
2. Belange der Parteien im engeren Sinne Vielerorts werden die Belange der Parteien als Argument oder Ausgangspunkt für die Bemessung der Rechtskraftreichweite genannt. Soweit damit das Rechtsempfinden oder die Gefahr überraschender Urteilsfolgen gemeint sind, begegnen diese Argumente denselben Schwierigkeiten oder Bedenken wie Prognosen zur Prozessökonomie: Was die Parteien an rechtskräftigen Feststellungen erwarten und wovon sie infolgedessen (nicht) überrascht sind oder ob sich die Parteien darüber überhaupt Gedanken machen, lässt sich kaum allgemein beoder festlegen. Beides wird wohl maßgeblich durch die anwaltliche Vertretung der Parteien beeinflusst und insofern auch von der tatsächlichen Rechtslage abhängig sein. Auch hier besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen der Eindeutigkeit des Rechtskraftumfangs und der Gefahr überraschender Urteilsfolgen. 794 Dahingehend auch Spellenberg, FS Henckel (1995), 841, 847; ebenso Zeuner, FS Zweigert (1981), 603, 621; Oberhammer, JBl. 2000, 205, 214 f. 795 Ebenfalls zur Schwierigkeit, prozessökonomische Erwägungen auf belastbare Datenbasen zu stützen, Bruns, ZZP 2011, 29, 31 ff.; allg. zur Prozessökonomie als Rechtsprinzip und Verfahrensgrundsatz der ZPO Hofmann, ZZP 2013, 83.
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Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Je klarer die Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtskraft beziehungsweise deren Umfang sind, desto eindeutiger kann auch eine Anwältin oder ein Anwalt die Umrisse der Rechtskraft prognostizieren und seine Mandantinnen und Mandanten beraten.
a) Gefahr überraschender Urteilsfolgen Schon bei Schaffung der ZPO ist befürchtet worden, durch eine weitreichende Rechtskraft könnten die Parteien in nachfolgenden Prozessen in negativer Weise überrascht werden. Die Beteiligten erwarteten lediglich eine (rechtskräftige) Entscheidung zur Hauptfrage und seien deshalb von der (rechtskräftigen) Feststellung von Vorfragen und deren Bindung in weiteren Prozessen möglicherweise überrascht.796 Die Gefahr, die Streitparteien durch eine Vorfragenbindung zu überraschen, könnte gegebenenfalls reduziert werden, indem die Rechtskraft der Vorfragenentscheidungen davon abhängig gemacht würde, dass die Parteien über die (dann in Rechtskraft erwachsende) Vorfrage tatsächlich gestritten haben.797 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die Parteien von der Bindung an eine im Erstverfahren entschiedene Vorfrage dann weniger überrascht sein könnten, wenn sie zuvor über sie gestritten hatten. Ob ein Tatbestandsmerkmal zwischen den Parteien streitig war oder nicht, lässt sich – zumindest einem deutschen Urteil – auch unschwer dem Tatbestand entnehmen. Dabei ist jedoch fraglich, ob das Kriterium der Streitigkeit wirklich verhindert, dass die Parteien von der Bindungswirkung des Erstprozesses überrascht werden. Denn, wenn nur diejenigen Vorfragenentscheidungen in Rechtskraft erwüchsen, die zwischen den Parteien streitig waren, hätte das die Folge, dass gerade diejenigen Vorfragen, über die sich die Parteien einig waren, nicht in Rechtskraft erwachsen würden. Mit anderen Worten: dort, wo unter den Parteien Einigkeit herrschte, bestünde keine Rechtskraft; dort wo die Parteien uneinig waren, träte eine Bindung ein. Innerhalb eines Folgeprozesses festzustellen, dass gerade das, was von allen Beteiligten gleich gesehen wurde, nicht in Rechtskraft erwächst, dürfte insofern ebenfalls „überraschend“ sein. Die verschiedenen Blickwinkel unter denen sich der Aspekt der „Überraschung“ diskutieren lässt, zeigt schon, wie schwierig es ist, hieraus eindeutige Ergebnisse abzuleiten.798 Es kann kaum gesagt werden, ob eine Rechtskraft von Vorfragen per se überraschender ist als deren Verneinung. Es ist insofern auch kaum möglich, das Maß an Überraschung eines Rechtslaien im einen oder 796 So Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 2, S. 627 ff.; dem folgend auch die Materialien zur ZPO, vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 291. 797 So etwa innerhalb der ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure vgl. oben zweiter Teil, A. I.; Ähnliches wird auch im spanischen Recht diskutiert, vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 330 ff. 798 Ähnlich auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 51.
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
269
anderen Fall zu messen oder einheitlich zu beurteilen. Insbesondere wenn die Parteien anwaltlich beraten werden, ist ohnehin davon auszugehen, dass die Anwältin oder der Anwalt auch Auskunft darüber geben (können) wird, ob und gegebenenfalls welche Vorfragenentscheidungen eigenständig in Rechtskraft erwachsen oder nicht. Festgehalten werden kann jedoch, dass die Gefahr überraschender Urteilswirkungen dann sinkt, wenn die Voraussetzungen für eine Bindung durch Rechtskraft klar und eindeutig formuliert sind und deshalb eine präzise Prognose über deren Umfang erlaubt. Daher bietet sich auch unter diesem Aspekt die Kombination aus enger Rechtskraft und Zwischenfeststellungsklage an, weil sie den Parteien die Möglichkeit bietet, Vorfragenentscheidungen der Rechtskraft zuzuführen ohne dabei Unklarheiten über den rechtskräftigen Entscheidungsinhalt zu provozieren.
b) Rechtsempfinden – Bedürfnis nach Entscheidungskontinuität? Die Idee, die Rechtskraft nicht allein auf den Tenor zu beschränken, sondern auf (bestimmte) Urteilsgründe zu erstrecken, erscheint auf den ersten Blick in zahlreichen Beispielfällen logisch, plausibel und organisch.799 Warum auch sollte etwa die notwendige Vorfragenentscheidung, dass der zwischen den Parteien geschlossene Kaufvertrag wirksam ist, ein nachfolgendes Gericht innerhalb eines Streites zwischen denselben Parteien, in dem diese Frage erneut auftaucht, nicht binden? Auf diese Weise wäre immerhin sichergestellt, dass später entscheidende Gerichte ebenfalls von der Wirksamkeit des Kaufvertrages ausgehen müssten und sich Erst- und Zweitentscheidung nicht widersprechen könnten. Die so erreichte inhaltliche Entscheidungskontinuität könnte dem Rechtsempfinden der Streitparteien entsprechen, während die unterschiedliche – und deshalb widersprüchliche – Beantwortung derselben Vorfragen das Rechtsempfinden beeinträchtigen würde. Zugestimmt werden kann dem jedoch nur im Hinblick auf eine inhaltlich richtige Vorfragenentscheidung des Erstgerichtes. Im Falle einer unrichtigen Erstentscheidung erscheint es fraglich, ob zwei zwar einheitliche, dafür aber falsche Entscheidungen dem Rechtsempfinden eher entsprechen, als zwei einander widersprechende Entscheidungen, von denen aber zumindest eine inhaltlich richtig ist.800 Es ist insofern ein nur eingeschränkt belastbares Argument, die Rechtskraftgrenzen deshalb weit zu ziehen, weil dies möglicherweise 799 Vgl. z. B. Oberhammer, FS Kollhosser (2004), 501, 501 f.: „Bei der materiellen Rechtskraft ist es ja nicht selten so, dass der unkundige Reflex weite objektive Grenzen nahe liegend erscheinen lässt […].“; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 477 und 488: „suggestive Strahlkraft“. 800 In diese Richtung auch Walker, ZZP 1998, 429, 451 f.; zur Fortschreibung unrichtiger Urteile sogl. ausführlicher unten dritter Teil, D. I. 4.
270
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
einem ohnehin kaum feststell- oder belegbaren generellen Rechtsempfinden besser entsprechen könnte. Hinzukommt, dass nachfolgende Gerichte, die dieselben Vorfragen zu beantworten haben wie ein vorangehendes Erstgericht, von der Entscheidung des Erstgerichtes nicht ohne (berechtigenden) Grund abweichen und so in der Regel zum selben Ergebnis kommen werden.801 Die Möglichkeit des nachfolgenden Gerichtes, wegen fehlender Rechtskraft die Wirksamkeit des Kaufvertrages anders zu beurteilen, wird also in vielen Situationen schlicht unausgeübt bleiben. In den verbleibenden Fällen (in denen das nachfolgende Gericht aus gutem Grund von der Erstentscheidung abweicht) stellt sich die Frage, ob enge Rechtskraftgrenzen dem Rechtsempfinden hier nicht sogar eher entsprechen, weil sie einer Fortschreibung unrichtiger Urteile entgegenwirken können.
3. Zwischenergebnis Weder das „Rechtsempfinden“ noch die „Gefahr überraschender Urteilsfolgen“ liefern eindeutige und durchgreifende Argumente für oder gegen die Rechtskraft von Entscheidungsgründen.802 Viele der dargestellten Argumente basieren auf Annahmen, die kaum verifizierbar sind. Unter dem Aspekt der Prozessökonomie kann die Erstreckung der Rechtskraft auf Vorfragen dann sinnvoll sein, wenn die Voraussetzungen, unter denen letztere eintritt, so klar und deutlich sind, dass die Ermittlung der rechtskräftigen Urteilsbestandteile ohne größeren Aufwand oder gar weiteren Streit möglich ist. Sind ebendiese Voraussetzungen jedoch unklar und nicht so abschließend geklärt, dass sich mit ihnen die Reichweite der Rechtskraft verlässlich vorhersagen ließe, beeinträchtigt dies die Rechtssicherheit in erheblichem Maße.
4. Fortschreibung unrichtiger Urteile Zutreffenderweise wird gegen eine Rechtskraft von Entscheidungsgründen die Gefahr der Fortschreibung rechtskräftiger, materiellrechtlich803 unrichtiger Urteile ins Feld geführt.804 Damit ist gemeint, dass eine Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen nachfolgende Gerichte, die dieselbe Vorfrage zu beantwor801
Dahingehend auch Lüke, ZPR, 10. Aufl., Rn. 364. Oberhammer, JBl. 2000, 205, 215: „[…] handelt es sich bei der isolierten Aussage, ‚tragende Entscheidungsgründe‘ sollten der Rechtskraft fähig sein, letztlich um Gefühlsjurisprudenz.“; dahingehend auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 59. 803 Nicht gemeint sind insofern die sog. offenbaren Unrichtigkeiten (i. S. d. § 319 ZPO) wie Schreib- oder Rechenfehler, die (zumindest nach deutschem Recht) vom Gericht jederzeit und von Amts wegen berichtigt werden können. Vgl. hierzu etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, 18. Aufl., § 61, Rn. 6 ff.; MüKo/Musielak, ZPO, 6. Aufl., § 319, Rn. 1 ff. 804 So etwa Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 58 f.; dahingehend auch NunnerKrautgasser, ÖJZ 2009, 793, 799. 802 Pointiert,
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
271
ten hätten, auch an eine inhaltlich falsche Beurteilung des Erstgerichtes binden würde.805 Ginge etwa ein erstes Gericht fälschlicherweise davon aus, der in Rede stehende Kaufvertrag zwischen den Streitparteien sei wirksam, wäre – bei einer eigenen Rechtskraft von Urteilsgründen – jedes nachfolgende Gericht an diese falsche Vorfragenentscheidung gebunden und müsste sie trotz ihrer Unrichtigkeit jeder nachfolgenden Entscheidung, in der sie erneut relevant wird, zugrunde legen. Weil die Rechtskraft unabhängig von der materiellrechtlichen Richtigkeit der Entscheidung eintritt und bindet, führt eine falsche Erstentscheidung zwangsläufig zu weiteren ebenfalls falschen Folgeentscheidungen. Insofern würde zwar das mit einer Rechtskraft von Vorfragen verfolgte Ziel von materieller Entscheidungsharmonie erreicht. Diese würde sich hier jedoch gerade nicht wie erhofft auswirken: Statt einer falschen Entscheidung und einer zwar widersprüchlichen, aber inhaltlich korrekten Folgeentscheidung, führt die Rechtskraft von Vorfragen hier zu zwei – zwar kongruenten, aber – inhaltlich falschen Entscheidungen. Enge Rechtskraftgrenzen führen demgegenüber zu mehr Spielraum der nachfolgenden Gerichte, weil diese hier über die Vorfrage erneut entscheiden dürfen und müssen. Im Beispielfall wäre das Zweitgericht also in der Lage, von der unrichtigen Erstentscheidung abzuweichen und von der Unwirksamkeit des Kaufvertrages auszugehen. Das führt zwar nicht zu einer Korrektur der falschen Entscheidung, insgesamt aber zu einer deutlich besseren Bilanz richtiger Entscheidungen. Dieses Argument lässt sich wohl auch nicht durch die Annahme entkräften, die theoretische Wahrscheinlichkeit, mit der Erst- und Zweitgericht zu richtigen beziehungsweise falschen Ergebnissen kommen, sei grundsätzlich dieselbe und es deshalb ebenso wahrscheinlich, dass auch die (korrigierende) Entscheidung des Zweitgerichtes falsch sei. Denn die Rechtskraft von Entscheidungsgründen konzentriert die Vorfragenentscheidung bei nur einem Gericht, während deren Verneinung zu zwei (möglicherweise gleichlautenden) Entscheidungen von zwei Gerichten führt, von denen das zweite in aller Regel die Akten und das Dafürhalten des Erstgerichtes kennen und würdigen wird. Die Gefahr einer Fortschreibung unrichtiger Urteile spricht daher gegen die generelle Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf Vorfragen.806 (Nur) die Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor ermöglicht nachfolgenden Gerichten im Falle einer unrichtigen Vorfragenbeurteilung im Erstverfahren eine richtige Zweitentscheidung.
805
Zu den hohen Anforderungen an die Wiederaufnahme des Verfahrens vgl. bereits oben erster Teil, B. II. 1.; zu weiteren Durchbrechungen der Rechtskraft vgl. auch MüKo/Gottwald, ZPO, 6. Aufl., § 322, Rn. 208 ff. 806 Ebenso Otte, Umfassende Streitentscheidung, S. 59.
272
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
5. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit In allen untersuchten Rechtsordnungen soll die materielle Rechtskraft zuvorderst der Rechtssicherheit807 dienen. Rechtssicherheit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips meint (unter anderem)808 einen Zustand, in dem staatliches Handeln so klar, bestimmt und beständig ist, dass der Bürger das Handeln des Staates verstehen und vorhersehen kann.809 Rechtsklarheit und Rechtsbestimmtheit sollen dem Bürger ermöglichen, sich ein Bild von der Rechtslage zu verschaffen und sein Verhalten danach auszurichten.810 Rechtssicherheit kann mit materieller Gerechtigkeit in Konflikt stehen.811 Dies wird gerade im Bereich der materiellen Rechtskraft augenscheinlich: Wenn ein unrichtiges Urteil in Rechtskraft erwächst, dient dies zwar der Rechtssicherheit, weil es Endgültigkeit und Beständigkeit schafft, es ist aber materiell nicht gerecht. Wenn ein und derselbe Kaufvertrag in einem Verfahren als wirksam und in einem anderen als unwirksam angesehen wird, dann ist das materiell auch nicht gerecht, denn eine der beiden Entscheidungen muss falsch sein. Viele der Argumente für eine Rechtskraft von (zumindest bestimmten) Urteilsgründen fußen deshalb auch auf der Forderung nach materieller (Einzelfall-)Gerechtigkeit.812 Es ist insofern auch nicht so, dass per se etwas dagegen sprechen würde, in diesem oft bemühten Beispiel eine rechtskräftige Feststellung der Wirksamkeit des Kaufvertrages anzunehmen. Überhaupt wurde während der Bearbeitung mehrfach deutlich, dass die Rechtskraft von Entscheidungsgründen nicht deshalb abzulehnen ist, weil sich mit ihr grundsätzlich keine überzeugenden Ergebnisse finden ließen. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Vorschlägen zur Erweiterung der Rechtskraft im deutschen Recht,813 die bestehenden Schwierigkeiten im spanischen Recht814 und die Beweggründe für die Entwicklungen im französischen Recht815 belegen, dass es vielmehr das Finden der Ergebnisse im Sinne der Entwicklung von über kasuistische Erwägungen 807 Zu den Ausformungen dieses Prinzips in verschiedenen europäischen Rechtsordnungen, vgl. v. Arnauld, Rechtssicherheit, S. 543 ff. 808 Ausführlich zum Begriff und der Schwierigkeit einer umfassenden Definition vgl. v. Arnauld, Rechtssicherheit, S. 101 ff. et passim. 809 Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, 87. EL, Art. 20, VII. Rn. 50; vgl. auch v. Arnauld, Rechtssicherheit, S. 101 ff. 810 Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, 87. EL, Art. 20, VII. Rn. 53, 58; Hömig/Wolff/Antoni, GG, 12. Aufl., Art. 20, Rn. 12. 811 Vgl. etwa Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, BVerfGG, 56. EL, § 79, Rn. 2; BeckOK BVerfGG/Karpenstein, 7. Ed., § 79, Rn. 4. 812 Dahingehend auch die Vorschläge Zeuners zur Wahrung „materiellrechtlicher Sinnzusammenhänge“, vgl. oben dritter Teil, A. II. 1.; augenscheinlich auch die Differenzierung zwischen „critère formel“ und „critère substantiel“ in der französischen Literatur, vgl. Douchy-Oudot in JurisClasseur, Procédure civile, Fasc. 554, 2015, n° 115. 813 Oben dritter Teil, A. II. 3. 814 Oben dritter Teil, C. II. 2. 815 Oben dritter Teil, B. III. 4.
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
273
hinausgehenden Kriterien ist, das (bislang unüberwindbare) Schwierigkeiten bereitet.816 Damit steht die Frage nach einer Rechtskraft von Urteilsgründen im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit einerseits und materieller Einzelfallgerechtigkeit andererseits. Das Vorhaben, de lege lata bestimmte Urteilsgründe mit Rechtskraft auszustatten, bringt zwangsläufig das Erfordernis mit sich, Kriterien zu entwickeln, anhand derer sich diejenigen Gründe, die mit Rechtskraft ausgestattet werden sollen, identifizieren lassen.817 Die obigen Beobachtungen zeigen jedoch, dass dies bislang in keiner der verglichenen Rechtsordnungen gelungen ist.818 Selbst wenn man in allen bisher entwickelten Fallgruppen eine Rechtskraft von Entscheidungsgründen bejahen wollte, fehlte damit immer noch ein Katalog allgemeingültiger Kriterien, der eine verlässliche Behandlung jeglicher weiterer Fälle gewährleisten könnte.819 Im deutschen und österreichischen Recht sind insbesondere die Thesen Zeuners viel diskutiert und von der Rechtsprechung teilweise sogar „erprobt“ worden.820 In keiner der beiden Rechtsordnungen hat sich diese Idee jedoch etabliert und so begrenzen heute sowohl Deutschland als auch Österreich ihre Rechtskraft (wieder) konsequent auf den Tenor der Entscheidung. Nachdem in Frankreich lange Zeit – auch gegen den Wortlaut des Gesetzes – die Rechtskraft von motifs décisifs und motifs décisoires bejaht worden ist, beschränkt die höchstrichterliche Rechtsprechung und mit ihr große Teile der Literatur die Rechtskraft von Zivilurteilen heute ebenfalls strikt auf den Tenor der Entscheidung. In allen drei Rechtsordnungen war diese Entscheidung maßgeblich von Erwägungen zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit getragen. Das spanische Recht, das insoweit einen anderen Weg geht, kann als aktuelles Beispiel dienen, welche Schwierigkeiten die Entwicklung belastbarer Kriterien zur Unterscheidung von rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Vorfragenentscheidungen mit sich bringt. So ist es keinesfalls die Idee einer Rechtskraft von Urteilsgründen an sich, sondern vielmehr die Konsequenzen ihrer Umsetzung, die abzulehnen sind. Das Ausmaß an Unklarheiten, das man sich einhandelt, wenn man – im Streben nach Einzelfallgerechtigkeit – bestimmte Urteilsgründe mit Rechtskraftwirkung ausstatten möchte, beeinträchtigt die Rechtssicherheit.821 Gerichten und 816 Ebenso
Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f. Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f. 818 Ebenso Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f.: „Es erscheint daher jedenfalls notwendig, jene Fälle, in denen – ausnahmsweise – von einer Bindung an Entscheidungsgründe ausgegangen würde, entsprechend abzugrenzen. Gerade das hat jedoch mE bis dato noch niemand in befriedigender Weise zu Wege gebracht […].“ 819 Zur Auseinandersetzung mit den verschiedenenVorschlägen vgl. oben dritter Teil. 820 Vgl. hierzu oben dritter Teil, A. II. 2. (Reaktionen auf Zeuners Vorschläge innerhalb der deutschen Literatur) und oben dritter Teil, C. I. 3. b) bb) (zur Rechtsprechung des OGH). 821 Dahingehend auch Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934: „Die romanisch orientierten Prozeßordnungen versuchen sich in einem Mittelweg und kämpfen mit mannigfachen Abgren817 Ebenso
274
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
Bürgern würde es erschwert, den rechtskräftigen Umfang des Urteiles zu ermitteln und infolgedessen ihr Verhalten an der Rechtslage ausrichten zu können. Die dargestellten Risiken für Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gewinnen gegenüber dem Ziel der Einzelfallgerechtigkeit durch zwei Erwägungen an zusätzlichem Gewicht: Erstens scheint nur auf den ersten Blick eine Entscheidung zwischen Rechtssicherheit einerseits und materieller Gerechtigkeit andererseits erforderlich. Denn eine Entscheidung gegen eine Rechtskraft von Urteilsgründen führt zunächst einmal nur zu der Möglichkeit materieller Ungerechtigkeit im Sinne einer „Vorfragenentscheidungsinkongruenz“. Mehrfach wurde bereits dargelegt, dass allein die Möglichkeit des nachfolgenden Gerichtes, von der Vorfragentscheidung des Ursprungsgerichtes abzuweichen, nicht zwangsläufig zu einer (materiell ungerechten) anderslautenden Vorfragenentscheidung führt. Vielmehr kann ebendiese Möglichkeit des Zweitgerichtes sogar zu einem Mehr an materieller Gerechtigkeit führen, weil sie nämlich auch ermöglicht, von einer falschen (und daher materiell ungerechten) Erstentscheidung abzuweichen. Richtigerweise erfolgt die Entscheidung daher nicht zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, sondern vielmehr zwischen Rechtssicherheit und der Möglichkeit oder Gefahr von materieller Ungerechtigkeit. Zweitens kann der Gefahr materieller Ungerechtigkeit durch das Institut der Zwischenfeststellungsklage wirksam vorgebeugt werden: Die Möglichkeit der Parteien, im Wege einer Zwischenfeststellungsklage Vorfragenentscheidungen zu konservieren und sie damit von einer erneuten (möglicherweise anderslautenden) Beurteilung nachfolgender Gerichte auszunehmen, befriedigt das Bedürfnis nach materieller Einzelfallgerechtigkeit und Entscheidungskontinuität. Sie ist in Kombination mit der grundsätzlichen Beschränkung auf den Tenor daher der zu bevorzugende Mittelweg für die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft.
II. Ergebnis Die formale Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor unter Ausschluss der Urteilsgründe ist den Ansätzen, eine Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen von bestimmten (materiellen) Kriterien abhängig zu machen, überlegen, weil sie mehr Rechtssicherheit bietet. Sie entspricht der Aufgabe der materiellen Rechtskraft, klare und eindeutige Verhältnisse zu schaffen, besser. Dort, wo im Grundsatz nur der Tenor in Rechtskraft erwachsen soll – und das ist in der Mehrheit der verglichenen Rechtsordnungen de lege lata der Fall –, stellt die Rechtskraft von bestimmten Urteilsgründen eine Ausnahme dar. Die Natur der Ausnahme – und mit ihr der Wille des Gesetzgebers – würde unterlauzungsschwierigkeiten. [Während] […] [der] Versuch zur Ausgewogenheit die Rechtsklarheit weithin opfert.“; ebenso Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f.
D. Ergebnisse des Vergleichs – Synthese und extrahierte Argumente
275
fen, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen der geprüften Norm in Rechtskraft erwüchsen. Nicht zuletzt deshalb beschäftigen sich wie gezeigt822 die allermeisten der Vorschläge zur Erweiterung der Rechtskraft de lege lata mit der Frage, im Rahmen welcher Sonderkonstellationen ausnahmsweise doch von einer rechtskräftigen Feststellung bestimmter Vorfragen ausgegangen werden kann. Die Beantwortung der hierbei aufgeworfenen Fragen (nach den Sonderkonstellationen an sich und den hieraus abzuleitenden abstrakten Kriterien für andere Fälle) ist bislang weder einheitlich noch überzeugend gelungen. Die Vorteile einer Konzeption, die unter gewissen materiellrechtlich orientierten Voraussetzungen eine Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen bejaht, überwiegen deshalb nicht die Nachteile, die durch die fehlende Konturierung und Eindeutigkeit dieser Voraussetzungen entstehen.823 Die Zwischenfeststellungsklage stellt eine wirksame Möglichkeit dar, die mit der konsequenten Begrenzung der Rechtskraft einhergehende Gefahr von Entscheidungsdisharmonie zu reduzieren, während sie die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit insofern nicht beeinträchtigt, als der Rechtskraftumfang eines Zwischenfeststellungsurteiles – bei einer Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor – unschwer und eindeutig zu bestimmen ist. Die Beobachtungen aus dem französischen Recht zur bestehenden Praxis, bestimmte Vorfragenentscheidungen auf Hinwirken der Parteien in den Tenor aufzunehmen und dadurch der Rechtskraft zuzuführen, verdeutlichen diesen Befund. Empfehlenswert wäre jedoch eine gesetzliche Regelung, die dieses Verfahren unter konkrete Voraussetzungen stellt und damit sowohl den Parteien als auch den Gerichten die erforderliche Klarheit verschafft. Doch auch dort, wo das Institut der Zwischenfeststellungsklage nicht vorgesehen ist, ist die (konsequente) Begrenzung der Rechtskraft auf den Tenor letztlich die zu bevorzugende Lösung. Sie ist diejenige der dann verbleibenden Lösungen, die mehr824 Rechtssicherheit bietet und deshalb der Bedeutung und den Zielen der materiellen Rechtskraft besser gerecht wird.825 Es ist insofern auch nicht die Kapitulation vor der Aufgabe, geeignete Kriterien zur Identifizierung rechtskräftiger Vorfragenentscheidungen zu entwickeln, die dieses Ergebnis trägt. Sondern vielmehr das Substrat der Erfahrungen aus den verglichenen Rechtsordnungen und die Abwägung der extrahierten Argumente, die zeigen, dass eine enge Begrenzung der Rechtskraft auf den Tenor
III.
822
Vgl. zum dt. Recht oben dritter Teil, A. II. und zum frz. Recht oben dritter Teil, B. I. und
823 Dahingehend auch Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 489: „[…] der Boden der Rechtssicherheit wird in bedenklicher Weise verlassen, wenn man die objektiven Grenzen der Bindungswirkung nach der Methode der Einzelfallgerechtigkeit ermitteln will.“ 824 Dass auch eine enge Rechtskraft keine absolute Sicherheit im Hinblick auf deren Umfang bietet, sei der Vollständigkeit halber an dieser Stelle noch einmal erwähnt. 825 Deutlich auch Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f.
276
Dritter Teil: Rechtsvergleichende Untersuchung
unter Ausschluss von Entscheidungsgründen (sofern möglich826 in Kombination mit einer Zwischenfeststellungsklage) die bessere, weil sicherere und dennoch flexible, Lösung darstellt. Dieses Ergebnis wird sich gerade im Hinblick auf die Anerkennung von Urteilen nach der EuGVVO bestätigen.
826 Dies
gilt freilich nur für Überlegungen zur Rechtskraft in (nationalen oder europäischen) Gesamtsystemen und nicht für Überlegungen zu einem einheitlichen Rechtskraftbegriff bei der Anerkennung nach den Regeln der (bislang) lediglich als Teilverfahrensrecht ausgestalteten EuGVVO.
Vierter Teil
Existenz, Erforderlichkeit und Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes – Übertragung der Ergebnisse des Rechtsvergleiches auf die europäische Ebene Wenngleich sich die generellen Argumente in der Sache ähneln werden, ist es für eine konkrete Antwort auf die Frage nach der Reichweite einer europäischen Rechtskraft unabdingbar, ihren jeweiligen Anwendungsbereich zu berücksichtigen und deshalb die Reichweite einer unionsautonomen Rechtskraft für die EuGVVO einerseits und für in sich geschlossene, europäische Gesamtsysteme andererseits getrennt zu untersuchen.
A. EuGVVO Ein einheitlicher Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO besteht bislang nicht und ist für das Funktionieren der Verordnung auch nicht erforderlich (I.). Gleichwohl könnte sich die Anwendung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes aber gegenüber der bislang praktizierten Wirkungserstreckung als vorteilhaft erweisen (II.). Die Frage, ob die Wirkungserstreckung zugunsten eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes aufgegeben werden sollte (II. 4.) ist jedoch nicht zu beantworten, ohne die Reichweite dieses potentiellen Rechtskraftbegriffes mitzudenken. Insofern muss zunächst eine Gegenüberstellung von einheitlichem, weitem und einheitlichem, engem Rechtskraftbegriff erfolgen (II. 2.), die Funktion und Rolle der Rechtskraft bei Anerkennung (II. 1.) ausreichend berücksichtigt. Hier wird deutlich werden, dass für die EuGVVO nur ein einheitlich enger Rechtskraftbegriff denkbar ist (II. 3.). Auch wenn die insofern (nur noch) erforderliche Abwägung zwischen Wirkungserstreckung und einheitlichem, engem Rechtskraftbegriff zwar einen gewichtigen, strukturellen Nachteil der Wirkungserstreckung identifizieren wird (II. 5. c.), ist für die Anerkennung nach der EuGVVO im Ergebnis jedoch an der Wirkungserstreckung festzuhalten (III.). Dies gilt insbesondere deshalb, weil diese Schwäche der Wirkungserstreckung de lege ferenda mit geringem Aufwand, aber hohem Ertrag, ausgeglichen werden kann (IV.).
278
Vierter Teil: Übertragung der Ergebnisse auf die europäische Ebene
I. Weder Existenz noch (zwingende) Erforderlichkeit eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO Die oben1 gemachten Ausführungen haben gezeigt, dass de lege lata kein greifbarer, einheitlicher Rechtskraftbegriff im Anerkennungsregime der EuGVVO existiert. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Gothaer war in der konkreten Situation weder erforderlich noch ist ihm inhaltlich zuzustimmen.2 Aus diesem Grund sollten die dort entwickelten Grundsätze – auch wenn die Allgemeinheit der Argumentation des Gerichtshofes dies möglicherweise erlauben würde – weder auf sämtliche Zuständigkeitsentscheidungen noch auf Sachentscheidungen übertragen werden.3 Aus der übrigen Rechtsprechung des EuGH – insbesondere aus der Rechtsprechung zum Streitgegenstandsbegriff – lassen sich keine Vorgaben für Existenz oder Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes ableiten.4 Insofern deuten Entscheidungen wie Gothaer und Invitel nach hier vertretener Auffassung weniger auf ein vom EuGH intendiertes und nach und nach zu diktierendes Gesamtsystem einer europäischen Rechtskraft hin; sie demonstrieren vielmehr lediglich die Bereitschaft des EuGH zu punktueller „Rechtsetzung“ ohne weitere Rücksicht auf die nationalen Rechtskraftbestimmungen oder die Auswirkungen auf diese.5 Dass bislang kein einheitlicher Rechtskraftbegriff für den Bereich der EuGVVO existiert, deckt sich auch mit der Ausgestaltung der Verordnung, denn die EuGVVO ist auf ein Funktionieren ohne einen einheitlichen Rechtskraftbegriff ausgelegt.6 Unabhängig davon, ob ein unionsautonomer Rechtskraftbegriff im Bereich der EuGVVO eventuell wünschenswert wäre,7 genügen die nationalen Rechtskraftbegriffe, um die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile nach den Regeln der EuGVVO durchzuführen. Die Entwicklung eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes ist daher nicht zwingend erforderlich.8 Gedanken zur Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes rechtfertigen sich aus mehreren Gründen trotzdem: Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Judikate wie Gothaer oder Invitel und Richtlinienvorgaben des Unionsgesetzgebers im Kartell- und Verbraucherschutzrecht nicht doch 1
Siehe hierzu vor allem oben zweiter Teil, B. III. Vgl. oben zweiter Teil, B. III. 1. b). Ebenso etwa Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 223. Für weitere Nachweise siehe oben zweiter Teil, B. III. 1. b) dd). 4 Ebenso etwa Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289. 5 Dahingehend auch Stadler, RabelsZ 2018, 773, 776 („[…] mit erstaunlicher Ignoranz gegenüber den Auswirkungen seiner Entscheidungen auf das nationale Prozessrecht […].“). 6 Ebenso z. B. Tsikrikas, ZZPInt 2017, 213, 223; Koops, IPRax 2018, 11, 21; Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289. 7 Hierzu sogl. unten vierter Teil, A. II. 8 Ebenso Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289. 2 3
A. EuGVVO
279
eine gewisse Tendenz zu einheitlichen Regeln für die Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen auf europäischer Ebene andeuten.9 Zum anderen ist die – hiervon zwar aufgeworfene, letztlich aber unabhängige – Frage, ob eine einheitliche europäische Rechtskraft innerhalb der EuGVVO möglicherweise vorteilhaft wäre, nicht zu beantworten, ohne die Reichweite eines potentiellen Rechtskraftbegriffes mitzudenken.
II. Vorteilhaftigkeit? Die Anwendung eines einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO bedeutete zumindest die teilweise10 Aufgabe der bislang praktizierten Wirkungserstreckung11. Sie ist also nur dann als insgesamt „vorteilhaft“ anzusehen, wenn die Vor- und Nachteile eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes die Vor- und Nachteile der Wirkungserstreckung überwögen. Dabei ist die Beantwortung dieser Frage nicht allgemein, sondern nur unter Einbeziehung der potentiellen Reichweite eines autonomen Rechtskraftbegriffes möglich. Die zu bevorzugende Reichweite eines solchen Begriffes wiederum ist anhand einer Übertragung und Auswertung der aus dem Rechtsvergleich gewonnen Argumente und unter Berücksichtigung von Funktion und Rolle der Rechtskraft innerhalb der Anerkennung zu ermitteln.
1. Funktion und Rolle der Rechtskraft innerhalb der Anerkennung Der materiellen Rechtskraft kommt im Rahmen der Anerkennung eine ähnlich wichtige Funktion wie im nationalen Recht zu, denn sie stellt die bedeutendste der anzuerkennenden Urteilswirkungen dar.12 Nach der innerhalb der EuGVVO de lege lata angewandten Wirkungserstreckungstheorie wird die Rechtskraft eines ausländischen Urteils durch die Anerkennung auf das Inland des Anerkennungsstaates erstreckt.13 Der ausländischen Entscheidung kommen im Anerkennungsstaat nach der Anerkennung also dieselben (Rechtskraft-)wirkungen zu, wie innerhalb des Urteilsstaates. Dieser Mechanismus verdeutlicht nochmals, dass ein einheitlicher Rechtskraftbegriff innerhalb der EuGVVO nicht 9 So für Gothaer etwa Nioche, RCDIP 2013, 686, 693: „[…] les premières pierres d’un régime autonome de l’autorité de la chose jugée.“ 10 Zur Frage, ob die Wirkungserstreckung vollständig oder nur teilweise aufgegeben werden sollte sogl. unten vierter Teil, A. II. 4. 11 Vgl. zum Begriff der Wirkungserstreckung oben zweiter Teil, B. II. 1. a) bb) (generelle Darstellung) und oben zweiter Teil, B. II. 1. b) (konkret im Hinblick auf die EuGVVO). 12 Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., vor Art. 33 EuGVO, Rn. 11; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 5; Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 3; mit Begründung Sepperer, Rechtskrafteinwand, S. 58 ff. 13 Vgl. hierzu und zu weiteren Anerkennungstheorien ausführlich oben zweiter Teil, B. II. 1. a) (generelle Darstellung) und oben zweiter Teil, B. II. 1. b) (konkret im Hinblick auf die EuGVVO).
280
Vierter Teil: Übertragung der Ergebnisse auf die europäische Ebene
(zwingend) erforderlich ist, sondern allenfalls zu bevorzugen sein kann. Dennoch wäre – parallel zu einem europäischen Streitgegenstandsbegriff14 – denkbar, sich von der Wirkungserstreckung zu lösen und den ausländischen Urteilen bei der Anerkennung nach den Regeln der EuGVVO eine unionsweit einheitliche Rechtskraft zu „verleihen“. Ein ausländisches Urteil, das in einem anderen Mitgliedstaat nach den Regeln der EuGVVO anerkannt wird, hätte dann nicht diejenigen Wirkungen, die ihm das Prozessrecht des Urteilsstaates beimisst, sondern diejenigen Wirkungen, die (dann) der europäisch autonome Rechtskraftbegriff vorgibt. Durch Grenzüberschreitung und Anerkennung nach der EuGVVO würde dem Urteil bildlich gesprochen europäische Rechtskraft „verliehen“.15 Ein solches Verfahren ließe – anders als das langfristige Ziel von Modellgesetzen wie das ELI/UNIDROIT Projekt „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“16 – die nationalen Rechtskraftbegriffe grundsätzlich unberührt, weil diese Form eines europäischen Rechtskraftbegriffes in reinen Inlandssachverhalten nicht angewandt, sondern erst durch die Anerkennung nach der EuGVVO „aktiviert“ würde. Ein derartiges europäisches Rechtskraftregime wäre insoweit ergänzend und nicht generell, sondern partiell ersetzend, weil die nationalen Rechtskraftbegriffe nur im Rahmen der Anerkennung und nicht grundsätzlich durch den europäischen Rechtskraftbegriff ersetzt würden. Infolgedessen hat die Frage nach der Reichweite dieses Rechtskraftbegriffes in erster Linie die Auswirkungen auf das Verfahren im Anerkennungsstaat im Blick.
2. Reichweite eines unionsautonomen Rechtskraftbegriffes – Abwägung zwischen weitem und engem einheitlichen Rechtskraftbegriff Auch wenn viele der aus dem Rechtsvergleich gewonnenen Argumente auch in der Frage nach der Tiefenwirkung einer unionsautonomen Rechtskraft von Bedeutung sind, können sie nicht ungesehen übertragen werden. Es ist vielmehr erforderlich, deren Übertragbarkeit und Gültigkeit auf europäischer Ebene zu überprüfen und deren Abwägung mit weiteren „europäischen“ oder in der Eigenart des jeweiligen Anwendungsbereiches liegenden Aspekten anzureichern, denn freilich unterscheiden sich Gültigkeit und Gewicht der jeweiligen Argumente im Hinblick auf das jeweilige Prozessrechtsystem, in das sich die Reichweite der materiellen Rechtskraft einfügen muss. So verbietet etwa schon das Wesen der EuGVVO als Teilverfahrensrecht zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen Überlegungen zur Zwischenfeststellungs-
14 15
Vgl. hierzu oben zweiter Teil, B. III. 3. e). Lenenbach, Unvereinbarkeiten, S. 139 spricht von einer „europäischen Wirkungsangleichung“. 16 Vgl. hierzu oben zweiter Teil, A. I.
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klage, weil diese nicht das Anerkennungs-, sondern das Ursprungsverfahren betrifft.17
a) Prozessökonomie Das Argument, durch einen einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriff würde das Verfahren im Anerkennungsstaat vereinfacht, weil insofern die Ermittlung der – im Rahmen der Wirkungserstreckung maßgeblichen – ausländischen Rechtskraftgrenzen überflüssig würde,18 spricht zunächst nur für einen autonomen Rechtskraftbegriff an sich, ohne allerdings dessen Reichweite vorzugeben. Führt man diesen Gedanken jedoch fort, lassen sich hieraus auch prozessökonomische Vorgaben für die Tiefenwirkung eines autonomen Rechtskraftbegriffes gewinnen: Je unklarer die Reichweite der materiellen Rechtskraft ausgestaltet ist, desto aufwendiger ist die Ermittlung des rechtskräftigen Entscheidungsinhaltes. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich dabei um einen europäischen oder nationalen Rechtskraftbegriff handelt. Eine Beschränkung auf den Tenor erleichtert und beschleunigt die Identifikation des Rechtskraftumfangs erheblich. Insofern ist zwar richtig, dass durch einen einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriff die Ermittlung der Rechtskraftgrenzen des Urteilsstaates wegfällt. Wenn dieser autonome Rechtskraftbegriff jedoch so unklar definiert ist, dass die Ermittlung des rechtskräftigen Inhalts der Entscheidung schwierig und kompliziert und daher zeit- und ressourcenintensiv ist, schmälert dies den aus der Vereinheitlichung gewonnenen prozessökonomischen Vorteil erheblich. Wenn im Urteilsstaat allerdings weite Rechtskraftgrenzen gelten und (dort) infolgedessen mehr Ressourcen aufgewendet worden sind, um Vorfragen zu klären – so ja ein Argument gegen weite Rechtskraftgrenzen – und dieses Urteil durch Anerkennung und Ausstattung mit einer engen europäischen Rechtskraft letztlich „beschnitten“ würde, ginge der Ertrag des Mehraufwandes teilweise verloren.19 Die Gefahr einer Friktion aus weiter nationaler Rechtskraft und enger europäischer Rechtskraft hat sich infolge der oben dargestellten Entwicklungen innerhalb einiger Mitgliedstaaten und der Ergebnisse des Rechtsvergleiches heute jedoch zumindest verringert. Oben ist angezweifelt worden, inwieweit die Verschlankung oder Aufblähung des (nationalen) Erstprozesses, die insofern insbesondere vom Streitverhalten der Parteien abhängig ist, überhaupt belastbar prognostiziert und damit als stichhaltiges Argument für oder gegen die Rechtskraft von Entscheidungsgründen herangezogen werden kann. Im Hinblick auf den Anerkennungsvor17 Anders ist dies freilich, wenn über die Reichweite der materiellen Rechtskraft innerhalb
eines in sich geschlossenen Gesamtsystems nachgedacht wird. Vgl. dazu unten vierter Teil, B. 18 So Bach, EuZW 2013, 56, 59; Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 246. 19 Dahingehend auch Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 80.
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gang gewinnen prozessökonomische Erwägungen jedoch an Gewicht, weil sich das von der jeweiligen Rechtskraftreichweite inwieweit auch immer beeinflusste Parteiverhalten während des Ursprungsprozesses nicht auf das Anerkennungsverfahren auswirkt und für dieses (also das Anerkennungsverfahren) relativ zweifelsfrei davon ausgegangen werden kann, dass die Ermittlung des rechtskräftigen Entscheidungsinhalts bei engen und daher klaren Rechtskraftgrenzen einfacher und daher ökonomischer ist, als bei weiteren und daher unklareren Rechtskraftgrenzen. Dieser Vorteil scheint auch die angesprochenen prozessökomischen Einbußen durch „Rechtskraftbeschneidung“ zu überwiegen. Dies zumal sich die umgekehrte Konstellation aus enger nationaler und weiter europäischer Rechtskraft im Hinblick auf die Belange der Parteien nahezu verbietet.
b) Belange der Parteien – Wirkungserweiterung und Wirkungsbeschneidung Enge europäische Rechtskraftgrenzen können zu einer „Wirkungsbeschneidung“ führen. Weite europäische Rechtskraftgrenzen können demgegenüber zu einer „Wirkungserweiterung“ führen. Beide Konstellationen können sich nachteilig auf die Belange der Parteien auswirken.20 Im Falle einer „Wirkungsbeschneidung“, wenn also der Entscheidung im Anerkennungsstaat weniger Rechtskraftwirkungen zukommen als im Urteilsstaat, gehen die durch die Rechtskraft im Urteilsstaat „gesicherten“ Feststellungen zu Vorfragen im Anerkennungsstaat verloren. Dies kann für die Parteien deshalb nachteilig sein, weil über diese Vorfragen in weiteren Verfahren dann erneut gestritten und (unter Umständen anders)21 entschieden werden kann. Die Folgen einer „Wirkungserweiterung“ durch einen weiten europäischen Rechtskraftbegriff sind jedoch deutlich gravierender, weil durch sie eine Bindung an Feststellungen im Urteil eintritt, deren rechtskräftige Feststellung im Verfahrensrecht des Ursprungsstaates nicht angelegt und deshalb weder vom Prozess als solchem noch von den Parteien intendiert war.22 Dies würde dazu führen, dass die Parteien nach der Anerkennung der Entscheidung von Urteilswirkungen überrascht würden, die sie aufgrund der Rechtslage im Urteilsstaat nicht absehen oder beeinflussen konnten. Insofern könnte hier sogar der Anspruch auf rechtliches Gehör betroffen sein.23 Henckel hat richtigerweise festgestellt: 20 A. A. offenbar
Loyal, ZZP 2018, 373, 386. den möglichen Auswirkungen dieser Konstellation auf eine spätere Anerkennungsversagung unten vierter Teil, A. II. 5. d) cc). 22 Auf den engen Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Verfahrens und der Rechtskraftreichweite verweisen auch Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158; Koops, IPRax 2018, 11, 20 f.; dahingehend auch die berechtigte Kritik an der Entscheidung des EuGH in Gothaer, vgl. oben zweiter Teil, B. III. 1. b) dd). 23 So Lenenbach, Unvereinbarkeiten, S. 139; Müller, ZZP 1966, 199, 206; dahingehend auch Schack, IZVR, Rn. 884; a. A. Loyal, ZZP 2018, 373, 388, Fn. 64. 21 Zu
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„Die Bindung der Parteien an das Prozeßergebnis kann […] sinnvoll nur in dem Umfang angeordnet werden, in dem die Richtigkeit der Entscheidung durch die gesetzliche Gestaltung des Verfahrens garantiert werden kann. Die Grenzen der Rechtskraft sind deshalb davon abhängig, ob der […] vorgesehene Verfahrensgang nur die Richtigkeit der Entscheidung über den Streitgegenstand verbürgt oder auch die Richtigkeit der Entscheidungsgründe.“24
Aus diesen Gründen greift auch der Einwand, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei gar nicht betroffen, weil die Parteien bereits im ersten Verfahren gehört wurden,25 möglicherweise zu kurz: Zwar ist richtig, dass die Parteien im ersten Verfahren gehört wurden und ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör damit grundsätzlich entsprochen wurde. Gleichzeitig richten die streitenden Parteien ihre Prozessführung aber am geltenden Prozessrecht und den nach diesem festgelegten Urteilswirkungen aus. Insofern wird sich insbesondere das Streitverhalten über Vorfragen daran orientieren, ob die lex fori ihre Rechtskraft auf ebendiese erstreckt oder nicht. Wenn die Parteien nun von einer intensiven Klärung bestimmter Vorfragen deshalb absehen, weil Vorfragenentscheidungen nach dem Prozessrecht des Urteilsstaates nicht in Rechtskraft erwachsen, entstünde durch eine „Wirkungserweiterung“ infolge der Zugrundelegung eines weiten europäischen Rechtskraftbegriffes nachträglich eine Diskrepanz zwischen der von den Parteien durch ihre Streitführung erwarteten und von der lex fori vorgeschriebenen Reichweite der Rechtskraft einerseits und der nach Anerkennung geltenden europäischen Rechtskraft andererseits.26 Anders als im Rahmen dieser Frage auf nationaler Ebene ist die Gefahr überraschender Urteilsfolgen im vorliegenden Fall auch deutlich greifbarer. Während des Verfahrens im Urteilsstaat wird sich nicht immer absehen lassen, ob und vor allem wo später gegebenenfalls ein weiteres Verfahren erforderlich wird. Es ist insofern – auch bei anwaltlicher Beratung – nur schwer progonostizierbar, ob das Urteil später in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden muss und daher auch kaum möglich, vorherzusehen, ob es durch die spätere Anerkennung – und die Zugrundelegung eines weiten einheitlichen Rechtskraftbegriffes – zu einer Wirkungserweiterung kommen wird. Man mag darüber streiten können, ob diese Umstände den Anspruch auf rechtliches Gehör im engeren Sinn betreffen. In jedem Fall provoziert die Anwendung eines weiten europäischen Rechtskraftbegriffes jedoch ernstzunehmende Bedenken im Hinblick auf die Einheit von Verfahrensausgestaltung und Rechtskraftreichweite. Wie der Rechtsvergleich deutlich gemacht hat, beschränken inzwischen zahlreiche Mitgliedstaaten ihre Rechtskraft auf den Tenor. Ein weiter europäischer Rechtskraftbegriff im Regime der EuGVVO wäre daher nicht nur inkongruent, sondern würde in vie24
Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 155; ihm folgend Fischer, FS Henckel (1995), 199, 203; ebenso Müller, ZZP 1966, 199, 204 f.; Koops, IPRax 2018, 11, 20 f. 25 So Loyal, ZZP 2018, 373, 388, Fn. 64. 26 Ähnlich Fischer, FS Henckel (1995), 199, 203.
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len Fällen zu einer „Wirkungserweiterung“ führen, die aus den eben genannten Gründen nicht hinnehmbar erscheint.27 Auch wenn man die Entkoppelung von verfahrensgestaltendem (nationalem) Prozessrecht und (europäischer) Rechtskraftreichweite sicherlich als ein generelles Argument gegen die Verwendung eines autonomen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO anführen kann,28 ist doch festzuhalten, dass eine solche Entkoppelung insbesondere bei Zugrundelegung eines weiten europäischen Rechtskraftbegriffes zu untragbaren Konsequenzen führt, während ein enger europäischer Rechtskraftbegriff wohl eher denkbar wäre.29 Weil sich ein weiter europäischer Rechtskraftbegriff damit letztlich verbietet, sollte sich ein innerhalb der EuGVVO anzuwendender autonomer Rechtskraftbegriff auf den Tenor beschränken und keine Rechtskraft von Gründen vorsehen. Das Verbot einer „Wirkungserweiterung“ ist zudem auch in der EuGVVO selbst verankert.
c) Systematik der EuGVVO und praktischer Ablauf des Anerkennungsverfahrens aa) Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO – Verbot der Wirkungserweiterung Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO sieht vor, dass eine Anpassung im Anerkennungsstaat unbekannter Maßnahmen oder Anordnungen keinesfalls dazu führen darf, „dass Wirkungen entstehen, die über die im Recht des Ursprungsmitgliedstaates vorgesehenen Wirkungen hinausgehen.“ Auch nach der Rechtsprechung des EuGH „geht es nicht an, einem Urteil bei seiner Vollstreckung Rechtswirkungen zuzuerkennen, die es im Ursprungsmitgliedstaat nicht hat […] oder die ein unmittelbar im Vollstreckungsstaat ergangenes Urteil derselben Art nicht erzeugen würde“.30 In der Literatur wird Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO teilweise als eine Manifestation des Wirkungserstreckungsprinzips verstanden.31 Nimmt man es mit dem Wortlaut der Norm jedoch genau, schreibt diese nicht vor, dass die Wirkungen einer Entscheidung in Urteils- und 27 Für die Anerkennung nach § 328 ZPO ebenso Müller, ZZP 1966, 199, 205: „Es wäre sachlich einfach nicht angemessen, wenn die Parteien […] mit einer Erweiterung der Rechtskraft überrascht würden.“; kritisch zur Wirkungserweiterung ebenfalls Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 4; Bach, EuZW 2013, 56, 58; Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 140; Layton/Mercer, European Civil Practice, Vol. 1, Rn. 24.010; Droz, Compétence Judiciaire, n° 448. 28 So Koops, IPRax 2018, 11, 20 f. 29 Dahingehend auch Koops, IPRax 2018, 11, 20: „Die Systematik der EuGVVO spricht gegen den autonomen Rechtskraftbegriff des EuGH, doch nicht in seiner Eigenschaft als autonomer Begriff, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft als weiter Begriff.“ 30 EuGH, Rs. C-420/07 („Apostolides/Orams“), Slg. 2009, I-03571, Rn. 66; der EuGH rekurriert an dieser Stelle auf Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1 ff., 48. 31 So etwa Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 54 EuGVVO, Rn. 2; ebenso v. Hein, RIW 2013, 97, 110; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 54 Brüssel Ia-VO, Rn. 8; in diese
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Anerkennungsstaat identisch sein müssen. Vielmehr verbietet sie lediglich ein Mehr an Entscheidungswirkungen im Anerkennungsstaat. Richtigerweise verhindert zwar (auch) die Wirkungserstreckung, dass einer Entscheidung nach der Anerkennung im Anerkennungsstaat mehr Wirkungen zukommen, als dieselbe im Urteilsstaat hat. Wie oben gezeigt, besteht die Gefahr einer Wirkungserweiterung aber nicht schon grundsätzlich bei Zugrundelegung eines autonomen Rechtskraftbegriffes, sondern nur bei Implementierung eines weiten autonomen Rechtskraftbegriffes. Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO spricht daher (nur) gegen einen weiten europäischen Rechtskraftbegriff. Bei Anwendung eines engen autonomen Rechtskraftbegriffes sind Wirkungserweiterungen durch die Anerkennung dagegen ausgeschlossen. Ein enger, auf den Tenor der Entscheidung beschränkter, europäischer Rechtskraftbegriff wäre deshalb mit der Maßgabe des Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO grundsätzlich vereinbar.
bb) Praktischer Ablauf des Anerkennungsverfahrens – Vorliegende Dokumente in der Regel nicht ausreichend, um rechtskräftige Feststellungen in den Gründen identifizieren zu können Ein weiteres, in der Systematik der Verordnung angelegtes, praktisches Argument gegen einen weiten autonomen Rechtskraftbegriff ergibt sich aus dem Ablauf der Urteilsanerkennung und den hierfür erforderlichen Dokumenten. Art. 37 Abs. 1 EuGVVO schreibt für die Anerkennung der Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat (lediglich) die Vorlage einer Ausfertigung der Originalentscheidung und der nach Art. 53 EuGVVO ausgestellten Bescheinigung vor.32 Die in diesem Formular enthaltenen Informationen sollen eine Übersetzung des Urteiles entbehrlich machen.33 Eine solche soll vom Anerkennungsgericht ausweislich des Art. 37 Abs. 2 EuGVVO nur verlangt werden, wenn ansonsten das Verfahren nicht fortgesetzt werden könnte. Sie ist im Übrigen auch erst dann anzufordern, wenn auch eine Übersetzung des Formblattes aus Anhang I nicht zielführend war.34 Wie die „Ausfertigung“ des Urteils konkret auszusehen hat, ist von der Verordnung nicht vorgeschrieben und richtet sich infolgedessen nach der lex fori des Ausstellungsstaates.35 Tatbestand und Entscheidungsgründe müssen in ihr nicht enthalten sein.36 Diese ergeben sich auch Richtung auch Pfeiffer, ZZP 2014, 409, 427; Magnus/Mankowski/Wautelet, ECPIL, Art. 36 Brussels Ibis Regulation, Rn. 7. 32 Zum Inhalt dieser Bescheinigung und den Durchführungsvorschriften nach deutschem Recht vgl. Ulrici, GPR 2015, 295. 33 So Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 1; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 1. 34 Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 1: „[…] gegenüber dem Begleitformular nach Anhang I subsidiär“. 35 Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 2; Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 3. 36 Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, 4. Aufl., Art. 37 EuGVVO, Rn. 3.
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nicht aus der Bescheinigung nach Anhang I, da diese nur den Tenor der Entscheidung und eine „Kurzdarstellung des Streitgegenstands“ verlangt.37 Die Identifikation und Feststellung etwaiger rechtskräftiger Vorfragen wird daher anhand der nach Art. 37 Abs. 1 EuGVVO vorgeschriebenen Dokumente in aller Regel praktisch nicht möglich sein. Hierfür hilft jedoch auch eine Übersetzung des Originalurteils nicht allzu viel: Wie oben bereits anschaulich wurde,38 ist die Abgrenzung rechtskräftiger und nicht rechtskräftiger Vorfragen selbst bei fundierter Kenntnis der lex causae schwierig und nicht immer zweifelsfrei möglich. Die für die Identifikation rechtskräftiger Vorfragenentscheidungen erforderliche Kenntnis des materiellen Rechts im Urteilsstaat wird beim Anerkennungsgericht in den allermeisten Fällen aber schon gar nicht vorhanden sein.39 Zwar gehört die Arbeit mit ausländischem Recht inzwischen zum Alltag mitgliedstaatlicher Gerichte. Die Anwendung eines einheitlich weiten Rechtskraftbegriffes würde eine Ermittlung des konkreten Rechtskraftumfanges anhand der ausländischen Urteilsbegründung jedoch obligatorisch machen und damit auch in Konstellationen, in denen nach der Wirkungserstreckung – wegen enger Rechtskraftgrenzen im Urteilsstaat – eigentlich keine Suche nach rechtskräftigen Feststellungen innerhalb der Entscheidungsbegründung erforderlich wäre, eine (oft schwierige) Untersuchung anordnen.40 Freilich besteht dieses Problem schon jetzt im Rahmen der Wirkungserstreckung, wenn der Urteilsstaat von einem weiten, bestimmte Gründe umfassenden, Rechtskraftbegriff ausgeht.41 Insofern lässt sich aus dem Ablauf des Anerkennungsverfahrens nicht nur ein Argument gegen die Einführung eines weiten autonomen Rechtskraftbegriffes, sondern auch gegen die Wirkungserstreckung und für die Anwendung eines engen europäischen Rechtskraftbegriffes bilden.
d) Rechtssicherheit Das eben gefundene Ergebnis bestätigt sich auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit. Das gewichtigste generelle Argument gegen eine Rechtskraft von Urteilsgründen ist die mit einer Erweiterung der Rechtskraft einhergehende Rechtsunsicherheit bezüglich des tatsächlichen Rechtskraftumfangs.42 Wie 37 Vgl. Ziff. 4.6. und 4.6.1.1. der Bescheinigung nach Anhang I. 38 Siehe insb. oben dritter Teil, A. II. 3. (zum deutschen Recht),
oben dritter Teil B. III. (zum französischen Recht), oben dritter Teil C. I. 3. b) bb) (zum österreichischen Recht), oben dritter Teil, C. II. 2. (zum spanischen Recht). 39 In diesem Sinne auch Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 246: „Dem inländischen Anerkennungsrichter kann die ‚Durchforstung‘ des ausländischen Judikats auf die Feinheiten der Entscheidungsgründe nur schwerlich zugemutet werden.“; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 643; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934. 40 Kritisch insofern auch Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934. 41 Zu einem Lösungsvorschlag de lege ferenda vgl. unten vierter Teil, A. IV. 42 Vgl. zu den Schwierigkeiten, brauchbare Kriterien zur Abgrenzung rechtskräftiger und
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der Rechtsvergleich gezeigt hat, konnte in keiner der verglichenen Rechtsordnungen ein überzeugendes System zur Unterscheidung „tragender“ und „nicht tragender“ Urteilsgründe anhand eindeutiger Kriterien entwickelt werden.43 Dieses Problem und die daraus resultierende Rechtsunsicherheit potenzieren sich auf europäischer Ebene um ein Vielfaches. Die bestehenden Unklarheiten zur Frage, welche Vorfragenentscheidungen in Rechtskraft erwachsen sollen und welche nicht, sind bereits innerhalb der nationalen Rechtsordnungen erheblich.44 Fülle und Verschiedenheit der bestehenden Vorschläge innerhalb der nationalen Diskussionen legen nahe, dass eine einheitliche Lösung auf europäischer Ebene kaum zu erwarten wäre. Für das Funktionieren eines europäischen Rechtskraftbegriffes ist eine Antwort auf diese Frage jedoch genauso erforderlich wie innerhalb der Mitgliedstaaten selbst. Da das Fehlen eines zuverlässigen Systems zur Bemessung des Rechtskraftumfangs die Rechtssicherheit erheblich gefährdet, ist auch (oder gerade) auf europäischer Ebene eine enge Begrenzung der Rechtskraft der Idee einer Rechtskrafterweiterung unter bestimmten (ungeklärten) Voraussetzungen vorzuziehen.45
3. Zwischenergebnis Wenn die Wirkungserstreckung durch die Anwendung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes im Anerkennungsregime der EuGVVO ersetzt werden soll,46 wäre dieser unionsautonome Rechtskraftbegriff eng zu fassen.47 Die Tiefenwirkung eines europäischen Rechtskraftbegriffes im Anerkennungsrecht sollte („tragende“) Urteilsgründe nicht erfassen. Hierfür sprechen sowohl generelle als auch „verordnungsimmanente“ Gründe: Generell bietet (bislang) nur eine Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor genügend Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, um Aufgaben und Ziel des Instituts Rechtskraft gerecht zu werden. Es ist nicht zu erwarten, dass die bereits auf nationaler Ebene gescheiterten Versuche, ein einheitliches System zur Identifikation „tragender“ Entscheidungsgründe zu entwickeln, auf europäischer Ebene gelöst werden könnten.48 nicht rechtskräftiger Gründe zu entwickeln bereits oben dritter Teil, A. II. 3. (zum deutschen Recht), oben dritter Teil B. III. (zum französischen Recht), oben dritter Teil C. I. 3. b) bb) (zum österreichischen Recht), oben dritter Teil, C. II. 2. (zum spanischen Recht). 43 Ebenso Ferrand, FS Gottwald (2014), 143, 158; Rechberger, FS Nakamura (1996), 477, 488 f. 44 So auch Klöpfer, GPR 2015, 210, 216. 45 Ebenso Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934; Roth, IPRax 2014, 136, 139. 46 Zu dieser Frage sogl. unten vierter Teil, A. II. 4. und 5. 47 Ebenso Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934; Roth, IPRax 2014, 136, 139; dahingehend auch Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 292; Koops, IPRax 2018, 11, 20; a. A. Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 165. 48 Die von Ferrand in FS Gottwald (2014), 143, 158 offen gelassene Frage, „Could Euro-
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Gewichtigstes (verordnungsimmanentes) Argument gegen einen weiten europäischen Rechtskraftbegriff innerhalb der EuGVVO ist jedoch die Gefahr einer „Wirkungserweiterung“ durch die Kombination aus engem nationalem Rechtskraftbegriff im Urteilsstaat und weitem europäischem Rechtskraftbegriff im Rahmen der Anerkennung. Zwar kann sich eine Inkongruenz zwischen Verfahrensrecht und Rechtskraftreichweite auch im Falle eines weiten nationalen und engen europäischen Rechtskraftbegriffes negativ auswirken.49 Die Folgen einer „Wirkungserweiterung“ sind jedoch wesentlich gravierender als diejenigen einer „Wirkungsbeschneidung“, denn (nur) im ersten Fall droht den Parteien eine Überraschung mit Rechtskraftwirkungen, die während des Prozesses im Urteilsstaat weder kalkulier- noch steuerbar sind. Dieses Ergebnis wird auch von Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO und der Rechtsprechung des EuGH vorgegeben. Nach alledem käme eine Aufgabe der Wirkungserstreckung nur zugunsten eines engen autonomen Rechtskraftbegriffes in Frage. Die folgende Untersuchung der Vor- und Nachteile eines de lege ferenda einheitlichen Rechtskraftbegriffes bei Anerkennung nach der EuGVVO kann daher auf die Abwägung zwischen der Wirkungserstreckung einerseits und einem engen, auf den Tenor der Entscheidung begrenzten Rechtskraftbegriff andererseits beschränkt bleiben. Zuvor ist jedoch zu klären, inwieweit die Wirkungserstreckung zugunsten eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes aufgegeben werden müsste.
4. Vollständige Aufgabe der Wirkungserstreckung oder einheitliche „Sockel-Rechtskraft“ unter grundsätzlicher Beibehaltung der Wirkungserstreckung? Man ist geneigt, davon auszugehen, die Einführung eines einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO erfordere die vollständige Aufgabe der Wirkungserstreckung, weil insofern die europäische Rechtskraft bei Anerkennung schlicht an die Stelle der – bislang nach der Wirkungserstreckung relevanten – lex fori-Rechtskraft träte. Theoretisch wäre allerdings auch denkbar, zusätzlich zur Wirkungserstreckung einen (engen) europäischen Rechtskraftbegriff zu entwickeln, der dann sozusagen als einheitlicher Mindeststandard bei der Anerkennung von fremden Urteilen nach der EuGVVO zugrunde gelegt würde. Weitergehende Rechtskraftwirkungen nach der lex fori würden durch die Anerkennung insofern auf ein europäisches Mindestmaß verkürzt. Diese Form einer einheitlichen „Sockel-Rechtskraft“ wäre vom Anerkennungsgericht von Amts wegen zu beachten und über die europäische „Sockel-Rechtskraft“ hinausgehende Rechtskraftwirkungen der lex fori würden nur auf Vorbringen der Parteien berücksichtigt. pe do better?“, ist im Hinblick auf die Entwicklung einheitlicher Voraussetzungen für eine weite Rechtskraft daher zu verneinen. 49 Hierzu sogl. unten vierter Teil, A. II. 5. d) aa).
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Ein solches Verfahren hätte (zumindest) den Vorteil, dass weitergehende Rechtskraftwirkungen der lex fori durch einen engen europäischen Rechtskraftbegriff nicht per se abgeschnitten würden,50 sondern (nach Parteivortrag) erhalten bleiben könnten. Den Parteien würde insoweit eine Dispositionsmöglichkeit über die Reichweite der Rechtskraft bei Anerkennung gegeben, weil es nach diesem Modell an ihnen läge, auf weitergehende Rechtskraftwirkungen hinzuweisen. Zumindest aus deutscher Sicht – wonach die Parteien (anders als im französischen Recht)51 nicht in der Lage sind, über die Rechtskraft zu disponieren,52 wäre jedoch fraglich, ob man den Parteien derart umfangreiche Dispositionsmöglichkeiten überhaupt einräumen wollte. Zu klären wäre außerdem, ob die Parteien immer nur alle oder auch nur einzelne Feststellungen, die nach der lex fori rechtskräftig wären, zur „SockelRechtskraft“ „hinzufügen“ dürften. Wenn also etwa ein fremdes Urteil nach dessen lex fori rechtskräftige Feststellungen zur Wirksamkeit mehrerer Verträge enthielte, wäre es den Parteien dann erlaubt, sich auf die rechtskräftige Feststellung nur bestimmter Verträge zu berufen oder müssten sie insofern entweder die Rechtskraft aller Feststellungen zu den Verträgen oder die Rechtskraft keiner Feststellungen „wählen“? Mit anderen Worten, es wäre zu klären, ob die europäische „Sockel-Rechtskraft“ immer ganz oder gar nicht auf die Reichweite der lex fori ausgedehnt werden könnte oder ob aus allen nach der lex fori rechtskräftigen Entscheidungsbestandteilen bestimmte „ausgewählt“ werden könnten. Insbesondere für die letzte Variante ist jedoch zu befürchten, dass ein solches Verfahren die Anerkennung der Rechtskraft verkomplizieren würde, weil hiernach letztlich eine dritte Kategorie der Rechtskraftreichweite geschaffen würde: Einerseits die Rechtskraftreichweite nach der lex fori, andererseits die europäische „Sockel-Rechtskraft“ und darüber hinaus die Kombination aus lex fori und „Sockel-Rechtskraft“. Dieser Umstand dürfte der Vorhersehbarkeit der konkreten Rechtskraftreichweite zuwiderlaufen. Zudem würde der größte Vorteil einer einheitlichen europäischen Rechtskraft (der Wegfall der Prüfung des Rechtskraftumfanges durch das Anerkennungsgericht)53 nur noch teilweise erreicht, weil immer dann, wenn sich die Parteien auf weitergehende Rechtskraftwirkungen nach der lex fori beriefen, eben doch eine (Über-)Prüfung der Rechtskraftreichweite im Urteilsstaat erforderlich würde. All dies legt nahe, die Wirkungserstreckung, wenn überhaupt, ganz aufzugeben und im Anerkennungsverfahren ausschließlich auf einen europäischen Rechtskraftbegriff abzustellen. Gleichwohl ist in dieser Frage keine abschließende Entscheidung erforderlich, weil im Folgenden gezeigt werden wird, dass die Wirkungserstreckung beibehalten und überhaupt nicht zuguns50
Zu den Bedenken gegen die Wirkungsbeschneidung siehe oben vierter Teil, A. II. 2. b). Vgl. hierzu oben erster Teil, B. III. 9. b). Vgl. hierzu oben erster Teil, B. III. 9. a). 53 Vgl. hierzu sogl. unten vierter Teil, A. II. 5. c) aa). 51 52
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ten eines einheitlichen europäischen Rechtskraftbegriffes aufgegeben werden sollte.
5. Abwägung zwischen Wirkungserstreckung und einheitlichem, engem Rechtskraftbegriff Obwohl die Wirkungserstreckung von der Verordnung nicht ausdrücklich vorgegeben ist, hat sie sich für die Anerkennung nach der EuGVVO etabliert (a.). Viele der im Rahmen der Abwägung zwischen einheitlichem, engem Rechtskraftbegriff und der Wirkungserstreckung herangezogenen Argumente lassen sich für beide Seiten fruchtbar machen und geben insofern keinen eindeutigen Ausschlag (b). Gleichwohl wird sich zeigen, dass die Nachteile eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes (d.) dessen Vorteile (c.) nicht überwiegen und insofern an der Wirkungserstreckung festgehalten werden sollte (III.).
a) Wirkungserstreckung als etabliertes Prinzip ohne verbindliche Vorgabe durch die Verordnung Wie oben ausgeführt geht die herrschende Meinung für die Anerkennung nach der EuGVVO vom Prinzip der Wirkungserstreckung aus.54 Sie wird zudem vom Jenard-Bericht vorgegeben55 und auch vom EuGH schon seit seiner Entscheidung in Hoffmann/Krieg – freilich mit Ausnahmen wie etwa der Entscheidung in Gothaer56 – vertreten57. Nach teilweise vertretener Ansicht gehe das Wirkungserstreckungsprinzip auch aus verschiedenen Stellen der Verordnung implizit hervor. So wird etwa Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO als Bekräftigung der Wirkungserstreckung verstanden58 und auch Erwägungsgrund 26 Satz 3 EuGVVO solle die Theorie der Wirkungserstreckung zugrunde liegen59. Es ist bereits dargelegt worden, dass Art. 54 Abs. 1 Unterabs. 2 EuGVVO bei genauer Lesart lediglich die Wirkungserweiterung verbietet und nicht per se zur Anwendung der Wirkungserstreckung zwingt.60 Noch weniger eindeutig lässt sich die Wirkungserstreckung aus Erwägungsgrund 26 Satz 3 EuGVVO ableiten. Hiernach soll eine von den Gerichten eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung bei Vollstreckung so behandelt werden, als sei sie im ersuchten Mitgliedstaat ergangen. Wenn sich hieraus überhaupt Vorgaben für die zu bevorzugende Anerkennungs54
Vgl. oben zweiter Teil, B. II. 1. b). Jenard, ABl. 1979, C 59, S. 1 ff., 42 ff. Vgl. hierzu ausführlich oben zweiter Teil, B. III. 1. b). 57 EuGH, Rs. 145/86 („Hoffmann/Krieg“), Slg. 1988, 645, Rn. 10 f.; vgl. zur Ansicht des EuGH und dieser Entscheidung bereits oben zweiter Teil, B. II. 1. b) aa). 58 So Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 54 EuGVVO, Rn. 2; ebenso v. Hein, RIW 2013, 97, 110; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 54 Brüssel Ia-VO, Rn. 8. 59 So MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 12. 60 Vgl. oben vierter Teil, A. II. 2. c) aa). 55 56
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theorie ableiten lassen, stützte der Wortlaut wohl kaum die Theorie der Wirkungserstreckung, denn nur nach der Gleichstellungstheorie würden der anerkannten Entscheidung dieselben Wirkungen wie im ersuchten Mitgliedstaat zuteil.61 Überzeugender ist es daher, Erwägungsgrund 26 Satz 3 EuGVVO nicht als implizite Aussage zu Reichweite und Wirkung der Anerkennung zu verstehen, sondern ihm (nur) zu entnehmen, dass anerkannte und zu vollstreckende Entscheidungen im Vollstreckungsstaat nicht anders behandelt werden dürfen, als inländische Entscheidungen. Dies alles zeigt, dass die Theorie der Wirkungserstreckung zwar viel Befürwortung erfährt und sich deren Anwendung auch etabliert hat. Von der Verordnung selbst ist die Wirkungserstreckung de lege lata jedoch nicht ausdrücklich vorgegeben.62 Freilich hat dieser Umstand im Rahmen von Überlegungen zur Reichweite eines europäischen Rechtskraftbegriffes de lege ferenda ohnehin nur untergeordnete Bedeutung. Ähnlich eingeschränkt ist das Gewicht solcher Argumente, die keine eindeutige Festlegung zugunsten einer Lösung ermöglichen, weil sie sich entweder kaum belegen oder insgesamt relativieren lassen.
b) Aspekte ohne eindeutigen Ausschlag für oder gegen die Beibehaltung der Wirkungserstreckung beziehungsweise die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes Im Rahmen der Diskussion um einen einheitlichen Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO werden verschiedene Aspekte besprochen, die jedoch keinen eindeutigen Ausschlag für oder gegen die Beibehaltung der Wirkungserstreckung geben. So lassen weder die Prozessökonomie noch die Gefahr widersprechender Entscheidungen oder das Bestreben nach Rechtsvereinheitlichung einen eindeutigen Schluss auf das zu bevorzugende Ergebnis zu.
aa) Prozessökonomie (1) Als Argument für die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes Oben wurde deutlich, dass die bei Anerkennung vorzulegenden Dokumente und insbesondere die Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO in Verbindung mit Anhang I in aller Regel nicht ausreichen werden, um Rechtskraftwirkungen zu identifizieren, die über die Feststellungen innerhalb des Tenors hinausgehen. Da zumindest der Tenor des Urteils in der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO 61 62
In diese Richtung auch Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 123. Ebenso Stein/Jonas/Oberhammer, ZPO Bd. 10, 22. Aufl., Art. 33 EuGVVO, Rn. 10; Rauscher/Leible, EuZPR, 4. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 3; MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 36 Brüssel Ia-VO, Rn. 12; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 36 EuGVVO, Rn. 2.
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in Verbindung mit Anhang I jedoch zu nennen ist, würde eine einheitliche Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor weitere Maßnahmen, wie etwa die Anforderung einer Übersetzung des Originalurteils, zumindest bei stattgebenden Urteilen nicht von vornherein erforderlich machen.63 Unter diesem Aspekt könnte ein einheitlicher, enger Rechtskraftbegriff prozessökonomisch vorteilhaft sein.64
(2) Als Argument für die Beibehaltung der Wirkungserstreckung Auch wenn die Arbeit gezeigt hat, dass enge Rechtskraftgrenzen (gegebenenfalls in Kombination mit dem Institut der Zwischenfeststellungsklage) abstrakt die bessere Alternative zu weiteren, an materiellrechtlichen Zusammenhängen orientierten Rechtskraftgrenzen darstellen, ist die Existenz weiter Rechtskraftbegriffe in verschiedenen Mitgliedstaaten schlicht zur Kenntnis zu nehmen. Bei Anwendung eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes wäre eine „Wirkungsbeschneidung“ deshalb nicht auszuschließen. Hierdurch würde das nachfolgende Gericht gezwungen, eigene Feststellungen zu – im Urteilsstaat möglicherweise sogar rechtskräftigen – Vorfragen anzustellen. Gerade wenn die lex fori im Urteilsstaat eine Rechtskraft von Vorfragen bejaht, erschiene es ökonomisch zweifelhaft, das nachfolgende Gericht zu einer eigenen Beurteilung – gegebenenfalls sogar nach ausländischem materiellem Recht – zu zwingen. Sofern im konkreten Fall tatsächlich ausländisches Sachrecht anzuwenden ist, bestehen insofern auch dieselben Bedenken im Hinblick auf die materielle Richtigkeit der Entscheidung wie bei der Beurteilung der ausländischen Rechtskraftgrenzen.
bb) Erhöhte Gefahr widersprechender Entscheidungen im Anerkennungsstaat (1) Als Argument gegen die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes Die Anwendung eines engen, unionsautonomen Rechtskraftbegriffes kann zu materiellrechtlich widersprüchlichen Urteilen führen. Wenn etwa ein zusprechendes Urteil auf Kaufpreiszahlung aus einem Mitgliedstaat, dessen Prozessrecht die Rechtskraft von Urteilsgründen anordnet (hier Bestehen des Kaufvertrages), durch die Anerkennung in seiner Rechtskraftwirkung „verkürzt“ würde, wären die Gerichte im Anerkennungsstaat nicht an die Vorfragenentscheidun63 Freilich sind auch bei Geltung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes weiterhin die Gründe – und insoweit trotzdem eine Übersetzung – des Urteils erforderlich, um eine eventuelle Streitgegenstandsidentität mit nachfolgenden Klagen feststellen zu können. Dies wird insb. bei klageabweisenden Urteilen relevant werden. 64 Zum Wegfall der erforderlichen Prüfung des positiven Rechtskraftumfangs durch das Anerkennungsgericht durch Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes sogl. unten vierter Teil, A. II. 5. c) aa).
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gen gebunden und abweichende Urteile daher möglich, obgleich diese auf rein nationaler Ebene im Urteilsstaat ausgeschlossen wären. Die Wirkungserstreckung verhindert Situationen wie diese, weil sich hier auch nach der Anerkennung die Rechtskraft an der Reichweite im Urteilsstaat orientiert.
(2) Relativierung Das Verfahren im Anerkennungsstaat wird von einer möglichen Wirkungsbeschneidung weniger beeinflusst: Ob die Rechtskraft nämlich schon in geringerem Umfang „losgeschickt“ oder erst „unterwegs“ verkürzt wird, ist für die Auswirkungen im Anerkennungsstaat ohne Belang. Denn wenn die Rechtskraft im Urteilsstaat eng gezogen wird und infolge der Wirkungserstreckung auch im Anerkennungsstaat eng zu sein hat, sind dort ebenso viele weitere, gegebenenfalls abweichende Urteile möglich, wie wenn die Rechtskraft durch einen engen autonomen Rechtskraftbegriff beschnitten würde. Mit anderen Worten: Das abstrakte Risiko materiellrechtlich widersprüchlicher Entscheidungen, das durch einen engen autonomen Rechtskraftbegriff im Anerkennungsstaat generiert würde, ist dasselbe Risiko, das innerhalb derjenigen Mitgliedstaaten mit enger Rechtskraft auf nationaler Ebene bereits heute besteht und auch im Rahmen der Wirkungserstreckung enger Rechtskraftgrenzen in Kauf genommen wird. Gleichwohl kann sich die Anwendung eines engen europäischen Rechtskraftbegriffes innerhalb der EuGVVO bei späterer Anerkennung der weiteren Entscheidung im ursprünglichen Urteilsstaat negativ auswirken.65
cc) Rechtsvereinheitlichung (1) Als Argument für die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes In der Literatur wird für die Anwendung eines europäischen Rechtskraftbegriffes angeführt, dass sie ein weiterer Schritt zur Rechtsvereinheitlichung in Europa sei und zudem Rechtszersplitterung verhindere.66 Richtig ist dies, wenn man seine Sichtweise auf die Einheitlichkeit der durch den europäischen Rechtskraftbegriff nach Anerkennung eintretenden Rechtskraftwirkungen beschränkt. Für diesen Bereich führt die Anwendung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes innerhalb der EuGVVO in der Tat zu einer Vereinheitlichung.
(2) Als Argument für die Beibehaltung der Wirkungserstreckung Solange jedoch nicht auch das Erkenntnisverfahren (dem europäischen Rechtskraftbegriff ) angepasst würde, bewirkte die Anwendung eines europäischen 65 66
Hierzu sogl. unten vierter Teil, A. II. 5. d) cc). So etwa Bach, EuZW 2013, 56, 59.
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Vierter Teil: Übertragung der Ergebnisse auf die europäische Ebene
Rechtskraftbegriffes im Anerkennungsrecht nur vordergründig eine Rechtsvereinheitlichung.67 Denn immer dann, wenn sich nationaler und europäischeinheitlicher Rechtskraftbegriff unterscheiden, provozierte die Anerkennung Diskrepanzen zwischen der Rechtskraftreichweite im Urteilsstaat und derjenigen im Anerkennungsstaat und führte daher gerade nicht zu einer Vereinheitlichung.68
c) Vorteile eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes – Nachteile der Wirkungserstreckung aa) Wegfall der Prüfung des Rechtskraftumfangs durch das Anerkennungsgericht Im Verlauf der Bearbeitung wurde erkennbar, wie uneindeutig die Abgrenzung zwischen rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Vorfragen anhand materieller Kriterien in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen sein kann. Die Wirkungserstreckung transportiert diese Probleme in den anerkennenden Mitgliedstaat. Dort sind nachfolgende – in aller Regel mit dem materiellen Recht des Urteilsstaates nicht vertraute – Gerichte dann gezwungen, aus den – in aller Regel nicht von vornherein ausreichenden – Akten, die Rechtskraftreichweite des anzuerkennenden Urteils zu ermitteln.69 Bei Geltung eines engen autonomen Rechtskraftbegriffes würde die Reichweite der Rechtskraft des Urteils durch die Anerkennung einheitlich auf den Tenor des Urteils begrenzt. Die Gerichte im Anerkennungsstaat müssten dann keine weiteren (wegen der fehlenden Rechtskundigkeit fehleranfälligen) Prüfungen vornehmen. Der Wegfall der aufwendigen70 und schwierigen Ermittlung (weiter) ausländischer Rechtskraftgrenzen im Rahmen der Anerkennung und die auf diesem Weg erreichte Verfahrensvereinfachung sprechen daher für die Anwendung eines einheitlichen, engen europäischen Rechtskraftbegriffes.71
67 Dahingehend auch Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289; zur Erforderlichkeit der Abstimmung zwischen nationalem und europäischem Rechtskraftbegriff auch Zeuner, FS Kerameus (2009), 1587, 1596. 68 Hierzu auch Zeuner, FS Kerameus (2009), 1587, 1596. 69 Kritisch auch unter dem Aspekt fehlender Sprachkenntnisse Althammer/Tolani, ZZPInt 2014, 227, 246; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 643; Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934. 70 Ebenso Dickinson/Lein/Franzina, Brussels I, Art. 36, Rn. 13.44 f. unter Verweis auf OGH 6 Ob 247/12k. 71 Als (generelles) Argument für einen einheitlichen Rechtskraftbegriff sieht den Wegfall der Rechtskraftprüfung auch Bach, EuZW 2013, 56, 59; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 19 gehen von einer wesentlichen Anwendungserleichterung der EuGVVO durch einen einheitlichen Rechtskraftbegriff aus.
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d) Nachteile eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes – Vorteile der Wirkungserstreckung aa) Entkopplung von Verfahrensrecht und Rechtskraftreichweite – Vertrauensschutz Es ist darauf hingewiesen worden, dass die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens mit dem Umfang der durch die Rechtskraft eintretenden Bindungswirkung korreliert und die Aufhebung dieses Zusammenhangs – insbesondere bei der Annahme eines weiten europäischen Rechtskraftbegriffes und der hierdurch entstehenden Gefahr einer „Wirkungserweiterung“ – ernsthafte Konsequenzen für die Parteien haben kann.72 Auch wenn ein enger europäischer Rechtskraftbegriff zu weniger einschneidenden Friktionen führt und infolgedessen auch weniger grundsätzlichen Vorbehalten begegnet,73 ist die Entkoppelung von Verfahrensrecht im Urteilsstaat und europäischer Rechtskraftreichweite im Anerkennungsstaat auch ein Argument gegen die Einführung eines engen europäischen Rechtskraftbegriffes im Anerkennungsrecht.74 Denn auch wenn die Rechtskraftwirkungen beschnitten werden, wird das Vertrauen der Parteien in die Aufrechterhaltung der Urteilsfolgen beeinträchtigt.75 Nur die Wirkungserstreckung gewährleistet konsequent die Aufrechterhaltung des inneren Zusammenhangs zwischen der lex fori im Ursprungsstaat und der Reichweite der Rechtskraft des anerkannten Urteils im Anerkennungsstaat.
bb) Unterschiedliche Statute für positive und negative Wirkung der Rechtskraft Die hier untersuchte Frage, ob ein potentieller europäischer Rechtskraftbegriff im Anwendungsbereich der EuGVVO auf den Tenor beschränkt sein oder auch bestimmte Gründe umfassen sollte, betrifft (ausschließlich) die positive Wirkungsrichtung der materiellen Rechtskraft. Für die negative Wirkungsrichtung der materiellen Rechtskraft steckt hingegen der jeweilige Streitgegenstandsbegriff den zu sperrenden Bereich ab. Hieran würde sich auch nichts ändern, wenn die positive Wirkung zivilgerichtlicher Urteile durch die Anerkennung nach der EuGVVO europäisch autonom definiert würde. Wie oben gezeigt, 72 So auch Bach, EuZW 2013, 56, 58 f.; Lenenbach, Unvereinbarkeiten, S. 138 f.; Roth, IPRax 2014, 136, 13. 73 So auch Koops, IPRax 2018, 11, 20: „Die Systematik der EuGVVO spricht gegen den autonomen Rechtskraftbegriff des EuGH, doch nicht in seiner Eigenschaft als autonomer Begriff, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft als weiter Rechtskraftbegriff.“ 74 So Koops, IPRax 2018, 11, 20 f.; Peiffer, Grenzüberschreitende Titelgeltung, Rn. 289; Geimer/Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 14. 75 Dahingehend auch Geimer/ Schütze/E. Peiffer/M. Peiffer, Internationaler Rechtsverkehr, Brüssel Ia (Nr. 538), EL 52, 2017, Art. 36, Rn. 14 („[…] andere oder weitergehende Wirkungen […].“).
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eignet sich der für die Rechtshängigkeit entwickelte Streitgegenstandsbegriff des EuGH nicht für eine Übertragung und Anwendung im Rahmen der Rechtskraft.76 Für die Ausschlusswirkung wäre daher weiterhin der nationale Streitgegenstandsbegriff des Urteilsstaates maßgeblich, während die positive Wirkung der Rechtskraft dann autonom zu bestimmen wäre. Bei Anwendung eines einheitlich (engen) Rechtskraftbegriffes ohne Existenz und Anwendung eines einheitlichen Streitgegenstandsbegriffes unterlägen die unterschiedlichen Wirkungsrichtungen der Rechtskraft deshalb verschiedenen Statuten. Bei Geltung der Wirkungserstreckung werden Aufspaltungen wie diese hingegen konsequent vermieden.
cc) Provokation unvereinbarer Entscheidungen? Die Wirkungsbeschneidung kann dazu führen, dass die Rechtskraftreichweite ein und desselben Urteils auf nationaler Ebene weiterreicht als nach Grenzüberschreitung und Anerkennung auf internationaler Ebene. Dieser Umstand kann erhebliche Schwierigkeiten provozieren, wenn eine – durch die Verkürzung der Rechtskraft im Rahmen der Anerkennung möglich gewordene – (abweichende) Entscheidung im Anerkennungsstaat später wieder im ursprünglichen Urteilsstaat anerkannt werden sollte. Wenn etwa ein in Spanien ergangenes Zahlungsurteil durch Anerkennung und Zugrundelegung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes um die (im nationalen Recht rechtskräftige) Feststellung der Wirksamkeit des Kaufvertrages verkürzt würde, könnte in Deutschland ein weiteres Urteil ergehen, in dem eben dieser Kaufvertrag für unwirksam gehalten wird. Wenn dieses (das deutsche Urteil) nun wiederum in Spanien anerkannt werden sollte, stellt sich die Frage, ob es mit dem ursprünglichen Urteil im Sinne des Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO vereinbar ist. Wie oben dargestellt wurde, sind die genauen Voraussetzungen und Konturen der Unvereinbarkeit bis heute unklar und umstritten.77 Zumindest nach den Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Gubisch/Palumbo scheint die Versagung der Anerkennung in einem Fall wie dem im Beispiel jedoch wahrscheinlich.78 Folgte man dem und verstünde das Kriterium der Unvereinbarkeit in der Weise, dass auch schon die unterschiedliche Beantwortung von Vorfragen zur Unvereinbarkeit führte,79 würde die Anerkennung im Beispielfall versagt und die Freizügigkeit von Ur76
Oben zweiter Teil, B. III. 3. f ) bb) (2) (a). Siehe oben zweiter Teil, B. III. 4. a). 78 „[…] zweifellos würde die Anerkennung einer in einem Vertragsstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung, durch die die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrages ausgesprochen wird, im ersuchten Staat abgelehnt, wenn eine Entscheidung eines Gerichts dieses Staates vorläge, die die Unwirksamkeit oder die Auflösung desselben Vertrages ausspricht.“, EuGH, Rs. 144/86 („Gubisch/Palumbo“), Slg. 1987, 4871, Rz. 18. 79 Dahingehend der EuGH in Gubisch/Palumbo; ebenso MüKo/Gottwald, ZPO, 5. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO, Rn. 46; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 163; a. A. Stamm, ZZP 2016, 25, 53. 77
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teilen durch Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes damit generell erschwert werden. Dies stellt ein gewichtiges Argument gegen einen einheitlich engen Rechtskraftbegriff und für die Beibehaltung der Wirkungserstreckung dar.
III. Ergebnis Weder die Wirkungserstreckung noch die Anwendung eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes stellen Lösungen ohne Folgeprobleme oder Bedenken dar. Ein erheblicher Nachteil der Wirkungserstreckung und damit wichtiges Argument für einen einheitlichen, engen Rechtskraftbegriff ist das Erfordernis beziehungsweise der Wegfall der Ermittlung der Rechtskraftreichweite des anzuerkennenden Urteiles durch das Anerkennungsgericht, weil dieses im Regelfall weder über die erforderliche Rechtskenntnis noch über die erforderlichen Informationen verfügen wird. Aufgrund der zu befürchtenden Nachteile eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes im Hinblick auf die Entkopplung von Verfahrensrecht und Rechtskraft und insbesondere die Provokation unvereinbarer und deshalb nicht anerkennungsfähiger Entscheidungen ist gleichwohl auch weiterhin an der Wirkungserstreckung festzuhalten. Zum einen garantiert nur die Wirkungserstreckung den Gleichlauf von Verfahren und Rechtskraftreichweite. Zum anderen führte die Anwendung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes zu zahlreichen Folgeproblemen und Disharmonien, auf die das europäische Recht bislang keine einheitlichen Antworten bereithält und vermutlich auch in näherer Zukunft nicht bereithalten wird. Während die Wirkungserstreckung also zumindest auf eine (nationale) Rechtsordnung verweist, in der – wenngleich diese im Einzelfall kompliziert sein mögen – Lösungen für die bestehenden Probleme existieren, bedeutete die Zugrundelegung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes zum aktuellen Zeitpunkt einen Verweis ins Ungewisse oder gar Leere. Trotz des identifizierten Defizits der Wirkungserstreckung (Prüfung des positiven Rechtskraftumfangs durch das Anerkennungsgericht) ist die Wirkungserstreckung der Anwendung eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes daher überlegen. Dies gilt vor allem, wenn man erkennt, dass einige der von der Wirkungserstreckung aufgeworfenen Probleme de lege ferenda auch anderweitig zufriedenstellend gelöst werden könnten.
IV. Mögliche Lösung de lege ferenda – Ergänzung der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I Die Prüfung des Rechtskraftumfanges eines ausländischen Urteils kann schwierig, zeitintensiv und teuer sein, weil das Anerkennungsgericht – wie oben bereits näher ausgeführt – in aller Regel weder mit dem formellen, noch mit dem
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Vierter Teil: Übertragung der Ergebnisse auf die europäische Ebene
materiellen ausländischen Recht vertraut sein und insofern auf ein Gutachten zurückgreifen müssen wird.80 Zur Beurteilung der positiven Rechtskraftwirkungen des in Rede stehenden Urteiles wäre das Ursprungsgericht wesentlich besser in der Lage.81 Dieses ist in jedem Fall mit dem Sachverhalt und dem Verfahrensrecht vertraut und wird, sofern der Rechtsstreit nicht ausländischem Recht unterlag, auch das materielle Recht beherrschen. Die Identifikation etwaiger rechtskräftiger Entscheidungsbestandteile dürfte dem Ursprungsgericht insofern deutlich leichter fallen als einem nachfolgenden Gericht innerhalb eines anderen Mitgliedstaates. Dies gilt auch ungeachtet dessen, dass die Bescheinigung funktionell teilweise nicht von demjenigen Spruchkörper ausgestellt wird, der die Entscheidung selbst getroffen hat.82 Denn auch die nach der lex fori des Ursprungsstaates funktionell zuständige Stelle wird das im Ursprungsstaat geltende materielle und prozessuale Recht in aller Regel besser beherrschen, als ein ausländisches Zweitgericht. Es wäre deshalb nicht nur im Hinblick auf Zeit und Kosten (in nachfolgenden Verfahren), sondern auch hinsichtlich der Richtigkeit der Feststellung des Rechtskraftumfanges sinnvoller, letztere dem Ursprungsgericht zu überlassen.
1. Konkrete Frage nach rechtskräftigen Entscheidungsbestandteilen neben dem Tenor innerhalb der Bescheinigung Hierzu sollte die Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I um einen weiteren Punkt ergänzt werden, in dem nach rechtskräftigen Feststellungen neben dem Tenor gefragt wird. Da diese Bescheinigung vom Ursprungsgericht ausgestellt wird, würde die Rechtskraftreichweite nach dieser Lösung von demjenigen Gericht beurteilt, das hierzu von allen in Rede stehenden Gerichten am besten geeignet ist. Um eine praxistaugliche Handhabung zu ermöglichen, sollte – wie auch sonst im Rahmen der Bescheinigung – soweit wie möglich mit Kästchen zum Ankreuzen gearbeitet werden. Der (neu einzufügenden) Frage, ob neben dem Tenor noch weitere Feststellungen in Rechtskraft erwachsen sind, sollten deshalb ein Kästchen mit „Ja“ und ein Kästchen 80 So auch Dickinson/Lein/Franzina, Brussels I, Art. 36, Rn. 13.44 f.; vgl. auch OGH 6 Ob 247/12k als Beleg dafür, dass für die Ermittlung der ausländischen Rechtskraftreichweite oftmals (kostenintensive) Gutachten erforderlich sind. 81 Im Hinblick auf die Feststellung der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung betont dies auch der EuGH selbst, EuGH, Rs. C-579/17 („BUAK“), Rn. 40: „Im Übrigen wird nach der Systematik der Verordnung Nr. 1215/2012 die Ausstellung der Bescheinigung dem Gericht übertragen, das mit dem Rechtsstreit am besten vertraut und in der Sache am ehesten in der Lage ist, die Vollstreckbarkeit der Entscheidung zu bestätigen.“ 82 So ist etwa in Deutschland nach § 1110 ZPO i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 11 RPflG i. d. R. der Rechtspfleger für die Ausstellung der Bescheinigung zuständig. Vgl. bereits zur Übertragung des Vollstreckbarerklärungsverfahrens unter Geltung der EuGVVO a. F. auf „nicht-richterliche Justizpersonen“ aus rechtsvergleichender Sicht Hess/Bittmann, IPRax 2007, 277, 279 f.
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mit „Nein“ nachfolgen. So wäre mit einem Blick (und ohne Übersetzung) zumindest erkennbar, ob weitere Feststellungen von der Rechtskraft erfasst sind oder nicht. Ist die Frage mit „Nein“ beantwortet, sollte das den Schluss darauf zulassen, dass neben dem Tenor keine weiteren rechtskräftigen Feststellungen bestehen. Sieht die lex fori hingegen vor, dass bestimmte Tatbestandsmerkmale oder sonstige Feststellungen eigenständig in Rechtskraft erwachsen, hilft die Antwort „Ja“ freilich nur bedingt weiter.83 Deshalb sollten in einem Unterpunkt unter dem Kästchen mit dem Kreuzchen mit „Ja“ (möglichst) alle positiv rechtskräftigen Bestandteile der Entscheidung vom Ursprungsgericht aufgeführt und (zumindest in Form kurzer Stichworte) explizit benannt werden. Wenn also etwa in einem Rechtsstreit vor spanischen Gerichten neben der rechtskräftigen Feststellung des Zahlungsanspruches nach dortigem Recht auch das Bestehen des zugrundeliegenden Kaufvertrages in Rechtskraft erwüchse, sollte die rechtskräftige Feststellung des Kaufvertrages aus der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I hervorgehen. Auf diese Weise wären die jeweiligen Bestandteile der Rechtskraft von jedem nachfolgenden Gericht unschwer erkennbar und dieses dadurch wesentlich besser in der Lage, abzuschätzen, ob und inwieweit es Rechtskraftwirkungen des ausländischen Urteiles innerhalb der eigenen Entscheidung zu berücksichtigen hat. Möglicherweise ließen sich nach einiger Zeit und einer Untersuchung und Auswertung der von den Gerichten regelmäßig und wiederkehrend aufgeführten rechtskräftigen Bestandteile neben dem Tenor sogar bestimmte Fallgruppen bilden und insofern auch hier (teilweise) eine Beantwortung mit Kästchen und Kreuzchen entwickeln.84
2. Indikative Wirkung der zusätzlichen Angaben des Ursprungsgerichts Der eben gemachte Vorschlag wirft freilich die Folgefrage auf, welche Wirkung den vom Ursprungsgericht zur Reichweite der Rechtskraft gemachten Ausführungen konkret zukommen soll. Hier dürfte es Zielsetzung und Wesen der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I sowie Rechtschutzaspekten wohl besser entsprechen, wenn die vom Ursprungsgericht gemachten Ausführungen zur Rechtskraft indikativ bzw. deklaratorisch sind und das nachfolgende Gericht nicht abschließend binden. 83 Gleichwohl hätte die bloße Antwort „Ja“ zumindest eine gewisse „Warnfunktion“, die das Anerkennungsgericht darauf aufmerksam machen würde, dass rechtskräftige Feststellungen neben dem Tenor bestehen und zu identifizieren sind. 84 Häufige Fälle rechtskräftiger Feststellungen neben dem Tenor dürften insofern etwa das dem Anspruch zugrundeliegende Vertragsverhältnis oder das Eigentum an der streitbefangenen Sache sein. Da die konkret rechtskräftigen Feststellungen neben dem Tenor aber maßgeblich von den Tatbestandsvoraussetzungen der lex causae abhängig sind, wird die Prognostizierung und insofern die Bildung solcher Fallgruppen, die gleichzeitig so konkret und allgemeingültig sind, als dass sie mit Kästchen und Kreuzchen handhabbar wären, zum jetzigen Zeitpunkt maßgeblich erschwert.
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Ziel der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I ist es, das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren zu vereinfachen.85 Sie soll dem Gericht im Zweitstaat das Verständnis der Entscheidung erleichtern und weist dabei lediglich deklaratorisch und nicht konstitutiv aus.86 Die in der Bescheinigung getroffenen Aussagen haben keinen „Rechtsprechungscharakter“87 und die Bescheinigung verbürgt auch nicht deren Richtigkeit88, diese wird lediglich vermutet89. Eine echte Bindung des Zweitgerichts an de lege ferenda im Rahmen der Bescheinigung gemachte Ausführungen zur positiven Reichweite der Rechtskraft wäre daher nicht nur theoretisch schwierig zu begründen, sondern würde wohl auch praktisch das Verfahren überfrachten. Eine rein indikative Wirkung der Feststellungen zur Reichweite der Rechtskraft wahrt deshalb nicht nur das bisherige Verständnis von Natur und Aufgabe der Bescheinigung, sondern überdies auch wichtige Rechtschutzinteressen des Verfahrensgegners. Der Partei, die in einem Rechtstreit mit anzuerkennenden Rechtskraftwirkungen aus einem früheren, im Ausland durchgeführten Verfahren konfrontiert wird, bleibt bei nicht bindenden Feststellungen in der Bescheinigung die Möglichkeit offen, den Ausführungen des Ursprungsgerichts zu widersprechen und das Zweitgericht vom Gegenteil zu überzeugen. Umgekehrt ist jedoch zu erwarten, dass die Angaben des Ursprungsgerichts zur Rechtskraftreichweite auch trotz fehlender Bindungswirkung eine willkommene Hilfestellung für das Zweitgericht darstellen, auf deren Grundlage es die Vorgaben für seine eigene Entscheidung besser beurteilen kann. Insgesamt würde durch die vorgeschlagene Ergänzung der Bescheinigung wohl auch der Blick und das Bewusstsein der mitgliedstaatlichen Gerichte für ausländische – gleichwohl aber das inländische Verfahren betreffende – Rechtskraftwirkungen geschärft. Dies – so steht es zu hoffen – könnte auf lange Sicht auch Unvereinbarkeiten vorbeugen und damit letztlich die mit der EuGVVO angestrebte Urteilsfreizügigkeit90 positiv beeinflussen.
3. Aufwand-Ertrags-Verhältnis; (kein) zusätzliches Antragserfordernis Zwar ist richtig, dass die hier vorgeschlagene Ergänzung der Bescheinigung das Ursprungsgericht zu Aussagen zwingt, die nicht immer erforderlich sein werden 85 So schon die Begründung des Kommissionsentwurfs zur EuGVVO a. F., KOM (1999) 348, 26 zu Art. 50 und 51; Rauscher/Staudinger, EuZPR, 4. Aufl., Art. 53 Brüssel Ia-VO, Rn. 1; Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 53 Brüssel Ia-VO, Rn. 2; Mankowski, LMK 2019, 421930. 86 Mankowski, LMK 2019, 421930; Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-579/17 („BUAK“), 2018, Nr. 45. 87 Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu EuGH, Rs. C-579/17 („BUAK“), 2018, Nr. 49. 88 Rauscher/Staudinger, EuZPR, 4. Aufl., Art. 53 Brüssel Ia-VO, Rn. 2. 89 Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 53 Brüssel Ia-VO, Rn. 39. 90 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 6 der EuGVVO.
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und deshalb insoweit prophylaktisch erfolgen. Wird der Umfang der Rechtskraft später schlicht nicht mehr relevant, hätte das Ursprungsgericht „umsonst“ Ressourcen verbraucht. Dies gilt zum einen aber ebenfalls für die „Kurzdarstellung des Streitgegenstandes“91. Zum anderen ist auch damit zu rechnen, dass der für das Ursprungsgericht erforderliche (Mehr-)Aufwand so gering sein wird, dass für eine positive Gesamtbilanz dieser Regelung aus wirtschaftlicher Sicht selbst wenige Fälle ausreichen würden, in denen die Reichweite der Rechtskraft später entscheidend und andernfalls ein Gutachten erforderlich würde. Im Bestreben, prophylaktischen Mehraufwand der Ursprungsgerichte zu reduzieren, ließe sich auch darüber nachdenken, die Angaben zu den hier vorgeschlagenen Ergänzungen der Bescheinigung unter ein (zusätzliches) Antragserfordernis zu stellen. Hiernach würde der Berechtigte in seinem Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung zusätzlich beantragen können bzw. müssen, dass auch die Fragen zur Rechtskraft beantwortet werden. Hiergegen steht jedoch zum einen zu befürchten, dass die mit einem zusätzlichen Antragserfordernis theoretisch angestrebte Aufwandsreduzierung praktisch nicht häufig eintreten wird, weil der Antragsteller (ex ante) vielfach noch gar nicht abschätzen können wird, ob er die (Ausführungen zur) Rechtskraft der anzuerkennenden Entscheidung in einem späteren Verfahren noch „brauchen“ wird und deshalb die Angaben eben „prophylaktisch mitbeantragt“. Zum anderen entstünde auch die Gefahr, dass (gut informierte) Antragssteller bewusst auf einen solchen Antrag verzichten, um – für sie ungünstige – Ausführungen des Ursprungsgerichts zur Rechtskraftreichweite zu „verhindern“. Nach alledem scheint es nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Bedeutung der Rechtskraft und das Interesse an materiell-rechtlich richtigen Entscheidungen vorzugswürdig, die Angaben zur Rechtskraft nicht von einem zusätzlichen Antrag des Berechtigten abhängig zu machen, sondern die Fragen hierzu so in die Bescheinigung zu integrieren, dass sie vom Ursprungsgericht im Rahmen der Ausstellung der Bescheinigung obligatorisch zu beantworten sind – auch wenn hierdurch teilweise ein Mehraufwand provoziert wird, der sich später (ex post) als nicht erforderlich herausstellen kann.
4. Zusammenfassung Im Anschluss an obige Ausführungen sollte für die Anerkennung nach der EuGVVO weiterhin an der Wirkungserstreckung festgehalten werden und die Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO de lege ferenda um explizite Fragen nach positiven Rechtskraftwirkungen in der eben dargestellten Form ergänzt werden. Die Beantwortung der Fragen sollte für das Ursprungsgericht obligatorisch 91 Ziffer 4.6.1.1. Beispiel bei Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO Bd. 13/2, 4. Aufl., Art. 53 Brüssel Ia-VO, Rn. 33, Fn. 75.
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sein, während die Antwort des Ursprungsgerichts für das Zweitgericht nicht bindend, sondern rein indikativ sein sollte. Gewichtige Vorteile eines einheitlichen, engen Rechtskraftbegriffes (Wegfall der Rechtskraftprüfung im Anerkennungsstaat) würden hiernach nicht auf Kosten, sondern unter Erhalt der Vorteile der Wirkungserstreckung (Erhalt des Zusammenhangs zwischen Verfahrensrecht und Rechtskraftreichweite) erreicht. Zudem erscheinen auch die gesetzgeberischen und rechtspolitischen Hürden für eine Änderung der Bescheinigung aus Anhang I um ein vielfaches geringer als für die Formulierung eines europaweiten Rechtskraftkonzeptes im Anwendungsbereich der EuGVVO.
B. Rechtskraftbegriff innerhalb europäischer Gesamtsysteme und vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb des ELI/UNIDROIT Projektes „From Transnational Principles to European Rules of Civil Procedure“ I. Zwingende Erforderlichkeit Die Frage nach der (zwingenden) Erforderlichkeit eines Rechtskraftbegriffes innerhalb abstrakter Überlegungen zur Schaffung eines europäischen Gesamtprozesssystems ist ebenso schnell beantwortet wie für die EuGVVO: Die Erarbeitung eines Rechtskraftkonzeptes ist hier schon für die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zwingend erforderlich. Fraglich ist insofern nur, welche Reichweite der Rechtskraftbegriff eines europäischen Modellprozessrechtes haben sollte.
II. Reichweite Für Überlegungen zur Reichweite der materiellen Rechtskraft innerhalb europäischer Gesamtsysteme gelten im Wesentlichen diejenigen generellen Argumente, die aus dem Rechtsvergleich gewonnen und oben abgewogen worden sind. Die Gefahr unklarer Voraussetzungen für die Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen und damit insgesamt einer unklaren Rechtskraftreichweite erhöht sich, je zahlreicher und unterschiedlicher die verschiedenen Vorschläge zu geeigneten Kriterien sind. Infolgedessen erscheint diese Gefahr auf europäischer Ebene noch größer als bereits innerhalb der nationalen Rechtsordnungen. Wann immer die Rechtskraft unter bestimmten materiellrechtlich orientierten Kriterien über den Tenor hinaus ausgedehnt werden soll, ist zwangsläufig die Kenntnis der lex causae erforderlich, um die rechtskräftigen Urteilsbestandteile zu identifizieren. Dieser Umstand führt bei der Grenzüberschreitung von Urteilen oft zu Schwierigkeiten, weil beim Anerkennungsgericht in aller Regel keine Kenntnisse vom materiellen Recht im Urteilsstaat zu erwarten sind. Daran än-
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derte sich auch dann nichts, wenn im Zuge einer Orientierung an einem europäischen Modellgesetz plötzlich in jedem Mitgliedstaat derselbe weite Rechtskraftbegriff gälte. Nicht nur deshalb sollte sich die Rechtskraft innerhalb europäischer Gesamtsysteme auf den Tenor beschränken. Die enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft auf den Tenor ist auch nicht nur „der kleinste gemeinsame Nenner“92, sondern das überzeugendere, weil weniger praktische Probleme aufwerfende und daher mehr Rechtssicherheit bietende Konzept. Dieses Ergebnis wird auch durch den Umstand gestützt, dass bereits zahlreiche Rechtsordnungen in Europa ihre Rechtskraft eng begrenzen.93 Die Nachteile einer engen Begrenzung können außerdem auch ohne größere Schwierigkeiten ausgeglichen werden: Weil im Rahmen (neu zu entwickelnder) Gesamtkonzepte nämlich durchaus über die Implementierung einer Zwischenfeststellungsklage nachgedacht werden kann (und sollte), empfiehlt sich eine Kombination aus der Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor und Zwischenfeststellungsklage. Die (fakultative) Möglichkeit der Parteien, die Rechtskraft auf bestimmte Vorfragenentscheidungen zu erstrecken, ergänzt die enge Rechtskraft um die Vorteile einer (generell) weitreichenden Rechtskraft unter Erhalt ihrer wichtigsten Vorteile. Eine rechtsvergleichende Arbeit zur Beantwortung von Fragen auf europäischer Ebene, die im Ergebnis dieselbe Lösung wie im Heimatrecht des Verfassers vorschlägt, setzt sich dem Vorwurf aus, sie wolle schlicht das „Heimatmodell“ „in die Welt tragen“. Diesem Vorwurf ist allerdings schon entgegenzuhalten, dass die vorgeschlagene enge Begrenzung der materiellen Rechtskraft nicht nur die Lösung aus dem Heimatrecht des Verfassers, sondern (inzwischen) auch die Lösung von mindestens drei weiteren wichtigen Rechtsordnungen der Europäischen Union darstellt. Neben diesem „quantitativen“ Argument sind es jedoch zuvorderst qualitative Erwägungen, die belegen, dass eine Beschränkung der materiellen Rechtskraft auf den Tenor unter Ausschluss der Entscheidungsgründe in Kombination mit dem Institut der Zwischenfeststellungsklage die zu bevorzugende Lösung auf europäischer Ebene ist.
92 So Stürner, FS Schütze (1999), 913, 934. 93 Dahingehend auch die Ausführungen
von Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 90 ff. sowie von Ritter, ZZP 1974, 138, 138 ff. zu weiteren Rechtsordnungen (nach damaliger Rechtslage).
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Vierter Teil: Übertragung der Ergebnisse auf die europäische Ebene
III. Vorläufige Bewertung der Rechtskraftregeln innerhalb der ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure Die Rechtskraft innerhalb der ELI/UNIDROIT European Principles of Civil Procedure erstreckt sich unter bestimmten Voraussetzungen94 auch auf inzidente Vorfragenentscheidungen und geht damit – das belegt nun der obige Rechtsvergleich – weiter als einige wichtige Rechtsordnungen in Europa. In Anbetracht dessen kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass der gemachte Vorschlag im Bereich der Rechtskraft weder mit den (aktuellen) Konzeptionen Deutschlands oder Frankreichs noch Österreichs übereinstimmt. Der Final Draft verfolgt auch eine andere Lösung als diejenige, die innerhalb der vorliegenden Analyse entwickelt wurde. Gleichwohl sind viele der hier besprochenen und untersuchten Schwierigkeiten und Probleme auch innerhalb des ELI/UNIDROIT Projektes gesehen und bearbeitet worden, sodass der gemachte Vorschlag als bewusste und überzeugte Entscheidung gegen eine enge Rechtskraft in Kombination mit einer Zwischenfeststellungsklage gesehen werden kann und muss.95 Darüber hinaus kann aus dem Umstand, dass die Gefahr von Rechtsunsicherheit ausweislich der Comments während der Arbeit am Projekt erkannt wurde, auch geschlossen werden, dass die entwickelten Kriterien zur Identifizierung der rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile aus Sicht der Bearbeiter so rechtssicher und praktikabel sind, dass sie diese Bedenken zerstreuen und die Entscheidung für eine Rechtskraft bestimmter Urteilsgründe rechtfertigen.
1. Generelle Kritik an der vorgeschlagenen Reichweite Die Generelle Kritik an der vorgeschlagenen Reichweite speist sich aus der Analyse der nationalen Diskussionen und basiert im Wesentlichen auf den oben bereits ausgeführten Argumenten.
a) Prozessökonomie Der Final Draft geht davon aus, dass der gemachte Vorschlag zur Prozessökonomie beitragen wird, weil durch die „logische Ausdehnung“ der Rechtskraft („logical extension of res judicata“) spätere Prozesse verhindert werden könnten.96 Dass die Comments gleichzeitig aber auch betonen, dass der prozessökonomische Vorteil der Regelung nicht unumstritten ist,97 stützt insofern die 94
Vgl. hierzu bereits oben zweiter Teil, A. I. 2. a). Bei aller inhaltlichen Kritik muss freilich in Rechnung gestellt werden, dass es eine immense – und insofern wohl zwangsweise zu Kompromisslösungen und gewissen Unschärfen führende – Herausforderung darstellt, aus unterschiedlichen und teilweise konträren prozessualen Vorstellungen und Traditionen gemeinsame Prozessregeln zu entwickeln. 96 Comment Nr. 3 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 97 Deutlich noch Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Consolidated Draft (Blackletter rules & 95
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schon oben entwickelte These, dass sich aus der Prozessökonomie keine eindeutigen und vor allem verifizierbaren Argumente ableiten lassen.
b) Belange der Parteien – Überraschende Urteilsfolgen Ähnliches gilt für die Belange der Parteien und die Frage, ob beziehungsweise von was die Parteien nach Ende eines Prozesses mehr oder weniger überrascht werden. Der Vorschlag kommt diesen Bedenken insofern entgegen, als er eine debate oder zumindest die opportunity of a debate voraussetzt. Ein immer wieder bewerkstelligtes Argument gegen die Rechtskraft von Urteilsgründen ist seit jeher die Gefahr überraschender Folgen für die Parteien. Eine weitere Bindungswirkung könnte dazu führen, dass die Parteien in späteren Verfahren an Feststellungen gebunden sind, denen sie – aus verschiedenen Gründen – im vorausgegangen Prozess keine Bedeutung zugemessen haben. Wenn aber nun die Modellregeln für die Bindung an Vorfragenentscheidungen voraussetzen, dass eine tatsächliche Auseinandersetzung über den jeweiligen Punkt stattgefunden haben muss, erscheint die Gefahr, in späteren Verfahren „überrascht“ zu werden, zumindest verringert. Dass auch die Möglichkeit zum Streit ausreicht, verhindert auch die kuriose Situation, dass bei konsequentem Festhalten an der Erforderlichkeit einer tatsächlichen Debatte solche Vorfragenentscheidungen von der Rechtskraft ausgeschlossen wären, über die die Parteien deshalb nicht gestritten haben, weil sie sich darüber besonders einig waren. Denn es erschiene im Lichte der grundsätzlichen Bejahung einer Rechtskraft der Entscheidungsgründe besonders überraschend, gerade solche Vorfragenentscheidungen von der Rechtskraft auszuschließen. Wenn die Parteien etwa über Ansprüche aus einem Vertrag streiten, aber weder Abschluss noch Wirksamkeit des Vertrages bestreiten, dann würde die Vorfragenentscheidung „der Vertrag ist wirksam“ gerade nicht in Rechtskraft erwachsen, obwohl dies im Hinblick auf die Einigkeit der Parteien in dieser Frage wohl gerade besonders unproblematisch wäre.
c) Fortschreibung unrichtiger Urteile Es ist herausgestellt worden, dass die Ausdehnung der Rechtskraft auf bestimmte Vorfragenentscheidungen die Fortschreibung unrichtiger Urteile begünstigt, weil dem nachfolgenden Gericht keine abweichende Entscheidung gestattet wird. Dieses Risiko nimmt der Final Draft in Kauf und setzt sich daher den bereits oben geäußerten Bedenken aus. Comments), 27 July 2019: „This rule encountered skepticism of some members of the working group who doubt whether it contributes to procedural economy.“, abgeschwächt hingegen in Comment Nr. 3 des Final Draft (June 2020): „There may be some question whether this Rule may contribute to procedural economy.“
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d) Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Wesentliches Argument gegen eine Ausdehnung der Rechtskraft auf bestimmte Vorfragenentscheidungen und für eine enge Begrenzung in Verbindung mit dem Institut der Zwischenfeststellungsklage waren die Schwierigkeiten, belastbare Kriterien zu entwickeln, die den Normal- vom Ausnahmefall abgrenzen. Dieses Problem ist innerhalb des gemachten Vorschlages insofern entschärft, als es nicht – wie etwa in Deutschland oder Frankreich – um die partielle Erweiterung von de lege lata engen Rechtskraftgrenzen geht, sondern die Rechtskraftgrenzen insgesamt neu definiert werden. Der Normalfall ist also bereits die Ausdehnung der Rechtskraft auf bestimmte Vorfragenentscheidungen. Gleichwohl müssen die entwickelten Kriterien allerdings auch – völlig unabhängig davon, was Normal- und was Ausnahmefall ist, – in der Lage sein, eine zweifelsfreie Prognose des zu erwartenden Umfangs einer rechtskräftigen Entscheidung zu gewährleisten. Es ist insofern auch zu begrüßen, dass sich Vorschlag und Comments um eine möglichst genaue Formulierung verschiedener Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtskraft von Vorfragenentscheidungen bemühen. Fraglich bleibt jedoch, ob die aufgestellten Voraussetzungen die dargestellten Anforderungen erfüllen.
2. Konkrete Kritik an den aufgestellten Kriterien zur Identifikation der rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile Während positiv auffällt, dass sich der Vorschlag – im Gegensatz zu einigen nationalen Rechtsordnungen – überhaupt bemüht, die positive Reichweite der Rechtskraft gesetzlich festzulegen, ist dennoch zu kritisieren, dass sich nicht alle Voraussetzungen (insbesondere das Erfordernis eines Streits) aus dem Wortlaut der Norm ergeben. Da nicht alle der aufgestellten Kriterien gleichermaßen viel Bedenken hervorrufen, soll in aufsteigender Reihenfolge Stellung bezogen werden.
a) Legal issue Es ist zu erwarten, dass der Begriff des legal issue präzise genug gefasst und dessen Abgrenzung von factual issues und preliminary issues in vielen Fällen zu bewältigen ist. Unklar ist jedoch, was im Falle von sogenannten doppelrelevanten Tatsachen gilt. Wenn die Frage, ob ein Vertrag (wirksam) vorliegt, sowohl für die Bestimmung der Zuständigkeit („preliminary issue“) als auch innerhalb der Hauptsache („necessary and incidental legal issue“) relevant ist, scheint der Vorschlag (erst und nur) der zweiten – inzidenten Entscheidung innerhalb der Hauptsache – Rechtskraft zuzuschreiben. Sollte ein Gericht – wie etwa in der Rechtssache Gothaer98 – seine Zuständigkeit verneinen, weil es davon ausgeht, 98
Hierzu oben zweiter Teil, B. III. 1. b).
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ein in Rede stehender Vertrag sei nicht wirksam zustande gekommen, wäre ein nachfolgendes Gericht in der Lage, denselben Vertrag als wirksam anzusehen. Legte das Gericht dies einer hierauf aufbauenden Entscheidung in der Hauptsache zugrunde, erwüchse die Feststellung zur Wirksamkeit des Vertrages (erst und nur) hierdurch in Rechtskraft.
b) Explicit decision Auch die Frage, ob das Urteil eine explizite Entscheidung zur Vorfrage enthält, wird sich vergleichsweise verlässlich anhand des Urteilstextes beantworten lassen, da vom Gericht nach Rule 131 lit. f des Final Draft auch die rechtlichen und tatsächlichen Gründe („legal and factual grounds“) aufgeführt werden sollten. Das gilt allerdings nur, solange die Rechtskraft von vornherein auf solche Vorfragen beschränkt ist, deren Beantwortung im Urteil auch tatsächlich fixiert ist. Obwohl die umformulierten Comments hier möglicherweise auch eine andere Interpretation erlauben würden,99 sollte die Rechtskraft aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dringend auf im Urteil verschriftlichte Vorfragenentscheidungen beschränkt werden. Dies deckt sich auch mit dem Wortlaut der Norm, der eine „ausdrückliche“ („explicitly“ bzw. „expressément“) Entscheidung über die Vorfrage verlangt und mit den Ausführungen in Comment Nr. 3 des Final Draft, in denen von einer „explicit determination in the operative part or in the reasoning of a judgment“ die Rede ist.
c) Zuständigkeit des Gerichtes Aus dem Wortlaut des Zusatzes „where the court that gave the jugdment could decide those legal issues“ geht nicht eindeutig hervor, ob mit der hier geforderten Zuständigkeit die tatsächliche Hauptsache-Zuständigkeit oder eine hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit oder sogar das kumulative Vorliegen beider Zuständigkeiten gemeint ist. Der Umstand, dass sich der Zusatz auf „those legal issues“ bezieht, legt jedoch nahe, dass damit (nur) die zu Beginn des Absatzes 2 von Rule 149 des Final Draft explizit erwähnten „necessary and incidental legal issues“ gemeint 99 Wenn es nunmehr in Comment Nr. 2 des Final Draft (June 2020) heißt, „It would be easier to ascertain the precise material scope of res judicata if all incidental and necessary legal issues that have been decided by the court would be specified in the judgment“ und nicht mehr wie in Comment Nr. 2 zum Consolidated Draft „[…] in the operative part (decisum)“, stellt sich die Frage, ob hiermit gemeint ist, dass – vergleichbar mit der Figur der décision implicite im französischen Recht – auch solche incidental and necessary legal issues in Rechtskraft erwachsen können, die zwar vom Gericht angenommen wurden (bzw. worden sein mussten) aber gar keinen Niederschlag in der Urteilsfassung (also weder im Tenor noch in den Gründen) gefunden haben. Denn wenn betont wird, dass es einfacher wäre, die Rechtskraft zu bestimmen, wenn alle incidental and necessary legal issues im Urteil enthalten sind, klingt das, als sei es zwar schwierig, aber nicht unmöglich, auch nicht im Urteil verschriftlichen Erwägungen Rechtskraft zuzumessen.
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sind. Diese Lesart deckt sich auch mit den Ausführungen in den Comments, wo es heißt: „[…] means that the court would have had jurisdiction if the claim had been brought before it as a main claim in the proceedings“.100 Insofern scheint der Zusatz wohl nicht die tatsächliche Hauptsache-Zuständigkeit des inzident über die legal issues entscheidenden Gerichts, sondern eine hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit vorauszusetzen. Nach diesem Verständnis erwüchsen die inzident entschiedenen Vorfragen deshalb (nur) dann in Rechtskraft, wenn das entscheidende Gericht (aus einer ex post Perspektive)101 für die Entscheidung der Vorfrage als Hauptfrage hypothetisch zuständig gewesen wäre. Tatsächliche Hauptsache-Zuständigkeit und hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit wären hiernach unabhängig voneinander zu beurteilen und beeinflussten sich gegenseitig nicht. Die Zuständigkeit des Gerichts in der Hauptsache bedeutete daher nicht per se die Rechtskräftigkeit einer inzident mitgetroffenen Vorfragenentscheidung und umgekehrt könnte auch die Vorfragenentscheidung eines in der Hauptsache unzuständigen Gerichts später rechtskräftig sein. Dass die Hauptsache-Zuständigkeit nicht auf die hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit durchschlägt, ist auch insofern vorteilhaft, als das entscheidende Gericht regelmäßig nur seine HauptfragenZuständigkeit prüfen und im Blick haben wird, während es sich dagegen vermutlich nicht fragen wird, ob es für eine inzident zu entscheidende Vorfrage hypothetisch zuständig wäre, wenn diese als Hauptfrage vorgebracht worden wäre. Führt man dies konsequent fort, so wird sich auch in Fällen, in denen sich die Hauptsache-Zuständigkeit aus einer Vereinbarung zwischen den Parteien oder aus rügeloser Einlassung ergibt, für die Rechtskraft der inzident entschiedenen legal issues zunächst nichts ableiten lassen. Hier wäre gegebenenfalls zu fragen, ob die Zuständigkeitsvereinbarung auch eine hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit begründen könnte. Für die Fälle rügeloser Einlassung hinge es hingegen vom Zufall ab, ob sich die verklagte Partei gerade vor einem auch für die Vorfragenentscheidung hypothetisch zuständigen Gericht eingelassen hat oder nicht. Die Beispiele innerhalb der Comments machen deutlich, dass für die hypothetische Vorfragen-Zuständigkeit insbesondere die sachliche Zuständigkeit bestehen und der zutreffende Rechtsweg eröffnet sein muss.102 Nicht eindeutig ist jedoch, ob daneben auch die (hypothetische) internationale und örtliche Vorfragen-Zuständigkeit des inzident über die Vorfrage entscheidenden Gerichts für die spätere Rechtskraft des necessary and incidental legal issue erforder100
Comment Nr. 5 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). Die Frage, ob die inzident entschiedenen legal issues nun rechtskräftig geworden sind oder nicht, wird sich naturgemäß immer erst nach der Entscheidung in der Hauptsache (in späteren Prozessen) stellen. 102 Comment Nr. 5 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 101
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lich sind. Die verwendeten Begriffe „jurisdiction“ und „compétence“ sind zu allgemein, um hieraus belastbare Schlussfolgerungen ableiten zu können. Es ist jedoch naheliegend, dass es bei diesem Tatbestandsmerkmal hauptsächlich darum ging, eine „inhaltlich-fachliche“ Kompetenz des inzident über die Vorfrage entscheidenden Gerichts sicherzustellen, um zu verhindern, dass eine Vorfragenentscheidung in Rechtskraft erwächst, für deren (abschließende) Beurteilung dem (lediglich) inzident entscheidenden Gericht nach der maßgeblichen lex fori die „inhaltlich-fachliche Befugnis“ fehlt. Wenn dem so wäre, wären internationale und örtliche Zuständigkeit wohl nicht vorauszusetzen.
d) Debate or opportunity of a debate Rule 131 lit. f des Final Draft schreibt vor, dass die rechtlichen und tatsächlichen Gründe („legal and factual grounds“) im Urteil aufgeführt werden müssen. Da dies ausweislich der Comments (auch) dazu dienen soll, die Positionen der Parteien auszumachen und die Entscheidung zu verstehen,103 ist davon auszugehen, dass zumindest das Vorliegen einer Debatte aus dem Urteilstext entnommen werden kann. Weniger eindeutig ist die Frage zu beantworten, wie aus dem späteren Urteilstext auf die Möglichkeit einer Debatte geschlossen werden soll. Insbesondere ist unklar, wann die bloße Möglichkeit einer Diskussion über eine bestimmte Rechtsfrage nicht gegeben sein sollte. Grundvoraussetzung scheint hier lediglich zu sein, dass die Parteien überhaupt eine Position zu dem betroffenen issue haben. Denn auch wenn die Parteien innerhalb einer Frage dieselben Auffassungen vertreten, bestünde theoretisch die Möglichkeit – nur eben keine Notwendigkeit – einer Diskussion. Verneint man dies jedoch und setzt für die Möglichkeit einer Debatte (zusätzlich) voraus, dass die Meinungen der Parteien verschieden sind, dürfte es praktisch selten auf das Merkmal der Möglichkeit ankommen, da es wenig wahrscheinlich ist, dass die Parteien zwar unterschiedliche Auffassungen innerhalb einer entscheidenden Rechtsfrage haben, hierüber aber nicht streiten. Die erste Betrachtungsweise, wonach es lediglich darauf ankommt, dass die Parteien zum in Rede stehenden issue überhaupt eine Meinung hatten, erfüllt insofern auch schon das (vermutete) Ziel der Voraussetzung, die Parteien vor rechtskräftigen Urteilsfolgen zu schützen, die sie aufgrund des konkreten Prozessverlaufes nicht vorhergesehen haben oder vorhersehen konnten. Selbst wenn man (nur) darauf abstellt, ob die Parteien eine Position zur entschiedenen Vorfrage haben, ist sichergestellt, dass nichts in Rechtskraft erwächst, was nicht Bestandteil des Prozessstoffes und des damit korrelierenden Erwartungshorizonts der Parteien war. 103
Comment Nr. 7 zu lit. f von Rule 131 des Final Draft (June 2020).
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Gleichwohl ist fraglich, ob all das, was im Rahmen des Verfahrens „zur Sprache kam“ als debate verstanden werden kann.104 Es könnte insofern erforderlich sein, den Begriff debate wertend an der Intensität des Streites zu messen.105 Das wiederum wäre jedoch ein Opfer an die Rechtssicherheit, denn es ist kaum zu erwarten, dass von einer Vielzahl von Gerichten aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlicher Streitkultur in dieser Frage einheitliche Ergebnisse erzielt werden.106
e) Necessary and incidental Unter dem Aspekt der Rechtssicherheit ist insbesondere auch die „Kernvoraussetzung“ der Regel 149(2) des Final Draft kritisch zu bewerten. Hiernach sollen nur diejenigen Entscheidungen zu legal issues in Rechtskraft erwachsen, die „necessary and incidental“ waren. In den Comments wird versucht, diese Kriterien mit Beschreibungen wie „logically presupposed“, „logical antecedents“ und „necessary legal steps to the conclusion“ greifbarer zu machen.107 Gleichwohl helfen Umschreibungen wie diese nur bedingt weiter und erlauben (noch) keine präzise Abgrenzung, da in einem Urteil eigentlich ausschließlich notwendige („necessary“) Feststellungen enthalten sein sollten.108 Oben109 sind bereits verschiedene Ansätze zur Definition von „tragenden Gründen“ diskutiert worden. Viele der Vorschläge waren abzulehnen, weil sie mit der Grundentscheidung des (nationalen) Gesetzgebers, die Rechtskraft auf den Tenor zu beschränken, in Konflikt stehen. Ihre Durchführung wurde also insoweit erschwert, als sich die Ansätze von vornherein in einem eng begrenzten Feld von Ausnahmefällen bewegen (mussten), weil die Erstreckung der Rechtskraft auf alle (tragenden) Gründe den geltenden Gesetzen widersprach. Dasselbe Problem existiert innerhalb der Modellregeln nicht, weil hier die Rechtskraft von Gründen vom „Gesetzgeber“ generell vorgesehen und gestattet ist. Nichtsdestotrotz wirft auch der Vorschlag Fragen auf, die in verschiedenen Rechtsordnungen dazu geführt haben, die objektive Reichweite der materiellen Rechtskraft zu begrenzen.110 Denn auch wenn sich vorliegend nicht die Frage stellt, ob tragende Gründe in Rechtskraft erwachsen sollen, muss auch für den Vorschlag die Frage beantwortet werden, was tragende Gründe sind. 104 Kritisch zur Erforderlichkeit eines Streits als Voraussetzung für die Rechtskraft einer Vorfrage auch Oberhammer, JBl. 2000, 205, 216. 105 Vgl. zu verschiedenen Ansätzen innerhalb des spanischen Rechts, Stapf, Rechtskraftlehre, S. 330 ff. 106 Dies legen schon die allein in Spanien diskutieren verschiedenen Ansätze nahe, vgl. Stapf, Rechtskraftlehre, S. 330 ff. 107 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Final Draft (June 2020). 108 Deutlich auch Oberhammer, JBl. 2000, 205, 215. 109 Zum dt. Recht vgl. oben dritter Teil, A. II. und zum frz. Recht oben dritter Teil, B. III. 110 Siehe hierzu etwa die Entwicklung im frz. Recht (dritter Teil, B. III. 4.), im öst. Recht (dritter Teil, C. I. 3. b) bb)) und die Diskussionen vor Schaffung der ZPO (dritter Teil, A. I.).
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Insofern taucht auch erneut die Frage auf, wie viele Subsumtionsschlüsse die Rechtskraft erfassen soll. Mit anderen Worten: ob hiermit alle im Urteil enthaltenen Vorfragenentscheidungen in Rechtskraft erwachsen oder gegebenenfalls nur bis zu einem bestimmten – vom Vorschlag nicht genauer definierten – Punkt. Eine Erstreckung der Rechtskraft auf alle im Urteil entschiedenen Vorfragen würde die Reichweite und Schlagkraft eines unrichtigen Urteiles unangemessen weit ausdehnen und ist deshalb – wie auch oben111 – abzulehnen. Die Erstreckung der Rechtskraft auf alle geprüften und entschiedenen Tatbestandsmerkmale der angewandten Normen ist – trotz des Hinweises auf Folgeprobleme – hingegen bereits als denk- und durchführbar beschrieben worden.112 Diese Variante ist insbesondere für Rechtsordnungen, die mit gesetzlichen Anspruchsgrundlagen arbeiten, deshalb denkbar, weil sich hier (in der Regel) unmittelbar aus dem Gesetz auf die Tatbestandsmerkmale und somit den Rechtskraftumfang schließen lässt. Für Rechtsordnungen, die hingegen vielfach mit case law und nicht grundsätzlich mit abstrakten Kodifizierungen arbeiten, bestünden die dargestellten Probleme jedoch weiterhin. Sollte im Vorschlag eine Erstreckung der Rechtskraft auf geprüfte und entschiedene Tatbestandsmerkmale gemeint sein, so wäre eine Klarstellung – nicht innerhalb der Norm,113 aber zumindest innerhalb der Comments – hilfreich und wünschenswert gewesen. Neben diesen Schwierigkeiten – und völlig unabhängig davon, ob sich (weil tatsächlich die geprüften und entschiedenen Tatbestandsmerkmale gemeint sind) die Rechtskraft in zahlreichen Fällen aus der gesetzlichen Anspruchsgrundlage ableiten ließe – ist für die Identifikation der „necessary und incidental legal issues“ immer die Kenntnis der lex causae erforderlich. Um etwa einem französischen Urteil entnehmen zu können, welche issues für die conclusion logically presupposed waren, muss die Anspruchsgrundlage und deren Voraussetzungen im französischen Recht bekannt sein. Und hieraus speist sich ein wesentlicher Kritikpunkt: Solange das materielle Zivilrecht innerhalb der europäischen Nationalstaaten nicht vereinheitlich ist, zwingt der Ansatz in den ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure zu einer Untersuchung des ausländischen materiellen Rechts, um die Reichweite der Rechtskraft feststellen zu können. Nicht ohne Grund enthalten zumindest die Comments des Consolidated Draft insofern auch noch den Hinweis, dass die Rechtskraft leichter zu bestimmen wäre, wenn alle „necessary and incidental legal issues“ im Tenor auf111
Insb. oben dritter Teil, A. II. 3. Oben dritter Teil, A. II. 3. 113 Diese wäre bei einer wörtlichen Beschränkung auf geprüfte und entschiedene Tatbestandsmerkmale zu eng, weil für Rechtsordnungen, die (teilweise) ohne kodifizierte Anspruchsgrundlagen arbeiten, von vornherein nicht brauchbar. 112
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geführt würden.114 In Anbetracht der Unklarheiten der Regelung ist dieser Hinweis durchaus verständlich. Gleichwohl fragt man sich freilich, warum diese Bedenken nicht dazu geführt haben, die Rechtskraft generell anders zu konzipieren. Die Rechtskraft auf den Tenor zu beschränken und im Gegenzug auf das Institut der Zwischenfeststellungsklage, das in Rule 66 (1) (b) des Final Draft möglicherweise sogar angelegt ist, zu verweisen, wäre ohne Probleme möglich gewesen.115
3. Zusammenfassung Auch wenn es grundsätzlich sehr zu begrüßen ist, wenn Projekte wie die Entwicklung der ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure Innovationen wagen und nicht „vorschnell“ ausgetretene Pfade einschlagen, ist für den Bereich der Rechtskraft und die konkreten Vorschläge innerhalb der Modellregeln zu bedauern, dass die offenbar er- und bekannten Schwierigkeiten der letztlich gewählten Reichweite nicht zu einer restriktiveren Regelung geführt haben. Im – durchaus berechtigten – Bestreben nach materieller Entscheidungsharmonie und Verfahrensökonomie ist eine Regelung geschaffen worden, welche die Identifikation der rechtskräftigen Entscheidungsbestandteile erschwert, weil zum einen unklar ist, was konkret unter den Begriffen „necessary and incidental“ zu verstehen ist und – selbst wenn dies eindeutig wäre – stets die Kenntnis der lex causae erforderlich ist. Die Begrenzung der Rechtskraft auf die Entscheidung über den Anspruch im Tenor in Kombination mit dem Institut der Zwischenfeststellungsklage wäre (auch hier) die bessere Alternative gewesen, weil sie einen vernünftigen Mittelweg zwischen Entscheidungskontinuität und Verfahrensökonomie einerseits und Rechtssicherheit und Rechtsklarheit andererseits bietet.
114 Comment Nr. 2 zu Rule 149 des Consolidated Draft (Blackletter rules & Comments), 27 July 2019. 115 In den Sources des Consolidated Draft wurde an dieser Stelle noch auf das Zwischenurteil nach § 303 ZPO verwiesen. Eine derartige „Begrenzung“ der Feststellungskonstellation ergibt sich aus dem allgemeinen Wortlaut der Norm („The court on its own motion or on the application of a party may give a judgment […] deciding a legal issue on the merits“) jedoch nicht eindeutig.
C. Zusammenfassung in Thesen
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C. Zusammenfassung in Thesen 1. „Quantitativer“ Konsens der untersuchten Rechtsordnungen ist die Beschränkung der Rechtskraft auf den Tenor unter Ausschluss von Urteilsgründen.116 2. In den untersuchten Rechtsordnungen ist es bislang nicht gelungen, ein belastbares System zur Identifikation von rechtskräftigen und nicht rechtskräftigen Gründen zu entwickeln.117 3. Ein tragfähiges Konzept für einen unionsautonomen Rechtskraftbegriff innerhalb der EuGVVO existiert de lege lata (noch) nicht.118 4. Das vom EuGH zur Bindungswirkung von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte entwickelte Konzept zum „Rechtskraftbegriff im Unionsrecht“ ist nicht zu einer Übertragung in das Regime der EuGVVO geeignet.119 5. Aus dem Streitgegenstandsbegriff lassen sich keine Vorgaben für die Tiefenwirkung der materiellen Rechtskraft ableiten.120 6. Die Aufgabe der Wirkungserstreckung zugunsten eines einheitlichen, weiten Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO verbietet sich unter zahlreichen Aspekten.121 Die hiermit verbundene Wirkungserweiterung beeinträchtigt die Rechtssicherheit und die Belange der Parteien erheblich. 7. Wenn die Wirkungserstreckung zugunsten eines einheitlichen Rechtskraftbegriffes im Anwendungsbereich der EuGVVO aufgegeben werden sollte, wäre dieser eng zu fassen und auf den Tenor der anzuerkennenden Entscheidung zu beschränken. Urteilsgründe sollten nicht an der Rechtskraft teilnehmen.122 8. Gleichwohl sollte die Wirkungserstreckung beibehalten und nicht zugunsten eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes aufgegeben werden.123 Die Vorteile eines engen, einheitlichen Rechtskraftbegriffes überwiegen nicht die Nachteile der Wirkungserstreckung. 9. Gewichtiges Defizit der Wirkungserstreckung ist die Erforderlichkeit der Prüfung des (positiven) Rechtskraftumfangs durch das Anerkennungs116
Vgl. dritter Teil, D. und die dortigen Nachweise. insb. dritter Teil, A. II. 3. (zum dt. Recht); dritter Teil, B. III. 6. (zum frz. Recht); dritter Teil, C. I. 4. (zum öst. Recht); dritter Teil, C. II. 2. (zum span. Recht) und die dortigen Nachweise. 118 Vgl. zweiter Teil, B. III. 5. und die dortigen Nachweise. 119 Vgl. zweiter Teil, B. III. 2. b) und die dortigen Nachweise. 120 Vgl. zweiter Teil, B. III. 3. g) und die dortigen Nachweise. 121 Vgl. vierter Teil, A. II. 2. und die dortigen Nachweise. 122 Vgl. vierter Teil, A. II. 3. und die dortigen Nachweise. 123 Vgl. vierter Teil, A. III. und die dortigen Nachweise. 117 Vgl.
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gericht.124 Das Ursprungsgericht wäre wesentlich besser dazu geeignet, Aussagen über die Rechtskraftreichweite – der (eigenen) Entscheidung nach der (eigenen) lex fori – zu treffen.125 10. De lege ferenda sollte die Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO i. V. m. Anhang I daher um konkrete Fragen nach rechtskräftigen Feststellungen neben dem Tenor ergänzt werden.126 Die hierdurch gewonnenen Aussagen des Ursprungsgerichts können sowohl den nachfolgenden Gerichten als auch den Parteien eine wertvolle Hilfestellung sein, Unvereinbarkeiten (vor deren Entstehen) verhindern und damit zur Urteilsfreizügigkeit beitragen.127 11. Für das Funktionieren eines in sich geschlossenen (europäischen) Zivilprozessrechtssystems ist die Definition eines Rechtskraftbegriffes zwingend erforderlich.128 Auch hier sollte der Rechtskraftbegriff eng gefasst sein und sich auf den Tenor beschränken.129 Die Implementierung einer Zwischenfeststellungsklage gleicht die Nachteile der engen Rechtskraft zuverlässig aus und vermeidet dabei die mit einer generellen Erstreckung einhergehenden Unklarheiten.130
D. Conclusion in Theses 1. In the majority of the legal systems examined, res judicata is restricted to the operative part of the judgment and does not cover its reasoning.131 2. Within the legal systems examined, it has not yet been possible to develop a reliable method to identify and distinguish between legally binding and non-binding reasons.132 3. De lege lata, a viable European concept of res judicata within the recognition of foreign judgments under Brussels-Ia does not (yet) exist.133 4. The concept of res judicata as developed by the ECJ under European Union law is not suitable for transferring to Brussels-Ia.134 5. The concept of the subject matter in dispute does not determine whether the ratio decidendi shall become res judicata and thus binding or not.135 124 125
Vgl. vierter Teil, A. III. und die dortigen Nachweise. Vgl. vierter Teil, A. IV. und die dortigen Nachweise. 126 Vgl. vierter Teil, A. IV. und die dortigen Nachweise. 127 Vgl. vierter Teil, A. IV. 2. und die dortigen Nachweise. 128 Vgl. vierter Teil, B. I. und die dortigen Nachweise. 129 Vgl. vierter Teil, B. II. und die dortigen Nachweise. 130 Vgl. vierter Teil, B. II. und die dortigen Nachweise. 131 Dritter Teil, D. 132 Dritter Teil, A. II. 3. (German law); dritter Teil, B. III. 6. (French law); dritter Teil, C. I. 4. (Austrian law); dritter Teil, C. II. 2. (Spanish law). 133 Zweiter Teil, B. III. 5. 134 Zweiter Teil, B. III. 2. b). 135 Zweiter Teil, B. III. 3. g).
D. Conclusion in Theses
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6. The abolishment of the extension of effects in favour of a uniform, broad concept of res judicata within the recognition of foreign judgments under Brussels-Ia is prohibited under numerous aspects because it impairs legal certainty and compromises the interests of the parties.136 7. If the extension of effects were to be abolished in favour of a uniform concept of res judicata within the scope of applying Brussels-Ia, this concept should restrict res judicata to the operative part of the judgment and the ratio decicendi should not become res judicata and thus binding.137 8. Nevertheless, the extension of effects should be maintained and not abandoned in favour of a narrow, uniform concept of res judicata.138 The advantages of a narrow, uniform concept of res judicata do not outweigh the disadvantages of the extension of effects. 9. A significant deficit of the extension of effects is that the examination of the (positive) scope of res judicata must be operated by the court of recognition.139 However, the court of origin would be much better suited to make statements on the scope of res judicata regarding its (own) decision according to its (own) lex fori.140 10. De lege ferenda, specific questions regarding the concrete scope of res judicata of the judgment to be recognised should be added to the certificate provided in Art. 53 Brussels-Ia and the form set out in Annex I.141 The court of origin’s statements could be helpful for both the subsequent courts and the parties. The amendment may prevent irreconcilability and thus contribute to the free movement of judgments.142 11. In order to develop a European Civil Procedure Code, the definition of a res judicata concept is mandatory.143 Here as well, res judicata should be restricted to the operative part of the judgment and should not cover any ratio decidendi.144 To compensate the narrow scope of res judicata, the option to raise an action for a declaratory (interim) judgment should be provided. This bypasses the ambiguities of a general extension while maintaining the possibility to equip particular reasons with res judicata effect.145
136 137
Vierter Teil, A. II. 2. Vierter Teil, A. II. 3. 138 Vierter Teil, A. III. 139 Vierter Teil, A. III. 140 Vierter Teil, A. IV. 141 Vierter Teil, A. IV. 142 Vierter Teil, A. IV. 2. 143 Vierter Teil, B. I. 144 Vierter Teil, B. II. 145 Vierter Teil, B. II.
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Sachverzeichnis abuse of process 250 ff. acte juridictionnel 43 Anerkennung 81 ff. – Gleichstellungstheorie 84 f. – Kumulationstheorie 86 ff. – Wirkungserstreckungstheorie 85 f., 89 f. attribut 36 Aufrechnung 193 ff. autorité de la chose jugée 18 f., 208 ff. Berücksichtigung der Rechtskraft im Prozess – Deutschland 67 f. – Frankreich 68 f. Bescheinigung nach Art. 53 i. V. m. Anhang 1 EuGVVO 285 f., 297 ff. Bindungswirkung – siehe positive Wirkung bzw. effet positif – von Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte, siehe Rechtskraftbegriff des Unionsrechts Breitenwirkung, siehe Reichweite der materiellen Rechtskraft Brexit 260 ff. cause, siehe identité de cause cause of action estoppel 254 ff. Cesareo-Entscheidung 119 ff. cosa giudicata 242 ff. cosa juzgada 244 ff. décision implicite 215 ff., 224 f., 229 f. dispositif 208 ff. effet négatif 53 ff. effet positif 56 ff. efficacité substantielle 37 f.
Eintrittszeitpunkt – Deutschland 39 – Frankreich 39 f. ELI, siehe European Rules of Civil Procedure Entscheidungsgründe – Deutschland 146 ff. – Frankreich 208 ff. estoppel – allgemein 253 – issue estoppel 256 ff. – cause of action estoppel 254 ff. European Rules of Civil Procedure 72 ff., 302 ff. formelle Rechtskraft – Deutschland 19 ff. – Frankreich 21 f. Gestaltungswirkung 35 Gleichstellungstheorie 84 f. Gothaer Allgemeine 93 ff. Henderson v. Henderson principle 251 ff. Hoffmann/Krieg 89, 93, 95, 138 f. identité d’objet 114 ff. identité de cause 116 ff. irrévocabilité 21 f. issue estoppel 256 ff. jugement avant dire droit 45 f. jugements gracieux 46 f. Klageabweisung 175 ff. Kernpunkttheorie 125 ff. kontradiktorisches Gegenteil 49 ff. Konzentration der moyens 54 ff., 117 ff. Kumulationstheorie 86 ff.
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Sachverzeichnis
motifs – décisifs 214 f., 222 ff., 227 ff., – décisoires 213 f., 221 f., 226 moyen 54 ff., 117 ff.
Tiefenwirkung, siehe auch Reichweite der materiellen Rechtskraft tragende Gründe 167 ff. triple identité 66, 114 ff., 211
ne bis in idem 29 negative Wirkung, siehe Wirkungs richtung
UNIDROIT, siehe European Rules of Civil Procedure Unvereinbarkeit 137 ff. Urteilswirkung, Abgrenzung der Rechtskraft – Deutschland 34 f. – Frankreich 35 ff.
objet, siehe identité d’objet positive Wirkung, siehe Wirkungsrichtung Präjudizialität 52 f. Präklusion – Deutschland 51 f. – Frankreich 54 ff. présomption de vérité 30 ff. Prozessökonomie 266 f., 281 f., 291 f., 304 f. Rechtskraftbegriff des Unionsrechts 102 ff. Rechtskraftfähigkeit – Deutschland 40 ff. – Frankreich 42 ff. Rechtskrafttheorien, siehe auch Wesen der Rechtskraft Reichweite der materiellen Rechtskraft – Begriff allgemein 5 f. – Breitenwirkung 5 f. – Tiefenwirkung 5 f. römisches Recht – Formularverfahren 10 ff. – Kognitionsverfahren 13 ff. – Legisaktionenverfahren 8 ff. Sinn- und Ausgleichszusammenhänge 154 ff. Streitgegenstandsbegriff – Deutschland 108 ff. – EuGH, EuGVVO 124 ff. – Frankreich 114 ff. Subjektive Reichweite der Rechtskraft – Deutschland 65 f. – Frankreich 66 Tatbestandswirkung 35 Teilklage 186 ff.
Vollstreckbarkeit 34 Vorfragen – Rechtskraft von Vorfragen iRd ELI/ UNIDROIT European Rules of Civil Procedure 75 – siehe auch effet positif – siehe auch Präjudizialität Wahrheitsvermutung, siehe présomption de vérité Wesen der Rechtskraft – Deutschland 28 ff. – Frankreich 30 ff. Wirkungsbeschneidung 282 ff. Wirkungserstreckung 85 f., 89 f. Wirkungserweiterung 282 ff. Wirkungsrichtung – effet négatif 53 f. – effet positif 56 ff. – negative Wirkung 49 ff. – positive Wirkung 52 f. Zeitliche Grenzen der Rechtskraft, siehe Präklusion Zeuner, Albrecht, siehe Sinn- und Ausgleichszusammenhänge Ziel der materiellen Rechtskraft – Deutschland 25 ff. – Frankreich 25 ff. Zwischenfeststellungsklage – Deutschland 202 ff. – ELI/UNIDROIT European Rules of Civil Procedure 312 – Frankreich 231 ff.